Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Mellies.
Ich lasse abstimmen. Es ist der Antrag gestellt, diese beiden Punkte von der Tagesordnung abzusetzen. Wer für die Absetzung ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Die überwiegende Mehrheit ist für die Beibehaltung.
Wer begründet die Anträge? — Herr Dr. Etzel? Beide Anträge?
Der Ältestenrat schlägt Ihnen für die Begründung der Anträge 10 Minuten und für die Aussprache 60 Minuten vor. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Dr. Etzel (BP), Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Anträge haben Probleme zum Gegenstand, welche durch die Behandlung in der Presse einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Es handelt sich um tiefe Einbrüche des Besatzungsrechts in die Rechts- und Wirtschaftsordnung eines Berufsstandes, des gewerblichen Mittelstandes und des Handwerks im besonderen, die nun durch eine deutsche Gesetzgebung revidiert werden sollen. Dabei ist das Handwerk stärker als die übrigen Träger des gewerblichen Mittelstandes betroffen, und die Länder in der US-Zone sind stärker in Mitleidenschaft gezogen als die Länder in der britischen und französischen Zone.
Da immer noch Mißverständnisse und Unklarheiten über die Stellung, die Bedeutung, die Rolle und die Mentalität des gewerblichen Mittelstandes, des Handwerks bestehen, erscheint es angebracht, einige grundsätzliche Bemerkungen vorauszuschicken.
Die einmal von pseudowissenschaftlicher Seite gemachte verwegene Voraussage, daß die Epoche des Handwerks vorbei, daß sein Untergang nur noch eine Frage der Zeit sei, ist durch den tatsächlichen Verlauf der Entwicklung gründlich widerlegt worden. Es war eine Prognose der Oberfläch-
lichkeit, eine Prophetie der Gedankenlosigkeit und der Ignoranz. Das Handwerk hat eine von den Pessimisten und Zweckpessimisten nicht erwartete Lebenskraft und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Es hat sich den technischen Fortschritt weitgehend zu eigen gemacht, seine betriebswirtschaftliche Organisation wesentlich verbessert und seine Methoden vielseitig entwickelt, stets geleitet und geführt von dem Grundgedanken der Leistung, der Qualität und der Verantwortung. Es hat längst seinen Turm verlassen, eine zünftlerisch-bärenhäuterische Haltung und Abschließung abgewiesen, es hat den Schritt in die geistige Weite und Freiheit getan. In Notzeiten, Krieg und Zusammenbruch hat es immer einen der festesten Pfeiler und eine der zuverlässigsten Stützen des Vaterlandes, der Ordnung und der Gesittung gebildet. Sein Arbeitseifer und sein Fleiß, sein guter Wille und sein Pflichtbewußtsein haben nie ausgesetzt oder geschwankt.
Die Zahl der dem Handwerk zugehörigen und der von ihm unmittelbar und mittelbar in Arbeit und Brot gesetzten Menschen ist so groß, sein Anteil an Produktion, Dienstleistungen und Verbrauch so bedeutend, daß, fiele es aus, die wirtschafts- und sozialständischen Grundlagen des deutschen Lebens entscheidend, und zwar höchst nachteilig verändert und aus dem deutschen Antlitz charakteristische Züge ausgelöscht wären.
Das Handwerk hat durch seine methodische, nachhaltige und sorgfältige Ausbildung des Nachwuchses — oft unter ungünstigsten äußeren Umständen — nicht nur die Voraussetzungen und Bedingungen für seine eigene Entfaltung, seinen eigenen Aufstieg, sondern auch die Voraussetzungen und Fundamente für die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Steigerung einer hochwertigen industriellen Fertigungsarbeit geschaffen.
Als Urbild eines organisch dreigegliederten Berufsstandes, als klassischer Träger des berufsgemeinschaftlichen Gedankens, als Mittler zwischen Kapital und Arbeit hat es mehr für den sozialen Ausgleich und Frieden getan, als gemeinhin erkannt wird. In ihm, dem Handwerk, vollzieht sich unauffällig und unaufhörlich der Aufstieg der wirtschaftlich und sozial Unselbständigen zu selbständigen Existenzen. Hätte es keine andere als die beiden letztgenannten Leistungen vollbracht, es würde genug getan haben für ein Jahrtausend. Es weiß, daß da, wo das Unrecht eine Bresche schlägt, der Radikalismus eindringt, der seinem Wesen und Lebensgefühl entgegengesetzt ist, das auf die Erhaltung bewährter Lebenswerte und den lebendigen, gefügten Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit gerichtet ist.
Dieser Träger eines echten, den gesunden Fortschritt bejahenden Konservatismus, dieser Bewahrer guter Art und Sitte kann in einer Zeit der geistigen Unsicherheit, Unruhe, Auflösung, Umwertung und Veränderung der Maßstäbe nicht entbehrt werden. Er bildet ein festes Ferment der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates und einen Hort der Erhaltung der Persönlichkeitswerte, welche die unveräußerlichen Elemente einer Welt sind, die wir die abendländische nennen. Daran sollte sich nicht nur die einheimische Öffentlichkeit, sondern auch der Sieger öfter und nachhaltiger erinnern, und er sollte nicht länger darauf beharren, dem Handwerk eine Ordnung vorzuenthalten, die seine Welt ist, den Verhältnissen und Bedingungen seiner Existenz entspricht und es befähigt, der Aufgabe gerecht zu werden, die ihm in der Gesamtheit zukommt.
In dem Auf und Ab der Entwicklung der handwerklichen Berufsstandsorganisation während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hat es vier Phasen gegeben: die mit der Errichtung der Handwerkskammern beginnende Fundamentierung in den Jahren 1897 bis 1900, die Fortführung des Aufbaues und die weitere Ausgestaltung durch die Handwerksnovelle von 1929, die nationalsozialistische Gesetzgebung und der Abbruch aller dieser Einrichtungen durch die Besatzungsmacht.
Als der Nationalsozialismus die Macht ergriff, war eine seiner ersten Maßnahmen die Schaffung einer lückenlosen Zwangsorganisation für alle Berufe. Niemand konnte einem solchen angehören, ohne Mitglied einer oder mehrerer dieser Organisationen zu sein. Es war ein unentrinnbares Netz totaler Erfassung. die Voraussetzung einer kaum begrenzten Befehlswirtschaft. Dem Nationalsozialismus kam hierbei eine damals ziemlich weit verbreitete Neigung und Bereitschaft entgegen. es mit einem Ständestaat zu versuchen. Er bemächtigte sich wie so oft auch hier rasch einer ihm zunächst fremden, von außen kommenden Idee, um sie seinen massiven Zwecken dienstbar zu machen. Dieses enorme System von Stellen zu Befehlsausgabe und Befehlsempfang sollte auf den leisesten Wink, Druck oder Anschlag in Tätigkeit treten wie ein riesiges Maschinenaggregat.
Das hat die vernünftige und besonnene. weitaus überwiegende Mehrheit des Handwerks nicht gewollt. Die Besatzungsmacht kann es das Handwerk nicht entgelten lassen wollen. daß ein totalitäres System den geschichtlichen Grundgedanken einer berufsständischen Organisation in einem Exzeß verfälscht und diese für seine Machtzwecke mißbraucht hat. Das System ist liquidiert. aber das Handwerk lebt und ersehnt die Wiederherstellung einer auf demokratischer Grundlage ruhenden Berufsstandsorganisation. Der Bund wird sich auf die Erlassung eines Rahmengesetzes beschränken und in ihm föderalistische Grundsätze verwirklichen müssen.
Ich komme zu dem Antrag Drucksache Nr. 1016 und darf dazu ebenfalls einige grundsätzliche Bemerkungen machen. In der Wirtschaft sieht die materialistische Auffassung primär und überwiegend offenbar eine Angelegenheit der Verwirklichung handfester Instinkte, Erwägungen und Motive des Erwerbs, der Gewinnerzielung und der Erreichung wirtschaftlicher Macht. Jeder soll Zugang zu diesem Tummelplatz freigegebener Jagd nach Geld haben. Die zeitrafferische Devise ,,Zeit ist Geld" ist aus einer solchen Auffassung geboren. Im Gegensatz hierzu sah und sieht die deutsche Welt in der Eröffnung, Übernahme und Führung eines Gewerbebetriebes wesentlich auch die Erfüllung und Bewältigung einer Lebensaufgabe, die uns von Gott gesetzt ist, die Wahl und Ausübung eines Berufs. Um ihm gerecht zu werden. muß der Mensch ein Mindestmaß von fachlichem Können, fachlicher Befähigung mitbringen und den selbstverständlichen Anforderungen an persönliche Eignung. Zuverlässigkeit und Redlichkeit genügen. Der Mensch muß sich auf ein Gewerbe wie auf einen Beruf vorbereiten.
Die Besatzungsmacht vor allem in der US-Zone sollte erkennen, daß aus diesem Gegensatz einer unzweifelhaft materialistischen und einer ebenso zweifellos von starken berufsethischen Elementen getragenen Wirtschaftsauffassung unerfreuliche Spannungen entstehen, daß sie aus einer unzutreffenden Beurteilung der deutschen Verhältnisse und Ideologie zu einer recht unglücklichen Fehl-
entscheidung gekommen ist und daß die Einführung der ungehemmten Gewerbefreiheit zu schweren Unzuträglichkeiten geführt und ernste Beunruhigungen sowie tiefgehende Enttäuschungen hervorgerufen hat. Die psychologischen Auswirkungen sollten der Besatzungsmacht nicht gleichgültig sein. Man fragt sich auf deutscher Seite in der US-Zone mit Recht, was denn letzten Endes die ganze sorgfältige und methodische, auf die Berufsaus- und -fortbildung gerichtete Arbeit der Lehrbetriebe und Berufsschulen, was denn der Appell an die Jugend, die ihre Antriebe nicht aus einem kühlen, rechnerischen Kalkül, einem zynischen Erwerbsmaterialismus, sondern aus einem ihr aufgerichteten Ideal empfangen muß, was dieser Appell, sich auf ihren Beruf vorzubereiten, noch für einen Sinn haben soll, wenn jeder beliebige einen Gewerbebetrieb aufmachen darf, sofern nicht Gründe der öffentlichen Gesundheit, Sicherheit und Wohlfahrt entgegenstehen. Diese letzte Einschränkung ist ungenügend.
Sie ist zu allgemein und praktisch kaum brauchbar. Das Handwerk will und kann auf das Berufsethos als wesentliches Element der Wirtschaft und Gesellschaft auf keinen Fall, nie und nirgends verzichten.
Es ist kein Zweifel, daß die ordentliche Regelung der aufgeworfenen Probleme der Berufsstandsorganisation und der Zulassung zum Gewerbebetrieb zur deutschen Zuständigkeit, nicht zu jener des Besatzungsrechts gehört. Sie verträgt keinen weiteren Aufschub mehr. Es ist bereits zu viel Schaden angerichtet worden. Sie muß jetzt und hier erfolgen. Man kann nicht dauernd ein großes Kulturvolk, das die Welt mit den Denkergebnissen seines forschenden Geistes und den Kunstwerken seiner schöpferischen Natur reich beschenkt, das frühzeitig das eindrucksvolle Beispiel sozialer Gesetzgebung und Hilfe gegeben hat, ein Volk, dessen Lebens- und Geschichtsbuch neben dem einen dunklen Blatt so viele helle und leuchtende Seiten enthält, auf unabsehbare Zeit bevormunden wollen wie einen Minderjährigen oder Entmündigten. Man kann uns nicht zur wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit mit dem Westen auffordern, uns als Streiter für die Verteidigung und Bewahrung der abendländischen Idee und Welt aufrufen,
uns in den Europarat einladen und uns gleichzeitig wie Hintersassen behandeln.