Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe den Vorzug, nicht nur für die CDU/CSU, sondern gleichzeitig für die FDP und die DP zu sprechen. Unsere Stellungnahme zu den vier Anträgen 2,, 0, 7 und 11 kann unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erfolgen, unter demselben einheitlichen Gesichtspunkt, den auch der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zugrunde gelegt hat. Es ist die Tatsache, daß die Demontagefrage das ganze deutsche Volk bewegt.
Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, daß sich unser Volk gegen die Zerstörung wirklich kriegswichtiger Betriebe nicht auflehnt; aber das, wogegen es ankämpft, ist die Vernichtung großer wirtschaftlicher Werte. In unserer beispiellosen Armut ist Deutschland als letzter wertvoller Besitz neben der Arbeitskraft seiner Bevölkerung eine Anzahl hochwertiger Produktionsstätten verblieben, und die Auflehnung gegen die Zerstörung wertvollster Einrichtungen entspricht nicht etwa einem wiedererwachten Nationalismus, wie es auch von dem Herrn Vertreter der SPD richtig ausgeführt worden ist, sondern einem wohl zu verstehenden Selbsterhaltungstrieb. Wir möchten uns wünschen, daß nicht nur etwas mehr wirtschaftliches Verständnis für unsere Notlage, sondern auch etwas mehr Einfühlungsvermögen nach der psychologischen Seite hin bei unseren ehemaligen Gegnern in Betracht käme. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich im umgekehrten Fall in England, Frankreich oder den USA die Bevölkerung tatenlos verhalten und ruhig alles mit angesehen hätte. Ich kann nur darauf verweisen, daß die Haltung unserer Bevölkerung, insbesondere unserer beteiligten Arbeiterschaft, bis zur Stunde durchaus diszipli- niert gewesen ist.
Unter diesen Gesichtspunkten sind auch die Amnestiefragen zu beurteilen. Die Handlungen sind nicht als kriminell zu bewerten, sondern sie sind wohl verständlich aus dem Streben, die Arbeitsplätze für sich und das Brot für die Familienangehörigen zu sichern,
und wenn die Menschen in diesem Punkt mit ihrem
inneren Gewissen und mit den Vorschriften der
Militärregierung in Konflikt gekommen sind, so
ist jetzt unserer Meinung nach der rechte Zeitpunkt gekommen, um eine Amnestie zu erlassen,
der Zeitpunkt, in dem das erste deutsche Bundesparlament zusammentritt und eine neue Regierung gebildet ist, in dem das Besatzungsstatut in Kraft tritt, das man uns mit so verheißungsvollen Worten einst im Parlamentarischen Rat überreicht hat.
Das einzige, was mir hier bei den Anträgen aufgefallen ist, hat auch der Kollege Henßler von der SPD erwähnt, nämlich den Zwiespalt, der auf seiten der Vertreter der KPD in der Beurteilung der Demontageverhältnisse hier im Westen und in der Ostzone zutage tritt.
Meine Herren von der, KPD! Im Osten haben Sie vier Jahre lang geschwiegen. In keinem Landtag hat sich eine Stimme gegen die Vernichtung unserer Industrie und gegen die Wegführung der Maschinen aus dem ostdeutschen Raum erhoben.
Keine Stimme hat sich gegen die maßlosen Leiden der Berliner Bevölkerung erhoben.
In Ihrer Presse ist kein Wort des Widerspruchs erschienen.
Und sehen Sie: wenn Sie offenbar auf dem Standpunkt stehen, daß, wenn zwei dasselbe tun, es doch nicht dasselbe ist, so müssen Sie andererseits verstehen, daß wir in Ihre Anträge ein berechtigtes Mißtrauen setzen und es ablehnen, dann zuzustimmen, wenn solche Anträge zu Agitationszwecken und zu dem Zweck gestellt werden, aus einer Notlage des Landes parteipolitische Vorteile zu ziehen.
Das sind für uns keine Motive, um solchen Anträgen zuzustimmen.
Wir wissen, daß wir eine Regierungserklärung zu erwarten haben. Ich glaube, sie wird so sein, daß wir ihr zustimmen können und daß sich da-
Dr. Dr. Lehr
mit ein weiterer Antrag meinerseits im Namen der drei Fraktionen, für die zu sprechen ich die Ehre habe, erübrigt.
Ich komme zur Demontage selbst. Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Henßler hat schon zutreffend und tiefgründig das ausgeführt, was in großen Zügen zu sagen ist. Wir wollen uns hier in diesem Raum angewöhnen, mit Worten sparsam zu sein und nicht überflüssigerweise etwas zu wiederholen.
Ich möchte mich auf die Hervorhebung bestimmter, wertvoller Gesichtspunkte beschränken und in vielen Teilen mich den Ausführungen des Herrn Kollegen Henßler anschließen. Ich verweise auch darauf, daß eine wertvolle Vorarbeit im Verwaltungsrat in Frankfurt geleistet worden ist. Dort ist in wirklich einwandfreien und überzeugenden Denkschriften zur Demontage schon gesagt worden, was man auch von unserer Seite dazu zu sagen hat. Lassen Sie mich aber noch einmal betonen, daß es durchaus richtig ist, daß fortdauernde Demontage die Gesundung der Wirtschaft verhindert, weil sie zwei unheilvolle Folgen hat. Die erste einschneidende Folge ist die Verringerung der Kapazität der deutschen Industrie, die andere ist die Tatsache, daß die wirtschaftliche Erzeugung durch Unterbrechung des natürlichen Wirtschaftskreislaufs herabgesetzt wird. Das gilt ganz besonders in unserer rheinischwestfälischen Industrie, in unserem sogenannten Kohlenpott. Die dort entstandene Verbundwirtschaft ist kein Spiel des Zufalls, sondern ist in Generationen fleißiger Hände und kluger Köpfe geschaffen worden als — wie es gestern der amerikanische Journalist Armstrong nannte — ein industrielles Herzstück Europas. Dank dem einzigartigen Kohlenvorkommen in Mengen und Sorten, dank der günstigen Verkehrslage an natürlichen und künstlichen Wasserläufen, einem reichen Eisenbahn- und Landstraßennetz ist dieses Revier etwas Einzigartiges, und jeder Eingriff mit roher Hand behindert in unvonstellbarem Ausmaß das Zusammenwirken des einheitlichen Ganzen.
Nun läßt sich mit Zahlen ebenso wie mit Worten trefflich streiten Ich möchte Sie auch nicht mit Zahlen überschütten, aber ich möchte darauf hinweisen, daß die Kapazitätsberechnungen, auf denen der revidierte Industrieplan sich aufbaut, völlig dadurch überholt sind, daß wesentliche kapazitäteinschränkende Vorwegentnahmen von Schlüsselmaschinen und Schlüsselproduktion schon erfolgt sind. Stellenweise sind einzelne Werke und einzelne Branchen durch diese Vorwegentnahmen ebenso stark wie durch die Demontagen selbst betroffen worden, denn diese Demontagelisten konzentrieren sich auf bestimmte Schlüsselfertigungen und Engpaßmaschinen. Sie sind offenbar von genauen Kennern aufgesetzt worden. Bei Beginn dieser Tagung wurde mir von Freunden aus der französischen Zone noch wertvolles Material zu diesem Punkt überreicht. Ich will es im einzelnen nicht wiederholen, aber darauf hinweisen, daß beispielsweise die Uhrenindustrie in der französischen Zone durch Vorwegentnahmen um 30 Prozent verringert wurde, daß dann eine zweite und dritte Vorwegentnahme erfolgte, die weitere 50 Prozent erforderte, so daß, wenn man alles in allem jetzt nimmt, von der ursprünglich reichen Uhrenindustrie in der französischen Zone zwischen 20 und 30 Prozent noch vorhanden sind.
Es ist auch nicht richtig, daß man, wie immer wieder betont wird, uns ja doch nur von überflüssiger Kapazität befreien wollte und daß nur stillgelegte Betriebe betroffen werden. Nein, ein Großteil der zur Demontage vorgesehenen Werke war ausreichend beschäftigt, und im Maschinenbau zum Beispiel hatten von 104 Demontagebetrieben bereits 98 ein vollgültiges Produktions-Permit.
Ein Wort zu Industrieplan und Demontageliste. Industrieplan und Demontageliste sind ohne Berücksichtigung des Marshallplans aufgestellt worden. Man kann das dadurch nachweisen, daß, als das Pariser Gutachten zum Marshallplan erstattet wurde, es in den USA einer besonderen Nachprüfung unterzogen wurde. Da wurden die Zusammenhänge zwischen dem Industrieplan und der Demontage einerseits und den Forderungen an das Marshallplanprogramm andererseits durchaus anerkannt und gewürdigt mit dem Ergebnis, daß sowohl das Harriman-Komitee wie das Herter-Komitee statt der überhöhten Ansprüche an den Marshallplan die stärkere Einschaltung Deutschlands forderte, um diese erhöhten Anforderungen an amerikanischer Hilfe zu korrigieren. Die Stahl- und Maschinenanforderungen des Pariser Gutachtens sind von dem genannten Herter-Komitee auf die Hälfte zusammengestrichen worden, und es ist eindeutig die Erhöhung der deutschen Stahlproduktion verlangt worden. Damit sind wesentliche Voraussetzungen des Industrieplans und der Demontageliste hinfällig geworden. Die Einschaltung erhöhter deutscher Beträge im Rahmen des Marshallplans verlangt eben einen erheblichen Export von Eisen und Stahl und Maschinen.
Der Herr Kollege Henßler hat auf den erhöhten Nachholbedarf hingewiesen. Meine Damen und Herren, getreu meinem Versprechen, daß ich Sie nicht mit Zahlen überschütten wollte, will ich, Sie auf ein schlagendes Beispiel aufmerksam machen. Der Fortfall von Bedarf an Eisen und Stahl durch den Fortfall unserer Rüstungen und die Unterhaltung von Streitkräften zu Lande, zur See und in der Luft wird vollständig dadurch ausgeglichen, daß dieser erhöhte Nachholbedarf noch für unsere gesamte gewerbliche Wirtschaft, für unsere gesamte Industrie, für unsere Landwirtschaft und für die Haushaltungen zu befriedigen ist, so daß es nicht richtig ist, daß man mit dem uns bewilligten Kontingent von 11,1 Millionen Jahrestonnen Stahl auskommen könnte. Wenn man wirklich den eigenen Bedarf unseres Volks berücksichtigt, dann brauchen wir mehr als etwa 14,5 Millionen Jahrestonnen Stahl.
Wenn ich noch hinzufüge, daß die Methoden der Demontage unsachgemäß und unwirtschaftlich sind und die Auswahl der Objekte ebenso unwirtschaftlich ist, so glaube ich damit treffend den Sachverhalt charakterisiert zu haben. Will man wirklich prüfen, dann muß man die Abbaukosten und die Wiederaufbaukosten, die Wertzerstörung in Deutschland und den ins Ausland gehenden Nettowert berücksichtigen. Es ist ganz sinnlos, Hochöfen und Stahlwerke niederzureißen, deren Wiederaufbau an anderer Stelle völlig unwirtschaftlich ist und deren Demontage nur noch Schrottwerte verursacht. Ich verweise als auf ein schlagendes Beispiel auf die Hüttenwerksanlage Borbeck der FriedrichKrupp-Aktiengesellschaft, die vorher einen Wert von 120 Millionen hatte und nach der Demontierung noch einen von 9,5 Millionen, also nur noch
8 Prozent ihres früheren Wertes; und dabei ist die Arbeitsleistung von 3000 Arbeitern in zwei Jahren Demontage noch nicht mal eingerechnet. Die Demontagekosten für 1 Tonne Eisenkonstruktion betragen etwa 800 bis 1000 Mark, und die Kosten für die Neukonstruktion einer Tonne betragen einschließlich des Rohmaterialwerts etwa 400 D-Mark. Also betragen die Demontagekosten das Zwei- bis Zweieinhalbfache der Neuerstellung. Die Anlagewerte aller Demontagebetriebe werden in den USA auf eine Milliarde Dollar geschätzt. Nach den bisherigen amerikanischen Schätzungen belaufen sich die nach der Demontage verbleibenden Werte auf 250 Millionen Dollar.
Nun fällt uns ganz besonders die verdächtige Eile auf, mit der in diesen Tagen und Wochen noch weiter demontiert wird. Gerade in dem Augenblick, in dem die Staatsmänner in Washington zusammentreten, um doch noch einmal zu überprüfen, ob man unserem schwer geprüften Lande nicht etwas Erleichterung bringen kann, geht mir von unseren Freunden in der französischen Zone beispielsweise die Nachricht zu, daß die Kaiserlauterer Eisenwerke — Aktiengesellschaft demontiert werden sollen, die bisher zwar schon durch Demontagen betroffen worden sind, es aber immer noch verstanden haben, ihre Produktion aufrechtzuerhalten und ihre Belegschaft zu beschäftigen. Nun soll aber die Seele des Betriebes durch weitere Maschinenzerstörungen herausgerissen werden. Es geht mir weiter die Klage darüber zu, daß die Charlotten-Hütte in Niederschelden auf einmal demontiert werden soll, bei der bisher ausdrückliche Zusagen vorlagen, daß sie nicht demontiert werden soll.
Der Herr Kollege Henßler hat zwei Fälle herausgesucht, die ich mir auch zum Gegenstand der Untersuchung gemacht habe: das ist die Demontage der August-Thyssen-Hütte in Duisburg-Hamborn und die Demontage von Gelsenberg-Benzin. Die Demontage der August-Thyssen-Hütte wird in diesen Tagen mit Nachdruck fortgesetzt, und die Zerstörungsbelegschaft ist wesentlich erhöht worden. Wenn das Werk nicht sofort durch Demontage-Stop gerettet wird, sind zum Ende des Jahres von dieser wertvollsten und wirtschaftlichst arbeitenden deutschen Produktionsstätte nur noch etwa zwei Hochöfen und ein Elektro-Ofen übrig; das heißt, das Werk ist vernichtet.
Es ist unser modernstes und unser am wirtschaftlichsten arbeitendes Werk, das auf der Kohle liegt, das am Rheine liegt und eine hervorragend eingearbeitete Belegschaft hat.
Bei Gelsenberg-Benzin ist auch ein Punkt, den ich Ihnen in aller Offenheit einmal sage. Das Werk Gelsenberg-Benzin hat gleichzeitig mit dem Werk Wesseling bei Köln am 28. September 1948 eine Betriebserlaubnis zur Destillation von Erdöl und zur Hydrierung der daraus gewonnenen Rückstände bekommen — wohlgemerkt: es handelt sich nicht um die verbotene Hydrierung 'von Kohle. Das Werk Wesseling hat offenbar einen besonderen Schutzgeist; denn es darf weiter arbeiten, und darüber freuen wir uns an sich. Es ist gut, wenn man ausländische Beziehungen hat. Aber das Werk Gelsenberg hat sie leider nicht. Deshalb ist es in die Lage gekommen, obwohl es nach erhaltenem Permit zu dem bereits investierten Kapital von 300 Millionen Reichsmark 17 Millionen D-Mark zusätzlich investierte, jetzt seine eben erstellten Anlagen wieder herunterreißen zu müssen. Das bedeutet, daß wir eine neue Kapazität an anderer Stelle errichten müssen, um unserer eigenen Destillation von Erdölen genügen zu können, daß ein Stop in der Verarbeitung der Erdölproduktion aus dem Emsland und Niedersachsen eintreten wird, daß wir mit erhöhtem Devisen-Aufkommen wieder Treibstoffe einführen müssen. Es bedeutet also nicht nur einen Devisenverlust, sondern auch eine Zerstörung von erheblichen Volksvermögenswerten. Mit den Angehörigen handelt es sich um 10 000 Personen, für die es in jenem Bezirk keinen Unterhalt mehr gibt.
Meine Damen und Herren, ich verweise zuletzt noch auf den Zusammenhang von Demontage und Währung. Nach wie vor werden erhebliche Teile der deutschen Arbeitsleistung für unproduktive Zwecke in Anspruch genommen, und es entsteht Volkseinkommen ohne Deckung auf der Seite der Gütererzeugung.
Auch Herr Kollege Henßler — das möchte ich hier unterstreichen — hat die psychologische Auswirkung auf das gesamte deutsche Volk betont. Man soll sie keineswegs unterschätzen. Wenn ein ganzes Volk sich geschlossen wehrt, dann sollte man doch im Zeitalter der Völkerversöhnung, des europäischen Wiederaufbaus und noch weitergehender Weltversöhnungspläne dieser Tatsache erhöht Rechnung tragen. Wie soll denn Vertrauen geschaffen werden, wenn, wie der Bundeskanzler sagte, mit der einen Hand gegeben und mit der anderen genommen wird? Wo soll bei uns die Zuversicht herkommen, daß wir in zwei Jahren von ausländischer Hilfe unabhängig sind und uns aus eigener Kraft weiterhelfen und sogar Europa aufbauen können? Es ist so: Auf der einen Seite sollen wir Partner des Marshallplans sein, und auf der anderen Seite sind wir, obwohl nun die Bundesrepublik Deutschland geschaffen ist, noch Reparationsschuldner mit zur Zeit unbegrenztem Umfang unserer Schuld, wobei der Gläubiger allein über Umfang und Art der Einziehung bestimmt.
Deshalb ist besondere Eile geboten, weil sonst wertvollste Teile unserer Wirtschaft verstümmelt werden. Unsere Forderung geht dahin: sofortiger Stop der ganzen Demontage mit dem Ziel der endgültigen Einstellung.
Sollten sich danach überhaupt noch Demontagenotwendigkeiten ergeben, so können sie sich unter allen Umständen nur auf reine Rüstungsbetriebe oder auf Maschinen beziehen, die ausschließlich der Fertigung von Rüstungsmaterial dienen.
Die Revision des Industrieplans muß unter Berücksichtigung der Vorwegentnahmen sowie des deutschen Beitrags zum Marshallplan erfolgen. Dann muß auf Grund einwandfreier Unterlagen, die von beiden Seiten geschaffen werden sollen, nach der wirtschaftlichen Seite abgewogen werden: Abbau-, Transport- und Wiederaufbaukosten, Wertminderung durch Zerreißung bestehender Zusammenhänge, Vergleich der Produktionskosten in Deutschland und im Empfängerland, Produktionsausfälle durch Warte- und Anlaufzeit und schließlich Vergleich von deutschen Aufwendungen mit dem Erfolg für Reparationsgläubiger sowie Beeinflussung der europäischen Warenversorgung.
Meine Damen und Herren, wir müssen mit konstruktiven Vorschlägen kommen. Mit allgemeinen Ausführungen ist in dieser Lage nicht zu helfen. Solche konstruktiven Vorschläge werden von deutscher Seite gemacht. Wir möchten einmal anfangen mit dem Wertvollsten, was uns am Herzen liegt und
I am meisten bedroht wird, mit der August-ThyssenHütte. Da erhebt sich der Gedanke der Internationalisierung. Diesen Gedanken der Internationalisierung möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen und Sie bitten, ihn zu fördern. Wenn wir diesen Gedanken der Internationalisierung vertreten, so sind wir bestrebt, dem Anspruch der Alliierten auf Reparationen und Sicherheitsleistungen zu genügen. Wir wollen dem Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft durch Internationalisierung dienen, wir wollen die Zerstörung volkswirtschaftlich wertvollen Vermögens vermeiden, wir wollen die Vergeudung von Marshallplangeldern in Europa verhüten; wir wollen der in ihrem Lebensnerv und in ihren Arbeitsbedingungen ohnehin schwer getroffenen Arbeiterschaft ihren Arbeitsplatz erhalten und jede Radikalisierung im Innern vermeiden. Wir wollen so an einem Beispiel praktisch mit der europäischen Schicksalsgemeinschaft beginnen. Wir wollen dem gemeinsamen Willen der gesamten deutschen öffentlichen -Meinung, wie er in unseren Parlamenten, wie er in den großen politischen Parteien und in den Wahlversammlungen, in den Kundgebungen der Parteien, der Gewerkschaften, der gesamten Arbeiterschaft und Unternehmerschaft und in der deutschen Presse hervorgetreten ist, Ausdruck verleihen.
Der Gedanke ist etwa der, daß man der Interalliierten Reparationsagentur die Anlagen übergibt, damit sie sie nach den ihr gegebenen Richtlinien den Empfängernationen zuteilt. Die Empfängernationen oder die von ihnen bestimmten Stellen bringen die Anlagen in eine neu zu gründende Gesellschaft ein, die den Betrieb der Hütte übernehmen wird, an der wir dann selbst beteiligt werden. Einzelheiten wären noch zu besprechen, und ich richte an den Herrn Wirtschaftsminister die Bitte, mir wegen der Dringlichkeit der Sache — weil gerade jetzt die Außenminister oder die Chefs der Regierungen in Washington versammelt sind — noch heute Gelegenheit zu einer Rücksprache zu geben, in der ich noch detaillierte Vorschläge zur Frage der Internationalisierung machen werde.
Ich bitte nun den Herrn Präsidenten, mir zu gestatten, einen kleinen Abschnitt aus einer französischen Zeitung zu verlesen. Meine Damen und Herren: das Ausland ist nicht in allen Teilen so unverständig, wie es manchmal scheinen möchte. Vor mir liegt eine Kritik der französischen Zeitung „Le Monde" vom 1. Juli 1949, also aus der.Zeit noch vor der Bildung der Regierung hier. Da heißt es:
Es handelt sich um den Plan der Internationalisierung. Im Falle der Thyssen-Werke würde es sich zwar nur um eine teilweise Internationalisierung handeln. Immerhin stellen diese Werke 2 Millionen Tonnen Stahl jährlich her. Die Übernahme dieser Werke wäre also für Frankreich ein nicht geringer Zuwachs und ein einträglicher Versuch. Bevin kann sich auf bereits getroffene und wiederholt geänderte Abmachungen berufen. Zweifellos lösen die Demontagen im Augenblick starke Bedenken aus. Die Demontagen stehen im Widerspruch zu der alliierten Besatzungspolitik in Deutschland. Der Gedanke des Wiederaufbaus läßt sich mit einer erheblichen Verkleinerung des Industriepotentials nicht unter einen Hut bringen. Ein Land, das bereits 1,2 Millionen Erwerbslose zählt, würde von einer noch größeren Arbeitslosigkeit heimgesucht werden.
Durch die Demontagen wird eine psychologische Atmosphäre geschaffen, die im Augenblick bestimmt nicht den Wünschen und Absichten der Besatzungsmächte entspricht. Bemüht man sich doch, in Westdeutschland eine neue Regierung und ein demokratisches Regime zu schaffen. Der Einwand, Bevins, daß es sich bei den Thyssen-Werken um ein Rüstungswerk handelt, bleibt noch zu diskutieren. Nicht nur Tanks und Kanonen werden aus Stahl hergestellt, sondern auch Lokomotiven, Fahrzeuge und viele Werkzeuge. Wem will man weismachen, daß Deutschland durch die Belassung einer zusätzlichen Stahlkapazität von zwei Millionen Tonnen wieder gefährlich wird, nachdem die französische Industrie demnächst 15 Millionen Tonnen Stahl erzeugen wird und die Vereinigten Staaten sogar nahezu 100 Millionen Tonnen Stahl jährlich produzieren? Das deutsche Angebot verdient beachtet zu werden. Wenn triftige Gründe vorliegen, wird man es sicher ablehnen müssen. Aber als triftige Gründe können nicht die Argumente angesehen werden, die man bisher immer vorgebracht hat und denen nicht der Gedanke der Wiedergutmachung oder Sicherheit, sondern weit weniger lobenswerte Motive zugrunde liegen.
Es dürfte für Sie interessant sein, diese Ausführungen der französischen Zeitung „Le Monde" zu hören.
Meine Damen und Herren, ich komme damit zum Schluß. Ich möchte auf ein Erlebnis verweisen, das viele von uns gestern abend hier im Hause hatten. Es sprach zu uns der bekannte Journalist Armstrong, den Sie aus manchen Publikationen in „Readers Digest" bereits kennen. Er hat im wesentlichen in fünf Punkten sein Programm uns Deutschen gegenüber umrissen: erstens, daß es an der Zeit sei, keine Rachegefühle untereinander, unter den Völkern mehr zu pflegen; zweitens einen gemeinsamen Aufbau zu beginnen, in erster Linie gerichtet auf Wohnstätten und Schulen. Drittens sagte er: Laßt uns Deutschland, das industrielle Herz Europas, in die Familie der friedlichen Völker aufnehmen! Viertens: Laßt uns eine Weltorganisation gründen, um die Macht und den Frieden der Welt zu begründen, Deutschland zur Kameradschaft der Nationen zu zählen, welche die Abwehr gegen die Gewalt sichern. Und fünftens und letztens: Wir wollen moralische und geistige Werte in unseren Völkern aufrichten und erhalten. — Ich glaube, daß das überwiegend, wenn nicht einheitlich der Wunsch auch dieses Hauses ist.
Ich möchte mir vorbehalten, nach der Bekanntgabe der Stellungnahme der Regierung zu dieser Erklärung namens der Fraktionen, für die ich gesprochen habe, einen Antrag zu stellen. Im übrigen beziehe ich mich noch einmal auf die erbetene Rücksprache mit den Vertretern unserer Regierung am heutigen Abend.