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    Deutscher Bundestag - 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. September 1949 31 6. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 21. September 1949.. Geschäftliche Mitteilungen 31B Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung: Dr. Schumacher (SPD) 31C Dr. von Brentano (CDU) 42D Dr. Schäfer (FDP) 49D Nächste Sitzung 56D Die Sitzung wird um 14 Uhr 21 Minuten durch den Präsidenten Dr. Köhler eröffnet.
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    Rede von Dr. Kurt Schumacher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Meine Damen und Herren! Die Erklärung der Bundesregierung sollte nicht als etwas Isoliertes betrachtet werden. Sie gehört zusammen mit der Politik der Parteien, die heute die Bundesregierung bilden, mit den Parolen des Wahlkampfs, mit den Deklarationen nach dem Wahlergebnis, mit den Methoden der Kabinettsbildung und mit der Zusammensetzung des Kabinetts.
    Wollte man den Kardinalsatz der Regierungserklärung, daß die Bundesregierung die soziale Gerechtigkeit zum obersten Prinzip ihrer Handlungsweise nehmen wolle, als das Programm der Regierung voll akzeptieren, dann müßte man sagen: mit diesem Programm hätte der Herr Bundeskanzler am 14. August einen rauschenden Wahlsieg über die Politik seines Wirtschaftsministers und seines Vizekanzlers davongetragen.

    (Beifall bei der SPD. — Lachen in der Mitte und rechts.)

    Aber, meine Damen und Herren, Sozialpolitik kostet etwas, und der deutsche Besitz, der ja in seiner überwiegenden Mehrzahl hinter der neuen Bundesregierung steht, hat diese Regierung bestimmt nicht etabliert, um besonders große Aufwendungen für das Volk zu machen.

    (Zuruf rechts: Sie schließen von sich auf andere!)

    Die Bundesregierung ist jetzt mit einer Erklärung hervorgetreten, die eine Reihe sozialpolitischer, allerdings nicht genau akzentuierter Versprechungen enthält. Am deutlichsten ist sie eigentlich bei dem Versprechen der Steuersenkung geworden. Nun ist auch unsere Meinung, daß die Struktur des deutschen Steuerwesens stark umgebaut werden sollte, daß sie nach Ertrag und Rationalität nicht das ist, was unser Staatswesen nötig hat. Wenn wir aber die Steuersenkung als Hauptpunkt, als Grundlage der wirtschaftlichen Erholung betrachten wollten, dann käme die Steuersenkung in eine Konkurrenz mit den sozialen Leistungen auf der einen und den Besatzungskosten auf der andern Seite.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Die sozialen Leistungen und die Steuersenkung zusammen dürften sich kaum verwirklichen lassen. In Erkenntnis dieser Tatsache hat der Herr Bundeskanzler die sozialen Leistungen bereits von einer Reihe von Bedingungen abhängig gemacht, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie schon in nächster Zeit realisiert werden, nämlich von einer Wirtschaftsblüte, von entsprechenden Steuererträgnissen und ähnlichem mehr. So kommen wir wohl zu dem Schluß, daß die Steuersenkung als nahe Wahrscheinlichkeit vor uns steht, die sozialen Leistun-


    (Dr. Schumacher)

    gen aber auf den Weg der Vertröstung gleiten werden.

    (Zurufe in der Mitte: Abwarten!)

    — Wieso? Haben Sie so viel Zeit?

    (Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Eine gewisse Überraschung hat vielleicht der idyllische Ton der gestrigen Regierungserklärung hervorgerufen.

    (Sehr gut! bei der SPD. — Zurufe in der Mitte.)

    Auf den Ton abgestimmt „es ist alles nicht so schlimm", können wir nur antworten: es sieht so aus, als ob alles sehr viel schlimmer wäre, als die Regierungserklärung angedeutet hat.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Schließlich ist doch der tatsächliche Kern, der Punkt, bei dem ein eindeutiges Bekenntnis der Bundesregierung vorliegt, die Erklärung, daß man am bisherigen Kurs der Frankfurter Wirtschaftspolitik festhalten wolle.

    (Zuruf von der CDU: Gott sei Dank!)

    In Verbindung damit sind einige andere sehr reale Dinge angedeutet worden, als da sind: die Aufhebung der Zwangswirtschaft auch für die Güter, bei denen heute noch fixierte Preise vorliegen; und ähnliche Bemerkungen sind bei der Betrachtung über Wohnungswirtschaft und Mietpreisgestaltung gemacht worden.
    Die Erklärung der Bundesregierung ist nicht nur interessant durch das, was in ihr enthalten ist, sondern fast noch interessanter durch das, was sie nicht genannt hat.

    (Zuruf links: Sehr wahr!)

    Wir können uns ein demokratisches Staatswesen nicht vorstellen, bei dem die Arbeiter eine so geringe Rolle spielen, daß die Regierungserklärung das Wort „Arbeiter" nicht einmal erwähnt hat,

    (Beifall bei der SPD.)

    und wir können uns einen funktionierenden sozialen Organismus auch nicht recht vorstellen, bei dem die Gewerkschaften unerwähnt bleiben.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Es scheint mir eine schwere Undankbarkeit gegenüber den Gewerkschaften und der Rolle dieser Organisationen zu sein, wenn man nicht anerkennt, daß ohne diese Gewerkschaften die Situation des deutschen Volkes nach innen und außen eine sehr viel schlechtere sein würde.

    (Lebhafter Beifall links.)

    Und wir haben auch vermißt — bei aller Anerkennung der liebenswürdigen Ausflüge in das Gebiet der Nöte der unverheirateten Frauen — ein grundsätzliches Anerkenntnis der Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz, wie das Bonner Grundgesetz es gebracht hat.

    (Zustimmung links.)

    Aus dieser These nämlich resultiert für die Regierung eine große Menge von Aufgaben, und wir hätten gerne gewußt, wie die Verwirklichung dieser Aufgaben sich in den Augen der Regierung darstellt.
    Nun, wir sind die Opposition, und was Opposition ist, darüber hat sich eine unglaublich naive Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit erhoben. Die Wertung der Opposition und der Regierung, die vorbehaltlose Überbewertung der Regierungsfunktion und die ebenso vorbehaltlose Unterbewertung der Oppositionsfunktion stammt aus dem Obrigkeitsstaat,

    (erneute Zustimmung) und die Begriffe des Obrigkeitsstaates scheinen noch in vielen Köpfen auch in diesem Hause sehr lebendig zu sein.


    (Lebhafter Beifall links. — Zurufe rechts.) Eine Opposition ist in ihren Qualitäten nicht dann staatserhaltend, wenn sie eine wohlwollende Beurteilung durch die Bundesregierung oder durch ihre Parteien findet. Wir haben eine in Sachen der Besitzverteidigung sehr unsentimentale Regierung, und es wird die Aufgabe der Opposition sein, bei der Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung ebenso unsentimental zu sein.


    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Der Egoismus liebt es, an das Gemeinschaftsgefühl zu appellieren.

    (Sehr gut! bei der SPD und rechts.)

    Die Regierung und die Opposition werden ihre Qualität durch ihre Leistungen bestimmen. Aber, werte Abgeordnete, der Grundsatz gilt für die Opposition, daß die Bundesregierung sich die Mehrheiten für ihre Gesetze aus den Reihen der Regierungsparteien zu schaffen hat.

    (Zuruf in der Mitte: Sie sind grundsätzlich gegen alles!)

    — Verzeihung, Sie haben die Bemerkung gemacht: „Grundsätzlich gegen alles". Ich glaube, darauf antworten zu müssen. Ich bin nicht in der Lage, in drei Sätzen allés zu sagen, was ich zu sagen habe.

    (Abg. Dr. Freiherr von Rechenberg: Dem Kanzler werfen Sie es vor!)

    — Nun, der Kanzler hat 82 Minuten gesprochen; das ist etwas länger.

    (Unruhe.)

    Man kann also als Opposition nicht die Ersatzpartei für die Regierung sein und die Verantwortung für etwas übernehmen, wofür die Verantwortung zu übernehmen sich manche Regierungsparteien gegebenenfalls scheuen werden.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Die Opposition ist ein Bestandteil des Staatslebens und nicht eine zweitrangige Hilfestellung für die Regierung.

    (Beifall links.)

    Die Opposition ist die Begrenzung der Regierungsmacht und die Verhütung ihrer Totalherrschaft. Ihre Eindeutigkeit zwingt alle Parteien, die der Opposition wie die der Regierung, ihr innerstes Wesen an ihren Taten zu offenbaren.

    (Erneuter Beifall.)

    Es wäre nämlich ein Fehler, weiter den Zustand der Wesensunechtheit in der Propaganda der politischen Parteien zu belassen. Tatsachen müssen sprechen. Aber ebenso richtig ist, daß die Opposition sich nicht in der bloßen Verneinung der Regierungsvorschläge erschöpfen kann.

    (Zuruf in der Mitte: Gut!)

    Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen.

    (Lebhafter Beifall links. - Zustimmung rechts.)

    Aus dem Wesen und der Zusammensetzung dieser Regierung heraus besteht die große Gefahr, daß dieser neue Staat ein autoritärer Besitzverteidigungsstaat werden kann.

    (Lachen in der Mitte.)

    Man hat doch in der Zusammensetzung der Regierung und den gestern vorgetragenen Tendenzen ge-


    (Dr. Schumacher)

    sehen, daß die erste Periode von Weimar — wenn Vergleiche erlaubt sind — glatt übersprungen worden ist und wir bereits in einer zweiten Periode der absoluten Restauration mit stark vorweimarischen Zügen sind.

    (Lachen.)

    Das bringt die Gefahr der Entfremdung der arbeitenden Menschen vom Staat. Das ist eine Gefahr, die wir als Opposition bekämpfen wollen. Wir können den heutigen politischen Machtzustand sich nicht stabilisieren lassen. Es ist die Aufgabe der Opposition, die Dinge im Fluß im Sinne einer Entwicklungsmöglichkeit zum Demokratischen und Sozialen zu halten.
    Manches, was gestern gesprochen worden ist, war eine Schau nach rückwärts. Ich möchte eindeutig sagen, daß auch der wohlwollendste Ton der Ermahnung und die allmählich etwas abgestandene Bemerkung, daß die Jugend .die Zukunft bedeute, der Jugend sehr wenig sagt. Die Jugend wünscht realen Boden, wünscht positive Lebensaussichten durch eine soziale Politik,

    (Zurufe: Gut!)

    und die Jugend wünscht, gleichberechtigt behandelt zu werden.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Auf alles kann die Jugend verzichten, sogar auf Moralpredigten und Ermahnungen. Nicht verzichten kann sie auf das Gefühl, als gleichwertiger Faktor im Staats- und Volksleben geachtet zu werden.

    (Beifall links und Zurufe rechts.)

    Die Regierungsbildung ist eine notwendige Abrundung der Regierungserklärung; sie steht unter dem Zeichen des 14. August. Allerdings hat sie länger gedauert, als man damals annahm. Ihre Methoden waren nicht so eindeutig wie nach den Versicherungen der Regierungsparteien das Wahlergebnis des 14. August sein soll. Die Regierung steht eben unter dem Eindruck der Tatsache, daß der Rechtsruck im deutschen Volk bedeutsamer ist, als die Mandatszahlen des 14. August ausdrücken. Dieser Druck von rechts kann bis tief in die Mitte hinein lähmende und ändernde Wirkungen haben. Darum ist es schon verständlich, wenn man den Gefahren von allen Seiten dadurch entgegentreten will, daß man sich sehr stark in sozialen Versicherungen gefällt. Unverständlich bleibt dann, warum man in der Frankfurter Wirtschaftspolitik alles das verhindert hat, was man jetzt als Zukunftsversprechungen an die arbeitenden Massen in Deutschland gibt. Die Dauer, die Methoden der Regierungsbildung und die Art, mit der die Macht im Staat auf allen Gebieten verteilt worden ist, haben keinen sehr berückenden und beglückenden Eindruck auf das deutsche Volk gemacht.

    (Abg. Dr. Richter: Niedersachsen! — — Weitere Zurufe rechts.)

    — Verzeihen Sie, Sie sind wohl mit Verspätung als Kreuzfahrer aus Bayern hier in Bonn eingetroffen!

    (Heiterkeit links.)

    Die Sache war zu geschäftig und geschäftlich betrieben und hat zuviel politische Wahlarithmetik enthalten, als daß sie einen überzeugenden eindeutigen Eindruck auf die Bevölkerung machen könnte. Ich meine: wenn man all die Herren, denen man einen Ministerposten versprochen hat und die ihn dann nicht bekommen haben, heute hier zu einer Fraktion zusammenfassen würde. dann wäre das nicht die kleinste Fraktion des Bundestags.

    (Lebhafter Beifall und große Heiterkeit.)

    Wir haben bei der Organisation der Regierung eindeutig zu erklären, daß wir mehr Ministerien erhalten haben, als vorher — gerade nach den Erklärungen maßgebender Männer der Regierung — notwendig zu sein schien. Wir haben drei Ministerien zuviel! Wir haben außerdem Sorgen um die innere Organisation der Ministerien. Der Herr Bundeskanzler hat sich gestern zum Prinzip des Berufsbeamtentums bekannt. Dieses Prinzip des Berufsbeamtentums aber, das im Sinne der Leistung und im Sinne der Überwindung des Kastenwesens änderungs- und entwicklungsbedürftig ist, hat dann einen großen politischen Sinn, wenn die Beamtung ein vertrauenswürdiges Instrument für jede demokratische verfassungsmäßige Regierung ist.

    (Sehr richtig! links. — Zurufe rechts.)

    Wir betonen an dieser Stelle bei der Neuorganisation der Behörden die Gleichberechtigung aller verfassungstreuen politischen Richtungen in der Besetzung der Beamtenpositionen.

    (Beifall bei der SPD. — Aha! und Sehr gut! rechts. — Zuruf: Siehe Schleswig-Holstein!)

    — Die Herren, die mir widersprechen, scheinen die Tatsache ihrer Regierungsbeteiligung mit der anderen Tatsache zu verwechseln, daß es große Stellenvermittlungs-Organisationen gibt.

    (Zustimmung links. — Zuruf rechts: Bei der SPD!)

    Wir haben bei der Organisation der Regierung ohne Zweifel der Position des Bundesfinanzministers ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Wir betonen, daß ein Bundesfinanzminister mit gleicher Gerechtigkeit gegenüber allen Ländern Deutschlands die gleichen Prinzipien und den gleichen Willen zu zeigen hat.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Wir dürfen nicht erleben, daß ein Bundesfinanzminister etwa der Verlockung einer praktisch betätigten überstarken Heimatliebe unterliegt.

    (Zustimmung links. — Abg. Dr. Seelos: Das wäre für einen Sozialisten furchtbar!)

    — Was wissen Sie denn vom Sozialismus; buchstabieren Sie einmal das Wort!

    (Lebhafter Beifall und Heiterkeit links.)

    Ohne eine gleichmäßige gerechte Anwendung der Finanzhoheit ist keine Hilfe für die schwachen Länder, aber auch keine Möglichkeit der Bewältigung der entscheidenden großen sozialen Fragen, keine Hilfe in der kardinalen Frage der Flüchtlinge gegeben. Die Wahlen in den steuerschwachen Ländern haben ja gezeigt, daß dort, wo die Armee der Flüchtlinge massiert und deshalb die Arbeitslosigkeit überstark ist, die Chance für den Radikalismus — das ist in der heutigen Situation der Rechtsradikalismus — vorhanden ist.

    (Zurufe: Aha! — Weitere Zurufe rechts.)

    — Nun hören Sie mal! Sie werden doch von einem
    demokratischen Deutschen keine Sympathie für den
    Rechtsradikalismus verlangen. Was wir dem Rechtsradikalismus und dem Hypernationalismus in erster
    Linie vorwerfen, das ist der Umstand, daß er in
    seinen Auswirkungen schlecht für Deutschland ist.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Gerade darum muß die Hilfe den steuerschwachen Ländern zuteil werden, weil da die sozialen Probleme sich am stärksten auswirken.


    (Dr. Schumacher)

    Interessant und etwas schmerzlich war uns, daß in der gestrigen Regierungserklärung kein Wort von dem Finanzausgleich zu hören war

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    und auch nichts von den Gemeinden, ihrer Selbstverwaltung, ihren großen Aufgaben, ihrer sozialen Belastung und dem ganzen Komplex, der doch praktisch jeden Tag an jeden deutschen Staatsbürger herantritt.
    Wir kündigen stärkste Gegnerschaft an für den Fall, daß das Bonner Grundgesetz nach Sinn und Buchstaben zugunsten betont überföderalistischer Regelungen seiner einheitstrebenden Tendenzen entkleidet wird.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Wir wollen keine Revision des Bonner Grundgesetzes durch Verwaltungsorganisationen, durch Personenauswahl, durch Schaffung von Vorgängen!
    Gefreut haben wir uns im ersten Augenblick, als wir das Wort von der Rechtsgleichheit in den elf deutschen Ländern hörten, bis dann der Gedanke kam, daß die Rechtsgleichheit ja nach verschiedenen Prinzipien geschaffen werden kann: nach dem Prinzip des am meisten fortgeschrittenen Landes und nach dem Prinzip des am meisten zurückgebliebenen Landes.

    (Lebhafte Zustimmung und Zurufe bei der SPD.)

    Wir dürfen da wohl die Hoffnung aussprechen, daß wir von Regierungsseite zu diesem Punkt noch einige Erklärungen bekommen werden.
    Wenn wir die Organisation der Ministerien und Behörden betrachten, so müssen wir sie als das Ergebnis opportunistischer Tagespolitik empfinden, als das Resultat von Bemühungen, die eine Regierung zusammenbringen sollten und es nicht anders konnten als mit diesen Methoden. Dadurch kann die Entwicklung auf diesem Gebiete in falsche Bahnen gelenkt werden, zum Wildwuchs und Mißwuchs der Behörden und der Ministerien.
    Ich sagte: Wir haben drei Ministerien zuviel.

    (Zuruf rechts: Ja, welche denn?)

    — Wir brauchen keinen besonderen ERP-Minister! Warum denn? Entweder hat er nichts zu tun, oder er hat deswegen zuviel zu tun, weil er der Überminister der Ökonomie ist, von dem alle anderen ökonomischen, finanziellen und sozialen Sparten abhängen. Nach der bisher nicht erfreulichen Verwendung der Marshallplangelder auf allen Gebieten

    (Sehr wahr! bei der SPD)

    fordern wir die Vorlage eines Planes und eines detaillierten, vom Parlament kontrollierten Nachweises ihrer Verwendung.

    (Lebhafte Zustimmung bei der SPD.)

    Aber wir wollen keinen besonderen Minister. Wir wünschen am allerwenigsten, die etwas fadenscheinige Begründung diplomatischer Natur von der Notwendigkeit der Vertretung deutscher Interessen in Paris durch Männer in Kabinettsrang zu hören. Das ist etwas antiquiert.
    Wir brauchen auch keinen besonderen Minister für den Verkehr mit dem Bundesrat.

    (Sehr wahr! bei der SPD. — Zurufe rechts.)

    Was soll denn ein Sonderminister mit dem Bundesrat verkehren? Die Linie der Politik wird vom Bundeskanzler bestimmt; er hat zu ihrer Durchführung seine Beamten. Das ist doch eine Konstruktion zur Anbindung einer Partei als Regierungspartei.

    (Erneute lebhafte Zustimmung bei der SPD.)

    Und, meine Damen und Herren: wir brauchen kein besonderes Ostministerium. Wir brauchten auch nicht ein Staatssekretariat beim Bundeskanzler. Wir brauchen eine Abteilung beim Innenministerium,

    (Sehr gut! bei der SPD)

    die die konkreten Fragen im Verkehr zwischen der Bundesrepublik und zur Ostzone und außerdem eine Menge von sozialen und verwaltungsmäßigen Problemen auf diesem Gebiet zu behandeln hat. Wir sollten durch eine Abteilung beim Innenministerium manifestieren, daß das Verhältnis der deutschen Bundesrepublik zur sowjetischen Besatzungszone unter deutschem Blickwinkel ein innerdeutsches Problem ist.

    (Händeklatschen bei der SPD.)

    Es entstehen bestimmt nichtgewollte Gefahren dadurch, daß die Möglichkeit gegeben wird, durch die Errichtung eines besonderen Ministeriums diese Dinge auf der völkerrechtlichen Ebene zu diskutieren. Die Sozialdemokratie hat schon 1945 ihre Stimme für die deutsche Einheit erhoben. Sie war auch die erste deutsche Partei, die — am 31. Mai 1947 — den Versuch bejahte, auf der Grundlage der ökonomischen und administrativen Festigung der Westzonen eine anziehende Kraft auf die Ostzone auszuüben. Aber die Grundlinien dieser Politik können nicht in einem Ostministerium bestimmt werden, sie sind eine gesamtdeutsche Angelegenheit, unter voller Verantwortung des Chefs der Regierung und unter verantwortlicher Mitarbeit aller Parteien dieses Hauses.

    (Bravorufe und Händeklatschen bei der SPD.)

    Um Mißverständnissen, gewollten Mißverständnissen entgegenzutreten, möchte ich sagen: die deutsche Einheit ist nur möglich auf der Grundlage der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichheit und der gleichen Wertung und Würdigung der Menschenrechte in allen Besatzungszonen.

    (Bravorufe und Händeklatschen bei der SPD und vereinzelt rechts.)

    Aber die deutsche Einheit ist nicht möglich in der Form einer russischen Provinz oder eines sowjetischen Satellitenstaates.

    (Lebhafte Zustimmung bei der SPD und in der Mitte.)

    Wir haben im Verkehr der Parteien miteinander hier schwere Hypotheken in allen Lagern, am stärksten aus der Tatsache heraus, daß die Oberschicht der heute formal noch bestehenden Christlich-Demokratischen Union

    (Lachen in der Mitte und rechts)

    und der Liberaldemokraten in der Ostzone Regierungspartei ist.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Als Regierungsparteien sind sie voll verantwortlich für alles, was in der Ostzone geschieht.

    (Bravorufe und Händeklatschen bei der SPD.) Weil wir diese Verzerrung und Verquickung nicht wollen, — —


    (Zurufe rechts: Grotewohl! Dutzende!)

    — Nun, wir haben Grotewohl hinausgeschmissen,

    (Lachen rechts)

    aber ihr seid noch immer dieselben Nuschkoten! (Große Heiterkeit. — Bravorufe und Händeklatschen bei der SPD.)

    Wir müssen bei dieser Politik auch abrücken von einem Rückfall in die missionarische Illusion der Brückentheorie. Das sind Illusionen, die 1933 aus


    (Dr. Schumacher)

    der Hoffnung entstanden, mit einem totalitären Gegner, der das Ganze will, zu einem Kompromiß zu kommen, das einem die eigene politische Existenz und Selbständigkeit läßt. Wir dürfen nicht in eine Anerkennung der Blockpolitik hineinrutschen, die in Wirklichkeit die Herrschaft der stärksten Regierungspartei und der hinter ihr stehenden Besatzungsmacht ist. Wir sollten bei aller Anerkennung der Tatsache, daß man sich nicht immer distanzieren kann von allem und jedem in Dingen des täglichen Lebens, derartige Dinge wie die beiden Godesberger Gespräche unterlassen.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Ich verstehe, daß in den eisigen Stürmen des kalten Krieges sich manche Leute in Deutschland den Charakter erkältet haben. Einige dieser Herren sind heute Mitglieder der Bundesregierung.

    (Hört! Hört! links.)

    Da sie aber bei der zweiten Godesberger Tagung nicht dabeigewesen sind, dürfen wir die frohe Erwartung aussprechen, daß sie mit einem leichten politischen Schnupfen davongekommen sind.

    (Heiterkeit.)

    Die neue Linie der Kommunisten aber, für die jeder Anreger solcher Tagungen nur ein Instrument der sowjetischen Staatspolitik ist, ist nicht deswegen interessant, weil sie von den deutschen Kommunisten kommt, sondern deswegen, weil sie nur möglich ist als die Auftragserfüllung sowjetrussischer Auftraggeber. Nun, werte Abgeordnete, haben wir einer solchen Versuchung nicht mit primitiven Anti-Deklamationen entgegenzutreten, sondern mit einer positiven Zeichnung des deutschen Staats- und Soziallebens. Nach der Ansicht der ganzen Sozialdemokratischen Partei ist der Boden, auf dem ein erfolgreiches Bestehen dieser Angriffe am ehesten möglich ist, der Boden des demokratischen Sozialismus.

    (Händeklatschen bei der SPD. — Abg. Dr. Freiherr von Rechenberg: Von Sozialismus haben die drüben genug!)

    Die Kommunisten versuchen es mit allen möglichen Mitteln. Wir haben dieses Liebeswerben schon mehr als ein Dutzendmal seit Bestehen der ersten deutschen Republik gehört. Auch jetzt macht es wenig Eindruck auf uns, die Pferde der trojanischen Kavallerie galoppieren zu hören. Aber, meine Damen und Herren, seien Sie sich darüber im klaren, daß der Versuch, eine nationale Front zu errichten, auf der Grundlage der geistigen und politischen Verwüstung von fast eineinhalb Jahrzehnten eine gefährlichere Bedrohung ist. Nicht die sozialrevolutionäre, sondern die nationalrevolutionäre Parole des Ostens kann heute eine Gefahr für die deutsche Einheit und für die werdende Bundesrepublik bilden.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Wir sind in einer Situation, in der das deutsche Volk bereits wieder soweit ist, auch große soziale Versager als Heizstoff für einen neuen Nationalismus und für einen Neofaschismus zu verwerten.

    (Sehr richtig! bei der SPD.) Dieser Gefahr muß entgegengetreten werden.

    Wenn übrigens die Herren von der Kommunistischen Partei die Freundlichkeit hatten, kürzlich bei der Wahl des Bundespräsidenten ihre Stimme für mich abzugeben, so möchte ich sie auf einen peinlichen Gegensatz aufmerksam machen. Im Osten wird noch strikte die Parole befolgt, und ihre Nichtbefolgung füllt auch heute noch die Konzentrationslager: „Die Schumacherlinge müssen nicht nur moralisch, sondern auch physisch vernichtet werden!"

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Ich würde die Herren von der Kommunistischen Partei bitten, den arbeitenden Massen in Deutschland einmal diesen Zwiespalt der kommunistischen Natur zu erklären.

    (Abg. Reimann: Ich werde morgen darauf antworten, Herr Dr. Schumacher!)

    — Herr Reimann, die politische Erfahrung lehrt: es gibt nicht nur Wölfe im Schafspelz, es gibt auch, Schafe im Wolfspelz!

    (Große Heiterkeit und Händeklatschen.)



Rede von Dr. Erich Köhler
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter, darf ich einen Moment unterbrechen. Ich nehme an, daß Sie mit Ihrer Bemerkung „Schafe im Wolfspelz" kein Mitglied des Hauses gemeint haben.

(Heiterkeit.)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Kurt Schumacher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Ich würde, Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis Herrn Reimann die Entscheidung darüber überlassen.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Wenn wir die Frage der deutschen Einheit diskutieren, dann können wir an der Frage Berlin nicht vorübergehen.

    (Sehr gut!)

    Berlin wünscht keine Wohltaten und keine Wohltäter-Allüren.

    (Sehr gut!)

    Die besondere Finanzhilfe für Berlin ist nicht eine Angelegenheit freiwilliger Zuwendungen, sondern muß zu einem festen Bestandteil im Etat der deutschen Bundesrepublik gemacht werden.

    (Zuruf: So war es doch!)

    Man sollte auch nicht nur dieser Zuwendung von Mitteln der Allgemeinheit zustimmen. Man muß in der Wirtschaftspolitik Berlin durch Vergebung von Krediten und von Aufträgen mehr Hilfe leisten als bisher. Auf diesem Gebiet, wo egoistische Interessen westlicher Produzenten mit Berliner Produktionsinteressen konkurrieren können, haben wir als deutscher Westen für Berlin noch lange nicht das geleistet, was zu leisten unsere Aufgabe ist.

    (Sehr wahr!)

    Man darf doch nicht vergessen, daß man den Kampf der Berliner nicht für die deutsche Bundesrepublik zu Buche schreiben und dann, wenn eigene kleinere Interessen auf dem Spiel stehen, Berlins Lebensnotwendigkeiten irgend etwas verweigern kann. Berlin hat den Willen, Produktionsstätte und Steuerzahler zu werden. Aber um diesen Willen zu realisieren, brauchen wir eine andere Linie der Wirtschaftspolitik, zum Teil auch die Einlösung von Versprechungen, die in diesem Frühsommer von einem Herrn der Bundesregierung in Berlin gemacht worden sind.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Mögen nun viele Leute diesen Zustand der Spaltung Deutschlands für relativ und vorübergehend zufriedenstellend erachten, wir Sozialdemokraten können das nicht. Die Frage der deutschen Einheit kommt hinein in jede andere politische Frage, die Deutschland berührt. Diese Frage kommt nicht mehr von der Tagesordnung. Wir können niemanden als einen Freund des deutschen Volkes emp-


    (Dr. Schumacher)

    finden, dessen praktische Politik die deutsche Einheit auf der demokratischen Grundlage verweigert und behindert.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Wir können uns auch nicht damit einverstanden
    erklären, daß die deutsche Einheit zum Agitationsobjekt oder zum Agitationsinstrument einer politischen Richtung gemacht wird. Wir wünschen, daß
    bei aller Verschiedenheit der Auffassungen sozialer, politischer und kultureller Natur die Angelegenheit der deutschen Einheit überall in Deutschland die Angelegenheit der gleichen Herzenswärme
    und der gleichen politischen Entschiedenheit wird.

    (Beifall links und in der Mitte.)

    Wenn der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht der dankenswerten Arbeit ausländischer und inländischer Organisationen seine Achtung zollte, dann begrüßen wir das. Wir hätten aber gewünscht, daß der Herr Bundeskanzler bei diesem Dank nicht nur so in den Vorstellungen seiner eigenen Welt steckengeblieben wäre.

    (Sehr gut! links.)

    Ich habe dabei an die Arbeiterwohlfahrt und ihre Leistungen denken müssen, .

    (Beifall bei der SPD)

    ich habe an das grandiose Hilfswerk ausländischer Arbeiterorganisationen denken müssen,

    (Sehr gut! bei der SPD)

    und ich habe auch an die Quäker, die Mennoniten und Juden und ihre Hilfsorganisationen denken müssen.

    (Beifall links.)

    Es mag dem Wesen der Politik entsprechen, gegnerische Leistungen relativ gering einzuschätzen, und man kann es nicht übelnehmen, wenn sich die Gegner nicht zu gegenseitigen Propagandisten ihrer Leistungen machen; aber daß man beispielsweise über den Kampf der deutschen Sozialdemokratie um die deutschen Kriegsgefangenen so einfach hinweggegangen ist,

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    das ist auch nationalpolitisch von uns als nicht erfreulich empfunden worden.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Wir Sozialdemokraten danken von ganzem Herzen für die ungeheure Leistung des amerikanischen Volkes und des im amerikanischen Staatswesen organisierten amerikanischen Steuerzahlers n das deutsche Volk. Aber sogar für amerikanische Ohren wäre gestern der Dank eindringlicher gewesen, wenn nicht die Tatsache einfach ignoriert worden wäre, daß auch der britische Steuerzahler und das englische Volk ohne Unterschied der Parteien und unter eigenen Opfern und Entbehrungen Großes für das hilfsbedürftige deutsche Volk geleistet hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich bin zu meinem Bedauern gezwungen festzustellen, daß sehr viele Menschen im Ausland sehr viel mehr Verständnis für die sozialen Nöte der Deutschen gezeigt haben als mancher Deutsche.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Es ist schmerzlich, aber es muß gesagt werden, daß die deutsche Sozialdemokratie nun einmal nicht in der Lage ist, einen Dank an die deutschen Hortungsgewinnler auszusprechen.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

    Begrüßenswert war ohne Zweifel das Denken an die Kriegsbeschädigten, aber etwas mehr Konkretisierung wäre wohl nötig gewesen.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    1945 ist das als soziale Leistung beachtliche Reichsversorgungsgesetz durch einen Federstrich der Alliierten, die damit wohl praktischen Antimilitarismus zu betreiben vermeinten, außer Kraft gesetzt worden. Es wäre eine gute Sache, wenn die Bundesregierung sich entschließen könnte, ein neues, den geänderten Verhältnissen angepaßtes Reichsversorgungsgesetz für die Schwerbeschädigten des Krieges und für die Kriegerhinterbliebenen anzukündigen.

    (Sehr richtig bei der SPD.)

    Denn das Problem bei diesen so schmerzlich Geschlagenen ist doch, diese jungen Menschen heranzuholen an das Leben und heranzuholen an den Staat.

    (Bravo! bei der SPD.)

    Dazu gehört freilich eine Gesinnung warmer Kameradschaft, die über die finanz- und gesetzestechnischen Manipulationen hinausgehen muß.

    (Beifall bei der SPD.)

    Dagegen kann eine Unterlassung nicht unwidersprochen bleiben: die deutschen Kräfte des Widerstandes und die deutschen Opfer des Faschismus gehören doch zu den wenigen außenpolitischen Aktiven des deutschen Volkes und der deutschen Außenpolitik.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Von diesen Menschen ist gestern gar kein Wort gesagt worden. Man kann nicht gegen den Nazismus sein, ohne der Opfer des Nazismus zu gedenken.

    (Sehr gut! links.)

    Man kann sich nicht für die Hilfeleistung für einzelne Kategorien erwärmen — sie mögen noch so nötig sein —, wenn man die Opfer des Nazismus in einer selbstgewählten Rangordnung hinter die Rechte anderer zurückstellt.

    (Sehr gut! links.)

    Zu matt und zu schwach ist gewesen, was gestern die Regierungserklärung über die Juden und über die furchtbare Tragödie der Juden im Dritten Reich gesagt hat. Resignierte Feststellungen und der Ton des Bedauerns helfen hier nichts. Es ist nicht nur die Pflicht der internationalen Sozialisten, sondern es ist die Pflicht jedes deutschen Patrioten, das Geschick der deutschen und der europäischen Juden in den Vordergrund zu stellen und die Hilfe zu bieten, die dort notwendig ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Hitlerbarbarei hat das deutsche Volk durch Ausrottung von sechs Millionen jüdischer Menschen entehrt. An den Folgen dieser Entehrung werden wir unabsehbare Zeiten zu tragen haben. Von 600 000 deutschen Juden leben heute im Gebiet aller vier Zonen nur 30 000, meist ältere und kranke Personen. Auch sie erleben immer wieder beschämende und entwürdigende Vorfälle. In Deutschland sollte keine politische Richtung vergessen, daß jeder Nationalismus antisemitisch wirkt und jeder Antisemitismus nationalistisch wirkt. Das bedeutet nämlich die freiwillige Selbstisolierung Deutschlands in der Welt.

    (Zustimmung bei der SPD.)



    (Dr. Schumacher)

    Antisemitismus ist das Nichtwissen von den großen Beiträgen der deutschen Juden zur deutschen Wirtschaft, zum deutschen Geistesleben und zur deutschen Kultur und bei der Erkämpfung der deutschen Freiheit und der deutschen Demokratie. Das deutsche Volk stände heute besser da, wenn es diese Kräfte des jüdischen Geistes und der jüdischen Wirtschaftspotenz bei dem Aufbau eines neuen Deutschlands in seinen Reihen haben würde.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nun ist durch den Vorgang der internationalen Abwertung eine neue Erschwerung eingetreten. Man hat den Eindruck, als ob man in Deutschland und vielleicht auch sonst mancherorts nicht ganz begreift, daß sich hier ein Schicksal zu vollenden beginnt, das seit Jahrzehnten vorbereitet ist, hervorgerufen durch eine andere Verteilung der industriellen Produktion, durch die Tatsache, daß die anderen Kontinente, die früher Rohstoffe und Lebensmittel lieferten, heute selbst industrialisiert sind und damit das Ganze in Europa in eine besondere, geschwächte handelspolitische Situation gebracht haben. Diese überholte politische und ökonomische Struktur Europas ist der Grund der Wehrlosigkeit, bei der die endgültige Heilung auch durch große Dollartransfusionen nicht gebracht werden kann, so notwendig sie sind, um das Leben für die nächste Zeit zu erhalten.
    Wir sind, nachdem wir jetzt mehrere Jahre im toten Winkel lagen, auch in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft hineingezogen worden, und der erste Ausdruck war das Hineingezogenwerden — —

    (Zurufe von der CDU: Denken Sie an die sozialistischen Experimente Englands!)

    Nein, Sie haben meine drei letzten Sätze nicht verstanden. Lernen Sie sie bitte bis morgen auswendig.

    (Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe.)

    Dieses Hineingezogenwerden hat sich jetzt zum erstenmal bei der Abwertung geltend gemacht. Nun werden wohl Parallelen notwendig sein, Parallelen über Gebiete, die eben auch der Zwischenruf angedeutet hat und wo Sachkenntnis durchaus heilend wirken könnte.

    (Sehr gut! bei der SPD. — Zuruf rechts: Hoffentlich!)

    Man braucht bloß die besondere Situation Großbritanniens und seine Möglichkeit, den inneren lohnpolitischen und preispolitischen Konsequenzen der Abwertung zu begegnen, mit der besonderen Situation Deutschlands zu vergleichen. Über den Rahmen der Anteilnahme am Verlust des Krieges hinaus sind breite Massen des deutschen Volkes heute gegenüber diesem Ereignis wehrloser als die arbeitenden Menschen irgendeines anderen europäischen Volkes. Und weswegen sind sie wehrloser? Weil ihre soziale Polsterung durch die Geringfügigkeit der Reallöhne und durch die Einseitigkeit bei der Währungsreform und den hintertriebenen Lastenausgleich sehr viel schlechter ist als bei irgendeinem Volk in Europa. Wenn der Bundeskanzler erklärt, nur eine blühende Wirtschaft könne die Belastung aus dem Lastenausgleich tragen, dann werden wir daraus folgern müssen, daß man in den entsprechenden Kreisen der Regierung den radikalen endgültigen Lastenausgleich nicht gerade mit heißem Herzen will. Das bedeutet die Verschiebung des Lastenausgleichs. Der Lastenausgleich, der notwendig ist,
    ist doch ein Lastenausgleich, der weitgehend zu einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse und vor allem zu einer Veränderung der Einkommensverhältnisse beiträgt. Ich glaube nicht, daß man mit der heutigen sozialen Graduierung der Bevölkerung einen neuen lebensfähigen demokratischen Staat aufbauen kann. Wir haben jetzt gesehen, daß wir heute schon Reallöhne haben, die unter den anderen Reallöhnen Europas liegen, was man bei den Realgewinnen der meisten Sachwertbesitzer nicht sagen kann. Wir haben eine weitere Bedrohung der Reallöhne im kommenden Winter durch die Ankündigung der Aufhebung der restlichen Bewirtschaftung, die sich vor allem bei der Bildung der Lebensmittelpreise und der Mieten geltend machen würde. In diese Situation der geschwächten sozialen Position der arbeitenden Menschen in Deutschland tritt nun die Abwertung. Wir sollten soviel Respekt vor den Tatsachen und der Ehrlichkeit haben, um zu sagen, daß eine Reihe von Trostpillen der letzten Tage nicht aus guten Chemikalien gemacht worden ist. Die radikale Trennung des äußeren valutarischen Wertes der D-Mark von dem inneren Kaufkraftwert ist nicht vollständig, sondern nur recht beschränkt möglich; und selbst das auch nur dann, wenn besondere Regierungsmaßnahmen eingeleitet werden.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Das gilt vor allen Dingen für die Preispolitik. Man kann nicht das Volk auffordern zu sparen bei steigenden Preisen. Spartätigkeit ist nur bei festen oder möglichst sogar rückläufigen Preisen möglich. Man kann nicht diese Wirtschaftspolitik betreiben und dann mit der anerkennenswert offenen, aber noch nicht die ganze Schwere aufzeigenden Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers weitergehen, die von „geringfügigen Veränderungen im Lohn- und Preisgebäude" spricht. Geringfügig werden die Veränderungen nicht sein, wenn nicht staatliche Hilfe kommt. Aber die Möglichkeiten der staatlichen Hilfe, besonders in der Form einer positiven Preispolitik, sind ja durch die letzten 15 Monate deutscher Wirtschaftspolitik zerschlagen worden.

    (Sehr richtig! bei der SPD. — Zuruf rechts.)

    — Die bessere Position Großbritanniens besteht jetzt eben darin, daß es ein funktionierendes System der Planwirtschaft

    (große Heiterkeit rechts)

    mit Investitionslenkung hat.

    (Erneute große Heiterkeit und Zuruf rechts: Deshalb die Abwertung!)

    - Meine Herren, Sie haben anscheinend von Planwirtschaft und Investitionslenkung nur in den Formen wahlpropagandistischer Formulierungen gelesen.

    (Unruhe. — Abg. Dr. Freiherr von Rechenberg: Die haben uns die Nazis vorgemacht!)

    — Verzeihung, S i e waren doch zum großen Teil Nazis, und nicht Großbritannien, wenn ich mich recht erinnere.

    (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei der SPD. — Unruhe und erregte Zurufe rechts: Unverschämtheit! Ordnungsruf! — Glocke des Präsidenten.)