Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat es einmal, in längst vergangenen Zeiten, „Majestätsverbrechen" genannt. Dann wurde der Hochverratstatbestand geschaffen. Man bestrafte diesen Hochverrat mit Festung, mit ehrenhafter Haft. In der Zeit von 1918 bis 1933 ist von diesen Hochverratsbestimmungen zunehmend Gebrauch gemacht worden. Später kam die Verschärfung der Straffolgen: Zuchthaus. Zahlreiche völlig auf das System des Terrors gegründete Rechtsnormen, Generalklauseln wurden dann in den zwölf Jahren geschaf-
fen, denen Hunderttausende von Menschen zum Opfer gefallen sind.
— Millionen. Worte reichen hier doch nicht aus.
Nach 1945 liegt uns nun erstmalig wieder eine Gesetzesvorlage vor, die den Versuch macht, die Grundlagen des Staates gegen Angriffe zu verteidigen. Ich glaube, daß man mit dem gegenseitigen Vorwerfen zwischen der einen und anderen Richtung, mit dem Denunzieren, wer denn nun der Feind sei: — „Der Feind steht rechts!", „Der Feind steht links!" oder sonstwo — immer weitergeht auf dem Höllenweg, den anzudeuten ich mich bemüht habe, und zwar im Sturmschritt, schließlich mit schnellstem Absturz! Ich denke hier an das Bild von Rubens. Es ist zu befürchten, daß es ungefähr so sein Ende nehmen wird, ein Ende im vollkommenen Chaos, in der Zertrümmerung jeglicher Rechtsnorm und jeglichen Rechtsfundaments.
Ich erinnere daran: zuerst kam das Sozialistengesetz und dann nach 1918 das Republikschutzgesetz, — beides Paukenschläge, wenn man es richtig und gemäß dem historischen Hintergrund betrachtet. Da war etwas ins Rutschen gekommen.
Wenn man den Geist des Grundgesetzes, so wie es im Parlamentarischen Rat in einer — alles in allem genommen — sehr ruhigen und sachlichen Atmosphäre geschaffen worden ist, kennzeichnen will, so darf man wohl sagen, daß es der letzte verzweifelte Versuch ist, die Demokratie durch das Element der Rechtsstaatlichkeit zu retten. Herr Kollege Kiesinger hat in dem Zusammenhang etwas sehr Wahres gesagt: Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit führt zu Barbarei, führt zur Despotie. Wenn man heute hier gewisse Stimmen des Auslandes angeführt hat, die sich über den Zustand in Deutschland beklagen. dann bitte ich doch auf eines hinweisen zu dürfen: Seit wann ist diese abschüssige Bahn angetreten worden, seit wann sind die Fundamente unseres staatlichen Gemeinschaftsgefühls zerbrochen worden? — Man kann ein genaues Datum nennen: dieses Datum heißt 1918, und dieses Zerbrechen geht zurück auf den Versailler Vertrag und seine Folgen!
Von diesem Tage an ist die Grundsubstanz, das sittliche Gefühl für die Zusammengehörigkeit und damit der eigentliche Kern unserer Staatsidee mehr und mehr korrumpiert worden.
Damit wurde auch das, was man Recht nennt, unser Rechtsgefühl und unser Rechtsgewissen korrumpiert. An die Stelle dessen, was auf dem Boden des gemeinsamen Handelns möglich war, traten Terror und Gewalt, indem die Idee nicht mit der Kraft ihrer geistigen Bedeutung, sondern mit der Macht durchgesetzt werden sollte.
Deutschland war 1918 — ich erinnere an das Gesetz zur Parlamentarisierung vom 28. Oktober 1918 auf dem besten Wege, die allmähliche, ruhige Entwicklung zum parlamentarischen und demokratischen System zu beginnen; aus einer Regierung, die nach dem Gesetz f ü r das Volk, aber nicht durch das Volk geschaffen war, sollte eine Regierung f ü r das Volk und durch das Volk werden. Diese Entwicklung eines Systems, das auf einer großen Rechtssicherheit aufgebaut war, ist durch den Zusammenbruch nach dem ersten Weltkrieg zerstört worden, und es blieb ein Volk zurück, das allmählich nicht mehr wußte, was Rechtens und was nicht Rechtens war. In diese zermürbende Situation wurde es weiter und weiter hineingedrängt, indem die Bedingungen der Radikalisierung gesetzt wurden, indem man für Großmut kein Verständnis aufbrachte, insbesondere kein Verständnis dafür, was es für ein Volk heißt, seine Tradition verloren zu haben und nach einer so langen und ruhigen Geschichte den Spannungen revolutionärer Verhältnisse ausgesetzt zu sein, sich darin zu korrumpieren und die sittliche Grundlage seiner Zusammengehörigkeit zu verlieren.
Der Flaggenstreit ist doch eines dieser Beispiele dafür, wie mitten durch den Körper einer Nation ein Schnitt geht, 'einer Nation, die in den Grundlagen ihres Zusammengehörigkeitsgefühls und in der Auffassung dessen, was sie als Staat darstellt, zusammengefügt sein müßte. Alles das waren Warnungszeichen. Man hat Deutschland damals nicht verstanden, man hat nicht die Voraussetzungen gewährt, damit das hätte geschaffen werden können, was man nicht künstlich durch ein Gesetz erreichen und schaffen kann; man hat uns nicht die Ruhe der Entwicklung gegönnt.
Die Frucht, die von 1933 bis 1945 als eine Katastrophe der Welt aus diesem Unverstand hervorgegangen ist, ist so giftig, daß wir an den Folgen dieser Vergiftung immer noch kranken, und vieles, was nun zum Schutze der Demokratie aufgebaut werden soll, trägt in sich genau so den terroristischen und polizeistaatlichen Kern, der uns immer weiter auf den Weg der Korrumpierung führen wird. Es ist nicht möglich, durch Gesetze sittliche Grundlagen zu errichten. Nein, Gesetze beruhen auf ihrer sittlichen Grundlage. Wenn diese Substanz nicht da ist, dann hilft kein noch so gutes Gesetz.
Das Grundgesetz beruht auf einer ganz bestimmten Auffassung von der Demokratie, nämlich einer Demokratie, die auf persönliche Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit gegründet werden soll. Es ist der letzte verzweifelte Versuch, uns aus der Tradition und Grundgesinnung unseres Volkes heraus dem entgegenzustellen, was wir alle als einen Höllensturz erlebt haben. Wenn man also Kritik übt an unserem inneren Gefüge, dann sollte man neben dieser Kritik auch immer die Großmut walten lassen und nicht noch einmal unseren werdenden Staat in eine ähnliche Zwangslage versetzen, wie sie für ihn nach 1918 gegeben war. Wenn es damals nicht einen Mann wie den Reichspräsidenten Ebert gegeben hätte, dann wäre Deutschland wahrscheinlich im Chaos versunken. Die Politiker der Weimarer Zeit konnten objektiv betrachtet bei den damaligen Verhältnissen nicht mit der Not ihrer Zeit fertig werden, und wir stehen heute wahrscheinlich wieder an genau derselben Stelle.
Berücksichtigt man bei diesem Gesetz den eben dargestellten gewaltigen Hintergrund, so scheint es fast vermessen, in so kurzer Zeit zu ihm Stellung zu nehmen. Meine Fraktion ist der Auffassung, daß nicht ein Sondergesetz geschaffen werden sollte. Wir bejahen grundsätzlich ein solches Gesetz dann, wenn es auf dem Boden der Verfassung, im Geiste des Grundgesetzes, geschaffen wird. Aber wir wünschen nicht ein Sondergesetz, das
dann ein ähnliches Schicksal haben könnte wie das Republikschutzgesetz oder das Sozialistengesetz. Wir wünschen vielmehr, daß diese sittlichen Grundnormen für unser politisches Leben in das Gesamtgefüge unseres Strafrechts eingebaut werden.