Rede von
Dr.
Fritz
Baade
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Wenn eine Partei eine so alte Tradition als Europäer hat, dann hätte sie wirklich den herzlichen Wunsch gehabt, diesen ersten Staatsvertrag, den Deutschland schließt, und noch dazu einen Staatsvertrag mit den Vereinigten Staaten über die Eingliederung Deutschlands in die Einigung Europas, mit ungeteilter Freude zu begrüßen. Das ist leider nicht möglich. Die Freude über diesen Staatsvertrag wird durch eine Reihe von ernsten Sorgen überschattet.
Sehen Sie, das Gebiet der deutschen Bundesrepublik ist unter sämtlichen Teilnehmerländern des Marshallplans bei weitem das ärmste Territorium und das Territorium, das die größten, ich möchte beinahe sagen: die fast unlösbarsten Aufbauaufgaben vor sich hat. Infolge der Zerreißung Deutschlands durch ,den Eisernen Vorhang, infolge der Auslieferung unserer wichtigsten landwirtschaftlichen Überschußgebiete an Polen, infolge des Hineintreibens von 8 Millionen Heimatvertriebenen in ein bereits übervölkertes Gebiet ist in Westdeutschland etwas entstanden, was es in der Geschichte überhaupt noch nicht gegeben hat: ein Gebiet von der Wirtschaftsstruktur Englands mit einem Territorium, das nicht größer ist
als die englische Insel, mit einer Bevölkerung von fast 50 Millionen, die etwa ebensogroß ist, wie die englische Bevölkerung, aber mit unendlich schlechteren wirtschaftlichen Voraussetzungen, dieses zweite England nun wirtschaftlich selbsterhaltend zu machen. Die Aufgabe, die uns auf diesem Gebiet gestellt worden ist, ist unendlich viel schwerer als die Aufgabe aller anderen Marshallplan-Nationen, nicht zuletzt deshalb, weil das eigentliche England die Möglichkeit hatte, am Tage, nach dem die Waffen schwiegen, seine gesamte Kriegproduktion in .vollen Touren auf Friedensproduktion umzustellen, während dem zweiten, künstlich geschaffenen England, Deutschland, diese Möglichkeit beschnitten wurde und zum Teil bis heute noch beschnitten wird. Ich erinnere nur an das, was trotz des Petersberger Abkommens noch an Demontagen und an Restriktionen unserer Friedensproduktionsmöglichkeiten bestehen geblieben ist.
Es ist gar kein Zweifel, daß wir, wenn wir dieses Abkommen annehmen - und wir werden es annehmen —, damit unsere Dankbarkeit gegenüber den Vereinigten Staaten aus vollem Herzen zum Ausdruck bringen. Wir können aber nicht umhin, unsere ernste Sorge auszusprechen, daß vielleicht die anderen europäischen Länder bis zum Jahre 1952 selbsterhaltend werden können, daß aber dieses Westdeutschland mit seiner besonderen Wirtschaftstruktur und seinem besonderen Zurückbleiben, wie ich es eben kurz geschildert habe, eigentlich nur durch ein Wunder bis zum Jahre 1952 zu einem Gebiet gemacht werden kann, das aus eigener Kraft und ohne weitere Hilfsleistungen leben kann. Es gehört ein Wunder dazu, nicht nur ein Wunder der Wirtschaft, sondern vor allen Dingen auch ein Wunder der Vernunft, indem endlich alles, was an Restriktion unseres Leistungswillens auf dem Gebiet der Friedensproduktion noch besteht, radikal beseitigt wird.
Unsere Besorgnisse werden aber auch noch dadurch bestärkt, daß der Anteil, den Deutschland aus dem Marshallplan bekommt, in einem wirklich krassen Mißverhältnis zu der atemberaubenden Größe des deutschen Wiederaufbauproblems steht. Ich muß Ihnen darüber einige Zahlen vortragen. Wenn man zwischen den einzelnen europäischen Ländern vergleichen will, so ist es am besten, die Nettoleistung aus dem Marshallplan und der übrigen Amerikahilfe pro Kopf der Bevölkerung zu berechnen. Dabei müssen wir im deutschen Fall die Leistungen aus dem Marshall-plan und die aus der GARIOA-Hilfe zusammenzählen. Wir müssen das abziehen, was wir infolge der Ziehungsrechte, die uns auferlegt sind, von unseren eigenen Marshallplanmitteln an andere europäische Völker abgeben müssen. Wir kommen dann zu dem Ergebnis, daß Deutschland im Jahre 1949/50 pro Kopf der Bevölkerung 12 Dollar bekommt gegenüber 17 Dollar, die England mit seiner unvergleichlich viel günstigeren Wirtschaftsstruktur erhält, gegenüber 22 Dollar, die Frankreich bekommt, das pro Kopf der Bevölkerung mehr als das Doppelte der landwirtschaftlichen Nutzfläche zur Verfügung hat als Deutschland, und gegenüber gar 45 Dollar, die Holland bekommt, von noch höheren Beträgen in anderen kleinen Marshallplanländern gar nicht zu reden.
Das ist eine Diskriminierung Deutschlands, die in
dem Augenblick angefangen hat, als Deutschland
in den Marshallplan eingeschaltet wurde. Damals wurden ja die Quoten am Marshallplan festgesetzt, der sehr zu Unrecht und sicher sehr gegen den Willen der Amerikaner nicht als ein einheitliches europäisches Wiederaufbauwerk behandelt wird, sondern als eine Art Kuchen, der in Paris steht, aus dem sich nun die einzelnen ihre Stücke herausgeschnitten haben. Deutschland war damals besonders schwach, denn Deutschland ist damals nicht durch Deutsche vertreten gewesen, sondern es wird erst jetzt im Zuge des hier anzunehmenden Vertrages in vollem Umfang durch Deutsche vertreten werden. Wir müssen es dankbar anerkennen, daß die Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht und der amerikanische Verwalter des Marshallplans persönlich mehrfach sich sehr energisch dagegen gewehrt haben, daß die anderen europäischen Nationen die von vornherein schon in zu geringer Höhe angemeldete deutsche Quote noch weiter verkürzen wollten. Aber es ist ja nur menschlich, daß kaum zu erwarten war — das wäre ja eine übermenschliche Anforderung gewesen —, daß die Vertreter der englischen und französischen Besatzungsmacht für das von ihnen verwaltete Deutschland höhere Quoten auskämpfen sollten unter Verringerung der Quote ihrer eigenen Länder. Aber das beweist ja weiter nichts, als daß das politische Vakuum mitten in Europa — das deshalb besteht, weil das Land im Herzen Europas bis heute keinerlei politische Souveränität, insbesondere in internationalen Wirtschaftsangelegenheiten, hatte — auf Schritt und Tritt in Europa Schaden anrichtet. Das sehen wir an dieser ungenügenden Einschaltung Deutschlands in den Marshall-plan schon bei den Grundquoten. Leider müssen wir uns wohl mit der Tatsache abfinden, daß, soweit der eigentliche Marshallplan in Frage kommt, an den Quoten für die restlichen nicht mehr sehr viel geändert werden kann, weil der Kuchen schon für die ganze Zeit verteilt ist. Da kann ich es auch nicht ganz unterdrücken zu sagen, daß wir in den ersten entscheidenden Monaten der Einschaltung Deutschlands in den Marshallplan von der Frankfurter Wirtschaftsverwaltung manchmal einen energischeren Widerstand gegen die Besatzungsmacht erwartet hätten und daß unter Umständen ein Appell an die Öffentlichkeit oder eine Flucht in die Öffentlichkeit sogar eine recht heilsame Wirkung gehabt hätte.
Nun hat der Herr Minister für den Marshall-plan davon gesprochen, daß wir als gleichberechtigter Partner eingeschaltet werden. Ich würde mich freuen, wenn ich diese Feststellung unterschreiben könnte. Aber ich komme doch nicht an der Tatsache vorbei, daß der Vertrag, den wir unterschrieben haben und dem wir nach sehr schweren und ernsthaften Überlegungen zustimmen werden, sich doch wesentlich von den Verträgen unterscheidet, die die anderen Marshallplanländer unterschrieben haben. Den Worten nach ist der Text zu 90 Prozent, vielleicht sogar zu 95 Prozent der gleiche. Aber die 5 Prozent, in denen sich der Text des deutschen Vertrages von dem Text der Verträge mit allen übrigen Mashallplanländern unterscheidet, sind höchst bedauerlich. Denn die anderen europäischen Länder bekommen ihre Hilfsleistungen aus dem Marshall-plan klar und deutlich definiert teils als Anleihen, teils als Geschenke, die nicht zurückzuzahlen sind. Ich kann Herrn Minister Blücher darin nicht folgen, daß es gegen das deutsche
Interesse ist, diese Dinge völlig klar auszusprechen. Sie stehen klar und deutlich im Vertrag drin, und ich glaube, sie sollten ausgesprochen werden. Die anderen Länder, besonders diejenigen, die besonders hilfsbedürftig waren oder die politisch besonders stark waren, bekommen ihre Leistungen ganz überwiegend als Geschenke. Soweit sie sie als Anleihen bekommen, haben sie keine Einzahlungen auf Counterpart-Funds zu leisten, sondern die Regierungen verfügen über die Gegenwerte, die ihre eigenen Mitbürger dafür bezahlen müssen, ohne jede Kontrolle des Marshallplan-Administrators, wie es ja im Falle einer Anleihe auch sinngemäß ist. Denn wenn man es später zurückzahlen muß, muß man in der Zeit, in der man die Anleihe hat, ja über die Gegenwerte frei verfügen.
Die anderen Länder zahlen Counterpart-Funds nur für das ein, was ausdrücklich als Geschenke Amerikas an diese Länder bezeichnet ist. Wir in Deutschland müssen auf Grund des Vertrages, der jetzt zur Diskussion steht, in vollem Umfang anerkennen, daß diese Leistungen Amerikas eine Forderung gegen die deutsche Wirtschaft darstellen. Wir verpflichten uns, sie aus den Erlösen unserer Exporte zurückzuzahlen. Man könnte daraus schließen, daß die künftigen Exportmöglichkeiten Deutschlands für diese Rückzahlungsmöglichkeiten verpfändet sind.
— Die Formulierung in Artikel 2 ist uns und unseren Freunden absolut klar.
Ich komme jetzt zu derjenigen Klausel, die allein es uns ermöglicht, diesen Verpflichtungen zuzustimmen, zu der Klausel, welche feststellt, daß die Rückzahlung aus den Exporten nur erfolgen soll, wenn es mit den Bedürfnissen einer friedlichen und gesunden deutschen Wirtschaft vereinbar ist.
Wenn man sich das Bild der deutschen Wirtschaft, insbesondere im Verhältnis zu den anderen Volkswirtschaften, die ich soeben kurz bezeichnet habe, das Bild, das durch das Beispiel vom zweiten England vielleicht besonders beleuchtet wird, vor Augen hält, so ist es klar, daß diese Klausel bedeutet, daß die Rückzahlung auf eine sehr problematische Zukunft vertagt ist. Man könnte sogar meinen, in der Tatsache, daß wir für alles Counterpart-Funds einzahlen, das heißt dasselbe tun, was die anderen Länder in dem Fall tun, in dem ihnen etwas geschenkt worden ist, komme doch schon eine gewisse Bereitwilligkeit oder innere Einstellung der Amerikaner . zum Ausdruck, diese Rückzahlungsverpflichtungen einmal zu streichen.
Ich möchte eigentlich die Dinge mehr ins Positive wenden und möchte sagen: wir wollten in Deutschland niemals etwas geschenkt haben. Wenn man uns vom Tage der Kapitulation ab unbegrenzt hätte arbeiten lassen, wäre vielleicht der ganze Marshallplan nicht nötig geworden, sicher für uns nicht, vielleicht auch für einen Teil unserer europäischen Nachbarn nicht. Wir können einer Klausel zustimmen, daß wir einmal das Erhaltene zurückzahlen sollen, wenn es mit den Bedürfnissen einer friedlichen und gesunden deutschen Wirtschaft vereinbar ist, das heißt, wenn aus den Erlösen des deutschen Exports nicht nur unser laufender Importbedarf befriedigt werden
kann, sondern wir darüber hinaus noch etwas ermöglichen können. Denn das würde ein Aufblühen der deutschen Wirtschaft bedeuten, über das wir uns nur ehrlich freuen könnten.
Zu den Besorgnissen, die wir auf internationalem Gebiet und bezüglich der Klausel des eigentlichen Staatsvertrages haben, kommen nun noch bestimmte Besorgnisse auf deutschem innerwirtschaftlichem Gebiet. Da ist zunächst die Frage Berlin zu erwähnen. Die sozialdemokratische Fraktion möchte die besondere Aufmerksamkeit des Hauses auf Artikel 7, die Berlin-Hilfe richten. Es besteht wohl zwischen allen deutschen, aber auch amerikanischen Stellen Übereinstimmung darüber, daß die Sicherung und der Wiederaufbau von Berlin ohne Auslandshilfe nicht möglich sind und daß Berlin durch seine Haltung Europa verpflichtet hat. Der Kampf Berlins war ein Kampf nicht nur für Berlin, nicht nur für Deutschland, sondern für Europa.
— Kampf ist das wirklich gewesen, da können
Sie jeden Berliner fragen, ob das ein Kampf war.
Die Deutschen sollen sich daher nicht durch das Ausland hinsichtlich des Ausmaßes der Hilfe beschämen lassen. Die sozialdemokratische Fraktion bedauert, daß — hoffentlich nicht durch deutsche Stellen — die ursprünglich vorgesehene Fassung des Artikel 7 abgeschwächt worden ist. Sie betont um so stärker die Verpflichtung der Bundesrepublik, Berlin zu helfen, und zwar nicht nach freiem Ermessen allein des ERP-Ministers. Es handelt sich hier nicht um ein Gnadengeschenk für Berlin, sondern um eine politische, vertraglich oder gesetzlich zu sichernde Verpflichtung. Die Regelung der Berlin-Hilfe aus dem Marshallplan wird eine besondere Aufgabe des von uns geforderten Durchführungsgesetzes zu dem Abkommen bilden müssen. Wir behalten uns entsprechende Abänderungsanträge zu den Artikeln 3 und 4 der Vorlage schon jetzt vor.
Es ist hier über den Artikel 3 der Vorlage und über die dort ausgesprochene Ermächtigung gesprochen worden. Wenn in dieser Ermächtigung auch die Ermächtigung liegen soll, die Verteilung der Kredite aus dem Counterpart-Funds nach eigenem Ermessen und ohne Mitwirkung des Parlaments vorzunehmen, so melden wir gegen diese Absicht unseren schärfsten Widerspruch an. Wir gehen in unseren Überlegungen noch über das hinaus, was der Bundesrat bereits zum Ausdruck gebracht hat. Wir werden im ERP-Ausschuß eine Anderung dieses Artikels in dem Sinne vorschlagen, daß das im Grundgesetz verankerte Mitspracherecht der Volksvertretung bei der Verteilung dieser Kredite im vollen Umfang gesichert ist.
Nach so viel Negativem, das ich leider darlegen mußte, gestatten Sie mir zum Schluß noch einige positive Äußerungen! Die sozialdemokratische Fraktion begrüßt es besonders, daß auf die ziemlich unglückliche und wenig konstruktive erste Hälfte des Marshallplans nun offenbar, teilweise unter amerikanischem Druck, eine konstruktivere Hälfte des Marshallplans zu folgen scheint. In der ersten Hälfte war von einer wirklichen europäischen Planung noch sehr wenig die Rede. Was die europäischen Länder bis dahin produziert hatten, waren sechszehn isolierte nationale, autarkistische Planungen, die nicht aufeinander eingestellt waren, die zum Teil scharf zueinander im Widerspruch standen. Wir können in diesem Fall einmal mit einer gewissen Freude konstatieren, daß wir Deutsche für diese erste Fehlleistung des Marshallplans keinerlei Mitverantwortung tragen, weil Deutschland ja damals nicht durch Deutsche, sondern durch die Militärregierungen vertreten war. Jetzt folgt die zweite und, wie wir hoffen, konstruktivere und positivere Periode des Marshallplans. Jetzt soll die wirkliche Europaplanung kommen mit Liberalisierung des europäischen Handels, mit Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung. Wir freuen uns ganz besonders darüber, daß dieser Wendepunkt des Marshallplans zeitlich zusammenfällt mit dem Eintritt Deutschlands als eines selbständigen Partners in den Marshallplan. Wir Sozialdemokraten erwarten, daß die Regierung die Forderung nach einer wirtschaftlichen Vereinheitlichung Europas nicht als Lippenbekenntnis, sondern als ein reales, sehr konkretes Programm vertritt. Dabei legen wir neben der Liberalisierung des Handels und der Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung ganz besonderen Wert auf die Durchsetzung eines einheitlichen Produktionsplanungsund Investitionsprogramms in Europa.
Denn das sind die Hauptfehler der ersten Periode des Marshallplans gewesen. Die Produktions- und Investitionsplanung in Europa muß so durchgeführt werden, als wenn es in diesem MarshallplanEuropa keine inneren Grenzen gibt. Die Investitionen müssen dort erfolgen, wo sie den höchsten Nutzeffekt im Aufbau der europäischen Wirtschaft bringen, ganz gleichgültig, ob das rechts oder links des Rheines ist, ganz gleich, ob, in einem Siegerland oder in einem besiegten Land.
Das ist die deutsche Politik, und das ist der deutsche Beitrag zum Marshallplan. Deutschland ist, wie ich Ihnen kurz darlegen konnte, sicher der ärmste Teilnehmer unter den Marshallplanländern. Es ist sicher der ärmste Sohn der europäischen Völkerfamilie. Wir werden zu beweisen haben, daß Deutschland der treueste Sohn, das heißt der treueste Mitarbeiter an einer wirklichen europäischen Wirtschaftseinheit ist.