Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Drucksache Nr. 350 beinhaltet den Entwurf eines Gesetzes über die Notaufnahme von Deutschen im Bundesgebiet aus der sowjetischen Besatzungszone und dem sowjetischen Sektor Berlins. Nach diesem Entwurf sollen alle deutschen Staatsbürger und alle deutschen Volksangehörigen nach Einholung einer
Niederlassungserlaubnis die Bewilligung der Seßhaftmachung erhalten. Bis auf § 2 ist dieser Gesetzentwurf, der von der SPD-Fraktion eingereicht wurde, im wesentlichen das gleiche, was die Verordnung der Bundesregierung bringt, die bereits seit Wochen im Bundesrat und dessen Ausschüssen diskutiert wird. Der Gesetzentwurf hat in § 1_ Absatz 2 folgendes festgelegt:
Die Erlaubnis darf nur dem versagt werden, der wegen einer strafbaren Tat verfolgt wird, die auch im Bundesgebiet eine Straftat ist.
Das heißt, daß bei Annahme dieses Gesetzentwurfs praktisch alle Grenzgänger aus der Ostzone im Bundesgebiet aufzunehmen wären, soweit sie nicht wegen krimineller Vergehen an dieser Aufnahme gehindert werden.
Bei voller Würdigung und Anerkennung der Hilfe, die dieser Entwurf unseren Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone dadurch bringen will, daß man ihnen das unbedingte Asylrecht zubilligen möchte, können wir dem Entwurf in dieser Fassung unsere uneingeschränkte Zustimmung dennoch nicht geben.
Wir erachten es als einen Fehler und eine falsche Hilfeleistung, wenn wir durch ein solches Gesetz zur Abwanderung nach dem Westen geradezu auffordern würden und dann die unzähligen Menschen im Westen bitter enttäuschen müßten.
Wir sind wirtschaftlich und wohnraummäßig ganz einfach nicht in der Lage, diesen Zustrom hier aufzunehmen, diese Menschen menschenwürdig unterzubringen. Wir sind nicht in der Lage, ihnen die Arbeitsplätze zu geben, die ihre Lebenshaltung sichern würden. Einige Zahlen müßten uns doch klar zur Erkenntnis bringen, daß dies nicht ein hartherziger, unmenschlicher Standpunkt ist, sondern daß wir das soziale Gefüge hier im Westen im Innersten erschüttern würden.
In der allernächsten Zeit erwarten wir nach amtlichen Verlautbarungen 45 000 Deutsche als Rückwanderer aus Polen und der Tschechoslowakei. In diesem Fall handelt es sich um echte Familienzusammenführungen. Diese Menschen müssen und werden im westdeutschen Raum untergebracht werden. Weitere 200 000 bis 250 000 Deutsche warten in Polen und in der Tschechoslowakei auf die Stunde der Erlösung aus ihrer bedrängten Lage. Wenn die ersehnte Stunde kommt, daß diesen Menschen die Möglichkeit der Umsiedlung reboten werden kann, dann haben wir bei Gott vor unserm Volk und vor unserm Gewissen die Pflicht. sie hier im Westen aufzunehmen und ihnen Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Die zuständigen Landesbehörden melden weiter, daß wir noch mit Bestimmtheit 250 000 bis 300 000 Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft zu erwarten haben. Die größte Sorge bleiben aber die Grenzgänger aus der Sowjetzone. In den letzten Monaten waren es täglich 800 bis 1000 Personen, die am Arbeitsmarkt der Bundesrepublik neu erschienen. Wenn vorhin gesagt wurde, daß diese Zahl nicht zutreffe. so gebe ich das insofern zu, als wir, durch die Jahreszeit bedingt, in den Wintermonaten eine geringere Zahl dieser Grenzgänger haben. während im Herbst und im Frühjahr diese Zahl, die mit einem Tagesdurchschnitt
von 1000_ angegeben wurde, vielfach überschritten wurde. Wenn wir die Jahressumme nach den Erfahrungen der letzten Monate errechnen, so kommen wir auf eine Zahl von rund 300 000.
Wir ringen um die Schaffung von Arbeitsplätzen und um die Erstellung von neuem Wohnraum. Eine weitere Zahl zeigt uns kühl und nüchtern, daß all unser krampfhaftes Ringen und unser verantwortungsvolles Beginnen eine Sisyphusarbeit bleiben muß, wenn wir durch die andauernde Bewegung und den unentwegten Zustrom nicht zur Ruhe kommen. Die bekannte Innenarchitektur, Herr Minister Albertz — ein Ausdruck, den wir beide in dieser Auseinandersetzung schon so oft angewandt haben, und wir meinten damit einen Ausgleich der Vertriebenen unter den Ländern, daß wir die Menschen in die Gebiete bringen, wo sie wohnraummäßig und arbeitseinsatzmäßig untergebracht werden können —, diese Innenarchitektur werden wir nie durchführen können, wenn wir durch den neuen Zustrom in dauernder Unruhe bleiben.
Interessant ist eine Tatsache, die die behandelte Frage so richtig charakterisiert. Im Monat Dezember des vergangenen Jahres ist die Zahl der Arbeitslosen im Bundesgebiet um 174 000 gestiegen. In der gleichen Zeit ist die Zahl der Beschäftigten aber nur um 89 000 Personen abgesunken. Diese beiden Zahlen sagen- uns, daß 85 000 Menschen im Monat Dezember am Arbeitsmarkt neu erschienen sind. Ein großes Kontingent an dieser Zahl stellen die aus der Sowjetzone kommenden Flüchtlinge. Dieser Sog aus der Ostzone würde bei wörtlicher Annahme dieses Gesetzentwurfs noch weiter ins Unermeßliche steigen und unser soziales Gefüge erschüttern.
Man spricht von einer Verletzung des Grundgesetzes, wenn die Fassung der vom Bundesflüchtlingsministerium oder von der Regierung vorgelegten Verordnung zur Annahme und Durchführung kommen würde. Nach meiner Auffassung ist eine Einschränkung der im Grundgesetz verbürgten Freizügigkeit in der betreffenden Verordnung der Regierung nicht verfassungswidrig. Denn im Absatz 2 des Artikel 11 des Grundgesetzes heißt es ja sinngemäß: „Das Recht der Freizügigkeit darf nur in solchen Fällen eingeschränkt werden, in denen ausreichende Lebensgrundlagen nicht vorhanden sind und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden." Auf Grund der gegebenen Verhältnisse ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, die Milderung unserer Wohnungsnot und der angestrebte Vertriebenenausgleich unter den Ländern des Bundesgebiets illusorisch werden müßten, wenn dem Entwurf in seiner vorliegenden Fassung zugestimmt werden würde.
Die Anregung zur Schaffung einer Verordnung, die den Fragenkomplex der Sowjetzonenflüchtlinge regeln soll, ging vom Lande Niedersachsen aus. Die Lage in Niedersachsen ist unhaltbar geworden. Eine nahezu 600 Kilometer lange Zonengrenze hat dieses Land in die schwierigste Situation gebracht. Ich kenne die Sorgen dieses Landes aus eigenem Miterleben. Eine zweieinhalbjährige Mitgliedschaft im niedersächsischen Landtag und im zuständigen Flüchtlingsausschuß waren mir eine sehr gute Schule für dieses Problem. Wir fanden dort nach jahrelangem Ringen mit der Gleichgültigkeit der anderen deutschen Länder dieser Frage gegenüber und
mit den Auffassungen der Militärregierung den Weg zu den sogenannten Braunschweiger Richtlinien, die die Aufnahme von Ostzonenflüchtlingen regeln sollten. Nach diesen Grundsätzen waren aufzunehmen: erstens politische Flüchtlinge und Personen, die nachweisbar in der Sowjetzone an Leib und Leben bedroht waren, zweitens Personen bei echten Familienzusammenführungen und drittens Personen, bei denen besondere Härtefälle vorliegen. Wir waren uns aber immer ausnahmslos darüber einig, den Abwanderungen aus der Sowjetzone nach Westdeutschland ohne zwingenden Grund im gesamtdeutschen Interesse entgegenzutreten. Wir wollten uns an einer Entvölkerung der Sowjetzone nicht mitschuldig machen. An die 1,7 Millionen Flüchtlinge aus der Ostzone sind bereits im Bundesgebiet. Wie würde bei einem freien und uneingeschränkten Zuzug deren Zahl steigen! Welche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gefahren würden wir heraufbeschwören! Meine Freunde und ich sehen dieses schwere Problem als Ganzes. Wir sind aufrichtig bereit, bis an die Grenze des Tragbaren und Möglichen mitzugehen, um unseren bedrängten Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone zu helfen. Wir wollen alles vermeiden, was den staatlichen Einheitswillen unseres Volkes stört oder der deutschen Einheit abträglich ist. Wir wollen dafür einstehen, daß denjenigen, die an Leib und Leben gefährdet sind, die als politische Flüchtlinge im Gebiet der Bundesrepublik Zuflucht und Asylrecht suchen, denjenigen, bei denen es sich um echte Familienzusammenführungen und um besondere Härtefälle handelt, das Asylrecht selbstverständlich gewährt werden muß. Wir wünschen ferner, daß ledige Jugendliche wie bisher bis zum 25. Lebensjahr ausnahmslos aufgenommen werden.
Im Namen meiner Freunde beantrage ich deshalb, daß der vorliegende Entwurf dem Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen zugewiesen wird und daß dort in gemeinsamer Arbeit ein Weg gefunden wird, um dieses schwierige und drängende Problem zu meistern.