Meine Damen und Herren! In der Diskussion, die soeben geschlossen worden ist, und die zum Teil recht lebhaft war, in der ich aber neben mancherlei Gegensätzen und mancherlei scheinbaren Widersprüchen auch mancherlei Verbindendes empfunden habe, ist von jenem Terrorsystem der Vergangenheit gesprochen worden, dessen Opfer nicht Tausende, sondern Hunderttausende, ja Millionen waren. Auch in diesem Hause befinden sich in allen Reihen und auf allen Bänken manche Männer und Frauen, die das gleiche oder doch ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie jene, denen dieser Entwurf eines Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiete der Strafrechtspflege gilt, wie jene Männer und Frauen, die in der Zeit der Tyrannis den Kampf um die Menschlichkeit, den Kampf gegen den totalitären, die menschliche Freiheit auslöschenden Staat gewagt haben. Ich sage das, um auch einmal ein paar verbindende Worte in diesem Hause zu Gehör zu bringen.
Sehr bald schon nach 1945, als man die ersten Schritte unternahm, in Deutschland wieder eine rechtsstaatliche Ordnung aufzurichten, sind Erlasse, Verordnungen und Gesetze gleichen oder ähnlichen Inhalts verkündet worden. Ich denke an den Justizerlaß des Oberlandesgerichtspräsidenten in Hamburg vom 2. Oktober 1945, nach dem politische Straftaten gegen den Nationalsozialismus nicht mehr verfolgt werden durften oder durch den Verurteilungen wegen solcher Straftaten aufgehoben wurden. Ich denke an die Verordnung des Zentraljustizamtes -in Hamburg vom 3. Juni 1947, an Landesverordnungen, die in der französischen Zone ergangen sind, und ähnliche gesetzliche Regelungen. Aber alle diese Regelungen trugen den Charakter einer Amnestie. Der aus politischen Gründen Verurteilte blieb verurteilt; seinem nunmehr amnestierten Verhalten wurde der Charakter des Unrechtes nicht genommen, er blieb gewöhnlichen Kriminellen, die zufällig die Gunst eines Straffreiheitsgesetzes genossen, mehr oder weniger gleichgestellt.
Erst das in den Ländern der amerikanischen Zone gleichlautend erlassene und am 15. Juni 1946 in Kraft getretene Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiete der Strafrechtspflege erklärte schlechthin politische Taten, durch die dem Nationalsozialismus Widerstand geleistet wurde, als nicht strafbar. Hier kam zum ersten Mal zum Ausdruck, daß es sich nicht um eine Amnestie, um einen nachträglichen gesetzlichen Gnadenakt gegenüber Kriminellen, sondern um Wiedergutmachung politischen Unrechts handelt. In gewissem Umfang blieb aber auch hier die Aufhebung eines Urteils, das wegen einer politischen Widerstandshandlung ergangen war, von der Stellung eines Antrags binnen einer bestimmten Frist abhängig. Diese Fristen, die wir auch in anderen Gesetzen und Verordnungen dieser Art finden, sind zum Teil abgelaufen.
Die Rechtsungleichheit, der Umstand also, daß in Teilen des Geltungsbereichs des Grundgesetzes politische Widerstandshandlungen gegen den Nationalsozialismus zwar amnestiert sind, aber weiterhin als Unrecht betrachtet werden, während sie in der amerikanischen Zone schlechthin als nicht strafbar gelten, und der Umstand, daß die Aufhebung dieser Urteile aus der Zeit des Terrors zum Teil an Fristen und Anträge gebunden ist, macht nunmehr eine bundesgesetzliche Regelung notwendig, die übrigens von einigen Generalstaatsanwälten, denen wir diesen Entwurf zur Kenntnisnahme zugeschickt haben, gebilligt worden ist.
Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf erklärt den aus Überzeugung gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und gegen den Krieg geleisteten Widerstand für nicht rechtswidrig. Er bezweckt also die rechtliche, politische und moralische Rehabilitierung desjenigen, der Überzeugungswiderstand gegen die Gewaltherrschaft und gegen den zu ihrer Ausbreitung entfesselten Krieg geleistet hat. Nicht jeder, der sich im Gestrüpp des terroristischen Strafrechts der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch ein eigensüchtiges oder meinetwegen defaitistisches Verhalten verirrt hat. ohne das System als solches ablehnen zu wollen. ist mit diesem Gesetzentwurf gemeint, sondern nur der natürliche Gegner des Dritten Reiches und jener. der sich aus der Erkenntnis des verbrecherischen Charakters dieser Herrschaft gegen sie aufgelehnt hat. Unrecht war nicht der Widerstand gegen diese Gewaltherrschaft. Unrecht war die nationalsozialistische Herrschaft als solche und jenes brutale Terrorstrafrecht. das mit einer Fülle sich überstürzender Nebengesetze zum Strafgesetzbuch eigentlich zum klassischen Beispiel gesetzlichen Unrechts geworden ist.
Es gibt eine staatsrechtliche Auffassung, die das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 als verfassungswidrig ansieht, weil die Zweidrittelmehrheit, die damals außer den Sozialdemokraten und den gewaltsam ausgeschlossenen Kommunisten für es gestimmt hat, auf der Einschüchterung -- wie der Bonner Staatsrechtslehrer Professor Dr. Thoma erklärt — durch zahlreiche Terrorakte und -furchterregende latente Drohungen, teils auf lügnerischen Lockungen beruht. Die auf diesem Gesetz beruhende Machtergreifung -- die Nationalsozialisten sprachen ja bezeichnenderweise von Machtergreifung — ist im Grunde keine echte Revolution, sondern eine Usurpation der Macht gewesen. Denn wenn man auch auf dem Standpunkt stehen sollte. daß eine echte Revolution, die von der Allgemeinheit getragen wird, neues Recht schaffen kann, dann doch nur, wenn dieses vielleicht nicht geläuterte Recht von einer gewandelten Rechtsüberzeugung getragen wird. Die verbrecherischen und — ich möchte beinahe sagen — satanischen Auffassungen Hitlers sind aber niemals von der Gesamtheit .des deutschen Volkes als die Rechtsüberzeugung aller billig und gerecht Denkenden angesehen worden. Deshalb konnte der Widerstand gegen dieses System nicht rechtswidrig sein.
Ich erinnere daran, daß im März 1933 36 Sondergerichte im alten Reichsgebiet errichtet wurden, daß 36 Hochverratssenate — neben den Untersuchungsrichtern bei den Oberlandesgerichten als Untersuchungsrichter des Reichsanwalts beim Volksgerichtshof -- tätig waren, daß der Volksgerichtshof selbst amtierte, um all jene im Laufe der Jahre abzuurteilen, die als Gegner dieser
Gewaltherrschaft galten oder angesehen wurden. Im Laufe dieser Zeit — und das sollte auch der Herr. Bundesjustizminister bedenken, wenn er das Problem der Vertrauenskrise der Justiz erörtert — sind etwa 1200 bis 1400 Richter und Staatsanwälte an diesen Sondergerichten, Hochverratssenaten und in den Sonderstaatsanwaltschaften tätig gewesen..
Wir haben keine genauen Unterlagen darüber, wie groß die Zahl der Deutschen ist, die wegen ihres Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verurteilt worden sind. Die Akten sind entweder durch Kriegseinwirkung oder aber durch die nationalsozialistischen Machthaber selbst vor dem Zusammenbruch vernichtet worden. Das Statistische Jahrbuch des Deutschen Reichs für 1933 gibt die Zahl der in den ersten Monaten dieses Jahres aus politischen Gründen Verurteilten aber auch damals schon auf 20 000 an. Die tatsächliche Zahl dürfte weithin höher sein. Die Zahl der gerichtlichen Todesurteile wird von dem früheren Reichsjustizminister Thierack in einem vertraulichen Mitteilungsblatt der NSDAP im Jahre 1941 auf 1292 und im Jahre 1943 auf 5336 angegeben. Wie hoch sie dann im Jahre 1944 gewesen sein muß, brauche ich nicht näher zu erläutern. Darüber liegen begreiflicherweise keine genauen Unterlagen vor. Nach Schätzungen, die man heute glaubt machen zu können, beträgt die Zahl der Deutschen, die zwischen dem März 1933 und dem September 1939 aus politischen Gründen in Schutzhaft genommen, vorübergehend verhaftet, Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verbüßt oder sich in Konzentrationslagern befunden haben, 1 1/2 Millionen.
Diese Zahlen sind ungenau; wahrscheinlich sind die wirklichen Zahlen noch höher.
Eines weiß man aber, daß der deutsche Widerstand Menschen aller Richtungen und Auffassungen umfaßte: Angehörige der deutschen Arbeiterbewegung — ich erinnere an Leuschner und Mierendorff und an die zahllosen unbekannten kleinen Funktionäre —, Männer des katholischen Klerus — ich denke an Graf von Galen und an den Kardinal Graf von Preysing —, die Be- kennende Kirche, auch den Hochadel und das Offizierkorps, das den Widerstand bis zum Versuch des Staatsstreiches gesteigert hat. Dieser deutsche Widerstand beruhte auf keiner in sich geschlossenen Organisation. Er konnte es im totalitären Staate, der das gesamte Leben der Nation, das Leben des einzelnen, das der Familie durchdrang und im Grunde völlig entprivatisierte, vielleicht auch nicht sein. Neben der bewußten Aufsicht der Gestapo stand ja die unbewußte der Blockwarte. Aber die soziologische Breite der deutschen Opposition und andererseits die Unmöglichkeit, sich angesichts der totalen Apparatur des nationalsozialistischen Staates zu einer geschlossenen Bewegung zu entwickeln, lassen erkennen, daß der Vorwurf einer Kollektivschuld entweder auf völliger Verkennung des Wesens eines totalitären Staates beruht oder aber auf der Unkenntnis über die Möglichkeiten des Widerstandes in einem solchen Staat.
Der Widerlegung dieser unwahren Auffassung der Kollektivschuld dient auch dieses Gesetz. Wir wollen mit diesem Gesetz keinen neuen Heroenkult mit dem unangenehmen Beigeschmack des „Alten -Kämpfertums" schaffen; im Gegenteil, wir wissen, daß dem deutschen Widerstand der Erfolg versagt geblieben ist. Sein Weg war ein einziger Opfergang. Wir wissen aber auch, daß auch andere, Millionen anderer Menschen den Weg des Leidens und des Opfers haben gehen müssen. Ein Opfergang war der Weg von Millionen jenseits unserer Grenzen, aber auch Millionen innerhalb unserer Grenzen, die nicht wie die Männer des Widerstandes zu den Wissenden gehörten, sind Opfer dieser Gewaltherrschaft gewesen. Sie sind vielfach zunächst im blinden und später im zagenden Vertrauen jenen gefolgt, die sich ihre Führer nannten. Vor allem aber möchte ich eines sagen. Wohl niemals in der neueren Geschichte ist die gesamte Jugend eines Volkes so hartnäckig und so ruchlos betrogen und mißbraucht worden wie die deutsche Jugend in der Zeit dieser Gewaltherrschaft. Nur dieser Betrug, nur die große Täuschung, die an dieser Jugend begangen worden ist, erklären vielleicht die Gläubigkeit, mit der diese Jugend in Narvik, in der Steinwüste von El Alamein oder aber im Kessel von Stalingrad ohne Hoffnung gestorben ist. Ich möchte sagen, das Schicksal dieser 6. Armee, die dem Wahnwitz eines Tyrannen geopfert wurde — und der auch ich einmal angehört habe —, ist symbolhaft nicht nur für das Schicksal der Widerstandskämpfer, sondern auch für das Schicksal großer Teile unseres Volkes. Ich selbst habe das Schicksal beider geteilt: das Schicksal jener, die wegen ihrer politischen Überzeugung in den Gefängnissen oder Lagern des Dritten Reiches zugebracht haben, aber auch das Schicksal der andern, die in der russischen Steppe oder sonst irgendwo auf dem weiten Kontinent in den schwersten Konflikt, den Konflikt zwischen Vaterland und Menschheit gestellt waren. In diesen Konflikt waren sie irgendwie alle gestellt. Die Gemeinsamkeit dieses Schicksals möge eine Brücke zwischen den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes und jenen sein, die durch die Männer von Stalingrad repräsentiert werden. Möge daraus die Sehnsucht nach einer Welt der Freiheit, einer besseren Welt der Menschlichkeit erwachsen!