Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, ist aus der Notwendigkeit entstanden, gegenüber den Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang eine nationalpolitische Aufgabe zu erfüllen. Die Spaltung Deutschlands ist nicht durch Deutsche erfolgt. Sie entspricht weder dem Willen der westdeutschen noch dem der ostdeutschen Bevölkerung, wovon ich allerdings einige hörige Beauftragte einer gewissen Besatzungsmacht ausnehmen möchte.
Die Gefahren dieser Spaltung Deutschlands, die sich in den letzten Jahren immer mehr gehäuft haben, haben als Begleiterscheinung mit sich gebracht, daß zahlreiche Deutsche, die materiell oder geistig dem Druck in der Ostzone nicht mehr
gewachsen waren, in das Gebiet der Bundesrepublik ausgewandert sind bzw. die Grenze zur Bundesrepublik überschritten haben. Die Situation des vergangenen Jahres hat dazu geführt, daß die Zahl der die grüne Grenze Überschreitenden immer größer wurde. Bei dieser Gelegenheit muß man allerdings hinzufügen, daß von verschiedenen Seiten Zahlen genannt worden sind, die nicht den Tatsachen entsprechen. Es ist nicht so, als könne man mit einer jährlichen Zuwanderung von etwa 300 000 Menschen rechnen, weil zufällig an einigen Tagen hintereinander die Zahl der aus der Ostzone kommenden Menschen etwa 1000 betragen hat. Tatsächlich sind im dritten Vierteljahr — eine weitere Statistik liegt noch nicht vor — insgesamt etwa 41 000 Menschen in die Westzonen eingewandert.
Es ist auch nicht richtig, wenn es so hingestellt worden ist, als sei nur ein verschwindend geringer Teil derjenigen, die aus der Ostzone in die Westzonen kommen, als ausgesprochen politische Flüchtlinge anzusehen. Wer wagt es wohl, hier eine Grenze zu ziehen angesichts einer Unterdrückung in der Ostzone, die ihresgleichen sucht? Es ist auch nicht möglich, wie verschiedentlich propagiert bzw. vorgeschlagen worden ist, diejenigen, die nicht als politische Flüchtlinge anerkannt worden sind, wieder abzuschieben. Das ist kein Problem, das mit Polizeimaßnahmen gelöst werden kann. Dieses Problem erscheint meiner Fraktion so wesentlich, so wichtig, daß wir den Ihnen vorliegenden Initiativgesetzentwurf eingebracht haben. Wir halten es nicht für richtig, diese Angelegenheit mit Hilfe einer Verordnung zu regeln. Vielmehr sind wir der Meinung, daß
hier Artikel 11 Absatz 2 des Grundgesetzes Anwendung finden muß, der Artikel, der die Freizügigkeit der Deutschen behandelt. Wir müssen denen, die aus der Ostzone in die Bundesrepublik kommen, weitestgehend die Möglichkeit geben, ihr Leben in Freiheit zu führen.
Die einzelnen Paragraphen unseres Initiativgesetzentwurfs lassen unsere Absichten, die wir damit verbinden, klar erkennen. Jeder deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige, der seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetischen Sektor von Berlin hat oder gehabt hat, bedarf, wenn er sich ständig im Bundesgebiet niederlassen will, einer besonderen Erlaubnis. In Absatz 2 dieses ersten Paragraphen wird ausdrücklich gesagt, daß diese Erlaubnis nur jemandem versagt werden darf, der wegen einer Tat verfolgt wird, die auch dann mit Strafe bedroht ist, wenn sie im Geltungsbereich des Grundgesetzes begangen sein würde.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß wir im Verhältnis zur Ostzone endlich einmal mit der Fiktion der Rechtsgleichheit aufhören müssen. Es ist nicht möglich, gegenüber einem, ich darf wohl ausnahmsweise einmal sagen: Staatsgebilde, wie es die Ostzone darstellt, wo die Rechtsgrundlagen in weitestgehendem Maße zerstört sind, die Fiktion einer Rechtsgleichheit auf Grund nur der Tatsache aufrechtzuerhalten, daß auch dieser Teil zu Deutschland, wie wir es auffassen, gehört. Es ist außerdem nicht unbekannt, daß jederzeit in der Ostzone die Möglichkeit besteht, Personen, die bei den herrschenden Gewalten mißliebig sind, in irgendeiner Form ein kriminelles oder sonstiges Strafverfahren anzuhängen und sie dadurch zu Kriminellen zu machen.
Deutscher Bundestag 27, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Januar 1950 843
I Meine Damen und Herren! Es hat leider auch nicht an Stimmen gefehlt, die bei der Diskussion des ganzen Problems darauf hingewiesen haben, daß eine Zuwanderung aus der Ostzone erfolgt, die als unerwünscht anzusehen wäre. Es wird in einem weitgehenden Maße von kriminellen Elementen usw. gesprochen, die diese Gelegenheit benutzten, um die Bundesrepublik, wie einmal wortwörtlich geschrieben worden ist, „asozial zu unterwandern". Wenn wir den Tatsachen nachgehen, so kommen wir zu anderen Ergebnissen. Ich will keineswegs leugnen, daß unter den Zuwanderern aus der Ostzone auch asoziale Elemente sind, aber die Erscheinung des Asozialen an sich ist bekanntlich eine allgemein deutsche Erscheinung. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, daß ich aus dem Bericht des Jugendfürsorgeausschusses, der uns in der vergangenen Woche zugegangen ist, folgendes ersehe. Die jugendlichen Einwanderer aus der Ostzone, die . schätzungsweise 4 100 im Monat ausmachen, werden erfaßt und sind kaum, wie es in dem Bericht heißt, als verwahrlost oder arbeitsscheu anzusprechen, sondern sie wollen arbeiten oder einen Beruf ergreifen.
— Vielleicht sind das die Berichte, die für Sie zugänglich sind.
— Meine Damen und Herren, ich habe nicht nötig, die Ehrlichkeit oder Nichtehrlichkeit von Herrn Kaiser zu verteidigen, aber auf der andern Seite würde ich es für richtig halten, wenn Sie, Herr Renner, sich bei diesem Problem etwas mehr Zurückhaltung auferlegen würden.
Ihre Leute, Ihre politischen Freunde sind es, die diese Zustände in der Ostzone hervorgerufen haben und diese Zustände schützen und die die Träger dieser Gewaltherrschaft sind.
Solange es in der Ostzone diese Form des politischen Terrors und solange es Konzentrationslager gibt, werden wir mit einer Zuwanderung aus der Ostzone zu rechnen haben. Wir sind deshalb der Meinung, daß wir auf keinen Fall den Zuwanderern aus der Ostzone den Zutritt in die Bundesrepublik zu verwehren haben. Wir sind vielmehr der Meinung, daß dann, wenn wirklich Menschen herüberkommen, von denen wir annehmen müssen. daß sie nicht unbedingt aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen haben, hier in der Bundesrepublik von uns Maßnahmen zu ergreifen sind, die geeignet sind, diese Menschen einem geordneten Leber. zuzuführen. Wir sind der Meinung, daß wir aber keineswegs diese Maßnahmen in Gestalt eines Gendarmen an der Grenze mit dem Zeigefinger nach Osten ergreifen dürfen.
Aus diesem Grunde haben wir diesen Gesetzesentwurf eingebracht. Wir wollen endlich einmal das bisher nur auf Grund von Vereinbarungen der Länder angewandte System mit einem Gesetz unterbauen. Wir betrachten eine klare Gesetzgebung in dieser Form als eine nationalpolitische Aufgabe. Wir sind auf der einen Seite der Meinung, daß der Kampf um die Einheit Deutschlands, wie wir sie auffassen, Herr Renner, weitergeführt werden muß, und dieser
Kampf wird auch zu einem Erfolg führen. Wir wissen ganz genau, daß auf der anderen Seite die Spaltung Deutschlands nicht auf deutsches Betreiben erfolgt ist und daß die Priorität der Entscheidung nicht in unserer Macht liegt; und wir wissen, daß wir doch den Raum auszufüllen haben, der uns zur Verfügung steht und in dem wir nationalpolitisch wirken müssen. Diesen Raum nun müssen wir mit Maßnahmen ausfüllen, die den Menschen drüben im Osten nicht die Hoffnung nehmen, sondern ihnen Hoffnung geben. Ich glaube, mit einer chiliastischen Erlöserprophetie, die nur etwas wie ein Rankenwerk um die Worte „Harret aus" darstellt, ist den Menschen in der Ostzone nicht gedient. Sie wollen die Zuversicht und die Gewißheit, daß wir sie nicht abgeschrieben haben, und diesem Zweck soll dieses Gesetz dienen.
Ich glaube, ich brauche nicht weiter auf die Einzelheiten einzugehen. Ich möchte nur noch zu einem Argument Stellung nehmen. Es ist verschiedentlich gesagt worden, daß auf dem Weg über die Binnenwanderung von der Ostzone nach der Bundesrepublik auch politische Agenten der allerverschiedensten Art - wahrscheinlich ist aber nur eine Art gemeint gewesen — in die Bundesrepublik einwandern. Dazu möchte ich nur folgendes sagen. Dann soll einmal dafür gesorgt werden, daß hier in der Bundesrepublik ein Recht geschaffen wird, das uns solche nachweisbaren Agenten entsprechend zu strafen und ihnen das Handwerk zu legen gestattet. Ich bin außerdem der Meinung, daß diejenigen, die man als echte Agenten ansprechen kann, wahrhaftig nicht den Weg über Uelzen oder Gießen nehmen. Die sitzen im Interzonenzug Berlin via Helmstedt nach dem Ruhrgebiet.
Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie also. den von der sozialdemokratischen Fraktion eingebrachten Initiativgesetzentwurf zur Beratung dem Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen zu überweisen.