Rede von
Karl
Meitmann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! In der vorletzten Sitzungswoche, in der 37. Plenarsitzung des Bundestags, haben wir das Gesetz über Hilfsmaßnahmen zur Förderung der Berliner Wirtschaft verabschiedet. Es ist tief bedauerlich, daß sich ein, wenn auch nur kleiner Teil der Abgeordneten des Bundestags bei der Abstimmung der Stimme enthalten und ein - Gott sei Dank, das darf ich sagen — auch nur kleiner Teil der Abgeordneten bei ihrer Stimmabgabe gegen dieses Hilfsgesetz für Berlin entschieden hat. Es waren erwartungsgemäß die Vertreter der Kommunistischen Partei, jener Partei in der Bundesrepublik, deren östliche diktatorische Führer und Einpeitscher in diesem Hause uns ursächlich veranlaßt haben, dieses Gesetz einzubringen und zu verabschieden.
Das Gesetz enthält drei konkrete Hilfsmaßnahmen für Berlin: eine Bundesgarantie zur Abdeckung des dem Warenbezug aus Groß-Berlin nach dem Westen anhaftenden Risikos, eine Bundesbürgschaft zur Sicherstellung der Finanzierung eines einzigen, wenn auch sehr bedeutenden wirtschaftlichen Versorgungsunternehmens, des Kraftwerkes West, und drittens die Gewährung einer dreiprozentigen Umsatzsteuervergütung für Gegenstände, die in West-Berlin erworben oder hergestellt und in das westdeutsche Bundesgebiet überführt werden. Alle drei Maßnahmen zielen ab auf die Förderung der Berliner Produktion und damit — und das ist das für uns Entscheidende — auf die Steigerung der Beschäftigungsmöglichkeiten der Berliner Bevölkerung, deren Arbeitslosenzahl, wie wir alle wissen, über der sämtlicher anderen deutschen Bundesländer liegt.
So erfreulich die Verabschiedung dieses Gesetzes ist, so wichtig ist die Erkenntnis, daß dieses Gesetz — ich hoffe, daß das ganze Haus von dieser Erkenntnis beseelt ist und auch willens ist, ihr zu folgen — nur ein Anfang ist. Bei diesen Maßnahmen, die wir in der vorletzten Sitzung beschlossen haben, handelt es sich nur um einen ersten Schritt. Wir möchten, daß der Bundestag nun in rascher Folge, Zug um Zug auf diesem Wege weitergeht, um Berlin zu helfen. Ich will den zahllosen Sympathieerklärungen und Solidaritätsproklamationen, die aus fast allen Kreisen der westdeutschen Bevölkerung gekommen und mit mehr oder weniger großer Nachdrücklichkeit abgegeben worden sind, nicht etwa den Wert absprechen. Ich bin weit davon entfernt. Meine Freunde und ich sind der Meinung, daß jede solche Erklärung ihren inneren politischen Wert hat. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags aber würden den Ehrentitel „Volksvertreter" nicht verdienen, wenn sie von solchen Erklärungen nicht zu Taten übergingen; denn erst dadurch erscheinen solche Erklärungen glaubhaft und bekommen sie ihren Wert. Es ist doch wohl die echteste und bedeutsamste all unserer Aufgaben, die wir als Abgeordnete haben, unsere jetzt getrennten deutschen Gebiete wieder zu einem einheitlichen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Gemeinwesen zusammenzuführen.
Alle Ausführungen über die Einheit Deutschlands sind leeres Gerede, wenn diesem Gesamtgebiet nicht aus voller Überzeugung vom inneren Wert der inneren Gestaltung dieses Landes das gegeben wird, was seine Einheit mit Sicherheit verbürgt, nämlich die Freiheit seiner Bürger! Hierfür soll der Antrag, den die sozialdemokratische Fraktion eingebracht hat, ein weiterer. Beweis sein; er soll dem Hause beweisen, daß wir es mit diesen Erklärungen ernst meinen.
Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren, hätten wir es auch viel lieber gesehen, wenn statt des Antrages meiner Fraktion eine dem Sinn und Inhalt dieses Antrages entsprechende Vorlage des Herrn Ministers für gesamtdeutsche Fragen dem Hause unterbreitet worden wäre, und noch lieber, wenn es eine Vorlage der Regierung wäre, hinter der alle Kabinettsmitglieder stehen. Wir fragen uns: warum geschah und geschieht das eigentlich nicht? Hat der zuständige Herr Minister oder hat ein anderes Kabinettsmitglied etwa Bedenken sachlicher Art? Was ist denn der eigentliche Sinn unseres Antrages? Es ist nichts anderes als die konsequente Folgerung aus einem bereits am 21. Oktober des vorigen Jahres gefaßten Beschluß dieses Hohen Hauses. Der Bundestag hat darin die Meinung ausgesprochen, daß Berlin so behandelt werden solle, als ob es de facto und de jure das zwölfte deutsche Land sei. Vier volle Monate hat die Bundesregierung uns auf ihre Initiative warten lassen. Wir fragen uns: ist das Zufall, oder liegen so ernste Bedenken vor? Wenn ja, dann möchten wir sie hören. Vier Monate sind ins Land gegangen, während deren die Pression auf Berlin ständig zunahm, bis wir, die Opposition, nun wiederum, wie in vielen anderen Fällen, gezwungen waren, die Initiative zu ergreifen und durch den vorliegenden Antrag den Versuch zu unternehmen, Berlin rasch und wirksam zu helfen. Dem Sinn des Wortes „regieren" entspräche es doch wohl, wenn man in so wichtigen Dingen, wie es durch diesen eben gekennzeichneten Beschluß des Bundestages deutlich geworden ist, voranginge. Regieren heißt führen. heißt in der Initiative sein. Für den Fall, daß hier sachliche Bedenken geltend gemacht werden sollten, stelle ich fest: Mit der einzigen Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts, das wohl dem früheren Reichsgericht in Leipzig gleichzusetzen ist, sind alle Bundeseinrichtungen, deren Verlegung oder, besser und richtiger gesagt, Wiederaufrichtung in Berlin wir beantragt haben, früher Einrichtungen Berlins gewesen und haben schon immer einen Bestandteil des Berliner Lebens gebildet. Berlins Anspruch, wenigstens traditionell, noch mehr aber aus der Sache und aus der Situation heraus, auf eine Zurückverlegung dieser in unserem Antrag dafür vorgesehenen Bundeseinrichtungen steht für uns Sozialdemokraten außer Zweifel. Wer diesen Anspruch aus der Vergangenheit und aus der gegebenen Situation Deutschlands und Berlins nicht anerkennt, von dem möchten wir wohl annehmen, daß er es mit seinen Komplimenten und seinen Sympathieerklärungen nicht ganz ernst meint. Die Berliner Bevölkerung jedenfalls —das wissen Sie ja — will jetzt nicht mehr schöne Worte. Oft genug haben wir, wenn wir mit den Menschen in Berlin zusammensaßen, gehört: Der Worte sind genug gewechselt, jetzt woll'n wir endlich Taten sehn!
Daß wir Sozialdemokraten es ernst mit diesen Konsequenzen aus Proklamationen meinen, die überall in Deutschland und darüber hinaus für
Berlin erlassen worden sind, will ich Ihnen — und das darf ich als Abgeordneter meines Hamburgischen Landes bescheidenerweise hier .sagen — an einem Beispiel beweisen. Unter Ziffer 1 unseres Antrages ist das Bundesaufsichtsamt für Privatversicherung aufgeführt. Im Bundesrat haben die Vertreter des Landes Hamburg den Alternativantrag gestellt — und so ist er gemeint —, für den Fall,- daß dieses Haus und die Regierung aus irgendeiner Überlegung heraus nicht willens sind, diese Institution nach Berlin zu verlegen, das Bundesaufsichtsamt für Privatversicherung nach Hamburg zu verlegen. Ich habe die Argumente und die Begründung geprüft, und ich kann, ohne daß ich mich Hamburg mehr als der Bundes-Republik verbunden erkläre, vor jedem deutschen Lande sagen, daß diese Argumente gut und achtbar sind. Aber ich erkläre auch, daß wir Sozialdemokraten, die wir hier sitzen — alle unsere Abgeordneten Mann für Mann — für die Verlegung auch dieses Amtes nach Berlin eintreten und stimmen werden.
Die Priorität Berlins ist keine Frage des Interesses einer Gruppe von Deutschen irgendeines Landes, sondern das ist die politische Frage der Stützung und Erhaltung unseres Vorpostens im Kampf für die Freiheit auch unseres Westdeutschlands und Europas.
Wir sind weit entfernt von Selbstzufriedenheit, und wir sind mit den sozialen, ökonomischen und politischen Umständen in Westdeutschland gar nicht zufrieden. Aber wir wissen. daß die Not der Berliner Bevölkerung um das Vielfache größer ist gegenüber der, in der wir selber uns befinden und mit der fertigzuwerden wir uns bemühen.
Meine Damen und Herren! In dem Beschluß des Bundestages wird von Berlin als dem zwölften Land gesprochen, das wir in unsere Sorgen so einbeziehen wollten, als gehörte es de jure zu uns. Ich möchte diese Reihenfolge umkehren und sagen: von heute ab und solange Berlin nicht de facto in all seinen Beziehungen wirklich ein Land der deutschen Bundesrepublik ist, so lange zumindest, ohne jede juristische Einschränkung, ist Berlin für uns Sozialdemokraten das erste Land der deutschen Bundesrepublik. Ich möchte auch glauben, daß dieser Mangel an Initiative der Regierung, den man vielleicht durch eingehende Untersuchungen zu erklären versuchen wird, bisweilen seine Ursache in der mangelnden Einsicht in die Bedeutung dieser Verbundenheit Westdeutschlands mit Berlin und unseres gesamten Bundesgebietes mit Deutschlands Problematik überhaupt hat. Vielleicht werden Sie nachher in der Debatte mit dem Argument kommen, wegen ein paar hundert Beamter seien die Unbequemlichkeiten zu groß. Ich habe mir die Zahlen für den Bundesrechnungshof einmal geben lassen; es sind etwa 250 Beamte und Angestellte, die dort tätig sind. Wir wissen, daß, wenn von diesen einmal jemand in unser Parlament kommen will, damit einige Unbequemlichkeiten verbunden sein werden, die nicht diese Menschen verschulden, sondern die an den Grenzen durch zeitweise verschärfte Revision entstehen. Sollten wir, so wird man wohl fragen, bei dieser Sachlage so entscheiden?
Ebensowenig scheint mir das Argument „wegen der Verkehrsschwierigkeiten und labilen Verkehrseinrichtungen für den Gütertransport und für den Warentransport von und nach Berlin"
durchschlagend zu sein. Sehr interessant — und ich meine, jeder Abgeordnete hätte die Pflicht, es gleich uns ebenso zu werten — sind jene Pressemitteilungen, die in den letzten Tagen gebracht wurden, in denen geäußert wurde — ich habe nicht daran geglaubt und glaube auch bis zu diesem Augenblick nicht daran —, daß die Bundesregierung sich bereits, ohne es zu veröffentlichen, entschieden haben sollte, vier in unserem Antrag genannte Einrichtungen nach Köln oder .ins linksrheinische Gebiet zu verlagern. Ich frage den Herrn Vertreter der Regierung, ob solche Entscheidungen schon gefällt oder erst beabsichtigt sind und ob die Regierung dafür die Verantwortung übernehmen will. Ich frage also, ob jene oft gehörte Behauptung, der ich mich keineswegs anschließe, daß ,das Schwergewicht der Konsolidierung dieser Regierung linksrheinisch etabliert und der Kampf um Berlin der Opposition und Berlin selber überlassen wird, zutrifft. Die Konsequenzen einer solchen Entscheidung schon jetzt aufzuzeigen, scheint uns eine politische Pflicht für Berlin und uns alle.
Wenn in dieser Situation von einer bestimmten Gruppe, die auch in diesem Haus ihre Vertretung hat, versucht wird - wenn auch mehr mit Bombastik als mit Ernst —, mit einem sogenannten Marsch auf Berlin à la Mussolini Berlin zu erobern, wenn solche Meinungen in diesem Hause oder gar von den verantwortlichen Körperschaften, Beamten und Bediensteten der Bundesrepublik übernommen werden sollten, daß man nicht wisse, ob diese wertvollen Einrichtungen, die sich dann dort befinden würden, nicht überhaupt durch einen Verlust Berlins verloren gehen könnten, so muß ich dazu schon sagen, daß das überhaupt kein Argument ist! Das wäre das Argument des politischen Defaitismus. Das wäre die offene Preisgabe Berlins. Ihr müßte sehr bald der Schreckensruf aus früherer Zeit folgen: „Rette sich, wer kann!", und zwar für das ganze übrige Westdeutschland und mit dem weiteren Abrollen dieses Problems wahrscheinlich auch für manchen Staat und manches Volk in Europa. Wenn wir jetzt sagen: „Auf die Schanzen für Berlin!", dann sind wir willens, auch Argumente, die in ruhigen und geordneten Zeiten ihre Bedeutung haben könnten, abzuweisen; denn wir sagen damit: Wir helfen nicht nur Berlin, sondern wir helfen uns selbst, wir helfen Westdeutschland, und damit helfen wir auch,, ein neues und ein zusammenarbeitendes modernes einheitliches Europa in Funktion zu bringen. Schnelle und ausreichende Verstärkung der demokratischen Kräfte an der Kampffront für die Demokratie — und das ist Berlin — ist das Gebot der Stunde! Wenn wir das praktisch und konkret formulieren, so heißt das: Hebung des Lebensstandards, Schaffung und Sicherung der Arbeitsplätze und aktive politische Teilnahme der Berliner Bevölkerung an der sozialen und staatsrechtlichen Gestaltung der Deutschen Bundesrepublik. In dieser Erkenntnis sollten wir uns alle vereinigen, unsere Bedenken zurückstellen und für den Antrag als die konkrete Auswertung des Beschlusses des Bundestages eintreten.
Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen ganz wenige, aber sehr eindringliche Zahlen sage. Am 15. Januar hatte Berlin eine Arbeitslosigkeit von 292 922. Dazu kamen 55 000 und einige hundert Kurzarbeiter. Am 31. Januar waren es 302 842 und 53 000, also eine kleine Abnahme der Kurzarbeiter, aber 10 000 Arbeitslose mehr. Dies alles trotz nachgewiesener steigender Aktivität der Produktion! Das ist ein Beweis für den Fleiß und den Arbeitswillen der Berliner Bevölkerung, ohne die der Effekt nicht in Erscheinung treten könnte: die Arbeitslosen mit in den Arbeitsprozeß einzubeziehen. Das Anwachsen der Berliner Arbeitslosenzahl erklärt sich nach den amtlichen Berichten daraus, daß allein 4 000 Arbeitslose aus dem Ostsektor Berlins neu hinzugekommen sind. Sie sind in den Westsektoren arbeitslos geworden, weil sie unter dem Druck der sogenannten „volksdemokratischen" Regierung der Ostzone gezwungen wurden, ihre Wohnungen in Westberlin zu verlassen und in den Ostsektor zu ziehen. Da entsteht doch wohl für uns alle die Frage, ob wir dieser ihrer Haltung — ihre Freiheit selbst um das Opfer der Arbeitslosigkeit nicht aufzugeben -- mit Gleichgültigkeit begegnen sollen.
Diese erschreckenden Zahlen werden noch bedenklicher, wenn wir sie nach Berufen analysieren. Von 45 Prozent Arbeitslosen — gemessen an der arbeitsfähigen Bevölkerung Berlins -sind allein 25 Prozent solche, die kaufmännischen Berufen angehören oder früher in Reichsinstitutionen, die wir jetzt nach Berlin zurückverlegen wollen, tätig gewesen sind. Der Herr Arbeitsminister — den ich nicht auf der Bank der Regierung sehe — stimmt doch wohl, so möchte ich glauben, mit uns darin überein, daß es ein außerordentlich wichtiges ökonomisches und arbeitspolitisches Problem ist, eine solche Menge von Hunderttausenden, die nur in Jahren auf diesen Spezialberuf und die Arbeit, die ihrer in diesen Verwaltungen harrt, wieder vorbereitet werden könnten, einzusetzen statt einfach ohne Betätigung zu lassen. Bei dieser Aufgabe, einen weiteren konkreten Schritt zur Einheit Deutschlands zu tun, sollte uns nichts trennen!