Spät, allzu spät setzt die Debatte über diesen Punkt ein; sechs Wochen zu spät! Denn wir hätten sie eigentlich haben müssen, als dieser Antrag am 1. November eingebracht wurde.
An und für sich sollte man an einer vorläufigen Geschäftsordnung nichts ändern. Man sollte in den ersten Wochen und Monaten Erfahrungen sammeln, um dann auf Grund dieser Erfahrungen möglichst bald eine den Bedürfnissen dieses Hauses angepaßte Geschäftsordnung zu schaffen. Wenn wir nun den Antrag auf Wiederherstellung der früheren Geschäftsordnung stellen, so deshalb, um diese Art der ad-hoc-Abstimmungen in diesem Hause auszuschalten. Es war ja auch keine Änderung der Geschäftsordnung, es war eigentlich eine lex Bonn oder eine lex Frankfurt, wie Sie das haben wollen.
Aber es geht bei diesem Antrag um viel mehr als nur um die Geschäftsordnung; es geht um die Grundlagen der Arbeit des Parlaments, um die Grundlagen der Demokratie. Mit der Annahme des Antrags auf geheime Abstimmung hat man der Demokratie einen Bärendienst geleistet. Wir wollen daher diese Frage heute eingehend besprechen, um das, was einer wahrhaft demokratischen Arbeit 'dient, wieder in Gang zu bringen.
Denn was ist der Sinn des ganzen Parlaments? Man muß sich in Rede und Gegenrede die Argumente vorführen und sich gegenseitig zu überzeugen suchen. Die Abstimmung ist eigentlich nur die Bestätigung dessen, was man in der Debatte vorgebracht hat. Da soll einer durch die Art seiner Stimmabgabe zeigen, daß er zu dem steht, was er oder seine Parteifreunde gesagt haben. Es geht doch nicht an, daß man die ganze Parlamentsarbeit dadurch überflüssig macht. Denn wenn man nur mehr geheim abstimmen wollte, dann brauchte es überhaupt keine Debatte! Dann kann jeder den Zettel nehmen und ihn hier abgeben.
Man hat sich draußen gefragt: Wie kommt denn überhaupt das Parlament zu dieser Art der Abstimmung, die im früheren Reichstag unbekannt war und auch in anderen Parlamenten unbekannt ist? Ist es die Angst vor den Reichsparteiführern, die Sie etwa dazu zwingt, für diese geheime Abstimmung einzutreten?
Dieser Eindruck darf im Volk nicht bestehen bleiben. Wir müssen möglichst bald wieder zu einer Normalisierung der demokratischen Arbeit in diesem Bundestag kommen. Denn wenn zum Beispiel Herr von Brentano — der leider gerade nicht im Hause ist — in seiner Rede am Sonntag vor acht Tagen sagte: ja, in diesem Fall mußten wir es eben so machen, weil die Einflüsse und die Einwirkungen von außen her so stark waren, daß die ganze Situation verwirrt worden ist, — dann muß :eh sagen: das wäre ja ein Armutszeugnis für ein Parlament, wenn es trotz solcher Einflüsse und Einwirkungen nicht offen zu seinem Wort und zu seiner Überzeugung stünde. Schließlich sind die Abgeordneten nach der Verfassung doch ihrem Gewissen unterworfen.
Wir wollen festhalten: wenn die Abgeordneten draußen bei den Wählern dies und jenes versprechen, dann wollen die Wähler wiesen, ob die Abgeordneten auch dafür eingetreten sind. Weil die Wähler wissen, daß zum Beispiel das Experiment Bonn — Frankfurt sie 120 Millionen kostet, deshalb möchte jeder Wähler gerne erfahren, ob sein Abgeordneter ihm nicht bloß gesagt hat: ja, wir stimmen für das Billigere, sondern er möchte wissen, ob er auch durch die Abstimmung für seine Überzeugung eingetreten ist.
Es gibt schließlich verschiedene Dinge, die im Leben des deutschen Volkes sehr wichtig sind und über die wir in diesem Hause vielleicht abzustimmen haben werden; sagen wir etwa die Frage der Sozialisierung, die Frage des Beitritts zum OEEC-Abkommen, zum Marshallplan-Abkommen oder zum Ruhrstatut. Es können unpopuläre wirtschaftliche Dinge zur Abstimmung kommen, und da heißt es für die Abgeordneten, offen ihre Ansichten zu bekennen und für sie einzutreten.
Man soll den Kampf mit der Opposition nicht in geheimer Wahl durchführen, sondern offen, wie wir von der Bayernpartei es auch machen. Das ist der sauberste Kampf, wenn man sich gegenseitig sagt, was einem nicht paßt; aber man soll sich nicht in Feigheit und Anonymität hinter einer geheimen Abstimmung verkriechen!
Vom bayerischen Standpunkt aus interessiert uns zum Beispiel sehr, wie in der nächsten Zeit die 78 bayerischen Abgeordneten über das Amnestiegesetz, über das Jagdgesetz, über das Jugendschutzgesetz oder über die Biersteuer abstimmen werden.
— Sie wissen genau, warum wir nicht da waren! — Das interessiert uns alle sehr, das wollen wir auch den Wählern demonstrieren. Dazu stehen wir, aber dazu soll eben jeder Abgeordnete stehen, nämlich zu seiner mündlich vorgetragenen Entscheidung.
Wir glauben darüber hinaus, daß dadurch ein wichtiges Mittel des Parlamentarismus, die namentliche Abstimmung, geradezu ausgeschaltet wird. Sie ist ein wesentliches Mittel, um zu erkennen, wie der einzelne Abgeordnete abgestimmt hat. Nun hat die Weisheit des Präsidenten entschieden, daß, wenn in Konkurrenz geheim oder namentlich abgestimmt werden soll, dann offensichtlich immer, wie ich annehme, die geheime Abstimmung die weitergehende sein soll. Das kann
die Weisheit des Präsidenten entscheiden! Praktisch wird dadurch aber in vielen Fällen die namentliche Abstimmung ausgeschaltet. Das ist ein bedauerlicher Mangel, den gerade das deutsche Bundesparlament aufweist, weil es über diese Einrichtung nur mehr halb verfügt.
Überhaupt glauben wir, daß durch diese Art und diese Methode gerade in den letzten Wochen ein Geist in den Bundestag hereingekommen ist, den wir bedauern müssen. Denn — wie ich schon sagte — man soll sich mit der Opposition offen auseinandersetzen, aber man soll nicht ad-hocAbstimmungen einführen. Man soll nicht mit der in gleicher Weise für die Opposition wie für die Regierungsparteien geltenden Geschäftsordnung manipulieren und dadurch bei der Opposition den Eindruck hervorrufen, daß sie trotz Geschäftsordnung auf alle Fälle mit Stimmenmehrheit einfach überstimmt werden soll. Das sind die Methoden, die den Geist dieses Hauses von Anfang an vergiftet haben, und die vielleicht gerade dadurch, daß diese Stimmung entstanden war, zu den tief bedauerlichen Ausbrüchen der letzten Wochen beigetragen haben.
Abgesehen davon hatten wir, wenn kein Abgeordneter protestiert, schon nach der ersten vorläufigen Geschäftsordnung, die bis dahin galt, die Möglichkeit, bei einem Sonderfall, den ich mir nicht vorstellen kann, eine Geheimabstimmung durchzuführen. Das wäre nach Artikel 114 der Geschäftsordnung möglich gewesen, wenn nämlich kein Abgeordneter widerspricht.
Das sind in kurzem die schwerwiegenden Argumente, die ich Ihnen zur Begründung unseres Antrages sagen wollte. Ich bitte Sie sehr, daß Sie die Sache nicht mit einer Verweisung in den Ausschuß abtun. Der Antrag ist im Plenum ohne vorherige Beratung im Ausschuß angenommen worden. Wir bitten, daß nun auch die Abschaffung der geheimen Abstimmung ohne Ausschußberatung sofort hier im Plenum beschlossen wird. Ein junges Parlament kann es sich leisten, den einen oder andern Fehler zu machen, wenn es ihn einsieht und möglichst bald wieder korrigiert. Wenn man aber an Dingen festhalten will, die von der Meinung des ganzen Volkes draußen verworfen werden, dann schadet sich das Parlament nur selbst, weil das Volk dann nicht mehr glaubt, daß die einzelnen Parteien wirklich zu dem stehen, was sie sagen. Wenn zum Beispiel, wie schon ein Fraktionskollege früher dargelegt hat, eine Partei für die Persönlichkeitswahl eintritt, kann sie nicht hier auf einmal für die geheime Abstimmung eintreten. Das alles sind fundamentale Widersprüche, die untragbar sind. Ich bitte Sie also, dem Antrag der Bayernpartei zuzustimmen, damit wir möglichst bald wieder zu einer sauberen, klaren Arbeit in diesem Bundestag kommen.