Allerdings haben diese Bemühungen, so anerkennenswert sie sein mögen, auch nur ausgereicht, um gewisse Linderungen zu schaffen, nicht aber, um dieses Problem zu beheben. Es wurde deshalb im Ausschuß für Jugendfürsorge sehr bald einmütig die Auffassung vertreten, daß hier von der Bundesebene her alle Kräfte und alle in Frage kommenden Instanzen angesprochen und aufgerufen werden müssen, unter Zusammenfassung aller Möglichkeiten diesem Problem zentral zu Leibe zu gehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz nüchtern einen kurzen Ausblick auf die einzelnen Wirtschaftszweige und die Möglichkeiten nehmen. Werfen wir einen Blick auf unsere gewerbliche Wirtschaft, so verfolgen wir — meine Freunde und ich — mit wachsender Besorgnis die Klagen, die hier und da laut werden, daß schon in manchen Zweigen ein Mangel an qualitativem Facharbeiternachwuchs feststellbar sei. Wir gehen von der Erwägung aus, daß wir bei dem notwendigen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf in der Welt mit
allen kapitalintensiven Großfertigungszweigen keine großen Konkurrenzchancen haben, daß aber überall dort, wo die arbeitsintensive Fertigung zu Hause ist, also dort, wo die wertvolle Kraft des deutschen Qualitätsarbeiters zum Tragen kommt, wir sehr wohl in der ganzen Welt konkurrenzfähig sind. Dieser Tatsache erkennen wir eine ganz besondere Bedeutung zu und sind deshalb auch der Meinung, daß es der gewerblichen Wirtschaft zugemutet werden muß, auf Grund gesetzlicher Regelung unverzüglich in allen Zweigen eine größere Zahl von Jugendlichen einzustellen, damit dieser Gefahr eines eventuellen Mangels an qualitativen Fachkräften begegnet werden kann. Ich darf deshalb an dieser Stelle namens meiner Fraktion einen Ergänzungsantrag zu der Vorlage einbringen, um dessen Annahme ich Sie bitte:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die Bundesregierung wird ersucht, mit größter Beschleunigung ein Gesetz vorzulegen, nach dem im Interesse der Beschäftigung und Fachausbildung der schulentlassenen deutschen Jugend alle Wirtschaftsbetriebe des Bundesgebietes in ähnlicher Weise, wie dies bei den Kriegsbeschädigten der Fall ist, verpflichtet werden, in einem bestimmten Verhältnis zur Zahl der Beschäftigten entweder Lehrlinge einzustellen oder Ausgleichszahlungen für die Nichteinstellung von Lehrlingen zu leisten. Diese Ausgleichszahlungen sollen den Betrieben zur Verfügung gestellt werden, die über ihre Verpflichtung hinaus bereit sind, Lehrlinge einzustellen. Ferner soll das Gesetz vorsehen, daß jeder Betrieb, der über ein bestimmtes Maß hinaus Lehrlinge einstellt, einen zusätzlichen Förderungsbetrag von seinen Steuerverpflichtungen in Abzug bringen darf, der der Höhe des sonst an die arbeitslosen Jugendlichen zu zahlenden Unterstützungs- bzw. Fürsorgebetrages entspricht.
Meine Damen und Herren, soviel für die gewerbliche Wirtschaft, für die Betriebe mit größeren Beschäftigtenzahlen.
Werfen wir einen kurzen Blick auf das Handwerk, das herkömmlicherweise ja eigentlich die anerkannteste Grundlage für die Fachausbildung geliefert hat. Es ist wohl nicht zu verkennen, daß gerade der Handwerksmeister, der den Lehrling den ganzen Tag an seiner Seite hat und ihm nicht nur die Handfertigkeiten vermittelt, sondern auf den jungen Menschen auch persönlichkeitsbildend wirkt, ganz besonders berufen ist, einen bevorzugten Platz in der Ausbildung und Ertüchtigung der Jugend einzunehmen. Meine Damen und Herren, es ist nicht zu verkennen, daß aus breitesten Kreisen des Einzelhandwerks starke Klagen darüber laut werden, daß die jugendlichen Lehrlinge den Betrieben zeitlich zu sehr entzogen werden und daß durch die Einschaltung und Mitwirkung vieler außenstehender Instanzen der Einfluß des Meisters auf seinen Zögling allzustark beschnitten wird. Ich referiere zu diesem Punkt nur über lautgewordene Klagen, und es erscheint uns ratsam, daß man diesen Klagen nachgeht und sie auf ihre Stichhaltigkeit überprüft. Sollten sie stichhaltig sein, dann dürften im Interesse der größeren Unterbringungsmöglichkeit von Jugendlichen in Einzelhandwerksbetrieben Abänderungen auch an der Jugendschutzgesetzgebung erforderlich sein.
Als dritte Entlastungsmöglichkeit des jugendlichen Arbeitsmarktes darf ich die Landwirtschaft erwähnen. Meine Damen und Herren, die Frau Kollegin Niggemeyer hat zu diesem Punkt in der vergangenen Woche schon gesprochen. Wie ist hier die Lage? Allein im letzten Halbjahr 1949 sind in der Bizone an Lohnarbeitskräften 134 000, an familieneigenen Kräften 150 000 aus der Landwirtschaft abgewandert. Nimmt man die geschätzten Zahlen aus der französischen Zone hinzu, so haben wir in der Bundeslandwirtschaft einen Abwanderungsverlust von 325 000 Arbeitskräften. Nachdem in den ausgesprochenen Hungerjahren ein erheblicher Anstieg der Beschäftigtenzahl in der Landwirtschaft zu verzeichnen war, ist durch diese rapide Abwanderung heute bereits ein Minderbestand gegenüber der normalen Vorkriegszeit zwischen 7 und 10 % eingetreten. Wir haben in diesem Hause schon oft über die Notwendigkeit der Intensivierung der Landwirtschaft gesprochen. Jede Intensivierung auf diesem Gebiet führt aber über einen verstärkten Hackfruchtanbau, d. h. über eine ausgesprochen vermehrte Arbeitsintensität. Es muß ferner darauf verwiesen werden, daß 70 % der westdeutschen landwirtschaftlichen Betriebe klein-und mittelbäuerliche Betriebe sind, in denen die Arbeit herkömmlicherweise nur oder vornehmlich mit jugendlichen zusätzlichen Arbeitskräften gemeistert werden konnte. Es ist auch gar richt daran zu denken, daß etwa die Rentabilitätslage dieser bäuerlichen Familienwirtschaften so gesteigert werden könnte, daß in diesen Betrieben dauernde, also verheiratete Arbeitskräfte eingebaut werden könnten. Deshalb wird die stärkere Rückführung von Jugendlichen in die Landwirtschaft das größte Entlastungsmoment für den jugendlichen Arbeitsmarkt sein.
Es ist nicht übertrieben, wenn wir hier mit Zahlen von 300 000 bis 400 000 operieren.
Meine Damen und Herren! Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es nicht nur ein Tarifproblem sei, daß es auch nicht nur das Werkwohnungsproblem sei, das hier angefaßt werden müßte, um den erleichterten Rückstrom in Gang zu setzen. Dem ist beizupflichten. Man muß hier den harten Realitäten ins Auge sehen und daraus auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Wenn in der Landwirtschaft länger gearbeitet werden muß, wenn ungeregelter gearbeitet werden muß, wenn man Wind und Wetter ausgesetzt ist und dazu noch einen weit geringeren Lohn als sonstwo erhält, dann ist es kein Wunder, daß hier keine große Lust vorhanden und zu verspüren ist, in den landwirtschaftlichen Betrieben tätig zu werden oder wieder in sie zurückzugehen.
Sind Nachteile vorhanden, dann dürfen nicht noch Lohnnachteile dazukommen, sondern sie müssen vielmehr durch bessere Löhne kompensiert werden. Das wäre die logische Konsequenz.
Das Wohnungsproblem sollte auch nicht zu gering eingeschätzt werden. Wir haben Unterlagen, wonach gegendweise mehr als 50 % des Werkwohnungsraumes durch nicht betriebszugehörige Familien oder alleinstehende Personen belegt sind. Durch diese Tatsache bedingt sind allerdings oft die eigentlichen Arbeitskräfte des Betriebes menschenunwürdig untergebracht, und hier bedarf es einer sehr dringenden und raschen Auflockerung, wodurch sehr viel Erleichterung geschaffen werden kann.
Wenn hier gesagt worden ist, daß auch die kulturelle Seite des Landlebens geweckt werden müsse, um das Landleben und das Dorfleben anderen Menschen wieder behaglicher zu machen, so kann ich nur meine volle Zustimmung dazu erklären. Es ist nicht zu bestreiten, daß heute auf dem flachen Land eine regelrechte Erstarrung eingetreten ist. Meine Damen und Herren, das hängt eben mit der Kardinalfrage der Unterbewertung der Landarbeit zusammen.
Es sind aber nicht allein die bäuerlichen Familien, die diese Klage führen, und das betrifft nicht nur ihre treuen Helfer, sondern von dieser Erstarrung sind auch das gesamte ländliche Handwerk, der ländliche Handel und das ländliche Gewerbe miterfaßt. Das wirkt sich natürlich auch nach der zivilisatorischen und kulturellen Seite des Landlebens aus.
Meine Damen und Herren, wir haben in der vergangenen Woche bei der Behandlung des Agrarproblems eine seltene Einmütigkeit erlebt. Wir hoffen und wünschen, daß die gleiche Einstimmigkeit auch dann zum Ausdruck kommt, wenn in allernächster Zeit seitens der Regierung Vorlagen kommen, die hier Abänderungen schaffen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir alle Wirtschaftszweige abtasten und alle Möglichkeiten der zusätzlichen Beschäftigung unserer Jugendlichen abwägen, so wird doch zweifelsohne nach wie vor ein erheblicher Rest übrigbleiben. Das wird auch noch auf längere Sicht gesehen der Fall sein, jedenfalls so lange, als wir nicht erhebliche Ausweitungen unserer wirtschaftlichen Kapazität haben und die Geburtenjahrgänge noch in dieser Stärke vertreten sind. Deshalb sind wir der Meinung, daß man doch bei allen Bedenken und selbstverständlich unter Vermeidung jeglichen Rückfalls in einen Arbeitsdienst früherer Zeit etwa zu einem Jugendlichen-Notdienst, oder wie Sie es nennen wollen — die Bezeichnung ist völlig belanglos —, wird kommen müssen.
Auch sind wir folgender Meinung: wenn die Zahl der Jugendwohnheime unter starker Miteinschaltung des Wohnungsbauministeriums und unter Einbau dieser Aufgabe in das Wohnungsbauprogramm um ein Erhebliches vermehrt wird und die jungen Menschen unter die vernünftige Betreuung durch zuverlässige erwachsene Menschen genommen werden, dann ist das wesentlich wertvoller, als wenn diese jungen Menschen auf der Straße herumstreunen. Es bestehen auch genügend Möglichkeiten, sie im nationalen volkswirtschaftlichen Interesse nutzbringend zu beschäftigen, ohne daß der normale Arbeitsmarkt dadurch irgendwie belastet wird.