Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ein Fachmann des Strafrechts und einer unserer größten Rechtsphilosophen, der vor wenigen Monaten verstorbene Professor Gustav Radbruch, der sich ein Leben lang für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzte und der den Artikel 102 des Staatsgrundgesetzes wie ein Gnadengeschenk begrüßte, sagte schon im Mai letzten Jahres in weiser Vorahnung dessen, was heute
nach wenigen Monaten des Inkrafttretens dieses Artikels zur Debatte steht, folgendes:
Seien wir auf der Hut, wenn vorübergehende Volksstimmungen die Rückgängigmachung einer humanen Tat fordern sollten, die uns als ein guter Anfang eines neuen Zeitalters durch weitblickende Verfassungsgesetzgeber geschenkt worden ist.
Die Antragsteller möchten gegenüber der gesteigerten Kriminalität auf das schärfste unter den Strafmitteln nicht verzichten. Sie glauben, mit der Wiedereinführung der Todesstrafe das Allheilmittel gefunden zu haben, und vergessen dabei, daß diese Abschreckungstheorie wirkungslos geworden ist bei einer Generation, die allein durch das Wort „liquidieren" dokumentiert hat, daß sie den Menschen einem leblosen Objekt gleichsetzte,
und der das Wort „umlegen" in zynisch kalter Ausdrucksweise vom Munde ging.
In einer Zeit, wo Härte eine heroische Tugend und die Achtung vor dem Menschenleben in erschreckendem Maße zersetzt war, wo Geisel- und Justizmorde an Tausenden von Menschen demonstriert wurden, da haben diese Menschen die Angst vor dem Tode genau so verloren wie die Ehrfurcht vor dem Leben.
Gerade diese Vergangenheit ist es ja, die die Urinstinkte nach sogenannter Vergeltung wachrief, und unsere Pflicht wird sein, an ihrer Stelle den Ruf nach Menschlichkeit zu erheben in der Überzeugung, daß nur über die Vermenschlichung der Zustände eine höhere Moral und Gesittung erreicht werden kann.
Solange aber die Moral auf der Demontageliste steht, wird es die Pflicht dieses Hohen Hauses sein, der. Zerstörung von sittlichen Werten mit allem Nachdruck entgegenzutreten.
Die Kriminalität wird durch die Wiedereinführung der Todesstrafe nicht gemindert werden, was ja die Statistiken beweisen. Wenn die anderen Staaten die Todesstrafe noch beibehalten, darf das für uns kein Vorbild sein, wenn wir uns ernsthaft zu den Grundsätzen der Humanität auf allen Gebieten des privaten und öffentlichen Lebens bekennen. Das Bekenntnis zur Humanität verpflichtet uns ja, täglich die Frage vorzulegen: Was haben wir in der Bundesrepublik getan, um die Kriminalität einzudämmen? Es vergeht doch kaum ein Tag, an dem uns nicht die menschliche Tragödie in irgendeiner Form zum Bewußtsein gebracht wird. Ich glaube, daß bei einem großen Teil der Kriminellen der Ursprung in den schlechten wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten liegt.
Wir Sozialdemokraten machen uns die Erfahrungen und Erkenntnisse des großen Rechtslehrers Franz Liszt zunutze, der sagte: Eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik.
Lassen Sie uns diese Weisheit gemeinsam in die
Wirklichkeit umsetzen, und ich glaube, Sie werden dann keine überfüllten Zuchthäuser mehr haben.
Der Antrag Nr. 619 kommt mir so vor, wie wenn ein Hausbesitzer aus den Fundamenten seines neugebauten Hauses, das er nicht liebt, die Steine
herausbricht, weil ihm der Grundriß dieses Hauses von Anfang an mißfallen hat.
Die Achtung vor dem Gesetz bedingt aber auch die Achtung vor dem Grundgesetz als Fundament des staatlichen Aufbaus.
Wir Sozialdemokraten bejahen die Abschaffung der Todesstrafe von ganzem Herzen und sehen darin die Erfüllung einer Forderung der Menschlichkeit und den ersten kühnen Schritt von der Bestialität der Vergangenheit in die Humanität einer neuen Zeit. Ich möchte die Antragsteller fragen, wie sie ihre Forderung mit dem christlichen Gewissen vereinbaren wollen.
Das göttliche Gebot „Du sollst nicht töten" befiehlt uns doch, daß wir keinem Menschen das Recht zugestehen dürfen, einem anderen das Leben abzusprechen. Wir wissen, daß es Menschen gibt, die den tausendfachen Tod verdient hätten; aber wir wissen auch, daß der Tod keine Sühne, oft nicht einmal eine Strafe ist, weil er von diesen Menschen ja nur als Ende gewertet wird. Die Strafe, lebenslänglich verurteilt zu sein, läßt durch das Gewissen sühnen und gibt dem Verurteilten die Möglichkeit, sich zum Menschentum zurückzufinden.
Der beste Beweis dürfte der Ihnen doch wohl allen bekannte Fall Ernst von Techow sein, der im Rathenau-Prozeß zu 15 Jahren verurteilt wurde und in dieser Zeit der Besinnung eine Umwandlung zum Guten durchmachte. Nach seiner Begnadigung auf Grund der Hindenburg-Amnestie lebte er in Südfrankreich und verhalf -während der Zeit des Nazi-Regimes unzähligen deutschen Emigranten unter Einsatz seines Lebens zur Flucht.
Aus welchen Motiven der Wille, gutzumachen, entsprang, mag dahingestellt sein. Ich möchte annehmen, daß es ein Brief von einer Mutter an eine Mutter war, den die Mutter Rathenaus nach dem Todes ihres Sohnes an die Mutter von Ernst von Techow geschrieben hat:
In tiefstem Schmerz reiche ich Ihnen, ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich ihm verzeihe, wie auch Gott ihm verzeihen möge.
Dieser Brief ist ein Stück Weltgewissen, entsprungen aus den tiefen Lebensquellen Güte und Liebe. Lassen Sie diesen Brief von der Mutter Rathenaus nicht ungeschrieben, nicht umsonst geschrieben sein! Lassen Sie uns abseits auch von einer gerechten Empörung an das Gute im Menschen glauben! Und beginnen wir damit, beginnen wir alle damit, die Gebote Gottes zu leben.
Bevor Sie sich entscheiden, ob Sie diesem Antrage Ihre Zustimmung geben, bitte ich Sie, meine Herren, einmal darüber nachzudenken, wie Sie sich verhalten würden, wenn Ihr eigenes Kind, durch Veranlagung oder Verführung aus der Bahn geworfen, dem Strafrichter zur Aburteilung zugeführt würde. Und wenn wir zu den Leidgetroffenen gehörten, hätten wir die Kraft der Mutter Rathenaus, zu verzeihen? Die Entwicklung unseres Volkes
in diese Richtung zu lenken, sollte Endziel unserer Arbeit sein. Mag die Argumentation der Antragsteller noch so beweiskräftig geführt werden, wir werden und müssen diesen Antrag in Ehrfurcht vor dem Leben und in der Überzeugung ablehnen,
daß nur über eine soziale Neuordnung eine moralische Neuordnung erreicht werden kann.