Meine Herren und Damen! Die erste Vorlage zu Jugendproblemen, mit der sich der Bundestag zu beschäftigen hat, ist eine Verbotstafel. Wir haben gestern eine Denkschrift der Arbeitsgemeinschaft für Jugendfürsorge bekommen. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten erlaube ich mir, Ihnen in einem Satz das Konzentrat dieser Denkschrift zu verlesen:
Mehr als 510 000 heimat- und berufslose Jugendliche sind in Not und gefährden die gesunde kulturelle, wirtschaftliche, soziale, politische und soziologische Entwicklung des deutschen Volkes. Sie warten auf Arbeit, warten auf Ausbildung, hoffen auf eine neue Heimat.
Angesichts dieser Tatsache ist die Vorlage Nr. 180 als erste Gesetzesvorlage einer Regierungspartei eine Herausforderung für die Jugend, ja, ich möchte fast sagen: eine Provokation.
Glauben Sie, daß es psychologisch klug war, der Jugend als erste Vorlage eine solche Verbotstafel zu präsentieren? Glauben Sie etwa, meine Damen und Herren, hiermit sei bei den jungen Menschen Vertrauen zur Demokratie zu entwickeln? Für die Folgen der Hitlersehen Kriegspolitik, für die Folgen der heutigen westdeutschen Kolonialpolitik im Zeichen des Marshallplans und der Konkurrenzdemontage wird durch ein solches Gesetz allein die Jugend verantwortlich gemacht. Ist es nicht ein Hohn, wenn beispielsweise nach § 1 Jugendliche unter 16 Jahren sich auf öffentlichen Straßen und Plätzen oder an sonstigen öffentlichen Orten während der Dunkelheit nicht herumtreiben dürfen, wenn Zehntausende von jungen Menschen keine Wohnung, keine Familie haben oder in zerrütteten Familienverhältnissen leben, wenn alleinstehende Mütter durch Spät- und sogar durch Nachtarbeit außerstande sind, ihre Kinder zu behüten? Durch solche Arbeit hoffen sie, diese materiell besser versorgen zu können!
Gestatten Sie mir, auf Grund von amtlichen Erhebungen, einiges Material zu bringen, das diesen Zustand noch besser charakterisiert. In Niedersachsen gibt es zirka 8000 wandernde, vagabundierende Jugendliche, davon 4000 weibliche. Nordrhein-Westfalen zählt 10 000. In ganz Deutschland werden es, glaube ich, mindestens 100 000 solcher Fälle sein. Bandenschmuggel, Diebstähle und andere kriminelle Vergehen häufen sich bei einer solchen Entwicklung. Mit diesem Problem, mit den Ursachen und den Maßnahmen zu ihrer Beseitigung sollte sich der Bundestag in erster Linie beschäftigen!
Aus Württemberg-Baden wird gemeldet, daß 25 000 Jugendliche, die aus der Schule entlassen werden, nicht in Arbeitsstellen untergebracht werden können. Die „Neue Zeitung" berichtet dazu, daß auf 100 Bewerber nur eine einzige Lehrstelle kommt. In Essen beispielsweise sind für 1600 männliche Jugendliche in diesem Jahr 620 Lehrstellen verfügbar, während für 1400 Mädels nur 50 bis 70 freie Lehrstellen vorhanden sind. In Südbaden sind es etwa 25 000 Jugendliche, die in diesem Jahre aus der Schule entlassen werden; 17 000 haben sich bereits um eine Stelle beworben. Für 9000 männliche Bewerber stehen 1678
Lehrstellen und für die 8000 weiblichen 177 Lehrstellen zur Verfügung.
Das bedeutet, daß für 15 000 Jugendliche überhaupt keine Lehrstellen vorhanden sind. In Bayern sind für 95 600 Jugendliche nur 9312 Lehrstellen verfügbar.
Wenn wir nach der vorher angeführten Denkschrift heute schon 310 000 arbeitslose Jugendliche haben, 170 000 Anwärter auf Lehr- und Anlernstellen, und wenn für weitere 400 000 Jugendliche, die Ostern aus der Schule entlassen werden, keine Lehrstellen vorhanden sind, dann muß man sich fragen: was ist hier zu tun?, und das ist das erste. Mit der größten Sorge hört die Jugend aus den verschiedensten Gruppen aus halboffiziellen und offiziellen Meldungen wieder einmal von der Hitlerschen Patentlösung, vom sogenannten „freiwilligen Arbeitsdienst", vom „Jugenddienst" und wie die Dinge heißen mögen. Meine Damen und Herren, das ist kein Ausweg, sondern führt in gerader Linie zur Militarisierung,
zur Vorbereitung eines Dienstes in einer Kolonialarmee. Schon einmal begann der Marsch ins Massengrab mit dem freiwilligen Arbeitsdienst!
Die Berufs- und Arbeitslosigkeit sind die Voraussetzungen für die Verwahrlosung der Jugend in Westdeutschland, von der Professor Hirschmann unter anderem sagt:
80 Prozent der heutigen Jugend sind körperlich
und geistig gefährdet; 10 Prozent leben jenseits der sittlichen Ordnungsgrenzen, und nur 10 Prozent sind in guter familiärer Obhut.
Und angesichts dieser Tatsachen stellen Sie Ihre Verbotstafel auf! In Hamburg leben 25 000 Jugendliche in Kellern und zerstörten Häusern und Schuppen. Nun sollen diese Jugendlichen sich also nach 8 Uhr ausweisen, wo sie wohnen und ob sie berechtigt sind, noch in diese Schuppen oder in diese Keller hineinzugehen!
Die Jugendzeitschrift aus Wiesbaden „Für Alle." berichtet:
In München besitzen beispielsweise von 75 000 erfaßten Kindern 32 Prozent kein eigenes Bett; bei 25 000 fehlt die Bettwäsche, und 28 400 leben in mangelhaften Wohnverhältnissen.
Angesichts dieser in Westdeutschland herrschenden Zustände haben Sie noch den Mut, den vorliegenden Entwurf mit dem Titel „Gesetz zum Schutz der Jugend" zu bezeichnen!
Ihr „Ausweg" aus der Not ist ganz eindeutig in § 11 gekennzeichnet; er heißt nämlich: Fürsorgeerziehung, die heute noch unter den gleichen Bedingungen und mit den gleichen Kräften durchgeführt wird wie in der Hitlerzeit, sodaß wir damit ein Heer von künftigen Verbrechern heranziehen. Es gibt auch heute noch Fürsorgeanstalten - Besichtigungen in solchen Anstalten haben es ergeben —, wo die Prügelstrafe obligatorisch ist
und von den Erziehungsberechtigten in diesen Anstalten als gutes Erziehungsmittel betrachtet wird.
Meine Damen und Herren! Jugendschutz kann nur Hilfe sein, und die sieht unter den jetzigen Bedingungen doch etwas anders aus! Ich verstehe darunter zum Beispiel die Schaffung von Berufs-und Ausbildungsmöglichkeiten, die Schaffung gesunder Lebens- und Wohnverhältnisse. Die Jugend hat von uns etwas anderes zu fordern als dieses erste Gesetz. Sie hat unter anderem zu fordern: Lehr- und Berufsausbildungswerkstätten in den Ländern und Gemeinden unter Kontrolle der Gewerkschaften, den Aufbau von Lehrlings- und Ausbildungswerkstätten in jedem größeren Betrieb und ein Berufsbildungs- und ein Berufsarbeitsschutzgesetz zur Schaffung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen, Wohn- und Heimstätten für arbeits- und stellenlose Jugendliche, den Ausbau der Berufs- und Berufsfachschulen, ein Berufsausbildungsgesetz, das unter anderem den Unternehmer verpflichtet, eine seiner Belegschaftsstärke entsprechende Anzahl von Lehrlingen einzustellen. Diese Verpflichtung geht weit über das hinaus, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf vom Unternehmer verlangen. Sie legen dem Unternehmer nämlich nur die Verbotstafel, den Katalog vor, den er im Betriebe auszuhängen hat.
Die Jugend fordert die Durchführung einer wirklichen Schulreform, die auch den minderbemittelten Jugendlichen erlaubt, höhere Schulen und Berufsfachschulen zu besuchen, und nicht zuletzt auch die Zahlung des gleichen Lohnes für gleiche Arbeit
und als Allerletztes einen entschiedenen Kampf gegen jegliche Bestrebungen auf Schaffung eines Arbeitsdienstes.
Das sind einige Forderungen, deren Erfüllung im Interesse der Jugendlichen und zur Linderung der ungeheuren Not unter den Jugendlichen dringend notwendig ist. Damit müßte sich der Bundestag beschäftigen. Meine Fraktion wird den vorliegenden Entwurf in Anbetracht der Tatsache, daß er kein Jugendschutzgesetz ist, ablehnen und weiß sich darin einig mit dem größten Teil der Jugend in Westdeutschland.
— Ich bin mir klar darüber, meine Damen und
Herren, daß Ihnen diese Dinge unangenehm sind;
denn Sie gedenken nicht, diese Forderungen, deren Erfüllung notwendig ist, um der Jugend wirklich zu helfen und ihr einen wirklichen Schutz zu geben, auch in die Tat umzusetzen.
Meine Fraktion jedoch wird den Kampf um die Beseitigung der Jugendnot im Rahmen der von mir aufgezeigten Forderungen unermüdlich führen, und sie ist der Auffassung, daß sie damit der Jugend einen wirklichen Schutz gibt.