Rede von
Richard
Reitzner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! Es ist von dieser Stelle aus in der letzten Zeit mehrmals und recht ausführlich zu den Pro- a blemen der Heimatvertriebenen gesprochen worden, aber mehr von den außenpolitischen Aspekten her. Man hat sozusagen die Vision einer erstrebenswerten Zukunft in sich eingesaugt. Ich möchte hier an Hand der Ihnen vorliegenden Anträge — Drucksachen Nr. 74, 77 und 78 — den Versuch unternehmen, die Bedeutung der innerpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme herauszuarbeiten mit dem Ziel, eine rasche Verwirklichung der Forderungen zu erreichen, und mit der Aufgabe, die Dringlichkeit der Verwirklichung besonders zu verdolmetschen.
Wir alle wissen, daß die Problematik dieser Frage brunnentief ist, und wir wissen, daß wir das Problem der Heimatvertriebenen nicht isoliert sehen können. Es ist ein Problem, das in den Mittelpunkt unseres innen- und außenpolitischen Denkens und Handelns gestellt werden muß. Deshalb werden Sie, meine Damen und Herren, auch Verständnis dafür haben, daß von dieser Stelle aus der Versuch gemacht wurde, im Zusammenhang mit der Diskussion über die Oder-NeißeLinie eine Oder-Neiße-Linie auch der Sudetendeutschen zu fixieren. Dieser Versuch ist nicht gelungen. Er konnte nicht gelingen, weil man heute, in diesem Augenblick, Beschlüsse auf Vorrat nach dieser Richtung nicht fassen kann. Aber ich möchte nur mit drei Sätzen, als eine Art Präambel, noch einmal betonen, daß die Forderung nach Wiedergutmachung des all diesen Menschen durch den Heimatraub angetanen Unrechts selbstverständlich auch jene Deutschen einbeziehen muß, die vor dem Jahre 1938 nicht in den Grenzen des Deutschen Reiches gelebt haben, und möchte gleichzeitig unserer Überzeugung dahin Ausdruck geben, daß der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat nicht
zur Negierung unerläßlicher wirtschaftlicher, sozialer und innerpolitischer Maßnahmen für die Heimatvertriebenen führen darf. Daher, glaube ich, kommt diesen Anträgen eine besondere Bedeutung zu.
Selbstredend befinden wir uns in Übereinstimmung mit vielen Schicksalsfreunden, wenn immer wieder ausgesprochen wird, daß zur moralischen Gesundung der Welt nicht nur die innere und geistige Entnazifizierung der Deutschen, sondern auch die Entpotsdamisierung der Sieger notwendig ist.
Daher haben wir auch ein moralisches Recht, zu
sagen, daß ein berechtigter Protest keineswegs ein
Vorwand sein darf zu einer neuen nationalistischen
und chauvinistischen Haltung in unseren Kreisen.
Solange aber die außenpolitische Seite dieses Problems nicht geklärt werden kann, muß eine rasche und erträgliche Zwischenlösung auf deutschem Boden geschaffen werden, eine Zwischenlösung, die dem Verelendunsprozeß der Heimatvertriebenen eine Schranke setzt und ihren Glauben an die nationale und . menschliche Solidarität wiederherstellt.
.Zunächst besteht die reale Aufgabe der sogenannten Flüchtlingspolitik auf deutschem Boden darin, den Versuch zu unternehmen, die physischen, moralischen und geistigen Kräfte der Heimatvertriebenen, soweit sie noch vorhanden sind, zu retten und nicht verkümmern zu lassen.
Das ist der tiefere Sinn unserer Anträge. Aber. meine Damen und Herren, vor uns steht nicht nur das Millionenheer der Vertriebenen auf deutschem Boden. Vor uns stehen in unserer Erinnerung die Volksdeutschen, die heute noch in den polnisch verwalteten Gebieten Deutschlands sowie in Polen und in der Tschechoslowakei leben. Ihre Lage ist menschenunwürdig und trostlos. Wer ihre Briefe liest, wird lange Zeit die Bilder dieses Elends nicht los aus den Falten seines Gehirns. Sie leben mehr ein Sklavendasein. Sie sind nicht nur Staatsbürger zweiter oder dritter Klasse; das ist viel zu wenig. Noch viel schlimmer! Daher können wir die fortwährenden Fluten der SOS-Rufe unserer in diesen Gebieten zurückgebliebenen Deutschen nicht überhören. Ich glaube, es ist eine menschliche und nationale Verpflichtung der ganzen deutschen Nation, auch diesen bedrängten Brüdern und. Schwestern beizuspringen.
Das ist der Sinn des Antrages Nr. 78, und ich ersuche daher im Namen der sozialdemokratischen
Fraktion, diesem Antrag zuzustimmen, der besagt:
Die Bundesregierung wird ersucht,
1. im Ministerium für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen ein besonderes Referat einzurichten, das die Hilfe für die noch in den polnisch verwalteten Gebieten Deutschlands sowie in Polen und der Tschechoslowakei lebenden Deutschen zur Aufgabe hat,
und der unter 2 d die Bundesregierung ersucht, dem Bundestag zu berichten, welche Verordnung die Bundesregierung nach Artikel 119 des Grundgesetzes zu erlassen beabsichtigt, um die Länder zu verpflichten, sofort für eine angemessene und gleichmäßige Eingliederung dieser Vertriebenen in die Bevölkerung des Bundesgebiets Sorge zu tragen.
Dieser Antrag steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Antrag Nr. 74 der sozialdemokratischen Fraktion. Der Kollege Kuntscher hat eben darüber gesprochen. Ich stimme ihm in seinen Schlußfolgerungen vollkommen bei, möchte aber hinzufügen, daß eine Entlastung der Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern vor allem auch deshalb erreicht werden muß, weil diese Länder durch ihre verhältnismäßig hohe Belegung mit Heimatvertriebenen die geringste Aussicht auf Arbeit und Wohnung bieten können. Ich bin sicher nicht der Anwalt bayrischer Interessen oder Belange. Aber ich lebe in Bayern, und ich weiß, was dieses Land infolge seines geographischen Mißgeschicks durch den Zustrom von Heimatvertriebenen, von Flüchtlingen heute noch zu leiden hat. Es besteht daher ein berechtigter Anspruch.
Wir wissen, daß diese Frage schon längere Zeit die Länder beschäftigt. Aber zu meinem Bedauern muß ich sagen daß man bisher bei unverbindliche Gespräche nicht hinausgekommen ist. Auch der Herr Bundesminister für die Angelegenheiten der Vertriebenen, Dr. Lukaschek, ist über unverbindliche Gespräche nicht hinausgekommen. Ich höre von ihm, daß er guten Willens ist und beabsichtigt, den notwendigen Spitzenausgleich ohne Rechtsverbindlichkeit für die Aufnahmeländer durchzuführen. Ich wünsche dem Herrn Bundesminister aufrichtig viel Glück, und ich hoffe, daß es ihm gelingen möge. Trotzdem möchte ich aber vor einer zu starken Aufspaltung der Verantwortlichkeit in dieser Frage warnen und dem Herrn Bundesminister empfehlen, den Artikel 119 nicht in den Abstellraum der Bundesregierung zu stellen.
In materieller Hinsicht ist der Antrag Drucksache Nr. 77 der weitestgehende. Er umfaßt vor allem das Problem der Arbeit und Wohnung, worüber heute gesprochen wurde. Wird das Problem. des sozialen Wohnungsbaus gelöst, so ist das Problem der Arbeitsbeschaffung vorwärtsgetrieben und auch den Heimatvertriebenen ein unerhörter Dienst erwiesen. Die sachliche Berechtigung dieses Antrags wird nach dem, was ich aus den Debatten von allen Seiten dieses Hohen Hauses vernommen habe, wohl von niemandem bestritten. Wir befinden uns hier sicher in guter Gesellschaft, und ich sehe, daß auch die CDU/CSU-Fraktion und— andere Fraktionen ähnliche oder gleichlautende Anträge gestellt haben. Ich kann mir daher, auch mit Rücksicht auf die Zeit — ich bin ersucht worden, um 1 Uhr zu beenden —, eine ausführliche Begründung ersparen. Nur einige unerläßliche Bemerkungen, insbesondere zum Lastenausgleich und zu den Auswirkungen des Soforthilfegesetzes.
Der Lastenausgleich ist stellenweise ein Tummelplatz geworden, aber auch ein Gegenstand heftiger Kritik und hoffnungsloser Betrachtungen der Heimatvertriebenen. Wenn im Kreise der Heimatvertriebenen das Wort „Lastenausgleich" fällt, sagt man: Laßt den Ausgleich! Wir glauben doch nicht mehr daran, daß es zu einem sozial gerechten Lastenausgleich kommt.
Vom psychologischen Standpunkt her glaube ich wiederholen zu müssen, daß auch unsere Soforthilfemaßnahmen geeignet sein müssen, den verlorengegangenen Glauben an die menschliche und nationale Solidarität wiederherzustellen. Dabei sind wir uns darüber klar, daß, wer
leistungsfähig ist, auch leistungsverpflichtet gemacht werden muß. Soll ein sozialer und gerechter Lastenausgleich möglich sein, dann muß man, glaube ich, auch die Substanz und nicht nur das Erträgnis zur Leistung heranziehen. Das Soforthilfegesetz ist, wie wir wissen, mit seinem zusätzlichen Hausratprogramm eine zwar gutgemeint, aber infolge der unerhörten Bedürfnisse unbefriedigende Maßnahme. Im Rahmen des Soforthilfegesetzes — das besagt § 45 — ist für Hausrathilfe gesorgt. Die Erfahrung zeigt heute, meine Damen und Herren, daß das Bedürfnis die Möglichkeit der Leistung weitaus übersteigt. Wir erhoffen von dem Herrn Minister für die Angelegenheiten der Heimatvertriebenen, daß er bald in der Lage sein wird, dem Hohen Hause über die bisherigen Auswirkungen des Soforthilfegesetzes zu berichten, damit wir dann zu klareren Vorstellungen über weitere Leistungen kommen können.
Abschließend möchte ich die Bundesregierung bitten, im Auge zu behalten, daß die Heimatvertriebenen sehr rasch und ausgiebig Hilfe erwarten und sie nötig haben. Ein Winter steht vor uns. Das Problem, das es zu lösen gilt, wird nicht nur ein Prüfstein für die moralische und soziale Regenerationsfähigkeit des deutschen Volkes sein. Es wird vor allem auch ein Prüfstein sein für die Zuverlässigkeit der Absichten der Regierung auf sozialem Gebiete. Daher muß ein Höchstmaß von Leistung in den Ländern und dem Bund angestrebt werden. Ich schließe mich den Ausführungen des Kollegen Kuntscher auch auf diesem Gebiete vollkommen an. Es ist ein Höchstmaß von Leistungen notwendig, denn vor uns steht die Aufgabe, die unumgängliche Planung ohne bürokratischen Leerlauf durchzuführen. Erst wenn wir diese Höchstleistung mobilisiert haben, werden wir die moralische Berechtigung gewinnen, uns um Hilfe an das Ausland zu wenden.
Es gibt, meine Damen und Herren, darüber hinaus noch ein politisches Moment. Es gilt, die Millionen der Heimatvertriebenen aus ihrer jetzigen Hoffnungslosigkeit herauszubringen. Diese entwurzelten Menschen können eine tödliche Gefahr, ja ich möchte sagen, der Mühlstein um den Hals der neuen deutschen Demokratie werden,
wenn wir nicht mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln dem Verelendungsprozeß und der leiblichen und seelischen Not ein Ende bereiten.