Rede von
Dr.
Adolf
Arndt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch meine Freunde und ich sind der Auffassung, daß es sich in der Tat um eine sehr ernste Frage handelt, obgleich ich glaube, daß die Form, in der diese Frage insbesondere von dem Herrn Abgeordneten Dr. Seelos hier behandelt worden ist, der Sache nicht gerade sehr gedient hat.
Die Grundfrage, vor der wir immer stehen und an die die Opposition auch hier erinnern muß, ist ja die, wie sich dieses Parlament einschätzt und welchen Stil es für seine Verhandlungen pflegen will. Der grundsätzliche Unterschied zwischen der gegenwärtigen Mehrheit dieses Hauses und der Opposition — jedenfalls soweit es sich um meine Freunde handelt — liegt meiner Auffassung nach darin, daß die Regierungsparteien bisher alle Fragen viel zu sehr unter dem Gesichtspunkt der Opportunität gesehen haben
und niemals so auf das Grundsätzliche eingegangen sind, wie das notwendig gewesen wäre. Nur durch diese Opportunitätsmethoden sind wir auch in die geheime Abstimmung — ich muß einmal einen nicht ganz parlamentarischen, aber in der Geschichte immerhin bekannten Ausdruck gebrauchen — hineingeschliddert; hineingeschliddert schon dadurch, daß man hier versucht hat, die Geschäftsordnung zu überspielen. Die Geschäftsordnung, die der frühere Deutsche Reichstag in einer jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat und die wir als vorläufige Geschäftsordnung übernommen haben, sagt im § 114 ganz eindeutig: Abweichungen im Einzelfall können durch Beschluß des
Bundestags zugelassen werden, wenn keines der in der Sitzung anwesenden Mitglieder widerspricht. Das heißt, es sollen keine Änderungen der Geschäftsordnung ad hoc für einen Spezialfall vorgenommen werden, weil eine Mehrheit vielleicht glaubt, die Minderheit damit überstimmen zu können, wenn sich nicht alle darüber einig gewesen sind. Sehen Sie, diese grundlegende Bestimmung der Geschäftsordnung haben Sie damals einfach in der Weise zu überspielen versucht, daß Sie gesagt haben: wir ändern durch Mehrheitsbeschluß einfach die Geschäftsordnung als solche ab. Es ist klar, daß das nicht gerade eine elegante Methode war.
Nun hat Herr Kollege Seelos gebeten, wir sollten über diesen Antrag gleich hier abstimmen. Herr Kollege Seelos, ich halte es nicht für richtig, schlechte Vorbilder auch hier noch fortzusetzen. Es war damals ein schlechtes Vorbild, daß wir über diesen Antrag nicht diskutiert haben. Das hat bestimmte Gründe gehabt, auf die ich noch komme. Ich halte es aber für notwendig, daß wir diese Fragen im Ausschuß beraten. Zu dieser Beratung will ich auch noch etwas sagen.
Es handelt sich um zwei Dinge, nämlich einmal um die Form der namentlichen Abstimmung und dann um die Frage, ob eine Abstimmung geheim sein kann. Was nun die Form der namentlichen Abstimmung anlangt, so ist es überraschend, wie schnell Sie diese eingeführt und wie rasch Sie diese jetzt wieder beseitigt haben wollen. Das hat bei meinen Freunden doch etwas den Eindruck erweckt, als ob die namentliche Abstimmung über die Vorfinanzierung der Hausratshilfe in Ihnen unerfreuliche Erinnerungen hinterlassen hätte.
Aber gerade daraus ersehen Sie, daß man die Methoden, nach denen das Haus hier arbeitet, nicht von dem Ergebnis der einen oder anderen Abstimmung abhängig machen soll.
Nun zur Frage der geheimen Abstimmung. Zu dieser Frage haben wir zwar zwei Präzedenzfälle. Der Parlamentarische Rat hat seinerzeit über den vorläufigen Sitz der Bundesorgane schon geheim abgestimmt. Der Wirtschaftsrat stimmte über den Sitz des Patentamtes ebenfalls geheim ab, übrigens auch mit dem Ergebnis, daß jener Beschluß des Wirtschaftsrats — was die Öffentlichkeit meist nicht weiß — den deutschen Steuerzahler jährlich zusätzlich 240 000 DM kostet; denn um soviel ist das Patentamt in München unstreitig teurer als in Darmstadt. Aber der Herr Kollege Seelos ist auch in diesem Falle wieder ein etwas verspäteter Kreuzfahrer aus Bayern gewesen.
Die sozialdemokratische Fraktion, Herr Kollege, und insbesondere mein verehrter Herr Kollege Löbe haben alsbald nach diesen Vorgängen, die sich abgespielt haben, als meine eigenen Freunde hier im Hause geheime Abstimmung über die Einsetzung des Hauptstadtausschusses verlangt haben, Zweifel bekommen, ob ein solches Verfahren zulässig ist. Herr Kollege Löbe und ich haben es in den Geschäftsordnungsausschuß hineingebracht, und dieser hat damals einstimmig beschlossen, daß eine geheime Abstimmung nach der Geschäftsordnung nicht zulässig ist. Ich halte es nicht für wesentlich, wer zuerst einen Unfug anfängt, sondern ich halte es für wesentlich, wer zuerst mit einem Unfug aufhört,
und dies Verdienst darf ich für unsern verehrten Herrn Alterspräsidenten in Anspruch nehmen, der uns zuallererst darauf hingewiesen hat, daß so etwas nicht geht. In dieser Situation war es damals in der Frage Bonn-Frankfurt eine Art Überraschungsantrag, die Geschäftsordnung zu ändern. Aus Gründen, die Ihnen allen bekannt sind, ist damals nicht gesprochen worden, weil man diese Frage, die zu entpolitisieren wir versucht haben, nicht noch weiter politisieren wollte und die Gefahr bestand, daß der ganze leidige Hauptstadtstreit aus Anlaß dieser Geschäftsordnungsdebatte zur Erörterung käme. Wir sind da also bis zum Äußersten gegangen, um uns zurückzuhalten und das zu vermeiden.
Um so mehr bedauere ich, daß hinterher wieder einmal nicht von allen Beteiligten geschwiegen worden ist, sondern daß sich der Herr Abgeordnete Dr. von Brentano zu dieser Frage mehrfach in der Öffentlichkeit hat vernehmen lassen. Ich bitte den Herrn Präsidenten um die Erlaubnis, aus zwei Zeitungen, der „Frankfurter Rundschau" vom 18. November und dem „Darmstädter Echo" ebenfalls vorn 18. November, aus einem offenen Brief, den Herr von Brentano diesen beiden Zeitungen zur Verfügung gestellt hat, lediglich zwei Sätze verlesen zu dürfen.
Der Antrag auf Abänderung der Geschäftsordnung
— so schreibt Herr Dr. von Brentano —
war ein Antrag der Fraktion der CDU/CSU, der von mir als dem Vorsitzenden unterzeichnet war. Er wurde vom Bundestag einstimmig angenommen.
Dies scheint mir zu beweisen, daß kein Abgeordneter des Bundestages damals die Befürchtung hatte, daß die vorgeschlagene Neufassung der Geschäftsordnung undemokratisch sei.
Ich habe den Herrn Abgeordneten Dr. von Brentano vor meinen Ausführungen, die ich jetzt mache, darauf hingewiesen, weil mir das eine Pflicht der Loyalität zu sein schien, daß ich auf diesen Vorfall kommen würde, und habe mir die Frage erlaubt, wie es möglich sei, daß so etwas an die Presse gelange. Der Herr Abgeordnete Dr. von Brentano hat mir geantwortet, er habe sich seinerzeit geirrt und er habe auch schon in einer öffentlichen Versammlung diesen Irrtum mit dem Bemerken richtiggestellt, es sei damals keine Gegenprobe gemacht worden; infolgedessen sei es ihm nicht zum Bewußtsein gekommen, daß sich nicht alle Mitglieder dieses Hohen Hauses für die geheime Abstimmung erklärt hätten. Meine sehr verehrten Anwesenden, ich verstehe auch diesen zweiten Irrtum nicht. Wenn Sie den Stenographischen Bericht des Deutschen Bundestags, 14. Sitzung vom 3. November, aufschlagen, so werden Sie finden, daß damals der Herr Präsident Dr. Köhler erklärt hat:
Wer für diesen Antrag Drucksache Nr. 134 ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit. Ich bitte um die Gegenprobe. — Das erste war die Mehrheit. Damit ist der Antrag angenommen.
So wörtlich im Protokoll zu finden.
Ich halte es für notwendig, hier öffentlich festzustellen, daß meine Fraktion damals geschlossen gegen diesen Antrag gestimmt hat,
damit nicht erst eine Legendenbildung aufkommt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, man kann schon einmal — und das passiert jedem von uns — eine Gedächtnislücke haben; das ist kein Unglück weiter. Aber man soll nicht so verfahren wie der bekannte Architekt im Gedicht von Christian Morgenstern, der aus dem Lattenzaun die Zwischenräume herausnahm und daraus etwas baute.
Aus Gedächtnislücken lassen sich keine Häuser bauen; auch nicht etwa aus der Erklärung des Herrn Kollegen von Brentano zum Fall Adenauer-Schumacher, die sich ebenfalls durch solche Lücken auszeichnet.
Wir werden im Ausschuß zu prüfen haben, ob überhaupt eine geheime Abstimmung erstens rechtlich zulässig und zweitens politisch möglich ist. Zur rechtlichen Zulässigkeit möchte ich sagen, daß der Artikel 42 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes bestimmt: „Der Bundestag verhandelt öffentlich". Ohne meine Freunde schon vorweg auf diese Rechtsfrage festlegen zu können oder zu wollen, muß ich für meine Person erklären, daß ich als ein wesentliches Stück der Verhandlung im Parlament die Abstimmung ansehe und die Vorschrift des Artikels 42 zwingend so auslegen muß, daß eine geheime Abstimmung gar nicht eingeführt werden kann
und die Beschlüsse, die hier geheim gefaßt worden sind, an und für sich überhaupt der Gültigkeit entbehren.
Darüber hinaus bin ich der Auffassung, daß eine geheime Abstimmung jedenfalls politisch unmöglich ist; denn wenn auch die Abgeordneten nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 nur ihrem Gewissen unterworfen sein sollen, so bleiben sie gleichwohl ,,Abgeordnete", und der Wähler hat das Recht darauf, die politische Verantwortlichkeit der von ihm Gewählten zu kennen oder kennenzulernen.
Wenn Pressemeldungen richtig sind — und ich bitte den Herrn Kollegen Dr. von Brentano, mich zu berichtigen, falls ich hier irren sollte; denn ich kann mich dabei nur auf Pressemeldungen stützen —, so soll der Herr Kollege von Brentano vor der Wählergesellschaft ausgeführt haben, es bestehe eine politische Notwendigkeit, die geheime Abstimmung zuzulassen, weil sonst die Freiheit der Entscheidung für die Abgeordneten nicht gewährleistet wäre.
Meine verehrten Damen und Herren, ich frage Sie: wo soll die Freiheit in Deutschland dann noch eine Stätte haben, wenn nicht einmal in diesem Hause?!
Zu erklären, daß wir nicht frei abstimmen könnten, wenn es nicht geheim geschehe, heißt doch,
unseren politischen und moralischen Bankrott zu erklären, und heißt gar nichts anderes.
Ich erinnere daran, daß Sie, verehrte Frau Kollegin Dr. Weber, seinerzeit mit dem Kopf geschüttelt haben, als ich es für notwendig hielt, dem Herrn Bundesjustizminister entgegenzutreten, und als ich gesagt habe, daß die Freiheit der Rede in diesem Hause in Gefahr sei, insbesondere dann, wenn ein Minister sagen dürfe, daß er es bei einem Abgeordneten „nicht zulassen" könne, hier seine subjektive Meinung auch über ein Gerichtsverfahren zu äußern. Ich bin in der Tat der Meinung, daß die Redefreiheit in diesem Hause schon mehr als einmal in Gefahr gewesen ist.
Aber gerade darum werden wir von der Opposition immer wieder um die Redefreiheit in diesem Hause kämpfen. Wir werden auch darum kämpfen, daß man sich, wenn abzustimmen ist, zu seiner Stimmabgabe bekennt und daß in keinem Falle wieder eine geheime Abstimmung vorkommt.