Meine Damen und Herren! Es geht in dieser Sache um mehr als um das Schicksal des Abgeordneten Loritz; es geht um das Verhältnis dieses Parlaments zu sich selbst.
Zu den fundamentalen Rechten: dem Recht, sich
frei zu versammeln, dem Recht, Eingriffe der Exekutive — und stünde sie noch so hoch — in seinen Bestand zurückzuweisen, gehört, was man die
Immunität der Abgeordneten nennt. Das alles sind
mühselig unter Blut und Tänen erkämpfte Prärogativen der Parlamente. Ohne die Unantastbarkeit dieser Prärogativen kann man eine Demokratie nicht führen.
Das wußten schon die Römer, und aus diesem Grunde haben sie den Volkstribun für sakrosankt erklärt: die Liktoren durften an ihn nicht rühren. Die Etappen der Entwicklung auf diesen Wegen markieren den Fortschritt der Demokratie. Ich brauche nur auf die englische Geschichte zu verweisen.
Wenn hier die Frage gestellt worden ist, ob die Immunität ein Privileg des Abgeordneten sei, so ist darauf zu antworten: nein, die Immunität des Abgeordneten ist kein Privileg des Abgeordneten, sondern eine Prärogative des Parlaments!
Darum hat der Abgeordnete kein Verfügungsrecht über sie, sondern das Parlament entscheidet allein, ob es sich gefallen lassen will, daß dieser oder jener Abgeordnete auf Grund eines Gerichtsverfahrens aus seiner Mitte geholt wird.
Und es handelt sich bei der Immunität der Abgeordneten nicht um ein Mittel, fehlsame Abgeordnete zu schonen — sie werden ja dereinst zur Rechenschaft gezogen werden können —, sondern es handelt sich um etwas, was dazu dienen soll, die Versuchungen abzuwehren, in die Regierungen und Bürokratien verfallen könnten, die Staatsräson über den Willen des Volkes zur Selbstbestimmung — und dessen wegen ist ja das Parlament! — triumphieren zu lassen. So ist die Immunität der Abgeordneten der Nomos des Parlaments, und nach dem Worte Heraklits soll das Volk um seinen Nomos kämpfen wie um seine Mauer.
Ich habe im Immunitätsausschuß ein Wort gehört, daß mich sehr nachdenklich gemacht hat. Ein Mitglied dieses Ausschusses hat gesagt, der Staat stehe über dem Parlament,
und deswegen sei es wichtiger, daß eine Beleidigung des Staates gesühnt werde, als daß dem Parlament ein Abgeordneter erhalten bleibe. Mir scheint hier eine Verwirrung der Geister zum Ausdruck zu kommen. Was ist denn ein Abgeordneter? Er ist ein Partikel des Volkes, das hier in diesem Hause zu Wort kommen will und soll und
von dem die Staatsgewalt ausgeht. Und was ist denn der „Staat", um den es sich in diesem Gerichtsverfahren handelt? Es ist doch hier nicht die Majestät des Staates im Spiel — es handelt sich um einige Gefängnisbeamte, denen der Abgeordnete Loritz Dinge vorgeworfen hat, die sie nicht hätten tun sollen. Es ist hier nicht die Frage zu entscheiden, ob dieser Vorwurf berechtigt ist oder nicht — ich will hier nur das Wort „Staat" in das richtige Verhältnis setzen, da behauptet worden ist, die Ehre des Staates stehe hier auf dem Spiele. Gewiß, die Vorwürfe, die der Abgeordnete Loritz erhoben hat, sollten im Interesse des Ansehens der bayerischen Gefängnisverwaltung so rasch als möglich überprüft werden.
Aber dazu braucht man kein Gerichtsverfahren; dazu wäre ein Untersuchungsausschuß des Bayerischen Landtags das beste Mittel.
Man hat bei Gesprächen, die um diesen Fail geführt worden sind, hören können, es sei schade,
daß das Prinzip der Innmunität erstmals an einer
so umstrittenen Persönlichkeit — ich bitte mir das nicht übelzunehmen, Herr Kollege Loritz -, wie der Abgeordnete Loritz eine sei, erprobt werden müsse. Ist das wirklich so schade? Ich meine im Gegenteil, es gut so, daß dieses Prinzip an dem Fall eines Mannes erprobt werden muß, von dem wir wissen, daß ihn sehr viele für eine bedenkliche politische Erscheinung halten. An denen, die uns unbequem sind, müssen wir unsere Prinzipien erhärten, und nicht an unseren Lieblingen!
Wenn wir anders verführen, liefen wir Gefahr, nicht Prärogativen des Parlaments zu verteidigen, sondern Cliquen und ihre Kameraderie.
Ich will nicht von den Gerüchten handeln, die um den Fall Loritz schweben. Mag alles unwahr sein, was gesagt und geraunt wird — es wird behauptet , man mache dem Kollegen Loritz diesen Prozeß, um ihn nach § 51 des Strafgesetzbuches für unzurechnungsfähig erklären zu lassen und ihn so auf kaltem Wege aus dem politischen Leben ausschalten zu können —, wir sollten uns ähnlich verhalten, wie der Richter es tut, den man wegen Befangenheit ablehnt: er gibt in einem solchen Fall auch dann schon dem Ablehnungsbegehren statt, wenn jener, der ihn ablehnt, auch nur subjektiv glauben kann, Gründe zu haben, die den Richter in den Verdacht der Befangenheit bringen könnten.
Wenn es aber wirklich so sein sollte, daß man dem Abgeordneten Loritz auf diese verspätete Borgia-Manier an das politische Leben gehen will — ich meine, der Abgeordnete Loritz wäre als Opfer einer solchen Maßnahme, sei sie nun mit Strafgesetzbuch oder Strafprozeßordnung zu decken oder nicht, politisch viel gefährlicher als ein Abgeordneter Loritz in diesem Saal und selbst auf den öffentlichen Plätzen.
Manche glauben, man müsse um der Demokratie willen vielleicht so verfahren und zu Akrobatenstückchen greifen. Ich habe auf einem Gange dieses Hauses das Wort gehört: hätte man dem Hitler rechtzeitig auf irgendeine Weise das Genick gebrochen, dann wäre uns manches erspart geblieben. Das ist richtig. Aber um Hitler unschädlich zu machen, wäre es nicht nötig gewesen, die Justiz zu einem Instrument in den Händen politi-
cher Widersacher zu degradieren — es hätte vollauf genügt, wenn die bayerischen Gerichte dem Hochverräter Hitler gegenüber das Strafgesetzbuch voll zur Anwendung gebracht hätten, wie sie es den Aufständischen der Räterepublik gegenüber getan haben!
Wir wollen aber mit dem Schwamm darübergehen. Eines aber sollten wir feststellen: Die Zwecke heiligen nicht die Mittel, die Mittel heiligen die Zwecke, auch jene der Demokratie. Wir sollten immer nach diesem Grundsatz handeln.
Noch einmal: es handelt sich heute nicht um Herrn Loritz, es handelt sich um dieses Parlament. Es handelt sich darum, ob dieses Parlament bereit ist, sich wichtig genug zu nehmen. Wenn es das tut, muß es nach den Grundsätzen, die eben von diesem Platze aus entwickelt worden sind, getreu den Empfehlungen des Ausschusses handeln. Die Preisgabe der Immunität, das leichte Umgehen mit der Immunität in einem Falle bedeutet sehr viel mehr, als ein Sich-Vergreifen im Einzelfall. Es bedeutet, daß man das Palladium der Freiheit des Parlaments aufgibt. Und diese Freiheit ist die uneingeschränkte und unantastbare Möglichkeit der Selbstbestimmung. Jenen, die glauben, man könne sie hier auch — und vielleicht sogar besser — ohne den Abgeordneten Loritz in Anspruch nehmen, möchte ich das Wort Rosa Luxemburgs zurufen: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden!