Rede von
Dr.
Erik
Nölting
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! Am Horizont der Wirtschaft steht die Arbeitslosigkeit wie ein gespensterhaftes Wetterleuchten. Der Arbeitslosenpegel steigt buchstäblich von Stunde zu Stunde. Die letzte Zahl, die uns offiziell gemeldet wurde, belief sich auf 1 897 644, darunter allein 1 408 000 männliche Arbeitskräfte. Seit Weihnachten ist ein geradezu sprunghaftes Anschwellen der Arbeitslosenziffern zu verzeichnen. Wir halten an der Zweimillionengrenze; wir haben sie einschließlich Berlins bereits überschritten. Fast 12 vom Hundert der Arbeitnehmer stehen heute ohne Erwerb da. Seit der Währungsreform beträgt der Anstieg 1,3 Millionen.
Ich möchte, meine Damen und Herren, daß wir alle uns einmal einen kurzen Augenblick vergegenwärtigen, welches Ausmaß von Elend, Verzweiflung und Ausweglosigkeit diese Zahlen umschließen. Jedenfalls war seit dem Kriege die Lage auf ,dem Arbeitsmarkt noch niemals so alarmierend wie in der gegenwärtigen Zeit, und alle Erfolge der Wirtschaftspolitik, die schmalen Erfolge, die bisher erzielt werden konnten,
erscheinen gefährdet, wofern es nicht gelingt, diese bedrohliche Entwicklung, die unser Fundament zu unterspülen beginnt, abzubremsen.
Seit November 1948 ist die Zahl der Arbeitslosen im Bundesgebiet von Monat zu Monat gestiegen. Wir verzeichneten in der Zeit Juli bis Oktober 1949 eine relativ geringe Zunahme der Arbeitslosigkeit; dann aber erfolgte von Ende
Oktober 1949 ab ein Anstieg im Siebenmeilenstiefeltempo. Allein der Januar hat uns eine Zunahme um 339 175 gebracht, davon im Kerngebiet der deutschen Wirtschaft, in Nordrhein-Westfalen, 57 037. Ende Juni 1948 waren 3,2 Prozent aller Arbeitnehmer arbeitslos, Ende Dezember 10,3 Prozent, heute sind es fast 12 Prozent.
Dabei ist der Index der arbeitstäglichen Produktion, 1936 gleich 100 gesetzt, von 98 im November auf 95 im Dezember zurückgeglitten. Die Januarzahl ist mir noch unbekannt. Jedenfalls sind wir von einer Normalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse noch weit entfernt. Die westdeutsche Wirtschaft droht sich auf einem Stand von zirka 90 bis 95 der Leistung des Jahres 1936 einzuspielen, wobei wir aber nicht vergessen dürfen, daß sich die Bevölkerung dieweil um 20 Prozent vermehrt hat. Sollten sich aber die finanz-
und güterwirtschaftlichen Kreisläufe auf diesem Niveau zu schließen beginnen, dann müßten Millionen von Arbeitskräften außerhalb jeder Beschäftigungsmöglichkeit bleiben.
Man muß ja auch noch folgendes bedenken. Die industrielle Arbeitsproduktivität — ich meine die Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde — liegt bei etwa 80 Prozent der Vorkriegsnorm. Bei dem gegenwärtigen Beschäftigungsstand sind also mindestens 2 bis 3 Millionen Arbeitskräfte nur dafür angesetzt, die Minderleistung der übrigen zu ersetzen; und diese repräsentieren, wenn die große Rationalisierungswelle kommt, die zusätzliche Arbeitslosigkeit, wenn sich nämlich die Leistung dem friedensmäßigen Stand angepaßt hat, ohne daß die mengenmäßige Produktion einen entsprechenden Zuwachs erfährt.
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat noch vor einem halben Jahr etwas ruhmredig verkündet, er würde die Arbeitslosigkeit in wenigen Wochen beseitigen, eine Arbeitslosigkeit, die er in seinen vielen Wahlkampfreden dahin analysierte, daß sie sich — von dem Einstrom der Flüchtlinge, der Ostvertriebenen und der Kriegsheimkehrer abgesehen — vor allem aus Schwarzmarktexistenzen, die jetzt zur Fahne strömten, aus zusammengekrachtem Kunstgewerbe und abgebauten Bürokraten rekrutiere. Ich weiß nicht, ob der Herr Wirtschaftsminister sich heute noch zu seiner Theorie von der „Selbstreinigungskrise der Wirtschaft" bekennt. Ich habe damals schon von einem Auszehrungsprozeß der Wirtschaft gesprochen. Denn selbst der sonst einen unverwüstlichen Optimismus ausstrahlende Herr Professor Erhard scheint inzwischen doch ein etwas kleinlauter Herkules geworden zu sein,
hat er doch unlängst auf der CSU-Tagung in Fürth angeführt: ;;Das Problem der Arbeitslosigkeit ist mit deutschen Kräften überhaupt nicht zu lösen."
Daß man jetzt alles Entscheidende von der Auslandshilfe erhofft, zeigt, daß die Regierung in eine böse Sackgasse geraten und am Ende ihres liberalen Lateins angelangt ist.
Der gleiche Wirtschaftsminister hatte noch vor gut Monatsfrist Neujahrsartikel in die Welt gesandt, deren markige Kernworte heute .wie Hohn anmuten. So schrieb Herr Professor Erhard am 31. Dezember aus Bonn: „Meine Zuversicht in der Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung
hat sich auch in dem nunmehr zu Ende gehenden Jahr 1949 als berechtigt erwiesen, und ich sehe in unserer jetzigen Lage und in der sich abzeichnenden Entwicklung keine Veranlassung zu einer anderen Haltung." Das beim Rückblick auf ein Jahr, in dem die Arbeitslosenziffern um 800 000 zunahmen, dieweil die Beschäftigtenziffern um 190 000 absanken! Am Ende eines Jahres, in dem das Handelsbilanzdefizit weiter auflief und eine erschreckende Passivierung aufweist und auch in ,der Beschaffung von Wohnraum keineswegs genügende Erfolge erzielt wurden! Damit man mir aber nicht sagt: nun ja, das war eben Silvesterüberschwang entschuldbarer Art, möchte ich noch ein Zitat vom 17. Juni 1949 geben. Da schrieb Herr Professor Erhard in der „Wirtschafts- und Finanzzeitung": „Unsere Wirtschaft kann damit rechnen, daß dieser Wirtschaft Kredite für die laufende Produktion für Warenumsätze und Rohstoffeinfuhren in jedem für eine Produktionsleistung hinreichenden Maße zur Verfügung stehen. Daneben wird in der nächsten Entwicklung durch einen beträchtlich geballten Kapitaleinsatz für langfristige und mittelfristige Investitionen unserer Wirtschaft neues Blut zugeführt werden." Damit wollte man die deflatorische Erstarrung durchbrechen. Aber diese von dem Herrn Bundeswirtschaftsminister und einer gewissen ihm, nahestehenden Presse in die Massen geschleuderten propagandistischen Versprechen haben sich in der Praxis anders ausgewirkt. Es waren Seifenblasen, die elend zerplatzten. Die Wirklichkeit aber läßt sich an der Schlange der Stempelbrüder vor den Arbeitsämtern ablesen. Gestützt auf diese Versprechen haben Geschäftsleute und Industrielle vielfach kurzfristige Kredite aufgenommen, auf denen sie heute festsitzen.
Kurz bevor die Neujahrsartikel in die Welt hinausgingen, war am 15. Dezember 1949 — nicht vom Wirtschaftsministerium, aber von einem benachbarten, ich darf wohl kaum sagen: befreundeten Ministerium,
nämlich vom ERP-Ministerium - ein bemerkenswertes Memorandum an die OEEC, die Marshaliplanverwaltung, in Paris hinausgegangen, in dem ein Programm für die Jahre 1950/51 und 1951/52 aufgestellt wurde. „Programm" war eine liebenswürdige Übertreibung. Es handelte sich praktisch mehr um einen Hilfeschrei. In diesem Memorandum wird zugestanden, daß wir auch ab 1952 nach ausgelaufenem Marshallplan nicht werden auf den eigenen Beinen stehen können. Unsere industrielle Produktion würde nur auf etwa 107 des Standes vom Jahre 1936 gebracht werden können, und eine Arbeitslosigkeit von 1,7 Millionen, die dann später auf 2 Millionen anzuwachsen drohe, sei eine unvermeidbare Konstante. Die Antwort klang unwirsch und wenig freundlich. Es wurde entgegnet, es fehle diesem Programm jede Idee einer umfassenden Produktionssteigerung, und wenn es so weitergehe, könne mit einer Arbeitslosigkeit von über 3 Millionen gerechnet werden. Wir mußten uns erst von alliierter Seite belehren lassen, daß es nicht angängig sei, eine Zahl von 2 Millionen Arbeitslosen als strukturell unvermeidbar hinzunehmen. Interessant für uns aber war vor allem der Hinweis, die Regierung beachte zuwenig die auch bei einer freien Wirtschaft notwendige Planung.
Nun liegt es mir gewiß fern, amerikanische Ansichten stets als der Weisheit letzten Schluß zu betrachten. Doch war es immerhin peinlich zu vernehmen, daß uns aus alliiertem Munde bestätigt wurde, wir hätten bisher zuwenig in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit getan, und es war peinlich, daß ein Sprecher des Hohen Kommissariats in Frankfurt erklärte, die alliierten Kommissare würden handelnd eingreifen, wenn von deutscher Seite keine Abhilfe geschaffen würde und wenn sich zeige, daß die verantwortlichen deutschen Behörden keine eigenen Wege zu finden wüßten.
Wir sprachen von dem Erhardschen Optimismus, wir sprachen von dem Blücherschen Memorandum. Ich möchte nicht annehmen, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister dieses Memorandum nicht gelesen hat, das alles schwarz in schwarz malt und das von einer „Reihe kaum lösbarer Probleme" spricht. Aber wohnen denn eigentlich zwei Seelen in Herrn Erhards Brust: eine für den deutschen Hausgebrauch und eine für das Ausland? Was soll nun eigentlich Geltung haben: der baldurhafte Optimismus zum internen Gebrauch oder das Nocturno dieser Denkschrift mit seiner schwarzumrandeten Düsternis? In unserem Streitgespräch, das wir in Frankfurt führten, meinte Herr Professor Erhard mit jener Jovialität, die wir alle an ihm schätzen: Wir hätten eben beide geirrt, er - Erhard — habe sich geirrt in der Annahme, daß die Preise zurückgehen würden, ich aber hätte mich geirrt in der Ansetzung der Arbeitslosenzahl. Ich habe damals Herrn Kollegen Erhard gesagt: Herr Kollege, es ist noch nicht aller Tage Abend; bei Philippi sehen wir uns wieder! Und leider ist Philippi heute gekommen.
Wir haben immer wieder erklärt: Wirtschaftspolitik bedeutet aktive, systematische Intervention. Es reicht nicht aus, meine Damen und Herren, hypnotisiert immer nur auf den Nabel der freien Marktwirtschaft zu starren.
Optimismus in allen Ehren, aber es gibt einen Optimismus, für den es eine gute deutsche Übersetzung gibt: Bequemlichkeit.
Auf der Tagung der CDU/CSU-Sozialausschüsse am Sonntag in Oberhausen hat ein CDU-Redner — es war Herr Lewecke — ausgeführt, ohne vernünftige Planung, die fälschlicherweise noch immer mit Zwangswirtschaft gleichgesetzt würde, sei nun einmal nicht auszukommen; und Herr Lewecke fuhr fort: die Formulierung „Soziale Marktwirtschaft" geht den Arbeitnehmern angesichts der ansteigenden Arbeitslosenziffern allmählich auf die Nerven. Herr Lewecke hat damit durchaus unsere Empfindung ausgesprochen. Man sollte nicht allzu lautstark immer verkünden, daß alles aufwärts geht. Beim Himmel, wir sind ja schließlich Nationalökonomen und Politiker und keine Anhänger und Nachbeter Coués! Vorläufig jedenfalls sind die Zahlen der Arbeitslosen und der Unterstützungsempfänger dasjenige, was .den stärksten Trend nach oben aufweist. Die Arbeitsämter geben bekannt, daß sie auch weiterhin mit einer starken Erhöhung der Arbeitslosigkeit rechnen, jetzt, wo Saisonflaute und Konjunkturflaute zusammenfallen. Daneben läuft eine überaus starke Zunahme der Kurzarbeit, von der man überhaupt nicht spricht. Viele dieser Kurzarbeiter aber sind künftige — heute nur
noch kaschierte - Arbeitslose. Auch bleibt zu bedenken, daß die effektive Arbeitslosigkeit noch immer ein gutes Stück höher ist als die registrierte, weil ja nicht alle nach Westdeutschland einströmenden Personen erfaßt werden. Die Arbeitsämter registrieren nur solche Personen, die polizeilich gemeldet sind und die eine Zuzugsgenehmigung vorlegen können. Wie groß ist insbesondere die vagabundierende Jugend?! Niemand vermag das auch nur mit angenäherter Genauigkeit zu sagen. Wir wissen nur, daß ein Drittel aller Arbeitslosen im Bundesgebiet Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahren sind.
Die Auswanderung, meine Damen und Herren, bedeutet kein Notventil, und ich bin bestürzt, daß der Herr Arbeitsminister Storch auch sie einmal in Erwägung gezogen hat. Auswanderung ist Negativauslese übelster Sorte, verrät im übrigen vollkommene Hilflosigkeit.
Bisher hat jedenfalls weder die Erhardsche soziale Marktwirtschaft noch die Blüchersche Wirtschaftsdiplomatie die unheilvolle Entwicklung abzubremsen vermocht, die wir schon vor einem Jahre vorausgesagt haben, als wir dieser planlosen, durch Fehlinvestitionen auf Kosten der Allgemeinheit verschwenderischen Wirtschaft Kritik übten. Wir verspüren — glauben Sie es mir — deshalb keine Genugtuung,
dafür sind die Dinge zu ernst; es stehen größere Dinge auf dem Spiel!
Leider aber geht es nicht nur um die Fehlprognosen und die Beschwichtigungskuren des Herrn Bundeswirtschaftsministers; leider hat sich ihm auch der Herr Bundesarbeitsminister mit seiner Mitte Januar abgegebenen Erklärung an die Seite gestellt, er sei durch die Zunahme der Erwerbslosenzahl, die zwar unerfreulich sei, nicht weiter beunruhigt,
eine Erklärung, die er schon einmal, Anfang Oktober 1949, bei einer seiner ersten Pressekonferenzen abgegeben hatte. Es war also kein falscher Zungenschlag; sie ist aber inzwischen zum geflügelten Wort geworden. Seitdem ist jedoch die Zahl der Erwerbslosen um eine halbe Million gestiegen, und ich sollte meinen, man hätte eigentlich in 31/2 Monaten bessere Erfahrungen in seinem Amt sammeln können.
Nun, wenn die Regierung nicht beunruhigt ist, uns, der Opposition, die es angeblich soviel leichter und bequemer hat, kann das die Unruhe nicht nehmen.
Gewiß stellen auch wir den Faktor ,der strukturellen Arbeitslosigkeit durchaus in Rechnung. Denn wir möchten in unserer Kritik niemals unfair und unbillig sein. Arbeitslosigkeit ist zum Teil Ausdruck gewisser struktureller Verschiebungen und Verlagerungen,
der Aufspaltung in Zonen, von denen die sowjetische Zone ein fast hermetisch abgedichteter
Käfig ist; der zerrissenen Wirtschaftsproportionen, schwerer Störungen im Grundgefüge und
Verlagerungen im Außenhandel, insbesondere des
Verlustes von Absatzmärkten, der Demontage,
die Tausende von Arbeitern auf die Straße geworfen hat — und viele der geretteten Betriebe, für die man auf dem Petersberg leider ein Fabrikationsprogramm auszuhandeln vergessen hat, gehören mehr in das Wirtschaftsmuseum als in die praktische deutsche Wirtschaftspolitik --; vor allem auch der Zusammendrängung zusätzlicher Millionen in einem ohnehin überfüllten Raum; ist .doch. das Problem der Arbeitslosigkeit im Westen mit der sowjetischen Entvölkerungspolitik im Osten eng gekoppelt.
Warum wiegt das Flüchtlingsproblem so schwer? Weil wir die Flüchtlinge und Vertriebenen zunächst rein zufallsmäßig nach dem vorhandenen Wohnraum unterbringen mußten. Die Folge ist, daß diese Menschen nun da wohnen, wo wir arbeitsmäßig am wenigsten mit ihnen anfangen können, so daß sie ohne Existenzgrundlage leben und wirtschaftlich völlig auf ein totes Gleis abgeschoben sind. Ich denke an die typisch kleinbäuerlichen Bezirke in Niederbayern, in Unterfranken, in Hessen usw.
Das sind alles steuerschwache Gebiete, die sich leicht zu Brutstätten eines neuen Faschismus entwickeln können.
Es wäre der größte Planungsauftrag in der deutschen Geschichte, diese Menschen nach den Gesichtspunkten volkswirtschaftlicher Rationalität umzusiedeln. Die Industriegebiete aber sind nur dann aufnahmefähig, wenn sie die notwendige finanzielle Beihilfe für die Beschaffung von Wohnraum erhalten. Daneben besteht die Aufgabe zusätzlicher Existenzschöpfung in, wirtschaftlich entwicklungsfähigen Aufnahmegebieten durch Auffüllung der dort noch vorhandenen gewerblichen und industriellen Produktionslücken. Gerade damit könnte auch ein wichtiges Exportpotential für die deutsche Wirtschaft aktiviert werden. Man sollte hier nicht warten, bis man von den Hohen Kommissaren gestoßen wird; müßte es doch für die Bundesregierung höchst peinlich sein, wenn im Lande der Eindruck entstünde, daß dem amerikanischen Hohen Kommissar das Schicksal der Flüchtlinge mehr am Herzen liegt als den zuständigen deutschen Stellen.
Wir fragen: Hat ,die Regierung einen Umsiedlungs- und Aufbauplan, und wann wird sie einen solchen Plan vorlegen?
— Wir warten darauf!
Meine Damen und Herren! Diese strukturelle Analyse erklärt jedoch in keiner Weise den gan-, zen Umfang des Phänomens. Denn der weitaus größte Teil unserer Arbeitslosen bezieht Arbeitslosenunterstützung, hat also längere Zeit in Beschäftigung gestanden und ist erst später abgebaut worden. Es handelt sich also um Konjunktur-Arbeitslose. Von den 1,5 Millionen Arbeitslosen, die wir am Jahresende verzeichneten, sind durch Entlassung mindestens 6- bis 700 000 arbeitslos geworden, und nur etwa 200 000 stellen Fremdzugänge dar, die in dieser Zahl von 1,5 Millionen stecken.
Ende 1948 hat eben ein Konjunkturumschlag eingesetzt, so sehr auch das Wirtschaftsministerium bemüht ist, durch sein Jonglieren mit Produktionsziffern diese Tatsache zu überdecken. Man kann sich aber heute nicht mehr damit herausreden, die Arbeitslosigkeit dürfe nicht nach der Zahl der Arbeitslosen beurteilt, sie müsse an der Zahl der Beschäftigten gemessen werden. Dieses Argument ist in die Brüche gegangen, nachdem nun auch die Beschäftigtenziffern fallen. Wir messen heute die Höhe der Woge der Arbeitslosigkeit vom sinkenden Kahn aus, ganz abgesehen davon, daß mit solcher Argumentation den armen Teufeln, die erwerbslos geworden sind und die nach einem Arbeitsplatz verlangen, verflucht wenig gedient ist. Wirtschaft muß, wenn sie gesund sein soll, aufnahmefähig und weiträumig sein.
Die Arbeitslosigkeit ist nach unserer Meinung zu einem guten Teil Ergebnis einer Deflationskrise. Deshalb sollten wir uns nicht bei falschen Analysen beruhigen, und noch weniger sollten wir rosaroten Illusionsnebel verzapfen und über das Land abblasen.
Mit Bagatellisieren, Beschönigen und Verharmlosen ist keinem gedient. Wir müssen vielmehr alle Möglichkeiten der Selbsthilfe ausschöpfen,
was bis heute in keiner Weise geschehen ist. Wir müssen handeln und müssen rasch handeln; sonst ist es zu spät, und das demokratische Staatswesen gerät in Gefahr. Wir müssen endlich •aus dem Stadium der bloßen Diskussionen, der unverbindlichen Vorverhandlungen, die doch nur eine andere Form von Untätigkeit sind, herauskommen; müssen den Konjunkturrückgang planmäßig auffangen und ausgleichend und belebend auf den Arbeitssektor einwirken.
Ein Wirtschaftssystem mit steigender Arbeitslosigkeit ohne Chance ihrer Bewältigung hat den eindeutigsten Gegenbeweis gegen sich selbst geliefert.
Dem Haus der deutschen Wirtschaft droht soziale Einsturzgefahr, falls man die Dinge Ideen- und tatenlos weitertreiben läßt.
Die soziale Krise droht sich unheilvoll zu verschärfen. Das Problem der Not und Verarmung ist mit den Prinzipien des Laisser-faire nun einmal nicht zu lösen. Oft will es mir in letzter Zeit scheinen, als ob das allmählich auch Professor Erhard begriffen hat. Denn wenn ihm die soziale Not allzudicht auf den Leib rückt, ist auch er nicht mehr hundertprozentig linientreu; dann macht auch er gewisse Anleihen bei unserer planwirtschaftlichen Hausapotheke
und nimmt bei uns geistige Anleihen auf.
Jedenfalls: mit der Beschönigungs- und Beschwichtigungsformel „Wirtschaft ist Wagnis" und „Es handelt sich nur um notwendige Anpassungsvorgänge" lassen sich die Arbeitslosen nicht mehr abspeisen.
Was sind denn Arbeitslose, meine Damen und Herren? Vergeudeter Volksreichtum!
Der Engländer Carlyle hat einmal gesagt: Ich
habe noch niemals einen beschäftigungslosen Gaul
gesehen, und ich werde es nun und nimmer begreifen, daß das am vollkommensten organisierte „Arbeitstier", der Mensch, keine Beschäftigung finden soll. Wir können es uns in unserer Lage einfach nicht leisten,
daß ein wesentlicher Teil unserer Arbeitskräfte zum Feiern verurteilt ist. Die Blutspuren Hitlers lassen sich nur mit Arbeitsschweiß abwaschen. Wir können es uns nicht leisten, daß namentlich ein Teil der zur Schulentlassung kommenden Jugend heute nicht in Lehre und Arbeit eingewiesen werden kann.
510 000 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren stehen schon jetzt ohne Arbeitsplatz da; das ist eine furchtbare Hypothek für jedes Staatswesen. Die heranrückende Welle der Schulentlassenen müßte die größte Hoffnung der leistungsgeschwächten deutschen Wirtschaft sein; praktisch ist sie uns heute leider mehr ein Alpdruck. Im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom Januar 1923 steht der schöne Satz: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit." Wir bekennen uns zu diesem Satz, verspüren aber schmerzlich den Abstand zwischen Forderung und Wirklichkeit.
Jugend ohne Hoffnung ist für jeden Gesellschaftskörper soziales Dynamit. Diese Arbeitslosigkeit, wenn sie so weitergeht, macht uns sturmreif für den vom Osten andrängenden Bolschewismus. Aus der sozialen Not droht sich eine nationale, ich will besser sagen, eine nationalistische Frage zu entwickeln. Wir haben es schon einmal erlebt, daß uns 6 bis 7 Millionen Arbeitsloser sturmreif gemacht haben für die Diktatur
des demagogischen Schnapphahns Adolf Hitler,
der verzweifelte Menschen in seinem braunen Bierzelt zusammenfegte, um daraus seine Sturmkolonnen zu formieren.
Demokratien müssen den Beweis erbringen, daß man in ihnen nicht nur freier, sondern auch gesicherter und besser lebt,
sonst werden sie erbarmungslos untergepflügt. Wir aber wollen dem Osten nicht diesen willkommenen Propagandahebel in die Hand drücken. Gewiß haben wir unsere Erfahrungen gemacht und sind dadurch psychologisch besser immunisiert; aber vergessen wir nicht: die objektiven Abwehrkräfte sind aus mancherlei Gründen geringer als damals. Es steht mehr auf dem Spiel als Schicksal und Prestige dieser Regierung; es geht um die Zukunft der deutschen Demokratie!
Denn der Zustand der sozialen Hoffnungslosigkeit und wirtschaftlichen Verelendung schafft das Klima, bei dem, das Spiel politischer Hasardeure am besten gedeiht. Schon warten die Söhne des Chaos, um aus dieser Saat ihre Ernte einzubringen. Hier entsteht ein soziales Vakuum, das imperialistische Tendenzen aus dem Osten geradezu ansaugen muß.
Erst die Arbeitslosigkeit hat dem Rechtsradikalismus die große Breiten- und Tiefenwirkung verliehen. Soziales Elend ist - Dr. Schumacher führte es hier am 21. September aus — „Heizstoff" für den Nationalismus. Und was die Verstärkung des Radikalismus im letzten Winter Deutschland an Schaden im Ausland zugefügt hat, das wissen Sie genau so gut wie ich.
Wir fragen: Ist aber die Regierung überhaupt bereit zuzugeben, daß Vollbeschäftigung zum zentralen Problem der Wirtschaftspolitik erhoben wird? Es wäre für uns sehr aufschlußreich, speziell vom Herrn Bundeswirtschaftsminister zu erfahren, ob auch er das Problem unter diese Schau zu stellen gewillt ist, oder ob er etwa der Meinung von Werner Sombart beipflichtet, daß die Wirtschaftsordnung, um funktionieren zu können, stets einen gewissen Bodensatz von Arbeitslosigkeit brauch t, ebenso wie eine Pumpe, die nur im Wasser stehend zu arbeiten vermag.
Wie ist die Äußerung von Herrn Professor Erhard im „Volkswirt" Nr. 50, Seite 9 zu verstehen, „daß die gewerkschaftliche Forderung nach Vollbeschäftigung" — Herr Professor Erhard, es ist nicht nur eine gewerkschaftliche Forderung! — „nicht zum Maßstab der Wirtschaftspolitik gemacht werden" dürfe.
Auch in dem von mir eben bereits erwähnten Memorandum vom 15. Dezember finden wir auf Seite
73 höchst merkwürdige Sätze. Es heißt wörtlich: Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß das Investitionsprogramm sogar gedrosselt werden muß, weil jede Erhöhung des Produktionsniveaus durch Investitionen naturgemäß zu einer Steigerung der Beschäftigung und damit der Kaufkraft führt, woraus sich eine Gefährdung der preis- und währungspolitischen Stabilität ergeben könnte.
Weiter heißt es:
Es besteht die Gefahr, daß entweder sozial nicht tragbare Preissteigerungen in Kauf genommen werden müssen oder daß die bisher verfolgte liberale Wirtschaftspolitik nicht mehr fortgesetzt werden kann.
Hand aufs Herz: Will man nun eigentlich Vollbeschäftigung oder nicht? Hat man etwa Angst vor der eigenen Courage? Scheut man das Risiko? Wir warten auf Antwort!
Denn, meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sind hier mit Recht etwas mißtrauisch. Durch trübe Erfahrungen früherer Zeiten belehrt wissen wir, daß die industrielle Reservearmee stets ein bewährtes Kampfinstrument gegen Arbeiterforderungen gewesen ist.
Ich könnte mir denken, daß es gewissen Interessenten- und Unternehmerkreisen vielleicht nicht ganz unerwünscht wäre, die gegenwärtige Situation, in der die Debatten um das Mitbestimmungsrecht heraufziehen,
das sich der Arbeiter im übrigen nicht verwässern lassen will,
durch Arbeitslosigkeit vorzupräparieren. Meine Freunde und ich haben den Verdacht, daß bei dieser Bonner Regierung über ihrer Freude an den ersten liberalen Erfolgen — Erfolge, die sie erstritt, als sie die Attrappe der Zwangswirtschaft beiseiteräumte — das soziale Problem bisher allzuwenig in den Gesichtskreis gerückt ist und daß die viel beredete „Liberalisierung" nach außen und innen für wichtiger genommen wird als die Beseitigung der Arbeitslosigkeit.
Uns Sozialdemokraten ist jedoch die Entwicklung der Beschäftigten- und der Arbeitslosenziffern das entscheidende Konjunkturbarometer. Denn, meine Damen und Herren, was ist Sozialismus? Sozialismus ist der große soziale Gewissensappell des zwanzigsten Jahrhunderts. Ganz besonders hat er diese Funktion in gegenwärtiger Zeit gegenüber dieser Regierung.
— Sie haben ebenso merkwürdige Vorstellungen von Geographie wie von Nationalökonomie!
Die sich immer weiter ausbreitende Arbeitslosigkeit ist uns ein Beweis dafür, daß mit dieser Wirtschaft etwas nicht in Ordnung ist. Ein Blick auf, den Arbeitssektor lehrt uns, daß auch im Kapitalsektor etwas in Unordnung geraten ist. So, wie es heute ist, hätte nicht alles zu kommen brauchen. Vor allen Dingen hätte man nicht so lange untätig abwarten dürfen, his der Sog nach unten nun derart stark wirkt. Es hätte nicht so zu kommen brauchen, wenn man daran denkt, was innerhalb des letzten Jahres in unsere Wirtschaft hineininvestiert wurde, ohne daß eine wirkliche Befruchtung des Arbeitsmarktes spürbar ist. Allein im dritten Quartel 1949 erfolgte nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums eine Bruttoinvestition von 4,2 Milliarden D-Mark. Für das Gesamtjahr ergibt sich also eine Bruttoinvestition von mindestens 16 Milliarden D-Mark; für das laufende Jahr ist eine Bruttoinvestition von 17,4 Miliarden D-Mark geplant. Wir verzeichnen also eine sehr beachtliche Regeneration unserer Kapitalkraft ohne die entsprechenden arbeitspolitischen Konsequenzen. Die Kapitalbildung, die direktionslos erfolgte und der nicht die maximale arbeitsintensive Auswirkung als Ziel gesetzt wurde, ist an der Errichtung neuer Arbeitsstätten vorbeigegangen.
In England sehen, nebenbei bemerkt, die Dinge anders aus.
— Dort herrscht keine Arbeitslosigkeit.
— Hören Sie sich lieber erst die Zahlen an! Die sind imponierender als Ihre unartikulierten Zwischenrufe! — Vor dem Krieg beschäftigten die englischen Exportindustrien 1,3 Millionen Arbeitskräfte. Ende 1948 war die Beschäftigtenzahl in den Exportindustrien aber bereits auf über 2 Millionen angestiegen; seitdem hat sie einen weiteren bedeutsamen Anstieg erfahren. Sie können die Zahlen im Hamburger Weltwirtschaftlichen Archiv nachlesen, einer Stelle also, deren Angaben von Ihnen nicht angezweifelt werden können.
Dem „Nilschlamm"-Kredit, von dem die wirtschaftliche Fruchtbarkeit abhängt, ist bei uns nicht das richtige Strombett vorgezeichnet. Es fehlt an einer Vierwendungsordnung für Investitionskapital. So kommt es zu Fehldispositionen und zu Fehlinvestitionen, die zwar steuertechnisch zweckmäßig, die privatwirtschaftlich profitabel sein mögen, die aber gesamtwirtschaftlich doch eine Fehlbesetzung bedeuten. Wir werden in den nächsten Wochen noch genügend Gelegenheit haben, auch darüber Ihnen die Rechnung vorzulegen.
Fragen Sie mich aber, warum die Konjunktur einen Rückschlag erfahren hat, so antworte ich: weil die Konsumkraft gemessen am erweiterten Sozialprodukt zurückgeblieben ist.
Rede man doch nicht davon, daß eine Sättigung eingetreten sei, operiere man doch nicht mit dem törichten Wort vom „Käuferstreik" — die armen Teufel möchten schon gerne kaufen, wenn sie nur könnten. Es ist aber eine Kaufkraftlähmung eingetreten. Der Markt ist sozial neutral, weshalb der Terminus „soziale Marktwirtschaft" nur immer eine contradictio in adjecto scheint. Professor Alfred Weber — und der ist kein Sozialdemokrat, das möchte ich von vornherein den ängstlichen Gemütern sagen — hat neulich einmal geschrieben: Das ist Marktwirtschaft, daß der Hund des Reichen unter Umständen sein Kotelett findet, während die Nachfrage der armen Frauen nach Brot für ihre Kinder unbefriedigt bleibt.
Man muß — das i. t die national-ökonomische Quintessenz —, wenn wir überhaupt aus der Scheinprosperität, die ja doch nicht von Dauer ist, herauskommen und wenn wir das sonst zwangsläufig nachkommende Debakel vermeiden wollen, die Kaufkraft der breiten Masse steigern. Denn der Arbeiter ist heute der maßgebliche Konsument. Deshalb gilt es, nicht nur mehr zu produzieren, womit ich herzlich einverstanden bin, sondern auch gerechter zu verteilen; denn die schlechte Verteilung wirkt sich heute bereits als Produktionsbremse aus. Man überhöre nicht die warnende Stimme der Gewerkschaften aus Königswinter. Gewerkschaften pflegen ihre Worte wohl abzuwägen; aber gerade deshalb sind sie doppelt gravierend. Es heißt in diesem Beschluß: „Es steht außer Zweifel, daß die Marktwirtschaft mit ihren eigenen Kräften des Beschäftigungsproblems nicht Herr zu werden vermag. vielmehr gehört die Arbeitslosigkeit zu ihrer Funktion". Weil — so habe ich hier vor Wochenfrist ausgeführt — unter den Zauberhänden der Liberalisten sich die befreiten Verbraucher in Arbeitslose verwandeln. Die wahre Befreiung von der Bewirtschaftung, die allein diesen Namen verdient und die auch wir jederzeit gern anerkennen, müßte auf dem Wege über eine Entfesselung der heute verstümmelten Massenkaufkraft erfolgen. Durch 1,8 Millionen Arbeitslose ist nach Feststellung des Herrn Bundesernährungsministers Dr. Niklas auf dem Aachener Bauerntag unsere Kaufkraft bereits um 720 Millionen D-Mark abgesunken. Damit hängen aber auch künftige Investitionen in der Luft.
Diese Investitionen sind erfolgt, teilweise sogar im überhitzten Tempo. Aber, wie gesagt, es fehlt die richtige Leitung des Kapitalkreditstroms. Das ist die Folge der Investierungen über den Preis, die Folge der Eigenfinanzierung statt durch übergeordnete Lenkungsinstitute. Von Produzenten, Kaufleuten bis herunter zu den kleinsten Quet-
schen sind Kredite aufgenommen worden, um die Unternehmen schnellstens wieder auf Hochglanz zu bringen. Diese Kredite fressen heute vielfach heillose Zinsen. Man kann eben nicht im Galopptempo nachholen, wofür 1r an in soliden Zeiten meist Jahrzehnte gebraucht hat. Man wollte allzu schnell voran; jetzt muß man abstoppen, notgedrungen. Jetzt heißt es Einsparungen vornehmen, und da stößt man auf die Beschäftigtenziffer, auf den Abbau des Personals, weil das der Ort des kleinsten Widerstandes ist. Zwei Millionen Arbeitslose sind aber kein Zustand, mit dem wir uns auf die Dauer abzufinden gedenken
— hoffentlich Sie auch nicht! —,
(Beifall bei der SPD. — Zurufe und Lachen
rechts. — Abg. Dr. von Brentano: Diese
Belehrungen brauchen wir nicht!)
Brachliegende Arbeitskräfte stehen zur Verfügung. Die Rohstoff- und Materialversorgungslage erlaubt eine wirtschaftliche Ausweitung. Freie Kapazitäten sind, von geringen Engpässen abgesehen, vorhanden. Der Verkehrsapparat ist auch wieder genügend leistungsfähig. Man muß diese Faktoren nur zusammenbringen können. Wer das organisatorisch nicht zu leisten vermag, hat verspielt! Uns kann es deshalb auch nicht imponieren, daß jetzt ein Fünf-Männer-Kollegium, daß jetzt endlich ein interministerieller Ausschuß der mit Wirtschaftsfragen befaßten Ministerien zusammengetreten ist, um das Arbeitsproblem — in Gänsefüßchen, ich zitiere wörtlich — „zu studieren". Verspürt man denn nicht die geradezu aufreizende Inkongruenz zwischen der Notlage, die uns auf den Nägeln brennt, auf der einen und diesem ingeniösen Einfall auf der anderen Seite? Eine Studienkommission reicht nicht aus; damit ist nichts Entscheidendes getan. Es liegen genügend Veröffentlichungen, es liegen sogar höchst gründliche Studien über Art, Zusammensetzung, Dauer und regionale Verteilung der Arbeitslosigkeit vor. Man sollte deshalb nicht länger über die Ursachen nachgrübeln; noch weniger sollte man Entschuldigungsgründe sammeln. Man sollte vielmehr umschalten von der bisherigen antiinflationistischen Währungsverteidigungspolitik auf eine antideflatorische Konjunkturpolitik, damit wir aus der selbstmörderischen Elendsspirale herauskommen: Arbeitslosigkeit, weiterer Kaufkraftschwund, verstärkte Absatzstockung, erhöhte Arbeitslosenzahlen. Wenn der ganze Wirtschaftskörper krank wird, wird auch am Ende das Organ Währung von der Krankheit befallen.
Es muß gehandelt werden, selbst wenn gewisse wirtschaftliche Gefahrenmomente vorliegen sollten, weil nichts zu tun noch viel gefährlicher ist. Wachsende Arbeitslosigkeit bedeutet Ausfall an volkswirtschaftlicher Werteschöpfung, Kaufkraftminderung, Absatzmangel, mit allen störenden Rückwirkungen auf den Konjunkturverlauf, wie wir das schon einmal vor 20 Jahren erlebt haben.
Wir kommen neben der Auslandshilfe, die auch wir für notwendig halten, die man aber nicht als Alibi und Vorwand für eigene Untätigkeit benutzen darf,
ohne inländische Kreditschöpfung nicht aus. Diese muß allerdings sorgsam geplant, muß begrenzt und kontrolliert bleiben und muß vor allem planmäßig eingesetzt werden. Dann, aber auch nur dann können Gefahren für das Währungs- und das Preisgefüge durchaus vermieden werden. In unserer Situation muß man bestimmte Risiken übernehmen, die im Verhältnis zu der sonst dem Staatswesen drohenden Gefahr geringfügig erscheinen. Man hat bisher allzuwenig getan, um durch planvollen Einsatz der verfügbaren und der sich bildenden Kapitalien gewappnet zu sein für das Jahr 1953, das Jahr unserer eigentlichen Bewährung, wenn der Marshallplan ausläuft.
In der Arbeitslosigkeit, die dieses Wirtschaftssystem heraufgeführt hat und zuließ, konzentrieren sich die Vorwürfe der SPD gegen eine Wirtschaftspolitik ohne planmäßige Lenkung in den obersten Entscheidungsinstanzen, namentlich im Kreditsektor. Ein echtes Arbeitsbeschaffungsprogramm, das über den Dilettantismus der 30er Jahre hinausgeht, erfordert einen entscheidenden Wandel der heute praktizierten Wirtschaftspolitik.
Vorgänge der letzten Tage machen es erforderlich, daß ich die Bundesregierung noch um eine Klarstellung bitten muß. Wenn ich recht unterrichtet bin, hat der Herr Bundeskanzler vor. der CDU-Fraktion eine Kontrolle der Arbeitsämter angekündigt, die sich, wie es in den Zeitungen hieß, zum großen Teil in Händen sozialdemokratischer Leiter befänden, weshalb die Bundesregierung Maßnahmen ergreifen wolle, um den Arbeitsämtern auf die Finger zu sehen.
Man wolle in die dunklen Quellen der Arbeitslosigkeit leuchten. Meine Damen und Herren,
Sie sagen „Sehr richtig!". Der psychologisch Geschulte weiß: Entschuldungsverlangen geht oft
seltsame Wege, und manche Sonntagsjäger befinden sich auf der Jagd nach dem Sündenbock.
Mir kommt da eine Erinnerung: Als damals die Preise auf das Kirchturmsdach kletterten, beschimpfte man die Verbraucher, die uns mit ihrer Zügellosigkeit und Disziplinlosigkeit den ganzen Preissalat angerichtet hätten.
Nicht der Handel sei schuld, nein, der Konsument. Jetzt sollen es wohl die Arbeitsämter sein.
Glaubt jemand, daß die Massen des Volkes auf dieses Ablenkungsmanöver hereinfallen werden? Wir warten auf Antwort. Ich begab mich heute nur auf dieses Nebengelände, um eventuell einen Fluchtweg von vornherein abzuriegeln.
Nun aber zum Schluß! Viele Blicke wenden sich fragend nach Bonn; sie tun es besonders am heutigen Tag. Es wäre unfair - und ich habe nicht daran gedacht —, die Bundesregierung für die Gesamtlage auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich zu machen. Wohl aber ist sie dafür verantwortlich, daß das Menschenmögliche geschieht,
daß der große Schuldberg der Arbeitslosigkeit möglichst bald Schicht um Schicht abgetragen wird. Die Arbeitslosigkeit ist, wie ich ausgeführt habe, in erster Linie ein wirtschaftspolitisches Problem mit sozialem Aspekt. Die Wirtschaftspolitik muß geändert werden.
Alle Maßnahmen, die nur darauf abzielen, die sozialen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit etwas zu erleichtern, dringen nicht bis zum Kern. Eine entscheidende Wende in der Arbeitsmarktsituation ist nur durch eine planvolle Wirtschaftspolitik zu erreichen, die eine starke Belebung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität anstrebt; durch eine konstruktive Wirtschaftspolitik, die im Rahmen einer wohlüberlegten Zielsetzung - ich darf einmal bitten, auf jedes Wort zu achten — die Voraussetzungen schafft, die zu einer richtig gefügten Hebung des Produktionsniveaus und zur Absaugung der Arbeitslosigkeit notwendig erscheinen. Das und nur das verstehen wir unter Planwirtschaft.
Nun haben wir ja am heutigen Morgen das Siebenpunkteprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus den Zeitungen entnommen. Hoffentlich war es nicht wieder ein verfrühtes Vorgaloppieren der Zeitungen, das später abgeblasen wird. Wir würden es sehr bedauern, wenn die fatalen Dementis am laufenden Band auch hier fortgesetzt würden.
Nachdem das wichtigste Kapital, das zur Behebung der Wirtschaftskrise notwendig ist, die Zeit, in einem Dornröschenschlaf von 5 Monaten vergeudet worden ist, scheint man nun endlich, endlich zum Handeln bereit,
nachdem wir, die Opposition, und das Ausland in Gestalt der Kommissare dieser Regierung ein bißchen das Tempo eingeheizt haben.
Unser erster Eindruck faßt sich in folgender Frage zusammen: Mußte wirklich soviel Zeit nutzlos vertan werden, bevor man diese Karte auf den Tisch spielen konnte?
Das Programm enthält, soweit es die Zeitungen vermelden, nur Projekte, die die Opposition seit Monaten gefordert hat,
auf die im übrigen auch der Wissenschaftliche Beirat, den Herr Professor Erhard sich zugelegt hat und der sich aus Angehörigen aller Parteien zusammensetzt, wobei die liberalen Nationalökonomen durchaus überwiegen, längst als dringend notwendig hingewiesen hat. Warum erst jetzt eine Vorfinanzierung? Warum wird jetzt pompös angekündigt: Fortführung des Wohnungsbauprogramms, so daß man praktisch Ende Juni das tun kann, was schon heute getan werden könnte, nachdem uns in diesem Jahre der Winter erspart geblieben ist.
Denn bis die praktische Arbeit anlaufen kann, bis das heruntergesickert ist zu den kommunalen Instanzen, braucht es mehrere Monate. Die Verarbeitung wird mindestens vier Monate kosten, so kommen wir notgedrungen in den Juni hinein.
Die Erhöhung der Eisen- und Stahlproduktionskapazität ist gewiß ein gutes Ding. Aber ich glaube, sie hätte besser auf dem Petersberg ausgehandelt werden müssen,
damals, als das Eisen noch warm war. Jetzt ist es erkaltet, und jetzt ist die Schmiedearbeit um vieles schwerer.
Die Wiederaufbaubank soll zur beschleunigten Kredithergabe angehalten werden. Aber ihre verfügbaren Mittel sind, wie ich aus den Verwaltungsratssitzungen weiß, längst eingeschleust. Und so ist es mir unbekannt, woher die 600-Millionen-Rate kommen soll, mit der man jetzt Hoffnungen erweckt. Sind aber diese 600 Millionen wirklich verfügbar, warum hat man sie nicht eher abgerufen? Herr Professor Erhard sitzt doch auch im Aufsichtsrat dieser Wiederaufbaubank. Herr Professor Erhard hat aber, wie wir bei der letzten Verwaltungsratssitzung mit Befremden konstatierten, seit Mai des vorigen Jahres an solchen Verwaltungsratssitzungen nicht mehr teilgenommen.
Es würde uns sehr interessieren zu erfahren, wieviel Anträge der Herr Bundeswirtschaftsminister bei der angeblich so hart gesottenen Bank deutscher Länder überhaupt gestellt hat. Vielleicht hat Herr Professor Erhard auch die Güte, sich nachher einmal darüber zu verbreiten, wie der Präsident der Bank deutscher Länder eigentlich die Erfolge von Herrn Professor Erhard in bezug auf die Bekämpfung — ich will nicht sagen Erzeugung — der Arbeitslosigkeit beurteilt.
Es gibt da einen höchst interessanten Briefwechsel, und es wäre für die Teile des Hauses, die ihn noch nicht kennen, bestimmt aufschlußreich, auch darüber etwas Näheres zu erfahren.
Jahrelang hat man eine Fehlleitung des Kapitals zugelassen auf dem Wege unkontrollierter Eigenfinanzierung. Diese Fehlleitung trägt die Schuld, daß jetzt der Schrei nach neuem Kapital so vehement wird. Denn unsere Kapitalnot ist sehr wesentlich eine Funktion der erfolgten Fehlinvestionen. Hätte man mehr Vernunft investiert, dann würde die Kapitalnot nicht so erdrückend sein.
Wir sind auch hier nicht unbillig und ungerecht. Wir verlangen von diesem 7-Punkte-Programm, das im günstigsten Falle nur eine erste Abschlagzahlung darstellt und das viel zu spät kommt, gewiß keine hundertprozentige Patentlösung. Aber schon bei überschlägiger Schau — und mehr war uns bisher nicht möglich — können wir uns des Eindrucks nicht erwehren: Dieses Programm des Herrn Bundeskanzlers ist allzu schmalbrüstig! Es erfaßt ja höchstens ein Viertel der vorhandenen Arbeitslosen, mit allen direkten und indirekten Konsequenzen. Es ist auch wiederum nicht genug wirtschaftspolitisch gesehen. Und was wir besonders bedauern: Die Zusammenhänge von Arbeitslosigkeit mit Innen- und Außenpolitik scheinen überhaupt nicht begriffen. Wir fordern daher schon jetzt ein umfassenderes Programm, das den sozialen und politischen Verpflichtungen besser gerecht wird.
Wenn die Regierung — und das unterstelle ich natürlich — es wirklich ernst meint, muß sie ausgehen von der Realität der Wirtschaft von heute unter Zurückstellung jedes Dogmas, unter Einschluß des alleinseligmachenden Dogmas von der „Sozialen Marktwirtschaft". Von der bisherigen Praxis des Von-der-Hand-in-den-Mund-Lebens werden unsere Arbeitslosen nicht satt. Nur bei gewaltigen und systematischen Anstrengungen, deren Dynamik weit hinausgeht über die Schwächlichkeit des uns heute morgen servierten Programms, ist es denkbar, zu vermeiden, ,daß die Arbeitslosigkeit in einem gefährlichen Dammbruch alles überschwemmt, wenn dereinst der Marshallplan ausläuft. Ich bedaure es lebhaft, meine Damen und Herren, daß meine Rede statt mit einer Hoffnung, die verfrüht wäre, mit dieser nachdrücklichen Warnung schließen muß.