Ist die Privatdiskussion zwischen den verschiedenen Herren zu Ende? — Dann darf ich anfangen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich vor allem mit den juristischen Ausführungen des von mir hochverehrten Herrn Dr. von Merkatz zu befassen. Herr Dr. von Merkatz hat gesagt, er stimme in der Sache vollkommen mit dem überein, was weiteste Schichten der Bevölkerung und namentlich alle Heimatvertriebenen wünschen; er sehe aber aus juristischen Gründen keine Möglichkeit, sich für den Antrag des Heimatvertriebenen-Ausschusses einzusetzen. Herr Dr. von Merkatz hat erklärt, der Artikel 131 des Grundgesetzes sei die lex specialis, also das Spezialgesetz, gegenüber dem Artikel 119. Nun zur Aufklärung für die Nichtjuristen: Das Spezialgesetz geht dem allgemeinen Gesetz vor und macht das allgemeine Gesetz für diesen Fall in seiner Anwendbarkeit illusorisch. Herr Dr. von Merkatz, der Artikel 131 ist keine lex specialis gegenüber dem Artikel 119. Lesen Sie bitte mit mir genau den Text! Der Artikel 131 umfaßt einen Personenkreis, der ganz anders zugeschnitten ist als der des Artikels 119. Schon aus diesem Grunde, Herr Dr. von Merkatz, ist es unmöglich, zu sagen, der Artikel 131 sei die lex specialis gegenüber dem Artikel 119, und lex specialis derogat legi generali. Das ist unmöglich. Lesen Sie bitte den Artikel 131! Er umfaßt auch noch ganz andere Kreise als die Flüchtlinge, er umfaßt Personen aller Art einschließlich der Flüchtlinge, während der Artikel 119 sich allgemein nur mit den Flüchtlingen und Vertriebenen befaßt. Das ist für jeden Juristen — und ich frage hier die Juristen, sie werden mir zustimmen — an sich schon das Warnungszeichen, zwei Artikel zueinander in Verbindung zu setzen und zu sagen, der eine sei die lex specialis und der andere sei die lex generalis. So etwas ist ein Warnungszeichen für jeden Juristen.
Untersuchen Sie den Wortlaut bitte noch weiter! Was will denn der Artikel 131 gegenüber dem Artikel 119? Artikel 131 sagt: „Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen . . . sind durch Bundesgesetz zu regeln." Was interpretieren Sie da hinein? Der Artikel 131 bedeutet nichts anderes als eine Anweisung der Verfassung an den Gesetzgeber, alsbald ein Bundesgesetz zu schaffen, das die Rechtsverhältnisse aller möglichen Personenkreise, darunter auch von Flüchtlingen, die im öffentlichen Dienst standen, regelt; weiter gar nichts. Das ist eine Anweisung des Verfassungsgebers an die Regierung, ein solches Gesetz vorzulegen. Demgegenüber sagt der Artikel 119 ganz klar: Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ein solches Gesetz, nämlich eine bundesgesetzliche Regelung über alle Probleme kommt, die Flüchtlinge betreffen — darunter selbstverständlich auch über diese finanziellen Probleme —, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Ich kann also als Jurist weiß Gott nicht sehen, wie hier der Artikel 131 dem klaren Wortlaut des Artikels 119 entgegenstehen sollte.
In einem Punkt bin ich allerdings vielleicht mit Ihnen einig, Herr Dr. von Merkatz. Es wäre besser gewesen, wenn man den Antrag des Ausschusses juristisch etwas anders formuliert, Druck man die Regierung nun möglichst unte,. Druck gesetzt hätte, daß sie nicht bloß eine vorläufige Regelung durchführt, sondern daß sie in kürzester Frist, unverzüglich, bereits mit einem Gesetz herausrückt. Zeit dazu wäre auch schon vorhanden gewesen. Die Regierung hat immerhin schon einige Monate Zeit gehabt.
Nachdem der Antrag des Ausschusses aber nun einmal so vorliegt, können wir, wenn wir ihn juristisch untersuchen, nur eines feststellen: Dieser Antrag geht juristisch in Ordnung und kann keineswegs durch den Artikel 131 der Verfassung totgeschlagen werden. Das zur juristischen Seite.
Zum Tatsächlichen möchte ich nicht lange Ausführungen machen, weil ich überzeugt bin, daß neun Zehntel unseres Volkes mit den armen Heimatvertriebenen mitfühlen und nach dem Grundsatz verfahren wollen: Jeder Deutsche hat gleiches Recht, gleichgültig, ob es der heimatvertriebene Ruhegehaltsempfänger beziehungsweise Beamte, ob es der Flüchtling im allgemeinen oder ob es der Einheimische ist. Ich möchte nur zu einem Satz, der in materieller Hinsicht geprägt wurde, Stellung nehmen, nämlich zu dem Satz meines Vorredners, des Herrn Besold von der Bayernpartei. Er hat gesagt: „Nur nicht überhudeln!" Herr Kollege Besold, wenn man die Not unserer Heimatvertriebenen ansieht, dann kann man nicht mehr sagen: „Nur nicht überhudeln",
dann kann man nur noch sagen: Höchste Eile ist geboten, bevor die Leute verhungern, damit es nicht so geht wie in dem schönen bayerischen Gedichterl — Sie sind doch Vertreter der Bayernpartei, darf ich Ihnen das in Erinnerung bringen —, das heißt:
Als der Schimmel tot is gwen,
Habn's ihm an Schippel Heu neigebn.
Wegen der Notzeit ist der Schimmel tot. Als der Schimmel, der Gaul schon vor Hunger gestorben war, da haben die Weilheimer — das ist eine Schildbürgerstadt irgendwo, man schreibt das einem anderen Ort zu, es ist nicht in Weilheim passiert; es ist ein allgemeiner Ausdruck — dem toten Schimmel noch einen Schippel Heu in den Futtertrog hineingegeben, damit niemand, der da vorbeigeht und den vor Hunger verendeten Gaul sieht, sagen könnte, der. Gaul sei an Hunger ge-
640 Deutscher Bundestag — 20. und 21. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1949
storben; was sich auf die Herren Schildbürger prestigegemäß natürlich sehr übel ausgewirkt hätte.
So sage ich Ihnen, Herr Kollege Besold: wenn Sie hier sagen: „Nur nicht überhudeln", so ist das ein Schlag ins Gesicht für die Heimatvertriebenen, aber auch für uns Einheimische, die wir uns solidarisch fühlen mit der Not unserer deutschen Mitbürger, ganz egal, woher sie stammen, ob aus Schlesien oder aus Bayern, ob aus dem Rheinland oder aus Pommern. Denn alle sind deutsche Brüder, die nach unserer Verfassung gleiche Pflichten, aber auch gleiche Rechte haben.
Demgemäß wird die WAV für diesen Beschluß des Ausschusses stimmen. Und ich bitte Sie nochmals: Lassen Sie sich keineswegs irgendwie sagen, juristische Bedenken würden die Annahme dieses Antrags, den Sie wohl alle menschlich unterstützen wollen — von irgendwelchen Ausnahmen vielleicht abgesehen —, unmöglich machen! Das stimmt nicht. Es gibt keinen juristischen Gegengrund, der die Annahme des Ausschußantrags irgenwie illusorisch machen würde. Artikel 131 ist nicht lex specialis im Verhältnis zu Artikel 119. Wir können den Antrag, wie der Ausschuß ihn uns vorgelegt hat, ohne weiteres annehmen. Wir von der WAV werden es tun und bitten Sie, es in möglichst großer Zahl ebenfalls zu tun.