Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren! Es ist keine hochpolitische Angelegenheit, die uns mit diesem Punkt der Tagesordnung beschäftigt, und wir könnten sie eigentlich mit einem gewissen Humor behandeln, wenn sie nicht im Laufe der letzten Jahre so langweilig geworden wäre, daß wir glauben, daß dieses Haus sich allgemach damit befassen sollte. Die Frage, die hier zur Diskussion steht, ist ein Symptom dafür, wieweit einige allerorts in Europa, mindestens in Westeuropa, verkündete Grundsätze und die Entwicklung einer entsprechenden Praxis auch nur im bescheidenen Teil des Paßwesens noch auseinanderklaffen.
Am 26. September des vorigen Jahres gab die Hohe Kommission bekannt, daß die bisherigen Beschränkungen für Reisen von Deutschland ins Ausland fortfallen sollten, daß die Bundesbehörden diese Angelegenheit übernehmen sollten und daß sie in einer Vereinfachung des seitherigen Verfahrens — von wenigen Ausnahmen abgesehen — in Zukunft in deutscher Hand sein sollte. In der Zwischenzeit ist, soweit wir unterrichtet sind, in dieser Sache nichts geschehen. Jedenfalls hat sich nichts an dem alten Zustand geändert, und die Mitteilung vom 26. September des vorigen Jahres hat sich bis jetzt jedenfalls als nicht verwirklicht erwiesen. Der Antrag, der hier vorgelegt worden ist, scheint uns der Beachtung dieses Hauses wert; und die Regierung wird gebeten, diesem Antrag nach Möglichkeit zu entsprechen und so schnell wie möglich ihre Einflußnahme auf die Hohe Kommission in einer zweifachen Richtung auszüben; nämlich erstens dafür zu sorgen, daß das Paßwesen so schnell wie möglich in deutsche Hände übergeht, und zweitens, daß es wesentlich vereinfacht wird. Nachdem wir eine Bundesregierung haben, besteht kein ersichtlicher Grund dafür, weshalb ein Verfahren, dem wir nicht nur seit fünf Jahren, sondern dem die Mehrzahl der Deutschen seit zwölf Jahren unterworfen ist, weiter fortgesetzt werden soll. Wir sehen nicht ein, weshalb der Reiseverkehr insbesondere zu geschäftlichen und dienstlichen Zwecken weiterhin so begrenzt und solchen Umständen unterworfen sein muß, wie wir es bis jetzt konstatieren müssen.
Ich darf Ihnen hier einige Beispiele für die nach meiner Überzeugung völlig anachronistische Situation geben, in der wir uns befinden. Die Dokumente, die zur Erlangung eines Ausreiseantrages gefordert werden, sind in Württemberg folgende: erstens: Polizeiliches Führungszeugnis, zweitens: Entnazifizierungsbescheid, drittens: Visum und Zusicherung des zuständigen Konsulates für die Einreise, viertens: ausländische Einladung mit Bestätigung, daß Aufenthaltskosten im Ausland übernommen werden, fünftens: drei Lichtbilder, sechstens: Antragsformular mit 29 Fragen. Diese Fragen müssen auch bei Wiederholungsreisen immer wieder neu beantwortet werden. Der Spaß kostet für den vorläufigen Reiseausweis in Württemberg 15 D-Mark, das Permit dazu 5 D-Mark, macht zusammen 20 D- Mark. In Bayern ist die Kleinigkeit etwas teurer. Dort kostet der vorläufige Reiseausweis bis heute 15 D-Mark, das Permit 55 D-Mark, zusammen 70 D-Mark. In Hessen liegen die Dinge wieder etwas anders. Dort braucht man zu den hier genannten Papieren nach eine Aufenthaltsbescheinigung des zuständigen Polizeireviers usw. usw.
Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, daß es eine Verletzung des Stiles ist, wenn man allerorts und wir glauben, daß es nicht nur ein Lippenbekenntnis ist — auf alliierter wie auf deutscher Seite den Gedanken von der europäischen Gemeinsamkeit proklamiert und diesem Gedanken dann in solchen Details nicht auch in deutschen Landen die Nachachtung verschafft, die in diesem Fall darin besteht, daß diese anachronistischen Umstände — nunmehr etwas beschleunigt, wie wir meinen — abgeändert werden. Kurzum wir sind der Überzeugung, daß dem vorliegenden Antrag entsprochen und so schnell wie möglich eine Änderung des bestehenden Zustandes auf der Linie des Antrags herbeigeführt werden sollte, insofern als die Zuständigkeit für das Paßwesen klar an den Bund übergeht und daß eine ganz wesentliche Vereinfachung der noch bestehenden grotesk-bürokratischen Handhabung in dieser Sache stattfindet.