Rede von
Hans
Tichi
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen dem Bericht des Ausschusses für Heimatvertriebene zu. Die Umsiedlung ist ein wichtiger Teil des gesamten Flüchtlingsproblems. Die Notwendigkeit seiner Internationalisierung unter amerikanischer Führung hat Präsident Truman gerade gestern ausdrücklich unterstrichen. Wir können aber keinesfalls der Meinung des Herrn Bundesministers für die Vertriebenen Dr. Lukaschek beipflichten, der gestern in einer Pressekonferenz erklärt hat, daß das Flüchtlings- und Vertriebenenproblem grundsätzlich eine deutsche Angelegenheit, daß also Deutschland für seine Lösung verantwortlich sei. Nein, Herr Minister Dr. Lukaschek, wir sind da anderer Meinung. Wenn Ihre Meinung gelten würde, dann wäre es ein Bekenntnis zur Kollektivschuld des deutschen Volkes an dem verlorenen Krieg und seinen Folgen.
Für die Ausweisungen und das Flüchtlingselend von 12 Millionen Menschen sind auch die Mächte verantwortlich, die zu den Verträgen von Yalta und Potsdam ihre Zustimmung gaben.
Die können und dürfen wir nicht von der Mitverantwortung lossprechen.
Die bereits angeordneten und begonnenen Umsiedlungen sind in ihrer Tragik kennzeichnend für unser Flüchtlingselend. Sie brachten auch beschämende Beispiele des Verhaltens einiger Aufnahmeländer — wie es jetzt wiederholt aufgezeigt worden ist —, die der auch ihnen auferlegten Schicksalsgemeinschaft des gemeinsam verlorenen Krieges aus dem Wege gehen wollen.
Die Ausführungen des Herrn Referenten werden Ihnen diese Auffassung bestätigt haben.
Meine Damen und Herren! Es kann nicht bestritten werden, daß von den mit Flüchtlingen überbelegten Ländern — Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein — in der vergangenen Zeit und bis heute ungeheure finanzielle Opfer getragen worden sind, von denen die anderen Länder verschont geblieben sind.
Die Steuereinnahmen Bayerns betrugen vom Juli 1948 bis Juni 1950 15,5 Prozent des Gesamtaufkommens im Bunde, während sein Anteil an Vertriebenen 26 Prozent beträgt. Das reiche Nordrhein-Westfalen, das für die Aufnahme von Flüchtlingen Bedingungen stellt, nimmt in der gleichen Zeit 30 Prozent der Steuern ein, während es nur mit 8,5 Prozent aller Vertriebenen belegt ist.
Die Länder der französischen Zone sind noch viel besser dran. Daraus wird klar, daß alle diese Länder Hunderte von Millionen erspart haben, während die armen Länder Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen die großen Opfer bei der Flüchtlingsbetreuung tragen müssen. Es wäre deshalb wohl am Platze, daß auch nachträglich ein finanzieller Ausgleich zugunsten der Länder stattfindet, die bis heute die großen Opfer gebracht haben.
Die innerdeutsche Umsiedlung stellt organisatorisch, wirtschaftlich und sozialpolitisch so ungeheure Aufgaben, daß es schwer sein wird, sie im Jahre 1950 zu lösen. Die Umsiedlung kann selbst dann nicht als restlos durchgeführt angesehen werden, wenn die Umsiedlung dieser 600 000 Menschen systematisch zu Ende geführt wird. Sie muß fortgesetzt werden, bis der Anteil der Flüchtlinge in allen elf Ländern des westdeutschen Staates im Verhältnis zur gesamten Bevölkerung ausgeglichen ist.
Die Umsiedlungsaktion ist auch ein gesamtdeutsches wirtschaftliches Problem. Die besondere Notlage wird durch die Tatsache gekennzeichnet, daß 37 % der Flüchtlinge arbeitslos sind, während der Anteil der Arbeitslosen an der Bevölkerung der Bundesrepublik 15 bis 18% beträgt. In Schleswig-Holstein beträgt der Anteil der Heimatvertriebenen an der Arbeitslosenzahl 60%, in Niedersachsen 43% und in Bayern 42%. Die Vertriebenen haben in Westdeutschland keine Dauerarbeitsplätze gefunden. Der große Anteil der Vertriebenen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen ist in erster Linie auf die arbeitsmarktmäßig ungesunde regionale Verteilung der Vertriebenen zurückzuführen. Dem kann nur durch einen gerechten Ausgleich abgeholfen werden.
Es wird weiter auch darauf hingewiesen, daß die Umsiedlungsaktion die erwartete Entlastung der Flüchtlingsländer nicht gebracht hat oder nicht bringen wird, weil der Umsiedlungswille der Lagerinsassen erschreckend gering ist. Das mag zutreffen, aber man muß verstehen, daß ein großer Teil der Lagerinsassen in der unbestimmten Angst lebt, durch die Umstellung und den Wechsel in andere wirtschaftliche Verhältnisse — ohne die zwar dürftige, aber sichere Geborgenheit durch die helfende Hand der staatlichen Betreuung — gestellt zu werden. Diese Einstellung bringt das jahrelange Leben innerhalb der Lagermauern mit sich. Es ist eine seelische Erscheinung, die wir alle verstehen müssen. Wir, die wir mit diesen Menschen in den Lagern in Verbindung stehen, wissen aus eigener Erfahrung, daß diese Menschen mit ihren Familien aus den Lagern herauswollen. Sie wollen aber Sicherheit haben, eigene Wohnungen und Arbeitsmöglichkeiten in dem neuen Land zu bekommen, haben jedoch Angst vor jeder Umsiedlung ins Ungewisse.
Eins steht fest: die gedachte und begonnene Umsiedlungsaktion wird scheitern, wenn nicht ein fest umrissenes Weisungsrecht des Bundes für den Ausgleich zugunsten der Länder geschaffen wird, die mit Vertriebenen überbelegt sind. Wenn eine derartige Bestimmung in einem neuen Flüchtlingsgesetz nicht verankert sein wird, ist es verfehlt; sie muß darin verankert sein. Wir erwarten, daß der Herr Bundesminister für Vertriebene dem Bundestag ein Gesetz mit dieser Bestimmung ehestens vorlegen wird.