Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei den Ausführungen, die zum Punkt Entnazifizierung gemacht wurden, mußte ich mich an die Hunderttausende von SA- und SS-Leuten erinnern, die auf höheren Wink bereit waren, in jedes Haus einzudringen, jeden Mann zu verprügeln, zu verschleppen, totzuschlagen, und an ihre Führer, die auf den Knopf drückten, damit das geschah. Da mußte ich mich an die Tage um den 9. November 1938 erinnern, an die Kristallnacht. Da mußte ich mich an die Leute erinnern, die sich nicht geniert haben, die Plätze derer einzunehmen, die wegen ihrer politischen Gesinnung aus ihren Ämtern verdrängt wurden. Da habe ich mich vor allen Dingen an die erinnern müssen, die wegen ihrer politischen Gesinnung, und ohne daß sie irgend etwas Böses getan hatten, zu Tode gefoltert worden sind. Bei der Erörterung dieser Frage gebührt das erste Gedenken diesen Leuten, die die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind,
und den Leuten, die mutig bereit waren, damals für die Demokratie einzustehen, nicht denen, die aus Schwäche hinter anderen hergelaufen sind. Da muß ich sagen: wenn wir damals gewußt hätten, daß all die eben genannten Leute der NS-Organisationen bloß Mitläufer und Gepreßte waren, die alle nur darauf warteten, auf irgendeine Art und Weise den armen verfolgten Antinazis helfen zu können, dann hätte sich das Leben leichter ertragen lassen.
Leider haben sie das erst jetzt zu verstehen gegeben. Ich meine, man kann darüber doch nicht einfach hinweggehen und bloß die bedauern, die bei den Unebenheiten der Entnazifizierung unter die Räder gekommen sind.
Kein Mensch wird behaupten, daß bei der Entnazifizierung alles in Ordnung sei. Jedes menschliche Ding ist unvollkommen. Aber es ist längst nicht so schlimm, was gegen die Nationalsozialisten geschehen ist, als das, was mit ihrer Hilfe getan worden ist. Daß muß jetzt einmal gesagt werden.
Im übrigen: das verdanken sie doch dem Führer, was ihnen geschehen ist! Sie und ihr
Oberosaf haben das deutsche Land, das deutsche Volk und den deutschen Staat in einem Zustand zurückgelassen, daß wir gar nicht verantwortlich für das sind, was ausgerechnet früheren Trägern der Macht geschehen ist. Das muß hier vorausgeschickt werden, und darüber muß man sich klar sein.
Letzten Endes muß man sich auch darüber klar sein: wäre nicht die Entnazifizierung mit all ihren Fehlern so, wie sie die Alliierten angeordnet haben, gewesen, dann mögen sich die Betroffenen fragen, ob sie heute überhaupt noch lebten. Denn wenn das deutsche Volk auf diesem Gebiete mit ihnen abgerechnet hätte *und wenn nicht dem strafenden Arm der Volkswut, „der kochenden Volksseele", wie man so schön sagte, die Macht der Besatzung in die Arme gefallen wäre, wäre es diesen Leuten viel schlechter ergangen. Es hält schwer, nach dem soeben von der rechten Seite des Hauses Gesagten über diese Dinge zu sprechen, ohne bitter zu werden. Es fällt wirklich schwer, aber man muß sich bemühen, jede Sache, also auch diese, nüchtern und unvoreingenommen anzufassen.
Da wundert mich zunächst eines. Die Vorlage nennt sich Entwurf eines Gesetzes zur Beendigung der Entnazifizierung. Sieht man es sich genauer an, so ist es ein Gesetz zur Amnestierung aller Nazis, nicht nur der kleinen, sondern aller Nazis. Man übersieht vielleicht auf seiten der Abgeordneten, die aus dem Süden Deutschlands, aus der amerikanischen Zone kommen — wie es in der französischen Zone ist, weiß ich nicht —, daß man dort mit ganz anderen Begriffen an die Entnazifizierung herangegangen ist als in der britischen Zone. Wenn bei uns in der britischen Zone
3) einer in der Stufe III ist, dann ist er kein Mitläufer und kein kleiner Nazi, sondern dann hat er den Rang eines Kreisleiters oder mindestens eines Ortsgruppenleiters,
und das waren gerade, im Durchschnitt gesehen, die bösesten Elemente bei den Nazis; denn sie vollstreckten den Naziwillen zu hundertfünfzig und hundertachzig Prozent. Die sollen alle amnestiert werden, es darf sich keiner mehr urn sie kümmern, es dürfen keine politischen Folgerungen daraus gezogen werden. Und wie zart sind sie bisher angefaßt worden!
Ich komme aber damit meiner Meinung nach schon zu sehr in die materielle Überlegung hinein. Ich schlage vor: Prüfen Sie zunächst einmal die formalen Voraussetzungen genau. Da verweise ich auf § 48 a der kürzlich abgeänderten Geschäftsordnung. Damals hat ein weiservon der rechten Seite diese Hauses gesagt, daß dieser Paragraph auch dazu bestimmt sei, den Anträgen, die von der Rechten, von den Regierungsparteien kämen, einen Damm entgegenzusetzen. Da es sich hier um eine Amnestierung handelt, wonach alle Folgen, auch Geldstrafen, Bußen, Kosten, fortfallen, so handelt es sich ohne Zweifel bei diesem Antrag um eine Finanzvorlage im Sinne des § 48 a Absatz 2, da diese Vorlage in erheblichem Umfang geeignet ist, für Gegenwart oder Zukunft auf die öffentlichen Finanzen einzuwirken.
Im gleichen Maße, in dem Sie behaupten, daß es notwendig sei, die Entnazifizierung abzuschließen, da sie noch night abgeschlossen sei, müssen Sie zugeben, daß die Auswirkungen auf die Finanzen
erheblich sind. Erfolg: die Vorlage muß zunächst einmal den Weg aller Finanzvorlagen passieren. Und bei allem Respekt, Herr Präsident, vor Ihrer Unfehlbarkeit, von der ich soeben vernommen habe, — ich fürchte, daß hier doch ein kleiner Lapsus unterlaufen ist, da die Vorlage nicht diesen Weg genommen hat und zum mindesten nicht darüber berichtet worden ist.
— Ach, Herr Euler, Sie haben ja gleich Gelegenheit zu sprechen. Wenn Sie nichts anderes darüber zu sagen wissen, als daß Sie glauben, daß das ein Witz sei, dann würde ich an Ihrer Stelle überhaupt nichts sagen! Das ist zu billig!
Aber nun ein anderes: gerade die Stellungnahme Ihres Fraktionskollegen, des Herrn Ministers Dehler, sollte auch dem Hause Anlaß zu Bedenken geben; denn er hat uns mit überzeugenden Worten schon einmal dargelegt, daß der Bund für diese Frage gar nicht zuständig sei. Das hat sein treffliches Ministerium sachverständig bekundet und sich da mit ihm in Übereinstimmung befunden. Ich bin auch wirklich überzeugt davon, daß das so ist; denn wir finden in Artikel 71 des Grundgesetzes, der abschließend und ausschließlich aufzählend die Zuständigkeit des Bundes regelt, die Entnazifizierung nicht aufgeführt, sondern wir finden nur in Artikel 131 etwas darüber, was hier nicht zur Debatte steht. Danach ist der Bund gar nicht in der Lage, eine Abschlußregelung in dieser Frage zu treffen.
Aber auch aus materiellen Gründen wäre es höchst unzweckmäßig, so zu verfahren. Ich erinnere doch daran — es ist eben schon einmal angeklungen daß in fast allen Ländern die Entnazifizierung sehr weit vorangeschritten ist, daß sie in der größten Zahl der Länder materiell schon erledigt ist. Was sollen wir denn jetzt noch nachhinken, um etwas zu beenden, was wir nicht angefangen haben? Wir haben im Lande Nordrhein-Westfalen schon einmal eine Regelung versucht, zu der uns die Militärregierung die Genehmigung versagt hat. Darum soll die Entnazifizierung auch unter der Verantwortung der ausländischen Mächte, die damit angefangen haben, zu Ende gebracht werden. Die Unterschiede in den verschiedenen Ländern sind so groß.. daß wir uns schon im Rechtsausschuß. unter Juristen. über die Terminologie kaum noch verständigen konnten. Der Begriff der Gruppe III ist in der amerikanischen Zone etwas ganz anderes als in der britischen; er wird dort viel leichter gewogen als in der britischen. Das kann man doch nicht alles über einen Kamm scheren!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Freunde und ich sind der Auffassung, daß die Entnazifizierung bisher auch insofern schief gelaufen ist, als man die Kleinen gehängt hat und die Großen laufen ließ.
Aber jetzt kommen gerade die Großen, und da sollen wir auch, noch formal einen Schlußstrich ziehen? Es ist doch so: die haben sich verborgen gehalten. Der kleine Postsekretär, der Lehrer oder der Briefträger konnten sich nicht verborgen halten; aber die Leute, die jetzt im Schutze der Amnestie aus den Mauselöchern kommen, die ihnen das ermöglicht, sollen jetzt großzügig von den Schwierigkeiten befreit werden, die sie sich redlich verdient haben!
Man spricht von der kriminellen Seite. Die Kriminellen sollen verfolgt werden. Das ist nach 12, 10 oder 9 Jahren nicht leicht, besonders bei der Praxis der Gerichte. Meine Damen und Herren, ich bin Anwalt und stehe nicht bloß als Abgeordneter, sondern auch als Verteidiger im öffentlichen Leben. Wenn es ein Belastungszeuge wagt, gegen einen Nazi etwas zu sagen, findet sich morgen der zweite Nazi, der ihn belastet, und übermorgen sieht sich der Belastungszeuge einem Meineidsverfahren gegenüber!
WIT werden uns bei anderer Gelegenheit wohl noch über diese Zustände in der Justiz zu unterhalten haben. Meine Damen und Herren, wir müssen im Rechtsausschuß einmal zur Sprache bringen, daß es Gerichte gibt, die Zeugenaussagen nach Abzählen und nicht nach Abwägen zu bewerten geneigt sind, daß es Verfahren gibt, in denen die Verschwörergemeinschaft aus der damaligen Zeit genau so leicht oder hinsichtlich ihrer Zeugenaussagen sogar noch schwerer wiegt als unbescholtene Zeugen; und wenn es sich auch um einen Propagandaleiter handelt, der früher noch so oft gelogen haben mag, er wird behandelt wie irgendein anderer Zeuge, auch wenn es sich um Ent- oder Belastung früherer Nazis handelt.
Wir sind also der Ansicht — das darf ich zusammenfassend für meine Fraktion erklären —, daß der Bund für die Abschlußregelung der Entnazifizierung nicht zuständig ist,. daß es sich hier um eine Finanzvorlage handelt, die deswegen nach den entsprechenden Vorschriften behandelt werden muß, daß die Entnazifizierung in den Ländern zum Abschluß gebracht werden muß und schließlich, daß man die kleinen Nazis laufen lassen sollte, daß aber die Großen nicht durch einen Generalpardon jetzt vor Toresschluß noch um die ,;Früchte" ihrer Tätigkeit in der Nazizeit gebracht werden dürfen.
Es wäre zu diesem Kapitel noch vieles zu sagen, aber lassen Sie mich, da meine Redezeit zu Ende geht, mit einem Hinweis schließen: Wir sind nicht am Ende aller Tage, meine sehr verehrten Damen und Herren, und wenn wir jetzt weich werden gegenüber den Leuten, die das Unheil unserer Tage verschuldet haben, wo — so frage ich Sie — wollen Sie dann die Verteidiger unserer Demokratie finden, wenn sie wieder einmal angefochten wird?
Saat sich dann nicht ieder, meine Damen und Herren: es ist schon viel besser, mitzulaufen und sich hinterher entnazifizieren zu lassen und einen Strich unter die Sache machen zu lassen?
Das alles müssen Sie dabei bedenken. Ich bin für eine totale Ablehnung beider Anträge, nicht für Verweisung an einen Ausschuß.