Meine Damen und Herren! Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich noch mitteilen, daß sich der Herr Bundeskanzler und einige andere Mitglieder des Kabinetts zur Zeit noch in den bekannten Besprechungen auf dem Petersberg befinden und bis zur Stunde noch nicht haben eintreffen können.
Wir treten nunmehr in die Tagesordnung ein und kommen zum ersten Punkt:
Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung
der Bundesregierung.
Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Professor Dr. Schmid das Wort.
Dr. Schmid ': Meine Damen und Herren! Es ist in diesem Raum eine gute Woche lang sehr viel von Demokratie und fast noch mehr von Freiheit gesprochen worden. Vielleicht werden die Geschichtsschreiber einst dieses Gebäude noch das Haus der Freiheit nennen ... Es ist hier insbesondere in sehr beredten Worten das Regierungsprogramm dem deutschen Volk geradezu als eine Art von Magna Charta der Freiheit vorgestellt worden. Und manchmal erschien mir im Lobpreis gewisser Redner der Herr Bundeskanzler als eine Art von Drachentöter, der mit dem neidlichen Schwert seiner Regierungserklärung den Weg in eine blühende Zukunft geöffnet hat, einen Weg, der im wesentlichen von den Sozialdemokraten verstellt zu sein scheint. Man hat mit sehr bewegten Worten gewisse Gefahren an die Wand gemalt, die dem deutschen Volk gerade von diesen Sozialdemokraten drohen: die Gefahren der Planwirtschaft, die man seltsamerweise in diesem Hause so gern Zwangswirtschaft nennt, so als könnten sich manche Leute Planung und Ordnung nicht anders denn als Produkt von Kommando und Zwang vorstellen.
Dabei schien gestern noch die Planwirtschaft gar nicht .so abwegig zu sein! Ich erinnere Sie, meine Damen und Herren auf den Bänken vor mir, an den Artikel 5 Ihres Ahlener Programms, den der Abgeordnete Blank so beredt und so seltsam ausgelegt hat, wie es ein Geschäftsführer des weiland Hansa-Bundes, nicht besser hätte tun können.
Es ist schade, daß unser Kollege von Brentano nicht da ist; ich hätte ihn daran erinnert, wie freudig er sich seinerzeit zur hessischen Verfassung bekannt hat, die nicht nur die Planwirtschaft, sondern, Herr Kollege Euler, ich glaube auch die Sozialisierung zum Inhalt des Staatsgrundgesetzes von Hessen machte. Sehen' Sie, in solchen Dingen, die weit jenseits der Sphäre liegen, wo Güte und Bosheit der Menschen etwas zu bewirken vermögen, manifestiert sich gelegentlich ein sehr altes Phänomen, das den Betrachter der Zeitläufe melancholisch stimmen kann — das Phänomen nämlich, daß im ersten Schock eines Zusammenbruchs fast alle sich auf die immanenten Tendenzen einer Epoche zu besinnen pflegen, daß sie in solchen Zeiten klarer sehen, was die tieferen Ursachen des Zusammenbruchs gewesen sind, und daß sie in der I Auflockerung durch den Schock — es gibt auch politisch eine Schocktherapie — bereiter als sonst sind, Konsequenzen zu ziehen. Nach der ersten Erholung beruhigt man sich, man atmet auf — „die Dinge sind ja längst nicht so schlimm" —, das Gesetz der Trägheit wirkt, und man strebt nach dem Ruhebett des Gewohnten zurück.
Meine Damen und Herren, ich sagte einleitend, man hat hier viel von Demokratie und von Freiheit gesprochen. Aber es ist ganz natürlich, daß jeder von seiner Demokratie und ein wenig von seiner Freiheit gesprochen hat; und das ist nicht weiter verwunderlich. Demokratie ist wie jedes geschichtlich gewordene Phänomen ein recht vielgestaltiges Ding in seiner Erscheinung und in seinen Möglichkeiten. Aber etwas ist doch unter allen Hüllen bleibende Substanz: die Trias der Postulate der Demokratie, als da sind: Freiheit als Selbstbestimmung, Gleichheit und die Gründung aller Dinge im Recht.
Man spricht gern über diese Namen, und es ist meistens alles ganz richtig, was darüber gesprochen zu werden pflegt. Nur wird oft der Fehler begangen, daß man davon spricht, als sei es gleichgültig, in welcher Zeit und an welchem Ort man davon spricht. Aber diese Postulate haben die Möglichkeit zur Realisierung immer nur in einem Hier und Jetzt. Man muß da schon konkret fragen, welche Freiheit und wessen Freiheit, welche Gleichheit und wessen Gleichheit ist gemeint und was für ein Recht und für wen dieses Recht sein soll: Recht als ein Ding zum Festhalten von Privilegien oder als ein Ding zur Abwehr des Eindringens des jeweils dritten Standes in die bisher verwehrten Bereiche — oder soll das Recht ein Ding sein zum Erwerb von Rechten für die, die noch nicht genug davon haben; ein Ding, das ihnen Tore in Bereiche öffnen kann, die ihnen bisher verschlossen waren. Wie seltsam man vom Recht denken kann, dafür gibt es kaum ein einleuchtenderes Beispiel als die bekannte Rede eines gewissen Junkers Otto von Bismarck aus dem Jahre 1847, wo er als göttlichem und menschlichem Recht widerstreitend darstellte, daß die adligen Grundbesitzer zur gleichen Grundsteuer herangezogen werden sollen wie die bürgerlichen. Das war durchaus „sittlich" gemeint und keine Tartufferie.
Meine Damen und Herren, was hier in diesen Tagen im Namen der individuellen Freiheit vertreten worden ist, das waren zum großen Teil Relikte des Nationalliberalismus der Wilhelminischen Zeit.
Es war weitgehend der sehr respektable Honoratioren-Liberalismus von Besitz und Bildung — der zu seiner Zeit wohl eine höchst moderne und die Welt reich befruchtende Sache gewesen ist. Aber leider haben heute in unserem Volk nur wenige den dafür erforderlichen Besitz, und die Bildung ist leider nicht immer dort, wo solcher Besitz sich findet.
Was einigen der Vertreter und Lobpreiser dieses Wesens im Denkbild vorschwebt, das wirkt sich real aus — nicht gewollt, aber es wirkt sich nun eben einmal aus als die Freiheit des reichen Mannes, der sein Gesinde und seine Klientel ordentlich behandelt.
— Ich glaube nicht, Herr Kollege Euler, obwohl vielleicht bei Ihnen die Generationenfrage eine Rolle
spielen mag. Jene Gleichheit, an die jene Redner dachten, wirkt sich aus — nicht gewollt, aber real
zur Gleichheit der Chance innerhalb der Koterie auf der einen Seite und zur bunt dekorierten Uniformität des Sich-Abfindens mit dem sozialen Dualismus auf der andern Seite. Wir Sozialdemokraten aber möchten auch für die Freiheit des armen Mannes reale Unterbauten schaffen. Und wenn Sie in diesem Fall vom Rechte sprechen, Herr Kollege Euler, dann denke ich daran, daß Demokratie für uns nicht schon darin bestehen kann, daß es den armen Leuten wie den reichen Leuten verboten ist, Brot zu stehlen!
Herr Dr. Ewers hat uns ein Idealbild seiner Demokratie und seiner sozialen Gerechtigkeit entrollt, ein Bild, auf dem ich manche Züge entdeckte, die mir in meiner — frühen — Jugend die Lektüre von Gustav Freytags „Soll und Haben" so sympathisch gemacht haben. Aber so ehrenwert das alles ist — und es ist durchaus ehrenwert —, es ist das die Sozialphilosophie des weiland Junkers von der Marwitz. Das ist die gute alte Zeit. Es ist die Welt des Immermannschen „Oberhof". Aber wo dieser Oberhof einst stand, Herr Dr. Bucerius, da stehen heute — Ihnen wohl bekannt — Zechen und Hütten. Und die Probleme, die dieser Wandel aufwirft, löst man nicht mit der sozialökonomischen Weisheit Onkel Bräsigs, daß die Armut von der Powerteh komme.
Letzten Endes läßt sich diese Auffassung von Demokratie in dem Satz resumieren: Demokratie ist dort, wo die Leute einem glauben, daß sie Ursache haben, mit ihrem Los zufrieden zu sein; und die Feinde der Demokratie — die „subversiven Elemente", wie man sie einstmals nannte —, das sind jene, die den armen Leuten Zweifel darüber erwecken, daß diese Welt der Väter die beste aller möglichen Welten sei.
Dagegen steht unsere Auffassung, von Demokratie, die lautet: Demokratie ist nur dort eine lebendige Wirklichkeit, wo man bereit ist, im Anruf des jeweiligen Hier und Jetzt die sozialen und ökonomischen Konsequenzen aus ihren Postulaten zu ziehen.
Dazu gehört einiges. Dazu gehört, daß man den Menschen herausnimmt aus der bloßen Objektsituation — nicht nur im formalpolitischen Bereich, sondern auch und gerade dort, wo der Schwerpunkt seines Lebens liegt, nämlich im ökonomischen und im sozialen Bereich. Es lohnt sich manchmal, meine Damen und Herren der Rechten, Karl Marx zu lesen. Wenn Sie die Seiten lesen, die er über die Selbstentfremdung des Menschen durch die Maschine geschrieben hat, dann werden Sie einige der schönsten Seiten gelesen haben, die je einen Beitrag zu einer humanistischen Konzeption des Verhältnisses des Menschen zur Welt gegeben haben. Wir müssen aber den Menschen aus dieser Objektsituation unter den Gegebenheiten dieses Jahrhunderts herausnehmen, das — wenn Sie wollens: Gott sei's geklagt — ein Jahrhundert der Maschine ist und ein Jahrhundert der Vermassung.
Weiter muß man dann den Menschen herausnehmen wollen aus dem Verfallensein an die Krisen, die das notwendige Produkt der zügellosen Wirtschaft sind, die Sie so gerne und so idyllisch die „freie" nennen. Dazu gehört weiter, daß man dem Menschen, der zur Lohnarbeit gezwungen ist,
erträgliche Arbeits- und Lohnbedingungen schafft durch die Brechung des Monopols der Eigentümer der Produktionsmittel bei der Bestimmung der Arbeitsbedingungen. Und da muß man zuerst die industrielle Reservearmee demobilisieren, die Sie von Frankfurt aus mobilisiert haben!
Das erfordert einige Strukturveränderungen in unserer Gesellschaftsverfassung. Es erfordert, daß man den Betrieben - das heißt dort, wo die Menschen dieses Volkes den größten Teil ihres Lebens zubringen — eine Verfassung schafft, die mindestens das an Mitbestimmung bringt, was die konstitutionelle Monarchie schon vor hundertfünfzig
Jahren im Staate geschaffen hat. Es bedingt weiter, daß die Wirtschaft — mit indirekten Mitteln natürlich — geplant und gelenkt werden muß, und zwar unter gleichwertiger Beteiligung der Organisationen der Arbeiterschaft. Als ich am ersten Tage von da drüben rechts einen Zwischenruf hörte: „Na, da wird was Schönes herauskommen!", da habe ich mich ein kleines bißchen geschämt.
Es bedingt weiter, daß man die Schlüssel- und Grundstoffindustrien in Gemeineigentum überführt.
Denn Demokratie als Bestimmung der Geschicke eines Volkes durch das Volk selbst gibt es nur dort, wo die Schalthebel der Wirtschaft nicht in Händen von Gruppen liegen, denen , ihre wirtschaftliche Macht die Möglichkeit gibt, sich der demokratischen Kontrolle — jedenfalls einer wirksamen demokratischen Kontrolle — zu entziehen.
Wenn Sie hierbei von Kommandowirtschaft sprechen und wenn es Ihnen beliebt, Parallelen zur Hitlerschen Zwangs- und Kriegswirtschaft zu ziehen, dann frage ich Sie: Gibt es denn als Kontrast zu Gesetzlosigkeit und Planlosigkeit nichts anderes als den Kasernenhof? Kann man sich als Kontrast denn nicht vorstellen, daß an die Stelle eines erbarmungslosen Mechanismus eine Ordnung tritt, die der vorsorgende Verstand des Menschen geschaffen hat?
Es ist seltsam, daß sich sehr warmherzige Menschen, die hier gesprochen haben, so gegen diese Möglichkeit sträuben. Aber, meine Damen und Herren, Warmherzigkeit konsumiert sich nicht darin, daß man der Arbeiterschaft versichert, wie leid einem die Proletarisierung tue, und daß man sich möglichst viele kleine selbständige Existenzen wünsche, sondern sie erfüllt sich darin, daß man ohne Ressentiment die Konsequenzen daraus zieht, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung in Gottes oder in Teufels Namen die Arbeiterschaft eben weithin proletarisiert hat
und daß sie bewirkt hat, daß auch die „kleine selbständige Existenz" das Privileg weniger geworden ist.
Wenn man hier den Versuch gemacht hat, Karl Marx und was sich über ihn hinaus entwickelt hat, mit Adam Smith zu widerlegen, so darf ich sagen, meine Damen und Herren: die Wirtschaftsgeschichte des 19. und des halben 20. Jahrhunderts ist doch ein einziges Zeugnis dafür, daß man gezwungen war, wenigstens etwas von dem zu korrigieren, was die Epigonen von Adam Smith über die Menschheit gebracht haben.
Man hat hier den Wagemut des unternehmenden Menschen gelobt, man hat die Zeiten gelobt, die
charakterisiert sind durch Reglementslosigkeit - gut! —, man hat hier an den Pioniergeist der Neuen Welt appelliert. Aber, meine Damen und Herren, alle diese Dinge hatten ihren Preis, und dieser Preis war die Brutalität des Menschen gegen den Menschen. Der Preis, den man dafür zu zahlen hatte, war das Gesetz des Dschungels!
Jenen, denen der Pioniergeist so gefällt,
nöchte ich das Wort der „Pioniere" in Erinnerung rufen: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer!" — Die Indianer haben für den Pioniergeist bezahlt!
Und wie ist es mit dem Wagemut und mit der Reglementslosigkeit? Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht wissen sollten, was sich in der klassischen Zeit der Herrschaft dieser Theorien ereignet hat: es lohnt sich auch heute noch, die Enqueteberichte des englischen Unterhauses aus der Mitte des letzten Jahrhunderts zu lesen!
Man hat versucht, diese Dinge zu korrigieren, in Etappen zu korrigieren, zuerst dadurch, daß man sozialpolitische Maßnahmen einführte, insbesondere die Sozialveisicherung. Aber ich erinnere mich — aus der Literatur —, daß, als diese Dinge eingeführt wurden, auf den rechten Bänken des Reichstags davon gesprochen wurde, daß es unmoralisch sei, die Menschen zwangsweise zu versichern. Dann hat man versucht, eine neue Wirtschaftsgesinnung lebendig zu machen, und es sind hier einige große Dinge geschehen. Ich nenne nur den Bischof Ketteler, und ich nenne eine so leuchtende Persönlichkeit wie Wichern. Ich spreche nicht von denen, die sich plötzlich des Arbeiters erinnerten, weil sie fahen, daß sie eine Klientel verlieren könnten; ich spreche von denen, denen es ernst gewesen ist. — Aber auch diesen Menschen hielt man manches entgegen und sprach von der Sünde der Selbsterlösung, zu der sie die Versuchung anlegten.
Dann kam die nächste Etappe: der Versuch, das Arbeitsrecht zu modernisieren, charakterisiert dadurch, daß an die Stelle der Gesindeordnung der Tarifvertrag getreten ist. Ich habe mich in meiner Dissertation noch damit abquälen müssen, nachzuweisen, daß der Tarifvertrag nicht gegen die guten Sitten verstößt.
- So historisch ist das nicht. Sie haben damals alle schon gelebt, meine Damen und Herren!
Und nun muß man weitergehen. Wo man stillsteht, geht man zurück. Man muß weitergehen zur strukturellen Wandlung unserer Gesellschafts- und Sozialverfassung.
— Meine Damen und Herren, es gibt manchen, der es nicht merkt, daß er Marxist in seinem Anderssein ist. — Der Groschen fällt schon, warten Sie mal!
Sie sprechen so gern von den ewigen Gesetzen der Wirtschaft.
Die Wirtschaftsgesetze sind nicht ewig, sie sind historisch.
Auch der Marxismus ist nicht ewig!
— Ich gönne Ihnen die Freude, meine Damen und Herren, sich uns turmhoch überlegen fühlen zu können. — Diese 'Gesetze sind abhängig von bestimmten Gegebenheiten, die die Zeit schafft und wegnimmt, und darum wandeln sich diese Gegebenheiten in jeder Generation, und so wandeln sich auch die Anliegen, in denen sich der Kampf des Menschen gegen die Tyrannei des Mechanismus der gesellschaftlichen Gebilde verkörpert. Wer da glaubt, es genüge, sozial im sozialkonservativen Sinne zu sein, um dem Gebot der Zeit gerecht zu werden - das kleine Häuschen und der Schrebergarten für „die Leute" —, der mißversteht die Impulse, die seit hundert Jahren die Arbeiterbewegung tragen.
Der Arbeiter will nicht, daß man ihm aus guter Gesinnung etwas schenkt.
Er will keinen Paternalismus à la Salazar. Ihm genügt nicht, daß man „es gut mit ihm meint". Man sollte sich sein Bild von der deutschen Arbeiterschaft nicht allzusehr aus den Romanen Rudolf Herzogs holen.
— Da wäre es schon besser, Herr von Rechenberg, wenn man sich das Bild der Unternehmerschaft aus der „Union der festen Hand" eines gewissen Erik Reger holen würde,
den Sie jetzt im „Tagesspiegel" lieber lesen, als Sie ihn vor 15 Jahren gelesen hätten.
— Es ist schade, daß Sie das Buch nicht kennen. Sie würden sehr viel darin wiederfinden, was Ihnen autobiographisch bekannt sein dürfte.
Meine Damen und Herren, die Arbeiterschaft ist nicht mehr „Gesinde", der Kumpel ist - trotz der schönen Knappentracht eines Kollegen im Hause — nicht mehr der „Knappe", und der Unternehmer ist nicht mehr der „Meister". Die Arbeiterschaft verlangt, daß man sie als Klasse — und nicht als romantischen Berufsstand - in die Lage versetzt, in rechtlich geordneter Weise über sich und die ökonomischen und politischen Voraussetzungen ihrer sozialen Existenz zu bestimmen.
Das macht gewisse — bedeutsame - strukturelle Veränderungen innerhalb unserer Ökonomie und Soziologie notwendig. Solange diese Dinge nicht in Angriff genommen werden, wird es, fürchte ich, unruhig bleiben in diesem Lande.
Die Arbeiterbewegung ist doch nicht nur eine Lohnbewegung, sie ist eine Freiheitsbewegung!
Sie ist der Aufbruch derer, die bisher für ihr tägliches Brot Fremden zu gehorchen hatten, einer Welt zu, in der die Gebotstafeln für den Erwerb des täglichen Brotes von ihnen selber aufgerichtet sein würden. Ich weiß, man sagt in Ihren Reihen
gern: Utopie, ganz schön, Schwarmgeister usw. Aber, meine Damen und Herren, haben Sie denn keinen Sinn für die Großartigkeit und für den Realismus dieser Impulse? Diese Impulse sind so großartig und so realistisch, wie die Ihrer geistigen Väter und Ihrer wirklichen Vorväter 1789 und 1848 einst gewesen sind.
Damals sagte man auch: „Na, was sollen denn diese „Bürger" regieren können! Haben sie ja nicht gelernt!" Wer da glaubt, wir meinten, auf diese Weise würde auf dieser Erde ein Paradies erblühen, das den Schmerz und das Leid nicht kennt, der täuscht sich. Es wird auch dann, wenn wir das, was wir verwirklichen müssen und wollen, verwirklicht haben werden, noch Raum genug geben für christliche Nächstenliebe!
- Wenn Sie glauben, mir darauf antworten zu können, alle diese Dinge seien ja leicht in Ordnung zu bringen, wenn man die rechte und gute Gesinnung habe, und wenn Sie den Geist von Caux beschwören und anrufen, — meine Damen und Herren, es gibt leider auf dieser Welt einige harte Dinge, wie Angebot und Nachfrage, Verzinsung und Rendite, die dem guten Willen gelegentlich Schranken anlegen.
Ich habe, als ich einige Redner hier hörte, manchmal an Verse einer sehr unheiligen Oper denken müssen: „Ein edler Mensch, wer wäre es nicht gerne? Doch leider, die Verhältnisse, die sind nicht so!" Es ist die Drei-Groschen-Oper, wenn Sie es nicht wissen sollten.
Es ist hier auch vom Klassenkampf gesprochen worden. Manche Ausführungen darüber schienen mir fleißige Lektüre weiland Rumpelstilzchens zu verraten.
Meine Damen und Herren, der Klassenkampf ist nicht von den bösen Sozis erfunden worden, den haben sie vorgefunden, und die Arbeiterschaft brauchte ihn lediglich aufzunehmen. Hätte sie ihn nicht aufgenommen — Herr Kollege Gockeln, Sie haben mir zugenickt —, stünden die Arbeiter dann heute da, wo sie jetzt stehen?
— Nein, sie stünden nicht dort.
Und nun will ich Ihnen etwas sagen: im demokratisch kontrollierten Staat, in dem das Machtmonopol übermäßig zusammengeballten wirtschaftlichen Eigentums gebrochen ist, kann ein gutes Stück Klassenkampf in seiner elementaren Form überflüssig werden.
Aber dieser Staat wird dann nicht als ein Staat konzipiert werden, der in erster Linie als Besitzschutzmaschine konstruiert wird.
Dieser Staat muß dann die res publica sein. Der aufgeblähte Staat ist scheußlich,
und jede Verabsolutierung des Staates ist unmenschlich.
— Wie freue ich mich, daß Sie rechts so klatschen!
Vor Zeiten hat man auf Ihren Bänken vom Staate gesprochen als dem rocher de bronze!
Bei Ihnen kultivierte man die Märchen vom Alten Fritz!
In Ihren Schulbüchern pries man den Vater Friedrichs des Großen mit dem Korporalstock als den Begründer des „modernen" Staates.
Es ist eine seltsame Sache, meine Damen und Herren: in gewissen Zeiten und bei gewissen Gelegenheiten sind es besonders die reichen Leute, die so wenig Staat als möglich haben wollen — die Polizei ausgenommen natürlich —, und wenn man genau hinsieht, dann erscheint ihnen der Staat offensichtlich dort am scheußlichsten, wo er als Finanzamt in Erscheinung tritt.
Wenn man sich bei Ihnen heute so über die Beamtenschaft aufregt — nun, vor Tische las man's da gelegentlich anders. Als man bei Ihnen das Monopol der Ämterpatronage hatte, meine Damen und Herren, da fand man den Staat nur dort richtig gefügt, wo recht viele Beamte als Säulen der Gesellschaft aufgereiht werden konnten.
- Herr Kollege Hilpert, Sie haben offenbar keine Ahnung, wie virulent das 19. Jahrhundert im 20. Jahrhundert noch sein kann. — Sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn Sie mit Ihren Zwischenrufen über die Stellenvermittlungsbüros der Parteien kommen, — erinnern Sie sich nicht mehr eines seligen Kösener SCs, erinnern Sie sich nicht mehr der Stellenvermittlungsbüros bei den Altherrenschaften der Korporationen?
- Ich sehe, daß sich in diesem Augenblick manche Anwesende mit viel Intensität in das Studium ihrer Akten vertiefen. —
Meine Damen und Herren, wir wollen sowenig Staat als möglich, aber soviel Staat als nötig!
Man stellt gelegentlich in diesem Zusammenhang auch die Kontroverse Unitarismus — Zentralismus. Meine Damen und Herren, das ist falsch gesehen! Was hier gemeint ist, ist doch, daß ein geballter Staat den einzelnen Menschen gerade von der Hinwendung zur res publica fernhält, daß er den Menschen zum Objekt anonymer bürokratischer oder anderer Gewalten macht. Das ist richtig. Aber das ist nicht anders, wenn ein Staat sechs Millionen Einwohner hat oder sechzig Millionen; von einer bestimmten Größe ab werden alle weiteren quantitativen Steigerungen gleich null oder gleich unendlich. Ich erinnere Sie an den bayerischen Etatismus, Herr Kollege Seelos, Sie kennen ihn gut. Ich erinnere Sie an den bayerischen Zentralismus. Fragen
wir eimal die Franken in diesem Hause; die wissen darüber etwas zu sagen. Was hier korrigiert werden will und korrigiert werden sollte, das kann man nach Ihren Rezepten nicht korrigieren; das kann man nur korrigieren, indem man sehr viel mehr staatliche Gewalt auf die Gemeinden verlagert, als es heute der Fall ist.
Dann bringen Sie den einzelnen Menschen nahe, sehr viel näher an die res publica heran. Aber ob der Staat fünf Millionen Einwohner oder sechzig Millionen Einwohner hat, das spielt im Verhältnis des einzelnen zur „Obrigkeit" keine Rolle mehr.
Man hat uns die Segnungen des Föderalismus in bewegten Worten gepriesen,
— ich werde dazu noch etwas sagen, lieber Herr Landsmann —, insbesondere die Sprecher der Bayernpartei. Sie haben den Anspruch erhoben, für Bayern zu sprechen, Herr Seelos. Ich weiß nicht, ob die existentielle Interpretation des Bayerntums, die Sie und Herr Dr. Besold gegeben haben, die richtige ist. Ich weiß es nicht. Vielleicht haben die beiden Herren auch nur Spaß gemacht.
Aber wenn sie so bewegt darüber geklagt haben, daß man sie in die Bundesrepublik „hineinvergewaltigt" habe — was meinen Sie denn, Herr Seelos, was ein Nürnberger „Föderalist" im Jahre 1803 gegen München gesagt haben mag? Oder ein Augsburger? Sehen Sie, die Geschichte geht nun einmal gelegentlich in Sprüngen voran. Das läßt sich nicht vermeiden, das ist ihre Gefährlichkeit und ihre Dignität. — Und dann, Kollege Seelos, Sie sind mir ein schöner Föderalist! Sie haben in Ihrer Rede verlangt, daß man dem Lande Berlin die Finanzgebarung kontrolliere, wenn man ihm Bundesmittel gibt. Stellen Sie sich einmal vor, es sagte nun einer: die Bayern erhalten doch Bundesmittel, also muß man doch kontrollieren, wie sie verwendet werden ...
— Etwas interessanter — finden Sie nicht auch? — als ein langweiliger Föderalist!
Der Föderalismus scheint es so an sich zu haben, Frau Kollegin Kalinke. Sie haben den Antrag Nr. 40 eingebracht, wo es heißt: bei der Zuwendung von Mitteln des Bundes an Berlin soll die Verwendung dieser Mittel an die Zustimmung eines von der Bundesregierung zu bestellenden Bundeskommissars gebunden sein. Vielleicht ist das sachlich richtig. Aber dann darf man nicht aus kleinen Liebhabereien
eine Religion des Absoluten machen wollen.
- Sie haben ein ausgesprochenes Talent, sich klar auszudrücken!
Herr Dr. Etzel hat einen Dithvrambus auf das bündische Prinzip gesungen. Das hat mich gefreut. Auch ich bin der Meinung, daß in dem bündischen Prinzip eine sehr humane und sehr schöpferische Kraft liegt. Aber das bündische Prinzip wollen wir doch heute nicht im Masstabe Krähwinkels aktualisieren, sondern im europäischen Maßstab!
Einer von Ihnen hat einmal gesagt, die deutschen Länder müßten im Gänsemarsch in Europa einmarschieren. Meine Damen und Herren, Europa ist kein Hühnerhof! So wird es nicht kommen.
— Einer von Ihnen, nicht gestern, sondern schon vor längerer Zeit.
Nun werde ich noch etwas sagen, und jetzt werde ich sehr ernst. Sie haben auch Österreich angesprochen. Ich will Ihnen nicht die Unehre antun, zu glauben, als ob Sie etwas wie „Anschluß" nazistischer Art gemeint hätten. Das haben Sie nicht getan. Was aber hier geschehen ist, ist höchst gefährlich, denn es klang, etwas an von. dem Mythos des „Heiligen Reichs der Deutschen", als Mythos großartig, aber als Realität eine bittere und gefährliche Sache.
Sehen Sie, diese Art von Romantik hat die Eigenschaft, über ihre Begründer hinauszuwachsen. Es lohnt sich manchmal, ein bißchen Hegelsche Logik zu studieren, Herr Seelos! Sehen Sie, solche Dinge pflegen in der nächsten Generation umzuschlagen. Ein Mann wie Constantin Frantz ist auch ein Verläufer des Nazismus gewesen,
nicht nur wegen seines Antisemitismus! Sehen Sie: es hat wenig Dinge zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben, die so großartig und lauter und rein gewesen wären wie die deutsche Nationalbewegung, etwa verkörpert in der frühen Burschenschaft. Aber diese Bewegung fand sehr bald ihren Treitschke, und damit wurde sie pervertiert: sie wurde zum Impuls des kleindeutschen PreußenDeutschland und machte dieses zur imperialistischen Macht Kontinental-Europas.
Weil ich mir vorstellen muß, daß auch Ihr neuer romantischer Überschwang einmal seinen Treitschke finden könnte, deswegen rufe ich Ihnen zu — im Guten —, meine Herren:
Nehmen Sie diesen Traum von Ihrer Stirn und kehren Sie zurück zu einer nüchternen Betrachtung dieser Dinge!
Herr Dr. Richter hat hier in einem anderen Ton von ähnlichen Dingen gesprochen. Das war schon eher alldeutscher Anspruch virulenter Art! Wir haben das aber bei Schönerer und Rudolf Jung schon besser gelesen, — den beiden Autoren, die das Geschichtsbild eines Linzer Realschülers namens Adolf Hitler gebildet haben. Und, Herr Kollege Richter, durch die Lektüre Mosleys ist es nicht besser geworden.
Ich glaube, daß Anlaß besteht — und damit erweise ich Ihnen eine Ehre —, auf diese Dinge genau zu achten und rechtzeitig das Paroli zu bieten, das wir seinerzeit zu bieten vergessen haben!
Sie haben sich, Herr Dr. Richter, darüber beklagt, daß in diesem Hause einige dagegen gewesen sind, daß „Einigkeit und Recht und Freiheit" gesungen wurde, und Sie haben gemeint, diesen Leuten liege offenbar nichts an Einigkeit und Recht und Freiheit. So einfach ist es nicht. Wir wollen
kein Lied zur Nationalhymne haben, das dadurch entehrt worden ist, daß dieses Volk es zwölf Jahre lang zur ersten Strophe des Horst-Wessel-Liedes degradiert hat!
Sie haben, Herr Dr. Richter, mit bewegten Worten über das Unrecht geklagt, das nach Abschluß der Kämpfe den Deutschen im Osten und Westen zugefügt worden ist. Hierzu ist zu sagen, daß wahrlich viel geschehen ist, was sich neben Tatbestände stellen kann, für die man in Landsberg Leute gehängt hat.
Aber das Recht, hier moralisch anzuklagen, haben doch wohl nur diejenigen, die sich seinerzeit über Sauckel, über die Austreibung und Ausrottung der Juden und Polen, über Lidice, über Auschwitz und über Oradour wenigstens geschämt haben!
Wenn hier von einigen Fällen späterwachten Widerstandsgeistes gesprochen worden ist, dann sage ich, meine Damen und Herren: Konversionen nach Stalingrad sind demokratisch uninteressant.
Die Regierung hat ein lautes Bekenntnis zu den föderativen Grundlagen des Grundgesetzes abgegeben. Herr Dr. Seelos, Sie waren wirklich undankbar gegen die Alliierten; denen verdanken wir doch das meiste davon.
Der Föderalismus, zu dem sich die Regierung bekannt hat, regt in mir zwei Fragen an: Meinen Sie Föderalismus assoziativ oder dissoziativ? Meinen Sie Föderalismus als Vereinigung dessen, was getrennt ist, oder als Trennung von etwas, was vereint ist? Wir sagen Ja nur zu der ersten Möglichkeit, Herr Kollege Kiesinger, und da sagen wir freudig Ja. Wir hoffen, die Regierung meint es auch so .... Nun bitte ich — mit allem Respekt —, mich an die Regierungsbank wenden zu dürfen. Gewisse Personen dort erwecken bei uns Zweifel. Diese Regierung wird, wenn wir sie ganz richtig bezeichnen wollen, von uns als Regierung AdenauerSchäffer bezeichnet werden müssen.
Einige der Hüter der Verfassung haben seinerzeit gegen dieses Grundgesetz gestimmt,
weil es ihnen zu unerträglich zentralistisch erschien. Da haben wir nun den Verdacht — Sie sollten sich also über unsere Zweifel nicht wundern, Herr von Brentano —, daß vielleicht einige dieser Herren denken könnten, jetzt auf organisatorischem Wege das schaffen zu können, was ihnen in Bonn zu schaffen nun einmal nicht gelungen ist. Wir werden darüber wachen, daß Deutschland nicht weiter dissoziiert wird
und daß damit der Preis, den Sie, Herr Bundeskanzler, für den bayerischen Sukkurs zahlen mußten, nicht allzusehr auf Kosten der deutschen Zukunft geht.
Vielleicht werden wir dabei auch Sie zum Bundesgenossen erhalten, Herr Bundeskanzler.
Wenn man sich anschaut, was sich in gewissen Ländern in den Staatskanzleien alles an politischer Energie und an Politikfreudigkeit zusammengeballt hat, dann kann man — konnte man — gelegentlich Bilder unbeschreiblicher Komik sehen. Manche Staatskanzleien trieben nämlich Außenpolitik gegen andere Staatskanzleien.
Es gab da etwas wie eine Doktrin des innerdeutschen Gleichgewichts. — Sie rufen „Tübingen". Ich will Ihnen gleich etwas sagen. Die Tübinger Staatskanzlei bestand zu meiner Zeit aus zwei Beamten, als die Freiburger aus 34 bestand.
Vielleicht war das notwendig. Man hat damals Legationsräte noch und noch eingestellt, Gott sei Dank, denn jetzt haben wir wenigstens Protokollchefs zur Verfügung ....
Aber abseits dieser Scherze, meine Damen und Herren: nichts ist heute für dieses Volk notwendiger als eine ernsthafte und konsequente Außenpolitik, und hier muß ich sagen, daß mir die Zurückhaltung des Herrn Bundeskanzlers, kein Auswärtiges Amt zu errichten, höchst weise erscheint. Ob das aus Erkenntnis geschehen ist oder weil die Schaffung eines solchen Amtes die Geburtswehen der Kabinettsbildung verschlimmert hätte, das ist gleichgültig; wir freuen uns des Resultats.
Unser Staat ist noch nicht in der Lage, eine institutionelle Außenpolitik im klassischen Sinn zu treiben. Zu einer solchen Politik gehören eine Reihe von Voraussetzungen, von denen die wichtigste die Möglichkeit ist, sich seine Partner frei zu wählen.
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Die haben wir nicht. Es gehört dazu die Möglichkeit der Universalität der politischen Beziehungen. Es gehört dazu die Möglichkeit, dies zu einem System korrespondierender Röhren auszubauen, und es gehört die Möglichkeit dazu, den politischen Entschlüssen einen Zug zum Permanenten hin zu geben. Das alles können wir heute, wo wir unter Fremdherrschaft leben — noch leben —, nicht. Der Plafond des Raums für eine deutsche staatliche Außenpolitik ist das Besatzungsverhältnis. Das bildet den geometrischen Ort, auf dem sich die staatliche politische Aktivität, die wir leisten können, vollzieht. Jeder staatliche Akt, der darüber hinausreichen wollte, würde sich im Prisma der Hohen Kommission brechen müssen.
Außerdem: wir müssen noch ein wenig warten, bis gewisse Traditionen der Wilhelmstraße ausgestorben sind.
Es gibt mehr Nadolnys, als die Nadolnys selber wissen.
Wir können und wollen mit einer Tradition, die letztlich nur Ausspielen von Ost und West, „Rückversicherungsverträge" usw. kannte, nichts mehr anfangen.
Wir können auch nichts anfangen mit einer neuesten Tradition des Wilhelmstraßenfortsatzes: mit
den Abendlandrezepten im Sinne einer Option für die Politik westlicher Staaten, indem man Deutschland zum Instrument dieser Politik anbietet.
Auch dafür stehen schon Spezialisten in Deutschland an. Man sollte nicht den Fehler machen, im freudigen Streben, den Nationalismus früherer Zeiten in den Orkus zu werfen, zu glauben, Antinationalismus bedinge, daß eine deutsche Politik notwendig Funktion der nationalen Interessenpolitik fremder Länder sein müsse,
liegen diese Länder nun östlich oder mögen sie westlich liegen.
Wenn man dabei, wie es gelegentlich geschieht, vor der Gefahr der Selbstisolierung warnt — es gibt Zeiten, wo Isolierung das beste Mittel ist, um sich vor dem Aufgefressenwerden zu schützen. Denken Sie an das unvorsichtige Rotkäppchen!
Vielleicht sollten wir ein wenig an gewisse Maximen des letzten Jahrhunderts denken. Ich denke da an ein Wort Cavours: Italia fara da sè, Germania farà da sè! Deutschland wird sich aus sich selber bilden!
— Herr Seelos, Sie haben auf Außenpolitik studiert; ich weiß es. Ich bitte Sie um die Erlaubnis, als Dilettant gelegentlich einen Fehler begehen zu dürfen.
Und, meine Damen und Herren, die Leute, die eine solche deutsche Politik in ein System bringen könnten, sind als Team noch nicht vorhanden. Wir sollten uns daran gewöhnen, in der Geduld nicht nur ein Nichttun zu sehen, sondern eine höchst wirksame Kraft.
Sie würden mich äußerst mißverstehen, wenn Sie glaubten, daß diese Worte Ausdruck defaitistischer Gesinnung seien. Auch ohne Auswärtiges Amt und auch ohne Gesandtschaften und Botschaften ist ein Land wie Deutschland ein Agens der Politik in der Welt.
Deutschland ist durch sein Dasein, seine Masse, seinen Ort und durch seine Zukunft ein außenpolitisches Agens in potentia.
Dieses immanente Potential gilt es von Fall zu Fall zu aktualisieren.
Wir müssen als Volk eine deutsche Politik anlegen, das heißt eine Politik, die nicht Funktion fremden Willens ist, sondern Produkt des Willens dieses Volkes. Wir müssen es tun, um eine europäische Politik machen zu können,
das heißt eine Politik, in der begriffen ist, daß alles, was ist, Funktion gesamteuropäischer Ursachen ist und daß alles, was wir zu tun haben, auf Europa hinführen muß, sei es unmittelbar, sei es mittelbar im Reflex.
Man hat vom Primat der Außenpolitik gesprochen. Aber mir will scheinen, als ob einige der Kollegen, die es taten, damit das „Innere" der
Politik zu weit in den Hintergrund geschoben hätten. Jede Außenpolitik hat ihr „inneres" Substrat. Beide müssen aneinander angepaßt sein; sonst gibt es einen Bruch. Es ist keine wirksame Außenpolitik möglich ohne das rechte Verhältnis eines Volkes zu sich selbst. Solange ein Volk mit dem nicht fertig geworden ist, was ihm zu tun obliegt, um „in Verfassung" zu kommen — nicht im Verstande der Staatsrechtslehrer; ich meine das so, wie Lassalle das Wort verstanden hat, wenigstens im Sinne des Durchbruchs zum Entschluß, in Verfassung zu kommen —, kann es höchstens eine fragmentarische oder eine hysterische Außenpolitik oder eine solche der Unterwerfung treiben. Auf jeden Fall aber wird es — mag es diese oder jene Außenpolitik treiben — dem Untergang zutreiben.
Heute ist diesem Volke aufgegeben, sich im Kampf um die Verwirklichung einer lebendigen Demokratie zu integrieren — Demokratie als die politische Form des Willens eines Volkes zur Selbstbehauptung, zur Selbstbestimmung und zur Selbstachtung verstanden.
Das bedingt aber, meine Damen und Herren — und hier muß ich mich wiederholen —, daß man die sozialen und strukturellen Konsequenzen der Postulate der Demokratie, wie sie dieses 20. Jahrhundert und nicht das 19. Jahrhundert aufgerichtet hat, zieht. Nur wenn dieses Volk, das Volk der Arbeiter, der Städter und Bauern Deutschlands, weiß: in diesem Lande lebt man richtig, und das heißt: nach dem Gesetz dieser Zeit; und wenn es weiß: in diesem Lande lohnt es sich zu leben, wird es möglich sein, eine echte, systematische, eigenständige Außenpolitik zu treiben, die gleich weit entfernt ist von dem Surrogat der Selbstachtung, das Nationalismus heißt, wie von der Flucht in die Unterwerfung.
Politik heißt: das Notwendige möglich machen. Das Ziel unserer Politik muß sein, das Notwendige, nämlich die Wiedergewinnung der deutschen Freiheit und der deutschen Einheit, möglich zu machen. Aber man sollte sich vor der Versuchung hüten, über Schatten zu springen, nicht nur über den eigenen, sondern auch über die Schatten der Zeit. Es gibt kein Betrugen gegen die Fakten; es gibt darum auch kein Überspringen von Etappen. Man sollte nie aus dem Sinn lassen, daß man nur machen kann .,la politique de ses moyens", die Poli-tik der Mittel, die einem zur Verfügung stehen. Aber man sollte heute von den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, nicht zu gering denken! Man sollte nicht vergessen, daß es auf bestimmten Gebieten und in bestimmten Situationen eine potentielle Überlegenheit des Besiegten über den Sieger gibt. Wir sollten uns weiter davor hüten, uns in Fiktionen abdrängen zu lassen: man wird uns im Laufe der Zeit eine Reihe von „Freiheiten" anbieten; aber jede „Freiheit" engagiert korrespondierende Verantwortungen, das heißt, daß nur dort echte Freiheit ist, wo man funktionsmäßig in der Lage ist, sie zu realisieren. Manche „Freiheiten" darf man nicht annehmen, weil man sonst vielleicht die Freiheit schlechthin gefährden könnte. Der praktische und tätige Hinweis darauf, daß jeder, der sich auf die Totalität eines Sieges und auf gewisse Vorbehaltsbefugnisse in deutschen Angelegenheiten beruft, dafür auch mit erhöhter Verantwortung bezahlen muß, wird von uns manchen Verzicht auf halbe Lösungen bedingen; es wird aber der einzige Weg sein, um zur ganzen Lösung des Problems zu kommen, und damit zur Freiheit und Einheit Deutschlands. Das
Schädlichste, was es in der Politik gibt, ist, was Niccoio Macchiavelli „la via del mezzo" genannt hat. Er meint nicht den goldenen Mittelweg, sondern die Politik des halben Weges.
Es ist ganz klar, daß das erste konkrete Ziel der Außenpolitik der Regierung die Schaffung eines rechten Verhältnisses zu den Besatzungsmächten sein muß. Die äußere Form, in der dieses Verhältnis sich allein gestalten kann, ist das Besatzungsstatut. Man muß das richtig sehen. Das Besatzungsstatut ist kein Ausführungsgesetz zur Haager Landkriegsordnung.
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Die heutige Besetzung Deutschlands ist keine Sicherheitsbesetzung im Sinne der Haager Landkriegsordnung, sondern eine interventionistische Besetzung, das heißt eine Besetzung zu dem Zweck. fremden Mächten in Deutschland die Möglichkeit zu geben, bestimmte Dinge vorzunehmen, die sonst nach dem Gesetz der Souveränität nur von den Deutschen vorgenommen werden könnten. Das geschah bisher par ordre de mufti, unkontrollierbar und ganz nach dem freien Ermessen der Militärregierung.
- Das Besatzungsstatut, Herr Kollege Renner, hat in diese Dinge wenigstens den Anfang eines geordneten Verfahrens gebracht!
- Ich werde davon noch sprechen, verlassen Sie sich darauf. - Solange wir keinen Friedensvertrag haben, durch den wir gewisse Dinge als Rechtens anerkennen, ist alles, was hierbei geschieht. als im Bereich der Faktizität geschehen zu betrachten, und die Regierung sollte beim Anerkennen bestimmter Situationen vorsichtig sein, sei es im Sinne direkten Anerkennens oder im Sinne des Anerkennens durch konkludente Handlungen.
Das Wesentliche der Interpretation des Besatzungsstatuts wird durch die Praxis der nächsten Wochen geleistet werden müssen. Da wird im Verkehr zwischen Bundesregierung und Hoher Kommission die genauere Abgrenzung und Detaillierung der vorbehaltenen Sachgebiete zu erfolgen haben da muß über Art und Weise der Geltendmachung dieser Vorbehaltsrechte eine etwas klarere Vorstellung gebildet werden, als sie bisher besteht. Man sollte sich insbesondere davor hüten, bei internalliierten Anordnungen auf Sachgebieten, die die Alliierten sich vorbehalten haben, eine deutsche Unterschrift vorschalten zu lassen.
Man wird auch interpretieren müssen, was denn eigentlich „Kontrolle" im Sinne des Besatzungsstatuts heißt - ob das ein milderes Wort für „Anweisung" und „Befehl" ist oder, wie man uns in Mainz versprochen hat, ein grobes Wort für „Beratung" der Regierung durch die Hohen Kommissare, oder ob es mit dem identisch ist, was wir Einspruch nennen. Das alles wird man ausfechten müssen.
Die Sache mit der Abwertung der D-Mark war ein schlechter Start.
Es scheint so, als ob gewisse Einsprüche gegen den von der Regierung gewünschten Umrechnungssatz hauptsächlich von der Absicht bestimmt gewesen wären, gewissen Abnehmern von Ruhrkohle billigen Ruhrkoks zu sichern.
Wir sind auch der Meinung, daß es besser gewesen wäre, wenn die Bundesregierung dieses Haus rechtzeitig von diesen Verhandlungen unterrichtet hätte. Ich meine das nicht in dem Sinne, daß man nun alles, was zur Beratung stand, hier hätte erzählen sollen; aber den Rahmen, in dem sich das Verhandeln bewegt hat, hätte man diesem Hause vielleicht darlegen können.
- Ja, das hätte man gekonnt! Vielleicht hätten wir dabei dem Herrn Bundeskanzler einige Hilfe leisten können, und sei es nur durch den Hinweis darauf, daß in allen Devisenangelegenheiten der Hohe Kommissar der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber seinen beiden Kollegen ein hochqualifiziertes Stimmrecht hat.
Es hätte sein können, daß ein amerikanisches Presse-Echo auf ein solches Wort in diesem Hause dem Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland ein anderes Verhalten als das, das ihm beliebt hat, hätte nahelegen können.
Mir hat auch der Ton nicht gefallen, in dem der Beschluß abgefaßt worden ist.
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Herr Bundeskanzler! Mir hat auch nicht gefallen, wie Sie gestern dieses Hohe Haus abgekanzelt haben. Man sollte das Parlament nicht nur für einen Störenfried halten. Bei allem Respekt, den wir vor der Regierung haben, sind wir doch auf unseren beschränkten Untertanenverstand recht stolz.
Ich meine übrigens, daß die Bülowschen Lebenserinnerungen nicht die empfehlenswerteste Lektüre für einen demokratischen Staatsmann sind.
Es ist ganz klar, daß das Verhältnis zur Hohen Kommission so arbeitsergiebig wie möglich gestaltet werden muß. Aber das gelingt nicht immer dadurch, daß man nur Ja sagt. Oft wird durch ein „Nein" zur rechten Zeit ein besseres Verhältnis geschaffen als durch zuviel Ja.
Die Revision des Besatzungsstatuts ist eine dringende Notwendigkeit. Sie wird nicht ein Geschäft für Juristen, sondern eine Sache der Praxis sein. Diese Abänderung wird ausgekämpft werden müssen. Durch Finassieren werden wir hier nichts erreichen; denn Politik ist nicht Advokatur. Bei der Politik handelt es sich nicht darum, recht zu haben, sondern recht zu behalten,
und es handelt sich darum, Fakten anzuerkennen und Fakten anzugehen. Noch besser allerdings ist es, ein neues Recht zu schaffen, das die Gravamina gegenstandslos macht. Das wird man hier nur können, wenn man auch die Probleme, die die Besatzung aufgibt, auf eine andere als die nation al-staatliche Ebene hebt, nämlich auf die gesamteuropäische Ebene.
Es gibt keine konkretere politische Aufgabe im Großen, als das für alle Notwendige — nämlich Europa! — auch von Deutschland aus möglich zu machen,
nicht das Europa des Novalis, nicht das Europa der
Heiligen Allianz, auch nicht eine Europa-AG, son-
dern ein echtes Commonwealth, einen europäischen Bundesstaat, an den die europäischen Staaten von heute wesentliche Teile ihrer Souveränität abgeben.
— Ja, freiwillig! — Wir müssen endlich das törichte Dogma vom Monismus der Souveränität in die Wolfsschlucht werfen!
Dieses Europa kann nur Voll-Europa und nicht Klein-Europa sein; denn Klein-Europa wäre nichts anderes als ein Streifen an den Ufern der sieben Meere, ein amerikanischer Brückenkopf oder eine Verlockung für den Osten Darm ist der Eiserne Vorhang nicht allein ein deutsches Problem, sondern er ist ein europäisches Problem. Wir vergessen zu oft, daß der Eiserne Vorhang nicht von Stettin bis Hof, sondern von Stettin bis Triest reicht!
Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ist also ein europäisches Anliegen. Wir müssen uns aber klar sein, daß die Voraussetzung dafür, daß sie geschehen kann, eine Einigung der vier Besatzungsmächte über eine gemeinsame Deutschlandpolitik ist. Was können w i r dabei tun? Als Volk können wir uns dabei so verhalten, daß es den westlichen Besatzungsmächten - bei Gefahr des Verlustes ihrer Ehre — unmöglich wird, sich einem - vielleicht erwünschten — Diktat des Ostens zu fügen. Dafür müssen wir aber für bestimmte Dinge Beweis antreten: nämlich dafür, daß der Westen entschlossen ist, alles zu tun, um dem Osten das Leben möglich zu machen! Und, als Regierung können wir dabei folgendes leisten: nämlich nichts zu tun, was die Alliierten aus ihrer Verantwortung entlassen könnte, sei es durch vorzeitige Anerkennung bestimmter Situationen, sei es dadurch, daß man Ausweichtore öffnet. Es werden da manche Versuchungen im verführerischen Gewand der Erweiterung unserer Souveränitätsmarge an uns herantreten. Wir dürfen diesen Versuchungen nicht erliegen!
Die Voraussetzung für die Wiedervereinigung des Ostens kann man nicht ohne eine aktive BerlinPolitik schaffen. Es sind hier gute Worte über die Hilfe — die wirtschaftliche und finanzielle Hilfe —, die man Berlin bringen muß, gefallen, Worte, die ich ernst nehme. Wir müssen aber mehr tun als das. Wir müssen auch eine aktive Staatspolitik im Hinblick auf Berlin treiben.
Man hält mir hier das alliierte Veto entgegen. Mein Gott, ja; es wurde ausgesprochen. Aber wir können in diesem Haus — und man kann besonders auf Ihrer Bank, meine Herren Minister, Berlin so behandeln, als ob es heute schon das zwölfte Land der Bundesrepublik Deutschland wäre!
Man kann sich dabei so verhalten, daß das Plazet der Hohen Kommissare dereinst nur noch eine Formalität sein wird.
Über die Oder-Neiße-Linie ist nichts mehr zu sagen. Nur folgendes möchte ich hier — warnend — sagen: Beziehen wir in diesen Komplex nicht das Sudetenland ein! Bannen wir alle Vorstellungen vom weiland Großdeutschen Reich!
Die Sudetendeutschen müssen in ihre Heimat zurück und müssen dort gleichberechtigt mit den anderen Völkern Böhmens und Mährens leben in
einem Europa, das — ich variiere hier ein Wort Masaryks — eine höhere Schweiz werden muß!
Und was den Westen anbetrifft, so kann auch hier unsere Politik nur europäisch sein. Sie ist belastet mit einer Reihe von Hypotheken; aber wir sollten einsehen, daß diese Hypotheken nicht von ungefähr zu unseren Lasten in das Grundbuch der Geschichte eingetragen sind: Demontagen, Reparationen, Besatzungskosten, Grenzkorrekturen, Ruhrstatut und die Saar. Wir müssen versuchen, damit fertig zu werden, wir müssen versuchen, damit sauber fertig zu werden und unter Verzicht auf Fiktionen. Manches davon wird endgültig nur europäisch gelöst werden können; durch falsche nationalstaatliche Lösungen könnten wir Europa gefährden.
Jeder Redner hat von der Notwendigkeit der Bereinigung unseres bösen Verhältnisses zu Frankreich gesprochen. Ja, ja und nochmals ja! Das muß geschehen, aber es muß auf soliden Grundlagen geschehen und darf nicht nur auf Beteuerungen und moralische Überforderungen hüben und drüben gegründet werden. Man sollte von uns nicht verlangen, daß wir ständig im Büßerhemd herumlaufen. Darauf läßt sich eine Zukunft nicht aufbauen. Und wir sollten nicht von den Franzosen verlangen. schlicht zu vergessen. Nur wenn wir bereit sind, unsererseits den Beweis zu liefern, daß w i r nicht vergessen, warum alles so gekommen ist, werden wir den Franzosen sagen dürfen: Nun solltet ihr einiges vergessen!
Um dafür die Grundlagen zu schaffen, ist es nötig, klare Tatbestände zu setzen und alle Zwielichtsituationen zu vermeiden, aus denen die giftigen Fledermäuse des Nationalismus ausschwärmen könnten. Endgültig gelöst — gelöst auch in dem Sinne, in dem man von der Gelöstheit einer Haltung spricht — wird das deutschfranzösische Verhältnis erst dann sein, wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa unter Dach und Fach gebracht haben.
Manche meinen, das Ruhrstatut sei ein guter Weg dazu. Ich glaube es nicht. Ich fürchte, daß, das Ruhrstatut eher ein Hindernis auf dem Wege nach Europa sein wird als eine offene Tür. Wir werden darüber in den nächsten Tagen zu diskutieren haben; es liegt ja ein Antrag vor. Die Regierung wird sich entscheiden müssen — denn wir sind uns doch wohl alle einig, daß dieses Ruhrstatut transformiert werden muß —, ob sie glaubt, es könne besser dadurch transformiert werden, daß man es ausdrücklich anerkennt und so drei Stimmen in der Ruhrbehörde erhält, oder ob es nicht vielleicht sicherer dazu kommen könnte, wenn man das Statut nicht anerkennt und so eine neue Prüfung des Problems veranlaßt.
Und was nun die Saar anbetrifft, da habe ich zu meinem Bedauern — — Vielleicht fragen Sie, Herr Präsident, ob ich noch weiterreden darf?