Meine Damen und Herren! Ich bin kein Jurist. Trotzdem wage ich es, die Richtigkeit der Ausführungen des Herrn Dr. von Merkatz anzuzweifeln. Er hat zwar recht damit, daß nach Artikel 131 neben den anderen Beamten, die nach dem 8. Mai um ihre Stellung gekommen sind, auch die Flüchtlinge, die Beamte sind, berücksichtigt werden. Das ist offenbar deswegen geschehen, weil man auch in diesem Zusammenhang nicht vergessen wollte zu sagen, daß dieser Personenkreis mit einzubeziehen ist. Bei Artikel 119 handelt es sich offenbar um eine Bestimmung, die das Eingreifen ermöglichen soll, wenn es gilt, Notmaßnahmen zu treffen. Ich glaube also, daß hier eine Möglichkeit dazu gegeben ist. Aber wahrscheinlich wird das die Juristen noch viel Schweiß kosten, wenn ich diese Frage nach den Verhältnissen beurteile, wie ich sie bis jetzt in diesem Hause kennengelernt habe. Es wird viele Diskussionen geben, und inzwischen wird noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen.
Trotzdem möchte ich Sie bitten, den Gedanken
zu erwägen, daß es sich bei Artikel 119 um eine
Bestimmung handelt, die im Augenblick die Möglichkeit einer Abhilfe bietet. Und da Hilfe in diesem Augenblick notwendig ist, kommt es nicht so sehr auf die Frage an, ob diese Hilfe nur einem Teil der heimatvertriebenen Menschen zugute kommt, sondern es geht — und damit möchte ich die Stellungnahme meiner Fraktion kennzeichnen — um folgendes.
Der zur Beratung stehende Antrag, dem Sie Ihre Zustimmung geben sollen, gehört unstreitig zu jenen Anträgen, die an Stelle von Worten Taten setzen wollen. Dieser Absicht entspricht es, daß ich nicht vorhabe, hier eine große Rede über das trübe Los der Heimatvertriebenen zu halten und so die Zahl der Reden um eine neue zu vermehren. Ich sehe meine Aufgabe nur darin, im Namen der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei mit wenigen Sätzen einige grundsätzliche Dinge auszusprechen, die unsere Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag begründen und erläutern.
In unserem Antrag Drucksache Nr. 77, der leider in diesem Zusammenhang nicht mit erwähnt wurde, fordern wir unter Buchstabe b) die Bundesregierung auf, „mit größter Beschleunigung Gesetzentwürfe und Verordnungen vorzulegen, welche die praktische Gleichberechtigung der Heimatvertriebenen hinsichtlich der Staatsbürgerschaft, des Pensionswesens, der Sozial- und Kriegsbeschädigtenrenten sowie der Sparkonten herstellen." Daraus geht eindeutig hervor, daß wir in dem heute vorliegenden Antrag nur einen ersten Schritt in der Richtung einer vollständigen Gleichberechtigung aller Heimatvertriebenen sehen, einer Gleichberechtigung, für die wir eintreten und für die zu kämpfen wir bereit sind.
In diesem Zusammenhang sei es mir nur noch gestattet festzustellen, daß meine Parteifreunde sich schon im Wirtschaftsrat darum bemühten und damit auch Erfolg hatten. Auf Grund dieser Initiative wurde für die heimatvertriebenen Pensionisten der Bahn und der Post, für die der Wirtschaftsrat ja zuständig war, die Gleichstellung ab 1. 4. 1949 gefordert und mit Wirkung vom 1. 7. 1949 durchgesetzt. Leider ist die Aufforderung an den Verwaltungsrat, sofort mit den Ländern Fühlung zu nehmen, um die Gleichstellung auch bei allen übrigen heimatvertriebenen Pensionisten
638 Deutscher Bundestag — 20. und 21. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1949
durchzusetzen, bis heute ohne Erfolg geblieben, wenn ich von dem vorbildlichen Nordrhein-Westfalen absehe. In einer Reihe von Ländern dagegen sind trotz verpflichtender Flüchtlingsgesetze die noch arbeitsfähigen vertriebenen Beamten und Angestellten in vollständig ungenügender Weise eingebaut worden. Im Hinblick auf das jahrelange soziale Elend dieser Kreise ist die Forderung nach Wartegeld voll berechtigt. Niemand wird leugnen, daß es hierbei um die vordringlichste Behebung eines sozialen Notstandes geht. Doch ebenso sehr geht es um die endliche Wiedergutmachung verletzter Rechte, um die Realisierung der praktischen Gleichstellung eines zahlenmäßig -bedeutenden Teiles unseres Volkes. Recht ist und bleibt unteilbar. Dem Rufe nach der Gleichberechtigung in der internationalen Politik muß die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und Gleichberechtigung im eigenen Lande und Volke vorangehen. Das ist, wie schon einmal in diesem Hause gesagt wurde, ein Prüfstein für die Bereitschaft dieses Hauses und besonders der Regierung der Bundesrepublik Deutschland.
Zum Schluß aber sei gesagt, daß wir neben der materiellen die psychologische Wirkung nicht verkennen dürfen. Im selben Maß, in dem den Heimatvertriebenen aller Schichten, besonders aber den Sozialbedrängten unter ihnen wieder zu ihrem Rechte verholfen wird, wird der verlorene Glaube an die wahre Solidarität wieder hergestellt. Ohne diesen Glauben gibt es keinen Frieden in Deutschland, gibt es keinen Frieden in der Welt.
Vielleicht darf ich noch auf folgendes hinweisen. Wenn ich es auch bedauere, daß zu dieser sehr wichtigen Frage bis jetzt weder ein Ver- treter des Flüchtlingsministeriums noch der Herr Flüchtlingsminister selbst noch der Herr Finanzminister noch der Herr Justizminister Stellung genommen haben, muß ich doch noch einmal darauf hinweisen, daß wir es durchaus für möglich und vertretbar halten, das ungleiche Recht, das in Deutschland derzeit noch besteht, daß diese Leute seit mehr als drei Jahren trotz derselben Vorbildung, trotz der gleichen Leistung und trotz der gleichen Dienstjahre nur einen Teil ihrer normalen Bezüge bekommen, aus der Welt zu schaffen, wenn sie im selben Ort mit einem einheimischen Beamten wohnen. Das muß eindeutig festgestellt werden. Ebenso eindeutig muß ich erklären, daß es durchaus möglich ist, bis zur gesetzlichen Regelung, die wir ebenso herbeiwünschen wie die Herren Juristen, eine Regelung zu finden, die diesem sozialen Notstand ein Ende macht. Der Artikel 119 des Grundgesetzes ist durchaus anwendbar; denn sonst wäre er nicht geschaffen worden. Um des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit willen ersuchen wir die Regierung, mit größter Beschleunigung den Antrag und den Beschluß, dem ich im Namen meiner Fraktion selbstverständlich die Zustimmung gebe, der Verwirklichung zuzuführen.