Rede von
Dr.
Thomas
Dehler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Dr. Schumacher hat in der Sitzung dieses Hohen Hauses vom 15. November vorigen Jahres im Zusammenhang mit der Bewertung und der Behandlung des deutsch-französischen Verhältnisses etwa folgendes ausgeführt. In der Psychose der Vergeltung nach der Liquidation des Hitlerkrieges seien in Frankreich eine große Anzahl von militärgerichtlichen Urteilen gegen deutsche Kriegsgefangene gefällt worden, die wohl nicht immer den Tatsachenbestand gerecht beurteilt hätten, in der großen Überzahl der Fälle aber im Strafmaß, das gleich nach Jahrzehnten bemessen worden sei, über das menschlich Erträgliche hinausgegangen seien; das habe sich vor allem in den Jahren 1945 und 1946 abgespielt; betroffen worden seien vor allem die kleinen Leute, die Mannschaften; es seien un-
ter den Verurteilten, die heute noch sitzen, kein einziger General, nur ein einziger Oberst; die Gewerkschaft der Generale sei also die einzige internationale Gewerkschaft, die wirklich funktioniere. Der Herr Abgeordnete Dr. Schumacher hat daran die Hoffnung geknüpft, daß das französische Volk und seine Regierung Verständnis dafür haben werde, daß die Nachprüfung dieser Urteile von deutscher Seite erbeten werde, und er hat namens seiner Fraktion an den Herrn Bundeskanzler den Wunsch gerichtet, in dieser Hinsicht tätig zu werden.
Auf diese Ausführungen nimmt die Interpellation der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei vom 9. Dezember Bezug und fragt die Bundesregierung, was unternommen worden ist, um diesen Gefangenen Hilfe zuteil werden zu lassen. An sich, meine Damen und Herren, ist die Antwort auf diese Interpellation schon durch den mündlichen Bericht des Ausschusses für das Besatzungsstatut und für auswärtige Angelegenheiten vom 1. Dezember 1949 vorweggenommen. Damals ist ein Antrag der Fraktion der CDU/CSU betreffend Maßnahmen für Deutsche, die in Auswirkung des Krieges im Ausland zurückgehalten werden, behandelt und durch den Herrn Kollegen Dr. Gerstenmaier beantwortet worden. Ich habe dazu Stellung genommen und erklärt, welche Maßnahmen die Bundesregierung ergreift. Ich glaube, daß dort an sich der Tatbestand und die notwendigen Maßnahmen schon hinreichend dargelegt worden sind; ich will mich aber der Verpflichtung nicht entziehen, noch einmal darauf einzugehen. Es handelt sich ja an sich nicht nur um die Kriegsgefangenen, die vor französische Militärgerichte gestellt worden sind oder werden - es sind jetzt noch ungefähr 1200, die ihrer Aburteilung entgegensehen —, sondern es handelt sich, wie ich glaube, in viel größerem Maße um die mindestens 300 000 deutschen Menschen, die in Rußland zurückgehalten werden.
unter Vorwänden und unter kollektiven Beschuldigungen, die wohl nicht stichhaltig sind. Es handelt sich weiterhin um 8000 Frauen und Männer in Polen, die dort unter Beschuldigungen in Arbeitslagern verwahrt werden, und um 1400 Soldaten in Jugoslawien und etwa weitere 500 in anderen Staaten. Ich glaube, der Herr Kollege Gerstenmaier hat in seinem Bericht in sehr überlegener und in sehr gerechter Weise Licht und Schatten verteilt. Es liegt uns wohl allen fern, das, was geschehen ist, beschönigen zu wollen. Ich glaube, für jeden von uns brennt der Name Oradour als ein Schandmal in der Seele. Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, wie schwer es ist, auf dieser Erde eine Schuld festzustellen und eine Schuld zu sühnen, und vor allem, wie verhängnisvoll es ist, wenn man Schuld nach Vermutungen feststellen will. Die Interpellation der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei hat durchaus recht, wenn sie sagt, daß hier — nach dem fürchterlichen Gesetz, daß Unrecht immer Wieder neues Unrecht zeugt — Dinge geschehen sind, die über das menschlich Erträgliche hinausgehen. Der Fall Oradour! Wo sind die Schuldigen? Soweit Feststellungen getroffen worden sind, sind sie tot oder verschollen, übrig geblieben sind fünf kleine Leute, fünf junge Menschen, die zum größten Teil bei dem Vorgang noch minderjährig waren, die durch einen Befehl in ein Kommando hineingestellt worden sind, denen man — abgesehen von einem — gar nicht nachweisen kann, daß
sie gehandelt haben; und der eine, der beschuldigt wird, ist ein Elsässer. So sehen die Dinge in der Praxis aus.
Für die französische Justiz, die ja wirklich ein hohes Ansehen zu wahren hat, sind die Verfahren gegen die deutschen Kriegsgefangenen — das darf ich wohl sagen — eine schwere Belastungsprobe.
Gegen die Methoden, welche die französischen Untersuchungsrichter anwenden, werden Vorwürfe erhoben. Die Verfahren werden Jahr über Jahr verzögert. Die Annahme des Herrn Abgeordneten Dr. Schumacher, daß gerade in den Jahren 1945 und 1946 besonders viele und harte Urteile gefällt worden sind, trifft nach meinen Feststellungen nicht zu, im Gegenteil, seit diesen Jahren sitzen diese 1200 Leute in den Gefängnissen und warten auf eine Verhandlung. Die Dinge werden gerade von den Deutschen bitter empfunden. Nur eine Tatsache: Es gibt in Frankreich nur ein Gefängnis, das heizbar ist. So sehen die Dinge in der Praxis ans.
Man hat in Frankreich Ausnahmegerichte gebildet. Die Gerichte, vor denen die deutschen Kriegsgefangenen stehen, bestehen aus einem Oberlandesgerichtsvorsitzenden und sechs militärischen Beisitzern, darunter nach einer Verordnung vom 28. August 1944, die noch von der provisorischen Regierung in Algier erlassen worden ist, vier alte Widerstandskämpfer. Die Verfahren entsprechen nicht deutschen Rechtsvorstellungen. Eine ausführliche Würdigung des Beweisergebnisses und eine klare Feststellung des Tatbestandes finden nicht statt; es erfolgt lediglich eine sehr abstrakte Beantwortung von Fragen nach der Art des alten Schwurgerichts. Dadurch ist die Möglichkeit, eine Sachüberprüfung durch das Kassationsgericht zu erreichen, so gut wie genommen. Die Strafen — auch insoweit hat die Interpellation recht — werden nicht individualisiert. Sie lauten: Todesstrafe, 20 Jahre, 15 Jahre, 10 Jahre Zwangsarbeit. Weil diese Verordnung vom 28. August 1944 nicht ausreichte, hat die französische Regierung noch am 15. September 1948 — meine Damen und Herren, ich unterstreiche: 1948 — eine Verordnung erlassen, die man als lex Oradour bezeichnen muß. Sie begründet eine in der Praxis gar nicht widerlegbare Schuldvermutung. Man kann mit den Angeklagten, die in diese Zwangslage kommen, nur Mitleid haben.
Ich habe die von Herrn Dr. Schumacher aufgestellte Behauptung, daß nur kleine Leute unter Anklage gestellt würden, überprüft und nach den Unterlagen nicht bestätigt gefunden. Die Untersuchungen erstreckten sich auf Mannschaften und Offiziere aller Rangstufen. Vielleicht darf man hier nicht vergessen, daß nach der Kapitulation gerade eine große Anzahl von deutschen Offizieren, die schon Gefangene waren, in Frankreich ihr Leben lassen mußte.
Der Rechtsschutz für die Kriegsgefangenen war bei einem Ausschuß des südwestdeutschen Länderrates in Stuttgart zusammengefaßt worden und war im Laufe der letzten Jahre zu einer trizonalen Arbeitsgemeinschaft ausgeweitet worden. Die einzelnen Fälle wurden bei den Rechtsschutzstellen des Roten Kreuzes in Stuttgart, in Hamburg und n Bad Kreuznach bearbeitet, dann durch die Rechtsschutzstellen der Caritas in Freiburg und des Evangelischen Hilfswerkes in Stuttgart, weiterhin noch durch die Vereinigung der Anwaltskammern in der britischen Zone. Im Frühjahr 1949 ist für diese Rechtsschutzstellen der Wohlfahrtsverbände
eine Koordinierungsstelle bei dem Justizminister für Württemberg-Baden besonders mit dem Ziele geschaffen worden, das Material einheitlich auszuwerten.
In Frankreich hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes als eine Art Schutzmacht für die deutschen Gefangenen gewirkt und sich um den Rechtsschutz für die Kriegsgefangenen bemüht. Wir haben allen Anlaß, dem Roten Kreuz für die Dienste, die es in dieser schweren Zeit geleistet hat, zu danken. Man kann diese Dienste gar nicht hoch genug bewerten. Neben dem Roten Kreuz haben katholische kirchliche Stellen und hat der Ökumenische Weltkirchenrat sich für den Rechtsschutz der Kriegsgefangenen eingesetzt.
Nunmehr ist dieser Rechtsschutz von der Bundesregierung übernommen und mir als besondere Aufgabe zugeteilt worden. Die gesamten Verteidigungsgrundlagen werden durch Sammlung und Sichtung des juristischen Materials, auch der Rechtsprechung, geschaffen, und die erforderlichen Mittel für die Verteidigung werden zur Verfügung gestellt . Die Verteidigung ist zunächst nur in Frankreich und in anderen westlichen Staaten möglich. Von den etwa 1200 Angeklagten haben bereits 1079 Verteidigerschutz bekommen; sie werden durch uns betreut. Daneben besteht das Problem der Korrektur der bereits gefällten Urteile. Ich werde den Herrn Bundeskanzler bitten, den Anlaß des Besuches des Herrn französischen Außenministers zu benützen, mit ihm in dieser Frage Fühlung zu nehmen.
Meine Damen und Herren! Man würde kein gerechtes Bild geben, wenn man nicht der Männer gerade in Frankreich gedenken würde, die aus eigener Überzeugung aufgestanden sind und in einer bewundernswerten Weise für das Recht gezeugt haben. Ich nenne für viele Donnedieu de Vabre und den Anwalt de la Pradelle. Ich denke auch an einen mutigen Mann, den jetzigen Marineattaché der französischen Gesandtschaft in Kairo, Fregattenkapitän Jules Meyer, der in einem Verfahren, welches vor wenigen Wochen erst vor dem Militärgericht in Marseille gespielt hat, von sich aus als Zeuge aufgetreten ist und geltend gemacht hat, daß die Angeklagten nicht bestraft werden dürften, weil er als Unterhändler bei der Übergabe der Festung La Rochelle als Übergabebedingung ausdrücklich die Freiheit, auch die Straffreiheit, auf beiden Seiten zugesichert und dafür sein Wort als Offizier verpfändet hat.
Meine Damen und Herren, es ist in dieser schauerlichen Zeit, die hinter uns liegt, viel gefehlt worden. Ich meine, man sollte mit diesen Dingen zu Ende kommen. Es sollte Wahrheit werden, was in einer ähnlichen Zeitlage vor 300 Jahren festgelegt worden ist, als man am 24. Oktober 1648 den Westfälischen Frieden schloß. Dort hat man gesagt: „Ewiges Vergessen alles dessen, was seit Beginn der Unruhen geschehen ist, gleichgültig an welchem Orte und in welcher Weise, durch die eine oder durch die andere Partei; alle Beleidigungen, alle Gewalttaten, Feindseligkeiten ohne Ansehen der Person oder Sache, sollen abgetan, in einem ewigen Vergessen begraben sein." Ich glaube, nur wenn dieser Geist lebendig ist, besteht die Möglichkeit für eine bessere Zukunft und die Möglichkeit, daß diese letzten Zuckungen der schlimmen Zeit, unter denen noch viele Unschuldige leiden müssen, aufhören.