Herr Präsident, meine Damer und Herren! Allgemein ist bedauert worden, daß durch den langen Zeitablauf zwischen der Regierungserklärung und der ersten Lesung dieses Gesetzes der Sinn-Zusammenhang geradezu zerrissen worden ist. Wir sollten daher überlegen, ob es nicht möglich ist, auch unter Wahrung des Grundgesetzes in derartigen Fällen zu einem gesetzgeberischen Verfahren zu kommen, das eine derartige übermäßige Erstreckung der Zeitdauer verhindert. Wenn auch der Bundesrat nicht gut daran tut, wie er es früher einmal angekündigt hat, seinerseits gewissermaßen unmittelbar mit den Bundestagsausschüssen in Verbindung zu treten, so glaube ich doch, daß der Artikel 76 des Grundgesetzes es dem Bundesrat ermöglicht, auf die ihm gewährte Frist zu verzichten und die Bundesregierung zu ermächtigen, in einem Falle wie in dem hier vorliegenden die Gesetzesvorlage gleichzeitig auch beim Bundestag einzubringen. Denn der Bundesrat vergibt sich damit nichts, weil seine Entscheidung ja auch immer noch aussteht. Ich halte es deshalb für unbedingt erforderlich, ein solches Verfahren zu erwägen, damit diese bedauerlichen Vorkommnisse, die offenbar auch von der Regierung beklagt werden, sich nicht wiederholen. Ein Wort noch zu dem Punkt, bei dem der Herr Kollege Wahl erklärt hat, Anlaß des Amnestiegesetzes sei die „Gründung der Bundesrepublik Deutschland", und zu der neuerlich abgegebenen Behauptung des Kollegen von Merkatz, daß Deutschland untergegangen sei. Nun, ich glaube, die beiden Herren Kollegen werden mit dieser Auffassung ziemlich allein dastehen. Nach der weit überwiegenden Auffassung im Inland und Ausland besteht Deutschland als Staat fort. Es ist hier keine Bundesrepublik neu „gegründet" worden, sondern Deutschland wurde nur neu organisiert.
Zur Frage der Zuständigkeit muß ich mit den Herren Kollegen von der Bayernpartei allerdings beklagen, daß die Ausführungen des Herrn Bundesjustizministers zu dieser Frage doch recht mager gewesen sind, sowohl in der gedruckten als auch in der heute vorgebrachten mündlichen Begründung. Wir müssen in solchen Fällen und bei Fragen von solcher Bedeutung, auch wenn die Zeit kurz ist, erwarten, daß dem Bundestag ein begründetes Rechtsgutachten zu einer Frage von solcher Tragweite vorgelegt wird, ein Rechtsgutachten, in dem die- bisherige Staatspraxis und die Auffassungen der Rechtslehre entwickelt werden. Wir bekommen ja auch sonst mancherlei Gutachten. Gerade hier wäre es aber einmal wirklich am Platze gewesen.
Denn ich muß den Herren Kollegen von der Bayernpartei zugeben, daß man die Zuständigkeit des Bundes so, wie es hier geschehen ist, nicht begründen kann, ohne daß ich im einzelnen die Argumente der Bayernpartei dabei wiederholen möchte.
Ich will nur das eine hinzufügen: Wäre das Amnestiegesetz wirklich eine Aufhebung von Strafrecht, so würde man ja geradezu gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz verstoßen, weil die, die schon bestraft waren, die ihre Strafe bereits verbüßt oder die Geldstrafe bezahlt haben, ja von dieser Aufhebung des Gesetzes nun keinen Vorteil mehr haben, während die anderen in der Lage waren, ihre Verfahren hinzuziehen, und dann begünstigt werden. Auch mit dem Strafvollzug kann man es nicht begründen.
Auf der anderen Seite halte ich allerdings die Ausführungen, die seitens der Bayernpartei hier gemacht worden sind, ebenfalls für nicht stichhaltig; und ich halte, wenn ich, da unsere Zeit knapp bemessen ist, das nur mit einem Wort andeuten darf, auch das nicht für stichhaltig, was im Bundesrat namentlich .seitens des Herrn bayerischen Ministerpräsidenten und des Herrn bayerischen Staatsministers der Justiz ausgeführt worden ist. Diese beiden Herren haben im Bundesrat vorgetragen, es handle sich bei der Amnestie um einen allgemeinen Verwaltungsakt und infolgedessen sei das Land allein zuständig, weil nach dem Grundgesetz die Verwaltung dem Lande zustehe. Nun, mit der Charakteristik der Amnestie als eines allgemeinen Verwaltungsaktes bin ich einverstanden. Ein Verwaltungsakt beruht aber im allgemeinen auf der Grundlage eines Gesetzes. Denn das ist das wesentliche, daß die Verwaltung ja nur auf Grund und ihm Rahmen von Gesetzen handeln darf. Der Amnestieverwaltungsakt dagegen unterscheidet sich ja von allen übrigen Verwaltungsakten dadurch, daß er — ich möchte es etwas zugespitzt sagen — gegen das Gesetz ergeht, daß hier Schuldige oder Beschuldigte von den Wirkungen und Folgen eines Gesetzes befreit werden, also die Verwaltung dem Gesetz geradezu entgegenwirkt. Daß das nicht ohne die Mitwirkung des Gesetzgebers erfolgen kann und sogar allein durch den Gesetzgeber, von dem das Gesetz ausgegangen ist, erfolgen müßte, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Aber wir werden im Ausschuß darüber noch ausführlich sprechen müssen. Denn ich lege auch meinerseits auf eins Gewicht — das möchte ich hier ganz besonders betonen —: man kann solche Fragen nicht in der Weise entscheiden, daß man sagt: ja, nun sind wir in der Mehrheit, und da überstimmen wir eben die Minderheit.
Meine Damen und Herren, Sie sehen an diesem Falle, daß manche Illusion, die hier im Hause besteht, die Mehrheit wäre immer die gleiche, auf sehr schwachen Füßen steht.
Es kann durchaus, wie in diesem Falle höchstwahrscheinlich, auch einmal dazu kommen, daß die Mehrheit eine andere ist.
— Nein, das schadet nichts; aber das soll uns hier dazu veranlassen, unter Beweis zu stellen, daß man nicht glauben darf: der, der die Mehrheit hat, sei im Recht,
sondern daß man auch als Mehrheit die Verpflichtung hat, in allem Ernst zu prüfen, ob das, was
man zu tun sich hier anschickt, mit dem Grundgesetz bis zum letzten I-Punkt zu vereinbaren ist.
— Ich habe von diesen Selbstverständlichkeiten in diesem Hause bisher wenig gemerkt, Herr Kollege Rümmele.
Grundsätzliche Bedenken bestehen gegen jede Amnestie; auch darüber sind wir uns einig. Aber ich halte es doch für erforderlich, hier noch eines hervorzuheben, nämlich, daß Amnestien kein Mittel für die Wirtschafts- oder Finanzpolitik sein dürfen, sondern daß sie ihre ausschließliche Rechtfertigung in Rechtserwägungen finden
müssen, insbesondere in Erwägungen, wie sie Herr Kollege Wahl hier vorgetragen hat. Auch
aus diesem Grunde halten wir es daher für unmöglich, daß in dem Gesetz eine derartige Unterscheidung zwischen Straftaten allgemeiner • Art und Wirtschaftsstraftaten gemacht wird. Wenn der Herr Kollege Ewers bedauert hat, daß das „Wunder" der Währungsreform ohne Amnestie ablief, und wenn er glaubt, daß dadurch der Moral geschadet worden ist, so darf ich an die sehr klaren und offenen Worte erinnern, die Herr Bischof Dibelius bei Eröffnung des Bundestags hier in Bonn gesprochen hat. Ich glaube, es ware das letzte gewesen, was wir hätten tun sollen, die Unmoral, die am Tage der Währungsreform vor aller Augen lag, nun auch noch mit einer Amnestie zu krönen.
Auf Einzelheiten des Amnestiegesetzes will ich nicht eingehen, aber eines hier bereits ankündigen, nämlich daß wir im Ausschuß einen Ergänzungs- und Erweiterungsantrag stellen werden, die Amnestie in einem gewissen angemessenen und entsprechenden Umfang auch auf Dienststrafen auszudehnen. Nach der Geschäftsordnung ist es nicht zulässig, solche Erweiterungs- oder Ergänzungsanträge bereits bei der ersten Lesung einzubringen, und wir sind entschlossen, uns an die Geschäftsordnung zu halten, die vom Reichstag in jahrzehntelanger Praxis erprobt worden ist und nicht von Fall zu Fall umgestoßen werden sollte.
In diesem Antrag werden wir daher im Ausschuß dafür eintreten, daß in entsprechendem Maße auch die Dienststrafen amnestiert werden, soweit welche verwirkt sein sollten. Denn wir sehen Grund und Recht, uns insoweit auch schützend vor die Träger des öffentlichen Dienstes zu stellen, die seit 1945 unter heute schon gar nicht mehr vorstellbaren Verhältnissen ihres Dienstes gewaltet haben —, Beamte, die damals nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet waren, oft nach eigener Verantwortung zu verfahren, und denen man heute aus einer ganz anderen Sicht der Dinge heraus und ohne sich darüber klar zu sein, wie es damals stand, aus formalen Gesichtspunkten etwas am Zeuge flicken will. Es ist sogar zu erwägen, ob es sich hier insoweit um eine Amnestie handelt; denn wir sind der Auffassung, daß das Tun der Beamten, denen man heute alles mögliche anhängen möchte, gerechtfertigt war und daß Anlaß besteht, ihnen dafür sogar den Dank auszusprechen.