Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn sich die Fraktion der Freien Demokraten entschloß, ein Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung einzubringen, dann geschah das aus der Auffassung, daß die Grundlegung des demokratischen Rechtsstaats die Beendigung eines Ausnahmerechts voraussetzt, das gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstößt und schon längst zu einer Gefahr für den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats in Deutschland geworden ist.
Meine politischen Freunde haben bereits im Jahre 1946 mit aller Deutlichkeit ausgesprochen, daß eine Entnazifizierung, die sich nicht darauf beschränkt, vergangene strafbare Handlungen zu sühnen und eine bestimmte politische Führerschaft einflußlos zu machen und zu halten, sondern die den politischen Irrtum als solchen mit Strafmaßnahmen ahndet, schon deshalb ein Schrittmacher der Renazifizierung werden müßte, weil es praktisch gar nicht möglich ist, einen Bevölkerungsanteil, der mit Angehörigen etwa 50 Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßt, auf eine rechtsstaatlichen Ansprüchen genügende Weise gerichtlich zu verfolgen.
An zwei großen geschichtlichen Beispielen war bereits damals abzulesen, daß eine Massenentnazifizierung, wie sie die Alliierten mitbrachten und uns aufnötigten, ein Fehlschlag werden müßte. Zum ersten hat Frankreich gute Erfahrungen damit gemacht, daß sich Talleyrand nach der Niederwerfung Napoleons I. einer Entnapoleonisierung im Sinne einer auf ein Ausnahmegesetz gestützt en politischen Massenverfolgung enthielt. Zum andern bot die politische Säuberung, die in den Südstaaten der USA nach dem p amerikanischen Bürgerkrieg in den Jahren 1865 bis 1869 durchgeführt wurde, ein abschreckendes Beispiel einer solchen in ein zweifelhaftes rechtliches Gewand gehüllten politischen Massenverfolgung, die wegen ihres ungeheuren Umfangs zu einer Fülle von Willkür- und Unrechtsakten führte. Das Ergebnis war damals in den USA, daß die Südstaaten noch nach dem Bürgerkrieg trübe Jahre bürgerkriegsähnlicher Natur erlebten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war uns schon damals eine Warnung, daß eine hinsichtlich ihres Umfangs außerordentlich überspitzte Entnazifizierung hier zu ähnlich bedenklichen Zuständen führen könnte. Analysieren wir die Fehler, die der Entnazifizierung in dem Ausmaße, wie wir sie erlebt haben, zu Grunde lagen, dann ist hinsichtlich der politischen Fehlanlage zunächst einmal zu sagen, daß von der Entnazifizierung ein viel zu -großer Personenkreis ergriffen wurde, der mit den unmittelbar Betroffenen zunächst 27 bis 30 Prozent umfaßte und mit den unmittelbaren Angehörigen auf einen Bevölkerungsteil von 50 bis 60 Prozent kam. Damit hing zusammen, daß alle Betroffenen und ihre Angehörigen zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen wurden, und alle diejenigen, die nur Mitläufer waren, und alle die, die aus gewissen, wenn auch fehlerhaften idealistischen Erwägungen den Nationalsozialismus unterstützt hatten, wider ihren Willen geradezu in eine Front der Abwehr gegen das neue Gesetz mit den eigentlich Hauptschuldigen, mit der politischen Führerschicht, die Träger des Gewaltsystems und des Terrors war, hineingenötigt wurden. Die aus solchen politisch fehlerhaften Erwägungen hervorgegangene Massenaktion litt nun rechtlich vor
allem darunter, daß entgegen dem grundlegenden Prinzip des Rechtsstaats nicht Taten bestraft wurden, sondern daß eine bestimmte Gesinnung unter Strafe gestellt wurde, und dies obendrein nachträglich auf Grund eines Gesetzes, das nicht bestand, als diese Gesinnung zum Träger eines Gewaltsystems wurde.
Darin liegen zwei rechtsstaatliche Verstöße. Zum. einen der, daß man sich eben nicht darauf beschränkte, Taten zu bestrafen, und zum andern der, daß diese nachträgliche Bestrafung unter Verstoß gegen den jeden Rechtsstaat tragenden Grundsatz „nulla poena sine lege" geschah. Es kommt zum dritten hinzu, daß die Massenjustiz, die eingerichtet werden mußte, um einen so großen Bevölkerungsteil in eine quasi-strafrechtliche Verfolgung zu nehmen, von vornherein natürlich zu einer Fragwürdigkeit des Verfahrens und zu einer Fragwürdigkeit der Sprüche nach ihrem materiellen Inhalt führte, die in vielen Fällen erneut Unrecht in die Welt setzten.
Nun. meine sehr geehrten Damen und-Herren, es kommt zu alldem ein Gesichtspunkt, der dann besonders dazu beitrug, das Entnazifizierungsverfahren in den Augen weiter Bevölkerungsschichten als etwas Unmögliches erscheinen zu lassen. Es gab nämlich nach einiger Zeit überhaupt keine Belastungszeugen von Anstand und Qualität mehr, und zwar aus all den Erwägungen über die politische Fehlerhaftigkeit und die rechtsstaatlichen Verstöße bei der Durchführung der Entnazifizierung. So hat die Entnazifizierung dazu beigetragen, das Rechtsgefühl unseres Volkes auf das schwerste zu belasten, statt es wiederherstellen, zu erneuern und aufzufrischen. Das hat zu schweren Verirrungen des Rechtsgefühls geführt, und so durfte ich in Erwartung dessen. was die Entnazifizierung an Übelständen noch weiterhin bringen würde, bereits im Jahre 1946 diese Art der Entnazifizierung als ein uns auferlegtes nationales Unglück bezeichnen. Dieses nationale Unglück wurde dadurch verstärkt, daß es Kräfte gab, die die Entnazifizierung zu einem Kampfmittel im Dienste der neuen, innenpolitischen Auseinandersetzung herabwürdigten. Uns erscheint es nach alledem als eine dringende Notwendigkeit, durch Beseitigung dieses Ausnahmerechts einen rechtsstaatlichen Zustand herzustellen, und zwar durch ein bundeseinheitliches Gesetz, damit die Rechtsverschiedenheiten, die während der Entnazifizierung bestanden, nun nicht durch verschiedenartige Gesetze über die Beseitigung der Entnazifizierung in den einzelnen Ländern verewigt werden, deren Inhalt dann davon abhängig ist, welche politische Mehrheit jeweils in dem Landtag besteht.
Die Frage: ist der Bund überhaupt zuständig, ein solches Gesetz zu machen? ist ja schon längere Zeit vor der heutigen Erörterung der Materie im Bundestag zwischen den verschiedenen Instanzen, die wir auf der Bundesebene' haben, in Abgeordnetenkreisen sowie in der Presse diskutiert worden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, man muß aus einigen zwingenden Überlegungen dazu kommen, die Bundeszuständigkeit unter allen Umständen zu bejahen. Es hat sich bei der Entnazifizierung von vornherein um eine Gesetzesmaterie des Kontrollrates gehandelt. Das grundlegende Gesetz ist ein Kontrollratsgesetz, und lediglich die Durchführungsgesetze wurden von den einzelnen Militärregierungen erlassen,
weil sich die Alliierten über die Einzelheiten der materiellen und formalen Durchführung nicht einigen konnten.
Die Beseitigung dieser Kontrollratsgesetzgebung ist unseres Erachtens nun für die junge deutsche Demokratie ein rechtspolitisches Faktum grundlegender Natur; sie ist tragend für den rechtsstaatlichen Charakter der Bundesrepublik. Diesem politischen Faktum kann nur dadurch in genügender Weise Ausdruck gegeben werden, daß die Beendigung der Entnazifizierung durch ein bundeseinheitliches Gesetz erfolgt.
Es kommt aber weiter hinzu: selbst wenn man auf Artikel 74 des Grundgesetzes über die konkurrierende Gesetzgebung abstellt, so muß man auch aus dem Artikel 74 zu der Bejahung der Bundeszuständigkeit kommen; denn in Ziffer 1 heißt es, daß sich die konkurrierende Gesetzgebung auf das Strafrecht und den Strafvollzug erstreckt. Es sollte doch nicht im mindesten zweifelhaft sein, daß die Entnazifizierungsgesetze Gesetze strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Gehaltes sind; denn Sühnemaßnahmen, die darin bestehen, daß nicht nur Geldstrafe, sondern auch Arbeitslager verhängt wird, daß Geschäfte geschlossen, daß Berufsverbote ausgesprochen werden, sind ja strafrechtliche Ahndungsmaßnahmen schwerster Art, die die Subsumtion dieser Gesetzesmaterie unter den Begriff des Strafrechts im Sinne des Artikel 74 rechtfertigen. Wir haben den Gesetzentwurf ausgearbeitet und hier eingebracht, weil wir davon überzeugt sind, daß die Erwägung der Gründe, die ich eben kurz skizzierte, zur Bejahung der Bundeszuständigkeit für dieses Gesetz führen muß.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfes, wie er Ihnen in Drucksache Nr. 482 vorliegt, kann ich mich auf die notwendigsten Darlegungen beschränken. Der § 1 bringt das Verbot der Einleitung neuer Verfahren und ebenso das Verbot der Durchführung schwebender Verfahren. Laufende Verfahren sollen ohne mündliche Verhandlung eingestellt werden. Das schließt nicht aus — und wir haben das im § 4 ausdrücklich hervorgehoben -, daß strafbare Handlungen, die in früherer Zeit vorgenommen wurden, nach dem allgemeinen Strafrecht verfolgt werden. Das sollte ein Hinweis darauf sein, daß strafbare Handlungen, soweit sie aus politischen Motiven und in politischen Zusammenhängen damals begangen wurden, nun natürlich weiter verfolgt werden können. Was lediglich unterbleiben soll, ist die Fortsetzung von irgendwelchen Verfahren, die nach ihrer ganzen Art wenig dazu angetan sind, Rechtsgarantien zu geben.
Hinsichtlich der Behandlung der einzelnen Gruppen haben wir eine gewisse Unterschiedlichkeit walten lassen. Für die Gruppen III. IV und V sieht unser Gesetzentwurf die volle Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Rechte vor. Das ist auch in der _britischen Zone erforderlich, obwohl hinsichtlich des Charakters der Gruppe III in der britischen Zone noch am ehesten Bedenken in der Richtung geltend gemacht werden könnten, ob unter dem Personenkreis, dem unsere Regelung zugute kommt, nicht Vertreter sind, die dieser Vorteile unwürdig sind. Gegenüber diesen Bedenken müssen wir geltend machen: es ist heute im allgemeinen Interesse wichtig, daß der dicke Strich unter die Vergangenheit gemacht wird, daß die Durchbrechung rechtsstaatlicher Prinzipien, wie sie mit dem Ausnahmerecht der Entnazifizierung gegeben war, beendet wird, selbst wenn
in dem einen oder andern Falle ein Unwürdiger in den Genuß dieser Bestimmungen kommt.
Hinsichtlich der Gruppe II haben wir in § 3 vorgesehen, daß überprüft werden soll, inwieweit verhängte Sühnemaßnahmen in Wegfall kommen können. Lediglich die Wahlrechtsausschlüsse sollen bestehen bleiben. Die gefällten Sprüche gegen Angehörige der Gruppe I sollen überhaupt unberührt bleiben.
Hinsichtlich der Vergangenheit wird eine Frage zu prüfen sein, die bei den Beratungen im Ausschuß erörtert werden müßte. Wir haben eine Vorschrift hierüber zunächst nicht vorgesehen, sind aber der Auffassung, daß geprüft werden sollte, inwieweit jetzt noch ausstehende Gebühren niedergeschlagen werden, weil wir ja wissen, daß in sehr vielen Fällen auf Grund der Kostenbestimmungen Gebührensätze in einer Höhe geltend gemacht worden sind, die rechststaatlich überhaupt nicht zu verantworten ist, da ein ganz eklatantes Mißverhältnis zwischen der ausgesprochenen Sühne und der Höhe der Kostenbelastung besteht. Soweit diese Kosten nicht gezahlt werden konnten — es sind zum Teil Stundungen auf sehr lange Zeit hinaus vereinbart 'worden —, ist zu prüfen. inwieweit eine Niederschlagung der Kosten stattfinden soll.
Unser Gesetz sieht weiter vor, daß ein Anspruch auf Ersatz von Schäden aus der Durchführung der Entnazifizierung nicht zugebilligt wird. Wir lehnen mit großer Entschiedenheit den Gedanken ab, daß nun unter umgekehrtem Vorzeichen die ganze Beunruhigung weitergetragen werden soll, die die Entnazifizierung hinsichtlich der Vergangenheit und ihrer Überprüfung immer wieder aufs neue hervorgebracht hat. Es muß nun wirklich Schluß damit gemacht werden. Dies schließt aber naturgemäß nicht aus, daß in Einzelfällen. in denen Sprüche auf Grund unerlaubter Handlungen gefällt wurden, wegen dieser gegen Betroffene begangenen unerlaubten Handlungen die Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden, die nach allgemeinen Rechtsvorschriften gegeben sind.
Hinsichtlich der Beamten und Pensionäre, die im Zuge der Entnazifizierung aus ihren Ämtern gekommen sind bzw. denen auf Grund der Entnazifizierung die Pensionen vorenthalten werden, haben wir eine Regelung außer acht gelassen, weil diese in einem anderen gesetzlichen Rahmen erfolgen wird. Die Ausgleichung und die Wiederherstellung des Rechtszustandes für diesen Personenkreis, meine sehr geehrten Damen und Herren, gehört zum Geltungsbereich des Artikel 131, und es ist bereits in Ausführung des Artikel 131 ein Gesetz für diesen Personenkreis in Vorbereitung.
Wenn nun heute neben unserem Gesetzentwurf, den ich eben kurz charakterisiert habe. gemäß Drucksache Nr. 561 auch ein Antrag der Abgeordneten Dr. Richter und Genossen behandelt wird, dann möchte ich in diesem Zusammenhang sagen, warum wir uns gegen diesen Antrag aussprechen müssen. Der Antrag zielt darauf ab, daß die Bundesregierung ersucht wird, ein Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung bestimmten Inhaltes zu schaffen. Wenn sich der Ausschuß möglichst schnell mit dieser Materie befassen soll, dann soll er nicht dadurch gehindert werden, daß er inzwischen auf eine Regierungsvorlage warten muß, um die der Antrag der Deutschen Rechtspartei die Regierung ersucht. Also nur aus der
Erwägung heraus, daß die Bejahung Ihres Antrages zu einer Verschleppung der gesamten Materie und ihrer Behandlung im Ausschuß führt, wenden wir uns gegen Ihren Antrag. Wir glauben, daß alle Gesichtspunkte, die Sie in dem Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung geltend machen und geregelt sehen möchten, bei der Ausschußarbeit an unserer Gesetzesvorlage berücksichtigt werden können.
Was uns am Herzen liegt, das ist, diese Beendigung der Entnazifizierung zu einer Grundlegung des Rechtsstaates werden zu lassen, durch die die neue Demokratie um so besser legimitiert wird, den Kampf gegen jede Art von Totalitarismus in der Zukunft aufzunehmen. Gerade auf der Grundlage, daß die Beunruhigung aus der Vergangenheit nun endlich beseitigt wird, werden wir um so größere Energie und aus allen Bevölkerungsschichten heraus um so energischere Unterstützung finden können, wenn es sich in Zukunft darum handelt, totalitären Bestrebungen jeder Art mit der Entschiedenheit entgegenzutreten, die erforderlich ist, um die Demokratie und ihre rechtsstaatliche Ausgestaltung unter allen Umständen zu sichern.