Rede von
Dr.
Fritz
Wenzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die politischen Ereignisse, die den Antrag meiner Fraktion auf Drucksache Nr. 727 notwendig gemacht haben, sind uns allen wohlbekannt. Es gibt keinen anständigen Deutschen, den die Ausweisungen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie und aus der Tschechoslowakei, die in den allerletzten Wochen und Tagen vor sich gegangen sind, nicht aufs tiefste berühren. Diese eben jetzt vor sich gehenden Aktionen der Ausweisung fordern ganz selbstverständlich dazu auf, sich aufs neue daran zu erinnern, daß das, was die Polen und die Tschechen heute tun, nur die letzte Folgerung der verhängnisvollen Beschlüsse von Jalta und Potsdam bedeutet, denen damals auch England und Frankreich ihre Zustimmung nicht verweigert haben. Ohne daß wir nun in eine erneute Aussprache über diese sehr wichtigen und grundsätzlichen politischen Fragen des gesamten Vertriebenenproblems an dieser Stelle eintreten wollen, muß doch sehr klar und eindeutig gesagt werden, daß damals die Alliierten ebenso wie Benesch in der Tschechoslowakei eindringlich gewarnt wurden, die Ausweisungen überhaupt vorzunehmen und anfangen zu lassen. Denn diese Massenausweisungen, von denen Millionen von Deutschen betroffen sind, sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Recht von Anfang an gewesen.
Nun, ebenso klar wie das eben Gesagte anerkennen wir auch die Tatsache, daß das gesamte Vertriebenenproblem ebenfalls zu den unheilvollen Konsequenzen gehört, die der Hitlerkrieg für uns mit sich gebracht hat. Aber gerade deswegen müssen wir den Alliierten gegenüber offen zum Ausdruck bringen, daß ein bestehendes Unrecht, das durch seine Mißachtung von Recht und Menschenwürde unsagbares Elend über die Völker gebracht hat, nicht dadurch wettgemacht wird, daß man ihm neues hinzufügt oder hinzufügen läßt.
Deshalb wenden wir uns gegen die Weisung der Hohen Kommissare an die Bundesregierung, die die Aufnahme der deutschen Menschen, die jetzt aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie und aus der Tschechei in das Bundesgebiet kommen wollen, verbietet. Wir erklären ebenso mit Entschiedenheit vor diesem Hause und vor aller Welt, daß wir uns auch gegen die Vorkommnisse stellen, die sich vor wenigen Tagen vor den Toren Friedlands abgespielt haben. Wir erklären uns auch vollkommen solidarisch mit dem niedersächsischen Minister für Heimatvertriebene, Pastor Albertz, der sich gegen die
verhängten unmenschlichen Sperrmaßnahmen gewandt hat, und wir betonen auch unsererseits, daß" uns das Schicksal unserer deutschen Brüder und Schwestern vor dem lebendigen Gott und unserem Gewissen nicht gleichgültig sein kann. Der Tatbestand, den die Hohen Kommissare mit ihrer Weisung geschaffen haben,
bedeutet eine Politik auf Kosten von Menschenschicksalen, die vor dem Grundgesetz, vor Demokratie und Menschenwürde nicht bestehen kann,
die aber ebensowenig vor den von den Alliierten selbst immer vertretenen Ideen und Idealen von Humanität und Menschlichkeit besteht, und auch, ich möchte das zuletzt mit allem Nachdruck hervorheben, vor der von ihnen anerkannten Christlichkeit.
Es ist für keinen, der sich für den Menschen und das Menschliche verantwortlich weiß, eine Frage, daß im Angesichte dieser Menschenschicksale, um die es in unserem Antrag geht, unter allen Umständen und auf jeden Fall das Gebot der Menschlichkeit zur Geltung zu bringen ist. Wir meinen, daß alle Bedenken und Einwände; daß Schwierigkeiten, die auch administrativer Art sein könnten, hier ihre noch so berechtigte Geltung verlieren. Es muß nun endlich einmal im Ernste bewiesen und verwirklicht werden, daß einzig und allein der Mensch in seiner Not und seinen berechtigten Anliegen und sonst nichts anderes ausschlaggebend ist, wenn man sich zu einer Politik bekennt, die auf der Grundlage der Demokratie steht.
Wir wollen auch noch besonders daran erinnern, daß die Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei, um deren Aufnahme in unsere Bundesrepublik es geht, während der letzten 5 Jahre ihres Lebens unter ganz besonderen Leiden, Schwierigkeiten und Nöten in den Ostgebieten gelebt haben. Sie haben äußerlich und innerlich, körperlich und seelisch, länger und mehr unter den bedrückenden Zuständen gelitten als wir anderen Heimatvertriebenen, die wir schon einige Jahre früher die Heimat verlassen mußten. Schon deswegen ist ihr moralischer und menschlicher Anspruch, nun endlich Aufnahme bei uns zu finden, gerechtfertigt, weil es nach jedem sittlichen und religiösen Verständnis überhaupt keinen zwingenden menschlichen Grund gibt, sie nicht bei uns aufzunehmen. Deswegen ist es unmöglich, diese deutschen Brüder und Schwestern draußen vor der Tür stehen zu lassen, und weil wir wissen, daß es sich bei ihnen in der Tat um die Schwächsten von uns handelt, sind wir über die von den Hohen Kommissaren- angeordnete Aufnahmesperre deswegen so besonders erschüttert, weil hier wieder einmal wie selbstverständlich die Unschuldigen und Schwachen am härtesten und schwersten von den Schlägen auf dem Kampffeld des politischen Lebens getroffen werden.
Darum können wir es nicht eindringlich genug sagen, daß der demokratische Gedanke als der Gedanke von der Menschlichkeit und Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen nicht nur in der Theorie und im luftleeren Raum deklamatorischen Ausdruck finden darf, sondern daß er gerade dann praktiziert und in die Tat umgesetzt werden muß, wenn man sich einer ganz besonderen, schweren
und erschütternden menschlichen Not gegenübersieht.
Anordnungen und Maßnahmen, wie die von den Hohen Kommissaren ergangenen, die den in schwerster Not befindlichen deutschen Menschen den Zutritt in ihr Vaterland, als welches doch wohl das Bundesgebiet anzusehen ist, versperren wollen, sind — wir wollen es noch einmal aussprechen — einfach deswegen ein schlechter Dienst bei der Aufrichtung der Demokratie und ihrer Verwirklichung in unserem Volk und in der Welt, weil sie die selbstverständlichen Menschenrechte antasten, von denen wir endlich einmal wissen wollen, daß sie nicht nur auf dem Papier gedruckt stehen, sondern unbedingt und ohne jede Einschränkung auch im äußersten Ernst- und Notfall Geltung haben.
Es ist keine Frage, daß die Auffassung der Hohen Kommissare im Widerspruch zu der Charta der Menschenrechte steht, die vor noch nicht allzu langer Zeit feierlich von den Vereinten Nationen proklamiert und zum Kernpunkt aller christlichen Weltauffassung erhoben wurde. Ich will in diesem Zusammenhang Art. 15 und 16 zitieren, die da lauten:
Jedermann hat das Recht, das Asylrecht vor Verfolgung in anderen Ländern zu suchen und zu genießen.
Jedermann hat das Recht auf eine Staatsbürgerschaft.
Ich muß nun mit allem Nachdruck sagen, daß die hier proklamierten und verbürgten Menschenrechte für die deutschen Menschen aus den Ostgebieten doppelt und dreifach gelten, weil, wie Sie ja alle wissen, die Alliierten die deutschen Behörden schon lange angewiesen haben, jeden Fremden in Deutschland aufzunehmen und ihn unter den Schutz dieser Menschenrechte zu stellen. Wie können aber nun die gleichen Alliierten uns Deutschen zumuten, Deutsche, die sich in bitterster Not und in schwerstem Elend befinden, weil sie ihre Heimat aufgeben mußten, an den Toren der eigenen Heimat abzuweisen?
Wenn wir uns gegen die Anordnung der Hohen Kommissare wenden und alle Bemühungen, die zur Aufnahme dieser deutschen Menschen notwendig werden, unterstützen, wenn wir die Bundesregierung auffordern — sei es durch den Mund des Herrn Bundesflüchtlingsministers oder einer anderen Persönlichkeit —, zu unserem Antrag Stellung zu nehmen, und wenn wir dieses Hohe Haus durch die Aufforderung zur Annahme unseres Antrags ebenfalls dazu aufrufen, alle notwendigen Maßnahmen und Bemühungen zu bejahen und tatkräftig zu fördern, die der Aufnahme der Deutschen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie und der Tschechoslowakei zugute kommen, dann sind wir uns durchaus der Schwierigkeiten, die mit alledem verbunden sind, bewußt. Auch wir sehen die materiellen, sozialen und politischen Schwierigkeiten, die sich für uns nun noch vergrößern werden, gerade weil wir selbst die Arbeitslosigkeit, die Armut und das Millionenheer der Vertriebenen bei uns in der Bundesrepublik haben. Aber wir meinen trotzdem, daß alle diese Nöte keinen Einwand liefern dürfen, uns der Aufnahme unserer deutschen Brüder und Schwestern zu versagen. Wir wissen sehr wohl, daß eine gerechte Verteilung und eine ebensolche Eingliederung der jetzt aufzunehmenden Menschen, die nach einem wohldurchdachten Plan vorgenommen werden muß,
eine der vordringlichsten Aufgaben ist, an deren sofortige Lösung der Bund und die Länder herangehen müssen. Nur wenn dieser und andere Schritte wirklich sofort und jetzt unternommen werden, werden wir verhindern können, daß das Elend vor den Toren Westdeutschlands und damit das zum Himmel schreiende Schicksal der Vertriebenen überhaupt nicht noch furchtbarer, grausamer und unmenschlicher wird.
Daher bitte ich Sie, meine Damen und Herren, unserem Antrag, den zu begründen ich die Ehre hatte, Ihre Zustimmung zu geben.