Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich folgende amtliche Mitteilung bekannt: Die Fraktion der SPD hat für den Gemeinsamen Ausschuß gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes für den verstorbenen Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen als ordentliches Mitglied den Abgeordneten Leber, für den aus dem Gemeinsamen Ausschuß ausgeschiedenen Abgeordneten Mahne als stellvertretendes Mitglied den Abgeordneten Curdt vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keine gegenteilige Auffassung. Es ist so beschlossen. Damit sind der Abgeordnete Leber ordentliches Mitglied und der Abgeordnete Curdt stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol
— Drucksache 8/2319
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 8/3006 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Spöri
Interfraktionell ist vereinbart, daß die Diskussion über diesen Punkt mit Kurzbeiträgen geführt werden soll. Wünscht der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall.
Das Wort zur Aussprache hat der Herr Abgeordnete Dr. Meyer zu Bentrup.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das vorgelegte Änderungsgesetz zum Branntweinmonopolgesetz richtet sich in seinen Auswirkungen in einigen, aber wesentlichen Punkten gegen die Masse der kleineren und mittleren Brennereibetriebe. Deswegen lehnt meine Fraktion, die CDU/ CSU-Fraktion, diese Novelle ab.
Wir bezweifeln die Notwendigkeit einer so weitgehenden Änderung des deutschen Branntweinmonopolgesetzes zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der Tatsache, daß wir jetzt vor der Beratung der europäischen Marktordnung für Agraralkohol stehen. Dazu hat uns die Bundesregierung erst vor wenigen Wochen den geänderten und verbesserten Vorschlag einer Verordnung über eine gemeinsame Marktordnung zugeleitet. Darin möchte die EG-Kommission ein Inkrafttreten dieser Marktordnung schon zum 1. Juli 1980 erreichen. Sicherlich eine allzu optimistische Perspektive bei der Fülle der Detailprobleme! Aber wir fordern das Bundeskabinett auf, jetzt endlich einen Beschluß zu fassen und den Ministerrat zu bitten, eine Marktordnung im konkreten vorzulegen.Wir bedauern, daß sowohl SPD als auch FDP mit der heute vorgenommenen Änderung durch unsere Gesetzgebung wesentliche Positionen für erfolgreiche Verhandlungen in Brüssel im Ministerrat preisgeben. Die unmittelbare Verzahnung von landwirtschaftlicher Produktion und Alkoholherstellung als ein deutliches Strukturmerkmal des deutschen Brennereiwesens wird gelockert. Schon jetzt werden Vorleistungen erbracht, ohne sichergestellt zu haben, daß wesentliche Elemente unseres deutschen Produktions- und Marktsystems in die gemeinsame europäische Marktordnung eingebracht werden können. Denn das deutsche Branntweinmonopol will in seiner Zielsetzung die strukturbedingten Nachteile der Landwirtschaft, die Standortnachteile marktferner Gebiete, aber auch die naturbedingten Bodenverhältnisse ausgleichen helfen.Wenn die Bundesregierung in diesem Gesetzentwurf von einer Übergangslösung, von einer Anpassung an die zu erwartenden europäischen Marktverhältnisse spricht, dann müssen wir hier die Fragen stellen: Wollen Regierung und Koalition an die industriell und gewerblich produzierenden Betriebe anpassen, also an die Großbetriebe, wie etwa in Frankreich, mit einer Jahresproduktion von 100 000 Hektolitern und mehr, also an Betriebe, die nebenher auch überschüssige Rüben zu Sprit verbrennen. Oder wollen sie mit der Anpassung Größenordnungen wie in Großbritannien oder in Schottland erreichen, Betriebsgrößenordnungen von 500 000 oder 1 Million Hektoliter Alkohol-
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Dr. Meyer zu BentrupJahresproduktion? Wir fragen: Ist das die zukünftige Struktur, an die sich die deutschen, die landwirtschaftlichen Betriebe mit Alkoholerzeugung im Nebenbetrieb anpassen müssen, also Betriebe mit Größenordnungen von 300, 400 oder 700 Hektoliter Alkoholherstellung im Durchschnitt?Diese Novelle stellt mittelfristig die agrarpolitische Zielsetzung des Brannweinmonopols in Frage. Sie leistet einer Konzentration in mehrfacher Hinsicht Vorschub. Der Fortfall der Obergrenze für Brennrechte, wie er in § 154 vorgesehen ist, trifft die kleineren Betriebe am härtesten. Unser Antrag — auch das Votum des Bundesrats —, hier eine Höchstgrenze auf 6 000 Hektoliter festzulegen, um im Ergebnis und in der Entwicklung eben den industriellen Größenordnungen entgegenzutreten, bringt mit dieser Höchstgrenze ja schon eine Verfünffachung gegenüber den bisherigen Höchstgrenzen für landwirtschaftliche Einzelbrennereien mit 1 200. Hektoliter Jahresproduktion. Diese Höchstgrenze bedeutet 20 mal soviel wie z. B. die durchschnittliche Erzeugungsmenge in den süddeutschen Gebieten.Die Novelle will Betriebe auf Antrag von der bewährten Ablieferungspflicht gegenüber dem Monopol; wie in § 58 des Gesetzes vorgesehen, befreien. Alle Teilnehmer und alle Vertreter in dem von uns beantragten Hearing zu diesem Gesetzentwurf haben auf die Gefahren der innergemeinschaftlichen Aushölung des Monopols hingewiesen. Den größeren, den Markt dominierenden Betrieben erwachsen Absatzchancen zum Nachteil der kleineren und kleinsten Betriebe, die die uneingeschränkte Ablieferungspflicht zu ihrer Existenzsicherung benötigen. Die Funktionsuntüchtigkeit des Branntweinmonopols trifft die kleineren Betriebe am härtesten. Durch unseren Antrag haben wir deutlich gemacht, daß wir bis zu einer europäischen Marktordnung am Prinzip der Ablieferung eben auch zugunsten der Kleineren festhalten wollen.
Die Novelle sieht in § 66 nur noch fünf Mengengruppen vor. Nicht bei statischer, aber bei dynamischer Betrachtung führt die geringere Zahl von Gruppen zu einem Weniger an Differenzierung. Gerade für kleinere Betriebe können wir durch die neue Staffelung die Abschläge im Alkoholpreis nicht so differenziert vornehmen wie bisher. Auch hier hat unser Antrag keine Mehrheit gefunden, durch eine breitere Differenzierung in den unteren Klassen, also im unteren Mengenbereich, besonders den kleineren Betrieben gerecht zu werden.Da unsere Anträge — und ich meine die wesentlichen Strukturanträge — keine Mehrheit fanden sowohl im Ernährungsausschuß, der mitberaten hat, als auch im federführenden Finanzausschuß, sagen wir nein zu der vorliegenden Novelle und lehnen sie ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf gleich die angesprochenen Konfliktpunkte aufgreifen. Wir müssen ausgehen von einem Defizit beim Branntweinmonopol, das recht beachtlich ist. Daher ist es kaum zu bestreiten, daß es notwendig war, die Abnahmepreisgestaltung beim Monopol zu verändern, zumindest für die größeren Betriebe.Wenn Herr zu Bentrup hier angeführt hat, daß die neue Betriebsklasseneinteilung ungeschickt sei. so muß ich ihm entgegenhalten, daß diese Fünferklasseneinteilung, durchaus ausreichen wird, der betrieblichen Kostenlage in den einzelnen Betrieben gerecht zu werden. Man kann durchaus die Position vertreten, Herr zu Bentrup, daß mehr Staffeln eingeführt werden sollten, um mehr Feinabstimmung zu erreichen; aber im Grunde genommen ist es kein weltbewegender Unterschied, der hier festzustellen ist. Unsere Betriebsklasseneinteilung ist nach den Erfahrungen, von den Zahlenwerten her gesehen, für die gesamten Brennereien gegenwärtig finanziell günstiger, wie Sie sich im Ausschuß überzeugen konnten.Beim zweiten Konfliktpunkt, den Sie angesprochen haben, sagen Sie: Es ist falsch, die Brennrechtsobergrenzen aufzuheben, weil die Gefahr einer zu starken Konzentrationsentwicklung im Brennereibereich entsteht. Nun, Sie, Herr zu Bentrup, als Diplomlandwirt wissen ja, daß hier — ähnlich dem Brennstoffkreislauf bei Kernkraftwerken — ein Schlempekreislauf stattfindet, weil die landwirtschaftlichen Brennereien ihre Schlempe, also diesen Restbestand, im landwirtschaftlichen Betrieb wieder verwerten müssen, und daß aus dieser Sicht schon eine ganz natürliche Obergrenze für die betriebliche Konzentrationsentwicklung vorhanden ist, die nicht überschritten werden kann. Hier hätte ich nicht solche Befürchtungen wie Sie; das, was Sie hierzu gesagt haben, kann mich nicht überzeugen.
Der dritte Konfliktpunkt, Herr Kollege, ist die Ablieferungspflicht. Wir haben vorgesehen, daß die Betriebe auf Antrag von der Ablieferungspflicht freigestellt werden können. Dies sehen Sie als einen Problempunkt an. Ich meine, daß wir hier von unserem ordnungspolitischen Verständnis her nicht so dirigistisch sein sollten.
Herr zu Bentrup, wenn irgendwelche Brenner außerhalb des staatlichen Monopols ihre Produkte ohne staatliche Stützung vermarkten wollen, warum sollten wir sie daran hindern? Warum sollen sie das nicht ohne Staat machen? Im Blick auf Ihre ordnungspolitische Position verstehe ich dieses Argument nicht.
— Ja.
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Dr. Spöri— Darauf komme ich gleich noch, Herr Kollege Huonker.Zusammenfassend gesehen, Herr zu Bentrup meine ich, daß das, was Sie bei diesem Gesetzentwurf an drei kleinen Meinungsunterschieden präsentiert haben, bei weitem nicht ausreicht, um so einen flammenden Protest zu erheben, wie Sie das gerade gemacht haben; da machen Sie wirklich aus kleinen Mücken riesige Elefanten.
Sie sollten diesen Gesetzentwurf nicht zur Gänze ablehnen. Herr zu Bentrup, ich muß Ihnen ganz im Ernst sagen: Wir sollten uns in der zentralen Frage des Branntweins als Demokraten nicht auseinanderdividieren lassen,
nicht wegen so kleiner Unterschiede.
Aber jetzt ganz im Ernst, Herr zu Bentrup: Eben habe ich einen Punkt angesprochen, der vielleicht mehr burlesker Natur ist, aber einen anderen Punkt haben Sie nicht erwähnt; Sie haben ihn in Ihren Ausführungen ganz schamhaft ausgespart, und das macht mich leicht traurig, weil Sie ansonsten ja immer große Subventionsjäger sind und bei der Vorstellung irgendwelcher Großer Anfragen immer wieder den großen Subventionsabbau verkünden.
Ich meine das süddeutsche Privileg. Hier gibt es Anlaß zu einer kritischen Anmerkung an alle Seiten dieses Hauses; das richtet sich auch an uns selbst. Mein Kollege Baack, der hier sitzt, hat ja, wie Sie wissen, im -Ausschuß den Antrag gestellt, dieses süddeutsche Privileg abzuschaffen. Es geht um den Zuschlag bei der Kalkulation der Abnahmepreise für süddeutsche Brennereien. Dieser Antrag wurde von uns — durch die Fraktionen hindurch — abgeschmettert. Auch wenn es sich hier um haushaltspolitisch relativ geringfügige Dimensionen handelt, ist dieser Vorgang bedenklich, weil es, wie Sie mir zugeben müßten, Herr zu Bentrup, in der Bundesrepublik im Grunde genommen keine weniger gerechtfertigte Subvention gibt als dieses süddeutsche Privileg. Selbst die Fachbeamten aus den entsprechenden Ressorts, die ja naturgemäß relativ vorsichtig sind, wenn es um Subventionen und um deren Abbau geht, haben nicht einmal mehr im Ansatz versucht, dieses süddeutsche Privileg zu rechtfertigen, auch nicht mit irgendwelchen betriebsökonomischen Gründen.Ich darf daran erinnern, daß dieses süddeutsche Privileg bei der Reichsgründung eingeführt worden ist, damit sich die Süddeutschen mit der preußischen Vorherrschaft etwas besser abfinden; es wurde eingeführt, um ihnen bei der Reichsgründung die preußische Vorherrschaft etwas zu versüßen. Das sollte heute als Subventionsbegründung nicht mehr ausreichen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Friedmann?
Gerne, Herr Friedmann.
Herr Kollege Spöri, darf ich Sie daran erinnern, daß trotz des sogenannten süddeutschen Privilegs der Staat an den sogenannten Kleinbrennern ganz gut verdient, denn der Verlust beim Branntweinmonopol, der auf die Kleinbrenner entfällt, wird weit überwogen durch die Steuern, die die Kleinbrenner an den Staat bezahlen.
Herr Kollege Friedmann, wenn wir das Branntweinmonopol im Zusammenhang mit Verlusten und Überschüssen diskutieren, müssen Sie zunächst sehen, daß wir hier 1978 ein globales Defizit von immerhin 265 Millionen DM hatten. Das ist kein Pappenstiel. Das ist eine beachtliche Subventionierung.Wenn Sie wegen den Kleinbrennereien Sorge haben und diese so fürsorglich abschirmen wollen, dann muß ich Ihnen sagen, daß gerade die Neuregelung der Abnahmepreise ,im Grunde genommen nur die größeren Brennereien trifft und nicht die kleineren. Das zur Besorgnis wegen den kleineren Brennereien. Ich verstehe das ja; ich habe als Süddeutscher auch ein Herz für die Kleinbrenner.Das Problem des süddeutschen Privilegs hat uns trotz seiner kleinen haushaltspolitischen Dimension von ca. 4 oder 5 Millionen DM eines exemplarisch vor Augen geführt: daß wir aus zuviel Bequemlichkeit und zuviel einkommenspolitischer Rücksichtnahme gegenüber einer kleinen Gruppe, die mit diesem süddeutschen Privileg bevorzugt ist, uns nicht dazu aufraffen können, eine längst fällige Streichung im Subventionsbereich durchzuführen.
Das gibt Anlaß zur Besorgnis, denn wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, können wir nicht dauernd große Reden über den Subventionsabbau schwingen, aber gleichzeitig im konkreten Fall, wenn es wirklich zu einer Nagelprobe kommt, alle zusammen versagen. Man kann nicht große sonntagspolitische Reden halten über den wildwuchernden Subventionsdschungel, wenn man sich gleichzeitig im konkreten Fall ganz anders verhält. Das geht an alle Seiten hier.
— Es lag an allen Fraktionen quer Beet. Ich muß Ihnen, Herr Kollege Kühbacher, konzedieren, daß es immerhin anstandshalber einige gab, die im Ausschuß subventionspolitische Bauchschmerzen hatten und dies durch ihr Abstimmungsverhalten auch dokumentiert haben.Dennoch haben wir hier einen kleinen Fortschritt erreicht. Wir haben mit diesem Gesetzentwurf, insbesondere durch die Neuregelung der Abnahme-
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Dr. Spöripreise, immerhin einen Subventionsabbau in Höhe von 12 Millionen DM pro Jahr erreicht. Deswegen verstehe ich es nicht, daß die großen Subventionsjäger in den Oppositionsreihen, die immer wieder den großen Subventionsabbau verkünden, nicht ihre Zustimmung zu diesem kleinen Teilfortschritt beim Subventionsabbau geben. Hier wird wieder einmal sichtbar, daß die Union bei der Subventionspolitik, wenn es wirklich konkret wird, wenn eine Nagelprobe veranstaltet wird, genau das Gegenteil von dem tut, was sonst mit großen Sprechblasen bezüglich des Subventionsabbaus angekündigt wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zumpfort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie, daß ich zur Problematik der Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol etwa ausführlicher, und zwar inhaltlich ausführlicher Stellung nehme. Als Volkswirt kommt es mir ganz besonders darauf an, dieses Gesetz ökonomisch zu analysieren und seine Wirkungsweise in einen agrarpolitischen Zusammenhang zu stellen. Im Rahmen dieses Gerüstes werde ich dann versuchen, eine agrarpolitische Wertung vorzunehmen.Das Branntweinmonopol ist der klassische Fall einer Marktordnung zur Sicherung von nicht allein marktwirtschaftlichen Zielsetzungen. Anstelle eines sogenannten freien Marktes, bei dem sich die Preise durch das Angebot und die Nachfrage regeln, herrscht eine Monopolsituation, bei der die Preise administrativ gelenkt, das Angebot durch Mengenbeschränkung gesteuert und die Freizügigkeit des Warenverkehrs eingeschränkt sind. Es handelt sich, genauer gesagt, in diesem Fall um ein Teilmonopol, bei dem nicht der gesamte Bereich von der Erzeugung bis zum Verbrauch des Branntweins gesteuert wird, sondern die Restriktionen vorwiegend auf der Ebene des Handels vorherrschen.Ziel des Gesetzes ist es, grob gesprochen — dies regelt § 1 des Branntweinmonopolgesetzes —, dem Bund bei der Übernahme bzw. Herstellung des Branntweins sowie bei dessen Einfuhr, dessen Reinigung und dessen Verwertung sowie beim Handel das Monopol zu sichern. Zur Sicherung dieses Monopols vergibt er Brennrechte, die — ökonomisch gesehen — die Funktion von Mengenbeschränkungen haben. Den so produzierten Branntwein kauft die Monopolverwaltung zu sogenannten Übernahmepreisen auf, die per Verwaltungsakt festgelegt werden. Diese Übernahmepreise haben — ökonomisch gesehen — die Funktion von Mindestpreisen, liegen also in der Regel über den geläufigen Marktpreisen.Durch feste Zu- und Abschläge können allerdings die individuellen Verhältnisse einzelner Brennereien berücksichtigt werden. Durch den sogenannten Überbrandabzug wird der Übernahmepreis durch einen Abzug soweit gesenkt, daß die Herstellung des Branntweins außerhalb des Brennrechtes unwirtschaftlich wird. Wir haben somit ein System von Festpreisen, das durch die Verpflichtung der Brennereien zur Lieferung und der Verpflichtung der Monopolverwaltung zur Übernahme des Branntweins ergänzt wird. Wo der Grundsatz der Ablieferungspflicht durchbrochen wird, muß ein sogenannter Branntweinaufschlag hingenommen werden. Schließlich — damit komme ich zum Schluß dieser Aufzählung — existiert noch ein Einfuhrmonopol sowie ein sogenannter Monopolausgleich, die beide die Funktion haben, das Monopol gegen das Ausland abzusichern.Schon diese unvollständige Aufzählung der Elemente des Monopols verdeutlicht, daß hier eine klassische Situation vorherrscht, die man in der Ökonomie mit dem Namen Ölflecktheorie umschreibt; nämlich: Ein Eingriff in den Markt zieht zwangsläufig einen anderen nach sich.Ein solches Ersatzsystem für den Markt — das weiß man mittlerweile — ist sehr starr und unbeweglich. Wenn man darüber hinaus bedenkt, daß diese Struktur auch noch per Gesetz festgeschrieben ist und durch eine Bürokratie gelenkt wird, erscheint es mir verwunderlich, daß Veränderungen der Realität auf dem Markt lange Zeit unberücksichtigt bleiben. Dies führt in der Regel dazu, daß sich der Zweck des Monopols — damit kommen wir zum Kern —, nämlich für den Staat Einnahmen zu erzielen und die Agrarwirtschaft zu fördern, in das Gegenteil verkehren kann.
Dieses Gegenteil — das ist die heutige Realität — besteht darin, daß die Monopolsituation Kosten verursacht und den Strukturwandel in der Landwirtschaft behindert.Das ist die Situation, über die wir sprechen müssen. Sie ist meines Erachtens typisch für viele andere Bereiche in der Landwirtschaft. Dies zu erkennen und für Abhilfe zu sorgen scheint mir eine der eigentlichen Aufgaben eines Parlamentariers und dieses Hohen Hauses im Bereich der Agrarwirtschaft zu sein. Die Richtung, die dabei eingeschlagen werden muß, heißt aus meiner Sicht der FDP: etwas mehr Markt und etwas weniger Bürokratie. Das bedeutet mehr Preisflexibilität und Abbau der Hemmnisse bei der Anpassung an den Strukturwandel.Dabei gilt es natürlich — denn wir sind keine Bilderstürmer —, das eigentliche Ziel der Monopolverwaltung im Auge zu behalten, des Monopols, das schon seit 1919 existiert und das im Grundgesetz durch die Artikel 105, 106 und 108 in seinem Bestand gesichert wird.Das erste Ziel — es ist das soeben schon erwähnte — ist fiskalischen Ursprungs und lautet, durch Besteuerung des Branntweins dem Staat Einnahmen zu verschaffen. Das Gesetz hat — zweitens — das agrarpolitische Ziel, die Bodenkultur und die Ertragsfähigkeit der Äcker mit Hilfe der Brennerei als landwirtschaftlicher Nebenerwerbsbetrieb
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Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13637
Dr. Zumpfortüber den sogenannten Kartoffel-Schlempe-DüngerKreislauf zu verbessern.Eine Prüfung des jetzt vorliegenden Entwurfs ergibt aus der Sicht der FDP, daß diese Ziele wieder besser zur Geltung gebracht werden. Die Prüfung ergibt darüber hinaus, daß bei der Abfassung der Änderungsvorschläge ein Schritt in die richtige Richtung getan worden ist, nämlich in Richtung auf etwas mehr Preisflexibilität und etwas weniger Bürokratie.Lassen Sie mich dies an einzelnen Punkten erläutern.Erstens. Das Monopol für Branntwein aus nichtlandwirtschaftlichen Rohstoffen ist schon seit langer Zeit durch EG-Regelung gesprengt worden. Das Monopol mußte nun formell aufgehoben werden, nachdem auf seine Ausübung schon vorweg verzichtet wurde. Die Gesetzesänderungen — das ist wichtig — sehen ohne Monopolanspruch vor, daß der Status quo in der Verwendung von Branntwein aus landwirtschaftlichen und aus nichtlandwirtschaftlichen Rohstoffen aufrechterhalten wird.Zweitens. Überhöhte Übernahmepreise, permanente Veranlagung von Brennereien zum Brennrecht sowie bestimmte Brennrechtsobergrenzen haben dazu geführt, daß sich der Strukturwandel in diesem Bereich in Deutschland langsamer vollzogen hat als im Ausland. Dies führte zu dem Ergebnis, daß der Übernahmepreis der Monopolverwaltung für Branntwein höher war als der Marktpreis. Daraus entstand natürlich das Defizit.Zur Anpassung an diese veränderte Lage auf dem Alkoholmarkt sind im Gesetz folgende Maßnahmen vorgesehen: bewegliche Abzüge an Stelle der bisherigen fixen Abzüge zum Übernahmepreis, um den Übernahmepreis an den Marktpreis angleichen zu können, die Reduzierung der Abgrenzungsgruppen von sieben auf fünf Brennereitypen, um eine größere Praktikabilität zu erreichen, die Aussetzung der Veranlagung der Brennereien zum Brennrecht, um zusätzliche Überkapazitäten zu verhindern, die Erleichterung einer Zusammenlegung von Brennrechten, um eine größere Wirtschaftlichkeit erreichbar zu machen, und schließlich noch die Aufhebung der Ablieferpflicht auf Antrag.Alle diese Maßnahmen bewirken meines Erachtens, daß es zu Strukturverbesserungen kommen kann und daß insbesondere — und das ist sehr wichtig — der mittelständische Charakter der deutschen Produktion auf der Basis landwirtschaftlicher Erzeugnisse erhalten bleibt. Denn der begünstigte Strukturwandel zielt eben nicht auf eine Konzentration bei einigen wenigen Großbetrieben ab.
— Ich glaube das nicht.Unter diesen Gesichtspunkten hält die FDP den Entwurf für eine gute Übergangsregelung bis zu einer möglichen Gemeinschaftsregelung in Form einer Marktordnung für landwirtschaftlichen Alkohol.Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich verhehle allerdings nicht meine Befürchtung, daß mitsolch einer Marktordnung für Alkohol auf EG-Ebene genau das eintreten kann, was wir mit diesem Entwurf zu verhindern versuchen, nämlich mehr Bürokratie und mehr Preisdirigismus. Ich glaube nicht, daß damit unser Wunsch, eine leistungs- und anpassungsfähige Landwirtschaft zu sichern und zu erhalten, erfüllt wird.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Die CDU/CSU-Fraktion hat zu Art. 1 Einzelabstimmung beantragt. Ich werde demgemäß verfahren.Ich rufe zunächst in Art. 1 die Nummern 1 mit 9 auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe die Nr. 10 auf. Wer der Nr. 10 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Ich rufe die Nummern 11 mit 13 auf. Wer ihnen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Nr. 14 und Nr. 14 a! Wer zuzustimmen wünscht, bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Nr. 15! Wer zuzustimmen wünscht, bitte ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Nr. 16! Wer zuzustimmen wünscht, bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Dann die Nummern 17 mit 27. Wer ihnen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe nun Art. 1 in der soeben beschlossenen Form sowie Art. 2, 3, 4, 5 und 6 mit Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit beschlossen.Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Lesung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. — Das Wort wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Das Gesetz ist mit Mehrheit angenommen.
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Präsident StücklenMeine Damen und Herren, es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/3006, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Personalausweise — Drucksache 8/3129 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:InnenausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOInterfraktionell ist für jede Fraktion ein Kurzbeitrag vereinbart worden.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Regierungsentwurf zur Novellierung des Personalausweisgesetzes soll die rechtlichen Grundlagen für die Einführung eines neuen Personalausweissystems schaffen.Mit allen, die für die innere Sicherheit in unserem Staate Verantwortung tragen, besteht Einigkeit darüber: Unser gegenwärtig verwendeter Personalausweis, der vor etwa 30 Jahren eingeführt wurde, genügt nicht mehr den Sicherheitsanforderungen, die ein staatliches Identitätspapier erfüllen muß. Im Gegenteil, nach den Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes dient der Personalausweis Schwerkriminellen, die heute über ein Arsenal raffiniertester Fälschungstechniken verfügen, als Tarnungsmittel. In den letzten Jahren ist eine große Anzahl von Personalausweisvordrucken gestohlen worden, obwohl sich die Vorkehrungen gegen die Diebstähle inzwischen wesentlich verbessert haben. Zusammen mit ebenfalls gestohlenen Dienstsiegeln eröffnet dies Straftätern die Möglichkeit, in großer Zahl Ausweispapiere herzustellen, die von echten nicht zu unterscheiden sind.Daneben werden in erheblichem Umfange gültige Personalausweise — namentlich durch Auswechseln von Lichtbildern verfälscht. Moderne Rastergeräte für die Befestigung der Lichtbilder haben nicht zu dem erhofften Erfolg geführt.Meine Länderkollegen und ich sind davon überzeugt, daß dieses Sicherheitsdefizit nur durch einen völlig neuen Ausweis ausgeglichen werden kann. Hierbei muß die moderne Technik gezielt in den Dienst der inneren Sicherheit gestellt werden.Die Ständige Konferenz der Innenminister der Länder hat mich im Juni vergangenen Jahres gebeten, unverzüglich alle Vorbereitungen für die Einführung neuer Personalausweise zu treffen. Hierbei wurde als unverzichtbar angesehen, daß der neue Ausweis fälschungssicher, verfälschungssicher, verwahrungssicher und automatisch 'lesbar sein muß.Eine Expertengruppe im Bundesinnenministerium unter Beteiligung des Bundeskriminalamtes und der Bundesdruckerei hat nun ein neues Ausweissystem erarbeitet, das die genannten Vorgaben erfüllt. Die Systemkonzeption berücksichtigt daneben gleichermaßen Forderungen internationaler Gremien und jüngste Entwicklungen auf verschiedenen Gebieten der Sicherheitstechnik. Sie folgt insbesondere auch weitgehend der Resolution des Ministerrats des Europarats von 1977.Die Innenministerkonferenz hat dieses System am 27. April dieses Jahres gebilligt und einmütig beschlossen, den neuen Personalausweis so rasch wie möglich einzuführen.Der neue Ausweis wird im Gegensatz zu dem heute verwendeten Muster nicht in Buchform, sondern als Ausweiskarte gestaltet sein. Er kann nicht mehr verfälscht werden, weil er bei jedem Versuch, ihn nachträglich zu öffnen, irreparabel zerstört wird. Aus diesem Grunde wird es auch nicht mehr möglich sein, den Ausweis etwa durch Auswechseln des Lichtbildes oder durch Manipulationen an den personenbezogenen Daten seines Inhabers zu verändern. Der neue Ausweis ist darüber hinaus fälschungssicher. Hochwertiges Material und ein technisch aufwendiges Herstellungsverfahren schließen die Anfertigung von Falsifikaten weitgehend aus oder erschweren sie doch erheblich.Der neue Ausweis, der, wie ein starkes Interesse unserer Nachbarn beweist, infolge seiner hochwertigen Technologie über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus richtungweisend sein kann, ist meines Erachtens ein Beispiel dafür, wie eine kochentwickelte Technik einen Zuwachs an Sicherheit bewirken kann, ohne gleichzeitig die Freiheit des Bürgers einzuengen.Für die Bundesregierung war es eine unverzichtbare Forderung, die Rechtsgrundlagen für den neuen Personalausweis von allen Regelungen freizuhalten; die eine unzumutbare Beeinträchtigung der Persönlichkeitssphäre seiner Benutzer bedeutet hätten.Die Tatsache, daß der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf auf den vieldiskutierten „Sperrvermerk", der ursprünglich als Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus gedacht war, verzichtet, stellt dies nachdrücklich unter Beweis. Es hat sich gezeigt, daß der sicherheitspolitische Nutzen des Personalausweissperrvermerks seine rechtsstaatlichen Kosten nicht rechtfertigt. Durch Eintragungen in den Personalausweis dürfen nicht Informationen an Behörden oder Personen gelangen, die diese nichts angehen; Der in Übereinstimmung mit meinen Länderkollegen in den Gesetzentwurf aufgenommene Verzicht auf den Sperrvermerk gehört zu den Eingrenzungen, mit denen wir dafür sorgen, daß Effektivitätsverbesserungen bei der Verbrechensbekämpfung nicht das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit zu Lasten des Bürgers verschieben.Der neue Personalausweis wird aus dem gleichen Grund auch nicht zum Anlaß genommen, ein ein-
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Bundesminister Baumheitliches Personenkennzeichen • — sozusagen durch die Hintertür — einzuführen. Die Bundesregierung hat deshalb auch die Anregung des Bundesrats begrüßt, im Gesetz ausdrücklich festzuschreiben, daß der Personalausweis keine verschlüsselten Angaben über die Person seines Inhabers enthalten darf. Die rasante Entwicklung der Datenverarbeitung und des Datenverbunds, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat, macht deutlich, daß die Einführung eines Personenkennzeichens mit dem gebotenen Persönlichkeits- und Freiheitsschutz unserer Bürger nicht zu vereinbaren wäre.Demgemäß wird der neue Ausweis lediglich eine Seriennummer ohne personenbezogene Merkmale des Ausweisinhabers enthalten, keine anderen verschlüsselten Angaben über die Person seines Inhabers tragen und nicht zu einer zentralen Datei über die personenbezogenen Daten der Ausweisinhaber führen, weder beim Bund noch bei den Ländern. Ich begrüße daher ausdrücklich auch den Vorschlag des Landes Hessens, im Gesetz selbst die zur Feststellung der Person unbedingt erforderlichen Daten abschließend aufzuzählen und ausdrücklich anzuordnen, daß auf Grund dieses Gesetzes keine zentrale Datei der Inhaber von Personalausweisen entsteht.Lassen Sie mich zusammenfassen. Unsere Bürger haben einen Anspruch, gegen eine Kriminalität, die sich allenthalben modernster Technik bedient, erfolgreich geschützt zu werden. Fälschungssichere Personalausweise sind ein wirksamer Beitrag, diesen Anspruch zu erfüllen. Der neue Ausweis wahrt die Freiheit des Bürgers und nimmt auch auf die Datenschutzdiskussion Rücksicht. Der neue Ausweis wahrt die Freiheit des Bürgers, der sich Recht und Gesetz verpflichtet weiß.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jentsch .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch meine Fraktion hält das Anliegen, dem durch diesen Gesetzentwurf Rechnung getragen werden soll, für begründet. Das bedeutet aber nicht, daß wir nicht einige kritische Anmerkungen hierzu zu machen hätten.Da ist zunächst einmal der erstaunlich lange Weg, den die Regierung zurücklegen mußte, um einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei ist die Notwendigkeit, einen fälschungssicheren Personalausweis zu schaffen, nicht erst seit gestern gegeben. „Die Ständige Konferenz der Innenminister und Senatoren für Inneres der Länder hat in ihrer Sitzung am 20. Juni 1977 den Bundesminister des Innern gebeten, sich für eine beschleunigte Einführung fälschungssicherer Personalausweise einzusetzen." So steht es jedenfalls in der Antwort der Bundesregierung vom 22. März 1978 auf unsere Kleine Anfrage nach dem Stand der Vorbereitungsarbeiten für die Einführung des Ausweises.Dem Innenminister selbst ist die lange Dauer wohl etwas peinlich. Denn nur so ist erklärlich, daß er in der Begründung des Gesetzentwurfs — sowohl in dem amtlichen Dokument als auch heute hier — nur von dem Beschluß vom 22. Juni 1978 redet und nicht von dem Beschluß ein Jahr vorher. So einfach kann man die Vorbereitungszeit um ein Jahr verkürzen.Wir beraten heute einen höchst eigenartigen Entwurf. Von der neuen Ausweisform, dem neuen Ausweismuster, das der Herr Minister hier gerade dargestellt hat, steht in diesem Gesetzentwurf kein Wort. Dieser Gesetzentwurf enthält Bestimmungen, die es nach der amtlichen Begründung angeblich erst möglich machen, das neue fälschungssichere Muster einzuführen. Diese Begründungen können nicht überzeugen. Der Innenminister hätte auf Grund seiner Verordnungsmöglichkeit den neuen Ausweis schon längst einführen und die erforderlichen gesetzlichen Ergänzungen auf den Weg bringen können. Sie hätten auch zeitlich versetzt eingeführt werden können.Ich frage mich, warum hier bei der Durchsetzung dieses allgemein anerkannten Anliegens nicht etwas mehr Eile möglich gewesen ist. Ich fürchte sogar, daß die Vorbehalte, die teilweise — ich erinnere an den Parteitag der FDP — gegen diesen neuen Ausweis vorgetragen worden sind, zu einer erheblichen Verzögerung geführt haben. Dies war, wie ich meine, zum Nachteil der Sicherheit in unserem Lande.Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß ein neuer fälschungs- und verfälschungssicherer Ausweis eingeführt werden muß. Wir lesen, daß inzwischen 13 000 Blankovordrucke des jetzt üblichen Personalausweises gestohlen worden sein sollen. Es ist deshalb kein Wunder, daß man, wie man hört, am Frankfurter Hauptbahnhof einen Personalausweis häufig schneller als bei einer Gemeindebehörde bekommen soll.
Dabei ist die Handhabung einer sorgfältigen Ausweispflicht ein wesentliches Mittel zur Erhöhung der Sicherheit für alle Bürger. Diese Pflicht ist auch jedem Bürger zuzumuten; denn sie dient seiner eigenen Unversehrtheit. Diese Pflicht hat aber nur dann einen Sinn, wenn der Ausweis auch ein untrügliches Identifizierungsmittel ist. Das ist beim derzeitigen Personalausweis nur unzulänglich der Fall.Herr Minister, ein noch so perfektes Ausweissystem in unserem Land ist nicht ausreichend, wenn Rechtsbrecher dieses System ohne große Schwierigkeiten unterlaufen können. Das ist der Fall, wenn der Rechtsbrecher auf ausländische Identitätspapiere zurückgreifen kann, die nicht fälschungssicher sind. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage — Sie waren daran sicherlich beteiligt — erklärt — ich zitiere —:Die Erfahrungen gerade in der jüngsten Vergangenheit zeigen, daß vor allem terroristische
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13640 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Dr. Jentsch
Gewalttäter zu ihrer Tarnung zunehmend ausländische Identitätspapiere benutzen.Ich frage: Wie will die Bundesregierung diese Sicherheitslücke stopfen? Gesetzentwurf und Begründung lassen den fragenden Leser hier völlig allein. Auch Sie haben heute zwar gesagt, dies sei ein Muster für andere Länder und stimme mit irgendwelchen Vorschlägen und Empfehlungen überein; aber von einer Durchsetzbarkeit eines geschlossenen Systems im Bereich der internationalen und europäischen Zusammenarbeit haben Sie heute nichts mehr gesagt. Ganz anders hieß das damals in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage, wo gesagt wurde, das werde schon zu machen sein. Es wurde in Aussicht gestellt, dieses Problem in Angriff zu nehmen. Aus Ihrem Schweigen entnehme ich, daß die Bundesregierung seither hierbei keinen Schritt vorangekommen ist.Wir werden uns im Ausschuß über die Altersgrenze unterhalten müssen, über die im Bundesrat diskutiert worden ist. Das wird genauso wie der Wunsch des Bundesrates zu lösen sein, ausdrücklich festzuschreiben, daß Raum für verschlüsselte Angaben über die Person des Ausweisinhabers nicht vorgesehen werden darf. Der Bundesrat wünscht, daß das ausdrücklich in das Gesetz hineingeschrieben wird. Darüber wird man sich sicherlich einigen können.Ein weiterer Punkt muß hier angesprochen werden. Herr Minister, Sie haben in Ihrem Debattenbeitrag im Bundesrat viel deutlicher und akzentuierter darauf hingewiesen, die Einführung des neuen Ausweises — so sagten Sie damals — sei Bestandteil einer „Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung mit Augenmaß". Ich bin der Meinung, das hätten Sie nicht sagen sollen; denn das disqualifiziert entweder Ihr Urteils- oder Ihr Erinnerungsvermögen. Ihre Sicherheitspolitik zeichnet sich eben nicht durch Augenmaß aus,
sondern durch eine solche der Wechselbäder. Vor der Sommerpause haben wir ja hier in diesem Hause über die entsprechende Behandlung der Sicherheitsorgane diskutiert. Da fand unter der „Schirmherrschaft" des Innenministers die Verunsicherungskampagne gegen das Bundeskriminalamt und den Bundesgrenzschutz statt. Als sich dann das Kriegsgeschrei gelegt hatte und von den Vorwürfen nichts oder wenig übrig geblieben war, erschienen Sie auf dem Schlachtfeld und trösteten die Verletzten. Minister Baum in allen Rollen, zunächst Mentor der Attacke und dann fürsorglicher Dienstherr der Angegriffenen.
Ich fürchte allerdings, nur das erste tun Sie aus Neigung, das zweite tun Sie aus Pflicht.Ich hätte das nicht angeführt, wenn wir dasselbe Doppelspiel nicht auch hier erleben müßten: „Sicherheitspolitik mit Augenmaß", und dann verweisen Sie auf das Personenkennzeichen, das nun nicht drin sei. Ich frage mich: Wer wollte denn das Personenkennzeichen hier einführen, wo ist es denn vor einiger Zeit vorbereitet worden? Doch in Ihrem Hause! Und wer hat es denn gestoppt? Unser Abgeordneter Benno Erhard hat die Front dagegen aufgebaut, daß es zu diesen Kennzeichen nicht gekommen ist.Ich meine also, daß Sie hier zwar richtig entschieden haben; aber dies als eine Politik des Augenmaßes auf diesem Gebiet darzustellen, das halte ich doch für sehr bedenklich.Dasselbe ist es mit dem Sperrvermerk. Wir haben für eine Kann-Vorschrift plädiert. Ihr Haus wollte eine Muß-Vorschrift, daß es in den Ausweis eingetragen werden muß, wenn jemand damit nicht das Land verlassen darf. Warum belassen Sie es nicht bei dieser Kann-Vorschrift, nach der doch der von Ihnen häufig beschworene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hervorragend angewendet werden kann? Ich kann mir Güterabwägungen vorstellen, wo es ein Ausweisinhaber ertragen muß, daß er einen solchen Vermerk in seinem Ausweis hat. Sie führen hier nicht etwa an, daß das technisch nicht machbar sei, sondern führen den Gedanken der Rechtsstaatlichkeit, des Persönlichkeitsrechts an. Wir werden uns darüber noch unterhalten müssen.Mit der Lösung, die von Ihnen gemeinsam mit den Ländern vorgeschlagen worden ist — ich gebe das zu —, läßt sich sicherlich leben; nur wende ich mich dagegen, daß Sie hier diesen Zickzackkurs, den Ihr Haus — und damit natürlich Sie; denn Sie verantworten das — geht, als eine „Sicherheitspolitik mit Augenmaß" darstellen.Dieser Gesetzentwurf kommt zu spät. Dies ist ein Punkt heftiger Kritik, den wir vorzutragen haben. In der Sache werden wir uns in den Ausschußberatungen sicherlich einigen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pensky.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gehört natürlich zur Opposition, daß sie Kritik übt, selbst dann, wenn sie weiß, daß ihre Parteifreunde im Bundesrat und vorher in der Innenministerkonferenz in großer Übereinstimmung an dem mitgearbeitet haben, was nunmehr auf dem Tisch des Hauses liegt.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt diese Vorlage, die die Grundlage dafür bildet, einen fälschungs- und verfälschungssicheren Personalausweis einzuführen. Wir wissen — und das wissen auch die, die daran mitgewirkt haben —, daß es ein Rahmengesetz ist, in dem wir ganz bestimmte Dinge gesetzlich festlegen wollen, das aber darüber hinaus der Ausfüllung durch eine Rechtsverordnung bedarf, der der Bundesrat zustimmen muß. Auch hier die Zusammenarbeit im Rahmen dieses Bereiches .der inneren Sicherheit.Dieser Gesetzentwurf deckt sich durchaus mit den Zielvorstellungen, die die sozialdemokratische
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PenskyBundestagsfraktion in einem umfassenden Sicherheitspapier bereits im September 1977 vorgelegt hat. Ich möchte darauf hinweisen: Es war ein Sicherheitspapier, das sich im wesentlichen darauf beschränkte, schwergewichtig durch technische und organisatorische Maßnahmen die Fahndungsarbeit der Sicherungsbehörden effektiver gestalten zu wollen. Dazu gehört eben auch die Einführung fälschungs- und verfälschungssicherer Personalpapiere.Meine Damen und Herren, wir alle als Politiker werden eine Antwort auf die Frage geben müssen, die uns von vielen Leuten vorgelegt wird: Ist dieser ganze Aufwand denn überhaupt erforderlich? Meine Antwort hierzu: Diese Maßnahme ist zwingend geboten — und ich sage hier auch —, wenn nicht sogar schon längst überfällig.Das will ich kurz begründen. „Schafft euch euer eigenes Paßamt", dazu rief vor einigen Jahren Andreas Baader, seinerzeitiger Chef und Gründungsmitglied der sogenannten „Rote Armee Fraktion", seine Gesinnungsfreunde auf. Wir wissen alle, daß Terroristen und Schwerkriminelle in der Vergangenheit von dieser Empfehlung reichlich Gebrauch gemacht haben. Sie stahlen, wie auch schon der Innenminister ausführte, aus verschlossenen, aber auch aus unverschlossenen Amtsstuben massenhaft Blankovordrucke von Personalausweisen und Reisepässen. Mit dieser Beute fielen ihnen auch noch die übrigen Werkzeuge zu, die zur perfekten Ausstellung solcher Personalpapiere benötigt werden, Dienstsiegel, Ösenzangen oder Rasterwerkzeug zum Befestigen von Paßbildern.Obgleich die Länderinnenminister nach scharfer Kritik, die von außen und auch von mir geübt worden ist, im Jahre 1977 strenge Vorschriften über die Aufbewahrung von Ausweisvordrucken erließen, verminderte sich zwar die Zahl der Beutestükke, jedoch wurden in den Jahren von 1977 bis 1979 immerhin noch über 2 000 Blankovordrucke von Personalausweisen und Reisepässen aus Amtsstuben entwendet. Wenn sich, nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes, zur Zeit rund 13 000 Blankovordrucke einschließlich Dienstsiegel und dazugehöriges Werkzeug in Händen von Kriminellen befinden, dann heißt das, daß sich damit auf Jahre hinaus Kriminelle mit einer falschen Identität ausstatten können. Gerade bei den Verwandlungskünsten, die in diesen Kreisen immer perfekter entwikkelt worden sind, ist es damit auch möglich, daß lange gesuchte Schwerverbrecher unter uns leben, ohne erkannt zu werden, und dadurch eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit in unserem Staate bilden.Dem, meine Damen und Herren, muß entgegengewirkt werden. Deshalb war es auch notwendig, ein Personaldokument zu entwickeln, das erstens eine Fälschung oder Verfälschung ein für allemal ausschließt, das zweitens zur Erleichterung der Kontrolle, insbesondere der Grenzkontrolle, eine automatische Lesbarkeit ermöglicht und das schließlich drittens daneben auch zu vertretbaren Kosten hergestellt werden kann.Wir teilen die Meinung, daß die Kosten für diese Maßnahme, die der Erhöhung der inneren Sicherheit dient, der Staat und nicht etwa die einzelnen Bürger zu tragen haben sollen. Deshalb soll dieser Ausweis sowohl bei der erstmaligen Ausstellung wie auch bei der Neuausstellung nach Fristablauf kostenlos abgegeben werden. Hierbei ist anzumerken, daß die Gültigkeitsdauer dieses Personalausweises auf zehn Jahre und bei Personen, die das 26. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, auf fünf Jahre befristet werden soll.Dieser Ausweis entspricht, Herr Kollege Jentsch, in seiner Ausgestaltung auch internationalen Vereinbarungen. Das ist Ihnen wohl entgangen. Ich darf hierzu verweisen auf die Resolution des Ministerrates des Europarates vom 27. September 1977 und auf die Empfehlung des Weltluftfahrtverbandes, ICAO, einer Unterorganisation der UNO, aus dem Jahre 1970.
Wir sind, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Jentsch, der Bundesregierung dankbar, daß sie insoweit mit Nachdruck internationale Vereinbarungen forciert hat, da es nichts nützen würde, wenn wir uns mit einer nationalen Regelung begnügten.Noch eines, Herr Kollege Jentsch. Es nützt nichts, zu sagen, diese Empfehlungen oder Entschließungen seien von dann und dann. Sie müßten wissen — darüber hat es Informationen gegeben —, daß es daneben noch in einer internationalen Arbeitsgruppe viele Details auszuarbeiten galt, und es ist nicht so, daß die Sache aus Verschleppungstaktik auf die lange Bank geschoben worden ist.Weil aber Kriminalität grenzüberschreitend begangen wird, hoffen und wünschen wir, daß möglichst viele Staaten unserem Beispiel sehr bald folgen werden. Hierbei ist aber auch wichtig, daß die Fälschungs- und Verfälschungssicherheit auch auf Reisepässe ausgedehnt wird. Ich greife das auf, was Sie soeben erwähnten. Das ist durchaus bedacht. Ich freue mich, daß die Bundesregierung., wie sie auf Anfrage mitteilte, ebenfalls Vorbereitungen getroffen hat; aber hierzu bedarf es keiner Gesetzesänderung.Natürlich möchten auch wir die Umstellung des Personalausweis- und des Paßwesens lieber heute als morgen vollendet sehen. Wir haben uns jedoch davon überzeugen lassen müssen, daß bei Ausschöpfung aller technischen und organisatorischen Möglichkeiten die Ausgabe der Personalausweise frühestens 1981 und die der Reisepässe 1982 beginnen kann und daß sich die Neuausstattung aller Bürger etwa über fünf Jahre erstrecken wird. Vielleicht ist es dennoch möglich, Herr Innenminister, diese Zeiten etwas zu verkürzen.Etwas Entscheidendes möchte ich abschließend noch bemerken. Wir Sozialdemokraten sind dafür, daß mit diesen neuen Personalausweisregelungen der Datenschutz verstärkt Ausdruck findet. Insbesondere wollen wir verhindern, daß etwa über die Seriennummer des Ausweises auf kaltem Wege ein einheitliches Personalkennzeichen eingeführt wird.
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PenskyWir wollen mit dieser Neuregelung auch eine Streichung des Personalausweissperrvermerks erreichen. Der Innenminister sagte es soeben auch, daß sich insoweit eine Übereinstimmung zwischen der Bundesregierung und uns befindet. Über die bloßen Personalien hinaus haben andere personenbezogene Hinweise, ob verschlüsselt oder unverschlüsselt, auf dem Personalausweis nichts zu suchen. Wir werden bei der Beratung des Gesetzentwurfs im Innenausschuß die jetzt vorliegende Gesetzesformulierung genau überprüfen. Ich freue mich aber, daß darüber Übereinstimmung mit der Bundesregierung besteht.Wir Sozialdemokraten sind an einer beschleunigten Beratung des Gesetzentwurfs sehr interessiert. Wir werden deshalb helfen, diesen Gesetzentwurf zügig zu beraten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die Einführung eines fälschungssicheren Personalausweises ist für uns alle sicher kein neues Problem. Es besteht bei niemandem ein Zweifel, daß der gegenwärtig verwendete Personalausweis schon lange nicht mehr dem notwendigen Sicherheitsbedürfnis entspricht, das bei einem staatlichen Identitätspapier erfüllt sein muß.Nicht nur bekannte Aktionen bei der Bekämpfung des Terrorismus, auch Beispiele aus der allgemeinen Kriminalität haben dies bewiesen. Der Bundesminister des Innern hat dies in einzelnen Beispielen sehr überzeugend ausgeführt. Es ist deshalb grundsätzlich richtig und zu begrüßen, daß nach den Vorstellungen der Bundesregierung von dem bisherigen Muster in Buchform abgewichen werden soll. Die eingeschweißte Karte muß sicherstellen, daß der Ausweis nicht durch unbefugte Manipulationen verfälscht werden kann, weil er bei einem solchen Versuch — so ist es vorgesehen — sofort irreparabel zerstört würde. Nachträgliche Eintragungen — und das ist ein Problem — können des- halb auf dem neuen Ausweispapier nicht mehr vorgenommen werden. Dies wirft einige Fragen auf, zu denen ich mich gleich äußern werde.Zunächst aber begrüße ich für die Fraktion der FDP, daß heute ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes über Personalausweise — in Übereinstimmung mit der Vorbereitung in der Innenministerkonferenz — vorgelegt worden ist. Zu begrüßen, Herr Kollege Jentsch, wäre es sicherlich, wenn auf diesem Gebiet eine einheitliche Regelung innerhalb der Staaten des EG-Raums schon jetzt hätte erreicht werden können. Dies können wir von uns aus allein nicht erzwingen. Ich begrüße es aber, daß das Muster, das die Bundesregierung vorgesehen hat, den EG-Vorstellungen entspricht. Ich erwarte, daß die bei uns eingeführte Regelung gewissermaßen eine Pilotfunktion auch gegenüber anderen Ländern des EG-Raumes haben wird.Der Gesetzentwurf ist nur kurz, da es zur Änderung des gegenwärtigen Ausweispapiers selbst einer Änderung des geltenden Gesetzes nicht bedarf. Ich glaube, dieser Grund ist an und für sich überzeugend. Der Gesetzentwurf enthält daher nur einige wenige, allerdings wichtige — sagen wir einmal: ergänzende — Bestimmungen.Für mich stellt sich allerdings doch die Frage, ob nicht noch einige andere Punkte bei der gesetzlichen Regelung berücksichtigt werden müssen. So enthält der Gesetzentwurf die Bestimmung — ich darf das hervorheben —, die Gültigkeitsdauer der Personalausweise auf zehn Jahre und bei Personen unter 30 Jahren auf fünf Jahre ohne Verlängerungsmöglichkeit zu begrenzen, sicher eine logische Konsequenz des neuen Ausweismusters, das schon aus technischen Gründen neue Eintragungen nicht mehr möglich macht. Aber für den Fall, daß in dem ebenfalls dem Parlament zur Beratung anstehenden Transplantationsgesetz etwa eine Zustimmungsregelung gefunden und diese mit einem Vermerk im Personalausweis verbunden wird, würde das neue Ausweismuster doch sicher einige Schwierigkeiten bereiten. Zu lösen wäre dieses Problem nach meiner Auffassung z. B. dadurch, daß man eine — vielleicht gebührenpflichtige — vorzeitige Neuausstellung des Personalausweises möglich macht. Deshalb wird bei der kommenden Beratung dieses Gesetzes auch zu berücksichtigen sein, welche Regelungen im Transplantationsgesetz letztendlich vorgesehen werden. Ich wollte es an dieser Stelle nicht versäumen, schon heute bei der ersten Lesung des vorliegenden Entwurfs auf diese Frage kurz hinzuweisen.In Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes über den Personalausweis soll der sogenannte Sperrvermerk gestrichen werden. Es handelt sich um die Vorschrift, daß Paßversagungsgründe nach § 7 Abs. 1 des Paßgesetzes in den Personalausweis einzutragen sind. Diese im Zusammenhang mit der Antiterrorgesetzgebung eingefügte Vorschrift ist in der Praxis teilweise in einer Weise und in einem Umfang angewendet worden, wie es den Absichten des Innenausschusses und des Parlaments in keiner Hinsicht entsprach. Ich bitte, die entsprechenden Unterlagen hierzu aus dem Jahre 1978 nachzulesen. Die Eintragung leichter und leichtester Paßversagungsgründe war weder gewollt noch war sie mit dem notwendigen Persönlichkeitsschutz auch im innerdeutschen Rechtsverkehr zu vereinbaren. Ich brauche deshalb nicht besonders zu betonen, daß die FDP-Fraktion auf die Streichung gerade dieser Vorschrift ganz besonderen Wert legt.
Bestehenbleiben muß aber nach dem Regierungsentwurf wohl der erste Teil der soeben zitierten Vorschrift, der die Paßbehörden für den Einzelfall, gestützt auf § 7 Abs. 1 des Paßgesetzes, zu der Anordnung ermächtigt, daß der Personalausweis nicht zum Verlassen des Bundesgebietes berechtigt. Das Unterlaufen einer solchen Anordnung will der Bundesminister des Innern durch eine Eintragung des Verbots in die Fahndungsunterlagen bei den Grenzkontrollbehörden verhindern. Das mag
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Dr. Wendigzwar richtig sein, gleichwohl bleibt nach meiner Auffassung zu prüfen, ob die bestehenbleibende Verweisung auf alle Paßversagungsgründe des § 7 Abs. 1 des Paßgesetzes in der Verwaltungspraxis nicht immer noch zu unerwünschten Weiterungen führen kann. Wir werden also in der Beratung im Innenausschuß zu überlegen haben, inwieweit nicht eine Beschränkung auf einige der wichtigsten Paßversagungsgründe möglich und sachlich geboten ist.Für die Beratung im Innenausschuß möchte ich abschließend noch zwei Gesichtspunkte in die Debatte bringen, die den Vorstellungen des Landes Hessen entsprechen und die auch der Bundesminister des Innern in seinem Beitrag schon kurz eingeführt hat. Uns scheint es erforderlich, daß die Angaben, die in dem neuen Personalausweis enthalten sein dürfen, bereits durch das Gesetz festgeschrieben werden. Dabei sollte man die Angaben, wie ich meine, beschränken auf Namen, gegebenenfalls Geburtsnamen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, Geschlecht, Größe, Farbe der Augen, unveränderliche Kennzeichen und schließlich Wohnort und Wohnung — mehr nicht.Des weiteren meinen wir, daß im neuen Gesetz ein zusätzlicher Beitrag zum Persönlichkeitsschutz geleistet werden muß. Ich spreche jetzt nicht nur davon, daß man verhindern muß, daß das Personenkennzeichen sozusagen irgendwie durch die Hintertür eingeführt werden kann. Zu allem sollte auch eine Bestimmung gehören, die es verbietet, Angaben, die bei der Beantragung und Ausstellung des Personalausweises erhoben werden, in zentrale Karteien des Bundes und der Länder einzuführen. Der Personalausweis berührt einen besonders sensiblen Bereich. Es kommt darauf an, die Bedürfnisse der öffentlichen Sicherheit zur Deckung zu bringen mit dem Recht des einzelnen Bürgers auf Wahrung seiner privaten Sphäre. Diese Problemstellung ist in allen Bereichen, die mit öffentlicher Sicherheit zu tun haben, nicht neu.Wir, die Freien Demokraten, werden unter Berücksichtigung der von mir angedeuteten Gesichtspunkte die Vorlage im Innenausschuß sehr sorgfältig beraten. Ich bin der Überzeugung — auch nach Ihren Ausführungen, Herr Kollege Jentsch —, daß es gelingen wird, zu einer übereinstimmenden Auffassung in diesem Ausschuß zu kommen.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung auf Drucksache 3129 an den Innenausschuß — federführend — und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß vor. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
— Drucksache 8/3104 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß .
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Herr Dr. Voss, bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des § 33 a des Einkommensteuergesetzes, der sich. mit dem Kinderbetreuungsbetrag befaßt, beabsichtigt die Fraktion der CDU/CSU, einen Beitrag zu leisten:1. zur Steuervereinfachung und damit2. zur Verhinderung bürokratischer Erschwerung, d. h. einen Beitrag zur Entbürokratisierung,3. zur sozial- und familienpolitischen Gerechtigkeit,4. zur Steuerehrlichkeit,5. zur Verhinderung einer weiteren Aufblähung des staatlichen Apparates,6. zur gleichmäßigen Rechtsanwendung im Bundesgebiet.
Zu diesen Punkten, meine Damen und Herren, ist im einzelnen auszuführen:Erstens. Niemand in diesem Hause bestreitet öffentlich die Notwendigkeit, unsere Gesetze zu vereinfachen, verständlicher und damit bürgernäher zu machen, und zwar sowohl, was das Verständnis als auch was die Anwendung für den Bürger und für den Staatsdiener angeht. Aber, meine Damen und Herren, wenn es an die Durchführung dieses verbal hochgeschätzten Grundsatzes geht, läßt der Enthusiasmus und die Bereitschaft erheblich nach. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Vereinfachung in sehr vielen Fällen eine sehr schwierige und keine leichte Aufgabe ist. Einer der Gründe liegt darin, daß in einer hochindustrialisierten, pluralistischen Gesellschaft ein differenziertes und damit sehr schwieriges Gesetzessystem normalerweise die Folge ist. Aber diese Schwierigkeiten bestehen beim Kinderbetreuungsbetrag, den wir heute hier zu behandeln haben, nicht, und daher dürfen für seine Inanspruchnahme auch nicht die komplizierten Regelungen gelten, die sich zuweilen als unvermeidlich erweisen. Hier geht es einfach um die Frage, meine Damen und Herren von der Koalition, ob Sie bereit sind, anzuerkennen, daß für ein Kind jährlich Betreuungskosten in Höhe von 1 200 DM, also monatlich 100 DM, entstehen. .Wenn Sie dies anerkennen und bejahen, ergibt sich steuerlich die sehr einfache Möglichkeit, diesen Betrag zu pauschalieren, d. h. ohne Einzelnachweis zu gewähren.
Wer hier Zweifel hegt, hat sich in der Frage, was die Betreuung eines Kindes heute kostet, nicht sachkundig gemacht und weigert sich darüber hin-
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Dr. Vossaus wohl auch noch, sich einmal durch einen Blick in die Kostenlisten zu informieren.
Sie brauchen sich ja nur den dritten Familienbericht der Bundesregierung anzuschauen, wo die Kosten für ein Kind mit 500 DM pro Monat angesetzt werden, und das sind nicht allein Kosten für Nahrung und Kleidung; in diesem Betrag sind auch Kosten für die Betreuung eines Kindes enthalten. Beispielsweise betragen die monatlichen Kindergartenkosten für nur einen halben Tag pro Kind 40 bis 50 DM, also im Jahr schon 480 bis 600 DM. Wenn das Kind gar ganztägig in eine Kinderkrippe gegeben wird — einigen Damen und Herren auf einer Seite dieses Hauses scheint das ja die richtigere Lösung zu sein, weil es ihren Vorstellungen mehr entspricht —, entstehen bereits Kosten in Höhe von 1 000 bis 1 200 DM im Jahr. Für die Unterrichtung eines Kindes beispielsweise im musikalischen Bereich — vom Klavier angefangen bis zur Mund- oder Ziehharmonika — entstehen Kosten von wöchentlich 10 bis 20 DM, also im Jahr auch von 500 bis 1 000 DM. Hinzu kommen Kosten für Sportvereine, Jugendklubs — und was Sie sich auf diesem Gebiet sonst noch alles vorstellen wollen.Wer die Ansicht vertreten sollte, daß die zuletzt aufgezählten Kosten nicht zu den Kinderbetreuungskosten gehören, weil man zwischen Betreuungskosten für Unterricht und Ausbildung auf der einen Seite und Betreuungskosten für behütende Maßnahmen auf der anderen Seite, d. h. für das bloße Beaufsichtigen des Kindes wie etwa das Babysitten, unterscheiden müsse, und daß nur die letzteren als echte Kinderbetreuungskosten steuerlich anzuerkennen seien, der muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er der Volksverdummung das Wort redet, weil er sich weigert, Kinder in anderen Bereichen zu fördern.Wer die Anerkennung eines weitgefaßten Kinderbetreuungsbetrages und dessen Pauschalierung ablehnt, darf sich meines Erachtens nicht mehr zu denjenigen zählen, die eine kinder- und familienfreundliche Politik für sich in Anspruch nehmen. Denn wie Sie, meine Damen und Herren, alle wissen, sind in unserem Steuerrecht für viele Berufsgruppen und die bei ihnen entstehenden Kosten Pauschalierungen üblich. Ich könnte hier im einzelnen die lange Liste der vom Bundesfinanzministerium zugelassenen Pauschalierungen aufzählen; ich will Ihnen das ersparen und mich darauf beschränken, zu sagen, daß, angefangen vom Politiker über den Journalisten und den Sportler bis hin zur Stripteasetänzerin — deren Bedeutung in der Presse bereits zum Ausdruck gekommen ist —,
Pauschalierungen üblich sind. Ich meine, was diesen allesamt ehrenwerten Berufen recht ist,
sollte unseren Kindern und unseren Familien billig sein.
Herr Abgeordneter Dr. Voss, ich würde da gewisse Einschränkungen machen.
Ich bin einverstanden, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, niemand wird mit überzeugenden Gründen bestreiten, daß sowohl die großzügige Auslegung des Begriffs „Kinderbetreuung" als auch die Pauschalierung der Steuervereinfachung dienen, und zwar sowohl beim Steuerbürger als auch beim Staatsdiener, der diese Vorschriften anzuwenden hat. Denn es bedarf dann keiner komplizierten und weitschweifigen Durchführungsbestimmungen und Verwaltungsanordnungen, die sich in schwer verständlicher, weil juristischer Manier damit auseinandersetzen, was gerade noch unter „behütende Betreuung" fällt und was bereits „ausbildende und unterrichtende Betreuung" ist. Hier würden dann zur Freude juristischer Rabulistiker und Haarspalter, aber zum Grauen des Steuerbürgers und auch des praxisbezogenen Steuerbeamten alle Grenzfälle abgehandelt werden. Zweifelsfälle, die die Steuerverwaltung von sich aus nicht zu lösen vermag, müßten von der Rechtsprechung in langwierigen und zeitraubenden Prozessen geklärt werden.Ein erster Vorgeschmack hierauf findet sich bereits jetzt in der Literatur, wo es heißt, daß Aufwendungen für Kindergärten, Kindertagesstätten, Tagesmütter, Vorschulen, für Unterricht in Sportvereinen oder in Tanzklubs, aber auch für Ballettunterricht zum Bereich der Betreuung und Beaufsichtigung gehören würden, während der Unterricht beispielsweise in Musikschulen und der Nachhilfeunterricht in den Bereich des sehr Zweifelhaften fielen, weil hier nicht klar sei, ob sie nicht bereits ausbildende oder unterrichtende Betreuung seien.Um das Dilemma deutlich zu machen, nur ein Beispiel: Wenn Nachhilfeunterricht bereits ausbildende oder unterrichtende Betreuung ist, wohin gehört dann die Beaufsichtigung beispielsweise von Schularbeiten in einem Silentium? Sinn und Zweck der Beaufsichtigung von Schularbeiten wie auch des Nachhilfeunterrichts dürften doch derselbe sein. Eine Unterscheidung steuerlicher Art dürfte dem staunenden Steuerbürger kaum verständlich und plausibel zu machen sein.
Es dient also der Steuervereinfachung, wenn im wesentlichen der gesunde Menschenverstand ausreicht, um entscheiden zu können, was der Kinderbetreuung dient und was nicht.Zweitens. Bei der von der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagenen großzügigen Handhabung des Kinderbetreuungsbetrags werden bürokratische Erschwerungen in der Anwendung vermieden. Die Eltern brauchen nicht in erbsenzählerischer Manier jeden Beleg zu sammeln, aufzuheben und dem Finanzamt vorzulegen, und der Finanzbeamte ist der „hochgeistigen" Tätigkeit enthoben, die vorgeleg-
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Dr. Vossten Belege im einzelnen zu prüfen, sie entweder anzuerkennen oder abzulehnen und das Gesamtergebnis zusammenzustellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Bitte sehr.
Herr Kollege Dr. Voss, würden Sie mir zustimmen, daß nichts einfacher wäre, als daß die Eltern von Kindern monatlich ein Kindergeld auf ihr Konto überwiesen bekommen und sie für nichts Belege sammeln müßten?
Herr Kollege, aus Ihrer Frage spricht wieder Ihre alte Anschauung, daß Sie es halt ablehnen, leistungsgerecht zu besteuern, und im Wege des Transfers weiter fortfahren wollen, Ihre Familienpolitik zu betreiben. Das ist nicht unsere Meinung, und das wird auch nicht unsere Meinung sein, Herr Kollege.
Niemand wird also bestreiten, meine Damen und Herren, daß die von uns vorgeschlagene Lösung die vernünftigere und auch die sympathischere ist.
Drittens. Fest steht, daß es den Eltern mit entsprechender 'Berufsausbildung leichterfallen wird, die erforderlichen Einzelnachweise der Betreuung dem Finanzamt vorzulegen; einesteils deshalb, weil sie geübter und versierter sind, sich Belege überhaupt geben zu lassen, dann aber auch diese aufzuheben und dem Finanzamt vorzulegen. Andererseits — das soll auch nicht verschwiegen werden — dürfte es hier auch leichter sein, sich auch dann Belege zu verschaffen, wenn sich die Fingierung eines Tatbestands als wünschenswert erweisen sollte. Gerade Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, sollten sich daher zu einer Pauschalierung der Kinderbetreuungskosten bequemen, damit nicht große Teile Ihrer Klientel, gegenüber der Sie sich immer als besonders sozial- und familienpolitisch zuständig darstellen, von Ihnen enttäuscht werden.
— Ich würde das gern, Herr Kollege Wehner, wenn ich auf Ihre Vernunft bauen dürfte.
Außerdem dürfte viertens eindeutig und klar sein, daß die Pauschalierung des Kinderbetreuungsbetrags, wie wir sie erstreben, auch ein Beitrag zur Steuerehrlichkeit ist, denn sie veranlaßt niemanden, sich in nicht in jeder Hinsicht zweifelsfreier Manier Belege zu beschaffen und sie dann dem Finanzamt vorzulegen. Wir wissen doch alle, daßGelegenheit Diebe macht. Wir sollten aus diesem Grunde Gelegenheit zur Steuerunehrlichkeit nicht bieten, um sie nachher nicht beklagen zu müssen.Fünftens. Wenn für die Gewährung des Kinderbetreuungsbetrags der Einzelnachweis beim Finanzamt verlangt wird und die Finanzbeamten dann pflichtgemäß die einzelnen Belege nachprüfen, werden in der Bundesrepublik etwa 1 000 Finanzbeamte für diese Tätigkeit zusätzlich erforderlich sein. Allein in Bayern sind es 300. Sie werden entweder neu eingestellt werden müssen, was bedeutet, daß der staatliche Apparat weiter aufgebläht wird, oder diese Beamten wird man bei anderer, sinnvollerer Tätigkeit entbehren müssen.
Entweder kommen also auf den Staat neue zusätzliche Personalkosten in beachtlicher Höhe zu,
oder es wird so sein, daß diese Beamten, weil sie sich mit dem bürokratischen Einzelnachweis befassen, für wichtigere und steueraufkommensträchtigere Tätigkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen. Das kann nicht der Sinn einer vernünftigen Gesetzgebung sein.
Man sollte doch endlich aufhören Gesetze zu machen, deren Vollzug derartige Konsequenzen hat.
Man sollte im Gegenteil endlich einmal Ernst machen mit dem Kampf gegen die Bürokratie und der ernsthaften Absicht ihres Abbaus; auch mit der ständigen weiteren Aufblähung des staatlichen Apparates sollte endlich einmal Schluß gemacht werden.
Sechstens. Der vorliegende Gesetzentwurf ist notwendig, um zu einer gleichmäßigen Rechtsanwendung im gesamten Bundesgebiet zu kommen. Der Bundesfinanzminister hätte zwar genügend Gelegenheit gehabt, den zahlreichen Aufforderungen, seine Zustimmung zu einer allgemeinen Verwaltungsanweisung zu geben, nachzukommen, aber dies hat er bisher abgelehnt. Er lehnt dies mit der Begründung ab — die wir als irrige Meinung ansehen —, daß die Einführung von Kinderfreibeträgen hier durch die Hintertür erfolgen würde.Bei dieser Haltung des Bundesfinanzministers blieb der CDU/CSU-Fraktion keine andere Möglichkeit, als den vorliegenden Gesetzentwurf einzubringen, damit die einheitliche Rechtsanwendung in der Bundesrepublik gewahrt wird. Es sei aber ausdrücklich erwähnt, daß es uns nicht wesentlich darauf ankommt, ob unsere Ziele durch ein Gesetz oder durch eine Verwaltungsanordnung unterstützt und erreicht werden. Wichtig ist uns lediglich, daß in der einen oder in der anderen Weise etwas getan wird, was diesen Zielen dient. Wenn Sie, mei-
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Dr. Vossne Damen und Herren von der Koalition, einmal nicht nur schöne, aber leere Worte machen wollen, sondern handeln wollen, dann hätten Sie hier dazu wieder einmal eine Gelegenheit, indem Sie sich unseren Vorstellungen anschließen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gobrecht.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach meinem Vorredner und angesichts der Politik, die er hier vertritt, fällt mir besonders auf, welche Wortwahl Sie von der Opposition haben. Bei Ihnen kommt das Kind offensichtlich nur als Kostenfaktor vor,
wobei Sie doch wissen, daß dies ein Begriff aus der Betriebswirtschaft ist. Man müßte Sie einmal ganz ironisch fragen: Wann reden Sie einmal von dem Ertrag der Produktion?
Das würde in diesem Zusammenhang erst einmal richtig zeigen, welch eine komische Haltung das eigentlich ist. Das Kind als Kostenfaktor kommt ja nicht hier vor.
Das kommt wieder vor, wenn Sie in der Familienpolitik von „Geburtenrate" sprechen. Was für Worte, kann man da nur sagen, was für eine Haltung, was für eine Politik, die Sie da vertreten!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei dem heute von der Opposition vorgelegten Gesetzentwurf geht es ja nicht etwa um die Klarstellung einer Vorschrift, die letzten Endes von Ihnen, von der Opposition, von der CDU/CSU, initiiert worden ist, sondern es geht um etwas scheinbar Neues, das Abgelegtes, Schlechtes, Altes, das wir seit 1975 überwunden glaubten, wieder einführen will. In Wirklichkeit geht es hier doch darum, daß die steuerlichen Kinderfreibeträge wieder eingeführt werden sollen — versteckt wie ein U-Boot zu alten Zeiten.
Meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrer wie immer modischen Anti-BürokratiePhilippika — der öffentliche Dienst wird Ihnen da aufmerksam zuhören, so darf ich nur einmal dazwischenfügen — tun Sie so, als hätten Sozialdemokraten und Freie Demokraten den Kinderbetreuungsbetrag erfunden, um den es hier geht, obwohl Sie doch genau wissen oder wissen könnten, daß dieser Kinderbetreuungsbetrag nach einem langenVermittlungsverfahren wegen Ihrer erneuten Forderung nach Kinderfreibeträgen als Kompromiß von allen verantwortlichen Seiten akzeptiert worden ist. Sie sollten die Vaterschaft nicht so verleugnen; es gibt Methoden, sie festzustellen.
Außerdem, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, tun Sie so, als ob ein Antrag, Mehraufwendungen steuerlich absetzen zu können, für die Bürger wie für die Verwaltung etwas völlig Neues, etwas Einmaliges, etwas nie Da-gewesenes sei. Hier stellen Sie doch nun wirklich Ihr eigenes Licht unter den Scheffel. Sie müßten es besser wissen. Dies gibt es doch längst bei den Werbungskosten der Einkünfte der Arbeitnehmer aus nichtselbständiger Arbeit; denken Sie an die Aufwendungen für Berufskleidung, denken Sie an die Aufwendungen für Fachliteratur, denken Sie an die Reisekosten und ähnliches. Natürlich gibt es dies auch längst bei den außergewöhnlichen Belastungen, die ja hier begrifflich einschlägig sind. Wir haben das — auch das wissen Sie — bei den Aufwendungen für DDR-Pakete, wir haben das bei Unterstützungszahlungen, Unterhaltszahlungen und dergleichen mehr.
Das ist überhaupt nichts Neues. Und selbstverständlich ist das so abzuwickeln, wie es im Einkommen- und Lohnsteuerrecht seit alters her üblich ist, außerdem jedermann geläufig ist. Fragen Sie doch einmal die Bürger, sprechen Sie einmal konkret mit ihnen! Es ist ganz klar: Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten.Die eine ist der Nachweis der Mehraufwendungen, was bei ganz typischen Aufwendungen doch auch gar kein Problem ist, etwa bei den Aufwendungen für den Kindergarten, für den Sportverein, für die Haushaltshilfe oder für die Hausgehilfin. Bei der Hausgehilfin hatten Sie doch auch nie Bedenken, obwohl man fragen muß: Wer kann sich denn heute noch eine Hausgehilfin leisten? Sie haben doch seinerzeit diese Regelung ins Gesetz gebracht und wollen sie auch beibehalten. Auch hier ist der Nachweis der Kosten etwas, was wir immer gehabt haben.Die zweite Möglichkeit ist die der schlichten Glaubhaftmachung im Rahmen von betraglichen Nichtbeanstandungsgrenzen. Auch dies ist eine alte Sache, die wir längst haben: im Bereich der Werbungskosten, bei den von mir genannten Beispielen. Das ist also gar nichts Neues, kein Grund, sich groß aufzuregen.Die Bürokratie-Arie, der jammervolle Gesang von der riesigen Zettelwirtschaft und erst recht der gegen die Bürger gerichtete Verdacht der Steuerhinterziehung sind hier wahrlich nicht angebracht. Sie wollen damit im Grunde doch nur verdecken, was Sie wirklich wollen. Was ist denn das im Klartext? Es ist die Rückkehr zu den alten, ungerechten steuerlichen Kinderfreibeträgen der 50er Jahre.
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GobrechtEs ist die Rückwendung zum Dualismus, zur Doppelspurigkeit von steuerlichen Kinderfreibeträgen und Kindergeld. Und zu wessen Lasten? Zu Lasten der Höhe des Kindergeldes, das der Staat zahlen kann; denn Geld ist allemal und immer knapp. Nichts anderes als die Rückkehr zu den Kinderfreibeträgen beinhaltet die Forderung nach schlichter Pauschalierung der Aufwendungen für Kinderbetreuungskosten. Mit anderen Worten: Es ist sozusagen der Fuß in der Tür, mit dem die Opposition in schlechter Vertretermanier versucht, den Kinderfreibetrag wieder einzuführen — so nach der Melodie: „Sicher in die 50er Jahre!"
Nun wollen wir uns doch einmal ganz genau anschauen, was denn dies konkret für die Bürger bedeuten würde. Erneut hätte die Tatsache, daß in einer Familie ein Kind vorhanden ist, völlig unterschiedliche Entlastungswirkungen, je nachdem, ob der Betroffene Spitzenverdiener, Normalverdiener oder Kleinverdiener wäre.
— Ich gehe durchaus vom gegenwärtigen Gesetz aus, und Sie werden gleich die Zahlen hören, die sich aus der gegenwärtigen Regelung ergeben. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Das ist doch eine höfliche Bitte an die Opposition.
Der Kleinverdiener würde von einem Kinderfreibetrag in der Regel gar nichts haben, null Mark, weil er ihn gar nicht ausschöpfen könnte. Wie sich eine solche Regelung in den anderen Bereichen auswirken würde, zeigen folgende Beispiele. Nehmen wir einmal die Normalfamilie mit zwei Kindern. Jetzt komme ich, Herr Kollege, genau zu den konkreten Zahlen von heute. Eine solche Familie erhält ab 1980 jährlich 1 800 DM, also monatlich 150 DM, Kindergeld. Um denselben Betrag zu erreichen, müßte der Normalverdiener einen steuerlichen Kinderfreibetrag von sage und schreibe 8 182 DM erhalten. Würde man aber diesen Freibetrag einräumen, so hätte der Spitzenverdiener dadurch eine steuerliche Entlastung von 4 582 DM statt der 1 800 DM Kindergeld.
also monatlich 382 DM gegenüber 150 DM Kindergeld.
— Ich kann leider nebenbei nicht auch noch hören, was Sie dazwischenrufen.Daß sich die Diskrepanz bei weiteren Kindern noch steigern würde, ist doch ganz ,klar. Bei dreioder vier Kindern hätte man bereits Steuerfreibeträge, die das Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer übersteigen würden und sich folglich überhaupt nicht auswirken könnten.
Daß Sie diesen Weg des Rückschritts zum Kinderfreibetrag gehen wollen, zeigt doch auch den konzeptionellen Zickzackkurs der Opposition, die sich zeitweise als Anwalt von Otto Normalverbraucher aufspielen will. 1974 kam nach langem, langem Zögern schließlich die Zustimmung der CDU/CSU — in letzter Minute schließlich sogar noch ein Gesetzentwurf —, das Kindergeld einzuführen und die steuerlichen Freibeträge abzuschaffen. Am Schluß wurde dann noch so getan, als ob das Kindergeld eine Idee der CDU/CSU gewesen wäre. Aber bald danach kehrten Sie in der Praxis — wie auch heute — in Ihren Forderungen dazu zurück, daß Sie steuerliche Vorteile schaffen wollen, die um so höher sind, je mehr jemand verdient, und Sie begründen es unter Krokodilstränen mit einer angeblichen Zettelwirtschaft.Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird diesen Rückschritt mit Entschiedenheit ablehnen, weil damit alte Ungerechtigkeiten erneut eingeführt würden, weil dies erneut eine von der Opposition gewollte verteilungspolitische Schlagseite brächte und weil ganz nebenhei die Pauschalierung der Kinderbetreuungskosten einen Steuerausfall von 3,5 Milliarden DM zu Lasten der Bürger brächte, die lieber ein höheres Kindergeld wollen.
Schließlich muß das rechtsstaatlich zumindest sehr eigenartige Verhalten des CDU-Landesfinanzministers Gaddum in Rheinland-Pfalz angesprochen werden: Während die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Begründung ihres Gesetzentwurfes ganz korrekt sagt:Die Inanspruchnahme des mit dem Steueränderungsgesetz 1979 eingeführten, ab 1980 gelten, den sogenannten Kinderbetreuungsbetrages von 600 DM je Elternteil bzw. 1 200 DM je Kind setzt voraus, daß die Aufwendungen im einzelnen nachgewiesen werden .erklärt Minister Gaddum im „Handelsblatt" am Montag dieser Woche — ich zitiere wörtlich —:Dann werden wir als Landesverwaltung von Rheinland-Pfalz gezwungen sein, unseren Finanzämtern eine allgemeine Anweisung zu geben, den Begriff der Kinderbetreuung großzügig auszulegen und auf Belege zu verzichten. Das würde selbstverständlich auf eine allgemeine Pauschalierung herauslaufen.
Meine Damen und Herren, die Verwirklichung ei-ner solchen Ankündigung — überhaupt schon einesolche Ankündigung eines auf die Verfassung ver-
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Gobrechteidigten Landesministers — ist wohl ebenso einzigartig wie unverantwortlich.
Wie kann man überhaupt über eine Anweisung nachdenken, die klar gegen den unmißverständlichen Wortlaut des Gesetzes verstieße? Dies gäbe im Ergbnis einen eindeutigen Gesetzesbruch durch einen Landesminister, dem im übrigen die Beamten nicht gehorchen dürften. Dies wäre über die glatte Gesetzesumgehung hinaus ein Akt der administrierenden Gesetzgebung, die das Parlament, der Deutsche Bundestag, auf gar keinen Fall hinnehmen dürfte.
Sehr verehrte Damen und Herren der Opposition, Sie sollten mit Ihrem Parteifreund in Mainz ein klares Wort reden und ihn auf den rechtsstaatlichen Pfad der Tugend zurückführen.
Sie müssen sich in diesem Zusammenhang natürlich auch fragen lassen: Was sind denn eigentlich Kompromisse wert, die mit Ihnen nach langen, zähen Verhandlungen im Vermittlungsausschuß beschlossen und hier dann einstimmig als gesetzliche Bestimmungen verabschiedet werden?
Was sind solche Kompromisse wert, wenn sie so unterlaufen werden? Damit ist doch die Frage nach der Glaubwürdigkeit auch der CDU/CSU-Fraktion gestellt, was zukünftige Verhandlungen anbelangt.
Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, es schon für nötig halten — wie hier in der Haushaltsdebatte der vorigen Woche durch den Herrn Oppositionsführer geschehen —, Gemeinsamkeit in bestimmten Fragen anzubieten, dann erhalten Sie uns allen doch wenigstens die bisher vorhandene Gemeinsamkeit der rechtsstaatlichen und einheitlichen Anwendung einmal beschlossener Gesetze in der Bundesrepublik.
Tun Sie dies, ganz gleich, wie sich die Landesregierungen zusammensetzen. Beweisen Sie durch ein Einwirken in Mainz, daß getroffene Vereinbarungen unter soliden Partnern einzuhalten sind, erst recht aber darauf beruhende Gesetze. Für die Glaubwürdigkeit eines Verhandlungspartners gilt nämlich auch im Inland: „Pacta sunt servanda."
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Was der Kollege Voss gesagt hat, klingt sicherlich sehr gut, wie alles so schön und eingänglich klingt, was Sie in diesen Tagen und Wochen an Milliardenversprechungen in die deutsche Bevölkerung bringen. Ich denke z. B. an die Rede von Herrn Burger in der vorigen Woche — und nun dieses: All dies sind Milliardengeschenke, von denen Sie nur niemals sagen, wie Sie sie denn eigentlich finanzieren wollen.
So klingt denn auch dieses hier natürlich sehr gut, besonders bei denen in der Bevölkerung, die die Systematik der Steuergesetze verständlicherweise nicht kennen können. Darauf spekulieren Sie ja.
— Auch die, die die Praxis kennen? Ich komme gleich darauf. Ich verstehe etwas davon. Darauf können Sie sich verlassen.
Zunächst möchte ich das aufgreifen, was Kollege Gobrecht gesagt hat: Welches Verständnis haben Sie eigentlich vom Vermittlungsverfahren, wenn Sie eine im Vermittlungsverfahren einvernehmlich getroffene Regelung schon vor Inkrafttreten des Gesetzes durch eine Änderung in Frage stellen?
Hier stellt sich wirklich die Frage, welches Verständnis Sie vom Sinn einer Vermittlung haben und was Sie von Fairneß halten. Wir bedauern Ihr Vorgehen.
Aber da das nun so ist, werden wir uns mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen.
Frau Abgeordnete Funcke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kreile?
Ja.
Frau Kollegin Funcke, erinnern Sie sich, daß eine hochgeschätzte Kollegin dieses Hauses
das Ergebnis dieses Vermittlungsverfahrens aus anderen Gründen sogar als verfassungswidrig in Frage gestellt hat, und zwar bevor dieses Gesetz zum 1. Januar 1980 in Kraft tritt, und sind Sie in der Lage, dies zu erläutern?
Wenn Sie mich zu Ende kommen lassen, Herr Kollege, komme ich ganz sicher auf diesen Punkt zu sprechen. Was ich angegriffen habe, war nicht das Ergebnis des Vermittlungsausschusses, sondern eine einzelne Teilbestimmung, die bei der Ausformung des Vermittlungsergebnisses meines Erachtens verfassungsbedenklich geraten ist.
— Wir können näher darauf eingehen, wenn Siewollen. In der mitternächtlichen Runde ist etwasvereinbart worden, was nachher durch die Verwal-
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Frau Funcketung ins Gesetz geschrieben wurde. Da wir im Vermittlungsausschuß nicht protokollieren, kann ich nur an die Erinnerung derer, die dabeiwaren, appellieren: Ich habe die Frage der getrennten Ehen und ihrer gleichberechtigten Berücksichtigung von Anfang an gestellt und immer wieder in den Vordergrund gerückt. Nun können wir als Abgeordnete nicht jeden Text in kurzer Zeit bis zum letzten exegetisieren. So konnte es geschehen, das, was zum Schluß herausgekommen ist, nämlich daß ein Alleinstehender, der keine Unterhaltsansprüche hat und verwitwet ist, den vollen Steuerbetrag geltend machen kann, aber ein Alleinstehender, der Unterhaltsansprüche hat, nur den halben Steuerbetrag geltend machen kann, ohne daß etwa der Unterhaltsverpflichtete die andere Hälfte bekommt, verfassungswidrig ist; besonders nach den Urteilen, die uns vorliegen. Diese Einzelheit, die für die Betroffenen wichtig ist, aber im Rahmen des Vermittlungsverfahrens ein Randproblem gewesen ist, habe ich von Anfang an für problematisch gehalten. Deshalb stimme ich Ihrem Gesetzentwurf insoweit zu, als dies korrigiert werden muß, allerdings anders, als Sie es machen wollen.Generell wundert es mich, daß diese Rede, die Sie über die Schwierigkeit von Nachweisen führen, erst jetzt kommt. Denn bisher müssen die Kosten für eine Hausgehilfin selbstverständlich nachgewiesen werden. Das ist wirklich nichts Neues. Das ist unangefochten seit vielen Jahren. Das haben Sie nie angegriffen. Das gilt auch für andere steuerabzugsfähige Ausgaben, die man, wenn man sie geltend machen will, nachweisen muß. Ich habe noch nie gehört, daß Sie etwa die Spenden pauschalieren wollen oder die Sonderausgaben nicht mehr nachweispflichtig sein lassen wollen oder daß Sie Ausbildungskosten im Rahmen der Sonderausgaben einfach jedem zubilligen, weil Sie sagen: Es ist lästig, dafür einen Beleg beibringen zu müssen. Das alles halten Sie für normal.
Nur an diesem einen Punkt werden Sie plötzlich empfindlich gegen Nachweise.
Ich könnte Ihnen viel zur Pauschalierung empfehlen. Nur weiß ich nicht, wo dann letztendlich die Gerechtigkeit bleibt.Der Betreuungsfreibetrag ist eindeutig als außergewöhnliche Belastung konstruiert. Was das ist, sagt § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes:Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes , so wird auf Antrag die Einkommensteuer dadurch ermäßigt...Das heißt: es soll die Einkommensteuer durch einen Freibetrag ermäßigt werden, wenn nachweislich größere Aufwendungen als bei anderen Steuerpflichtigen entstanden sind. Auf Grund der angeführten Definition ist es daher nach meiner Meinung rechtlich nicht möglich, diesen Betrag voll zu pauschalieren; denn nicht jedem erwachsen entsprechende Aufwendungen für die Betreuung. Es geht ja nicht um den allgemeinen Unterhalt, sondern um Aufwendungen für personelle Leistungen.Herr Voss, es scheint mir nicht sehr schwierig, sich darüber zu verständigen, was unter den Worten „erwachsen ... zwangsläufig" zu verstehen ist. Darunter fällt natürlich die Betreuung eines Kindes durch eine Kraft bei Abwesenheit der Eltern oder wenn ein Kind aus pädagogischen Gründen einen Kindergarten besucht, und darunter fällt auch die Hilfe bei den Schularbeiten. Denn da der Staat die Schulpflicht eingeführt hat, sehe ich diese Hilfe bei entsprechenden Schwierigkeiten als eine zwangsläufige Ausgabe an. Darunter fallen aber nicht die Reitstunde oder das Tennistraining. Das mag zwar sehr nützlich sein, aber es ist nicht zwangsläufig im Sinne dieses Gesetzes und dessen bisheriger Interpretation.
Mit einer Pauschalierung wird der Gerechtigkeit nicht gedient. Sie haben sicher wie ich Briefe von Witwern mit mehreren Kindern bekommen, die sehr hohe Aufwendungen für die Betreuung der Kinder haben. Diese Witwer werden es sehr schwer verstehen, wenn wir dieselben steuerlichen Erleichterungen einer Familie geben, die diese hohen Aufwendungen nicht hat. Der Witwer verliert erst sein Splitting und hat dann noch die besonders hohen Aufwendungen. Und für diese Belastung wollen Sie für Fremdhilfe im Haushalt und in der Erziehung steuerlich nicht mehr Entlastung geben als bei einem Ehepaar mit Splittingvorteil und keinen solchen Aufwendungen? Wir wollen hingegen solche hohen Aufwendungen dort berücksichtigen, wo sie tatsächlich entstehen. Da wird nun gesagt, die Hausfrauenmutter werde dadurch „bestraft". Aber sie hat ja den Vorteil, daß sie diese hohen Aufwendungen erst gar nicht hat. Schließlich ist eine Steuererleichterung immer noch eine geringere Ersparnis, als wenn man die Ausgaben überhaupt nicht hat.
— Ich spreche sehr positiv über die Hausfrauenmutter. Sie wissen, daß ich das Splitting immer wieder gegen Angriffe verteidige, weil ich es für berechtigt ansehe, daß eine Ehe steuerlich begünstigt wird, in der ein Elternteil auf Erwerb verzichtet. Hinzu tritt dann, wenn in einer Ehe ein Elternteil auf Erwerb verzichtet, der Vorteil geringerer effektiver Betreuungskosten.Wir haben nun allerdings die Möglichkeit im Steuerrecht, unter bestimmten Voraussetzungen und in begrenztem Umfang das Anfallen von jeweils ähnlichen Kosten als gegeben anzusehen. Bei den außergewöhnlichen Belastungen ist das z. B. bei den Behindertenfreibeträgen der Fall. Dort wird in einer bestimmten, allgemein anfallenden Größen-
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Frau Funckeordnung generell ein Freibetrag gewährt, wobei tatsächlich entstandene höhere Aufwendungen bei entsprechendem Nachweis anerkannt werden. Ich meine, wir könnten uns hier auf eine ähnliche Regelung einigen, indem wir ohne Nachweispflicht einen Teilbetrag etwa in der Höhe der durchschnittlichen Kosten eines Kindergartenplatzes gewähren; denn ein Kostenanfall in dieser Größenordnung ist dann zu vermuten. Aber wer höhere Aufwendungen' hat, der sollte und müßte dies auch nachweisen können. Das sind dann ja auch meistens größere Blöcke: etwa die Ausgaben für eine Hausgehilfin oder für auswärtige Unterbringung oder Internats- oder Hortkosten. Das ist nicht eine Zettelsammelei über Kleinstbeträge, sondern kann in einem einzigen Beleg sehr einfach nachgewiesen werden. Deswegen wäre das, so meine ich, der richtige Weg, zu einer vernünftigen Regelung zu kommen, auch gemeinsam mit den Ländern, wenn wir ein bißchen vernünftig miteinander umgehen.Dazu kommt die Korrektur, über die wir vorhin gesprochen haben: daß bei einem Alleinstehenden mit Kind, ganz unabhängig davon, ob Unterhaltsansprüche bestehen oder nicht, steuerlich der gleiche Freibetrag gegeben werden muß wie bei Verheirateten. Es wäre geradezu merkwürdig, wenn man der alleinstehenden Mutter mit einem wie auch immer gearteten, begrenzten und mitunter fragwürdigen Unterhaltsanspruch für die Betreuung des Kindes weniger Steuerermäßigung einräumen würde als einem Ehepaar. Dies können wir nun wirklich niemandem verständlich machen. Darum bin ich der Meinung, daß wir das insoweit durch eine Korrektur bei der nächsten Gelegenheit eines Steueränderungsgesetzes richtigstellen müssen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu den Kosten sagen. Ich deutete das ja am Anfang bereits an. Das, was seinerzeit in den Etat eingestellt worden ist und was im Vermittlungsverfahren die Zustimmung der Opposition und der Länder gefunden hat, hat eine Größenordnung von etwa einer halben Milliarde DM Steuerausfall. Was Sie fordern, kostet 4 Milliarden DM, und das ist nur ein Punkt von den vielen, vielen Mehrausgaben oder Mindereinnahmen, die Sie überall fordern. Wir können das ja mal addieren. Zum 1. Januar 1980 sind bei Einrechnung von nur einer halben Milliarde DM Ausfall bei den Kinderbetreuungskosten insgesamt bereits 5 bis 7 Milliarden DM Steuerentlastung des Bürgers beschlossen worden. Dazu kämen mindestens 3 1/2 Milliarden DM mehr, wenn wir dieses Gesetz annähmen. Dann kommt der Bayern-Entwurf zur Tarifänderung zum 1. Januar 1980 mit weiteren 8 bis 9 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, das addiert sich auf mindestens 17 Milliarden DM. Und da sind Herrn Burgers familienpolitische Mehraufwendungen noch gar nicht drin. Wollen Sie, bitte schön, sagen, wie Sie das ohne eine ganz gewaltige Mehrverschuldung finanzieren wollen?
Gleichzeitig reden Sie immer davon, daß die Schulden herunter müßten und daß wir endlich zu einerausgeglichenen Haushaltslage kommen sollten. Mitdieser Methode, in der Sie das betreiben, geht es nun allerdings nicht. Oder sagen Sie uns einmal konkret, wo Sie entsprechend große Blöcke von Ausgabenstreichungen sehen. Warum drücken Sie sich immer darum herum?Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten außergewöhnliche Belastungen das bleiben lassen, was sie sind und wie wir sie bisher verstanden haben. Wer wirklich hohe Ausgaben hat, soll sie nachweisen; dann bekommt er die besondere Belastung steuerlich entsprechend berücksichtigt, damit die Last etwas geringer wird.
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der erste Satz der Begründung des Gesetzentwurfs der CDU/CSU-Fraktion bestätigt meinen Standpunkt in der Diskussion, die ich nun schon seit Monaten mit den Finanzministern einiger unionsregierter Länder führen muß. Er unterstreicht zugleich die Widersprüche innerhalb der Union. Ich stimme insoweit ausdrücklich der Begründung des vorliegenden Entwurfs zu, als es da heißt — ich zitiere aus der uns vorliegenden Drucksache —:Die Inanspruchnahme des mit dem Steueränderungsgesetz 1979 eingeführten, ab 1980 geltenden sogenannten Kinderbetreuungsbetrages von 600 DM je Elternteil bzw. 1200 DM je Kind setzt voraus, daß die Aufwendungen im einzelnen nachgewiesen werden .Während einige unionsregierte Länder die Auffassung vertreten, die Finanzbehörden könnten bei der Geltendmachung von Kinderbetreuungsbeträgen eine Pauschalierung durchführen, und auf den Nachweis der Aufwendungen verzichten wollen, vertritt die CDU/CSU-Fraktion also meinen Standpunkt, daß eine Vollpauschalierung nach dem Wortlaut des Gesetzes unzulässig ist. Eine entgegenstehende Verwaltungsanweisung, wie sie . von einigen Ländern angekündigt wird, wäre ein klarer Akt der Gesetzesumgehung und eine Aushöhlung des allgemeinen Rechts des Parlaments zur Steuerbewilligung.
Das widerspräche dem Sinn dessen, was wir im Vermittlungsausschuß vereinbart haben. Wenn der Herr Kollege Gobrecht sich an diejenigen wandte, die in der Politik lateinisch sprechen, damit sie das Volk nicht versteht, und „pacta sunt servanda" sagte, dann darf auch ich, da der klare Wortlaut des Gesetzes eine Interpretation nicht zuläßt und für Auslegungen keinen Raum läßt, Ihnen in meinem, zugegebenermaßen, Meßdienerlatein, sagen: Verba clara — interpretatio admissa non est.
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Herr Bundesminister, ich muß feststellen, daß nicht alle Damen und Herren dieses Hauses humanistisch gebildet sind.
Es bleibt Ihnen nicht erspart, das ins Deutsche zu übersetzen.
Matthöfer: Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident, wenn einige der christlich demokratischen Abgeordneten so lange wie ich Meßdiener gewesen wären, dann hätten sie auch keine Kinderbetreuungskosten für Lateinunterricht in Anspruch nehmen müssen.
— „Bei absoluter Eindeutigkeit ist für Auslegung kein Raum" — dies ist ständige höchstrichterliche Formulierung auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Landesregierungen von Bayern und Rheinland-Pfalz haben sich so in ihren unhaltbaren Standpunkt verrannt, daß sie sogar mit einer inhaltlich abweichenden Auslegung und mit einem Alleingang ihrer Länder in dieser Frage drohen. Eine entsprechende Weisung an die Finanzämter dieser unionsregierten Länder wäre nicht nur ein Bruch der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern aus dem Jahre 1969, wonach allgemeine Weisungen der obersten Finanzbehörden der Länder der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen bedürfen — Herr Kollege Voss, wegen der einheitlichen Auslegung und Handhabung im Bundesgebiet —, sie wäre auch eine klare Aufforderung an die ihnen unterstehenden Beamten zur Verletzung eines Bundesgesetzes. Das wäre ein einmaliger Akt. Wenn wir dies zuließen, dann bekämen wir eine andere Republik.
Das geht nicht. Wann werden Sie das endlich begreifen? Sie können nicht weniger einnehmen, mehr ausgeben — z. B. beim Familiengeld —und auch noch weniger Kredite aufnehmen wollen. Sie müssen wirklich einmal die Logik Ihrer Forderungen betrachten, Sie werden damit beim Wähler nicht durchkommen; ich kann Ihnen das nur noch einmal ankündigen.
Der Vorschlag, einen Kinderbetreuungsbetrag als außergewöhnliche Belastung einzuführen, der dann auch Gesetz wurde, wurde uns von Ihnen,' den Vertretern der Opposition und der unionsregierten Länder, in einer Situation aufgezwungen, in der wir vor der Alternative standen, andernfalls das damalige, aus volkswirtschaftlichen Gründen, d. h. zur Sicherung der Beschäftigung, erforderliche Entlastungs-Paket scheitern zu lassen. Wir haben diesen Kompromiß im Vermittlungsausschuß akzeptieren müssen, um unsere auf dem Bonner Gipfel gegebenen Zusagen einhalten zu können. Das habe ich am 24. November des vergangenen Jahres im Bundesrat ganz klar dargestellt. Sie können im Protokoll nachlesen, daß ich diese Regelung als eine Mißgeburt bezeichnet habe. Ich lehne die Vaterschaft hier noch einmal ausdrücklich ab.
Sie sind der Erzeuger dieser Mißgeburt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Dr. Kreile?
Ja, natürlich.
Herr Bundesminister der Finanzen, darf ich zwei Fragen stellen. Die erste: Haben Sie dem Gesetz seinerzeit zugestimmt, das Sie jetzt ablehnen? Die zweite Frage —
Herr Abgeordneter, verbinden Sie beide Fragen, um der Geschäftsordnung gerecht zu werden!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In diesem Fall genügt mir die Antwort auf die erste Frage.
Natürlich habe ich dem Gesetz zugestimmt.
Es gibt eine dicke schwarze Mehrheit im Bundesrat,
die uns gesagt hat: Wir werden dies nicht durchgehen lassen, wenn Sie uns nicht etwas — jetzt kommt wieder Latein — mit Progressionseffekt geben. Für diejenigen, die das nicht verstehen, will ich es gerne erklären. Sie meinten: Wir Christdemokraten wollen etwas haben, was die höheren Einkommensschichten begünstigt und die unteren Einkommensschichten benachteiligt.
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Bundesminister MatthöferDas bedeutet nämlich „Progressionseffekt". Sie können doch bei den Zahlen, die Herr Kollege Gobrecht vorgerechnet hat, Herr Kollege Voss, nicht von leistungsgerechter Besteuerung sprechen. Wieso soll bei demjenigen, der den Spitzensteuersatz hat, die Leistung der Erziehung des Kindes dreimal so hoch belohnt werden, wie bei einem Arbeiterhaushalt, in dem der Verdiener einen niedrigeren Steuersatz zahlt?
Sie, Herr Dr. Häfele, haben seinerzeit erklärt, die Opposition werde diese Nachweispflicht abschaffen, sobald Sie die Mehrheit haben. Die haben Sie noch nicht, wie Sie ja im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens feststellen werden.
— Nein, sie wird Ihnen auch im nächsten Jahr nicht gegeben werden, weil Ihre Argumentation unsolide ist, wie jeder einsehen muß.Nachdem Sie nun Progressionseffekte erzielt haben, und da Sie die Mehrheit dort haben, wo wir Ihre Zustimmung benötigen, dies auch durchsetzen konnten, drehen Sie das um und sagen, daß dies eine Vorschrift für die oberen zehntausend Eltern sei. Das ist nun wirklich barer Unsinn; entschuldigen Sie bitte. Denn Dienstleistungen für die Beaufsichtigung und Betreuung von Kindern sind immer dann gegeben, wenn Eltern ihre Kinder in Krabbelstuben, Kindergärten oder bei Tagesmüttern unterbringen.
— Ich weiß ja nicht, woher Sie Ihre Assoziationen bekommen. Kinderläden wären mir zuletzt eingefallen. Ihnen steht überhaupt nicht zu, zu interpretieren, wo ich Kinder gerne haben möchte.
Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Im Sommer 1974 — da ich damals noch mit anderen Problemen intensiv beschäftigt war, habe ich das jetzt alles nachgelesen — wurde nach zweimaligem Vermittlungsverfahren die Steueränderung von 1975 von den gesetzgebenden Körperschaften verabschiedet. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, auch die Fraktion der CDU/CSU und der gesamte Bundesrat ohne Ausnahme, also auch die unionsregierten Länder, haben dem im Vermittlungsverfahren gefundenen Kompromiß zugestimmt. Kernstück dieser damaliger Änderungen war die Abschaffung der steuerlichen Kinderfreibeträge und ihre Ersetzung durch ein allgemeines, vom Einkommen der Eltern unabhängiges Kindergeld.
— Sie haben dann später noch einmal im Juli einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich inhaltlich mit dem Koalitionsentwurf deckte und haben in der Begründung sogar auf ihn verwiesen. Wennder Herr Präsident gestattet, lese ich aus Ihrer damaligen Begründung einmal vor:Aus familien- und sozialpolitischen Gründen sollen die Kinderfreibeträge — —— wohlgemerkt: aus familienpolitischen Gründen!
— Wenn das damals falsch war, woher sollen wir wissen, daß das heute richtig ist?
Ich zitiere also:
Aus familien- und sozialpolitischen Gründen sollen die Kinderfreibeträge des Einkommensteuerrechts, das Kindergeld nach dem Bundeskindergeld und der besoldungsrechtliche Kinderzuschlag durch eine für alle Eltern gleiche, also einkommensunabhängige, vom ersten Kind an zu zahlende neue Leistung erbracht werden. Diese Vereinheitlichung des Familienlastenausgleichs bedingt die Aufhebung der Kinderfreibeträge im Einkommensteuergesetz.Damals haben wir uns als Bundestag — um Zustimmung des Bundesrates bemüht — zu einer Vereinheitlichung entschlossen. Diese Vereinheitlichung wollen Sie jetzt rückgängig machen und bezeichnen das als Vereinfachung. Wer soll denn das wohl noch verstehen? Die Versuche, das wieder zurückzudrehen, setzen dann ja ein. Einige Kollegen haben das schon geschildert; ich will darauf nicht weiter eingehen. Wir jedenfalls haben das Ergebnis des Vermittlungsausschusses akzeptiert, und nun wird das auch durchgeführt.Ich bin allerdings gern bereit — ich habe das früher schon gesagt, ich wiederhole das hier —, mich mit den obersten Finanzbehörden der Länder auf eine Verwaltungsanweisung zu verständigen, die auf der Grundlage des geltenden Rechts den Aufwand von Bürgern und Verwaltung auf ein Mindestmaß beschränkt und gleichzeitig eine möglichst unbürokratische Handhabung der Nachweispflicht gewährleistet.In der öffentlichen Diskussion ist wenig beachtet, wenn nicht sogar bewußt verschwiegen worden, daß der Nachweis von Aufwendungen im Steuerrecht häufig auch durch Glaubhaftmachung erbracht wird. Bei typischerweise erwachsenden Aufwendungen und überschaubaren Beträgen können die Finanzämter davon absehen, das Fehlen von Belegen zu beanstanden. Das gilt auch für Kinderbetreuungskosten. Eine derartige Praxis der Glaubhaftmachung, wobei, Herr Kollege Voss, der gesunde Menschenverstand immer eine Rolle spielt,
gibt es sicher bei den außergewöhnlichen Belastungen. Sehen Sie sich doch einmal die lange Liste dessen an, was alles glaubhaft gemacht werden kann. Ich habe mir das mal für mein Land Hessen heraussuchen lassen. Vielleicht kann man darauf zurückgreifen. Dies ist eine vernünftige, dem gesunden Menschenverstand entsprechende Handha-
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Bundesminister Matthöferbung. Das, was Sie hier darstellen, ist ein Zerrbild der Finanzbürokratie. Die Finanzbeamten sind viel vernünftiger, als Sie sie draußen erscheinen lassen wollen.
Aber dies ist — ich betone das ausdrücklich — keine Pauschalierung. Es ist ein in der Steuerverwaltung vielfach angewandtes und gängiges Verfahren. Wenn sich die Länder auf eine gesetzeskonforme Auslegung der Bestimmungen verstanden haben, sollte es möglich sein, auf Verwaltungsebene ein praktikables, einfaches und unbürokratisches Verfahren zu finden.Man kann auch daran denken, die Einheitlichkeit der Praxis durch Festlegung einer Nichtbeanstandungsgrenze zu sichern, obwohl das, wie ich festgestellt habe, bei den außergewöhnlichen Belastungen durchaus nicht immer üblich ist. Da gibt es auf vielen Gebieten keine bundeseinheitliche Handhabung.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voss?
Sehr gern, Herr Präsident.
Herr Bundesfinanzminister, darf ich Sie fragen, wann Sie sich, wenn überhaupt einmal, über die Zustände bei unseren Finanzämtern erkundigt haben.
Das tue ich ja nun wirklich. Eines können Sie nicht sagen: daß ich meinen Dienstpflichten nicht nachkomme.
Dazu gehört auch, daß ich mich bei den Finanzämtern umsehe, obwohl sie, verehrter Herr Kollege Voss, nicht meiner Dienstaufsicht unterstehen. Das wissen Sie ja;
die unterstehen den Ländern. Ich gucke mich da also, wie gesagt, schon um. Ich muß die Finanzbeamten in Schutz nehmen, wenn Sie sagen, sie handelten nicht nach dem gesunden Menschenverstand.
Einfacher wäre es allerdings, wenn wir diese uns aufgezwungene Lösung wieder abschafften und dafür in entsprechendem Maße das Kindergeld erhöhten.
Das war unser erster Vorschlag. Zu gegebener Zeit können wir darauf zurückkommen. Wenn eine Erhöhung des Kindergeldes ansteht, können wir darüber diskutieren, daß wir es ein bißchen mehr erhöhen und dafür diese unglückliche, uns von Ihnen aufgezwungene Lösung möglichst schnell wieder vergessen.
Ich darf also zu dem vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion folgendes sagen: Er ist in der Form korrekt, weil er versucht, durch Gesetzesänderung etwas zu erreichen. Man kann ihm aber nicht zustimmen, weil im Ergebnis die Wiedereinführung der Kinderfreibeträge beantragt wird. Die sozialen Vorteile des Kindergeldes im Vergleich zu den steuerlichen Kinderfreibeträgen' sind eindeutig. Herr Kollege Gobrecht hat Ihnen die Zahlen vorgetragen. Bei zwei Kindern und 1 800 DM Kindergeld im Jahr müßte der Freibetrag 8 182 DM betragen. Das brächte einem Steuerpflichtigen mit dem Spitzensteuersatz eine Steuerentlastung von mehr als 4 500 DM jährlich. Dies ist ungerecht, ungerechtfertigt und ist nicht nötig. Deswegen haben wir das damals abgeschafft. Ich finde, dabei sollte es künftig bleiben.
Ich bitte den Deutschen Bundestag, diesem Gesetzentwurf bei der weiteren Behandlung in der Sache seine Zustimmung nicht zu geben.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich an die Mitglieder des Hauses — und ich möchte die Regierungsbank mit einschließen — appellieren, politische Richtungen nicht mit Farbtönen zu bezeichnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich es richtig sehe, geht es bei der Debatte, die wir führen, um zwei Problembereiche, und wenn man diese beiden Problemkreise auseinanderhält, erkennt man, daß das, was Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, in Richtung auf einige Bundesländer hier abgeladen haben, nichts war als Theaterdonner. Zum einen geht es bei diesem Kinderbetreuungskostenbetrag um die Frage: Was sind Kinderbetreuungskosten? Wie grenzt man das ab? Zum anderen geht es um die Frage: Wie werden diese Kosten nachgewiesen?Im übrigen, Herr Gobrecht, das Geschmackloseste, was Sie geliefert haben, war schon Ihr Einleitungssatz. Wir sind ja in einer steuerrechtlichen Diskussion. Die Liebe zum Kind, die Freude am Kind — das können Sie Herrn Voss nicht vorwerfen — ist ja eine Sache, die sich nicht in Steuergesetzen fassen läßt. Wir müssen hier leider das, was uns familienpolitisch bewegt, in DM-Beträgen abhandeln.
Die Tatsache, daß Kinder ganz andere Werte sind, befreit uns alle nicht von der Notwendigkeit, auch finanziell das Notwendige zu tun.
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13654 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Dr. SchäubleMeine Damen und Herren, die beiden Problemkreise Abgrenzung und Nachweis hängen natürlich miteinander zusammen; denn je großzügiger wir bei der Frage sind, was Kinderbetreuungskosten sind, um so leichter ist es bei der Frage: Müssen sie nachgewiesen werden, oder genügt die Glaubhaftmachung, geht es mit einer Pauschalierung, oder kann man auf eine Nachweispflicht verzichten — um so leichter kann diese Frage dann beantwortet werden; denn je großzügiger die Abgrenzung erfolgt, was Kinderbetreuungskosten sind, um so stärker ist die Vermutung, daß jede Familie mit jedem Kind mit Kosten von monatlich weit über 100 DM belastet ist.
Wenn Sie den Familienbericht gelesen haben, dann wissen Sie, Frau Kollegin Funcke, daß wir nicht weit von der Grenze sind, wo wir das Verfahren haben, für das Sie plädiert haben, nämlich daß man bei Kosten, die bei jedem anfallen, natürlich auf den Nachweis verzichten kann. So machen wir es in vielen Fragen des Steuerrechts, wo wir pauschalieren.
Infolgedessen genügt nach unserer Auffassung, wenn man die Frage der Betreuungskosten großzügig abgrenzt, der Nachweis, daß ein Kind oder mehrere Kinder vorhanden sind, weil daran die Vermutung geknüpft ist, daß damit Kosten von über 100 DM monatlich für die Betreuung entstehen.
Meine Damen und Herren, eines dürfen Sie nun auch nicht sagen, nämlich daß die Verwirklichung unseres Gesetzentwurfes 3,5 Milliarden DM kosten würde. Woher weiß denn irgend jemand in diesem Hause, was die Anwendung die § 33 a EStG erfordert, wie er jetzt zum 1. Januar in Kraft tritt? Sie haben sehr über den Daumen gepeilt, und dabei haben Sie den Finger ziemlich krumm gemacht, Herr Minister; denn sie wissen ganz genau, daß Sie die 500 Millionen DM als Ausgangspunkt genommen haben und sagen: So viel rechnen wir jetzt einmal, damit es in unseren Gesamtrahmen hineinpaßt.
Die Realitäten werden andere sein.
Meine Damen und Herren! Die Koalition will — das ist heute doch wieder klar geworden, obwohl beim Herrn Finanzminister ein bißchen neue Töne zu hören waren, was wir mit einem gewissen Optimismus zur Kenntnis genommen haben — im Grunde — das war bei Herrn Gobrecht besonders deutlich — eine enge Abgrenzung, was Betreuungskosten sind. Wenn ich das auf einen Nenner bringen darf, wollen Sie nur die Kosten für Aufwendungen anerkennen, die bei der Betreuung des Kindes die Mutter ersetzen, während wir, meine Damen und Herren, auch die Kosten für Aufwendungen anerkennen wollen, die bei der Betreuung eines Kindes die Mutter, die Familie ergänzen.
Denken Sie etwa an die Frage: Was ist das, wenn Kinder in einem gemeinnützigen Verein, sei es ein Sport- oder Musikverein oder ein Wanderverein, zeitweilig betreut werden? Wollen wir das anerkennen oder nicht? Ich finde, Sie entwerten die jugendpflegerische Arbeit der gemeinnützigen Vereine, wenn Sie hier beckmesserisch anfangen, danach zu fragen, ob das Betreuungskosten sind oder nicht.
Oder nehmen Sie das Beispiel des Nachhilfeunterrichts, das der Kollege Voss gebracht hat. Die Kosten für diesen Unterricht werden Sie ja wohl nicht als Betreuungskosten anerkennen. Wenn ich aber — und Sie haben es ja immer so mit den Reichen — so wohlhabend wäre, daß ich mir über die ganze Woche einen Hauslehrer halten könnte oder eine Hausgehilfin nähme, die so ausgebildet ist, daß sie zugleich Nachhilfeunterricht erteilt, sind das, meine Damen und Herren, Ihrer Auffassung nach Betreuungskosten, und dann sagen Sie, das Gane sei sozial. Ich frage Sie, wie Sie das den Arbeitnehmern erklären wollen, die für ihre Kinder eine weiterführende Schulbildung ermöglichen wollen.
Sie reden klassenkämpferisch, und dabei plädieren Sie für eine gesetzliche Regelung, die nicht nur einfach progressiv, sondern doppelt progressiv wirkt, denn in Wahrheit wird das, was Sie ausschließlich anerkennen wollen, ja nur von zwei Schichten von Familien in Anspruch genommen werden können: von den sehr wohlhabenden — von der Ärztin, die sich eine Hausgehilfin leisten kann —,
und von den Familien, bei denen beide Eltern berufstätig sind.
Das war ja wohl der entscheidende Grund dafür, daß Sie diesem Kompromiß zugestimmt haben. Sie nehmen all das, was Sie gegen die Kinderfreibeträge sagen, hier in Kauf, weil Sie eine Regelung haben, die im Grunde wiederum die berufstätige Mutter begünstigt und die nicht berufstätige Mutter und Hausfrau benachteiligt.
Dies entlarvt die Unredlichkeit Ihrer Argumentation. Sie sagen, der Kinderfreibetrag sei ein Rückschritt in die 50er Jahre; Herr Gobrecht, das haben Sie gesagt, und das klingt ja ganz nett. Der Kinderbetreuungsbetrag sei aber, so sagen Sie, ein Fortschritt. Das müssen Sie einmal vorrechnen! Nehmen Sie den Fall, daß eine Frau wegen der Geburt eines Kindes ihren Beruf aufgibt. Dann hat die Familie ein geringeres Einkommen, weil sie auf einen Einkommensteil verzichtet. Und die Familie wird — Frau Funcke hat es ganz deutlich gesagt — Kinderbetreuungskosten nicht in Anspruch nehmen können; damit ist sie doppelt benachteiligt. Die andere Familie, bei der beide Elternteile ihre Berufs-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13655
Dr. Schäubletätigkeit fortsetzen, wird keine Einkommenseinbuße haben, und sie wird zusätzlich den Betrag für Kinderbetreuungskosten voll in Anspruch nehmen können,
weil das Kind im Hort oder in der Krippe oder bei der Tagesmutter ist — was alles an sozialen Segnungen Ihnen in den letzten Jahren eingefallen ist und was Sie eindeutig begünstigen wollen.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?
Bitte.
Herr Kollege Schäuble, würden Sie mir darin zustimmen, daß ein Kindergeld sowohl berufstätigen als auch nicht berufstätigen Frauen zugute kommt und von daher Ihrem wie unserem Anliegen am ehesten gerecht würde?
Herr Kollege Kühbacher, niemand von uns will das Kindergeld abschaffen.
— Ja, da können Sie doch entsprechende Vorschläge machen. Im Augenblick haben wir in § 33 a des Einkommensteuergesetzes eine Regelung, die zum 1. Januar 1980 in Kraft treten wird und die verwaltungsmäßig nicht zu vollziehen sein wird. Darüber sind sich ja offenbar alle einigermaßen einig. Wir haben jetzt mit unserem Gesetzentwurf die Chance, das Inkrafttreten dieser Regelung mit ihrer Nichtvollziehbarkeit noch zu verhindern. Deswegen ist jetzt der rechte Zeitpunkt, darüber zu reden.
Wenn Sie das Kindergeld erhöhen wollen, können wir gern darüber reden.
Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich habe eine begrenzte Redezeit, aber bitte schön, Herr Diederich.
Herr Kollege Schäuble, ist Ihnen nicht bewußt, daß die Argumentation, die Sie bei den Kinderbetreuungskosten 'in bezug auf die nicht berufstätige Mutter anwenden, auch bisher für die Hausgehilfenregelung gegolten hätte? Warum haben Sie sie bisher nicht gebracht?
Aber Herr Kollege Diederich, wir waren immer bereit, über eine Einbeziehung der Hausgehilfinnenregelung in eine Wiedereinführung des Kinderfreibetrages mit uns reden zu lassen, und ich will dazu auch im Anschluß an das, was Herr Kühbacher angesprochen hat, hier einmal ganz klar folgendes sagen. Wir von der CDU/CSU geben offen zu, daß sich inzwischen nach unserer Auffassung die Abschaffung der Kinderfreibeträge im Einkommensteuergesetz 1975 als ein Fehler herausgestellt hat.
Wenn Sie den dritten Familienbericht lesen, finden Sie genau die Begründung dafür: weil eben dem Kindergeld eine dynamische Komponente fehlt. Deswegen, Herr Kühbacher, wollen wir ein Mischsystem. Wir wollen ein System von Kindergeld und von Berücksichtigung der Kinder bei der Ermittlung der steuerlichen Leistungsfähigkeit, die der Besteuerung zugrunde gelegt wird. Da können Sie, Frau Funcke, nicht sagen, wir würden uns nicht mehr an das Ergebnis des Vermittlungsverfahrens halten usw. Ich bitte Sie, auch der Finanzminister hat gesagt, er möchte es gern wieder ändern. Das muß ja wohl noch erlaubt sein. Der Herr Kollege Häfele hat doch bei der Verabschiedung dieses Ergebnisses in diesem Hause am 17. November 1978 in der Erklärung für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich betont — der Finanzminister hat das angesprochen —, daß wir so schnell wie möglich die Nachweispflicht bei diesem Kinderbetreuungskostenbetrag abschaffen wollen, um damit den Kinderfreibetrag wieder einzuführen. Das ist ganz unstrittig. Dies ist in der Tat unser politisches Ziel.
Sie gebrauchen ein ausgesprochen giftiges Argument. Sie sagen: Kinderfreibeträge sind etwas, wovon die Reichen mehr haben als die Armen.
Dieses Argument ist deswegen so giftig, weil es natürlich eingeht — alles, was den Neid und den Klassenkampf anspricht, geht immer ein —, aber falsch ist. Bei den Kinderfreibeträgen geht es nicht in erster Linie um die finanzielle Förderung der Familie — das ist nicht der Ansatzpunkt —, sondern es geht um die richtige, um die gerechte Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Lohn- und Einkommensversteuerung.
Wir haben — anders können Sie einen Einkommensteuersatz von bis zu 56 % gar nicht begründen — das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, d. h. je höher das Einkommen ist, desto höher ist der Prozentsatz des Einkommens, das von der Steuer erfaßt wird.
Dies heißt — Herr Huonker, Sie müssen es dochwissen —, daß Sie, wenn Sie das Einkommen er-
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Dr. Schäublemitteln, von der persönlichen Leistungsfähigkeit desjenigen ausgehen müssen, den Sie besteuern wollen. Das ist ein ganz alter Grundsatz, daß Sie niemandem höhere Lasten aufbürden können, als er tragen kann.
— Herr Huonker, lassen Sie doch den Klassenkampf! Es geht um die Frage: Was wird bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens berücksichtigt?Ich will Ihnen ein paar Beispiele dafür nennen, was alles ganz unstreitig und von uns gar nicht kritisiert bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens berücksichtigt wird: Bausparprämien, Herr Huonker, werden Sie wahrscheinlich von Ihrem zu versteuerndem Einkommen absetzen. Ich weiß es nicht; ich will nicht das Steuergeheimnis verletzen. Wenn Sie ein Haus bauen und es nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes abschreiben, wird dadurch das steuerpflichtige Einkommen vermindert mit der Progressionswirkung, die unbestreitbar ist. Je nachdem, wie weit ein Arbeitnehmer von seiner Arbeitsstätte entfernt ist, kann er die Entfernungspauschale in entsprechender Höhe— pro Kilometer 18 Pfennig — absetzen. Das wollen Sie sogar noch unabhängig davon machen, ob er mit dem Pkw fährt.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, ich muß auf die Zeit achten.
Erlauben Sie keine Zwischenfrage?
Nein.
— Wenn mir der Präsident eine entsprechende zusätzliche Redezeit gibt, herzlich gerne.Wenn ein Arbeitnehmer 40 km von seinem Arbeitsplatz entfernt wohnt, wird dies progressions-mindernd berücksichtigt. Wenn sie Unterhaltszahlungen an Familienangehörige — nicht an Kinder— leisten, wird dies progressionsmindernd berücksichtigt. Nur Kinder werden bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens nach Ihrer Auffassung nicht berücksichtigt. Dies müssen Sie einmal irgend jemandem begründen.
— Sie wollen es nicht.Jetzt möchte ich Ihnen gern noch einmal einen Satz aus dem Familienbericht vorlesen. Dort heißt es:Das Prinzip des Leistungslohns bringt es mit sich, daß die pro Kopf verfügbaren Einkommen bei gleichen Berufspositionen der Einkommensbezieher mit jedem Kind deutlich geringer werden.Wenn dies so ist — niemand kann bestreiten, daß es so ist —, dann entspricht es doch dem Gebot des sozialen Rechtsstaats, daß diese Tatsache bei der Einkommensbesteuerung berücksichtigt wird.
Wer progressiv besteuert, muß progressiv entlasten.Deswegen hat auch die Steuerreformkommission— das ist alles alt, aber es braucht deshalb nicht falsch zu sein — damals geschrieben, sie halte es für eine notwendige Folge einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, daß die Kinderlasten bei Anwendung eines Progressionstarifs progressions-mindernd wirken. Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen.
Wir brauchen gemeinsam den Mut, die Entscheidung im Einkommensteuergesetz 1975 zu korrigieren. Wir müssen die finanziellen Belastungen der Familien, die aus der Tatsache rühren, daß Kinder vorhanden sind, bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens berücksichtigen. Das ist ein bürokratisches Problem; Herr Voss hat dies ausgeführt. Aber es ist nicht nur ein bürokratisches Problem; es ist ein Gebot der Gerechtigkeit.Wir müssen mit der Annahme unseres Antrags— meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ich ,appelliere an Sie — ein Zeichen setzen, daß wir die Aufgaben der Hausfrau und Mutter, die Aufgaben in der Familie anerkennen. Wir dürfen sie nicht weiter diskriminieren, wie Sie das mit Ihrem Mutterschaftsgeld getan haben.
Es ist eine ganz grundsätzliche Frage, ob sich ausgerechnet die Tatsache, daß eine Familie Kinder hat, bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens im Gegensatz zu allen genannten Kostenfaktoren nicht auswirkt. Wir müssen mit der Anerkennung, daß Kinder zur steuerlichen Leistungsfähigkeit gehören, einen Beitrag für ein familienfreundlicheres Klima in diesem Lande leisten, von dem ja schließlich auch die Bundesregierung sagt, daß es insgesamt notwendig sei.
— Gerade, Herr Gobrecht, wenn es bei Kindern nicht nur um Mark und Pfennig geht — da stimme ich Ihnen völlig zu —, müssen wir denjenigen, die den Mut zu Kindern haben, auch sagen und zeigen, daß wir bereit sind, ihnen, soweit es in unserer Verantwortung steht, Respekt für diesen Mut entgegenzubringen.
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Als nächster Redner hat der Herr Abgeordnete Rapp das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Herrn Kollegen Schäuble sehr dankbar, daß er hier Klarheit geschaffen hat. Wir wissen nun seit geraumer Zeit, auch aus Verlautbarungen des gewiß maßgeblichen Herrn Finanzministers Gaddum, daß die CDU/ CSU-Opposition bei den Beratungen, die Ende des vergangenen Jahres zum Kinderbetreuungsbetrag geführt wurden, von vornherein und willentlich einen Dissens versteckt hat, ein trojanisches Pferd hat einschmuggeln wollen, das jetzt aktiviert werden soll, um etwas ganz anderes durchzusetzen als das damals scheinbar einvernehmlich Gemeinte. Die Opposition wollte von vornherein und will bis heute — nun ist es ganz deutlich geworden — den alten steuerlichen Kinderfreibetrag wieder einführen.
Darüber darf man sich auch durch die verschleiernde Verwendung des Begriffs „Kinderbetreuungsbetrag" im heute zur Beratung anstehenden Gesetz nicht täuschen lassen.
Es ist die Frage zu stellen, ob es CDU und CSU so gänzlich gleichgültig sein kann, wenn ihre damaligen Verhandlungspartner sich heute sagen müssen, der Opposition sei es damals doch wohl eher um ein sozusagen kriegswissenschaftlich angelegtes Manöver gegangen.Gemeinsame Gesprächsgrundlage war damals ja auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Hausgehilfinnenfreibetrag und die Absicht, diesem auch gesellschaftlich obsolet gewordenen Freibetrag durch eine sozial- und familienpolitische Öffnung wieder Relevanz zu verschaffen. Über all dies aber hat die Opposition offensichtlich mit dem mentalen Vorbehalt verhandelt, in Wirklichkeit und letztendlich doch etwas ganz anderes, nämlich — wie heute von Herrn Schäuble klargestellt — den alten Kinderfreibetrag einführen zu wollen, wenn auch in einem Mischsystem mit Einschluß des Kindergeldes. Ich werde auf das Problem des Mischsystems noch zurückkommen.Ich persönlich könnte mir schon denken, daß CDU und CSU Wert darauf legen, in den Augen der anderen Parteien, die nach demokratischem Verständnis ja nicht nur Gegner, sondern immer auch Partner sind, verhandlungs- und vertragsfähig zu sein. Wer bewußt Dissense versteckt, ist schon im bürgerlichen Leben kein geschätzter Partner; im politischen Leben kann man gedeihlich nur auf dem Boden einer politischen Kultur miteinander auskommen, zu der auch Transparenz und die Verläßlichkeit des gegebenen Wortes gehören.
Die Peinlichkeit in der Vorgeschichte Ihres Kinderbetreuungsfreibetrages, sprich: die Absicht, denKinderfreibetrag wieder durchzusetzen, soll nun mit dem Vorbringen kaschiert werden, die steuerliche Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten im Sinne der Bundestagsdrucksache 8/2300 habe sich steuertechnisch als nicht machbar erwiesen. Daß dem nicht so ist, hat mein Kollege Horst Gobrecht eingehend dargelegt; auch der Bundesfinanzminister hat es ausgeführt.Auf Grund einer Ausuferungen vermeidenden Auslegung dessen, was Betreuungsaufwendungen sind, kann sich der Gesetzgeber mit der Glaubhaftmachung begnügen und kann sich die Verwaltung mit einer Nichtbeanstandungsgrenze behelfen. Derartige und vergleichbare Regelungen gibt es, wie beide Vorredner gesagt haben, vielfältig in unserem Steuerrecht. Es gibt ja auch gar keinen Grund, dem deutschen Steuerzahler eine solche auf Vertrauen beruhende Regelung vorzuenthalten.Jedenfalls ist klar, worum es wirklich geht und worum es, wie gesagt, der. CDU/CSU entgegen zeitweiligem Anschein von vornherein immer gegangen ist. Die Koalition hat sich jetzt des Versuchs zu erwehren, auf dem Schleichweg und unter falscher Flagge die 1974/75 erfolgte Weichenstellung— weg von den schichtenspezifisch wirksamen Kinderfreibeträgen und hin zum einheitlichen Kindergeld — zurückzudrehen. Die Bezeichnung „Kinderbetreuungsfreibetrag" in dem Gesetzentwurf ist irreführend. Eine Vergünstigung, die man für jedes Kind ohne Nachweis spezifischer Aufwendungen in Anspruch nehmen kann, ist nichts anderes als der alte Freibetrag.Die Steuerausfälle — auch davon war die Rede— beliefen sich auf runde 4 Milliarden DM gegenüber rund 0,5 Milliarden DM, die das Vorhaben der Koalition erforderte. Der Mehrbetrag käme nach Maßgabe der Progressionswirkung überproportional den Beziehern hoher Einkommen zugute und in zunehmend geringerem Maße den Einkommenschwächeren. Die Bezieher ganz niedriger Einkommen gingen leer aus.Meine Damen und Herren, es ist methodisch und politisch erlaubt und geboten, in Rechenbeispielen den alternativen sozialen Grenznutzen aufzuzeigen, den man erzielte, wenn man diese zusätzlichen 3,5 Milliarden DM, die der Gesetzentwurf von CDU und CSU kostete, den Familien statt in Form von Kinderfreibeträgen in Form von erhöhtem Kindergeld zugute kommen ließe. Solche Rechenbeispiele sind eindrucksvoll, und Sie — meine Damen und Herren von der Opposition — können sich darauf verlassen, daß Ihnen diese Rechenbeispiele in den anstehenden Wahlkämpfen immer wieder begegnen werden. Wir werden es nicht versäumen, wir werden es uns nicht entgehen lassen, aufzuzeigen, daß und wie die Rückwendung vom Prinzip des einheitlichen Kindergeldes zum Prinzip des schichtenspezifisch wirksamen Kinderfreibetrages zu Lasten der Bezieher kleiner Einkommen und zugunsten der Bezieher höherer Einkommen liefe und wer dabei überhaupt auf der Strecke bliebe.
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Rapp
— Ich gehe jetzt auf das Problem des Herrn Zwischenrufers ein, möchte aber vorab noch eine Anmerkung zu Herrn Schäuble machen.Herr Schäuble, Sie wissen ganz genau — was Sie vorher nicht zum Ausdruck brachten —, daß wir im Ausschuß und bei unseren Gesetzesvorhaben immer versucht haben, zum Beispiel Sonderausgaben aus der Progressionswirkung herauszunehmen und das Prinzip Abzug von der Steuerschuld durchzusetzen. Dies ist nicht gelungen. Dazu haben wir nicht die Mehrheit. Sie haben das vorhin unterschlagen; ich möchte es hier gleichwohl festhalten.Es ist gut, daß sich in dieser Auseinandersetzung jetzt endlich der Nebel gelichtet hat, der im vordergründigen Streit um den Kinderbetreuungsfreibetrag abgeblasen worden war. Den wirklichen Streit kann man auf die Formel bringen: Prinzip Kindergeld versus Prinzip steuerlicher Kinderfreibetrag. Wir Sozialdemokraten stellen uns dieser Auseinandersetzung gern.Die Opposition wird dieser Auseinandersetzung auch dann nicht entgehen können, wenn sie die Wiedereinführung der steuerlichen Kinderfreibeträge dadurch schmackhafter machen will — Herr Schäuble, gemischtes System —, daß sie den Freibetrag zum Kindergeld hinzufügen möchte. Daß dabei die Finanzierungsfrage völlig offenbleibt, haben der Bundesfinanzminister und andere Vorredner gesagt. Das Prinzip Kindergeld ist uns jedenfalls zu wertvoll, als daß wir es zuließen, daß es sozusagen als Schutzschild herhalten muß, hinter dem das Geschäft betrieben wird, den Staat das Kind des reichen Mannes wieder mehr wert sein zu lassen als das Kind des kleinen Mannes.
Die Auseinandersetzung im Grundsätzlichen führen, hat Herr Strauß gefordert. Dazu sind wir gerade an dieser Stelle gern bereit. Steuermethodisch und, wenn Sie so wollen, steuerphilosophisch bringt der Freibetrag den „Tatbestand Kind", wie die Technokraten dies nennen, sozusagen in die Nähe von Betriebsausgaben. Der steuerliche Kinderfreibetrag würdigt das Kind als Kostenfaktor und würdigt es damit herab.
— Auf den Dritten Familienbericht gehe ich noch ein. — Darüber sollten gerade die Familienpolitiker in .der Union einmal ein bißchen tiefer nachdenken, was in der Steuersystematik, in der Steuertheorie passiert, wenn man den „Tatbestand Kind", wie die Technokraten das nennen, herabwürdigt zu einem Kostenelement. Dies ist ja dem Steuerrecht immanent.
— Ich habe vorhin betont, daß wir immer versucht haben, die Sonderausgaben von der Steuerschuld abzuziehen und nicht von der Besteuerungsgrundlage.
Sie können jederzeit mitmachen. Wir werden diesen Versuch immer wieder starten, so lange, bis unser Volk begriffen hat, um was es geht.
Die Progressionswirkung, nämlich höhere Entlastung bei höherem Einkommen, ist beim Kinderfreibetrag Ausdruck des Postulats vom standesgemäßen Unterhalt. Das Kind aus wohlhabender Familie stellt eben einen höheren Kostenfaktor dar als das Kind aus einkommenschwächerer Familie. Nichts gegen den Grundsatz vom standesgemäßen Unterhalt! Aber darf man denn um Gottes Willen die höheren finanziellen Belastungen, die danach der Unterhalt des Kindes aus der einkommenstärkeren Familie erfordert, darf man das Mehr an Kosten für den höheren Lebensstandard, den dieses Kind genießt, auf die Allgemeinheit überwälzen? Darf man das sozialisieren?
Demgegenüber ist die Räson des einheitlichen und nach der Ordnungszahl gestaffelten Kindergeldes eine völlig andere, nämlich die des Familienlastenausgleichs als einer Solidarleistung zwischen denen, die keine Kinder oder weniger Kinder haben, mit denen, die überhaupt oder mehrere Kinder haben. Dem Kind kommt dabei nicht bloß die Funktion eines Kostenfaktors im Familienbudget zu, vielmehr wird auf dem Transferweg solidarisch ein teilweiser Ausgleich der finanziellen Mehrbelastung erbracht, den Familien mit Kindern oder mit mehreren Kindern im Verhältnis zu anderen Familien zu tragen haben. Das ist ein ganz anderer Denkansatz als der der Kinderfreibeträge. Folglich ergeben sich daraus auch andere Konsequenzen.Es ist richtig und wird von uns ausdrücklich bejaht, daß das Kindergeld als Ausdruck des Solidarprinzips zu mehr Gleichheit führt, verglichen mit der Lösung der Kinderfreibeträge. Jawohl, das Kind aus der armen Familie ist als Kind der Solidargemeinschaft ebensoviel wert wie das Kind der reichen Familie.
Meine Damen und Herren, nicht wenige gibt es — Sie erleben das doch auch in Ihren eigenen Versammlungen —, die meinen, das Kind aus der armen Familie müsse im Sinne einer kompensatorischen Sozialpolitik der Solidargemeinschaft im Grunde mehr wert sein.
Wenn nun behauptet wird, das Prinzip Kinderfreibetrag bewirke in der Tat — das geben Sie uns ja als Vorwurf zurück — .und gewollterweise zwar weniger Gleichheit, aber dafür mehr Gerechtigkeit,
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so stellt sich da für uns die Frage nach dem Bezugspunkt und nach dem Begriff von Gerechtigkeit, den Sie hier benutzen.
In bezug auf das Kind ist es jedenfalls nicht gerecht, wenn es der Allgemeinheit je nach der Höhe des Einkommens der Eltern mehr oder weniger wert ist. In bezug auf das Kind ist das nicht gerecht. In bezug auf das Kind sind Gleichheit und Gerechtigkeit identisch.
Kinder aus wohlhabenden Familien sind doch in der Regel ohnehin schon bevorzugt. Da gilt es, die dementsprechend unterschiedlichen Lebenschancen der Kinder ein Stück weit auszugleichen.In bezug auf die Steuerpflichtigen kann man, Herr Kollege Voss, vom Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit her argumentieren — das räume ich ein —, der als solcher hier aber überhaupt nicht in Zweifel gezogen wird. Bezieht man den Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit auf den „Tatbestand Kind", so kommt dieses — ich habe das ausgeführt — darauf hinaus, daß das Kind als Kostenfaktor in die Rechnung gerät und als Ziel einer interpersonalen Solidarleistung aus dem Blick gerät. Die Mehrkosten aus der Standesgemäßheit des Unterhalts werden dabei, wie gesagt, sozialisiert.Man sieht, wir Sozialdemokraten brauchen da die Auseinandersetzung im Grundsätzlichen nicht zu scheuen.
Man kann dieser unserer Argumentation zugunsten des Kindergeldes und gegen den steuerlichen Kinderfreibetrag auch nicht mit vergleichenden Hinweisen auf das Ehegattensplitting beikommen, wie das neuerdings von Sprechern der Opposition in Anlehnung an eine Passage im 3. Familienbericht geschieht. Wir machen uns diese Argumentation nicht zu eigen. Das Ehegattensplitting präferiert, wie es das Grundgesetz erfordert, den Tatbestand Ehe. Das, was das Ehegattensplitting will und soll, könnte in der Form eines interpersonalen Lastenausgleichs zwischen Verheirateten und Nichtverheirateten überhaupt nicht organisiert werden. Dies wäre schon deshalb nicht möglich, weil es zur Wirtschaftsgemeinschaft Ehe hin in der Regel überhaupt kein Lastengefälle gibt. Ehepartner, die beide je auf ihre Weise gemeinsam einen Beitrag zum Unterhalt erbringen, sind mit Kindern überhaupt nicht vergleichbar, mit Kindern, von denen ein solcher Beitrag regelmäßig nicht erwartet werden kann. Im übrigen könnte man das, was das steuerliche Ehegattensplitting bewirken soll, schon deshalb nicht als Lastenausgleich organisieren, weil weit über 80 °/o der Erwachsenen in unserem Land in einer Ehe leben. Kurzum: Das Argument, Ehepartner und Kinder müßten in gleicher Weise steuerlich mit Progressionswirkung berücksichtigt werden, verkennt die elementaren Lebenszusammenhänge und Lebensumstände.Es hat Zeiten gegeben, in denen auch CDU-Politiker den 1974/75 erzielten Durchbruch zum einheitlichen Kindergeld unter Abschaffung der steuerlichen Kinderfreibeträge als eine soziale Großtat für sich in Anspruch genommen haben. Wir bedauern, daß dieser Konsens zerbrochen zu sein scheint. Wir werden der Opposition auf ihrem rückwärts gewandten Weg nicht folgen. Die Salamitaktik, mit der sie sich auf dem Umweg über den Kinderbetreuungsfreibetrag an den Kinderfreibetrag herangepirscht hat, läßt Schlimmeres befürchten.
Wir Sozialdemokraten werden den Bestand des im einheitlichen Kindergeld dargestellten Familienlastenausgleichs zu wahren und nach und nach auszubauen und zu mehren wissen.
Das Wort hat Frau Kollegin Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Voss hat hier wortreich den jetzigen Kinderbetreuungsfreibetrag, wie er im Gesetz niedergelegt ist; angegriffen. Ich will noch einmal klarstellen, was auch andere Redner schon getan haben: Er mag das tun, aber wir als Koalition ziehen uns diesen Schuh nicht an.
Denn nicht von uns stammt dieser Krüppel. Im Gegenteil. Wir haben ihn immer angegriffen. Wir haben ihn, wie Sie wissen, aus einem einzigen Grund akzeptiert: Sie hatten im Herbst 1978 angekündigt, daß Sie, wenn nicht ein irgendwie gearteter Freibetrag dieser Art in das Steuerpaket hineinkomme, das gesamte Steuerpaket mit Entlastungen für die Arbeitnehmer, für die Freiberufler, für die gewerbliche Wirtschaft platzen ließen. Vor dieser Erpressung standen wir. Wir haben uns deswegen dazu entschlossen, diesem Kinderbetreuungsbetrag zuzustimmen.
— Wenn Sie ihn kritisieren, haben Sie uns auf Ihrer Seite. Aber was sind denn die Folgen? Herr Voss, wenn Sie in den Bundestag mit der Forderung gekommen wären: laßt uns das Ding abschaffen und statt dessen das Kindergeld für alle erhöhen, dann wären wir auf Ihrer Seite.
Aber wenn Sie versuchen, über die Hintertür auf leisen Sohlen die zweifellos vorhandenen Nachteile des Kinderbetreuungsfreibetrags dahin umzumün-
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Frau Matthäus-Maierzen, den im Jahr 1975 einvernehmlich abgeschafften Kinderfreibetrag wieder einzuführen, dann sagen wir dazu ein entschiedenes Nein.
Es gibt einen einzigen Punkt, den ich an Ihrem Gesetzentwurf begrüße. Das ist der .erste Satz der Begründung, aus dem sich klar ergibt, daß die geltende Regelung des Kinderbetreuungsfreibetrags eben nicht ohne Nachweis durchgeführt werden kann. Auf diese Weise stellen Sie die rechtliche Position von Herrn Gaddum ins Abseits. Wir begrüßen das. Denn wir meinen, auch Sie als Parlamentarier in diesem Bundestag — und da sollten wir einer Meinung sein, unabhängig von der politischen Couleur — —
Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich muß erst den Gedanken zu 'Ende bringen. — Wir dürfen es doch nicht hinnehmen, daß wir Parlamentarier, die wir uns über 10 Millionen, 100 Millionen, 500 Millionen im Bundestag und später im Bundesrat streiten und ernsthafte Gedanken machen und im Finanzausschuß das Pro und Kontra der einen und der anderen Lösung abwägen, als Parlament zwar einen Beschluß über 500 Millionen fassen, aber ein Landesminister, also die Exekutive, ohne jede parlamentarische Beteiligung auf die Idee kommt, aus 500 Millionen 4 Milliarden zu machen. Dafür sollten auch Sie sich als Parlamentarier zu gut sein.
Bitte sehr, Herr Kollege Dr. Stark.
Frau Kollegin, würden Sie zunächst zur Kenntnis nehmen, daß niemand von uns hier die Abschaffung des Kindergeldes beantragt hat? Und darf ich Sie als Liberale fragen, ob Sie es nicht für sinnvoll und nachvollziehbar halten, daß wir vorschlagen, einen Teil des Geldes, das zur Förderung der Familie und der Kinder dem Bürger verbleiben soll, gar nicht erst über eine riesige Bürokratie einzuziehen, um es dann vermindert auf dieselben Leute wieder zu verteilen?
Ich beginne mit Ihrem ersten Punkt. Ich habe nicht gesagt, daß von Ihnen der Antrag gestellt worden sei, das Kindergeld abzuschaffen. Ich habe nur herausgestellt, daß Sie heute anderer Meinung als 1975 sind und den damals gemeinsam abgeschafften Kinderfreibetrag wieder einführen wollen. Wir betonen das, weil Sie heute den Eindruck zu erwecken versuchten, die Änderung sei damals allein durch die Koalition oder sogar gegen Ihren Willen erfolgt.
Ich finde es sehr gut, daß Sie hier deutlich gemacht haben, daß Sie sich damals geirrt haben; denn das zeigt dem Bürger, daß auch heute wieder die Möglichkeit besteht, daß Sie sich irren.
Diese Lösung können wir nicht akzeptieren.Herr Schäuble hat einen Trend in die Diskussion gebracht
— Herr Schäuble, lassen Sie mich das bitte erst zu Ende führen, ich spreche Sie gerade an —, den ich hier etwas tiefergehend aufgreifen möchte. Er hat gesagt, wir setzten mit dem Kinderbetreuungsfreibetrag die Benachteiligung der nichterwerbstätigen Mutter fort, wie das überhaupt im Sinne unserer Politik liege.Ich möchte hier nur an den wichtigsten Punkten darlegen, was wir für die Familie getan haben, und zwar unabhängig davon, ob beide Partner oder einer von beiden ganztags oder halbtags berufstätig sind. Da ist zunächst das Kindergeld, das für das erste Kind 50 DM beträgt. Dieser Betrag ist sicherlich nicht mehr ausreichend.
Da geben wir Ihnen völlig recht. Ich glaube, daß wir beim Steuerpaket 1981 beim Kindergeld für das erste Kind eine Erhöhung vornehmen müssen.
Beim zweiten Kind beträgt das Kindergeld 100 DM, und beim dritten und bei jedem weiteren Kind beträgt das Kindergeld 200 DM. Sie sprachen an, daß wir eine dynamische Komponente brauchten. Seit dem Jahre 1975 ist die Höhe des Kindergeldes beim ersten Kind unverändert geblieben, beim zweiten Kind haben wir eine Zuwachsrate von 25 %, beim dritten Kind beträgt sie 45 %, und beim vierten Kind 53 %. Das können Sie für die weiteren Kinder fortsetzen. Eine bessere Dynamisierung hätten Sie mit einem Automatismus sicher nicht erreicht.
Wenn Sie meinen, Sie könnten im Bundestag — Sie tun das mehrfach, das scheint eine Strategie Ihres bevorstehenden Wahlkampfes zu sein — die nichterwerbstätige gegen die erwerbstätige Mutter ausspielen, dann möchte ich darauf hinweisen, daß diese grobe Unterscheidung den Verhältnissen in keiner Weise gerecht wird; denn unabhängig da-
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Frau Matthäus-Maiervon, ob Sie das bedauern, leben wir in einer Gesellschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, daß auch die große Masse der Frauen, die nicht erwerbstätig sind, es einmal waren und später wieder sind. Das führt dazu, daß die Dinge, die der Nichterwerbstätigen im Moment nicht zugute kommen, ihr später, wenn sie wieder berufstätig ist, doch noch zugute kommen.
Ich darf darauf hinweisen, daß diese Koalition die Rentenversicherung für die Hausfrauen geöffnet hat. Sie haben das in all den Jahren nicht getan, in denen Sie die Mehrheit hatten.
Wer hat denn den Versorgungsausgleich bei der Scheidung eingeführt? Der Versorgungsausgleich bei der Scheidung hat zum erstenmal in der Rentenversicherung die Tätigkeit der Hausfrau in der Ehe mit der Tätigkeit des Ehemannes absolut gleichgesetzt.
Frau Wex, Sie sagen „nur der geschiedenen Frau", und Sie haben damit recht. Das ist aber ein Anfang, den Sie jahrelang nicht gemacht haben, sondern den wir durchgeführt haben und in der nächsten Legislaturperiode konsequent zum umfassenden Rentenschutz aller Frauen ausbauen werden. Mitglieder Ihrer Fraktion beklagen immer wieder, dieser neue Versorgungsausgleich sei männerfeindlich. Er ist nicht männerfeindlich, sondern frauenfreundlich und speziell hausfrauenfreundlich.
Frau Abgeordnete, erlauben Sie nun eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäuble?
Ja.
Frau Kollegin, damit wir wieder zum Thema unseres Gesetzesantrags kommen, möchte ich Sie fragen, ob Ihre Äußerungen meine These bestätigen, daß der Kinderbetreuungskostenbetrag, wie er jetzt im Gesetz steht, einseitig die Familien benachteiligt, bei denen nicht beide Elternteile berufstätig sind.
Herr Schäuble, Sie müssen nicht immer Zwischenfragen stellen, sondern zuhören. Selbstverständlich komme ich zu diesem Thema.
Ich habe darauf hingewiesen, daß wir in vielen wichtigen Punkten entweder ohne oder gegen Sie Verbesserungen gerade für die nichterwerbstätige Mutter herbeigeführt haben.
Außerdem darf ich daran erinnern, daß Sie es waren, die eine der wichtigsten Verbesserungen für die nichterwerbstätige Mutter zu Fall gebracht haben. Es war die Koalition, die im Jahre 1972 einen Gesetzentwurf zur Einführung des Baby-Jahres vorgelegt hat.
Das Baby-Jahr ist von Ihnen zugunsten der Vorziehung der Rentendynamisierung abgelehnt worden; ich darf nur daran erinnern.
Und jetzt komme ich zu Ihrer Frage.
Frau Abgeordnete Matthäus, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Wex?
Entschuldigen Sie, vielleicht darf ich erst einmal einige Sätze zusammenhängend reden; dann können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.
Was den jetzigen Kinderbetreuungsfreibetrag angeht, Herr Schäuble, so ist dieser nicht allein für die Familien gegeben, in denen beide Ehepartner erwerbstätig sind. Frau Funcke hat hier schon zu Recht darauf hingewiesen, daß auch in Ehen, in denen einer von beiden Ehepartnern nicht erwerbstätig ist, in der Regel Kinderbetreuungskosten anfallen, angefangen von den Kosten für den Kindergarten, der in manchen Ländern durchaus einen Beitrag kostet, der nahe an die 1 200 DM herankommt, weitergehend über bestimmte schulische Kosten, bis hin zu den Kosten für Nachhilfeunterricht. Dies hat Frau Funcke ja alles vorgetragen. Das sind alles Ausgaben für Kinderbetreuung, völlig unabhängig von der Berufstätigkeit der Eltern.
Wogegen wir uns allerdings wehren, ist, daß Sie unterschiedliche Tatbestände gleichbehandeln wollen. Sie wollen nämlich z. B. einer alleinstehenden Mutter mit einem Kind, die darauf angewiesen ist, während bestimmter Zeiten ihrer Berufstätigkeit ihr Kind betreuen zu lassen, sagen: Du bekommst einen bestimmten Freibetrag. Aber genau den gleichen Freibetrag bekommt der, der überhaupt keine Kinderbetreuungskosten hat. Wenn Sie
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Frau Matthäus-Maiermeinen, Sie könnten das dieser Frau erklären, mögen Sie das bitte tun. Ich finde, daß das nicht geht.
Es gibt unterschiedliche Tatbestände, und bestimmte Kosten entstehen eben halt nur,
wenn z. B. einer von beiden oder ein alleinstehender Elternteil erwerbstätig ist. Dies alles über einen Kamm zu scheren
und dann sogar noch die eine Gruppe von Frauen gegen die andere Gruppe von Frauen auszuspielen, dies halten wir für ein falsches Spiel, und wir werden das nicht akzeptieren.
Ein letzter Punkt zur steuerlichen Belastung der Familien, die Sie immer vehement beklagen. Ich darf Ihnen mal an einem Zahlenbeispiel erläutern, daß selbstverständlich auch im Steuerrecht heute das Vorhandensein von Kindern im Zusammenhang mit dem Kindergeld berücksichtigt wird, und will Ihnen einmal sagen, wie die von Ihnen immer wieder beklagte „unvertretbare Belastung" nach den neuesten Steuergesetzänderungen aussieht. Zum Beispiel: ein Arbeitnehmer mit 30 000 DM Jahreseinkommen und zwei Kindern zahlt eine Steuer von 10,5 %, bekommt aber zugleich über das Kindergeld so viel zurück, daß seine tatsächliche Belastung 5,5°10 beträgt. — Im übrigen, meine Damen und Herren, ist das — neben dem Gesichtspunkt der Steuervereinfachung — auch ein Grund dafür, warum wir es begrüßt hätten, wenn das Kindergeld über die Finanzämter und nicht über die Arbeitsämter ausgezahlt würde; jeder Bürger sieht dann nämlich, was unter dem Strich dabei herauskommt.
Oder hat der Arbeitnehmer ein drittes Kind, bekommt er sogar etwas heraus und zahlt null DM Steuern. Oder ein Selbständiger mit 42 000 DM Jahreseinkommen und drei Kindern, zahlt an Steuern 12,8 %. Nach Gegenrechnung des Kindergeldes zahlt er 3,6 %, ab 1980 2,9 %
Und nun zu Ihrer Behauptung, Ihr Vorschlag sei im Interesse der Steuervereinfachung nötig: Ich glaube, Frau Kollegin Funcke und Bundesfinanzminister Matthöfer haben hier ausreichend klargemacht, daß es durchaus Möglichkeiten gibt, den Kinderbetreuungsfreibetrag im Rahmen des geltenden Steuerrechts unbürokratisch zu handhaben, z. B. dadurch, daß man, wie das generell im Steuerrecht üblich ist und wie es die Finanzbeamten bisher schon durchaus vernünftig handhaben, für bestimmte Kinderbetreuungs-Ausgaben, die in der Regel in allen Familien anfallen, ausreichend sein läßt, es bei der Glaubhaftmachung bewenden läßt und auf Einzelbelege verzichtet.
— Darüber kann man im einzelnen reden; das wird der Bundesfinanzminister mit seinen Länderkollegen mit Sicherheit im einzelnen besprechen. Auf jeden Fall reicht da die bloße Glaubhaftmachung aus, ohne daß sich der Bürger oder die Steuerverwaltung mit dem Problem aller möglichen Nachweispflichten herumschlagen müssen. Das heißt, es gibt auch ohne Gesetzesänderungen ausreichende Möglichkeiten. Wenn Ihnen aber diese Möglichkeiten nicht ausreichen, dann zeigen Sie damit eben deutlich, daß es Ihnen nicht um die Steuervereinfachung geht, sondern um Ihr ausschließlich ideologisch zu begründendes Vorhaben, die alten Kinderfreibeträge wiedereinzuführen. Und damit komme ich zu meinem letzten Punkt.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Frau Matthäus-Maier: : Lassen Sie mich bitte zu Ende machen, weil ich weiß, daß meine Zeit abläuft.
In der letzten Woche hat Herr Biedenkopf eine, wie ich finde, sehr beachtliche Rede gehalten. Darin hat er u. a. gesagt, daß eine Alternative zu der hohen Staatsverschuldung, die er dort beklagt und von der Sie wissen, daß wir ihre Verringerung z. B. im Jahre 1980 — im Unterschied zu Ihnen — in Angriff nehmen möchten, —
— Entschuldigen Sie, wer fordert denn für das Jahr 1980 erneut ein Steuerpaket in Höhe von mindestens 8 Milliarden DM?
Wer hat denn in der Haushaltsdebatte in der letzten Woche höhere Ausgaben für die Bundeswehr, für die Entwicklungshilfe, für die Familienpolitik und und und gefordert? Das sind doch Sie gewesen,
während wir gesagt haben: 1980 kein Steuerpaket, 1980 Absenkung der Neuverschuldung.
Herr Biedenkopf hat also gesagt, daß eine Alternative dazu der 'gemeinsame Versuch sei, in den großen Etatposten, einschließlich des Sozialetats,
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Frau Matthäus-Maier
danach zu suchen, welche Leistungen verzichtbar geworden sind.
Meine Damen und Herren, ich halte diese Aussage für völlig richtig. Ich glaube, daß zumindest eines daraus zu folgern ist — das sollten Sie sich ins Stammbuch schreiben —, daß wir für die Zukunft — über die Durchforstung des Bestehenden will ich jetzt gar nicht reden — gemeinsam von solchen Lösungen Abstand nehmen sollten, bei denen die Begünstigung um so höher ausfällt, je geringer der Bedarf bei den Begünstigten ist. Genau das erreichen Sie mit Ihrem Kinderbetreuungsbetrag.
Wir müssen uns — insbesondere finanziell — ganz gezielt auf den sozialpolitischen Zweck konzentrieren, den wir anstreben. Wir haben in der Vergangenheit oft genug den Fehler gemacht, zu sehr mit der Gießkanne durchs Land gegangen zu sein. Wenn wir das weiterhin tun, führt das dazu, daß, wie gesagt, die Begünstigung bei dem am höchsten ist, der sie gar nicht braucht, und dadurch das Ganze — und das ist das Wichtigste — enorm viel Geld kostet. Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf auch sehr viel teurer als der geltende Kinderbetreuungsfreibetrag. Wenn man die Gießkannenregelung, die Sie vorschlagen, bewertet, kommt man eben zu Mehrkosten von mindestens 2,5 Milliarden DM. Dieses Geld fehlt dann an anderer Stelle, z. B. für eine von uns angestrebte deutliche Absenkung beim Steuertarif im Jahre 1981.
Wenn Sie das heute schon verbrauchen, wenn Sie sich also nicht auf das konzentrieren, was wirklich gefördert werden muß, wird Ihnen das Geld an anderer Stelle fehlen.
Wir meinen also: Wenn Sie sich ernsthaft um die nachfolgende Generation Sorgen machen, dann sollten wir uns alle gemeinsam bemühen, ihnen möglichst wenig Schulden zu hinterlassen, indem wir alle staatlichen Transfers — gerade auch die für die Familien und die Kinder — auf den jeweiligen Kern des Problems konzentrieren. Und dies tun eben Kinderfreibeträge gerade nicht. Das, was Sie hier heute fordern, würde automatisch zu einer höheren Staatsverschuldung führen.
Wir lehnen aus all den genannten Gründen Ihren Gesetzentwurf ab. Wir meinen, die Nachteile des Kinderbetreuungsbetrages sind durch eine Verwaltungsanweisung der von Herrn Matthöfer und Frau Funcke beschriebenen Art zu beheben. Aber neue Kinderfreibeträge wollen wir nicht.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. — Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktion der CDU/CSU Drucksache 8/3104 an den Finanzausschuß — federführend — und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß vor. Ich darf das Haus fragen, ob es damit einverstanden ist. — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr
— Drucksache 8/2943 —
Interfraktionell ist ein Kurzbeitrag für jede Fraktion vereinbart worden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kollege Straßmeir.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Beginn meiner Begründung zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Verbesserung der Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr möchte ich uns alle auf den allgemeinen Vorwurf hinweisen, der sich in den Presseüberschriften wie folgt ausnimmt: „Kinderunfälle, der traurige Rekord auf unseren Straßen" oder „Deutsche Autofahrer kinderfeindlich". Wahr ist, meine Damen und Herren, daß es uns in den letzten Jahren trotz vielfacher Anstrengungen nicht gelungen ist, entscheidende Erfolge im Kampf gegen Kinderunfälle auf unseren Straßen zu erzielen.In den 30 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland verunglückten auf unseren Straßen 1,5 Millionen Kinder. Jedes 30. Kind verunglückt bei uns vor seinem 9. Lebensjahr, jedes 17. vor seinem 16. Lebensjahr, und bis zur Volljährigkeit hat jedes 7. Kind einen Verkehrsunfall mit Verletzungen erlebt oder durchlitten. 3 000 Kinder erleiden jährlich bei Straßenverkehrsunfällen Hirnverletzungen mit Dauerschäden. Alarmieren muß uns, daß es wohl nirgendwo in Ländern rait vergleichbarer Verkehrsdichte für Kinder im Straßenverkehr so gefährlich ist wie in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei sind die Bedingungen, was die innerörtlichen Verkehrsregelungen einschließlich der Geschwindigkeitsbegrenzungen angeht, fast überall die gleichen, innerhalb deren Geltungsbereich sich 90 % der Unfälle ereignen.
Wo liegen dann aber die Ursachen dafür, daß in der Bundesrepublik Deutschland drei- bis viermal so viel Kinder auf der Straße verunglücken wie in Italien oder Schweden? Warum geschehen in den Vereinigten Staaten, Frankreich, Dänemark und Holland nur halb so viel Unfälle wie bei uns? Ich glaube, daß bei uns die Unfallforschung sehr hinterherhinkt, insbesondere was die Unfallursachen bei Kindern angeht. Es gibt bei diesem Sachverhalt wohl auch niemanden, der dieses Thema mit Rechthaberei, Besserwisserei oder mit Kritik ohne Selbstkritik anpacken dürfte. Wir verstehen unse-
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Straßmeirren Antrag so, daß sich der Deutsche Bundestag diesem Thema stellt.Kinder und Jugendliche haben es einfach schwer, mit dem Straßenverkehr mit der modernen Dimension fertigzuwerden. Eine noch so gute Verkehrserziehung macht sie nicht zu perfekten Verkehrsteilnehmern. Die Welt des Straßenverkehrs ist nun einmal eindeutig auf die Welt der Erwachsenen eingerichtet. Der § 1 der Straßenverkehrs-Ordnung kennt nur den Verkehrsteilnehmer, der sich so zu verhalten hat, daß kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen vermeidbar behindert oder belästigt wird.Es ist doch nachgerade nur natürlich, daß sich Kinder nicht in jeder Situation verkehrsgerecht verhalten können. Unser Antrag fordert daher in Punkt 1, den Schutz des Kindes in der Straßenverkehrs-Ordnung entscheidend zu verbessern. Dies ist eine Forderung, die auch vom Deutschen Verkehrsgerichtstag seit langem erhoben wird. Andere Länder haben solche gesetzlichen Bestimmungen, z. B. heben die Schweiz, Osterreich und die DDR die besondere Verantwortung gegenüber Kindern in ihren gesetzlichen Bestimmungen hervor. In der Straßenverkehrs-Ordnung der DDR heißt es ausdrücklich, daß jeder Verkehrsteilnehmer gegenüber Kindern zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet ist.Unser Antrag will erreichen, daß § i der Straßenverkehrs-Ordnung eine ähnliche Ausgestaltung zum Schutz unserer Kinder im Straßenverkehr erhält. Wir erhoffen uns davon auch weitere Auswirkungen, nachdem dies in der Straßenverkehrs-Ordnung verankert ist, auf die Ausbildung der Kraftfahrer sowie auf die Verkehrserziehung und die Nachschulung insgesamt. Von einer in der Straßenverkehrs-Ordnung verankerten besonderen Sorgfaltspflicht der Kraftfahrer gegenüber den Kindern versprechen wir uns auch überall dort eine bessere und durchgreifendere Tendenz, wo die Verkehrssicherheitspolitik noch andere Möglichkeiten auszuschöpfen hat. Es ist beispielsweise nicht länger hinnehmbar, daß sich bei den 450 Fahrschulprüfungsfragen nur noch ganze drei mit den besonderen Risiken der Kinder im Straßenverkehr beschäftigen.Außerdem ist es nach unserer Meinung sehr wichtig, daß die Kraftfahrer auch durch einen optischen Anreiz auf dieses Problem stärker hingewiesen werden. Dazu allerdings ist der Schilderwald in Deutschland überhaupt nicht geeignet. Es gibt ein Gefahrenzeichen „Vorsicht, Kinder!", und es gibt Kinder-Hinweiszeichen. Dieses eine Gefahrenzeichen ist eines unter 27 gleichrangigen Verkehrsschildern und ist etwa dem Zeichen „Vorsicht, Seitenwind!" oder dem Zeichen „Vorsicht, Steinschlag!" gleichgestellt. Ich glaube, es ist richtig, ein einheitliches europäisches Kinder-Schild zu verlangen. Dieses Schild darf nicht nur ein Gefahrenzeichen-Schild sein, sondern es muß in die Vorschriftszeichen unserer Straßenverkehrs-Ordnung hochgestuft werden. Erst dann ist nach unserer Auffassung die Gewähr dafür gegeben, daß dieKraftfahrer die notwendige Sorgfalt im Umgang mit Kindern im Straßenverkehr üben.Wir haben bereits festgestellt, daß die Schaffung verkehrsberuhigter Zonen ein guter Beitrag zur Lösung des anstehenden Problems sein kann. Aber, meine Damen und Herren, dies allein kann natürlich nicht die Alternative sein. Denn wir wissen, daß sich nach Schaffung von Fußgänger- oder verkehrsberuhigten Zonen die Probleme des Straßenverkehrs mit ihren Miseren auch für die Kinder im Normalfall in andere Stadt- oder Wohngebiete verlagern. Es gibt hier also kein Patentrezept, sondern wir brauchen vielmehr neben dem Flächenkonzept, das wir für unerläßlich halten, auch noch die vermehrte Einrichtung von Spielstraßen. Dies ist ein gesonderter Punkt unseres Antrags.Im übrigen sollte auch noch einmal das Thema der Benutzung von Gehwegen durch Kinder mit Fahrrädern und Go-carts behandelt werden. Dies mag gesetzlich zwar alles ganz ordentlich geregelt sein, aber in der Praxis des Alltags herrscht hier eine große Verwirrung. Wir glauben, daß die breite Öffentlichkeit einen Anspruch darauf hat, daß dieses Thema in richtiger, guter Diskussion angesprochen wird.Der letzte Punkt unseres Antrags, Verkehrssicherheitsprogramme, spricht alle die an, die sich mit Straßenverkehrssicherheit zu befassen haben. Die Bundesregierung hat bereits im Jahre 1973 ein finanzielles Engagement für 1977 angekündigt, das 34 Millionen DM im Jahr umfassen sollte. Tatsächlich aber werden — trotz der anwachsenden Motorisierung und der damit zunehmenden Gefährdungen und Unfallgefahren — die Mittel im Jahre 1979 ganze 15 Millionen DM ausmachen. Die CDU/CSU will mit diesem Antrag erreichen, daß das Konzept im ganzen überprüft und die Priorität stärker auf die Gefährdung der Kinder im Straßenverkehr ausgerichtet wird.Die CDU/CSU-Fraktion hat mit Freude zur Kenntnis genommen, daß der Bundesverkehrsminister unseren Antrag vorn 5. Juni 1979 begrüßt hat. Die CDU/CSU erkennt es auch an, daß die Koalitionsfraktionen im August 1979 eine Kleine Anfrage eingebracht haben, deren Antworten uns nun vorliegen und die in diese Debatte sicherlich einfließen können. Wir geben deshalb unserer Hoffnung Ausdruck, daß es durch eine gemeinsame Anstrengung möglich werden wird, den großen Einbruch in die traurige Unfallbilanz bei Verkehrsunfällen mit Kindern zu erzielen. Wir müssen den Satz eines Zynikers ad absurdum führen, daß bei uns in der Bundesrepublik Deutschland immer weniger Kinder geboren, dafür aber um so mehr totgefahren werden.Ich hoffe, daß wir diesen Antrag in Gemeinsamkeit beschließen können.
Der nächste Redner ist der Abgeordnete Daubertshäuser. Er hat das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag der Union „Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr" wird ein für unser Land wenig rühmliches Problem angesprochen. Wir begrüßen es, daß Ausschüsse und das Plenum des Deutschen Bundestages und damit die breite Öffentlichkeit mit diesem Antrag die Möglichkeit erhalten, sich über das bisher übliche Maß hinaus mit der Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr zu beschäftigen. Dabei weisen die im Unions-Antrag genannten sechs Forderungspunkte lediglich auf einen kleinen Teilbereich des Gesamtkomplexes hin, Punkte, die zu einem erheblichen Teil bereits durch bestehende Regelungen vollzogen werden bzw. sich in der parlamentarischen Beratung befinden.
Meine Damen und Herren, ich gebe gern zu, daß auch die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP vom August dieses Jahres und die sehr detaillierte und umfangreiche Antwort der Bundesregierung noch vieles unberührt lassen. Gerade die Antwort der Bundesregierung zeigt, daß die bisherigen anerkennenswerten Maßnahmen, wie z. B. die Aufklärungsaktion, das Programm für Schulwegsicherung, die Maßnahmen der Ausrüstungsvorschriften des Straßenbaues und im Forschungsbereich, alle zusammen bisher noch keinen durchschlagenden Erfolg erzielt haben. Wir werden deshalb im Verkehrsausschuß auch eine Sachverständigenanhörung beantragen. Dabei wollen wir nicht nur die Vertreter der eingefahrenen Interessenverbände hören, sondern die Zusammensetzung dieser Sachverständigen muß gewährleisten, -daß über die bisher eingeschlagenen Wege hinaus das Problem auf einer breiteren gesellschaftspolitischen Grundlage diskutiert wird.
Der neue Trend in der Verkehrspolitik wird nur dann überzeugend sein, wenn die Schwächsten unserer Gesellschaft — und dazu zählen nun einmal die Kinder - sich nicht mehr dem Verkehr anpassen müssen, sondern wenn umgekehrt der Verkehr sich nach den Bedürfnissen der Menschen und der Kinder ausrichtet.
Es darf nicht unser Ziel sein, allein durch Verkehrserziehung und allein durch Trainingsprogramme die Kinder praktisch zu dressieren, damit sie gegen Gefahren des Verkehrs gewappnet sind; dies wäre höchst unmenschlich. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Verkehrsverhältnisse in unseren Städten, in den Gemeinden wieder kinder-, wieder menschenfreundlich werden. Und das ist eine Aufgabe, meine Damen und Herren, die nicht nur von der Verkehrspolitik allein zu leisten ist, sondern wir sehen ähnlich wie der Kollege Straßmeir darin eine umfassende gesellschaftspolitische Aufgabe.
Wer dies ernsthaft will, der darf auch nicht vor alten Tabus zurückschrecken; der muß begreifen und auch andere begreifen machen, daß das Befolgen solcher Schlagworte wie „freie Fahrt" oder „Leichtigkeit des Verkehrsflusses" mit dazu beigetragen haben, daß alle vier Stunden in unserem
Land ein Kind an den Folgen eines Verkehrsunfalles stirbt. Maßnahmen wie das von dem früheren Verkehrsminister Leber eingeführte Tempolimit 100 auf Landstraßen sind zwar seinerzeit von vielen hart attackiert worden, aber durch diese Maßnahmen ist jährlich Tausenden das Leben gerettet worden. Dies muß man dann auch einmal mit sagen.
— Das ist richtig. Aber, Kollege Straßmeir, wenn Sie die Statistik durchlesen, werden Sie feststellen, daß gerade durch das Tempolimit auf den Landstraßen die Zahl der Todesopfer in unserem Land enorm gedrückt wurde.
In den vergangenen Jahren haben bereits vielfältige Bemühungen dem Ziel gegolten, das Unfallgeschehen zu analysieren, Maßnahmen zu entwickeln und zu erproben und gegebenenfalls auch anzuwenden, die einen Beitrag dazu leisten, Anzahl und Folgen von Kinderunfällen zu verhindern. Das wird von uns anerkannt. Besonders hervorheben möchte ich hierbei die segensreiche Arbeit des Deutschen Verkehrssicherheitsrates.
Aber bei all diesen Maßnahmen muß auch die Umsetzung in die Praxis berücksichtigt werden. Und diese Praxisbezogenheit fehlt mir z. B., wenn ich in einem von der Bundesanstalt für Straßenwesen herausgegebenen Trainingsprogramm für Eltern über Seiten hinweg Sätze lese wie diesen:
Einen möglichen Ausweg bietet die Eingrenzung der situativen Determinanten auf Stimuli, die einen positiven Valenzcharakter involvieren.
Da fehlt mir, meine Damen und Herren, und sicher nicht nur mir, die Praxisbezogenheit und Bürgernähe bereits in der Sprache. Da muß einiges zum Besseren geschehen, wenn wir wirklich mithelfen wollen, daß solche Trainingsprogramme draußen auch angenommen werden.
Wir sind sicher dafür, daß Grundlagenforschung, betrieben wird, daß Analysen erstellt werden. Aber das darf nicht dazu führen, daß neben den Forschungsprogrammen in der Praxis der alte Trott weiterläuft. Es ist uns bekannt, daß es auch bei diesem Problem kein alleinseligmachendes Patentrezept gibt, und ich bin dem Kollegen Straßmeir dankbar, daß er dies auch herausgestellt hat. Wir sind aber der Auffassung, daß durch eine Konzertierte Aktion verschiedener Maßnahmen einiges zum Besseren zu wenden ist.
Keine Hoffnung — das möchte ich auch sagen — setzen wir mehr auf reine Appelle; denn es hat sich bisher gezeigt, daß die schrecklichen Unfallzahlen durch reine Appelle nicht heruntergedrückt werden konnten. Das rührt vielleicht auch daher, daß das Bild einer autogerechten Stadt in vielen Köpfen zu stark verwurzelt ist. Ebenso unbestritten ist, daß dem Erfolg des Prinzips „Mehr Verkehrssicherheit durch Verkehrserziehung" Grenzen gesetzt sind. Die meisten Kinder- und anderen Ver-
Daubertshäuser
kehrsunfälle lassen sich durch Aufklärung und Erziehung allein nicht vermeiden.
Deshalb müssen wir uns alle miteinander kritisch fragen, ob wir — angefangen bei der Kommunalpolitik bis hin zu Entscheidungen dieses Parlaments — in der Vergangenheit durch unsere Beschlüsse Freiräume der Kinder eingeengt haben, ob wir diese dadurch von der Straße vertrieben und damit Unfälle produziert haben. Denn aus einer Pilotstudie wissen wir: Die Mehrzahl solcher Unfälle passiert in der Tat in dichtbesiedelten Wohngebieten mit überdurchschnittlichem Verkehrsaufkommen und minimalen Spielmöglichkeiten für Kinder, die zudem zu Hause oft in beengten Wohnverhältnissen leben. Die überwiegende Mehrzahl der verunglückten Kinder hat keine Möglichkeit, im direkten Umkreis der Wohnung zu spielen, und Kinder in solchen Stadtgebieten sind um ein Vielfaches mehr gefährdet als solche in besseren Wohnverhältnissen.
Meine Damen und Herren, in allen Grundsatzprogrammen der im Bundestag vertretenen Parteien wird übereinstimmend gefordert, wieder eine Wohnumwelt zu schaffen, die zu sozialen Kontakten anregt und weitgehend frei von Gefährdungen und Belästigungen ist. Es wird dort übereinstimmend gefordert, vor allem in Wohngebieten Beschränkungen für den Autoverkehr einzuführen und die Spiel- und Freizeitmöglichkeiten zu verbessern.
Aber müssen wir nicht, wenn wir selbstkritisch, wenn wir ehrlich sind, zugeben, daß die Wirklichkeit anders aussieht, und zwar weil der Individualverkehr in der Stadtentwicklung häufig immer noch Vorrang vor der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs hat, weil die Wohngebiete von Straßen zerschnitten werden, weil der mögliche Aktionsradius der Kinder weiter eingeengt wird und deshalb die Zahl der Unfälle wahrscheinlich noch weiter ansteigen wird?
Wir werden bei den Ausschußberatungen, wenn wir dem gesamten Problem gerecht werden wollen, einen sehr weiten Bogen spannen müssen und werden dabei auch die im sozialen Sinne kraftverkehrsgeschädigten Kinder nicht vergessen dürfen. Es gibt über das heute bereits von der Regierung auf den Weg Gebrachte hinaus noch einiges zu tun, was relativ schnell getan werden kann. Es gibt grundsätzliche Einstellungen, die sicher nur langfristig geändert werden können, weil manche von liebgewordenen Vorstellungen Abschied nehmen müssen.
Wir begrüßen sehr, daß der Bundesverkehrsminister angekündigt hat, bei der nächsten Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung in eine Geschwindigkeitsvorschrift des § 3 eine Verpflichtung für den Kraftfahrzeugführer aufzunehmen, durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und bremsbereites Verhalten auf Kinder, hilfebedürftige und ältere Menschen Rücksicht zu nehmen. Nach unserer Auffassung ist diese Änderung deshalb so bedeutungsvoll, weil mit dieser Maßnahme den Kraftfahrern mit allem Nachdruck verdeutlicht werden kann, daß eine besondere Sorgfaltspflicht gegenüber den Schwächeren besteht.
Wir begrüßen, daß im Zusammenhang mit der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes die Verkehrsberuhigung in Wohngebieten, der wir sehr große Bedeutung beimessen, bereits als Vorschlag der Regierung vorliegt. Gerade die Entwicklung in Holland auf diesem Sektor hat gezeigt, daß die Verkehrsberuhigung zu mehr Sicherheit und zu humaneren Lebensbedingungen führen kann.
Meine Damen und Herren, es müssen neue Daten gesetzt werden, sicher auch, wie der Kollege Straßmeir gesagt hat, im Bereich der Unfallforschung und der Unfallanalyse. Wir ersehen daraus nur: Wir stehen noch am Anfang bei unserem Kampf gegen Fußgänger- und Radfahrerunfälle in Wohngebieten. Wirklich durchschlagenden Erfolg werden wir erst dann erzielen, wenn dem jetzigen Zustand der Besinnung auch die Bereitschaft zum Wandel folgt. Unser Ziel sind dabei nicht autogerechte Kinder, sondern menschenfreundliche Verkehrsverhältnisse.
Als nächster Redner hat der Herr Abgeordnete Hoffie das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Schulte hat gerade gerügt, daß Herr Daubertshäuser nicht ausreichend auf den Antrag der Opposition eingegangen sei; ich will das deshalb gleich ansprechen, Herr Schulte.Ich meine, so begrüßenswert es ist, daß das Thema „Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr" auf der Tagesordnung unserer verkehrspolitischen Debatte und auch unserer dauernden Bemühungen ist und bleibt, so wenig ist der dazu eingebrachte Antrag der Opposition geeignet, wirklich wirksame und neue Verbesserungen zu erzielen.Sie wissen, Sie rennen gerade bei uns offene Türen ein, wenn es um dieses Thema geht; denn die Freien Demokraten können für sich in Anspruch nehmen, daß sie die entscheidenden Verbesserungen im Hinblick auf die Sicherheit von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr in den letzten Jahren nicht nur initiiert, sondern auch beharrlich — zum Teil gegen den Widerstand aus allen Fraktionen und Parteien und übrigens auch gegen den Widerstand der Ministerialbürokratie — durchgesetzt haben. Ich erinnere nur an Stichworte wie die Pflicht, Kinder nur noch auf den Rücksitzen der Autos zu befördern, ich erinnere an die Pflicht zum Tragen der Schutzhelme. Ich erinnere daran, daß ich noch vor Jahren hier dafür belächelt worden bin, als ich sagte — das war zu einer Zeit, als man auch noch in Holland damit experimentierte —: Wir müssen dafür sorgen, daß wir verkehrsberuhigte Zonen bekommen. Das ist das, was in Holland als weltweit anerkanntes Beispiel
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Hoffiemit dem System der sogenannten Wohn-Erften praktiziert wird. Und das ist heute eine Sache, um die ein Wettlauf in allen Gemeinden, in allen Kommunen eingesetzt hat. Ich glaube, daß wir gelegentlich, wenn es um solche Fragen der Sicherheit für Kinder im Straßenverkehr geht, auch an solche Momente unserer Auseinandersetzungen erinnern dürfen.Ich habe gesagt: Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der Opposition ist wenig hilfreich. Die ser Sechs-Punkte-Katalog, den Sie aufgestellt haben, mit heißer Nadel gestrickt — diese Vorschläge kamen als Reaktion, nachdem wir uns gemeinsam, Herr Schulte, über dieses Thema im „Verkehrsparlament" der „Süddeutschen Zeitung" unterhalten haben; diese Vorschäge waren dort sehr umstritten —, enthält Dinge, die zum Teil längst erfüllt sind. Das betrifft z. B. Ihre Forderung nach Klarstellung, daß die Gehwege auch durch radfahrende Kinder benutzt werden dürfen. Ferner geht es um Anregungen, für die die Bundesregierung auch längst konkrete Vorstellungen entwickelt hat. Ich erinnere an die Forderung nach Ergänzung der Straßenverkehrsordnung im Sinne einer besonderen Rücksichtspflicht der Verkehrsteilnehmer gegenüber Kindern. Dies soll allerdings nicht, wie von Ihnen vorgeschlagen, durch eine Ergänzung in § 1, sondern nach der Vorstellung der Bundesregierung durch eine Änderung und Ergänzung in § 3 geschehen. Das wird aber lediglich den Vorteil einer größeren Sicherheit in der Rechtsprechung haben, aber leider keine Auswirkungen im praktischen Verkehrsgeschehen, wie es sich heute darstellt, wenn unsere Kinder unter die Räder kommen.Dies gilt auch für die von Ihnen geforderte diesbezügliche Ausbildung und Nachschulung der Fahrzeugführer. Den Fahrlehrern sind seit 1976 bzw. 1977 entsprechende Pflichten auferlegt, nämlich das Thema „Verhalten gegenüber Kindern" intensiver in den Unterrichtsstoff aufzunehmen.Es bleibt in Ihrem Antrag als Verbesserungsvorschlag zunächst Ihr Ruf nach einem einheitlichen Kinderverkehrsschild als Vorschriftszeichen. Das unterstreicht lediglich den Glauben der Union, daß allein mit Verkehrsschildern, mit neuen Schildern, mit der Vereinfachung auf bestimmte Schilder schon Verbesserungen erzielt werden könnten. Gleichzeitig beklagen Sie die Vielfalt der sehr vielen auf den Autofahrer einwirkenden Schilder.Es bleibt in Ihrem Antrag die wirklich von einer geradezu abenteuerlichen Unwissenheit und Ahnungslosigkeit zeugende Vorstellung, in sogenannten Spielstraßen herkömmlichen Musters, die man nicht mit den von mir vorhin angesprochenen Wohnstraßen verwechseln darf, könne die Sicherheit unserer Kinder durch die gleichberechtigte Nutzung durch Fahrzeuge und spielende Heranwachsende verbessert werden. Meine Damen und Herren von der Opposition, ein einziger Blick auf die seit Jahren vorliegenden zahlreichen Untersuchungen und Experimente mit Spielstraßen hätte genügt, um die Opposition vor einer derart leichtfertigen Forderung zu bewahren, die nach allen Erfahrungen die Gefahren nicht vermindert, sondernerheblich vergrößert, solange eine gleichberechtigte Nutzung nicht mit der dann auch notwendigen baulichen Umgestaltung in sogenannte Wohnstraßen einhergeht, die ein völlig anderes Konzept darstellen als eine nur durch besondere Schilder gekennzeichnete Spielstraße, die abzuschaffen sich alle Bundesländer unisono nachdrücklich bemühen. Gerade Berlin, Herr Straßmeir, zeigt, glaube ich, mit 23 gescheiterten Versuchen, die man jetzt zurückdreht, daß nun gerade diese Forderung aus Ihrem Antrag nun als nicht anderes als abenteuerlicher Leichtsinn zu bezeichnen ist. In einer solchen Debatte hätten Sie, meine Damen und Herren, schon etwas ernsthafter an diese Dinge herangehen müssen.Ich glaube deshalb, daß Ihr Antrag wenig hilfreich ist, eine in die Zukunft gerichtete eher grundsätzliche Debatte darüber zu führen, wie wir die Verkehrssicherheit für die Kinder auf den Straßen verbessern können.
— Ich möchte jetzt keine Zwischenfragen beantworten.
Sie wissen, daß ich mich davor nicht drücke. — Bitte sehr, wenn es mir auf die Zeit nicht angerechnet wird, Herr Präsident.
Herr Kollege Hoffie, ich darf Sie fragen: ist dieser Ton, den Sie hier anschlagen, bei diesem ernsten Thema angemessen?
Dieser Ton ist durchaus angemessen, Herr Kollege, wenn Sie, angesichts einer unwissenden Bevölkerung um der reinen Publikumswirksamkeit willen einen solchen Antrag formulieren, der eine gleichberechtigte Nutzung in sogenannten Spielstraßen vorsieht, und zwar gegen jede Erfahrung, gegen jede statistische Auswertung von nachdrücklich belegbaren Tatsachen. Damit wird doch das genaue Gegenteil von dem bewirkt, was Sie wollen, nämlich eine Verminderung der Verkehrssicherheit. Das habe ich versucht, hier darzustellen.
— Herr Schulte, wenn Sie dies nicht wahrhaben wollen, dann gehen Sie mal hinaus in die Länder und fragen Sie Ihre Kollegen dort, warum sie inzwischen die Spielstraßen wieder abschaffen. Herr Kollege Lemmrich, das gilt natürlich auch für die zahlreichen Versuche in Bayern.
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HoffieMeine Damen und Herren, wer dieses Thema wirklich ernst nimmt, darf nicht so leichtfertig und oberflächlich an die Dinge herangehen,
sondern der muß hier sehr viel grundsätzlicher die Fragen, die uns alle berühren, ansprechen.Das, was in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Koalitionsfraktionen sehr detailliert und sehr konkret dargelegt worden ist, ist zwar eine gute Grundlage, aber im Grunde genommen doch eine Addition von Zahlen in einer breiten Statistik. Darin manifestiert sich doch die Katastrophe, die zum Dauerzustand geworden ist und die in Wahrheit draußen in der Bevölkerung doch heute noch kaum jemanden berührt. Wir sehen, wie wenig wir uns mit diesem Thema wirklich konkret im Detail auseinandersetzen, und das angesichts der Tatsache, daß jedes zehnte Kind das zehnte Lebensjahr nicht erreicht, ohne einen Verkehrsunfall erlitten zu haben.Ich begrüße sehr, wenn z. B. die „Bild-Zeitung" in einer breit angelegten Aktion „Ein Herz für Kinder" dieses Thema aufgreift und es stärker in das Bewußtsein der Menschen rückt. Aber auch hier wird sich doch die Frage stellen, ob wir wirklich grundsätzlich genug an die Probleme herangehen, die sich uns stellen, und die wir zu beantworten haben, und ob die Aufklärungsaktionen, für die wir Millionen einsetzen, ob die verkehrserzieherischen Maßnahmen eigentlich nicht nur flankierendes Beiwerk sind. Oder müssen wir uns sehr viel mehr die Frage nach den eigentlichen Ursachen stellen?Da gibt es ja nun wirklich eine Reihe von Untersuchungen, die sehr deutlich machen, wo wir anzusetzen haben. Herr Kollege Schulte, in dem Land, aus dem Sie kommen, in Stuttgart, ist dazu eine hervorragende Untersuchung angestellt worden, die wir im Ausschuß diskutieren müssen und an der sich zeigt, wo wir ansetzen müssen. Es ist bei dieser Untersuchung herausgekommen, daß insbesondere Jungen häufiger verunglücken als Mädchen, daß Ausländerkinder doppelt so häufig verunglükken als solche Kinder, die hier bei uns geboren worden sind, daß die körperlich Kleinen im bestimmten Kategorien am häufigsten verunglücken, daß die Unfallhäufigkeit am Nachmittag, in der Freizeit, am größten ist, daß auf dem Schulweg, an sich die wenigsten Unfälle passieren, daß also die Sicherung des Schulweges, über den wir nachher ja noch zu sprechen haben, nicht die Hauptaufgabe ist. Vielmehr ist an den sozialen Randbedingungen anzusetzen, in denen unsere Kinder leben und spielen. Aus Untersuchungen erfährt man, daß es nicht genügend Spielflächen gibt, die die Kinder erreichen können, ohne über die Straße zu müssen. Kinder sind weder physisch noch psychisch in der Lage, die Gefahren des Straßenverkehrs in ausreichendem Maße zu erkennen.Ich bin der Meinung, wir sollten alle diese grundsätzlichen Fragen im Ausschuß sehr eingehend diskutieren. Ich begrüße es, daß Sie, meine Damen und Herren, dazu einen neuen Anstoß geliefert haben, aber ich wäre dankbar, wenn die Opposition bei solch ernst zu nehmenden Themen in Zukunft mit nicht ganz so heißer Nadel nähte, wie das im vorliegenden Fall tatsächlich geschehen ist.
Herr Kollege Jobst, wir haben gehört, daß Sie dem Herrn Abgeordneten Hoffie zugerufen haben: „Aber eine freche Schnauze haben Sie!"
Ich kann beim besten Willen nicht feststellen, daß das zu den parlamentarischen Umgangsformen gehört. Ich rüge Sie deswegen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, sind wir mit unserer Aussprache am Ende. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/2943 an den Ausschuß für Verkehr, Post- und Fernmeldewesen — federführend — und an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
— Drucksache 8/3150 —
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß von jeder Fraktion ein Kurzbeitrag gegeben wird.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Tillmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hoffie, nichts gegen leidenschaftliche Debatten.
Aber diese diffizilen Fragen vertragen doch eher einen sachlichen Ton,
wie er diesem schwierigen Thema angemessen ist.Gestatten Sie mir bitte, daß ich mit einem Zitat aus der Rede des Herrn Bundestagspräsidenten beginne, die er hier vorige Woche aus Anlaß des ersten Zusammentritts des Deutschen Bundestages vor 30 Jahren gehalten hat. Der Herr Bundestagspräsident führte aus:Es ist nicht Aufgabe des Parlaments, Gesetzeam laufenden Band zu machen. Wir im Bun-Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13669Tillmanndestag haben die Macht, das Recht und die Pflicht, in jedem Einzelfall sorgsam zu prüfen, ob der in Rede stehende Gegenstand der gesetzlichen Regelung wirklich bedarf, und aus dieser Prüfung dann auch die Konsequenzen zu ziehen. Das Parlament wird von den Bürgern nicht danach beurteilt, ob es viele Gesetze gemacht hat, sondern ..., ob die Gesetze notwendig, und vor allem ..., ob sie gut sind.Meine Damen und Herren, ich habe diese Sätze deswegen zitiert, weil eine solch sorgfältige Einzelfallprüfung, wie sie vom Herrn Bundestagspräsidenten gewünscht wird, bereits einmal der 7. Deutsche Bundestag am 7. Oktober 1974 vorgenommen hat. Er hat damals den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes nach einem Vermittlungsverfahren als unzulänglich beurteilt und mit breiter Mehrheit abgelehnt.Einerseits zwar hat sich seither gezeigt, daß es auch ohne dieses Gesetz gegangen ist, andererseits befaßt sich der uns heute erneut vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes doch mit einer Reihe wichtiger Probleme, die früher oder später gelöst werden müssen, sei es nun der Schutz der Bürger vor vermeidbarem Lärm durch in Wohngebieten parkende Lastkraftwagen, sei es die bessere Nutzung knappen Parkraums in Innenstädten. Bessere Parkmöglichkeiten für Schwerbehinderte sind eigentlich schon längst fällig, und für die Privilegierung der Anwohner beim Parken im öffentlichen Verkehrsraum spricht ja auch einiges. Um so mehr, um es milde auszudrücken, muß man sich eigentlich darüber wundern, daß die Bundesregierung fünf Jahre gebraucht hat, bis sie in der Lage war, diese Fragen dem Bundestag erneut zur Entscheidung vorzulegen. Diese Tatsache spricht sicherlich nicht für besondere Entscheidungsbereitschaft und für das Durchsetzungsvermögen des Bundesverkehrsministers.Ich möchte den Beratungen des Ausschusses nicht vorgreifen und daher nur zu einigen wichtigen Punkten des Entwurfs die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion deutlich machen. Nach dem Vorschlag der Bundesregierung soll in § 6 des Straßenverkehrsgesetzes für Bundesregierung und Bundesrat ein Ermächtigungsrahmen geschaffen werden, wonach in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ein generelles Parkverbot für Lastkraftwagen über 7,5 Tonnen, für Anhänger und für Omnibusse in geschlossenen Ortschaften außerhalb von Gewerbegebieten, und zwar pauschal über das ganze Bundesgebiet, unabhängig von den jeweiligen örtlichen Verhältnissen, verhängt werden soll. Meine Damen und Herren, so begrüßenswert die damit verbundene Absicht auch ist, die Wohnbevölkerung vor Lärm und anderen Belästigungen zu schützen, einer solchen Grobregelung können wir wie schon 1974 nicht zustimmen. Es muß schon eine Lösung gefunden werden, die den unterschiedlichsten Gegebenheiten in den Städten und Gemeinden, deren differenzierter Wirtschafts- und Verkehrsstruktur flexibel und praxisnah Rechnung trägt, die aber dabei — das sollte natürlich hinzugefügt werden — das angestrebte Ziel, den Schutz der Bürger, ebenso garantiert. Denken Sie z. B. nur an die Schwierigkeiten, die es für den öffentlichen Personennahverkehr oder für den Schülerverkehr gäbe, wenn durch wirklichkeitsfremde generelle Verbote der effektive Einsatz der Busse in unseren Gemeinden und Städten in Frage gestellt würde. Schließlich können sich diese Busse nach Feierabend nicht in Luft auflösen. Nur eine Fassung des Gesetzes, die die Anordnung solcher Parkverbotsmaßnahmen dahin gibt, wo sie hingehören, nämlich zu den Gemeinden, ist unbürokratisch und wirklichkeitsnah.
Die Zuständigkeit der Gemeinden klärt die Verantwortlichkeiten und wird auch den Grundsätzen der kommunalen Selbstverwaltung, die in Sonntagsre-' den immer so beschworen wird, gerecht. Die flexible Anpassung gemeindlicher Satzungen an die örtlichen Verhältnisse trägt dem Anspruch des Bürgers auf Nacht- und Sonntagsruhe ebenso Rechnung wie der Vermeidung .unzumutbarer Behinderungen des Verkehrs und der Wirtschaft. Wir plädieren daher für eine Fassung des Gesetzes in diesem Punkte ähnlich der, die der Ausschuß schon 1974, und zwar damals mit Formulierungshilfe des Bundesverkehrsministers erarbeitet hatte.
— Ich gebe gerne zu, daß diese Dinge im Vermittlungsausschuß gescheitert sind, und zwar an der Haltung der Administration. Wir sollten dies klar und deutlich sagen.
Hier haben wir als Abgeordnete die Pflicht und Schuldigkeit, uns über die Bürokraten hinwegzusetzen und uns durchzusetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich wiederhole noch einmal, daß wir es außerordentlich begrüßen, daß nun endlich die Schaffung von Parkgelegenheiten für Schwerbehinderte, die im Gesetzentwurf zunächst nur für die Nähe ihrer Wohnung und Arbeitsstätte vorgesehen war, ermöglicht werden soll. Wir sind dankbar für den Vorschlag des Bundesrates, den die Bundesregierung aufgenommen hat, die Reservierung von Parkraum ganz allgemein, z. B. bei Behörden oder auf Parkplätzen in Innenstädten, zu ermöglichen. Diese Behindertenparkplätze werden eine notwendige und wertvolle Hilfe für unsere behinderten Mitbürger sein. Der Gesetzentwurf sieht ebenfalls die Schaffung von bevorrechtigten Parkmöglichkeiten für Anwohner vor. Dies ist eine wichtige Maßnahme zur Hebung der Attraktivität innerstädtischer Wohngebiete und für die Verbesserung des sogenannten Wohnumfeldes, wie man so schön sagt, eine wichtige Maßnahme auch gegen die Abwanderung aus den Innenstädten. Wir meinen, daß eine solche Regelung überfällig ist und teilen nicht die Bedenken des Bundesrates, der solche Parksonderrechte erst in umfangreichen Versuchen erpro-
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Tillmannben möchte. Daß die Abgrenzung des Kreises der Berechtigten und Begünstigten und die Überwachung Probleme aufwerfen, ist nicht zu bestreiten. Dies stellt aber die Vorzüge einer solchen Maßnahme überhaupt nicht in Frage.Ein weiterer Punkt ist die Einführung gestaffelter Parkgebühren bei Parkuhren, ein in der Öffentlichkeit seit langem heiß umstrittenes Thema. Wir bleiben bei unserer positiven Bewertung, die wir schon 1974 zum Ausdruck gebracht haben: Das System gestaffelter Parkgebühren ist ein marktkonformes, flexibles und wirksames Mittel, knappen Parkraum vor allem in Stadtzentren optimal zu verteilen, den ruhenden Verkehr zu ordnen und unzuträgliche Verkehrsbelastungen in den Innenstädten zu mildern. Ob, wie der Bundesrat es fordert, eine Obergrenze von 1 DM je angefangene halbe Stunde festgesetzt werden sollte, darüber muß der Ausschuß noch eingehend beraten. Die Gefahr, daß man sich an einer solchen Obergrenze als Regelgebühr orientiert, wiegt sicher sehr schwer. Dann hätten wir es nicht mehr mit einer Gebührenstaffelung, sondern mit einer bloßen Gebührenerhöhung zu tun, die gewiß niemand so will.Auch einige andere Teile des Gesetzentwurfs bedürfen noch eingehender Erörterungen im Ausschuß. Wir werden zu einer zügigen Beratung des Entwurfs unseren Beitrag leisten. Wir hoffen, daß diesmal, Herr Kollege Hoffie, das Gesetzgebungsverfahren nicht so endet wie im Jahr 1974.Im übrigen gestatten Sie mir noch den Hinweis, daß wir überhaupt gern mehr Mitspracherechte im Bundestag über diese Debatten, die wir hier führen, hinaus haben möchten: in Fragen der Verordnungsgebung, insbesondere in Fragen der Straßenverkehrs-Ordnung. Ich verweise auf unseren Gesetzentwurf auf Drucksache 8/744, der immer noch im Vermittlungsausschuß ist. Ich hoffe, daß wir mit diesem Gesetzentwurf dazu beitragen können, daß der Bundestag mehr als bisher in Fragen, die alle Bürger in unserem Land besonders interessieren, nämlich Straßenverkehrsfragen, ein Wörtchen mitzureden hat.
Als nächster Redner hat sich der Herr Abgeordnete Curdt gemeldet. Er hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf zur Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes bringt, wie wir meinen einige — wie auch die Bundesregierung betont — notwendige Ergänzungen. Die Tatsache, daß es sich um die wiederholte Einbringung solcher Gesetzesvorlagen handelt, ist wohl ein Beleg dafür, daß — und das, Herr Kollege Tillmann, würde ich in diesem Fall positiv werten! — die Zeit des Nachdenkens dazu beigetragen hat, daß wir es hier mit einem Entwurf bzw. nach der Beratung mit einem Gesetz zu tun haben, welches in seiner Ausgewogenheit den Anforderungen, die sich in der Zwischenzeit gestellt haben, und auch den Erkenntnissen, die wir neu haben hinzugewinnen können, angemessen ist.Ich will bei dieser Gelegenheit gleich etwas zu einem Thema sagen, das Sie, Herr Kollege Tillmann, angeschnitten haben. Sie haben sich zu der Frage geäußert, ob es denn, was den sogenannten Ermächtigungskatalog angeht, nicht häufiger • der Fall sein sollte, daß Dinge, die auf dem Verordnungsweg von den Ministerien kommen, vom Bundestag diskutiert werden. Ich will daran erinnern, daß mindestens seitdem sozialdemokratische Verkehrspolitiker insbesondere als Minister Verkehrspolitik mitgestaltet haben, diese Frage der Diskussion auch von Verordnungen in unserem Ausschuß dem Grund nach nie eine Rolle gespielt hat. Sie werden diskutiert, und wir freuen uns darüber. Ich kann nur hoffen, daß dies so bleibt.Was diesen Gesetzentwurf betrifft, begrüßen wir es, daß endlich eine ausreichende Rechtsgrundlage geschaffen werden soll, damit Parkbeschränkungen zugunsten von Anwohnern, Blinden und Schwerbehinderten in der Straßenverkehrs-Ordnung vorgesehen werden. Was unsere Behinderten angeht, so ist heute morgen mehrfach nicht nur über sie, sondern auch über die anderen, die unter dem Verkehr zu leiden haben, darunter unsere Kinder, diskutiert worden. Auch die Behinderten, insbesondere die Gehbehinderten und die Blinden, sind stark darauf angewiesen, Parkmöglichkeiten vor ihrer Wohnung und auch vor ihrer Arbeitsstätte zu finden; denn weite Wege kann man ihnen nicht immer zumuten. Es muß für sie geradezu entwürdigend sein, wenn sie in der Nähe ihrer Wohnung ständig an geparkten Autos vorbeimüssen, ohne selbst das Recht in Anspruch nehmen zu können, hier einen angemessenen eigenen Parkraum zu finden. Was die Appelle an die freiwillige Einsicht unserer Bürger angeht, man möge auf Behinderte in unserer Gesellschaft Rücksicht nehmen, so glaube ich, daß wir inzwischen alle davon überzeugt sind, daß sie, bisher jedenfalls, fast immer vergeblich gewesen sind. Deswegen begrüßen wir diese Regelung, und deswegen betonen wir auch, daß eine Regelung auf diesem Gebiet längst überfällig ist.Über die Parkprobleme von Bewohnern in den Wohnstraßen unserer Städte, insbesondere der Innenstädte, brauche ich sicherlich keine längeren Ausführungen zu machen. Auch Kollege Tillmann hat bereits darauf hingewiesen. Der Gesetzgeber muß in diesem Punkte etwas tun, damit es zu einer Verbesserung kommt. Nachdem es in diesem Bundestag sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen Mode geworden ist, von Gemeinsamkeiten zu sprechen, hoffe ich, daß wir auch in diesem entscheidenden Punkt die Gemeinsamkeit aufbringen, um in der Beratung dieses Gesetzentwurfes zu den Verbesserungen zu kommen, die nötig sind, um den Wettlauf auch der Anwohner in unseren Innenstädten auf die begehrten Parkplätze zu beenden.Vom Bundesrat gibt es leider Widerstand. Er will dem Vorschlag der Bundesregierung so nicht folgen, sondern der Erprobung von Parksonder-
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Curdtrechten für Anwohner in innerstädtischen Wohngebieten zunächst den Vorrang einräumen. Ich sage dazu ganz deutlich, daß wir keine solche Erprobung brauchen, da es, beispielsweise aus Großbritannien, hinlängliche Erfahrungen gibt, worauf auch in der Gesetzesvorlage verwiesen worden ist. Somit werden wir uns in diesem Punkt bei der Ausschußberatung unter uns Bundestagsparlamentariern wohl einig werden. Vorläufige Regelungen, die vom Bundesrat vorgeschlagen werden, würden — ich meine, das betonen zu müssen — zu einer weiteren Erschwernis, ja Verunsicherung gerade auch für weitere städtebauliche Entwicklungen führen.Ein dringendes Anliegen dieses Gesetzentwurfes ist es ferner, den Mißbrauch von Straßen einzuschränken, weil mancher Parkraum auf unseren Straßen gewissermaßen zum Betriebshof für Gewerbebetriebe umfunktioniert worden ist. Durch den Gesetzentwurf soll künftig verhindert werden können, daß Lastkraftwagen, deren Anhänger und Omnibusse nachts und an Wochenenden regelmäßig in Wohngebieten abgestellt werden, was u. a. auch deshalb geschieht — wir sehen die Problematik —, weil der Fahrer in der Nähe wohnt. Es führt meistens zu Belästigungen der Anwohner, wenn er am anderen Morgen seinen Lastzug oder Omnibus früh startet.Herr Kollege Tillmann, im Gegensatz zu Ihnen muß ich allerdings sagen, daß wir uns als Sozialdemokraten in diesem Ausschuß nicht einer besonders gewerbefreundlichen Haltung hingeben wollen, sondern wir werden in diesem Punkt dafür kämpfen, daß hier dem Schutz der Bürger Vorrang vor dem eingeräumt wird, was das Gewerbe in der Verfolgung eigener Interessen entwickelt hat.
Zur Bekämpfung des sonstigen Verkehrslärms sollen weitergehende Verordnungen erlassen werden können, als es heute möglich ist. Auch die Verwirklichung dieses Anliegens liegt seit langem im Interesse der Bürger. Was hier vorgeschlagen wird, erscheint uns durch die Möglichkeiten einer flexiblen Handhabung angemessen, um das auch jeweils auf kommunale und vielleicht sogar auf Landesentwicklungen abzustellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Curdt, können Sie mir bestätigen, daß ich in meinen Ausführungen sehr deutlich gemacht habe, daß es uns um den Schutz der Bürger vor Lärm und sonstigen Belästigungen geht, daß man gleichzeitig aber — es geht hier um ein Sowohl-als-Auch und nicht um ein Entweder-Oder — die Möglichkeit finden muß, diesen Schutz flexibel so zu bewerkstelligen, daß der Bus und der LKW noch weiter fahren und benutzt werden können?
Ich will überhaupt nicht bestreiten, daß Sie dafür sind, daß Lastkraftwagen und Busse auch weiterhin fahren können. Ich glaube, es geht um die differenzierte Lösung, die dieser Gesetzentwurf vorsieht, daß man nämlich genau die Mißstände, die beseitigt werden sollen, künftig auch beseitigen kann, was bisher nicht möglich ist. Das wissen Sie ebenso wie ich.
— Herr Kollege Hoffie, vielen Dank für den Zwischenruf.Nun aber auch noch ein paar Sätze zu den Fragen, die nicht ganz unumstritten sind.
— Kollege Dreyer, ich kann Ihren Zwischenruf natürlich verstehen.Es gibt also einige Fragen in diesem Entwurf, die nicht ganz unumstritten sind. Ich will das auch nicht verschweigen. Da geht es beispielsweise um das System der gestaffelten Parkgebühren. Das ist ein Vorschlag, der im übrigen ja auch schon von der Sachverständigenkommission zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden gemacht worden ist, der bereits seit dem Jahre 1964 auf dem Tische liegt und im Grunde genommen immer wieder von allen Kommunalpolitikern — natürlich auch von Landespolitikern — gefordert wird. Dies ist sicherlich ein etwas problematischer Bereich. Höhere Parkgebühren in den Innenstädten werden, so muß ich hier betonen, nicht gerade zu einer wesentlichen Entlastung der Zentren vom Autoverkehr führen, wie wir uns das sicherlich wünschen. Aber zumindest werden sie einen schnelleren Wechsel innerhalb der möglichen Höchstparkdauer bewirken, und damit könnte natürlich eine bessere Ausnutzung des begrenzten Parkraums in unseren Innenstädten verbunden sein.Wir sind uns darüber im klaren, daß unsere Autofahrer meistens sehr empfindlich reagieren, wenn die öffentliche Hand höhere Gebühren von ihnen verlangt. Wir meinen deshalb, daß mit einer Anhebung von Parkgebühren und ihrer Staffelung behutsam und unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse umgegangen werden muß. Deswegen begrüße ich es auch, daß die Bundesregierung keinen Höchstsatz festgelegt hat; denn dann bestünde immerhin leicht die Gefahr — Kollege Tillmann hat auch schon darauf hingewiesen —, daß dieser als allgemeiner Richtsatz erhoben wird.Meine Damen und Herren, ich wollte mich hier auf wenige Bemerkungen beschränken; denn dieses Gesetz mit seinen Neuerungen werden wir im Ausschuß ausführlich beraten. Ich darf für die SPD- Fraktion der Hoffnung Ausdruck geben, daß es gelingen möge, sowohl mit den Kollegen der anderen Fraktionen im Ausschuß wie allerdings später dann auch bei der Beratung im Bundesrat Einvernehmen darüber zu erzielen, daß die Verbesserungen, die dieses Gesetz will, recht bald in Kraft treten kön-
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Curdtnen. Das seinerzeitige Scheitern können viele von uns, die wir heu dem Bundestag angehören, nicht verstehen. Wir werden allerdings .Fehler, die möglicherweise gemacht worden sind, zu vermeiden versuchen.
Herr Kollege, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreyer?
Nein, Herr Präsident. Ich sehe, die Lampe leuchtet; meine Zeit ist um. Ich hoffe, daß der Kollege Dreyer die Möglichkeit nutzt, diese Frage im Ausschuß an mich zu stellen.
Wir werden das im Ausschuß sicherlich ausführlich erörtern, Kollege Dreyer.
Ich begrüße für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion diesen Gesetzentwurf und meine, daß er sowohl im Hinblick auf die gegenwärtigen als auch die zukünftigen Notwendigkeiten für die berechtigten Ansprüche unserer Verkehrsteilnehmer und Bürger eine entsprechende Gesetzesinitiative darstellt. Wir erklären uns selbstverständlich nicht nur mit der Überweisung an den Ausschuß einverstanden, sondern ich gebe noch einmal auch der Hoffnung Ausdruck, daß wir zu einer breiten Übereinstimmung kommen.
Als nächster Redner hat der Abgeordnete Merker das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich es recht beurteile, haben wir heute die seltene Gelegenheit, eine vierte Lesung eines Gesetzentwurfes durchzuführen. Die ersten drei Lesungen waren das unvollendete Werk des 7. Deutschen Bundestages.
Daß sich der 8. Deutsche Bundestag heute erneut mit diesem Gesetzentwurf zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes beschäftigen muß, ist sicherlich kein Ruhmesblatt in der Geschichte unseres föderativen Systems. Nachdem der Deutsche Bundestag bereits 1974 — mit den Stimmen aller Parteien — eine Novellierung des Gesetzes beschlossen hatte, ist sie dann im Verlaufe des weiteren gesetzgeberischen Verfahrens am Bundesrat gescheitert. Vom Bürger draußen, insbesondere von den Bürgern, denen dieses Gesetz eine echte Verbesserung ihrer Lebensqualität und eine Verbesserung ihrer persönlichen Lebensumstände bringen soll, ist wohl kaum Verständnis dafür zu erwarten, daß sich die beiden gesetzgebenden Kammern vor fünf Jahren nicht auf einen einheitlichen Gesetzestext haben einigen können. Dabei soll dieses Gesetz Millionen von Bürgern draußen im Lande echte Verbesserungen in dem Bereich bringen, den man heute mit Lebensqualität bezeichnet.
Ich möchte auf den Punkt hinweisen, der eine gesetzliche Regelung für die Kennzeichnung von
Fußgängerbereichen in verkehrsberuhigten Wohnzonen vorsieht. Dies ist für uns Liberale ein ganz besonders wichtiges Anliegen. Der erste Großversuch im Lande Nordrhein-Westfalen ist soeben abgeschlossen. Er ist mit außerordentlich positiven Beurteilungen zu Ende geführt worden.
Diese verkehrsberuhigten Wohnzonen bieten die. einmalige Chance, endlich von der bisherigen Konfrontation zwischen den Verkehrsteilnehmern wegzukommen und zu einem Miteinander zwischen dem Auto und den übrigen, in der Regel schwächeren Verkehrsteilnehmern zu gelangen. Sie bieten die Chance, unsere Wohngebiete endlich wieder lebenswert zu gestalten. Sie bieten die Chance, Kindern, älteren Menschen endlich wieder einen Lebensraum zu schaffen, in dem sie sich freier als bisher entfalten können, in dem sie eine Chance gegen den Stärkeren im Verkehr, das Auto, haben.
Ein zweiter Bereich, der uns Liberalen sehr am Herzen liegt — ein altes Anliegen übrigens, an dem schon die Große Koalition 1969 gescheitert ist —, ist die Schaffung eines Gesetzes, mit dem ein Parkverbot von Lastwagen an Sonn- und Feiertagen und während der Nachtzeit in Wohngebieten ausgesprochen werden kann. Wer schon einmal erlebt hat, was es bedeutet, wenn ein Fernfahrer morgens um fünf Uhr vor der Haustür auf den Bock steigt und seinen Wagen warmlaufen läßt, der weiß, daß man mit diesem Geräusch ganze Wohngebiete wachrütteln kann. Hier muß im Interesse der belästigten Anwohner ganz einfach eine vernünftige Regelung gefunden werden.
An der Frage, wer letzten Endes die Entscheidung darüber zu treffen hat, welche Parkverbotszonen geschaffen werden sollen, ist vor fünf Jahren das gesamte Gesetzesvorhaben gescheitert. Wir Liberalen glauben, daß das, was der Bundestag vor vier Jahren einmütig, quer durch alle Parteien, beschlossen hat, nämlich die Entscheidung darüber den Gemeinden zu überlassen, weil diese ortsnäher beurteilen können, was richtig ist, nach wie vor seine Berechtigung hat.
Nur eines, meine Damen und Herren, darf nicht geschehen: daß an dieser Frage das Gesetz wieder scheitert und Millionen von betroffenen Bürgern in die Röhre gucken.
Ich will allerdings auch nicht verschweigen, daß wir hier sehr sorgfältig darauf achten müssen, daß wir kein mittelstandsfeindliches Gesetz beschließen. Viele Transportunternehmen, die früher am Stadtrand gegründet wurden, liegen heute mitten im Stadtgebiet. Dies wirft sicherlich besondere Probleme auf. Aber hier ist nun eben die Gemeinde in der Lage, angemessener zu beurteilen, inwieweit unzumutbare Belästigungen von einem solchen Betriebshof ausgehen.
Wir sollten im Laufe der weiteren parlamentarischen Beratung in unsere Überlegungen die Frage einbeziehen, inwieweit die Autohöfe der Straßenverkehrsgenossenschaften einem öffentlichen Interesse dienen und möglicherweise in das Ge-
Merker
meindeverkehrsfinanzierungsgesetz miteinbezogen werden könnten.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, den wir für besonders wichtig halten. Nach dem Gesetzentwurf ist vorgesehen, daß für Blinde und Schwerbehinderte mit außergewöhnlichen Gehbehinderungen eine Parkmöglichkeit in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung oder ihrer Arbeitsstätte zur Verfügung gestellt werden soll. In diesem Zusammenhang ist dann sicherlich auch die Tatsache anzusprechen, daß das uns allen bekannte blauweiße Schild mit dem Rollstuhlfahrer immer noch nicht verbindlich ist. Es ist doch unmöglich, daß hier ein Schild in die Welt gesetzt wird, das dem Schwerbehinderten, berechtigterweise, einen Parkplatz reservieren soll, dieser dann aber trotzdem von jedermann benutzt werden darf, ohne daß er damit gegen irgendeine Vorschrift verstößt.
Im Interesse der Wiederherstellung der Wohnqualität in unseren Innenstädten ist es darüber hinaus dringend geboten, die Frage der Schaffung von Parkmöglichkeiten für Anwohner wiederaufzugreifen. Wir wollen, daß die innerstädtischen Wohngebiete wieder attraktiver werden. Wir wollen, daß die Lebensumstände der in den Innenstädten lebenden Bevölkerung verbessert werden. In welchem Ausmaß, in welchem Bereich, auf welchen Straßen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, kann am besten vor Ort, in der Kommune, entschieden werden.
Ich greife einen weiteren Punkt auf, der in der Vergangenheit viel diskutiert worden ist und noch nicht im Gesetz steht, von dem wir uns aber vorstellen können, daß er im Laufe der parlamentarischen Beratungen in dieses Gesetz eingeführt wird. Ich glaube, daß die Energiesituation uns dazu bringen sollte, bei der jetzt anstehenden Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes die Möglichkeiten energiesparender Fahrweise in den Prüfungsstoff der Führerscheinprüfungen aufzunehmen. Ich bin sicher, daß ein solcher Vorschlag im Laufe der parlamentarischen Beratungen auch die Zustimmung der Bundesregierung fände.
Die meisten in diesem Gesetzentwurf angesprochenen Themen werden von der FDP mit großer Sympathie beurteilt. Ich habe ja auch viele Freundlichkeiten zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf hier mitgeteilt. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle einige kritische Bemerkungen machen. In dem Entwurf wird eine ganze Reihe von Dingen angesprochen, die nach der Auffassung der Autoren der gesetzlichen Regelung bedürfen.
Wir alle kennen die Klage — und beteiligen uns gelegentlich selber daran — über die Gesetzesflut, über die vielen überflüssigen Gesetze usw. Ich habe meine Zweifel, und möchte sie hier in aller Offenheit zum Ausdruck bringen, ob all das, was im Entwurf angesprochen worden ist, wirklich der gesetzlichen Regelung bedarf. So habe ich meine Zweifel, ob es denn wirklich gesetzlich normiert werden muß, wenn es um die Festsetzung der Parkgebühren geht. Man könnte dies verstehen, wenn im Gesetzentwurf eine Höchstgebühr festgesetzt worden wäre. Dies ist aber nicht geschehen
dafür habe ich sogar Verständnis —, weil dies als eine Aufforderung an die zuständigen Stellen aufgefaßt worden wäre, den Spielraum auch voll auszuschöpfen. Ich frage mich aber, was eine gesetzliche Regelung eigentlich bewirken soll. Es wird völlig gespenstisch, wenn man im Gesetzentwurf beispielsweise den Satz findet: „Die Nutzung des Parkraums durch eine möglichst große Anzahl von Verkehrsteilnehmern ist zu gewährleisten." Wo sind wir denn eigentlich, wenn eine solche Banalität gesetzlich normiert werden muß?
Es gibt hier viel zu tun. Die FDP wird bei den kommenden Beratungen im Ausschuß dafür sorgen, daß dieser Gesetzentwurf dort, wo er verbesserungsbedürftig ist, verbessert wird und dort, wo es notwendig ist, ergänzt wird.
Wir werden uns nicht daran beteiligen, wenn wieder versucht werden sollte, durch eine künstlich aufgebaute Konfrontation eine Kompetenzrangelei entstehen zu lassen. Dieser Gesetzentwurf muß in dieser Legislaturperiode noch vom Tisch. Die FDP wird dazu ihren Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 8/3150 an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — federführend — und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — mitberatend — vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist damit so beschlossen.
Die Sitzung ist bis 14 Uhr unterbrochen.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir treten in die Fragestunde ein: Fragestunde
— Drucksache 8/3173 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Zander zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 60 des Abgeordneten Hoffakker auf :
Wird die Bundesregierung ihrer Modellberatungsstelle„ ProFamilia" in Bremen die finanzielle Unterstützung versagen, das Modell sperren oder in welcher Weise korrigieren, wenn die Praxis dem Inhalt des offenen Briefs folgt?
Sie haben das Wort.
Herr Kollege Hoffacker, es handelt sich nicht um eine Beratungsstelle der Bundesregierung. Soweit in dem
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Parl. Staatssekretär Zandervom Bund geförderten Beratungszentrum der Pro Familia in Bremen Indikationen im Sinne von § 218 a des Strafgesetzbuches festgestellt und Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, entscheidet hierüber in jedem Einzelfall der Arzt und nicht die Beratungsinstitution. Jeder einzelne mit dem Beratungszentrum zusammenarbeitende Arzt ist an das Gesetz gebunden und trägt hinsichtlich der Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs die strafrechtliche Verantwortung. Die Bundesregierung hält es nicht für angemessen, sich über ein angenommenes Fehlverhalten von Ärzten zu äußern.
Wird eine Zusatzfrage gewünscht? — Bitte sehr, Herr Kollege Hoffacker.
Herr Staatssekretär, da gestern vom Bundesjustizminister festgestellt worden ist, daß diese extensive Interpretation der sozialen Indikation nicht verfassungskonform ist, frage ich Sie: Wollen Sie das Geld, das die Bundesregierung für diese Modellberatungsstelle zur Verfügung gestellt hat, zurückverlangen?
Zander, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hoffacker, mir scheint hier ein Mißverständnis vorzuliegen. Es gibt überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, daß entsprechend den Auffassungen, wie sie in dem Schreiben geäußert worden sind, das Ihrer. Frage von gestern zugrunde lag, in der Praxis dieser Beratungseinrichtung verfahren wird. Die dort erfolgten Maßnahmen stehen nach unserer festen Überzeugung — auch die wissenschaftliche Begleitung der Arbeit dort weist das aus — voll im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hoffacker.
Dann frage ich Sie, Herr Staatssekretär, ob es Ihnen entgangen ist, daß in diesem offenen Brief klar angekündigt wird, daß die Pro-Familia-Beratungsstellen prüfen sollen, ob die von Bremen propagierte Praxis im gesamten Bundesgebiet angewandt werden kann?
Zander, Parl.' Staatssekretär: Herr Kollege Hoffacker, das ist uns keineswegs entgangen. Es ist aber ein Unterschied, ob in einem Schreiben, das in einer öffentlich und polemisch geführten Auseinandersetzung verwandt wird, etwas gefordert wird oder ob die Praxis der Institution dieser Forderung entspricht. Die Praxis der Pro Familia entspricht dieser Forderung eindeutig nicht. Im übrigen ist Pro Familia ja auch von allen Bundesländern als Beratungsinstitution anerkannt worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Geier.
Hat die Bundesregierung vor, den Plan von Pro Familia, nämlich in allen
Ländern ein flächendeckendes Angebot von Abtreibungseinrichtungen zu schaffen, zu unterstützen?
Zander, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Geier, der Bundesregierung wäre es schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich, das zu unterstützen. Sie wissen ja, daß wir hier Modellförderung betreiben, also eine Förderung, die eben ausdrücklich Modellcharakter hat und von daher nicht flächendeckend sein kann.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, wie halten Sie es mit einer Modelleinrichtung, die um des Modellcharakters willen eine Förderung aus öffentlichen Mitteln erhält, für vereinbar, wenn eine solche Institution in Rundschreiben oder auf ähnliche Weise Auffassungen vertritt, von denen der zuständige Staatssekretär des Justizministeriums hier vor dem Deutschen Bundestag sagt, sie seien mit dem geltenden Recht nicht in Einklang zu bringen?
Zander, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, für die Förderung von Modelleinrichtungen ist ausschließlich ein Kriterium wichtig: die Praxis, die dort erfolgt. Diese Praxis ist nicht zu beanstanden. Es ist nicht Gegenstand der Beurteilung und auch nicht Gegenstand der Förderung, welche gesellschaftspolitischen Anschauungen Pro Familia im übrigen vertritt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatssekretär, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um einer Praxis entgegenzuwirken, die nach den vorhandenen Unterlagen und nach den Ergebnissen ganz offenbar darauf angelegt ist, die gesetzlichen Bestimmungen zu unterlaufen?
Zander, Parl. Staatssekretär: Ich kann hier nur noch einmal unterstreichen, was ich bereits gesagt habe: Es handelt sich nicht darum, daß die Praxis zu beanstanden ist.
Herr Kollege Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung etwas getan, um die Ärzteschaft vor den kaum zu qualifizierenden Behauptungen im Stile des offenen Briefes zu schützen?Zander, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung informiert natürlich über die gesetzliche Lage und die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten. Die ganzen Beratungsinstitutionen werden ja von der Bundesregierung im wesentlichen zu diesem Zweck gefördert. Im übrigen hat Pro Familia selbst in dem von der Bundesregierung herausgegebenen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13675
Parl. Staatssekretär ZanderBeratungsführer ihre Praxis, die durchaus gesetzeskonform ist, beschrieben, und es gibt gar keinen Zweifel, daß die Praxis in den Beratungsinstitutionen dieser gesetzlichen Vorschrift voll entspricht.
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Kollege Müller.
Herr Staatssekretär, darf ich fragen, wie sich die Bundesregierung grundsätzlich zu Beratungsstellen stellt, die nicht den Schutz des ungeborenen Lebens in den Mittelpunkt der Beratung stellen, sondern eventuell Hilfen außerhalb der gesetzlich vorgesehenen anbieten?
Zander, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, ich habe keinerlei Anlaß, anzunehmen, daß irgendeine der vielen, ja ganz pluralistisch zusammengesetzten Beratungsstellen eine tendenziöse Beratung betreibt.
Frau Kollegin Geier, Sie haben schon eine Zusatzfrage gestellt. Nach der Geschäftsordnung steht Ihnen nur eine zu. Ich bitte um Ihr Verständnis dafür. Die Geschäftsordnung läßt ein Abweichen von der Regel nicht zu.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Das Wort zur Beantwortung der Frage 86 des Herrn Abgeordneten Spranger hat Herr Staatsminister Wischnewski.
Hat sich der Bundeskanzler in seinem Fernsehgespräch am 30. August 1979 im Berliner Reichstag u. a. mit seiner Außerung „Eines ist mir nicht vorstellbar, daß Gebiete in deutsche Hand zurückkehren, in denen Deutsche heute nicht mehr siedeln. Ich würde auch nicht glauben, daß das heute irgend jemand in Deutschland, in Europa guttun würde, auch dem Frieden guttun würde" in Gegensatz gesetzt zur Verpflichtung des Grundgesetzes zur Wahrung der staatlichen und nationalen Einheit, zum Deutschlandvertrag von 1954 und zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag und dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1975, wonach Deutschland in seinen Grenzen von 1937 nicht aufgehört hat zu existieren und wonach auch der Bundeskanzler diese Rechtsposition selbst dann nicht aufgeben darf, wenn sie z. Z. nicht durchsetzbar ist, und wenn ja, aus welchen Gründen?
Herr Kollege Spranger, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten:
Der Bundeskanzler hat bei der Diskussionsveranstaltung des Zweiten Deutschen Fernsehens im Reichstagsgebäude am 30. August 1979 seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die Deutschen eines Tages wieder unter ein gemeinsames Dach kommen werden und daß der Wunsch zur Vollendung der Einheit Deutschlands sehr viel stärker ist, als er täglich ausgesprochen wird. Diese Äußerungen stehen selbstverständlich im Einklang mit dem Grundgesetz. Um dies klarzustellen, möchte ich, im Gegensatz zum Fragesteller, den genauen Wortlaut des Grundgesetzes wiedergeben, nach dessen Präambel das deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Mit seinen Äußerungen im Reichstagsgebäude hat der Bundeskanzler im Sinne dieses Auftrags des Grundgesetzes gehandelt. Zur Rechtslage Deutschlands hat sich der Bundeskanzler nicht geäußert und damit auch nicht zu den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Komplex in den Entscheidungen vom Juli 1973 und vom Juli 1975. Der Bundeskanzler hat vielmehr auf die Tatsachen hingewiesen, die für die Beurteilung der Situation von Bedeutung sind. Dazu gehört eine Aussage zur tatsächlichen Besiedelung der genannten Gebiete. Die Aussöhnung mit Polen auf der Grundlage der geschlossenen und als verfassungsgemäß anerkannten Verträge ist ein wesentliches Stück der Friedenspolitik dieser Bundesregierung. Ich möchte hierzu einen offensichtlich auch für die Opposition unverdächtigen Zeugen zitieren, nämlich den Historiker Golo Mann, und zwar aus der „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts", Seite 952. Golo Mann hat gesagt:
So wenig das Wilhelminische Deutschland die Grenzen von 1914 zurückgewinnen konnte, an sich die dauerhaftesten, solidesten, die das moderne Europa je besaß, so wenig kann das nachhitlerische Deutschland die Grenzen von 1937 zurückgewinnen. Es gilt nicht, alte Grenzstreitigkeiten zu erneuern. Es gilt, auch im Osten moralischen Bedingungen zuzustreben, unter denen politische Grenzen ihre böse Bedeutung allmählich verlieren, auszubrechen aus dem verhexten Zauberkreis der Kriege um Grenzen, des wechselseitigen Sich-Verdrängens, Vertreibens und Quälens.
So Golo Mann in der „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts".
Eine Zusatzfrage, Kollege Spranger.
Herr Staatsminister, wie lassen sich die Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers mit dem völkerrechtlichen Annexionsverbot in Einklang bringen, und wie kann man vermeiden, daß der Eindruck entsteht, hier werde eventuell versucht, die Massenvertreibung von Deutschen nachträglich zu legitimieren?
Wischnewski, Staatsminister: Eine solche Frage hat der Herr Bundeskanzler überhaupt nicht angesprochen, und deswegen habe ich dem, was ich hier gesagt habe, nichts weiter hinzuzufügen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatsminister, ist der Herr Bundeskanzler eventuell bereit, in einer weiteren Fernsehsendung mitzuteilen, daß auch für ihn Deutschland in den Grenzen von 1937 noch fortexistiert und daß der verfassungsrechtliche Auftrag
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13676 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Sprangerzur Wiedervereinigung auch für den Bundeskanzler Schmidt verbindlich ist?Wischnewski, Staatsminister: Ich habe dazu vorhin eine ganz klare Aussage gemacht. Im übrigen wissen die Menschen in der Bundesrepublik, daß sich der Bundeskanzler mit seiner Politik im Rahmen der gegebenen Rechtssituation bewegt. Es bedarf keiner weiteren Fernsehsendung.
Zu • einer weiteren Zusatzfrage der Herr Kollege Hupka.
Herr Staatsminister, darf ich Sie, nachdem Sie Golo Mann zitiert haben, fragen: Können Sie mir darin zustimmen, daß es einen Unterschied zwischen dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1914 — in diesem Deutschen Reich war auch fremdes Volkstum zu Hause — und dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 gibt, in den Grenzen der friedlichen Weimarer Republik nach Versailles, in dem kein fremdes Volkstum zu Hause war?
Wischnewski, Staatsminister: Ich habe Golo Mann zitiert, ich mache mir dieses Zitat zu eigen, und ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, hätte es nicht zur verfassungsrechtlichen Pflicht des Bundeskanzlers — . Wahrung der nationalen Einheit unseres deutschen Volkes — gehört, daß er, wenn er schon eine solche Äußerung macht, gleichzeitig darauf hinweist, daß die alliierten Siegermächte am Ende des Krieges ausdrücklich davon ausgegangen sind, daß Deutschland nicht geteilt wird, und daß die Ostgebiete, die von diesem Zitat des Bundeskanzlers erfaßt werden, nach dem Potsdamer Abkommen der Siegermächte bis zum Friedensvertrag unter polnische Verwaltung gestellt worden sind, d. h., daß die Siegermächte. damals davon ausgegangen sind, daß eine Disposition hierüber vor einem Friedensvertrag nicht getroffen werden darf?
Wischnewski, Staatsminister: Der Bundeskanzler hat diese Fernsehveranstaltung am Vortage der 40jährigen Wiederkehr des Kriegsbeginns gemacht, und er hat seine Ausführungen an diesem Tage darauf ausgerichtet, daß es unsere Hauptaufgabe ist, den Frieden in Europa und in der Welt zu erhalten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Czaja.
Herr Staatsminister, können Sie mir erklären, warum der Herr Bundeskanzler, der ja auch als Staatsmann eines besiegten Volkes zur Wahrung der Rechtslage Deutschlands verpflichtet ist, nicht mit dieser Rechtslage Deutschlands, die nach innen wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten er verpflichtet ist, argumentiert hat und warum er nicht mit dem vertraglichen Verbot des Art. 7 des fortgeltenden Deutschlandvertrages — nach dem ohne frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung keine endgültigen Feststellungen über die deutschen Grenzen zu treffen sind, was in Art. IV des Warschauer Vertrages ausdrücklich als nicht berührt anerkannt worden ist — argumentiert hat?
Wischnewski, Staatsminister: Der Herr Bundeskanzler hat keine Aussagen gemacht, die im Widerspruch zur Rechtslage stehen, und der Bundeskanzler ist von den Menschen in der Bundesrepublik in hervorragender Weise verstanden worden.
— Das weiß ich deshalb, weil es eine beachtliche Untersuchung gibt, die beweist, daß kaum eine politische Sendung bei den Menschen in unserem Lande ein so positives Echo gefunden hat wie diese; ich bedanke mich sehr für die Frage.
Herr Kollege Böhm zu einer weiteren Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wie will die Bundesregierung ausschließen, daß die Äußerungen des Bundeskanzlers von der Sowjetunion als Bestätigung der von ihr vertretenen falschen Rechtsauffassung in der Grenzfrage empfunden werden, die bekanntlich gegen die berechtigten Interessen des deutschen Volkes gerichtet ist?
Wischnewski, Staatsminister: Die Rechtslage ist der Sowjetunion bekannt. Die Haltung der Bundesregierung wird der Sowjetunion bei jeder sich bietenden Gelegenheit erläutert.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Müller .
Herr Staatsminister, Sie erwähnten eben eine Umfrage. Können Sie dem Hohen Hause sagen, wie groß die Zahl der Befragten war und mit welchem Ergebnis diese Befragung abgeschlossen wurde?Wischnewski, Staatsminster: Da ihre Zusatzfrage nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit
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Staatsminister Wischnewskider Frage steht, habe ich die Unterlagen dafür nicht mitgebracht.
Können Sie mir das nicht schriftlich geben?
Wischnewski, Staatsminister: Jedenfalls können Sie bitte davon ausgehen, daß ein unwahrscheinlich hoher Anteil derjenigen, die befragt worden sind, dem Bundeskanzler voll zugestimmt hat.
Keine weiteren Wortmeldungen. Die Frage ist erschöpfend beantwortet.
Ich rufe die Frage 87 des Abgeordneten Spranger auf:
Ist der Bundeskanzler bereit, im Zusammenhang mit seiner weiteren Aussage „Wenn man ein bißchen in der Geschichte zurückdenkt oder sich orientiert, wie es damals war — 20, 30, 100 oder 200 Jahre dann gibt es Gebiete, da haben nacheinander Wenden und andere slawische Völker, dann Polen, Russen, dann deutsche Ritter, dann wieder Polen gesiedelt — ein ewiges Hin- und Hergeschiebe. Um Gottes willen, laßt uns da nicht wieder anfangen", sich darüber zu informieren, wie nicht nur „deutsche Ritter", sondern Millionen Deutsche aller Schichten, vor allem Bauern und Handwerker, seit dem 12. Jahrhundert die ostdeutschen Gebiete des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 besiedelten und kulturell, religiös, rechtlich, wirtschaftlich und menschlich entscheidend gestalteten?
Das Wort hat Herr Staatsminister Wischnewski.
Wischnewski, Staatsminister: Eine kurze Antwort in einer Fernsehdiskussion ist kein historisches Seminar. Mit seiner Äußerung bei der Diskussionsveranstaltung des Zweiten Deutschen Fernsehens im Reichstagsgebäude am 30. August 1979 hat der Bundeskanzler mit wenigen Strichen eine lange historische Entwicklung skizziert. Der Bundeskanzler weiß," daß die deutschen Siedler, die seit dem 12. Jahrhundert in Gebieten östlich der Oder ansässig wurden, ihr Siedlungsgebiet entscheidend geprägt haben. Er weiß auch, daß dort früher andere Völker gesiedelt hatten.
Der Bundeskanzler hat bei Reden in der Bundesrepublik Deutschland sowie im westlichen und östlichen Ausland immer wieder betont, daß die europäische Zivilisation aus der gegenseitigen Befruchtung vielfältiger Überlieferung entstanden ist. Die Deutschen in den Gebieten östlich der Oder haben zur europäischen Zivilisation einen maßgebenden Beitrag geleistet.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatsminister, wann und wo in den letzten 700 Jahren gab es das von der Geschichtswissenschaft bisher nicht entdeckte, aber vom Bundeskanzler behauptete „Hin- und Hergeschiebe" von Volksgruppen und Volksteilen, wenn man von den Vertreibungen nach dem Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs absieht?
Wischnewski, Staatsminster: Wir haben hier ja keine Geschichtsstunde. Aber wenn Sie informiert werden wollen: Ich lade Sie herzlich ein; ich bin gern bereit, mit Ihnen die deutsche Geschichte und die Geschichte anderer europäischer Völker durchzugehen, vom Jahre 1200 bis heute, damit Sie sehen, welche Bewegungen es in Europa in dieser Zeit gegeben hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, welche Tendenz hat der Bundeskanzler eigentlich verfolgt, als er bei der Passage über das ewige Hin- und Hergeschiebe von Polen und anderen Völkern sprach, aber im Zusammenhang mit Deutschen, die dort siedelten, lediglich auf „Ritter" verwiesen hat, obwohl ihm doch bekannt ist und bekannt sein mußte, daß dort Bürger, Bauern, Arbeiter und Handwerker diejenigen waren, die dieses Gebiet erschlossen und wirtschaftlich besiedelt haben?
Wischnewski, Staatsminister: Sie fragen nach der Tendenz. Ich habe bereits vorhin darauf hingewiesen: Die ganze Fernsehveranstaltung war der Politik der Erhaltung des Friedens und des friedlichen Zusammenlebens mit dem polnischen Volk gewidmet.
Herr Kollege Spranger hat noch eine weitere Zusatzfrage gut. Sie haben das Wort.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, diese neuen „historischen" Erkenntnisse des Bundeskanzlers der historischen Fachwelt, die in den Forschungen der letzten 200 Jahre eine ganz andere Auffassung vertreten hat, zur Verfügung zu stellen, und ist die Bundensregierung außerdem umgekehrt bereit, dem Herrn Bundeskanzler die Möglichkeit zu verschaffen, sich über die Ergebnisse dieser Forschungen zu unterrichten?
Wischnewski, Staatsminister: Ich habe die Bitte an Sie, die Rede nachzulesen, die der Bundeskanzler auf dem letzten Historiker-Kongreß gehalten hat. Dort hat er sich in einer Rede den Historikern in der Bundesrepublik gestellt. All dieses ist nachlesbar.
Zu einer Zusatzfrage, Herr Kollege Hupka.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Ostdeutschland ein Teil Deutschlands wurde, ohne daß jemand vertrieben worden ist?Wischnewski, Staatsminister: Die Bundesregierung weiß, daß wir eine sehr wechselvolle Geschichte gehabt haben.
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13678 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Czaja.
Herr Staatsminister, wie steht der Herr Bundeskanzler — abgesehen von möglicherweise mangelhafter Geschichtskenntnis — angesichts seiner Aussage über das Hin- und Hergeschiebe eigentlich zum völkerrechtlichen Verbot der Massenvertreibung, zu dem die Bundesrepublik bindenden Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention, sich in Freiheit an den angestammten Wohnsitz zu begeben und sich dort frei zu entfalten, und zur sehr beachtlichen Bejahung des Rechtes auf die Heimat und der Volksgruppenrechte nach dem Godesberger Programm?
Wischnewski, Staatsminister: Der Bundeskanzler hat zur Massenvertreibung mehr als einmal seine Meinung gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Gerster.
Herr Staatsminister, kann ich den Antworten, die Sie hier gegeben haben, entnehmen, daß der Bundeskanzler die neudeutsche Kennzeichnung von Vertreibung als „Hin- und Hergeschiebe" als dem Frieden dienlich ansieht?
Wischnewski, Staatsminister: Nein, ich habe doch klar und eindeutig gesagt, was dazu zu sagen ist. Der Bundeskanzler ist auf die historische Entwicklung eingegangen. Er hat das selbstverständlich nur skizzieren können, denn anders geht das auch nicht in einer Fernsehsendung, für die insgesamt nur 11/4 Stunde zur Verfügung standen und in der ein riesengroßer Komplex von Sachfragen behandelt werden mußte. Es ist aber, wie ich glaube, die Haltung des Bundeskanzlers ganz klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Becker.
Herr Staatsminister, angesichts der Fragen, die hier gestellt worden sind, möchte ich Sie fragen: Hat sich eigentlich nach der Auffassung der Bundesregierung, das, was im deutsch-polnischen Vertrag über die polnische Westgrenze festgelegt worden ist, geändert?
Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege Bekker, ich habe vorhin eine klare Aussage zum deutsch-polnischen Vertrag gemacht. Die verfassungsmäßige Gültigkeit des Vertrages ist geprüft, und ich wundere mich natürlich auch über die Absicht mancher Kollegen, die auf der einen Seite sagen: „Pacta sunt servanda" und sich dann hier auf der anderen Seite bemühen, eine völlig andere Politik in den Vordergrund zu schieben.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Böhm.
Herr Staatsminister, teilen Sie noch die seinerzeit vom gesamten Deutschen Bundestag vertretene Auffassung, daß der Vertrag mit Polen kein Friedensvertrag ist, sondern eine vorübergehende Lösung bis zum Abschluß eines Friedensvertrages darstellt und daß sich daraus keine völkerrechtliche Veränderung von Grenzen ergeben hat?
Wischnewski, Staatsminister: Die Rechtslage ist ganz klar und eindeutig. Ich vertrete das, was im deutsch-polnischen Vertrag steht. Im übrigen trete ich nicht dafür ein, daß wir neue Völkerwanderungen in Europa veranstalten, um das hier einmal in aller Deutlichkeit zu sagen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Frage 87 ist beantwortet.
Ich rufe Frage 88 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf :
Kann die Bundesregierung die Aussage des Bundeskanzlers erläutern, daß es in Ostdeutschland „ein ewiges Hin- und Hergeschiebe" gegeben habe, und wo in diesem „Hin- und Hergeschiebe" die Russen an der Reihe gewesen sein sollen?
Das Wort hat der Herr Staatsminister.
Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Hupka, der Bundeskanzler hat nicht gesagt, daß Russen in Ostdeutschland gesiedelt hätten.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hupka.
Herr Staatsminister, wenn ich den Herrn Bundeskanzler recht verstanden habe, so hat er gesagt — mir liegt die Nachschrift des Bundespresseamtes vor —, daß es ein „ewiges Hin- und Hergeschiebe" in diesen Gebieten begeben habe und daß man damit nicht wieder anfangen solle. In diesem Zusammenhang wurden die Russen ausdrücklich genauso genannt wie die deutschen Ritter, die Polen und die Wenden. Also müssen doch die Russen nach dem Geschichtsverständnis des Bundeskanzlers irgendwann einmal dort gewohnt haben.Wischnewski, Staatsminister: In diesem Zusammenhang hat der Herr Bundeskanzler die Russen nicht genannt. Das möchte ich hier ausdrücklich feststellen. Dem habe ich nichts Weiteres hinzuzufügen. Und was das Hin- und Hergeschiebe betrifft: Das kennt man doch. Da ist einer in Ceylon geboren, und hinterher ist er Vorsitzender der Schlesier. Das gibt es auch.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13679
Eine weitere Frage des Kollegen Hupka.
Sollten Sie mich meinen, dann kann ich Sie beruhigen: Ich stamme aus oberschlesischer Wurzel und werde Oberschlesien auch die Treue halten, ob ich nun auf Ceylon geboren bin oder nicht. Aber nun zu meiner Frage: Kann uns nun einmal entsprechend dem Geschichtsbild des Bundeskanzlers gesagt werden, wie es überhaupt in Ostdeutschland zugegangen ist? Stimmt das, was der Bundeskanzler in Berlin im groben Raster gesagt hat, oder ist das unrichtig?
Wischnewski, Staatsminister: Die Aussagen, die der Bundeskanzler in einer Skizze, in der Beantwortung einer Frage gemacht hat, entsprechen der historischen Entwicklung, wie sie gewesen ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Czaja.
Herr Staatsminister, können Sie uns nicht sagen, ob diese Auffassungen, die Sie hier vertreten, aus den UNESCO-Schulbuchempfehlungen mit ihren Geschichtsirrtümern kommen?
Wischnewski, Staatsminister: Herr Präsident, ich muß sagen, daß ich die Frage akustisch nicht verstanden habe.
Herr Staatsminister, ich habe Sie gefragt, ob diese Geschichtsirrtümer, die hier dargelegt werden, mit den UNESCO-Schulbuchempfehlungen zusammenhängen.
Wischnewski, Staatsminister: Ich kenne diese Empfehlungen leider nicht und kann Ihre Frage deswegen nicht beantworten. Ich bedaure das außerordentlich.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatsminister, teilen Sie die Auffassung, daß Ihre Antworten den Eindruck verstärkt haben, daß die Aussagen des Herrn Bundeskanzlers mit den historischen und völkerrechtlichen Fakten nicht in Einklang zu bringen sind?
Wischnewski, Staatsminister: Ich muß Ihre Aussage in aller Deutlichkeit zurückweisen.
Meine Damen und Herren, damit sind die Fragen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes erschöpfend beantwortet.
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen.
Ich rufe die Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Ich begrüße dazu Herrn Staatsminister von Dohnanyi.
Ich rufe Frage 79 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Ist der Bundesregierung bekannt oder vermag sie schätzungsweise anzugeben, wie hoch die Zahl der Deutschen ist, die in Ostdeutschland jenseits von Oder und Neiße leben?
Herr Staatsminister.
. Herr Kollege, es gibt keine zuverlässigen Schätzungen über die Zahl der Deutschen, die in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße leben. Die Gründe hierfür sind Ihnen aus wiederholten Erörterungen in diesem Hause bekannt. Ein wichtiger und entscheidender Grund liegt schon in der Frage der Definition. Im übrigen möchte ich auf die Antwort verweisen, die die Bundesregierung am 2. April 1971 auf die Kleine Anfrage der Fraktion die CDU/CSU gegeben hat. In dieser Antwort sind die Einzelheiten dargelegt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hupka.
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie dann die Einlassung des Bundeskanzlers am 30. August 1979 in Berlin, daß ja in diesen Gebieten keine Deutschen mehr siedeln?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, diese Darstellungen stimmen durchaus überein. Wir können die Zahlen nicht bestimmen. Wir wissen ja, daß noch eine Zahl vom Deutschen, z. B. aus Polen, in die Bundesrepublik Deutschland kommen will. Da stehen noch Teile der Umsiedlung offen, und der Bundeskanzler bezieht sich natürlich mit auf diese Größenordnungen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Hupka.
Herr Staatsminister, wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, sagte er, es siedeln dort keine Deutschen mehr. Sie haben eben gesagt, man habe keine Angaben, wie hoch die Schätzungen angesetzt werden müssen. Können Sie uns wenigstens einen Annäherungswert nennen, zumal es wissenschaftliche Auslassungen auf Grund der polnischen Statistik dazu gibt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, die wissenschaftlichen Darstellungen, die es hier gegeben hat, sind — wie Sie wissen — umstritten. Es gibt dazu unterschiedliche Auffassungen, auch von wissenschaftlichen Institutionen. Ich meine, wir täten gut daran, festzuhalten, daß eine klare Bezifferung nicht möglich ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Czaja.
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13680 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Herr Staatsminister, ist Ihnen nicht bekannt, daß die vorletzte polnische Volkszählung eine Frage nach- der Zahl der in den Oder-Neiße-Gebieten unmittelbar Geborenen und ihrer Nachkommen beinhaltete, daß sich aus der Tatsache, daß sich bei freien Volkszählungen in diesen Gebieten 93 °/o als deutsche Staatsangehörige und deutsche Volksangehörige bezeichnen, eine Zahl von über 1 Million Deutschen ergibt und daß Bundesaußenminister Scheel im November 1970, worauf sich die Bundesregierung immer beruft, die staatsangehörigkeitlichen Rechte dieser Personen vorbehalten hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, die Frage enthielt eine Vielzahl von Bestandteilen. Ich will auf den Kern der Frage zurückkommen, um die es hier wohl geht, nämlich die Bezifferung der Deutschen, die in den genannten Gebieten noch leben. Die Bezifferung ist aus den von mir genannten Gründen nicht mit der notwendigen Randschärfe möglich, die eine Zahl erfordern würde. Ich komme daher auf die von mir dem Kollegen Hupka gegebene Antwort zurück.
Zu einer Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, wie kann die Bundesregierung die Abmachungen mit der Volksrepublik Polen zuverlässig überwachen und an Hand der in die Bundesrepublik Deutschland gekommenen Personen die noch verbliebenen feststellen, wenn sie sich nicht Kenntnis über eine wenigstens annähernd genaue Aufstellung der in diesen Gebieten verbliebenen Deutschen verschafft?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Aufgabe besteht darin, Anträge, die gestellt wurden und die auf ihren Zusammenhang mit den durch die deutsch-polnische Vereinbarung gegebenen Tatsachen überprüft werden, überschaubar zu machen, und das tut die Bundesregierung. Ob es aber darüber hinaus z. B. weitere Personengruppen gibt, die der Definition, die Kollege Hupka hier unterstellen würde, zuzuordnen wären oder nicht, ist genau die Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann. Die Bundesregierung wird hier also ihre Pflicht erfüllen, sie kann aber keine Gesamtzahl nennen.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Kollege Spranger
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, den Bundeskanzler darüber zu informieren, daß seine Auffassung, in Polen würden keine Deutschen mehr siedeln, nach Ihrer Auffassung falsch ist, weil dort durchaus noch Deutsche siedeln und Sie nur nicht in der Lage sind, festzustellen, wie viele es sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe vorhin gesagt, daß es keinen Widerspruch zwischen diesen Äußerungen gibt. Der Bundeskanzler bezog selbstverständlich nicht diejenigen ein, die nach den Umsiedlungsvereinbarungen in die Bundesrepublik Deutschland kommen wollen. Das Ziel der Aussage des Bundesklanzlers ist klar, und da sollten im Deutschen Bundestag nicht künstlich Mißverständnisse produziert werden.
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Kollege Gerster.
Herr Staatsminister, warum hat denn die Bundesregierung nicht die polnische Regierung gefragt, wieviel Deutsche in diesen Gebieten wohnen? Traute sie sich nicht, oder hat sie gefragt und keine Antwort bekommen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Gerster, die Zahl derjenigen, die in die Bundesrepublik Deutschland umsiedeln wollen, hat selbstverständlich, wie Sie wissen, in den Gesprächen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland immer wieder eine Rolle gespielt. Insofern sind Gespräche über die Zahlen im Gange.
— Herr Kollege, kommen wir doch wieder auf den Punkt zurück. Die Frage lautet, wie groß die Zahl der Deutschen ist, die in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße wohnen. Hier gibt es schon Definitionsschwierigkeiten, was unter den Begriff Deutsche — Deutschsprechende, Verwandte von Deutschen usw. — jeweils zu subsumieren wäre. Diese Frage läßt sich deswegen nicht randscharf zahlen- mäßig beantworten. Im übrigen wäre auch dem Interesse der Deutschen nicht damit gedient, daß wir uns auf irgendeine theoretische und nicht nachweisbare Zahl festlegen. Das Interesse der Bundesregierung und sicherlich der Mehrheit in diesem Hause ist es, den Deutschen, die in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln wollen, Hilfestellung zu geben. Damit sind wir, wie Sie wissen, erfolgreich beschäftigt, erfolgreicher, als wir zu Zeiten einer CDU-geführten Bundesregierung dazu in der Lage waren.
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Kollege Müller .
Herr Staatsminister, zunächst einmal ist doch bekannt, daß im Rahmen des Abkommens mit Polen 125 000 Deutsche oder sogar mehr in die Bundesrepublik kamen, zweitens ist allgemein bekannt, daß weitere 100 000 ihre Übersiedlung beantragt haben, drittens ist bekannt, daß darüber hinaus noch mehr Deutsche in Polen sind. Wieso hat die Bundesregierung nicht die Möglichkeit, darüber genaue Zahlen vorzulegen bzw. eine Schätzung vorzunehmen?
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13681
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wenn ich die Antwort darauf geben müßte, müßte ich alles wiederholen, was ich eben gesagt habe. Die Definition der Bürger der Volksrepublik Polen — das ist das, was Sie hier suchen —, die wegen ihrer deutschen Abstammung oder ihrer deutschen Sprache in die Bundesrepublik Deutschland umsiedeln wollen, ist so unscharf, daß man damit keine feste Zahl verbinden kann. Das ist der entscheidende Punkt. Darauf habe ich jetzt wiederholt hingewiesen. Ich wäre dankbar, wenn wir uns auf dieses Problem konzentrieren würden.
Keine weiteren Wortmeldungen. Damit ist die Frage 79 beantwortet.
Ich rufe die Fragen 89 und 90 des Herrn Abgeordneten Ludewig auf. — Der Abgeordnete Ludewig ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Hat der Bundeskanzler die in der amtlichen Trybuna Ludu öffentlich verbreitete „klare Bekräftigung" seitens des Parteichefs der polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, „daß die Nachfolgestaaten, entstanden auf den Trümmern des Deutschen Reiches" den „endgültigen Charakter der territorialen Festlegungen anerkennen, die in der Potsdamer Friedensregelung getroffen wurden", tatsächlich gehört, und wenn ja, hat er dies mit dem Hinweis auf die in Art. IV des Warschauer Vertrages vereinbarte volle Fortgeltung des Art. 7 des Deutschlandvertrages, der polnischen Übernahme des alliierten Friedensvertragsvorbehalts für Deutschland als Ganzes, die Erklärungen der Bundesregierung zum Offensein der ganzen deutschen Frage bis zu friedensvertraglichen Regelungen und das allgemeine Völkerrecht zurückgewiesen?
Das Wort hat der Herr Staatsminister.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, Fragen unserer Gesetzgebung waren in der von Ihnen unterstellten Form nicht Gegenstand der Gespräche. Die polnische Seite hat aber ihre Besorgnis über die innerdeutsche Diskussion um das Umsatzsteuergesetz und über die unterschiedliche Behandlung von Rentenberechtigten in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße und in den übrigen polnischer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten geäußert.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, sind die in der Frage 91 von mir angeführten völkerrechtlichen Tatsachen gegen eine endgültige Souveränitätsanerkennung stichhaltig, hält also die Bundesregierung an ihrer am 27. August 1978, am 18. Januar 1979 und am 9. Februar 1979 hier dargelegten Haltung weiterhin fest, daß sie nichts anderes getan hat — wörtlich —, als einen Gewaltverzicht zu den bestehenden Grenzen zu erklären, und Polen nach dem Wortlaut des Art. IV, dem alliierten Vorbehalt und den deutschen Vorbehalten in den Verhandlungen nicht von einer Souveränitätsanerkennung, sondern nur von der Hinnahme der Gebietshoheit ausgehen konnte?
Herr Kollege Dr. Czaja, die Fragen sollen kurz und klar sein. Ich muß Ihnen sagen: Dem Herrn Staatsminister wird es vermutlich schwerfallen, den Umfang Ihrer Frage zu übersehen. Herr Staatsminister.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, ich will versuchen, die Frage möglichst einfach zu beantworten. Ich beziehe mich auf das, was mein Kollege Wischnewski hier vor wenigen Minuten zu demselben Fragenkomplex gesagt hat. Ich brauche das nicht zu wiederholen.
Herr Kollege Dr. Czaja, eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist nun die Souveränitätsanerkennung durch den Warschauer Vertrag erfolgt? Das steht in der Frage. Ist sie erfolgt, oder ist sie nicht erfolgt? Können Sie mir dazu eine ganz klare Antwort geben?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe zu diesem Punkt hier oft Auskunft gegeben. Der Herr Kollege Wischnewski hat das soeben auch noch einmal getan. Die rechtlichen Zusammenhänge sind unbestritten, eindeutig und klar; die politischen Zusammenhänge ebenfalls. Ich glaube, ich kann mich auf das beziehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, darf ich aus dieser Ihrer Äußerung schließen, daß die Bundesregierung die diesbezüglichen Feststellungen des jüngsten Urteils des Bundessozialgerichts teilt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, es wird an der Position der Bundesregierung ja nicht dadurch etwas geändert, daß wir auf sie nun auch noch die Feststellungen einzelner Gerichte, den Tenor oder die Gründe von Gerichtsentscheidungen oder was immer beziehen. Ich wiederhole, was ich gesagt habe, und beziehe mich darauf.
Keine weiteren Wortmeldungen. Die Frage 91 ist beantwortet.Ich rufe die Frage 92 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:Welche innerdeutsche Rechtsbereiche werden nach polnischkommunistischer Auffassung, wie sie dem Bundeskanzler bei seinem Besuch auf Hela dargelegt wurden, vom Warschauer Vertrag erfaßt , und mit welchem Ergebnis haben diese Fragen beim Gespräch des Bundeskanzlers mit dem polnischen Parteichef Gierek eine Rolle gespielt?Das Wort hat der Herr Staatsminister.
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13682 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Antwort lautet nein. Der von Ihnen zitierte Artikel unterstellt im übrigen nach meiner Information nicht, daß diese Ausführungen in den Gesprächen von polnischer Seite gemacht worden seien.
Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, falls Sie nicht die Antwort auf die Frage 91 mit der Antwort auf die Frage 92 verwechselt haben, frage ich Sie, ob die Bundesregierung gemäß ihrer Begründung zum Vertragsgesetz und im Einklang mit den verbindlichen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bestätigen kann, daß der Warschauer Vertrag keine innerstaatlichen Rechtsverpflichtungen zur Folge hatte, weshalb auch das Vertragsgesetz nicht der Zustimmung des Bundesrats unterlag?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich wiederhole: Zum Warschauer Vertrag gelten die bisher getroffenen Rechtsfeststellungen, die ich nicht im einzelnen zu wiederholen brauche. Ihre Frage bezog sich ja auf eine angebliche Darstellung in Trybuna Ludu. Ich habe darauf hingewiesen, daß nach unserer Interpretation nicht einmal diese Feststellungen so getroffen worden sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, würden bei den Gesprächen des Parteichefs der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei mit dem Bundeskanzler, die ja nicht angeblich, sondern in den Ostinformationen des Bundespresseamts wiedergegeben wurden, Forderungen, die die innerdeutschen Rechtsbereiche, unsere Gesetzgebung, die Kulturhoheit der Länder und die Verbindlichkeit von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen betrafen, gestellt, und wie wurden sie zurückgewiesen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, ich kann das im Augenblick angesichts der Vielfalt von Fragen, die Sie gestellt haben, nicht beantworten. Aber Sie können sich darauf verlassen, daß sich der Bundeskanzler, wenn er die Interessen der Bundesrepublik Deutschland bei Besuchen im Ausland vertritt, dabei an Recht und Gesetz hält, wie er es hier in der Bundesrepublik ebenfalls zu tun pflegt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, bedeutet Ihre Antwort, daß es in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Auffassung gibt, daß die polnische Regierung aus dem Warschauer Vertrag die Möglichkeit herauslesen kann, in unsere Verhältnisse, etwa im Bildungssektor und in anderen Bereichen, hineinzuregieren?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, es ist soeben eine Frage übergangen worden, weil der Kollege nicht dp ist, und diese wird nun schriftlich beantwortet. Ich hätte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß wir z. B. hinsichtlich der Schulbuchempfehlungen natürlich keine unmittelbar verbindlichen Vereinbarungen für die einzelnen Bundesländer schließen konnten, daß sich die Bundesregierung aber in der Bindung an den Vertrag dennoch dafür einsetzt, daß die Schulbuchempfehlungen durchgesetzt werden.
Die Frage 92 ist damit beantwortet.
Bei den Fragen 93 des Abgeordneten Niegel und 94 des Abgeordneten Engelsberger bitten die Fragesteller um schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 95 des Herrn Abgeordneten Böhm auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß in dem Buch .Schönes Deutschland offensichtlich historische Unrichtigkeiten enthalten sind, wie z. B. die Behauptung, die 1945 „aufgebrochene innerdeutsche Grenze entspreche offenbar einer Bruchstelle im geopolitischen Fundament Mitteleuropas' und die Behauptung, die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland leben historisch „aus anderen Wurzeln und Antrieben als ihre Brüder in der DDR", und, wenn ja, ist die Bundesregierung bereit, die Verteilung des Buches „Schönes Deutschland" durch deutsche Auslandsvertretungen und Zweigstellen des Goethe-Instituts einzustellen?
Das Wort hat der Herr Staatsminister.
Dr. von {Dohnanyi, Staatsminister: Der Bildband „Schönes Deutschland" ist von einem privaten Verlag, dem Umschau-Verlag, herausgegeben worden. Eine Teilauflage von 600 Exemplaren wurde von Inter Nationes aus eigener Verantwortung erworben und im Ausland verteilt. Eine weitere Verteilung des Buches über Auslandsvertretungen oder Goethe-Institute ist nicht vorgesehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Böhm.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, auf den Inhalt des Buches hier mit der Aussage einzugehen, daß sich die Bundesregierung von den hier aufgeführten Zitaten eindeutig distanziert und diese als das bezeichnet, was sie sind, nämlich historische Geschichtsklitterei und nicht etwa Ansicht der Bundesregierung, die dieses Buch hat verteilen lassen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung sieht sich nicht als Oberzensor der Bundesrepublik Deutschland an, und es ist nicht unsere Aufgabe, in allen einzelnen Fällen, in denen in einem Buch historische Positionen bezogen werden, mit denen die Bundesregierung
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13683
Staatsminister Dr. von Dohnanyi
nicht übereinstimmen könnte, nun im Deutschen Bundestag eine Zensur zu erteilen. Aus diesem Grunde, Herr Kollege, sehe ich mich zu einer Zustimmung zu Ihrer Forderung nicht imstande.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Böhm.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich jedermann in unserem Lande zubillige, daß er, auch was die Geschichte betrifft, jeden Unfug als seine Meinung vertreten kann? Wir haben hier heute auch schon über ähnliches diskutiert.
Aber finden Sie es nicht unmöglich, daß solcher Unfug auch noch mit dem Geld des deutschen Steuerzahlers im Ausland verbreitet wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, es läßt sich sicher das eine oder andere Kritische zu einigen Teilen dieses Buches sagen. Ich bin, wie gesagt, nicht bereit, mich als Zensor zu betätigen. Ich habe darauf hingewiesen, daß eine weitere Verteilung des Buches nicht beabsichtigt ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, stellt sich die Situation nicht anders dar im Falle eines Buches, das von der Bundesregierung oder von Instituten, die der Bundesregierung unterstehen, vertrieben worden ist, und ist daraus nicht die Pflicht zu folgern, daß die Bundesregierung, die für solche Äußerungen auch im Ausland in Anspruch genommen werden könnte, eine klare Distanzierung zu solchen gegen die Interessen unseres Landes gerichteten Äußerungen abgibt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich wäre sicherlich nicht bereit, die Bedeutung der Literatur und gedruckter, mit Bildern verschönter Pracht zu unterschätzen; aber ich möchte darauf hinweisen, daß sich die Bundesregierung nicht aus Veröffentlichungen in Anspruch nehmen lassen wird und kann, die in der Bundesrepublik Deutschland privat gedruckt, hergestellt und dann vertrieben werden.
Eine Zusatzfrage, Kollege Kunz .
Herr Staatsminister, ohne den Vorgang dramatisieren zu wollen, ohne etwa die Meinung zu vertreten, daß eine Zensur ausgeübt werden soll, ohne den Vorgang überzugewichten, darf ich doch fragen: Wie kann künftig
ein Minimum an Vorsorge bei Verteilungsaktionen in der Art getroffen werden, daß nicht Dinge verteilt werden, in denen — ich darf zitieren, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung — sich ein Satz findet: „Denn die Deutschen in der Bundesrepublik leben aus anderen Wurzeln und Antrieben als ihre Brüder in der DDR"? Erlauben Sie mir zu sagen, daß mich dies persönlich sehr trifft. Ich bin dort aufgewachsen und habe dort gelebt. Ich wünsche, daß so etwas nicht mehr passiert.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Kunz, ich will über den Satz jetzt nicht streiten; aber daß verschiedene gesellschaftliche Systeme auch zu verschiedenen Antrieben und Motivationen führen für die heute —
— Ja, gut; aber für jemanden, der heute dreißig ist, haben seine Wurzeln vor dreißig Jahren angefangen. Eine vertiefte Debatte zwischen Ihnen und mir darüber, daß diese Wurzeln heute natürlich unterschiedlich sind, könnte vielleicht so weit führen, daß wir am Ende darin übereinstimmen würden, daß das gar nicht so unsinnig ist. Aber ich will mich hier nicht' auf die Einzelheiten einlassen. Sie haben mich gefragt, was man tun könnte. Sie hätten z. B. etwas tun können: Es gibt ja in der Mitgliederversammlung von Inter Nationes auch eine Reihe von Mitgliedern Ihrer Fraktion. Ich habe von diesen bisher nicht gehört, daß sie sich um diese Sache frühzeitig gekümmert hätten. Vielleicht sollten Sie den Kollegen Pfeiffer, Picard und Haase einmal sagen, daß sie da ja Aufgaben haben, an denen sie sich ausrichten können. Wenn wir das auf diese Weise regeln, dann machen wir daraus, Herr Kollege Kunz, keine Staatsaffäre in diesem Hause, sondern plazieren die Sachen da, wo sie hingehören, nämlich in die Aufsichtsgremien einer solchen Organisation.
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit zu erkennen, daß der Kollege Böhm von Ihnen nicht eine unzulässige Zensur verlangte, sondern von seinem Recht als Abgeordneter Gebrauch machte, Ihnen Fragen über Ausführungen zu stellen, zu denen die Bundesregierung eine Meinung haben müßte?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich habe das schon verstanden; aber die Meinung, die ich hätte äußern sollen, wäre — es tut mir leid, Herr Kollege — eine Zensur gewesen, und ich bin nicht bereit, hier für die Bundesregierung Zensuren über Bücher auszuteilen.
Eine weitere Frage, Herr Kollege Hupka.
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13684 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Herr Staatsminister, können Sie mir darin zustimmen, daß es einen Unterschied gibt zwischen einer Begutachtung vom Fachlichen her und einer Zensur? Hier ist nur danach gefragt worden, warum dieses Buch, dessen Text auf völlig unzulänglichen Geschichtskenntnissen beruht, über Steuermittel an unsere Auslandsvertretungen verteilt worden ist.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe ja auf , die Zusammenhänge hingewiesen. Ich glaube, ich würde mich wiederholen. Wir müssen die Angelegenheiten dort behandeln, wo sie hingehören. Dies scheint mir jedenfalls die Auffassung der Bundesregierung zu sein.
Die Frage 95 ist beantwortet. Ich rufe die Frage 96 des Abgeordneten Jäger auf:
Teilt die Bundesregierung angesichts der Tatsache, daß gegen den Willen des deutschen Volks noch immer modernst ausgerüstete gewaltige sowjetische Streitkräfte auf deutschem Boden stationiert sind, die dazu beitragen, den Deutschen jenseits der Demarkationslinie die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu verwehren, die Auffassung, daß die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland „als Beispiel gutnachbarlicher Beziehungen dienen können" , oder was ist nach Auffassung der Bundesregierung erforderlich, um ein solches Verhältnis guter Nachbarschaft herzustellen?
Herr Staatsminister.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundeskanzler und der Generalsekretär Breschnew haben in der Gemeinsamen Deklaration vom 6. Mai 1978 die gute Nachbarschaft zwischen beiden Staaten angesprochen. In der Erklärung heißt es wörtlich — ich zitiere —:
Beide Seiten sind fest entschlossen, die Qualität und das Niveau ihrer Beziehungen auf allen Gebieten weiter zu erhöhen und danach zu streben, daß gute Nachbarschaft und wachsende Zusammenarbeit zum gesicherten Gut auch kommender Generationen werden können.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, da ich Sie nicht nach dieser Deklaration, sondern nach einer Äußerung von Radio Moskau gefragt
habe, in der die derzeitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion als Beispiel gutnachbarlicher Beziehungen dargestellt werden, hätte ich doch gern dazu die Auffassung der Bundesregierung gewußt.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, erstens habe ich darauf Bezug genommen. Zweitens aber — um es noch mal zu vertiefen —: Wenn man die historischen Entwicklungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland während der letzten 50 Jahre in Betracht zieht und sieht, welche Folgen der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion, in Deutschland und in Europa ausgelöst hat, dann muß — angesichts der Ausgangslage — in der Tat gesagt werden: Das, was in den letzten zehn Jahren
an Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland erreicht werden konnte, ist ein Beispiel für die Möglichkeiten guter Nachbarschaft, auch unter dem Ausgangspunkt sehr schwieriger Bedingungen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, muß ich aus dieser letzten Äußerung schließen, daß die Bundesregierung in der Tat der Auffassung ist, daß es bereits als erreichte, nicht als angestrebte gute Nachbarschaft anzusehen ist, wenn ein Staat, mit dem diese Nachbarschaft angeblich bestehen soll, auf deutschem Gebiet Militär in diesem Umfang unterhält und großen Teilen unseres Volkes das Selbstbestimmungsrecht vorenthält?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe versucht, die historische Ausgangslage miteinzubeziehen. Ich glaube, wir können die Lage in Deutschland und in Mitteleuropa nicht verstehen, wenn wir nicht auf den geschichtlichen Gesamtbezug zurückkommen.
Niemand würde behaupten — und Sie würden das wohl auch nicht unterstellen, Herr Kollege —, daß die Bundesregierung oder die sie tragenden Fraktionen etwa der Auffassung wären, daß es nicht wesentliche Bestandteile in den deutschsowjetischen Beziehungen gibt, die verbesserungswürdig und verbesserungsfähig wären. Das ist doch unbestritten.
Dennoch ist durch die Art und Weise, wie wir versucht haben, die Ausgangslage und die bestehenden Probleme zu bewältigen, ein Beispiel in Richtung auf eine gute Nachbarschaft unter schwierigen Bedingungen gesetzt worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Kühbacher.
Herr Staatsminister, bezeichnet es die Bundesregierung als eine gute Position, wenn, wie in der Frage des Kollegen Jäger angesprochen, Radio Moskau am 12. September von sich aus von „gutnachbarlichen Beziehungen" gesprochen hat, und stört es nicht eigentlich nur „Kalte Krieger" bei uns, daß so etwas von dort zu hören ist?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wir wollen gute und sich ständig verbessernde Beziehungen. Wir sind froh über jeden auf beiden Seiten, der denselben Weg zu gehen bereit ist.
Keine weiteren Zusatzfragen. Die Fragen 97 und 98 des Kollegen Ey werden schriftlich beantwortet, das der Fragesteller nicht
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13685
Vizepräsident Leberim Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts beantwortet. Herr Staatsminister, ich danke Ihnen.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Ich begrüße den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. von Bülow.Die Fragen 3 und 4 des Herrn Abgeordneten Biehle brauchen hier nicht beantwortet zu werden, da der Fragesteller um schriftliche Beantwortung bittet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 82 des Abgeordneten Böhm auf. — Der Abgeordnete ist im Augenblick nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Ich begrüße den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Wrede.Die Fragen 64 und 65 des Herrn Abgeordneten Dr. Rose sowie 66 und 67 des Herrn Abgeordneten Dr. Riedl werden auf Bitten der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Paintner auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 69 des Abgeordneten Vogelsang auf:Kann die Bundesregierung erklären, warum die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich im Hinblick auf die Gefährdung von Kindern im Straßenverkehr eine so ungünstige Position einnimmt, und beabsichtigt sie, die Unfallursachenforschung bei Kinderverkehrsunfällen voranzutreiben?Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Kollege Vogelsang, die Bundesregierung kann im einzelnen nicht erklären, warum im internationalen Vergleich die Bundesrepublik im Hinblick auf die Gefährdung von Kindern im Straßenverkehr eine ungünstige Position einnimmt. Die Bundesregierung beabsichtigt deshalb, über die vorhandenen Erkenntnisse, wie Statistik, Unfallforschung, hinaus in Erfahrung zu bringen, weshalb die Situation in der Bundesrepublik Deutschland relativ schlechter ist als im Ausland.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr. Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß entsprechend den Erkenntnissen im betrieblichen Unfallschutz, wonach man die Menschen nicht nur gefahrenbewußt machen muß, sondern auch nach technischen Lösungen suchen muß, auch im Straßenverkehr, insbesondere im Hinblick auf Kinder, gehandelt werden muß?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich teile diese Auffassung. Das trifft sicherlich zu, obwohl wir mit diesen Maßnahmen nur einen Teilaspekt der Verkehrssituation abdecken können. Alle Maßnahmen — dies haben bisherige Untersuchungen ergeben — müssen wohl in erster Linie bei den Erwachsenen und hier insbesondere beim Kraftfahrer ansetzen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Vogelsang.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung trotzdem bereit, die Bundesanstalt für Straßenwesen zu beauftragen, noch intensiver darüber nachzudenken, ob man neben der Verkehrserziehung, von der Sie eben gesprochen haben, nicht doch nach technischen Lösungen suchen müßte?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Vogelsang, die Bundesanstalt für Straßenwesen wird zum 1. Oktober dieses Jahres einen Forschungsauftrag über Maßnahmen zur Reduzierung von Kinderunfällen vergeben. Ich gehe davon aus, daß auch der von Ihnen angesprochene Bereich im Rahmen dieses Forschungsauftrages mitbehandelt wird.
Frage 69 ist beantwortet.
Ich rufe Frage 70 des Abgeordneten Dr. Jobst auf:
Wird die Bundesregierung ihre Streckenstillegungspläne bei der Deutschen Bundesbahn auf Grund der Ergebnisse der Anhörungsverfahren und im Hinblick auf die Veränderung auf dem Energiesektor jetzt endgültig aufgeben?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jobst, wegen des Sachzusammenhangs möchte ich Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworten, wenn Sie einverstanden sind.
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe dann auch Frage 71 auf:Trifft es zu, daß die vom Vorstand der Deutschen Bundesbahn nunmehr erfaßten Eisenbahnstrecken, auf denen der Personenverkehr eingestellt werden soll, im Einvernehmen mit dem Bundesverkehrsminister erfolgt ist, und wird die Bundesregierung diesen Plan weiterverfolgen?Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, bei den Anhörungsverfahren ging es um die Umstellung des Schienenpersonenverkehrs auf Busbedienung und nicht, wie Sie in Ihrer Frage unterstel-
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13686 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Parl. Staatssekretär Wredelen, um die Stillegung von Eisenbahnstrecken. Inzwischen hat der Vorstand der Deutschen Bundesbahn das Ergebnis der Regionalgespräche ausgewertet. Er ist dabei zu der Erkenntnis gekommen, daß ein Teil der Strecken nicht umstellbar sein wird. Zur Zeit führt er deshalb Besprechungen mit den Länderverkehrsministern, um die Schlußfolgerungen abzustimmen. Für Strecken, die nur in geringem Maße von Reisenden in Anspruch genommen werden, wird dann der Vorstand der Deutschen Bundesbahn in jedem Einzelfall Entscheidungen des Verwaltungsrates der Deutschen Bundesbahn herbeiführen. Erst nach dessen zustimmender Beschlußfassung kann nach den gesetzlichen Regelungen dem Bundesminister für Verkehr ein Antrag zur Entscheidung vorgelegt werden. Im übrigen ist bei schwach ausgelasteten Strecken eine Umstellung auf Busbedienung auch aus Gründen einer rationellen Energieverwendung notwendig.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jobst.
Herr Staatssekretär, muß ich aus Ihrer Antwort entnehmen, daß entgegen anderslautenden Meldungen der Streckenstillegungsplan demnach nicht beerdigt ist und daß bei einem Teil der Strecken, die bisher in dem Stillegungsplan enthalten waren, die. Stillegung nun über das Einzelantragsverfahren weiter verfolgt werden soll?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jobst, ich muß noch einmal — ich habe das schon wiederholt getan — an dieser Stelle darauf hinweisen, daß es den von Ihnen angesprochenen „Strekkenstillegungsplan" in dieser Form, wie es gemeint ist, ja nie gegeben hat. Ich darf in Erinnerung rufen, daß schon im Jahr 1977 durch Kabinettsbeschluß festgelegt wurde, daß die ursprüngliche Absicht, etwa 3 000 km Güterzugstrecken stillzulegen, nicht mehr weiter verfolgt wird. Das heißt, das Schienennetz bleibt im heutigen Umfange erhalten. Deswegen kann von Streckenstillegungen nicht die Rede sein.
Was die Umstellung von 6 000 Streckenkilometern im Personenverkehr von der Schiene auf die Straße, die damals im Gespräch war, angeht — und diesen Komplex meinen Sie ja —, habe ich dargelegt, daß auf Grund der Vereinbarung, die damals zwischen dem Verkehrsminister, der Deutschen Bundesbahn und den Länderverkehrsministern getroffen wurde, im Rahmen der Anhörung nach § 44 des Bundesbahngesetzes die Regionalgespräche geführt worden sind und daß zur Zeit der Vorstand der Bundesbahn nach Auswertung der Ergebnisse dieser Regionalgespräche mit den einzelnen Länderverkehrsministern über die Schlußfolgerungen spricht, die aus diesen Ergebnissen zu ziehen sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jobst.
Ist es richtig, Herr Staatssekretär, daß für rund 2 000 Streckenkilometer dieses Umstellungsverfahren, wie Sie es nun bezeichnen, weiter verfolgt werden soll? Und ist sich die Bundesregierung bewußt, daß sie mit ihren bisherigen unrealistischen Streckenstillegungsplänen oder Umstellungsplänen bereits eine erhebliche Verunsicherung bei der betroffenen Bevölkerung und bei den betroffenen Wirtschaftskreisen hervorgerufen und damit der Bundesbahn beträchtlichen Schaden zugefügt hat?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jobst, ich verweise noch einmal darauf, daß es sich bei dem von Ihnen angesprochenen Fragenkomplex der rund 2 000 km Strecken, die umzustellen sind — das heißt, wo der Personenverkehr von der Schiene auf die Straße verlagert werden soll —, um die Meinung des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn handelt. Erst dann — das bitte ich doch zur Kenntnis zu nehmen —, wenn der Vorstand der Deutschen Bundesbahn im Verwaltungsrat zu einzelnen Umstellungsmaßnahmen eine positive Entscheidung erreicht hat, wird diese Entscheidung dem Bundesverkehrsminister zur Genehmigung vorgelegt. Das ist der Verfahrensgang, der Ihnen bekannt ist. Es stimmt allerdings, daß der Vorstand der Deutschen Bundesbahn davon ausgeht, daß bei rund 2 000 km eine sofortige Umstellung möglich ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß der Vorstand der Deutschen Bundesbahn eine Liste mit rund 2 000 km Strecken, bei denen weiterhin der Personenverkehr stillgelegt werden soll, den einzelnen Landesregierungen übersandt hat? Und ist es richtig, daß diese Liste im Einvernehmen mit dem Bundesverkehrsministerium aufgestellt wurde, wie es in dem Schreiben des bayerischen Staatsministers für Wirtschaft und Verkehr an die Abgeordneten dieses Hauses heißt?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Es ist richtig, Herr Kollege Dr. Jobst, daß es eine Liste des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn gibt, in der nicht nur die einzelnen Strecken — in der Summierung etwas mehr als 2 000 Kilometer — aufgeführt sind, die sofort umgestellt werden können, sondern in der darüber hinaus auch Strecken aufgeführt sind, hinsichtlich derer der Vorstand der Bahn der Meinung ist, daß sie grundsätzlich nicht umgestellt werden können. Darüber hinaus sind in dieser Liste Strecken enthalten, hinsichtlich derer der Vorstand davon ausgeht, daß diese erst umgestellt werden können, wenn andere Voraussetzungen, etwa bezüglich des Straßenbaus, erfüllt sind.
Dies ist eine Liste, die der Vorstand der Deutschen Bundesbahn nach der Auswertung der Regionalgespräche erstellt hat und die er den Verkehrsministern der Länder zugesandt hat. Im übrigen wird diese Liste in den allernächsten Tagen auch den Mitgliedern des Verkehrsausschusses des
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13687
Parl. Staatssekretär Wrede
1 Deutschen Bundestages zugesandt werden. Es handelt sich bei dieser Liste um eine Liste des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn, die, was die Maßnahmen angeht, nicht mit dem Verkehrsminister abgestimmt ist.
Zur letzten von vier Zusatzfragen, Herr Kollege Jobst.
Herr Staatssekretär, muß ich also davon ausgehen, daß der Streckenstillegungsplan oder -verkraftungsplan, der bisher verfolgt wurde, nicht „beerdigt" ist, und sollte aber nicht im Hinblick auf die Ergebnisse des Anhörungsverfahrens, im Hinblick auf die neue Situation im Energiebereich sowie aus strukturpolitischen und raumordnungspolitischen Gründen endlich von weiteren Streckenstillegungsplänen abgesehen werden?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jobst, der Vorstand der Bundesbahn tut das, was ihm nach Gesetz auferlegt ist. Er hat in jedem Einzelfall, in dem der Verkehr auf bestimmten Eisenbahnstrecken zurückgeht, zu prüfen, ob Verkehr auf der Schiene unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten — natürlich auch unter Einbeziehung von regionalen Aspekten — weiter zu fahren ist oder nicht. Wenn der Vorstand zu der Überzeugung kommt, daß dies, insbesondere auch unter energiewirtschaftlichen Gesichtspunkten, nicht zu vertreten ist, weil ein Eisenbahnzug, auch wenn er noch so kurz ist, natürlich mehr Energie verbraucht als ein Autobus auf. der Straße, dann tut er hier seine Pflicht. Erst dann, wenn dem Verkehrsminister eine solche Entscheidung vorgelegt wird, ist eine politische Entscheidung des Verkehrsministers zu treffen. Ich möchte also nicht, daß durch Ihre Fragestellung der Eindruck erweckt wird, als würde sich der Verkehrsminister — im Gegensatz zum geltenden Recht — in diese Gespräche einbeziehen lassen oder gar selbst einbeziehen; denn dies ist nicht notwendig und nach der Gesetzeslage auch nicht zulässig.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger .
Herr Staatssekretär, teilen Sie nicht meine Auffassung, daß das Bestreben des Bundesverkehrsministers, im Straßenbau im Hinblick auf den Landschaftsverbrauch und die Erhaltung der Natur erheblich kürzer zu treten und bei der Planung moderner Bundesfernstraßen eine erhebliche Kürzung vorzunehmen, logischerweise in sich schließen müßte, die nach Ihrer Aussage ja ohnedies erhalten bleibenden Schienenstrecken auch für den Bahnverkehr, für den Personenverkehr u nutzen, da die Omnibusse, auf die umgestellt wird, bei bleibenden oder nach wie vor schlechten Straßen nur noch eine Verschlechterung des Verkehrs auf eben diesen Straßen herbeiführen würden?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, ich sehe zwischen dem, was auf der Straße, und dem, was auf der Schiene beabsichtigt ist, überhaupt keinen Widerspruch. So wie wir der Meinung sind, daß Straßen dort, wo sie nicht notwendig sind, nicht gebaut werden sollen, sind wir allerdings auch der Meinung, daß dort, wo niemand mit der Eisenbahn fährt, kein leerer Reisezug zu fahren braucht.
Keine Zusatzfragen mehr.
Ich rufe die Frage 72 des Kollegen Kolb auf. — Ich sehe, er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nunmehr die Frage 73 des Abgeordneten Jäger auf:
Welche werbenden Maßnahmen mit dem Ziel, die Bevölkerung zur verstärkten Benutzung des Personenschienenverkehrs zu veranlassen, hat die Deutsche Bundesbahn in den vergangenen fünf Jahren zugunsten der Bahnstrecken HerbertingenAulendorf-Kißlegg und Kempten-Isny getroffen, und welche sonstigen Anstrengungen zu diesem Zweck — insbesondere die Einschränkung konkurrierender eigener Verkehrsmitteln — hat sie im selben Zeitraum unternommen?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, bei der Deutschen Bundesbahn wird in der Regel keine streckenspezifische Werbung betrieben. Die für den gesamten Deutschen Bundesbahn-Bereich nach einheitlichen Kriterien konzipierten Werbemaßnahmen kommen auch auf den genannten Strecken zur Anwendung.
Der Straßenbusverkehr der Deutschen Bundesbahn hat die Aufgabe, den Schienenverkehr vor allem in der weniger dicht besiedelten Fläche zu ergänzen und eine ortsnähere und bedarfsgerechtere Verkehrsbedienung zu ermöglichen. Somit ist er nicht als konkurrierendes Verkehrsmittel anzusehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, könnte es nicht sein, daß das von Ihnen soeben zugegebene Unterbleiben streckenspezifischer Werbemaßnahmen der Bundesbahn mit dazu geführt hat, daß verschiedene Strecken im Personenverkehr eben nicht mehr so befahren und benutzt werden -- wie Sie das ja vorhin selber angedeutet haben?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Im Grunde, Herr Kollege Jäger, kann ich mir nicht vorstellen, daß es eine solche Werbemaßnahme gibt. Sollten Sie aber ganz spezielle Strecken im Auge haben — und ich vermute, daß das der Fall ist —, dann wäre ich dankbar, wenn Sie mir konkret die Strekken nennen. Dann könnte ich Ihnen dazu eine schriftliche Antwort geben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
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13688 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
Herr Staatssekretär, darf ich Sie im Hinblick auf den ersten Teil meiner Frage, wo ich zwei ganz konkrete Bahnstrecken genannt habe, fragen, ob nicht z. B. nach den Kenntnissen der Bundesregierung parallel verlaufender Bahnbusverkehr mit dazu beigetragen hat, die Zahlen der Personen, die diese Bahnstrecken benutzen, so zu drücken, daß sie überhaupt erst in das Verfahren des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn einbezogen worden sind?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, ich kann Ihnen die Frage so allgemein nicht beantworten. Ich bitte, damit einverstanden zu sein, daß ich dies an Hand konkreter Zahlen noch einmal prüfe und Ihnen dann das Ergebnis schriftlich mitteile.
Damit ist die Frage 73 beantwortet. Der Fragesteller zur Frage 74, Herr Abgeordneter Gerster , und der Fragesteller zu den Fragen 75 und 76, Herr Abgeordneter Milz, bitten um schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dann rufe ich die Frage 77 des Abgeordneten Dreyer auf:
Gibt es überzeugende Gründe, die die Bundesregierung veranlassen könnten, ihre Beschlüsse vom 27. April 1977 und 14. Juni 1978 aufzuheben und eine Überleitung des Postreisedienstes auf die Deutsche Bundesbahn zu beschließen, nachdem die Modellversuche mit den Regionalverkehrsgesellschaften — und auch nach der erklärten Auffassung der Bundesregierung im Deutschen Bundestag durch den Parlamentarischen Staatssekretär Haar am 9. März 1978 und am 7. Juni 1978 sowie durch den Parlamentarischen Staatssekretär Wrede am 16. März 1978 — ergeben haben, daß diese ohne Vernachlässigung der Verkehrsbedienung bedeutend wirtschaftlicher arbeiten als in öffentlich-rechtlicher Form?
Herr Staatssekretär, bitte.
Wrede, Parl. Staatssekretär: Ich wäre dankbar, wenn ich die beiden Fragen des Kollegen Dreyer wegen des Sachzusammenhangs zusammen beantworten könnte.
Der Fragesteller ist damit einverstanden. Ich rufe dann gleichzeitig die Frage 78 auf:
Hat die Bundesregierung Vorstellungen darüber entwickelt, wie bei einer Überleitung des Postreisedienstes auf die Deutsche Bundesbahn Einsparungen möglich sind, die einem Vergleich mit den Ergebnissen bei den Regionalverkehrsgesellschaften standhalten?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreyer, die Bundesregierung sieht nach den ihr vorliegenden Daten über die Qualität der Verkehrsbedienung, über die Wirtschaftsergebnisse und über die personellen Auswirkungen der Arbeit der Regionalverkehrsgesellschaften solche Gründe grundsätzlich nicht.
Die Diskussion unter den Betroffenen hat zu der Empfehlung der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages geführt, den Postreisedienst auf die Deutsche Bundesbahn überzuleiten.
Da nicht auszuschließen ist, daß eine öffentlichrechtliche Lösung bei der Zusammenführung der Bundesbusdienste von Bahn und Post gleich gute
Ergebnisse wie die von der Bundesregierung beabsichtigten handelsrechtlichen Regionalgesellschaften erbringt, ergibt sich die Notwendigkeit einer Prüfung dieser Frage. Die dafür erforderlichen Grundlagen werden gegenwärtig auf Veranlassung des Bundesministers für Verkehr von der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Bundespost erarbeitet.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dreyer.
Herr Staatssekretär, ich habe Ihre Antwort sehr wohl verstanden, möchte aber dennoch fragen: Ist die Bundesregierung gewillt, der Empfehlung der SPD-Fraktion zu entsprechen und den Postreisedienst auf die Deutsche Bundesbahn überzuleiten, obwohl sie, nämlich die Bundesregierung, wiederholt erklärt hat, daß die Modellversuche mit den auf ihre Veranlassung hin gebildeten Regionalverkehrsgesellschaften ergeben haben, daß diese bedeutend wirtschaftlicher arbeiten, als es bei einer wie auch immer gearteten öffentlich-rechtlichen Lösung möglich ist?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Frage kann ich so nicht beantworten, weil so auch der Sachzusammenhang nicht stimmt. Es ist richtig — das habe ich beantwortet —, daß die wirtschaftlichen Ergebnisse der vier handelsrechtlichen Regionalverkehrsgesellschaften, die gebildet sind, gut sind und daß die Erwartungen, die die Bundesregierung an die Gründung dieser Gesellschaften geknüpft hat, erfüllt sind. Aber die Bundesregierung hat zu keiner Zeit gesagt, daß öffentlichrechtliche Lösungen ein solches Ergebnis nicht bringen können, sondern über lange Zeit erschien es wegen vielfacher Widerstände und wegen gesetzlicher Hemmnisse unmöglich, öffentlich-rechtliche Lösungen überhaupt in die Tat umzusetzen, weil immer von einem öffentlich-rechtlichen Versuch gesprochen wurde, der in der Tat nicht durchzuführen ist. Nun wird geprüft, ob das, was die Bundesregierung mit Kabinettsbeschluß von 1973 schon einmal angestrebt hat, nämlich den Postreisedienst auf die Deutsche Bundesbahn überzuleiten, ermöglicht werden kann.
Wünschen Sie eine weitere Zusatzfrage ? — Bitte sehr!
Ich darf Sie fragen, Herr Staatssekretär: Wird der Postverwaltungsrat Gelegenheit bekommen, sich mit der Überleitung des Postreisedienstes auf die Deutsche Bundesbahn zu befassen, bevor die Bundesregierung darüber endgültig entscheidet?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Aber selbstverständlich, weil nach den gesetzlichen Bestimmungen der Postverwaltungsrat dazu gehört werden muß.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte sehr.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13689
Besteht unter dem von einer Überleitung des Postreisedienstes auf die Deutsche Bundesbahn betroffenen Personal der Deutschen Bundespost in ausreichendem Umfang die Bereitschaft zu einem freiwilligen Übertritt zur Deutschen Bundesbahn?
Wrede, Parl. Staatssekretär: Diese Frage kann zur Zeit nicht beantwortet werden. Ich habe darauf hingewiesen, Herr Kollege Dreyer, daß Bahn und Post zur Zeit die Voraussetzungen schaffen. Zu den Voraussetzungen gehört auch die Prüfung dieser Frage.
Noch eine Zusatzfrage.
Ich darf zusätzlich fragen: Das Personal der Deutschen Bundespost wird also befragt werden? '
Wrede, Parl. Staatssekretär: Es muß befragt werden, weil nach den gesetzlichen Bestimmungen eine solche Lösung ohne Zustimmung der Betroffenen nicht zu realisieren ist.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Jobst.
Herr Staatssekretär, ich habe hier eine Pressemitteilung der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands vom 18. September 1979 mit der Überschrift „Stillegungspaket der DB vom Tisch" . Nun, das haben Sie, nachdem das Stillegungspaket noch nicht vom Tisch ist, schon dementiert. Aber ich darf Sie fragen: Wer ist für die Überleitung des Postreisedienstes auf die Bundesbahn zuständig, die Bundesregierung oder die SPD-Fraktion in diesem Hause? Denn in dieser Pressemitteilung heißt es: „Der GdED-Vorsitzende bezeichnete in diesem Zusammenhang die von der SPD-Fraktion beschlossene Zusammenführung der Busdienste des Bundes in die Hand der Bahn als äußerst hilfreich", was den Eindruck erweckt, nicht die Bundesregierung, sondern die SPD-Fraktion habe diese Entscheidung herbeigeführt.
Wrede, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jobst, Sie haben eingangs über die SPD-Fraktion hinaus ja auch gleich die Gewerkschaft der Eisenbahner einbezogen. Deswegen will ich bei meiner Antwort auch gar nicht daran vorbeireden. Es ist Ihnen so klar wie mir, daß sich in einem so schwierigen Bereich, in dem so viele persönliche Interessen und Einzelschicksale von Arbeitnehmern betroffen sind, natürlich auch die Gewerkschaften, die dort tätig sind, Gedanken darüber machen und ihre Meinung äußern.
Was die Zuständigkeiten angeht, ist die Situation ganz eindeutig: Sofern es sich um eine Organisationsmaßnahme handelt, ist es Sache der Bundesregierung; sofern für eine solche Maßnahme
Gesetzesänderungen notwendig sind, ist es Sache des Deutschen Bundestages, auf der Grundlage entsprechender Gesetzentwürfe der Bundesregierung darüber zu befinden.
Keine weiteren Zusatzfragen; damit sind die Fragen 77 und 78 beantwortet. Wir stehen am Ende der Behandlung des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Bezüglich der Fragen 5 und 6 sowie 62 und 63 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bitten die Fragesteller, die Kollegen Dr. Meyer zu Bentrup und Dr. Jahn , um schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Ich begrüße den Parlamentarischen Staatssekretär dieses Ministeriums und rufe Frage 83 des Abgeordneten Dr. Langguth auf:
Wie ist es mit dem Gebot der Überparteilichkeit in der Amtsführung eines Ministers zu vereinbaren, wenn der Bundesforschungsminister, Dr. Hauff, auf Briefbögen mit offiziös wirkendem Briefkopf „Volker Hauff, Bundesminister für Forschung und Technologie" für eine „Mitarbeit in der SPD" wirbt und anbietet, „über die Aktivitäten der SPD in Esslingen zu informieren?
Herr Präsident, darf ich mit Genehmigung des Kollegen Langguth die Fragen 83 und 84 zusammen beantworten?
Der Fragesteller ist einverstanden; dann rufe ich zusätzlich Frage 84 des Abgeordneten Dr. Langguth auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die von Bundesminister Dr. Hauff verwandten Briefköpfe suggerieren, daß er in seiner Eigenschaft als Bundesminister Werbeaktivitäten unternimmt, und wenn ja, ist der Bundeskanzler bereit, Bundesminister Dr. Hauff darauf hinzuweisen, daß er in seiner Eigenschaft als Bundesminister keine Werbeaktionen für eine bestimmte Partei vornehmen darf und deshalb künftig auf die Verwendung von Briefköpfen verzichten muß, die eine derartige Tätigkeit suggerieren?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Langguth, es ist zutreffend, daß Volker Hauff in Schreiben an Mitbürgerinnen und Mitbürger seines Wahlkreises regelmäßig deutlich macht, daß er sowohl Sozialdemokrat als auch Bundesminister für Forschung und Technologie ist. Eine solche Information ist nicht nur mit der Amtsstellung eines Bundesministers zu vereinbaren, sondern entspricht auch den „Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages", welche ausdrücklich bestimmen:
Jedes Mitglied des Bundestages hat seinen Beruf einschließlich der Personen, Firmen, Institutionen oder Vereinigungen, für die es beruflich tätig ist, genau anzugeben.
Parl. Staatssekretär Stahl
Daß ein Bundesminister neben seinem Ministeramt keinen anderen Beruf ausüben und dementsprechend nennen darf, ergibt sich aus § 5 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung.
Das zitierte Schreiben hat außer der Nennung und Herausstellung des politischen Amtes von Volker Hauff keinen Bezug zur amtlichen Tätigkeit des Bundesministers für Forschung und Technologie. Es handelt sich bei ihm insbesondere nicht um aus Haushaltsmitteln finanzierte Öfentlichkeitsarbeit des Bundesministers, sondern um ein von der SPD Esslingen finanziertes Schreiben.
Die Zusammenarbeit mit Männern wie Helmut Schmidt, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher, aber auch die Begegnung mit aufrechten Politiker der Opposition gibt mir für die Zukunft unseres Landes Mut und Hoffnung. Demokratie kann keine festen Wurzeln schlagen ohne das Engagement einzelner Menschen. Nur dann gibt es lebendige Parteien. Und wir brauchen lebendige Parteien. Heute dringender denn je. Die vor uns liegenden Probleme sind groß.
Ich glaube, diesen Ausführungen von Minister Hauff können alle Mitglieder des Hohen Hauses zustimmen.
Da im angeführten Schreiben von Volker Hauff die Amtsführung des Bundesministers für Forschung und Technologie nicht betroffen ist, besteht für die Bundesregierung kein Anlaß für eine Beurteilung oder Bewertung.
Eine Zusatzfrage.
Da in diesem Schreiben aus der Titulatur ganz eindeutig zu ersehen ist, daß der Bundesforschungsminister einen Brief schreibt, der suggerieren soll, daß er in seiner Eigenschaft als Bundesminister für Forschung und Technologie schreibt, einen Brief, in dem er auffordert, Mitglied in der SPD zu werden, möchte ich die Frage stellen, wie dieser Brief mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 vereinbar ist, in dem es unter anderem heißt:
Den Staatsorganen ist es von Verfassungs wegen versagt; sich in amtlicher Funktion im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Langguth, in diesem Verfahren beim Bundesverfassungsgericht ging es ausschließlich um die Beurteilung von aus Haushaltsmitteln finanzierter, auf Wahlen ausgerichteter Öffentlichkeitsarbeit der
Bundesregierung, nicht aber um von Parteien finanzierte Parteienwerbung.
Eine weitere Zusatzfrage.
Da es sich hier aber um ein Schreiben handelt, in dem suggeriert wird, daß es sich um ein offizielles Schreiben eines Bundesministers handelt, ist meines Erachtens ein Vergleich zu jenem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anzustellen. Ich möchte von daher die Frage stellen, ob Sie in Ihrer Bewertung nicht einen Unterschied machen müßten zwischen der rechtlichen Stellung eines Bundestagsabgeordneten und der rechtlichen Stellung eines Bundesministers, da ein Bundesminister auch nach jenem Bundesverfassungsgerichtsurteil dem Wohle der gesamten Bevölkerung zu dienen und nicht eine parteipolitisch einseitig fixierte Ausrichtung in seinen Ausführungen einzuschlagen hat.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Langguth, ich habe die Rechtssituation eben skizziert. Aber ich glaube, es ist kein Geheimnis, daß Volker . Hauff in seinem Wahlkreis als Abgeordneter und SPD-Mitglied und natürlich auch als Bundesminister dieser Bundesregierung bekannt ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Langguth.
Ich darf noch einmal die Frage stellen, ob Ihnen tatsächlich dieses Schreiben im vollen Wortlaut und auch mit der vollen Titulatur bekannt ist. Auch aus der Unterschrift geht hervor: Bundesminister für Forschung und Technologie. Ich darf noch einmal die Frage stellen, ob Sie es für richtig halten, wenn es dann in solchen Schreiben heißt, man müsse Ernst machen mit einer Mitgliedschaft in der SPD. Ich möchte noch einmal fragen, ob die Bundesregierung und der Bundeskanzler nicht bereit sind, den Minister darauf hinzuweisen, daß es nicht zulässig ist, daß einzelne Bundesminister mit Hinweis auf ihre Ministertätigkeit für eine spezifische Parteimitgliedschaft werben.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Langguth, zur Rechtssituation habe ich Ihnen vorhin schon sehr ausführlich geantwortet. Ich sage Ihnen nochmals: Es ist kein Geheimnis, daß der Abgeordnete Hauff, der Bundesminister ist, in seinem Wahlkreis Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Dies tun wir, die wir in diesem Parlament tätig sind, alle. Natürlich verbindet die Bürgerschaft mit dem Namen Hauff auch die Sozialdemokratische Partei.
Entscheidend ist, glaube ich, Herr Kollege Langguth, daß dieser Brief, den ich hier auch vor mir habe, von der Sozialdemokratischen Partei in Esslingen bezahlt worden ist und nicht aus Mitteln des Bundesministers für Forschung und Technologie.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13691
Sie haben Anspruch auf eine vierte Zusatzfrage, Herr Kollege Langguth.
Da ich davon ausgehe, daß es zunächst zweitrangig ist, wer diesen Brief bezahlt hat, daß es vielmehr wichtig ist, die Frage zu stellen, welche Wirkung mit solchen Briefen er- zielt wird — es wird die Wirkung erzielt, daß man glaubt, daß es sich um ein vom Ministerium herausgegebenes Schreiben handelt, weil es heißt „Volker Hauff, Bundesminister für Forschung und Technologie" —, möchte ich noch einmal mit meiner Frage den Hinweis verbinden, ob Sie nicht doch bei nochmaligem Überprüfen zu der Auffassung gelangen können, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch hier Anwendung finden sollte. In diesem Urteil heißt es, daß mit Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes eine auf Wahlbeeinflussung gerichtete, parteiergreifende Einwirkung von Staatsorganen als solchen zugunsten oder zu Lasten einzelner unvereinbar ist. Er heißt in dem Urteil weiter, daß eine solche Einwirkung gegen das Gebot der Neutralität des Staates in der politischen Auseinandersetzung verstößt.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Langguth, ich habe meiner sehr ausführlichen Antwort nichts hinzuzufügen, möchte aber vielleicht auf folgendes aufmerksam machen — ich weiß nicht, wie Sie es bewerten —: Wir haben die gesellschaftlichen Gruppen unseres Landes bezüglich des Dialogs Kernenergie angeschrieben. Dies möchte ich einmal als Beispiel nennen. Dabei haben wir den Vorsitzenden der CSU als Parteivorsitzenden angeschrieben. Er hat uns in einem sehr ausführlichen Brief unter dem Kopf „Der bayerische Ministerpräsident" geantwortet. Ich glaube, man sollte in derartigen Betrachtungsweisen, wie Sie sie hier anstellen — um einige Worte Adenauers zu gebrauchen —, nicht zu pingelig zu sein.
Zu einer Zusatzfrage der Kollege Dr. Schäfer.
Herr Staatssekretär, nachdem Herr Minister Volker Hauff hier der seit 30 Jahren bestehenden Übung entspricht, empfinden Sie es nicht auch als peinlich, wenn der vermutliche Gegenkandidat im Wahlkreis Esslingen hier diese Fragen und Zusatzfragen in dieser Form stellt?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich muß die Fragen, die hier gestellt werden, sachlich beantworten, aber ich überlasse es der Öffentlichkeit, auch den Bürgern des erwähnten Wahlkreises Esslingen, sie zu bewerten.
Damit sind die Fragen 83 und 84 beantwortet. Weitere Zusatzfragen werden dazu nicht gestellt.Ich rufe die Frage 85 des Herrn Abgeordneten Dr. Steger auf:Aus welchen Gründen wurden Anträge auf Forschungsförderung von privaten Unternehmern für Modellversuche zur Nutzung alternativer Energien zur Hausbeheizung abgelehnt ?Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Steger, Ihre . Anfrage beantworte ich wie folgt: Das Bundesministerium für Forschung und Technologie erhält täglich in größerer Zahl Vorschläge für zu fördernde Erfindungen. Sie sind von unterschiedlichstem Reifegrad; leider aber viele nicht in einer prüfbaren Form als Antragstellung. Besonders im Bereich des Energiesparens und der Nutzung alternativer Energien ist das Interesse und die Hoffnung auf schnelle Förderung durch den BMFT nahezu grenzenlos. Da wir der Überzeugung sind, daß die volkswirtschaftlich erforderliche Energieeinsparung von vielen kleinen Schritten abhängt und Verhalten, Kreativität und Phantasie der Menschen die wichtigste Bedingung für den Erfolg einer solchen Politik sind, versuchen die Mitarbeiter des BMFT besonders auf diesem Gebiet unter außerordentlichen Anstrengungen nun schon viele Monate lang, die vielen Vorschläge zu sichten und darauf zu prüfen, ob einer Idee Hilfe gegeben werden kann, wobei oft nicht Förderung, sondern das Zusammenbringen von Partnern zur sachgerechten Verfolgung das wichtigste Hilfsmittel ist.Auch die ehrenamtlichen Gutachter des Ministeriums unterziehen sich in außerordentlichem Umfang dem Bemühen, meist noch nicht völlig durchdachte Vorschläge auf ihr Potential hin zu untersuchen und dadurch weiterzuhelfen. Deshalb werden auch viele Eingaben in der Sache beantwortet, obwohl sie keine formgerechten Anträge enthalten.Auch bei diesem bewußten Eingehen auf viele Anfragen und Bitten um Hilfe ist jedoch für die Förderung mit Bundesmitteln festzuhalten, daß ein erhebliches Bundesinteresse an dem vorgeschlagenen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben bestehen muß und sich darin ein Beitrag zu den im „Bundesbericht Forschung VI" und den Fachprogrammen näher dargelegten Zielen erwarten läßt.Der in dem Artikel der „Zeit" vom 7. September 1979 genannte konkrete Vorschlag entsprach diesen Anforderungen nicht. Ein ordnungsgemäßer Antrag wurde nie gestellt, dennoch wurde eine vorgelegte Erläuterung zu einer beabsichtigten Patentanmeldung auf Möglichkeiten der Förderung geprüft. Dahei ergaben sich hinsichtlich der Energieeinsparung, der praktischen Verwirklichbarkeit sowie der bauphysikalischen Anforderungen erhebliche Zweifel.Die propagierte Erfindung beinhaltet zwar mehrere in sich richtige Einzelkonzepte, wie z. B. die Niedertemperaturheizung, die Ausnützung der Umweltenergie über die Gebäudehülle und die Anwendung der Wärmepumpe, verbindet sie aber so, daß das Ziel der Energieeinsparung verfehlt, dafür jedoch ein erheblicher baulicher Mehraufwand verursacht wird. Der Erfinder ist bis jetzt die Vorlage
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Parl. Staatssekretär Stahleiner nach allgemein anerkannten Richtlinien erstellten Wirtschaftlichkeitsberechnung schuldig geblieben und vermag so auch nicht die festgestellten Mängel der Erfindung zu widerlegen.Das Bundesforschungsministerium hat angeboten, die Zahlenanngaben zum vorgeschlagenen Heizungssystem von einer neutralen Stelle über einen längeren Zeitraum prüfen zu lassen. Ein solches Meßprogramm wurde bislang nicht beantragt.Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß Projekte mit ähnlicher Zielrichtung und ausgearbeiteten bauphysikalischen Überlegungen Gegenstand intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeiten und auch der Bundesförderung sind. Es ist darüber hinaus unzutreffend, daß die von der Firma Stiebel Eltron angebotene Wärmepumpe mit Förderung des Bundes entwickelt wurde und daß die Firma MBB eine Förderung für die Entwicklung einer Wärmepumpe erhalten hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Steger.
Herr Staatssekretär, in diesem doch recht weit verbreiteten Artikel wurde auch der Verdacht geäußert, daß etablierte Unternehmen oder Institutionen bei Förderungsanträgen eine bessere Chance hätten als private Personen oder private Erfinder. Glauben Sie, daß Sie diesen Verdacht widerlegen können?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Steger, dieser Verdacht trifft nicht zu. Die Zahlen der Forschungsprojekte, die wir auch bei kleinen und mittleren Unternehmen tätigen, besagen dies sehr deutlich.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie anführen, es komme bei diesen Einsparungsvorschlägen oft darauf an, daß der Erfinder und ein entsprechender Anwender zusammengebracht werden: Wäre es dann nicht sinnvoll, eine entsprechende Stelle, sozusagen eine Technologietransferstelle, in Ihrem Hause zu diesem Zwecke einzurichten?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Ich habe eben in meiner Antwort darauf hingewiesen, daß die Mitarbeiter unseres Hauses dies, soweit es möglich ist, auch tun. Darüber hinaus hat der Bundesminister für Forschung und Technologie für derartige Probleme auch bei Großforschungseinrichtungen Beratungs- oder Vermittlungsstellen eingerichtet, wo sich Erfinder, wenn sie mit derartigen Problemen konfrontiert sind, Rat und Hilfe holen können. Darüber hinaus, Herr Kollege Steger, hat die Bundesregierung im Programm für kleine und mittlere Unternehmen eine ganze Palette von Maßnahmen beschlossen, bei denen dieser Weg weiterhin beschritten wird.
Keine Zusatzfragen mehr. Damit sind auch die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie beantwortet. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Damit sind alle Fragen beantwortet. Die Fragestunde ist geschlossen.
Wir setzen die unterbrochene Tagesordnung fort und treten in die Behandlung des Tagesordnungspunktes 7 ein:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Feinendegen, Dr. Schulte , Straßmeir, Lemmrich,. Dr. Jobst, Milz, Pfeffermann, Sick, Tillmann, Dreyer, Hanz, Frau Hoffmann (Hoya), Dr. Waffenschmidt, Weber (Heidelberg), Ziegler, Kraus, Sauter (Epfendorf), Kolb, Wissmann, Dr. Stark (Nürtingen), Stutzer, Sauer (Salzgitter), Dr. Langguth, Dr. Möller, Frau Will-Feld, Broll, Dr. Jenninger, Dr. Früh, Dr. Friedmann, Bühler (Bruchsal), Link, Susset, Zink und der Fraktion der CDU/ CSU
Verbesserung des Schulbusverkehrs
— Drucksache 8/3152 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Feinendegen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Praxis der Schulbusbeförderung steht im Kreuzfeuer der Kritik. Von unseren 12 Millionen Schülern sind mittlerweile 2 Millionen bei ihrem täglichen Schulbesuch auf den Schulbus angewiesen. Im Gegensatz zu den klassischen Schulbusländern wie beispielsweise den USA, Großbritannien und Frankreich ist der Schulbus bei uns in der Bundesrepublik Deutschland noch eine relative neue Einrichtung. Ob es sich bei den Ärgernissen und Mißständen im Schulbusverkehr um die sogenannten Kinderkrankheiten eines neuen Systems bei mangelnder Erfahrung handelt, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß diese Mißstände unsere Kinder oftmals krank machen.Die CDU/CSU will sich mit dem vorliegenden Antrag zur Verbesserung des Schulbusverkehrs der Sorgen und Nöte von Schülern, Eltern und Lehrern und auch der Busfahrer im Zusammenhang mit dem Schulbus annehmen und die Schwachstellen dieses Verkehrssystems soweit wie möglich abbauen. Ein Blick in die Zeitungen macht deutlich, wie lebhaft die Schulbusproblematik in der Öffentlichkeit diskutiert wird. „Furchtbares Gerangel in Schulbussen", „Tatort Schulbushaltestelle", „Billiger Jakob am Steuer", das sind Schlagzeilen, wie sie in der Presse immer wieder zu finden sind.Es könnte nun sogleich die Frage auftauchen, was dies alles den Bund angehe, wo doch der Bereich der Schülerbeförderung in das Aufgabengebiet der Länder falle. Wer so argumentiert oder zuDeutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13693Feinendegenargumentieren beabsichtigt, verkennt die so entscheidende Zuständigkeit des Bundes für die Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen sich der Schulbusverkehr mit allen seinen Mängeln heute abwickelt. Die Verbesserung dieser Rahmenbedingungen ist das wesentliche Ziel des vorliegenden Antrags der CDU/CSU. Es ist ja die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung — eine Verordnung des Bundes —, die in § 34 a die zulässigen Platzzahlen in Schulbussen regelt. In dieser Regelung liegt die Wurzel des Übels der vollgestopften Schulbusse, weil im wesentlichen nur auf die Nutzlast des Fahrzeugs und das Durchschnittsgewicht der Fracht, sprich: der Kinder, abgestellt wird. So kann man Güter befördern, aber doch nicht Personen.
Ein sogenannter Standardüberlandbus, wie er heute vielfach im Schulbusverkehr eingesetzt wird, kann nach den geltenden Bestimmungen 79 Kinder auf Sitzplätzen und 46 auf Stehplätzen befördern. Das macht zusammen 125. Meine Damen und Herren, der Vergleich zur Sardinenbüchse drängt sich geradezu auf.Die CDU/CSU fordert deshalb in ihrem Antrag in einem ersten Punkt die Bundesregierung konkret auf, die Vorschriften in § 34 a der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung über die Besetzung der Schulbusse so neu zu regeln, daß die zulässigen Platzzahlen um ein Drittel gesenkt werden. Damit ist nach Auffassung der CDU/CSU gewährleistet, daß auch der Schüler als Fahrgast seinen Anspruch auf eine befriedigende Verkehrsbedienung und auf ein Mindestmaß an Beförderungskomfort geltend machen kann.Der zweite Punkt unseres Antrags hat das bundesweite Durcheinander verschiedenster Schulbushaltestellenschilder zum Gegenstand. Nach der geltenden gesetzlichen Regelung hat der Schulbusunternehmer die Haltestellen durch Haltestellenzeichen kenntlich zu machen. Da es ein amtliches Zeichen nicht gibt, wird hier im deutschen Schilderwald der Phantasie freier Lauf gelassen mit der Folge, daß insbesondere die Kraftfahrer diese unterschiedlichsten Schilder nicht besonders ernst nehmen, Haltestellen zuparken oder ohne jegliche Vorsichtsreaktion daran vorbeifahren. Dabei sind gerade wartende Kinder an der Haltestelle, wenn der Bus noch gar nicht in Sicht ist, besonders gefährdet. Die CDU/CSU fordert auch hier wie bei unserem Antrag zur allgemeinen Kindersicherheit, der heute morgen von meinem Kollegen Straßmeir begründet wurde, eine Bereinigung des Schilderwaldes und nicht die Schaffung neuer Schilder, wie es Herr Hoffie darzustellen versucht. Hier müßte nach unseren Vorstellungen sogar eine enge Verkoppelung zu dem von uns geforderten „Kinder"-Verkehrsschild stattfinden.Die Vorschrift, daß haltende Schulbusse ihre Warnblinkleuchten einschalten müssen, hat in der Praxis eine verringerte Wirksamkeit, weil die Blinker für den nachfolgenden Verkehr allzu leicht verdeckt sind und daher oft nicht wahrgenommen werden. Da unser geltendes Recht kein generellesVorbeifahrverbot, sondern nur ein besonderes Vorsichtsgebot bei haltenden Schulbussen kennt, sind nach unserer Auffassung zusätzliche Blinkleuchten für jedermann sichtbar an den hinteren Dachecken der Schulbusse eine unbedingte Notwendigkeit.Der neuralgische Punkt beim Schulbusverkehr ist die Haltestelle. Schätzungen haben ergeben, daß zirka die Hälfte der reinen Schulbushaltestellen keine Haltebucht hat. Maßnahmen, die den zirka 4 500 jährlichen Unfällen beim Schulbusbetrieb ernsthaft zu Leibe rücken wollen, müssen an der konsequenten Absicherung und verkehrssicheren Anlage der Haltestellen einschließlich Einstieg und Ausstieg beginnen. Die Beförderung im Schulbus ist dagegen der sicherste Schulweg.Im vierten Punkt unseres Antrages fordert die CDU/CSU deshalb von der Bundesregierung, daß sie — wiederum im Zusammenwirken mit den Bundesländern — ein Sonderprogramm für fahrbahngesicherte Schulbushaltestellen entwickelt.Die im anlaufenden Bund-Länder-Programm „Schulwegsicherung" tätigen Schulwegsicherheitsmoderatoren, die in immer mehr Bundesländern von den Schulen angefordert werden können, sollten mit Prioritäten vor Ort die kritischen Haltepunkte bestimmen, wo besondere Fahrbahnsicherungen oder Abschrankungen unbedingt notwendig sind. Möglicherweise kann schon eine bloße Verla- gerung der Haltestelle das Verkehrssicherheitsproblem entschärfen.Die CDU/CSU möchte in einer weiteren Forderung mehr Durchlässigkeit zwischen dem Schülerverkehr und dem Linienverkehr erreichen. Wenn einem restlos vollgestopften Schulbus im Abstand von fünf oder zehn Minuten ein leerer Linienbus folgt, der deshalb nahezu leer fährt, weil keine Zusteigeberechtigung für Schüler besteht, so ist das ein Schildbürgerstreich. Schulträger lehnen oft den Einsatz eines zusätzlichen Schulbusses ab, weil er nicht entsprechend ausgelastet werden könne. Ein solcher Bus könnte aber dann sehr wohl ausgelastet werden, wenn die Hausfrau, die Oma oder der Rentner zusteigen dürften, wenn zu dieser Zeit kein Linienbus auf dieser Strecke verkehrt. Dies gilt insbesondere für ländliche Bezirke.
Für die CDU/CSU ist mehr Durchlässigkeit auch der richtige und geeignete Weg, um die von uns geforderten reduzierten Platzzahlen für Schulbusse finanzierbar zu machen.Im letzten Punkt fordert die CDU/CSU Mindeststandards für die Ausschreibungen im Schulbusverkehr. Wenn und solange nach dem Motto „Der Billigste ist der Beste" verfahren wird, muß sich niemand wundern, wenn unseriöse Anbieter verantwortungsbewußte Busunternehmer vom Markt verdrängen. Die im Schulbusverkehr eingesetzten Fahrzeuge sind allesamt für Erwachsene konstruiert. Hier liegt der entscheidende Punkt, wo neben der generellen Qualität der Fahrzeuge die Mindeststandards, die den Kindern im Schulbus mehr Sicherheit geben könnten, anzusetzen hätten.
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13694 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979
FeinendegenDie CDU/CSU ist überzeugt, daß bei Realisierung dieser Vorschläge die' Verkehrssicherheit und dieQualität der Beförderung mit Schulbussen entscheidend verbessert werden könnten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wiefel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt wohl niemanden in diesem Haus, der nicht bereit ist, sich dem Thema Verbesserung des Schulbusverkehrs mit dem nötigen Ernst zuzuwenden. Die Sicherheit unserer Kinder liegt gewiß allen hier am Herzen. Was im Antrag der Opposition zu lesen steht: der Schulbus sei der sicherste Schulweg, ist wohl nicht zu bestreiten.Was allerdings bestritten werden muß, ist die Richtigkeit der Darstellung, die Mißstände und Schwachstellen, von denen hier die Rede ist, seien in der Verantwortung des Bundes zu suchen. Herr Kollege Feinendegen, nach den gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen ist das wohl anders. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir uns freilich auch — darauf wird zurückzukommen sein — über die Finanzierung unterhalten. Ich meine darum, die Opposition reitet hier auf einem falsch gesattelten Pferd durch die politische Landschaft.Ich will Ihnen sagen, warum ich dieses Empfinden habe. Es gibt keinen Zweifel, daß die Kinder beim Betreten oder Verlassen des Schulbusses gefährdet sind. Aber es ist doch nicht — auch wenn Sie das Gegenteil behaupten — Sache des Bundes, sondern Sache der Länder und der Schulträger — ich komme nachher darauf zurück —, vor Ort, Herr Kollege Feinendegen, durch sorgfältige Auswahl und Gestaltung der Haltestellen, durch Sonderunterweisung der Schulbusfahrer und durch Einschaltung qualifizierter Begleiter bestehende Gefahren abzuwenden.
Ich möchte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, der vorhin gemacht wurde, nicht auf Einzelheiten des Antrags einzugehen. Darum lassen Sie mich folgendes sagen.Der erste Komplex, die Senkung der Platzzahlen, ist durch § 34 a der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung geregelt, der — Sie haben es erwähnt — die höchstzulässigen Platzzahlen festlegt.
Dieser schreibt vor, daß aus Gründen der Verkehrssicherheit Überschreitungen untersagt sind. Maßgebend für die maximal zulässige Besetzung der Omnibusse sind die in die Fahrzeugpapiere eingetragenen und im Omnibus angeschriebenen Sitz- und Stehplätze. Das dürfte allen bekannt sein. Soweit mir bekannt ist, wurde von einer abweichenden Berechnung, speziell für Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr, und von der möglichen Eintragung in die Fahrzeugpapiere in der Vergangenheit nur in einem einzigen Fall Gebrauch gemacht.
- Nein, Rheinland-Pfalz.
— Ich hätte es gar nicht gesagt, aber da Sie mich dazu auffordern, sage ich Ihnen, daß es RheinlandPfalz und nicht Baden-Württemberg war.Es sollen also nur die laut Fahrzeugschein eingetragenen und in Kraftomnibussen angeschriebenen Plätze von Kindern benutzt werden. Eine Ausnahme davon stellt die im Rahmen des zulässigen Gesamtgewichts — Herr Kollege Feinendegen, jetzt kommen wir noch einmal darauf zurück — mögliche Besetzung von zwei nebeneinanderliegenden Plätzen mit drei Kindern bis zum vollendeten 12. Lebensjahr dar. Das sind also zwei Plätze für Erwachsene.Nun kommen die Vertreter der Länder ständig zu Gesprächen über Verkehrssicherkeitsfragen zusammen, und sie sind zu der Auffassung gelangt — ich sage das jetzt ganz allgemein —, daß gewisse Unbequemlichkeiten, die sich aus der Anwendung der Vorschriften ergeben, im Interesse der Wirtschaftlichkeit des Verkehrs und unter Berücksichtigung der relativ kurzen Beförderungsstrecken hingenommen werden könnten.In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal zu meinen anfänglichen Äußerungen zurück. Der hier angesprochene Bereich der Schülerbeförderung fällt in die Kulturhoheit der Länder. Diesen ist die Möglichkeit gegeben, unabhängig von den nach der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung festgelegten, nicht zu überschreitenden Platzzahlen dem Beförderungskomfort gerecht werdende Platzzahlminderungen vorzusehen. Ein Bundesland — das wurde hier schon dazwischengerufen — verfährt so.Weiter wird in dem Antrag angeregt, das bundesweite Durcheinander verschiedener Schulbushaltestellenschilder durch ein einheitliches, in der Straßenverkehrs-Ordnung verankertes Schulbushaltestellenschild zu beenden. Auch diese Frage ist wiederholt mit den für den Straßenverkehr und die Verkehrspolizei zuständigen obersten Landesbehörden erörtert worden. Wie mir bekanntgeworden ist, hat die Mehrheit der Länder keine Notwendigkeit für eine generelle Regelung gesehen. Wenn überhaupt, dann sollte zur Warnung des Verkehrs das Verkehrszeichen 136 der Straßenverkehrs-Ordnung „Kinder" aufgestellt werden. Diese Frage soll auf der nächsten Sitzung des Bund-LänderAusschusses Straßenverkehrs-Ordnung noch einmal erörtert werden, um zu prüfen, ob sich die Auffassung der Länder in dieser Frage inzwischen geändert hat. Des weiteren steht zur Fernhaltung von parkenden Autos das Zeichen für eingeschränktes Halteverbot mit dem Zusatzschild der Beschränkung auf die Zeiten des Schulbusverkehrs in Rede.Deutscher Bundestag -- 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13695WiefelNun komme ich zu den in dem Antrag geforderten Warnblinkleuchten, die an den hinteren Dachecken der Schulbusse angebracht werden sollen, um dieses Gefährt im Verkehr deutlicher und sichtbarer zu machen. Das stößt bei Verkehrsfachleuten auf eine Reihe von Bedenken, denen • man sich wohl nach reiflicher Überlegung anschließen muß. Einmal würde bei anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere bei Kraftfahrern, der irrige Eindruck erweckt, daß er nur bei Omnibussen dieser Art mit Schulkindern zu rechnen habe. Dies ist jedoch nicht richtig, weil viele kleine Kinder auch in den Omnibussen des Linienverkehrs befördert werden, die nicht mit diesen zusätzlichen Warnblinkleuchten ausgestattet sind.Darüber hinaus gibt es eine weiteren, wie ich meine, gravierenden Punkt. Wir sind in den Verkehrsausschußsitzungen laufend dabei, in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft zur Vereinheitlichung all dieser Dinge zu kommen, und zweifelsohne würde hiermit eine weitere Ausnahme geschaffen. Die Forderung einer Entwicklung eines Sonderprogramms für fahrbahngesicherte Schulbushaltestellen zielt offenbar auf sogenannte Drängelgeländer, wie das die Fachleute nennen. Aber diese gibt es ja schon als Verkehrseinrichtungen, nach § 43 der Straßenverkehrs-Ordnung. Falls erforderlich, können die örtlich zuständigen Straßenverkehrsbehörden nach eigenem Ermessen auf Rechnung des Straßenbaulastträgers solche anordnen. Auch dieser Fragenkomplex ist mit den obersten Landesbehörden bereits erörtert, wobei die Mehrheit der Länder den dargelegten Standpunkt vertreten hat.Sodann wird gefordert, die Durchlässigkeit zwischen allgemeinem Linienverkehr und Schülerverkehr, insbesondere in den ländlichen Regionen, auszuweiten. Dazu ist zu sagen, daß der Deutsche Bundestag in einer Entschließung am 16. November 1978 zum Dritten Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen im Zusammenhang mit der Neuregelung des § 8 des Personenbeförderungsgesetzes um die Prüfung der Frage gebeten hat, inwieweit man für die Verkehrsteilnehmer die Durchlässigkeit zwischen dem Linienverkehr, den Sonderformen des Linienverkehrs und dem freigestellten Schülerverkehr nach den Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes verbessern könne. Dies wird durch den Antrag der Opposition jetzt wieder aufgegriffen. Es gibt ja wohl einige Gedanken und Versuche. Zum Beispiel wird in einem regionalen Modellversuch die schrittweise Wiedereinbeziehung des freigestellten Schülerverkehrs in den allgemeinen Linienverkehr erprobt. Dem einen oder anderen unter Ihnen ist bekannt, daß im Hohenlohekreis der öffentliche Verkehr unter Einbeziehung des gesamten Linienverkehrs und des freigestellten Schülerverkehrs mit dem Ziele einer Verbesserung der Verkehrsbedingungen völlig neu geordnet wurde. Dieser Versuch läuft allerdings erst vom 1. dieses , Monats an. Nach Ergebnissen und Analysen des Versuchs müßte die Übertragbarkeit auf andere Räume überprüft werden.Was die letzte Frage, die Ausschreibungen im Schulbusverkehr an Mindeststandards zu binden, anlangt, so muß gesagt werden, daß hiermit die Qualität der Schülerbeförderung angesprochen ist und praktisch eine staatliche Reglementierung qualitätsbezogener Merkmale des Schulbusses gefordert wird. Da kommen wir auf das, was ich soeben ansprach, nämlich das Geld. Es sollte doch wohl nicht vergessen werden, daß die Beförderungsqualität entscheidend von organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen abhängt und das Ganze nach meiner Meinung sehr unterschiedlich zu bewerten ist.Angesichts der Kulturhoheit und der Bildungsreform in den Ländern ist es sicherlich richtig, was Sie gesagt haben, daß die Zahl der Schüler im Schulbusverkehr allgemein sehr stark gewachsen ist. Dieses zusätzliche Verkehrsaufkommen muß aber in Spitzenzeiten bewältigt werden, zu Zeiten, in denen praktisch alle Busse und alle Bahnen im Einsatz sind. Dies geht, Herr Kollege Feinendegen, so nicht nur im Schulbusverkehr zu, dies geht im allgemeinen zu Lasten der Beförderungsqualität in den „rush hours". Wollte man diese steigern, so bedürfte es eben zusätzlicher Fahrzeugkapazitäten, die im Normalverkehr Überkapazitäten darstellten und mit überdurchschnittlich hohen Kosten unterhalten werden müßten, die die Kostenträger des Schulbusverkehrs, nämlich die Kultusbehörden und Schulträger, verständlicherweise in Grenzen zu halten pflegen. Fragen Sie einmal die Länder, wenn diese Konferenzen hier stattfinden.Möglicherweise gibt es andere Wege, die Beförderungsqualität zu verbessern. Vielleicht kann man das Problem beispielsweise durch gestaffelte Schulzeiten mildern, um zu einer Entzerrung von Berufs- und Schülerverkehr zu kommen. Aber fragen Sie einmal nach, ob eine solche Lösung bei Schülern, Eltern oder Lehrern die nötige Resonanz findet.Um es zu wiederholen: Beförderungsqualität zu Spitzenzeiten, auf die hier gedrängt wird, geht nur über die Bereitstellung zusätzlicher Fahrzeugkapazitäten durch die Unternehmer und die Finanzierung dieser zusätzlichen Kapazitäten durch die Länder. Auf diese Weise können Schulträger und Schulbehörden mit den Verkehrsträgern sicher Mindeststandards für den Schulbusverkehr vertraglich vereinbaren; daran gibt es keinen Zweifel. Aber dies geschieht relativ selten, weil, wie ich eben schon sagte, die Kulturetats der Länder in einem erheblichen Maße anwachsen müßten. In diesem Hause muß man sich darüber im klaren sein — und man ist sich das ja auch im allgemeinen —, wenn über die Kulturhoheit der Länder gesprochen wird, daß das, was durch vertragliche Regelung im Hinblick auf die Kultüretats der Länder nicht erreichbar ist, nicht durch staatliche Reglementierung erzwungen werden kann.Im übrigen ist es ,nicht ganz so, daß die Presse sehr negativ über diese Dinge berichtet hat. Ich könnte Ihnen einen Artikel aus der „Rheinischen Post" von heute zeigen — leider habe ich ihn nicht bei mir —, in dem darüber berichtet wird, daß auf Grund der Anordnung des Landesinnenministers Untersuchungen von Schulbusangelegenheiten durchgeführt worden sind, die durchaus ein befrie-
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Wiefeldigendes Ergebnis, z. B. im Rheinisch-Bergischen Kreis, gezeitigt haben.Alles in allem, meine Damen und Herren: ein Antrag, der inhaltsschwer klingt, der aber nach meiner Meinung viel zu hoch aufgehängt ist, weil er offensichtlich Bundes- und Länderkompetenzen verkennt und nicht erkennt, was bereits getan und was für die Länder zu tun möglich ist.Die Sache ist uns wichtig genug, daß wir, die SPD-Fraktion, dennoch diesem Überweisungsantrag zustimmen, damit man sich vielleicht dann im Ausschuß etwas eingehender über diese Probleme unterhalten kann.
Der nächste Redner ist der Kollege Hoffie.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es gleich vorweg zu sagen: Wir werden der Überweisung an den Ausschuß zustimmen. Es wird wichtig sein, im Ausschuß Detailfragen zu erörtern, weil dieser Antrag, wie so oft, zu vielen Mißverständlichkeiten Anlaß gibt und so, wie er vorgelegt ist, eine Reihe von Fragen offenläßt.Aber ich glaube, wir sollten zu Beginn einmal in eigener, parlamentarischer Sache feststellen, daß es wegen des sehr engen Sachzusammenhangs des heute vor der Mittagspause diskutierten Antrags „Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr" mit dem jetzt hier zur Aussprache anstehenden Oppositionsantrag „Verbesserung des Schulbusverkehrs" bedauerlich ist, daß man sich im Ältestenrat nicht zu einer verbundenen Debatte über beide Tagesordnungspunkte entschlossen hat.
— Das gilt für alle, die im Ältestenrat ihre Vertreter haben, Herr Kollege. — Wir wären dann sicher zu einer sinnvolleren Debatte gekommen und hätten damit auch dem Gesichtspunkt der Arbeitsökonomie und vor allen Dingen dem Gesamtproblem besser Rechnung getragen.Meine Damen und Herren von der Opposition, nach Ihren Scharmützeln mit dem Bundesverband des Deutschen Personenverkehrsgewerbes im Anschluß an die öffentliche Vorstellung des Forderungskatalogs des Bundesfachausschusses Strukturpolitik der CDU durch den Kollegen Dr. Schulte am 10. April dieses Jahres, einer Auflistung im übrigen, die mit der hier zu behandelnden Vorlage weitgehend identisch ist, und dem Echo in der Presse müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, ob Sie Ihr Anliegen psychologisch wirklich so eindeutig und geschickt lanciert haben, daß in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck geweckt werden konnte, mit der Sicherheit im Schulbusverkehr sei es nicht gut bestellt.Ich begrüße es nach dieser ambivalenten Vorgeschichte ausdrücklich, daß Sie in der Einleitung des Antrages feststellen, daß die Fahrt im Schulbus der sicherste Schulweg ist. Ich möchte ebenso nachdrücklich hinzufügen: Der Schulbusverkehr insgesamt, also auch die teilweise neuralgischen Schulbushaltestellen eingerechnet, ist der sicherste Schulweg.
-- Es ist schön, Herr Dr. Schulte, daß auch Sie inzwischen zu dieser Erkenntnis gelangt sind.Dies, meine Damen und Herren, entspricht zweifellos allen zugänglichen Angaben, sowohl der amtlichen Statistik als auch den Unterlagen der Unfallversicherer und des ADAC. Insofern muß ich, allen eventuellen Schwachstellen zum Trotz und ohne deren Existenz in Abrede stellen zu wollen, Ihre Kritik an Mißständen relativieren. Deshalb geht meine dringende Bitte an Sie dahin — erlauben Sie mir den etwas bildhaften Ausdruck —: Machen Sie in dieser Frage bitte die Pferde nicht scheu!Die Verkehrssicherheit der im Schülertransport eingesetzten Kraftomnibusse ist grundsätzlich gewährleistet. Dies geht beispielsweise aus der Antwort der nordrhein-westfälischen Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1775 — für die, die es nachlesen wollen — bezüglich Schülertransporte in Schulbussen von vor einem Monat hervor. Dennoch wäre eine Verbesserung der Überwachung der im freigestellten Schülerverkehr manchmal als Schulbusse eingesetzten Personenkraftwagen mit nicht mehr als acht Fahrgastplätzen — sogenannte Kleinbusse — möglich, indem man auch für diese die jährliche TÜV-Hauptuntersuchung verbindlich einführt.Die Forderung nach Reduzierung der Platzzahl in Schulbussen um ein Drittel ist ja auch nicht neu. Sie beruht auf einer Forderung in den einschlägigen Richtlinien der Bundesarbeitsgemeinschaft der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, mit Schulbussen nicht mehr Schüler zu befördern, als die Zahl der Sitzplätze und die halbe Zahl der Stehplätze beträgt. Diese Reduzierung würde die jetzige Angebotsmöglichkeit um ein Drittel vermindern. Die FDP hält jedoch eine derartige Neuregelung weder für realistisch noch für praktikabel.Erstens. Ein Standardlinienbus könnte je nach Fabrikat theoretisch zwischen 130 und 136 Kinder unter 14 Jahren befördern, unter Zugrundelegung von einem durchschnittlichen Gewicht von, sagen wir mal, 50 kg je Kind. Da in den Kraftfahrzeugscheinen jedoch fast ausnahmslos nur die maximale Transportleistung für Erwachsene eingetragen ist und diese erlaubten, nicht zu überschreitenden Platzzahlen auch vor Ort von der Polizei kontrolliert werden, dürften die Höchstzahlen für den Standardlinienbus bei 100 bis 102 Sitz- und Stehplätzen liegen. Eine Beförderungszahl von 120 Schülern in einem Bus dürfte daher nur fiktiv sein.Zweitens. Eine von den Schulträgern freiwillig veranlaßte geringere Belegungszahl wäre aus Gründen des Beförderungskomforts zwar entsprechend der derzeitigen Praxis in Rheinland-Pfalz
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13697
Hoffiedenkbar, aber bei dem Ansturm der Schüler an den Haltestellen ist es für den Busfahrer schwer feststellbar, wann das Limit erreicht ist.Dabei möchte ich mir die Anmerkung erlauben, daß sich, gerade was die Aufsicht und die Qualifikation der Busfahrer in diesen Bussen angeht, Frauen als die besseren Fachkräfte erwiesen haben. Wir sollten auch von dieser Stelle aus einen deutlichen Appell an die Verantwortlichen richten, daß man dann, wenn es sich um solche erwiesenermaßen hervorragenden Einsätze von Frauen im Schulbusverkehr handelt, die diese Aufgabe auch gern und mit viel Liebe übernehmen, das nach Kräften unterstützen sollte.Er ergeben sich auch nicht vorhersehbare Organisationsprobleme durch Verlegungen und Überschneidungen im Stundenplan, durch die sich sehr häufig, wenn nicht sogar regelmäßig andere Zahlen für die Rückfahrt ergeben. Meine Damen und Herren von der Opposition, dies alles wäre überdies auch allenfalls im freigestellten Schülerverkehr und schon nicht mehr im Linienverkehr einzurichten.Drittens. Die Platzzahlen in den Schulbussen zu senken bedeutet auch den Einsatz einer Vielzahl zusätzlicher Busse im Schülerverkehr und unterstellt, daß das Omnibusgewerbe das dazu notwendige Rollmaterial stellen könnte. Das aber ist zweifelhaft, da dies in den ausgesprochenen Verkehrsspitzenzeiten geschehen müßte. Dies überhaupt einmal als durchführbar unterstellt, würde für die Träger des Schulbusverkehrs die Platzreduzierung eine ganz erhebliche Kostensteigerung nach sich ziehen. Ich fürchte, daß man hierzu aus Gründen der Wirtschaftlichkeit des Verkehrs und unter Berücksichtigung der kurzen Beförderungsstrecken kaum bereit sein wird und Sie in dieser Frage mit dem erbitterten Widerstand auch und gerade aus den von der CDU/CSU regierten Ländern rechnen müssen.Sie haben das alte und vieldiskutierte Problem der Anbringung zusätzlicher Warnblinkleuchten angesprochen. Herr Kollege Wiefel hat deutlich gesagt, welche nichttechnischen Probleme auftauchen, die sich durch die Frage ergeben, wie man eigentlich Busse kennzeichnen will, in denen normalerweise auch Schüler und Jugendliche im Linienverkehr fahren, nicht nur wegen der Beförderung von und zur Schule, sondern überhaupt. Wie sollen wir das alles unterscheiden? Das wird eine interessante Diskussion im Ausschuß auslösen können. Da sind wir auf Anregungen gespannt.
Hierüber und über andere mit diesen Problemen zusammenhängende Fragen sollten wir auch einmal weitere Informationen der Betriebe einholen.Ebenfalls als nicht unproblematisch, meine Damen und Herren, haben sich in der Vergangenheit Bemühungen erwiesen, ein bundeseinheitliches, in der Straßenverkehrs-Ordnung verankertes, eigenständiges Schulbushaltestellenschild einzuführen.Hier ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Mehrheit der Länder bisher dagegen gewesen ist.Die Freien Demokraten haben große Bedenken gegen ein solch neues, zusätzliches Schild. Die Schildergläubigkeit ist ja heute vor der Mittagspause schon einmal angesprochen worden. Wir würden es in der Tat vorziehen, wenn man grundsätzlich versuchte, Schulbushaltestellen mit jenen des öffentlichen Linienverkehrs zusammenzulegen. Warum soll man nicht dort, wo keine Linienhaltestelle vorhanden ist, auf das übliche Halteschild nach Zeichen 226 StVO zurückgreifen? Denkbai wäre auch die zusätzliche Warnung der Verkehrsteilnehmer dadurch, daß man an den Schulbushaltestellen noch das Zeichen 136, „Kinder", anbringt.Weiterhin bleibt unklar — das sollte im Ausschuß näher erklärt werden —, was Sie mit dem Sonderprogramm für fahrbahngesicherte Schulbushaltestellen meinen. Hier ist schon die Rede von Drängelgeländern gewesen. Es ist auch der Hinweis darauf gegeben worden, daß dies nach § 43 StVO heute schon auf Kosten der Straßenbaulastträger gemacht werden kann. Auch da sollte, Herr Kollege Feinendegen, etwas präzisiert werden, inwieweit eher der Bau eigener Haltebuchten gemeint ist, sofern die Schulbushaltestellen nicht mit einer des Linienverkehrs zusammengelegt werden können. Die Kosten, die dabei verursacht würden, wären nicht unerheblich, so daß wir uns auch über die Finanzierungsregelungen etwas deutlicher unterhalten müßten.Meine Damen und Herren, die FDP hat die Öffnung des freigestellten Schülerverkehrs für Dritte nie negativ beurteilt. Gleichwohl hat sie die rechtlichen und infrastrukturellen Probleme, die sich hieraus ergeben, stets aufmerksam verfolgt. Seit Jahren ist die Bundesrepublik in dieser Frage von Land zu Land gespalten. Es wäre hilfreich — das ist mir durch Zuruf vorhin noch einmal signalisiert worden —, wenn von dieser Stelle aus
— unabhängig davon, unter welcher „Flagge" sie stehen, Herr Kollege — die übereinstimmende Meinung aller Fraktionen in vielen Fragen des SchulBusverkehrs allen Ländern zur Kenntnis gelangte, um einmal den Streit innerhalb der Länderregionen in dieser Frage zumindest zu reduzieren, wenn nicht gar zu beseitigen. Wenn das gelänge, dann hätte diese Diskussion sicher einen Sinn.Die grundsätzliche Frage, die es irgendwann zu entscheiden gilt, bleibt aber, ob und wie der freigestellte Schülerverkehr wieder in den Linienverkehr zurückgeführt werden kann. Darüber werden die laufenden Modellversuche, z. B. Modell Hohenlohe im Rahmen des Nahverkehrs, Aufschluß geben.
— In diesem Fall, Herr Kollege, nicht Wimbledon. Sie wissen, welches Stichwort Sie mir damit geben. Wimbledon ist in diesem Fall tatsächlich nicht angebracht. Sie haben heute morgen schon einmal vom Wimbledon gesprochen. Ich habe Ihnen mit
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Hoffiedem Wort „Wimbledon" ein Stichwort dazu gegeben. Ich will es hier nicht wiederholen; Sie wissen, was dahintersteckt. — Meine Damen und Herren, seit Jahren besteht hier also Uneinigkeit unter den Ländern. Ich meine schon, wir sollten abwarten, wie diese Modellversuche, z. B. Hohenlohe, ausgehen, bevor wir dann tatsächlich endgültige Entscheidungen treffen.Ich glaube, daß wir gespannt darauf sein können, inwieweit die Opposition in der Lage ist, auf die Vielzahl der offenen Fragen überzeugende Antworten zu geben und auch im Bundesrat durchsetzbare Lösungsvorschläge anzubieten. Für uns jedenfalls sind die Vorschläge der Opposition, wie die Aussprache hier gezeigt hat, zum jetzigen Zeitpunkt noch recht widersprüchlich. Uns in dieser Frage gemeinsam um bessere Lösungen zu bemühen, ist Sache der Ausschußarbeit. Hier sollten wir — ohne viel Streit in der Sache, denn im Grundsatz sind wir uns ja einig — den Versuch machen, gemeinsam zu Lösungen zu kommen, die dann auch von den Ländern getragen werden.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags auf Drucksache 8/3152 an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen vor. — Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8, 9, 10 und 12:
8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Finanzstatistik
— Drucksache 8/3054 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes
— Drucksache 8/3067 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Energiesicherungsgesetzes 1975
— Drucksache 8/3056 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft
12. Erste Beratung des von den Abgeordneten Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Schulte , Spitzmüller und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht
— Drucksache 8/3105 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
lnnenausschuß
Ausschuß für Verkehr und für das Post-
und Fernmeldewesen
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Es handelt sich um von der Regierung und aus der Mitte des Hauses zur ersten Beratung vorgelegte Gesetzentwürfe.
Das Wort wird nicht gewünscht. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrats ersehen Sie aus der Tagesordnung. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren. Ich rufe dann Tagesordnungspunkt i 1 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Jugendhilfe
— Drucksache 8/3108 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Einbringung gewünscht? — Das Wort hat der Minister für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung des Landes Baden-Württemberg, Frau Minister Griesinger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Verbesserung der Jugendhilfe will ich als Mitglied des Bundesrates und als Vertreterin des Landes, das den Gesetzentwurf des Bundesrates initiiert hat, gern kurz zu Ihnen sprechen. Meine Damen und Herren, nach sieben Jahren ist es wieder das erste Mal, daß ich von diesem Pult aus sprechen darf. Sie können sich sicher den-' ken, daß ich mich darüber ganz besonders freue, vor allem, daß ich hier in diesem Hohen Hause noch viele Freunde aus meiner eigenen Bundestagszeit nun in dieser Plenarsitzung antreffen darf.
— Ja, ich freue mich ganz ehrlich; das sage ich Ihnen ganz offen.Mit diesem Gesetzentwurf will der Bundesrat einen richtungweisenden Beitrag zur Reform des Jugendhilferechts leisten. Mit dem Entwurf bekräftigt der Bundesrat seine Auffassung, daß die Reform des Jugendhilferechts noch in dieser Legislaturperiode verwirklicht werden muß. Der Bundesrat macht deutlich, daß er es nicht bei der Ablehnung des Regierungsentwurfs belassen will, sondern bereit ist, im Interesse der gemeinsamen Sache einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Der Alternativentwurf legt die Richtung fest, in der ein Konsens gefunden werden kann und muß.Deutschen Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13699Minister Frau Griesinger
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, daß mit der Reform des Jugendhilferechts, die seit Jahren von allen Beteiligten gefordert wird und die dringlich ist, allein der Jugend noch nicht geholfen ist. Die Jugendhilfereform muß eingebettet sein in eine aktive, weitsichtige Jugend- und Familienpolitik, die die allgemeinen Rahmenbedingungen dafür sicherstellt, daß die Familie ihrer Erziehungsaufgabe gerecht werden kann und die Jugend günstige Bedingungen für ihre Entwicklung vorfindet. Das geht den Bund und die Länder an, und wir sollten uns davor hüten, die Lösung von Schwierigkeiten, die sich für die nachwachsende Generation zeigen, vor allem in der Jugend zu suchen.
Eine übertriebene Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Staat lehnen wir entschieden ab.
Wir in den Ländern nehmen den Appell an die staatliche Verantwortung, günstige Rahmenbedingungen für Kind und Familie zu gewährleisten, sehr ernst. Das können Sie an unseren Familienförderungsprogrammen, Jugendbildungsangeboten und Landesjugendplänen ablesen.Es sei anerkannt, daß auch der Bund nicht untätig ist. Liest man aber nun die Stellungnahme der Bundesregierung zum dritten Familienbericht, der in bemerkenswerter Offenheit den geringen Stellenwert der Familienpolitik von seiten der Bundesregierung anprangert, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Bundesregierung Familienpolitik nur mit halbem Herzen betreibt.
Kleine Schritt und seien sie noch so hilfreich,können die notwendige Umorientierung in der Familienpolitik nicht ersetzen. Dies gilt auch für den Regierungsentwurf des Jugendhilfegesetzes.Meine Damen und Herren, der Alternativentwurf des Bundesrates verzichtet bewußt darauf, Jugendhilfe für jedes nur denkbare Problem, das in der Familie gelöst werden kann und soll und auch wird, anzubieten; er berücksichtigt jedoch alle wesentlichen Anforderungen an die Jugendhilfereform. Lassen Sie mich drei wichtige Anliegen herausgreifen: erstens den Vorrang der Familie, zweitens die Stellung der freien Träger und drittens den Ausbau vorbeugender Hilfen.Erstens. Unser Gesetzentwurf bietet jungen Menschen Hilfe an, ohne dabei die Elternverantwortung und das Elternrecht einzuschränken oder auszuhöhlen. Der Staat soll sich dabei auf das ihm vom Grundgesetz vorgegebene Wächteramt beschränken. Zugleich wird den berechtigten Interessen der jungen Menschen vollauf Rechnung getragen.Vom Regierungsentwurf unterscheidet sich der Alternativgesetzentwurf des Bundesrates vor allem durch sein Vertrauen in die Erziehungskraft und die Verantwortung der Familie. Die Familie wird eben nicht als durchgängig ergänzungs- und hilfebedürftig angesehen.
Wir verzichten auf staatlich verordnete Erziehungsziele, sei es auch nur für die Jugendhilfe,weil auch diese in die Familie hineinwirken müßten.
Der Entwurf erteilt der Vorstellung eine Absage, junge Menschen seien durchgängig gefährdet oder ihre Eltern seien grundsätzlich ihren Aufgaben in der Erziehung nicht gewachsen.
— Herr Hauck, das weiß ich sehr genau, aber bei vielen Aussagen können wir durchaus vermuten, daß viele, die diesen Regierungsentwurf besonders stark unterstützen, eigentlich von einem Pessimismus ausgehen, nämlich von der pessimistischen Vorstellung, daß die Familie gar nicht in der Lage wäre, ihre Erziehungsaufgaben zu erfüllen, oder auch nicht gewillt wäre, sie voll und ganz zu erfüllen. Beides ist eine falsche Unterstellung, und darum wehren wir uns dagegen und fordern mehr positive Einstellung zur Familie.
Die Familie verdient Vertrauen und bestmögliche Förderung. Wir befinden uns da in voller Übereinstimmung mit den Sachverständigenaussagen im dritten Familienbericht. Ich darf doch annehmen daß Sie diesen Bericht so ernst nehmen, wie wir ihn auch ernst nehmen.
Zweitens. Der Entwurf der Bundesregierung beruht auf der Vorstellung der gleichrangigen Partnerschaft zwischen öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe. Ein Vorrang der freien Träger wird ausdrücklich abgelehnt. Auch wir sind der Meinung, daß dieses Verhältnis in der Praxis vom Geist der Partnerschaft bestimmt sein muß. Der Umgang miteinander darf nicht vom Stil des „Alles oder nichts" geprägt sein.Diese Stilfrage ist aber von der gebotenen Ausgestaltung der gegenseitigen Rechtsbeziehungen zu unterscheiden. Wir halten wegen der organisatorischen und finanziellen Übergewichtigkeit der öffentlichen Träger und wegen der vielfältigen Abhängigkeiten der freien Träger für deren Tätigkeit einen wirksamen Funktionsschutz für geboten.
Ein solcher Funktionsschutz wird zwar in der Begründung des Regierungsentwurfs ebenfalls gefordert, fehlt aber im Gesetzestext, und darauf, meine Damen und Herren, kommt es doch an.
Wir gehen davon aus, daß die Betätigung der freien Träger in der Jugendhilfe nicht nur um der freien Träger selbst willen oder zur Erhaltung der Pluralität des Trägerangebots erforderlich ist, son-
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Minister Frau Griesinger
dern auch zur sinnvollen Begrenzung staatlicher Tätigkeit.
Die Erfahrungen der Praxis zeigen doch, daß sich ein Funktionsschutz der freien Träger am wirkungsvollsten durch eine Vorrangregelung, wie sie im Jugendwohlfahrtsgesetz und im Bundessozialhilfegesetz enthalten ist, erreichen läßt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorschrift entsprechend der Praxis als Regelung einer sinnvollen Aufgabenverteilung zwischen öffentlichen und freien Trägern gedeutet. Daher halten wir am Vorrang der freien Träger in der Sache fest.Drittens. Derjenige, der Jugendhilfe braucht, soll diese Hilfe erhalten können. Dabei legen wir besonderes Gewicht auf vorbeugende Hilfen. Durch den Ausbau offener Hilfen soll die Erziehung in der Familie solange wie möglich aufrechterhalten werden können. Hilfen außerhalb der eigenen Familie sollten nur zum Zuge kommen, wenn dies aus pädagogischen Gründen unerläßlich ist und alternative Lösungen nicht in Betracht kommen können.
Dieser Weg ist richtig und erfolgversprechend. Er erspart unnötige Konflikte und hilft, die Kosten der Jugendhilfe auf lange Sicht zu verringern. Ich darf an die Einbringungsrede unseres Ministerpräsidenten Lothar Späth im Bundesrat im Dezember 1978 erinnern, in der er darauf noch einmal sehr deutlich hingewiesen hat.Meine Damen und Herren, der Alternativentwurf des Bundesrats unterscheidet sich vom Regierungsentwurf auch durch Knappheit und Übersichtlichkeit. Wir wollen doch alle mehr Transparenz in unseren Gesetzen, daß auch unsere Mitarbeiter in den Ämtern eine leichtere Arbeit haben und wieder mehr Freude an ihrer Arbeit haben können.
Im übrigen ist es auch für unsere Bürger eine Notwendigkeit, daß die Gesetze wirklich lesbar sind und nicht bis ins einzelne hinein von oben her detaillierte Vorstellungen und Vorschriften beinhalten, durch welche die Bewegungsfreiheit vor Ort gar nicht mehr gewährleistet sein kann.
Auch die Bundesregierung hat inzwischen eingesehen, daß ihr eigener Entwurf Kürzungen verträgt. Sie hat deshalb dem federführenden Ausschuß Straffungsvorschläge unterbreitet. Das begrüßen wir. Diese reichen jedoch nach unserer Auffassung nicht aus. Der Regierungsentwurf enthält weiterhin eine Fülle von Einzelregelungen und unbestimmten Begriffen, die ideologisch ausdeutbar sind. Auch gegenüber solchen Regelungen halten wir den Alternativentwurf, der klar und verständlich für Bürger und Verwaltung formuliert ist, für die bessere Lösung.Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Kosten. In der Tat ist eine zentrale Frage, wie dieKosten der Reform verkraftet werden können. Die Kosten der Jugendhilfe und auch dieser Reform müssen von den Ländern und den Kommunen aufgebracht werden. Wir haben Verständnis für diejenigen, die in Sorge sind, ob sie die Kosten verkraften können. Wir haben deshalb von Anfang an betont, daß diese Kosten bei der Umsatzsteuerneuverteilung ausgeglichen werden müssen. Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler, der nicht da ist, wirklich ans Herz legen, daß dies, wenn die Verhandlungen mit den Ländern stattfinden, mit einbezogen und wirklich realistisch mit berücksichtigt wird.
Die Jugendhilfereform darf nicht an den Kosten scheitern. Wenn im Einzelfall Jugendhilfe erforderlich wird, muß sie geleistet werden. Dafür tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung.
Meine Damen und Herren, ich versuchte, deutlich zu machen, daß es uns ein dringendes Anliegen ist, die Jugendhilfereform noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. In diesem Grundanliegen und in einer Fülle von Einzelfragen sehe ich keinen Dissens. Andere Fragen dagegen, denen wir zentrale Bedeutung beimessen, erscheinen heute noch kontrovers. Ich appelliere an Sie alle, bei den bevorstehenden Einzelberatungen auf Lösungen hinzuwirken, die dem Bundesrat ein zustimmendes Votum erlauben. Damit dienen Sie der Jugend, für die wir diese Reform wollen und brauchen.Ich darf Sie bitten, unseren Alternativgesetzentwurf wohlwollend in Ihre Beratungen mit einzubeziehen. Je mehr wir am Ende Ihrer Beratungen von unserem Entwurf wiederfinden können, desto rascher wird eine Zustimmung des Bundesrats möglich sein können.
An einer einvernehmlichen Verabschiedung noch in dieser Legislaturperiode sind wir gemeinsam interessiert. Darum danke ich Ihnen, daß nun auch unser Entwurf hier im Bundestag eingebracht werden konnte. Ich vertraue darauf, daß er in echter Partnerschaft gleichgewichtig mit dem Entwurf der Bundesregierung beraten und berücksichtigt werden kann.
Damit ist der Entwurf eingebracht. Ich eröffne die allgemeine Aussprache.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Zander.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Bundesrat im Dezember letzten Jahres den Entwurf der Bundesregierung für ein neues Jugendhilfegesetz im ersten Durchgang beriet, hat der Ministerpräsident Späth einen eigenen Gesetzentwurf zur Verbesse-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13701
Parl. Staatssekretär Zanderrung der Jugendhilfe angekündigt. Trotz der mit dieser Ankündigung verbundenen Kritik am Regierungsentwurf habe ich diese Ankündigung begrüßt, nicht nur, weil ich meine, daß auch der Regierungsentwurf durchaus in einigen Punkten noch verbesserungswürdig ist,
sondern auch, weil damit ein namhafter Sprecher der CDU zu erkennen gegeben hat, daß auch die CDU an einer Verabschiedung eines neuen Jugendhilferechts noch in dieser Legislaturperiode interessiert ist. Ich bin dankbar, Frau Griesinger, daß Sie das erneut bestätigt haben.Konkurrenz belebt das Geschäft, sagt man. Ich hatte gehofft, daß sich der Alternativentwurf belebend und anregend auf die weiteren parlamentarischen Beratungen auswirken könnte. Wir alle waren gespannt, wie dieser Entwurf im einzelnen aussehen würde. Als er im März dieses Jahres vorgelegt wurde, hat uns nicht nur die Kürze der Zeit, in der er erstellt wurde, Respekt abgerungen; es waren darüber hinaus in vielen Punkten gemeinsame Ansätze erkennbar, die einen vorsichtigen Optimismus für die weitere parlamentarische Behandlung zuließen. Ich denke hier insbesondere an die Übereinstimmung bezüglich der Stärkung der Erziehungskraft der Familie und den Ausbau der vorbeugenden offenen Hilfen.Senator Apel hat damals im Bundesrat folgendes ausgeführt — ich zitiere —:Insgesamt begegnen wir Ihrem Entwurf mit dem Prinzip Hoffnung. Wenn Sie Ihrem Ziel treu bleiben, wenn Sie entsprechenden Änderungen im Rahmen Ihrer eigenen Zielsetzung aufgeschlossen gegenüberstehen, werden wirsicher noch in dieser Legislaturperiode einneues Jugendhilferecht bekommen.Was jedoch nach dieser Einbringung folgte, war nicht die erhoffte Belebung des Geschäfts, von der ich sprach; vielmehr 'kam in den Ausschüssen des Bundesrates ein regelrechtes Vertragskarussell in Gang, das die weiteren Beratungen erheblich verzögerte. Dabei wurde — ich möchte das hier ausdrücklich hervorheben — diese Verzögerung von Ländern ausgelöst, von denen man eigentlich erwarten konnte, daß sie Baden-Württemberg bei seinem Bemühen unterstützen würden.Bereits dieses Verfahren wirft ein bezeichnendes Licht auf die gravierenden Meinungsverschiedenheiten zu Problemen der Jugend- und Familienpolitik innerhalb der unionsgeführten Bundesländer. Was dann nach dreimonatiger Beratungsdauer am 1. Juni 1979
mit den Stimmen der unionsregierten Länder im Bundesrat verabschiedet wurde, wurde bei dieser Beratung, wie ich finde, zutreffend als „Jugendhilfe-Verschnitt" bezeichnet.
Ministerpräsident Späth hatte zuvor mehrfach erklärt, daß die Reform nicht an den Finanzen scheitern dürfe. Ich bin dankbar, daß Sie, Frau Minister Griesinger, dies erneut unterstrichen haben.
Was aber ist nach den Beratungen in den Ausschüssen denn von Ihrem Entwurf übriggeblieben? Unter dem Druck des Finanzausschusses des Bundesrates kam eine Fassung zustande, die nach Auf fassung der Bundesregierung und vieler Fachleute hinter das geltende Recht und hinter die vorhandenen Angebote zurückgeht.
— Lassen Sie mich etwas konkreter werden, Herr Kollege Kroll-Schlüter; ich wollte gerade zu diesen konkreten Punkten kommen.Eines der Hauptziele der Jugendhilferechtsreform ist der Ausbau der vorbeugenden Hilfen, um damit die Trennung von Kindern von ihren Familien nach Möglichkeit zu vermeiden. In der heutigen Situation ist es so, daß Eltern mit Erziehungsproblemen weitgehend im Stich gelassen werden und daß viel zuwenig Hilfsangebote gemacht werden. Es fehlt an Erziehungsberatungsstellen, an Familienberatungsstellen, an Tageseinrichtungen für Kinder, die von ihren Eltern nicht ganztägig betreut werden können, und für Kinder, die verhaltensgestört und behindert sind, an Erholungsmöglichkeiten, an Familienbildungsstätten, an Spielplätzen und Abenteuerspielplätzen, an Familienhelferinnen, die beim Ausfall des die Kinder betreuenden Elternteils vorübergehend bei der Haushaltsführung und der Kindererziehung helfen können,
und es fehlt an vielen anderen Dingen mehr.
— Hätten wir genügend solcher Einrichtungen, Herr Kollege Kroll-Schlüter, bekämen sehr viel mehr Familien als heute die Chance, mit ihren Problemen selbst fertig zu werden, ohne daß Familien getrennt werden müßten.Zur Zeit sind in der Bundesrepublik 140 000 Kinder und Jugendliche in Heimen der Jugendhilfa und in Pflegefamilien untergebracht. Mehr als die Hälfte davon lebt in Heimen. Wir erleben zur Zeit jährlich ca. 7 000 Fälle von Sorgerechtsentziehung und gut 3 000 Anordnungen von Fürsorgeerziehung. Das sind entschieden zuviel Eingriffe in das Elternrecht. Ich bin überzeugt davon, daß durch bessere Hilfsangebote die Zahl dieser Eingriffe gesenkt werden könnte.
— Nein, durch sehr viel bessere Gesetze, aber bestimmt nicht dadurch, daß man den Leistungskata-
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Parl. Staatssekretär Zanderlog des Jugendhilfegesetzes auf Kann-Vorschriften reduziert. Ich komme darauf gleich noch zu sprechen.
— Wir reden hier über die Jugendhilfe, Kollege Hasinger; über elterliche Sorge haben wir ausführlich und lange Zeit in diesem Hause debattiert. Wir können, wenn Sie das wünschen, gern darüber öffentlich diskutieren. Hier reden wir jetzt über Jugendhilfe.Wir wissen auch, meine Damen und Herren, daß in rund der Hälfte aller Fälle vor einer Heimeinweisung überhaupt keine andere Hilfe angeboten wurde. Man hat einfach abgewartet, bis die Familie mit ihren Problemen nicht mehr fertig werden konnte, und das Kind dann in ein Heim eingewiesen. Das kann und darf unserer Meinung nach nicht so bleiben.Es muß darum gehen, offene pädagogische und therapeutische Hilfen als Alternative zur Heimerziehung zu entwickeln, die nicht wie die Heimerziehung zur Herauslösung von Kindern aus den eigenen Familien, oft sogar gegen den Willen der Eltern, führen. Diesem Reformanliegen ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung gefolgt, indem er solche offenen Hilfen und die Erziehungsberatung als Soll-Leistung oder als Rechtsanspruch ausgestaltet hat, was natürlich auch seine Entsprechung in unserer Kostenschätzung finden muß.Wenn Sie sich einmal den jetzt vorliegenden Entwurf des Bundesrates unter diesem Gesichtspunkt ansehen, stellen Sie fest, daß auch dort der Ausbau der vorbeugenden offenen Hilfen als grundlegendes Ziel zwar genannt worden ist, daß jedoch diese allgemeine Zielvorstellung in den konkreten einzelnen Bestimmungen nicht durchgehalten wird. Dort ist diese Zielvorstellung weitgehend zu unverbindlichen Kann-Leistungen verwässert worden. Dies geschah auf Grund der Voten des Finanzausschusses; der federführende Fachausschuß ist mit seinen zahlreichen Widersprüchen gegen diese Verwässerung im Bundesrat leider auf der Strecke geblieben. Eine solche Vorlage, die die Bedenken der eigenen Fachministerien in den Ländern einfach vom Tisch fegt, die die konstruktiven Ansätze des ursprünglichen baden-württembergischen Entwurfes in ihr Gegenteil verkehrt, stellt keinen angemessenen Beitrag zur Lösung der jugend- und familienpolitischen Probleme dar.
Wie auch auf anderen Feldern der Familienpolitik klaffen hier Anspruch und Wirklichkeit der Union weit auseinander. Hier, wo es konkret wird, werden die nur oberflächlich verdeckten tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der unionsgeführten Länder sichtbar. In Bayern ist es schon soweit, daß der zuständige Sozialminister beklagt, in weiten Kreisen der Bevölkerung seien die Beratungsstellen nicht ausreichend bekannt, und zu ihrer Inanspruchnahme aufruft, während der Ministerpräsident nur von Jugendsozialstationen spricht, die einen permanenten Eingriff in die Familie darstellten. Und alles dies, obwohl das Jugendprogramm der bayerischen Staatsregierung hinsichtlich der Notwendigkeit des Ausbaus der Erziehungsberatungsstellen von genau denselben Vorstellungen wie der Gesetzentwurf der Bundesregierung ausgeht.
Wer soll daraus noch schlau werden? Woher sollen wir erkennen, was Sie überhaupt in der Jugendpolitik und in der Familienpolitik wollen?
Der Bundesrat wird nicht müde, in seinem Gesetzentwurf immer wieder den Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts zu betonen und den Regierungsentwurf der Elternfeindlichkeit zu bezichtigen. Bei näherem Hinsehen ist genau das Gegenteil feststellbar. Die Verwässerung der vorbeugenden offenen Hilfen zu unverbindlichen Kann-Leistungen würde, wenn dies so Gesetz werden sollte, auch in Zukunft dazu führen, daß Jugendämter und freie Träger mit Heimeinweisungen antworten müssen, weil sie eben nicht verpflichtet sind, bedarfsgerechte, vorbeugende, offene Hilfen anzubieten. Wer hier, Frau Minister Griesinger, Familienpolitik mit halbem und wer sie mit ganzem Herzen betreibt, wird sicher die Fachöffentlichkeit beurteilen können.
Dies ist nicht Förderung der. Familie und ihrer Rahmenbedingungen, sondern es ist Gleichgültigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen der Familie, ihren Problemen und Bedürfnissen und damit Schwächung der Familie.
Sie können nicht erwarten, daß wir Ihnen auf diesem Wege folgen werden.Meine Damen und Herren, die Jugendarbeit wird im Entwurf des Bundesrates auf einen Erinnerungsposten reduziert. Das Verhältnis zwischen öffentlichen und freien Trägern wird in einer Weise fixiert, die weder der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1967 Rechnung trägt noch den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. Wir brauchen die freien Träger in der Jugendhilfe, und die freien Träger in der Jugendhilfe brauchen Funktionsschutz. Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß wir uns hinsichtlich der Stellung der freien Träger durchaus Regelungen vorstellen können, die der Bedeutung der freien Träger in der Jugendhilfe noch besser gerecht werden, als das im Regierungsentwurf geschehen ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hasinger?
Ja, bitte.
Deutschen Bundestag - 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13703
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, glauben Sie, daß es der Verabschiedung dieses Gesetzes in dieser Legislaturperiode nützt, wenn Sie auf die kompromißbereite Rede von Frau Minister Griesinger in einer derart aggressiven, auf Konflikt angelegten Weise antworten?
Herr Kollege Hasinger, ich kann, indem ich die Schwächen des Entwurfs offenlege, keine Aggressivität erkennen. Ich muß sagen, der Schwellenwert für Aggressivität in der politischen Auseinandersetzung scheint bei Ihnen sehr, sehr niedrig zu liegen. Ich habe nicht den Eindruck, daß ich hier aggressiv vorgetragen habe. Aber das mag der Zuhörer beurteilen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung
— ich wiederhole das — hat immer wieder gesagt, daß sie bereit sei, Regelungen zu unterstützen, die die Stellung der freien Träger in der Jugendhilfe im Sinne eines notwendigen Funktionsschutzes noch besser absichern. Die Bundesregierung hat ihre Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates vorgelegt und dabei Punkt für Punkt auf Widersprüche und Ungereimtheiten des Entwurfs hingewiesen. Ich will dies hier nicht im einzelnen wiederholen, sondern darf mich insgesamt auf diese Stellungnahme beziehen.
Fachverbände haben sich gegenüber dem Bundesratsentwurf bisher in beredtes Schweigen gehüllt. Sie nehmen diesen Entwurf, auch verglichen mit dem, was im ursprünglichen Entwurf Baden-Württembergs an Intentionen erkennbar war, anscheinend als eine erhebliche Abschwächung.
— Unser Entwurf ist auch im Hearing des Deutschen Bundestages von sehr, sehr vielen Fachverbänden im Prinzip als ein brauchbarer Entwurf bezeichnet worden. Die kommunalen Spitzenverbände haben ihn als brauchbar und sogar als weitgehend ausgereiften Entwurf bezeichnet.
— Ich bin gerne bereit, Ihnen einmal die Fülle der positiven Stellungnahmen zu dokumentieren. Wir können das in den Ausschußberatungen tun, wo wir uns im einzelnen unterhalten.
— Herr Kollege Kroll-Schlüter, es ist nicht nur ein einziger, es sind eine Fülle von Paragraphen und Leistungsvorschriften und Gedanken nicht kritisiert, sondern unterstützt worden.
— Ich kann ja verstehen, daß eine gewisse Betroffenheit da ist, denn ich weiß von vielen Kollegen, die hier dazwischenrufen, daß sie im Prinzip für eine weitreichende grundlegende Reform der Jugendhilfe eintreten.
Ich kann auch eine gewisse Betroffenheit darüber erkennen, daß dieser Anspruch, mit dem der baden-württembergische Entwurf ursprünglich im Bundesrat versehen war, leider inzwischen zu einem, wie gesagt wurde, „Jugendhilfeverschnitt" degeneriert ist.
Meine Damen und Herren, wenn es Ihnen mit der Verabschiedung eines neuen Jugendhilferechts wirklich ernst ist, eines Jugendhilferechts, das zur Lösung unserer wirklich dringenden jugend- und familienpolitischen Probleme beitragen soll, dann appelliere ich an Sie, im Rahmen der anstehenden Beratungen in den Ausschüssen des Deutscher Bundestages nicht den Entwurf des Bundesrates, sondern den Entwurf der Bundesregierung zur Beratungsgrundlage zu machen, damit der Widerspruch zwischen ständigen familienpolitischen Forderungen und den Taten nicht noch größer wird. Selbstverständlich wird auch der Entwurf des Bundesrates eine Orientierungshilfe für die Beratungen sein. Jedem, der an den Beratungen teilnimmt, ist bewußt, daß es sich hier um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt und schließlich am Ende des Gesetzgebungsganges ein positives Votum des Bundesrates stehen sollte.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird deshalb die kommenden Beratungen undogmatisch und kompromißbereit begleiten. Ich bitte sie: helfen Sie im Interesse unserer Familien und der jungen Menschen mit, die so dringend notwendige Reform der Jugendhilfe noch in dieser Legislaturperiode zu verwirklichen!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Zander, ich hielt Ihre Rede nicht für ein konstruktives Angebot, einen. gemeinsamen Versuch zur Verabschiedung dieses Gesetzes zu machen.
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Frau KarwatzkiDies war eine Vorbemerkung, die ich sonst sicher nicht gemacht hätte.Die CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause fordert seit einigen Jahren die Neugestaltung des Jugendhilferechts, die das JWG aus dem Jahr 1922 ablösen soll. Ich betone, daß dieses alte Jugendwohlfahrtsgesetz besonders unter Berücksichtigung der vom Deutschen Bundestag eingefügten Änderungen und Anpassungen an das Grundgesetz über viele Jahrzehnte hin gute Dienste getan hat und den gestellten Anforderungen im großen und . ganzen gerecht geworden ist. Man muß dies jetzt, wo es um seine völlige Ablösung geht, eine Ablösung, die weitgehend durch Entwicklungen des Zeitgeistes erforderlich wurde, hier noch einmal deutlich sagen. Daß das Jugendwohlfahrtsgesetz gewissermaßen von Anfang an schlecht gewesen sei, darf man weiß Gott nicht behaupten. In denke, unser aller Anliegen muß sein, dies auch nach draußen zu sagen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert seit einigen Jahren nicht nur die Neugestaltung des Jugendhilferechts schlechthin, sondern sie will ein allgemein verständliches, ideologiefreies, für Verwaltung und Jugendhilfeträger gleichermaßen praktikables und, wie ich als Kommunalpolitikerin es formuliere, bürgernahes Jugendhilfegesetz.
Die Rechte von Eltern, Familien, betroffenen Jugendlichen und Staat bzw. Kommunen sollen in einem vernünftigen und ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Dazu gehört, daß Kindern und jungen Menschen nicht Rechte zugemutet werden, die sie überfordern, und nicht Erwartungen an sie gestellt werden, die sie noch gar nicht erfüllen können. Die Jugendarbeit muß genügend Spielraum zu ihrer freien Entfaltung erhalten.Schließlich müssen die freien Träger der Jugendhilfe weiterhin die rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten haben, ihre bisher als erfolgreich und notwendig zu bewertende Arbeit fortzusetzen.
So und nicht anders hat ein neues Jugendhilfegesetz auszusehen.Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf, auf den wir lange genug warten mußten, wird den genannten Anforderungen kaum gerecht. Wir haben dies hier bereits im Rahmen seiner ersten Beratung am 15. März deutlich gemacht.Der Bundesratsentwurf zeigt Ihnen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, wie man es besser machen kann. Auch können Sie sich nicht des Argumentes befleißigen, die Opposition biete keine Alternative in Sachen Jugendhilfe. Wir bieten sie in diesem Fall über das Land Baden-Württemberg und den Bundesrat. Es ist eine Alternative, die als gute Diskussionsgrundlage in den Ausschußberatungen auch Ihnen und den Mitgliedern der Fraktionen der SPD und der FDP eine konstruktive Mitarbeit ermöglicht.
Die Initiative des Landes Baden-Württemberg verdient es, im Hinblick sowohl auf das Formale als auch die materiellen Inhalte anerkannt und gesetzgeberich entsprechend gewürdigt zu werden.
Ich will im einzelnen vergleichend Stellung nehmen.Erstens. Jugendhilfe ist nicht nur staatliche Hilfe in Notsituationen und dient nicht nur der Daseinsvorsorge. Die Experten haben im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 12. Juni 1979 im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit einhellig die Forderung gestellt, das Jugendhilferecht aus dem Sozialgesetzbuch herauszunehmen.
Die Bundesregierung bleibt auch nach Vorlage ihrer geringfügigen Änderungsvorschläge bei der Einbeziehung in das Sozialgesetzbuch. Der Bundesratsentwurf sieht ein eigenständiges Gesetz vor.Zweitens. Der Bundesratsentwurf ist kurz und knapp gehalten. Für jemanden, der ein Jugendhilfegesetz tagtäglich anzuwenden hat, ist dieses Gesetz lesbar.
Als Betroffener kann man sich vielleicht sogar ohne Rechtsbeistand ein Bild über die Rechtslage verschaffen und dies, obwohl alle zu regelnden Bereiche in hinreichendem Maße angesprochen sind. Das entspricht unserer immer wieder vorgetragenen Forderung, daß in allen politischen Bereichen . gesetzliche Regelungen nur soweit getroffen werden sollen, wie es unbedingt erforderlich ist. Durch die in ihm enthaltenen Generalklauseln bringt der Entwurf sein Vertrauen in die Erziehungskraft der Familie zum Ausdruck. Der Entwurf der Bundesregierung hingegen gestaltet jeden denkbaren Freiraum mit einer Gesetzesbestimmung aus und läßt fast nirgendwo Möglichkeiten für eigenverantwortliche Lösungen der Anwendenden offen. Mit ihrem uferlosen Perfektionismus kam die Bundesregierung schnell auf 143 Paragraphen. Auch die neuerlich vorgelegten Straffungsvorschläge, die den Ländern geringfügige Kompetenzerweiterungen bringen sollen, machen da nicht viel aus. Das Land Baden-Württemberg kommt mit 59 Paragraphen aus.
— Meine Herren von der Opposition, Sie sollten nicht lächeln, sondern zuhören!
Drittens. Auch Klarheit und Allgemeinverständlichkeit sind in einem kurzen Gesetz natürlich bes-Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13705Frau Karwatzkiser als in einem nahezu unüberschaubaren Gesetz gewährleistet.
Wie ich bereits eingangs sagte, müssen Anwendende und Betroffene die Möglichkeit haben, schnell und ohne juristische Zusatzkurse den Durchblick zu erhalten.
Dem wird der Bundesratsentwurf ohne Zweifel besser gerecht.Viertens. Das Elternrecht und die Elternverantwortung sind im Bundesratsentwurf wesentlich besser am Grundgesetz orientiert als in der Regierungsvorlage. Dies kommt schon in § 1 Abs. 1 Satz 2 zum Ausdruck — ich zitiere —:Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.Genauso steht es in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgeestzes.
Das selbständige Antragsrecht des Jugendlichen, wie es der Regierungsentwurf vorsieht, gibt es nicht. Der Familie wird damit als der tragenden Lebens- und Organisationsform unserer Gesellschaft so viel Kraft und Einigungsfähigkeit zugebilligt, daß man sie in der Lage sieht, Situationen, von denen die Regierung glaubt, den Jugendlichen ein eigenes Antragsrecht einräumen zu müssen, aus eigener Stärke und Verantwortung und ohne staatliche Einmischung zu überwinden.
Ein Jugendhilfegesetz muß auf ein gewisses Maß an Selbstregelungsfähigkeit innerhalb unserer Familien vertrauen. Auf diese Weise wird auch vermieden, daß die Fachlichkeit der Jugendhilfe und die Verantwortung der Eltern für die Erziehung ihrer Kinder gegeneinander ausgespielt werden können. Der Regierungsentwurf, so meine ich, vermag dieses Vertrauen nicht aufzubringen.Fünftens: Die Stellung und das Verhältnis der freien und öffentlichen Träger zueinander ist in § 2 analog § 5 Abs. 3 JWG geregelt. § 2 Abs. 3 des Bundesratsentwurfes bringt das Subsidiaritätsprinzip als Soll-Vorschrift zum Tragen und kommt somit unseren Forderungen wesentlich besser entgegen als das Institut der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit" des § 3 des Regierungsentwurfs. Sie wissen, daß das Subsidiaritätsprinzip für uns ein unverzichtbarer Punkt ist und bleibt.
Sechstens. Jugendarbeit, die für die Entwicklung und die Lebensgestaltung unserer Jugendlichen von enormer Bedeutung ist, wird in dem Bundesratsentwurf nicht, wie es die §§ 18 bis 26 des Regierungsentwurfs tun, bis in kleinste reglementiert. Vielmehr beschränkt sich der Entwurf des Bundesrates in § 12 auf die Erteilung einer Rahmenrichtlinie und gibt den Ländern die Zuständigkeit, die Jugendarbeit gesetzgeberisch zu regeln und auszugestalten. Wird § 12 Abs. 2 auch unter Berücksichtigung des § 50 so interpretiert, daß der Bund in der Jugendarbeit seine Förderungskompetenzen behalten soll — ich interpretiere ihn so —, so übertrifft die Bundesratsvorlage den Regierungsentwurf insoweit in der Zweckmäßigkeit, als im Verhältnis von Regelungswürdigkeit und Regelungsbedürftigkeit der Jugendarbeit einer Generalklausel der Vorrang gegenüber einengenden Reglementierungsvorschriften gebührt.
Siebentens. Der Entwurf des Bundesrates läuft nicht auf ein totales Erziehungsgesetz hinaus, welches staatliche Reglementierung in das Elternhaus hineinbringt und auf lange Sicht die Verstaatlichung der Erziehung insgesamt anstrebt oder zumindest bewirken kann.
Anders versteht die Bundesregierung dagegen mittlerweile ihren Entwurf. Ich darf mit Genehmigung des Präsidenten aus einer gemeinsamen Erklärung der Konferenz der SPD-Fraktionsvorsitzenden in Berlin zum Thema Familienpolitik zitieren.
Dort heißt es unter anderem:
Aus sozialdemokratischer Sicht sind die wichtigsten und unverzichtbaren Punkte der Jugendhilfereform erstens Verlagerung des Schwerpunktes der Jugendhilfe von der Fürsorge in den Erziehungs- und Bildungsbereich und zweitens Ausgestaltung der Jugendhilfen zum selbständigen Erziehungsfaktor neben Elternhaus, Schule und Beruf.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung und der SPD-Fraktion, Sie haben es bisher immer vertuschen wollen, daß nach Ihrem Entwurf die Jugendhilfe selbständiger Erziehungsfaktor neben dem Elternhaus sein soll. Das Papier der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzendenkonferenz, so meine ich, straft Sie Lügen. Ich erspare mir, hier vorzutragen, was uns demnächst noch alles bevorsteht. Die Dokumentation, aus der ich zitiert habe, stammt vom 29./30. Juni dieses Jahres. Ihre jüngsten Änderungsvorschläge tragen das Datum des 27. Juni. Es ist also zu erwarten, daß im Rahmen Ihrer nächsten Änderungsvorschläge als Ausgleich für Ihr geringfügiges Entgegenkommen in Sachen Straffung und Vereinfachung uns die Konzeption eines staatlichen Erziehungsgesetzes serviert wird. Für Sie ist dieses ja, wie wir gehört haben, eine unverzichtbare Forderung. Das ist ein Grund mehr, den Bundesratsentwurf dem Ihrigen vorzuziehen.Ich fasse zusammen. Wir fordern — und dies muß immer wieder hervorgehoben werden — erstens ein eigenständiges Jugendhilfegesetz, welches kurz und knapp, klar und verständlich gestaltet ist. Wir fordern zweitens: Das Elternrecht darf nicht zugunsten staatlicher Überfunktionen ausge-
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Frau Karwatzkihöhlt werden. Drittens: Die freien Träger müssen Vorrang vor den öffentlichen Trägern haben. Viertens: Die Jugendarbeit muß sich frei entfalten können.Dieses Gesetz darf nicht auch noch die letzten Freiräume für die Erziehung in die alleinige Zuständigkeit des Staates verlagern.
Auf die Grundrichtung beider Entwürfe kommt es an. Deshalb gebührt dem Bundesratsentwurf auf gleichberechtigter Basis mit dem Regierungsentwurf aus unserer Sicht der Vorrang. Über Kompromisse können wir uns in den Ausschüssen gerne unterhalten, und wir werden in dem Maße darauf einzugehen in der Lage sein, wie Sie das im Hinblick auf Ihren Entwurf waren oder sind. Ich bin froh über die Auswahlmöglichkeit, die der Entwurf des Bundesrates nun geschaffen hat, und bitte trotz der bereits erfolgten pauschalen Ablehnung durch die Bundesregierung um konstruktive und wohlwollende Beratung in den Ausschüssen. Denn wir sollten alle zusammen heute am Weltkindertag unser gemeinsames Ziel nicht aus den Augen verlieren, ein gutes und erfolgversprechendes Jugendhilferecht zu schaffen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Karwatzki, etwas weniger Agitation und Polemik wäre der Sachlichkeit der Diskussion sicherlich dienlicher gewesen;
aber ich vermute, daß Sie die Zuspitzung im Augenblick brauchen, um sich in der kommunalpolitischen Szene zu profilieren.
Wir können uns gern einmal über das Drumherum, über die Philosophie der Jugendpolitik, die Sie hier am Schluß vorgetragen haben, in aller Ruhe unterhalten, damit wir uns nicht Schlagworte vor den Kopf donnern müssen. Ich meine, daß es jetzt sinnvoller wäre, auf den Stellenwert einzugehen, den der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf zur Verbesserung der Jugendhilfe im Zusammenhang unserer Beratungen jetzt auch im Bundestagsausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit haben kann.Die heute hier zur Debatte stehende Vorlage beschreibt die Position der von CDU und CSU regierten Länder zum Jugendhilfegesetz. Mittlerweile haben wir nun auch erfahren, daß das die Position der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag ist. Es hat ja lange gedauert, bis sich die Union auf einen gemeinsamen Entwurf einigen konnte,
und der Entwurf kommt gerade noch rechtzeitig, daß wir ihn in die Beratung des Jugendhilfegesetzes in unserem Ausschuß mit einbeziehen können. Selbstverständlich werden wir, wie sich das gehört, die Stuktur des Entwurfs, die darin enthaltene Leistungsangebote und die Grundsätze, von denen er ausgeht, pflichtgemäß in unseren Beratungen sorgfältig prüfen.
Eine grundsätzliche Feststellung kann man jedoch heute schon treffen. Während der im Frühjahr vorgelegte Entwurf aus Baden-Württemberg noch den Anspruch erheben konnte, die Jugendhilfe quantitativ und qualitativ zu verbessern, fällt die Bundesratsvorlage in vielen Punkten selbst hinter das geltende Recht nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz zurück. Meine Damen und Herren, das ' ist wahrhaftig ein strahlender Beitrag des Bundesrates zum internationalen Jahr des Kindes und zum Weltkindertag. Wenn Sie sich heute morgen, Frau Karwatzki, hätten berichten lassen, was der Kinderschutzbund gerade zum Bereich der Jugendhilfe auf seiner Pressekonferenz gesagt hat, hätten Sie feststellen können, daß dort unsere Linie mehr oder weniger bestätigt und eine klare Absage an das formuliert worden ist, was Sie im Jugendhilferecht machen wollen.
Was der Bundesrat vorgelegt hat, ist ein Jugendhilfe-Torso, der nach dem Motto gebastelt wurde: Vorne und hinten etwas abgehackt und immer noch zu kurz.Lassen Sie mich das an einigen Beispielen deutlich machen.Erstens. Obwohl die Anhörung vor dem Bundestagsausschuß. für Jugend, Familie und Gesundheit ergeben hat, daß praktisch alle Verbände eine umfassende Regelung der Jugendarbeit im Jugendhilfegesetz wünschen, beschränkt sich der Bundesrat auf einen einzigen lapidaren Paragraphen. Frau Karwatzki, niemanden hat es gegeben, mindestens nicht unter den Jugendverbänden, der im Anhörungsverfahren deutlich gemacht hätte, daß er sich mit einer Generalklausel im Jugendhilfegesetz des Bundes zufriedengeben würde.
Von einer Einheit der Jugendhilfe kann im Bundesratsentwurf keine Rede mehr sein. Die Jugendpolitiker der Union werden das mit den Jugendverbänden selbst abzumachen haben. Ich habe noch einmal im Protokoll nachgelesen, Frau Karwatzki, was Sie im Frühjahr dieses Jahres gesagt haben, als Sie die Paragraphen des Regierungsentwurfs zur Jugendarbeit kritisierten, wo Sie feststellten:Das moderne und allgemeine Verständnis von Jugendarbeit umfaßt eben nicht nur Erziehung, sondern auch Bildung, Aktion und Interessenvertretung.Deutsche], Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13707KuhlweinNun frage ich mich: Wo im Bundesratsentwurf Sie das gefunden haben, was Sie hier .gefordert haben.
Wir jedenfalls halten es mit der Einheitlichkeit der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik für unvereinbar, wenn die Arbeit von Jugendverbänden in Bayern oder Baden-Württemberg nach anderen Maßstäben gefördert würde als z. B. in Nordrhein-Westfalen. Wir wollen auch kein bloßes Jugendfürsorge-, sondern ein Jugendförderungsgesetz machen.Dort, wo es ums Geld geht, haben Sie, Frau Griesinger, die im Entwurf der Bundesregierung für die Jugendarbeit vorgesehenen Mehrkosten von jährlich 200 Millionen DM — auf 1987 hochgerechnet — auf 75 Millionen DM reduziert. Sie halten diesen Betrag in Ihrer Begründung auch für „angemessen und ausreichend". Bei rund 16 Millionen Kindern in der Bundesrepublik, die unter 18 Jahre alt sind, wären das dann noch nicht einmal 5 DM pro Kind und Jahr.
Damit können Sie dann kaum einen halben Verpflegungssatz bei einer Ferienerholungsmaßnahme finanzieren. Wie das mit der von Ihnen propagierten familien- und kinderfreundlichen Politik zusammenpassen soll, ist mir wirklich schleierhaft.
Zweitens. Im Gegensatz zur Bundesregierung geht der Bundesrat davon aus, daß wir für den Ausbau allgemeiner und spezieller sozialer Dienste in der Jugendhilfe weniger Personal brauchen, als die Bundesregierung hochgerechnet hat. Er will in diesem Bereich 244 Millionen DM einsparen. Gleichzeitig reduziert er die Besetzung von Erziehungsberatungsstellen von 5,5 auf 4 Fachkräfte. Im Gesetzestext werden dann logischerweise die offenen pädagogischen Hilfen als Kann-Leistungen ausgewiesen — Herr Kollege Zander hat schon darauf hingewiesen. Die erfolgreich erprobten Übungs- und Erfahrungskurse fehlen völlig. Dennoch kommt der Bundesrat bei den hochgerechneten Einsparungen bei der Heimerziehung zum selben Ergebnis wie die Bundesregierung in ihrem Entwurf: 180 Millionen DM im Jahr. Da werden wohl Ihre Rechner, Frau Kollegin Griesinger, nicht so ganz aufgepaßt haben. Oder wie wollen Sie diese Zahl erreichen, wenn Sie die offenen pädagogischen Hilfen nicht so weit ausbauen, daß Heimerziehung bei uns wirklich verhindert werden kann?
Die Konsequenz wird doch sein, daß, wie bisher, viel zu schnell Hilfen zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie beantragt werden. Nicht nur insoweit ist Ihr Entwurf geradezu familienfeindlich.Dritter Punkt: Ihr Entwurf enthält keinen Hinweis auf Alternativen zur Heimerziehung wie offene Wohnformen oder Wohngruppen. Sie tragen damit der Diffamierungskampagne von reaktionären Verbänden Rechnung, die in den von der Bundesregierung vorgeschlagenen pädagogisch betreuten Wohngruppen extremistische Kommunen vermuten. Dabei wissen wir doch längst aus vielen Modellen — —
-- Frau Kollegin Dr. Wex, Sie sollten einmal
— das war die Nachbarin, gut; ich kenne Sie noch nicht — bei den Kirchen, insbesondere beim Diakonischen Werk, nachfragen. Dort werden Sie hören, mit welch großem Erfolg Wohngruppen zur sozialen und pädagogischen Integration von entwicklungsgestörten Jugendlichen eingesetzt werden.
In diesem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, ist klargemacht worden, welche Art von Wohngruppen gemeint ist. Wir lassen diese, neuen pädagogischen Formen der außerfamiliären Erziehung nicht als Kommunen diffamieren.
— Sie jedenfalls sollten Ihre Kenntnisse über moderne Jugendhilfearbeit auf den neuesten Stand bringen, auch Sie, Herr Kollege Kroll-Schlüter.Vierter Punkt: Sie wollen auf das Antragsrecht des Jugendlichen verzichten, obwohl dieses Antragsrecht bereits seit 1. Januar 1976 für Jugendliche ab dem Alter von 15 Jahren geltendes Recht ist. Sie wollen damit angeblich verhindern, daß das Jugendamt Konflikte in die Familien hineinträgt. Die Schreckensvision vom Jugendlichen, der seinen Eltern das Jugendamt auf den Hals schickt, weil er zu wenig Taschengeld bekommt, soll für kommende politische Auseinandersetzungen offenbar erhalten bleiben. Wenn man jedoch Ihren Gesetzentwurf genau nachliest, stellt man fest, daß Sie erstens dem Jugendlichen die Möglichkeit einräumen, dem Jugendamt die zum Einschreiten führenden Tatsachen zur Kenntnis zu bringen. Das steht wörtlich so darin. Da das Jugendamt aber auch nach Ihrer Auffassung kraft Amtes tätig werden muß, erhalten auch bei Ihnen die Jugendlichen faktisch ein Antragsrecht — nämlich semantisch etwas verkleistert, damit man nicht so genau merkt, was das bedeuten soll. Sie werden — wir werden das öffentlich deutlich machen — in Zukunft jedenfalls auf ein Schreckensbild in Ihren Propagandapapieren verzichten müssen. Bei der von Ihnen gewählten Lösung sind die Jugendlichen allerdings nicht Subjekt des Handelns, sondern Objekt des staatlichen Handelns durch das Jugendamt.
Man sieht, daß Sie das offensichtlich lieber haben als wir, die wir dem Jugendlichen einen eigenstän-
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Kuhlweindigen Anspruch auf einen Antrag beim Jugendamt einräumen möchten,
damit er selber tätig wird. Wir wollen dem Jugendlichen ein eigenes Recht einräumen; Sie wollen dem Jugendamt eigene Rechte einräumen, in die Familien einzugreifen. Darin unterscheiden wir uns,
allerdings auch sehr grundsätzlich dann.Fünfter Punkt. Sie wollen grundsätzlich den freien Trägern der Jugendhilfe Vorrang vor dem öffentlichen Träger einräumen, und das ist für uns in dieser Form nicht, annehmbar.
Aber wir sind gern bereit, im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob und wo im Entwurf der Bundesregierung der Vorwurf zutreffen könnte, der öffentliche Träger könnte die freien Träger systematisch verdrängen — wie man das bei Ihnen immer hört. Dabei ist auch dieser ideologisch so belastete Streitpunkt längst von der Praxis überholt. Das wissen Sie selber ganz genau. Denn die Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung zwischen Jugendämtern und freien Trägern ist in der Regel gut. Das sehr viel größere Problem konkurrierender freier Träger und das Problem, wie Initiativgruppen in der Jugendhilfe als Jugendhilfeträger anerkannt und gefördert werden können, bleibt auch im Bundesratsentwurf ungelöst. Darüber nachzudenken, erscheint mir sehr viel wichtiger, wenn wir eine bürgernahe partizipative Jugendhilfe entwickeln wollen.
— Daß es Ihnen nicht um Bürgerbeteiligung geht, Herr Dr. Stark, brauchen Sie hier nicht ausdrücklich zu betonen.Meine Fraktion hofft, daß der Bundesrat mit diesem Gesetzentwurf nicht sein letztes Wort zur Jugendhilfe gesprochen haben wird. Ich habe den Äußerungen der Kollegin Griesinger immerhin entnehmen können, daß der Bundesratsentwurf die Richtung für den Konsens markieren soll, so daß ich davon ausgehe, daß es da auch noch Spielraum für Verhandlungen geben kann.Ich wollte noch auf eines Ihrer Argumente eingehen. Sie werfen dem Regierungsentwurf vor, er sei zu wenig transparent. Die Kollegin Karwatzki hat gesagt, Sie wollten ein bürgernahes Jugendhilfegesetz, ohne juristische Zusatzkurse. Da kommt man natürlich in die Versuchung, einmal nachzulesen, wie bestimmte komplizierte Sachverhalte im Entwurf des Bundesrates formuliert sind, und dabei gelangt man zu der betrüblichen Feststellung, daß dort offenbar sehr viele Juristen mitgearbeitet haben, die sich auch nicht in der Lage fanden, das sprachlich verständlicher auszudrücken, so für den allgemeinen Gebrauch, wie wir uns das als Jugendpolitiker vorstellen. Beispielsweise lese ichauf der Seite 16 des Entwurfs in Abs. 4 des § 51:Für Maßnahmen nach § 27, ausgenommen die Rückführung zum Personensorgeberechtigten, ist das Jugendamt zuständig, in dessen Bezirk sich der Minderjährige tatsächlich aufhält. Das nach Satz 1 zuständige Jugendamt kann jedoch den Minderjährigen dem Personensorgeberechtigten oder dem nach den Absätzen 1 bis 3 zuständigen Jugendamt zuführen, wenn die Rückführung verweigert wird oder sich verzögert.Selbst Leute, die ständig mit dem Gesetz arbeiten, müssen einige Zeit nachdenken, um zu verstehen, was der Bundesrat mit dieser Formulierung meint.
Deswegen sollten wir anerkennen, daß es manchmal sehr schwierig ist, in einem vorgegebenen Rechtssystem vernünftige, sprachlich einwandfreie und verständliche Gesetze zu formulieren. Das geht Ihnen genauso, wie es uns geht. Wir halten den Entwurf des Bundesrates für völlig unzureichend, die anstehenden Probleme zu lösen.
— Herr Kollege Stark, Sie gehören ja leider zu den Juristen, die so unverständliche Gesetze machen. Wir sehen in dem Gesetzentwurf des Bundesrats einen schweren Schlag für die historisch gewachsene Einheit der Jugendhilfe. Wir werden Ihre Anliegen im Ausschuß sorgfältig prüfen. Aber wir können heute schon sagen, daß wir keine Veranlassung sehen, vom Grundmuster des Regierungsentwurfs und auch von dem dort skizzierten finanziellen Volumen nach unten abzuweichen.
An einem Tag, wo Sie morgens mit vier Milliarden an Kinderbetreuungsbeträgen spielen,
halte ich es für unerträglich, wenn der Bundesrat uns zumutet, einem Gesetzentwurf zuzustimmen, der das ohnehin bescheidene Reformvolumen der Jugendhilfe von 800 Millionen auf 300 Millionen DM reduzieren soll.
Meine Damen und Herren, meine Fraktion stimmt der Überweisung an die Ausschüsse, so wie vom Ältestenrat vorgesehen, zu.
Meine Damen und Herren, auf der Tribüne hat eine Delegation des griechischen Parlaments unter der Leitung des Vorsitzenden der griechisch-deutschen Parlamenta-
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Vizepräsident Dr. von Weizsäckerriergruppe, des Herrn Abgeordneten Kalantzakos, Platz genommen.
Ich darf Sie, die Sie zu einer Parlamentarierkonferenz in der Bundesrepublik Deutschland weilen, hier im Namen des Hauses herzlich begrüßen. Wir freuen uns über diesen ersten Kontakt des neuen griechischen Parlaments mit dem Deutschen Bundestag besonders. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Verlauf Ihrer Gespräche und einen guten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion begrüßt es, daß nunmehr seitens des Bundesrates dessen Vorstellungen zur Jugendhilfe in einem eigenen Gesetzentwurf konkretisiert worden sind. Zuvor waren von führenden Unionspolitikern Töne zu hören, die darauf schließen ließen, daß seitens der Opposition nicht immer ein Interesse bestand, das Jugendhilfegesetz noch in dieser Legislaturperiode zu novellieren. Zuletzt sprach Franz Josef Strauß in der „Wirtschaftswoche" vom 27. August im Rahmen eines bemerkenswerten Aufsatzes über die Grenzen des Sozialstaats noch davon, daß es ein Ende damit haben müsse, immer neue Problemgruppen zur sozialen Betreuung zu entdecken und damit einer staatlichen Omnipotenz auszuliefern. Zitat:Ich erinnere hier nur an die gefährlichen Entwicklungen, die etwa von den neuen Gesetzentwürfen zum Jugendhilferecht drohen.Franz Josef Strauß sprach hier ausdrücklich in der Mehrzahl, von Gesetzentwürfen.Die Liberalen begrüßen es auch, daß trotz der vielen Streichungen noch auf ein Aufeinander-Zugehen in den Ausschußberatungen zu hoffen ist. Allerdings muß man hier sagen, daß der Entwurf des Bundesrates gegenüber dem Entwurf der Bundesregierung, aber auch gegenüber dem ursprünglichen Entwurf aus Baden-Württemberg außerordentlich kurz geworden und sehr dünn geraten ist.Regierungs- und Bundesratsentwurf wollen, daß an die Stelle des im Kern mehr als 50 Jahre alten Jugendwohlfahrtsgesetzes ein neues Leistungsgesetz tritt. Die FDP bedauert allerdings, daß eine Reihe von Bereichen, die im Regierungsentwurf enthalten sind, im Entwurf des Landes BadenWürttemberg noch enthalten waren, nun im Entwurf des Bundesrates nicht mehr enthalten bzw. zu Rudimenten verkümmert sind. Hier ist die Frage zu stellen, ob die genannte gemeinsame Zielsetzung beider Gesetzentwürfe beim Bundesratsentwurf nicht nur noch verbal vorgestellt wird.Lassen Sie mich jetzt noch kurz auf einige Einzelpunkte der beiden Gesetzentwürfe eingehen, so auf das Verhältnis der Träger untereinander. — Es stellt sich die Frage nach Subsidiarität oder Partnerschaft. Für die Freien Demokraten kann ich hier eindeutig erklären, daß wir keinen Vorrang eines bestimmten Trägers wollen. Wir wünschen vielmehr die Partnerschaft der Träger. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen die Pluralität der Jugendhilfe nicht nur erhalten, sondern auch weiter ausbauen. Das bedeutet, daß es kein Übergewicht irgendeines öffentlichen oder privaten Trägers geben soll. Salopp formuliert könnte man sagen: Wettbewerb belebt das Geschäft — auch hier, hier allerdings zugunsten der Jugendlichen. Ich bin gern bereit, allen Formulierungen zuzustimmen, die dieses Prinzip im Gesetz deutlich machen. Also noch einmal: Partnerschaft der Träger, um die Pluralität der Angebote zu erhalten.Im Unterschied zum Bundesratsentwurf stellt der Regierungsentwurf die Rechte der Kinder und Jugendlichen als eigenständige Rechte stärker heraus. Es muß immer wieder daran erinnert werden, daß das Kind originäre Freiheitsrechte hat. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, auch im neuen Jugendhilferecht diese Freiheitsrechte für die Kinder zu reklamieren. Dies bedeutet die Reklamierung von Freiheitsrechten für Individuen und ist damit das Gegenteil von Kollektivismus und Gleichmacherei, wie es uns von der Opposition leider immer wieder vorgeworfen wird.
Dem Regierungs- und Bundesratsentwurf ist gemein, daß sie die Heimerziehung erst als letztes Glied in einer Kette von Erziehungsmaßnahmen sehen. Die Familienerziehung wird in den beiden Entwürfen deutlich in den Vordergrund gerückt. Ein besonderer Dank ist hier an die Kinderdörfer zu richten, die ja in diesem Zwischenbereich zwischen der Erziehung in der Kernfamilie und der Erziehung in einem Heim tätig sind.
Bei den weiteren Ausschußberatungen müssen wir deshalb prüfen, ob wir diesen Bereich nicht stärker im Gesetz berücksichtigen müssen.Zu unserem Bedauern ist der Jugendarbeit nur noch ein sehr kurzer Paragraph im Entwurf des Bundesrates gewidmet. Im Interesse der Einheit der Jugendhilfe bedauern wir dies außerordentlich. Ich bin der Meinung, daß in Zeiten von wachsendem Problemdruck auf Jugendliche dieser Bericht nicht so kurz abgetan werden kann. Nebenbei erscheint mir der Begriff „Jugendarbeit" wegen der doppelten Begrifflichkeit, die hinter ihm steht, geeignet, auch weiterhin für Verwirrung zu sorgen. Wir sollten uns deshalb im Ausschuß bemühen, ob wir hier nicht eine bessere Formulierung finden können.Wir begrüßen es, daß der Bundesratsentwurf im Unterschied zum Regierungsentwurf die Jugendhilfe nicht in das Sozialgesetzbuch einschreiben will. Mit den Erziehungs- und Bildungszielen paßt die Jugendhilfe nur schwerlich in den Zusammenhang vorwiegend sozialer Geldleistungsgesetze. Auch die Anhörung vor dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit hat ergeben, daß sich alle Experten gegen eine Einbeziehung des Jugendhilferechts in das Sozialgesetzbuch aussprechen.
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Eimer
Eine eigentümliche Entwicklung hat der Bundesratsentwurf gegenüber dem Gesetzentwurf des Landes Baden-Württemberg genommen. Konnte ich anläßlich der ersten Beratung des Regierungsentwurfs noch feststellen, daß der starken Kürzung des Gesetzestextes im Entwurf von Baden-Württemberg nicht etwa die gleiche Kürzung der vorgesehenen Finanzmittel entspricht, so ist jetzt festzustellen, daß sich die Kosten zwischen Regierungs- und Bundesratsentwurf um mehr als die Hälfte verringert haben. Hier wird zu prüfen sein, ob der Gesetzentwurf des Bundesrats noch den Anforderungen genügt, die an ein modernes Jugendhilferecht zu stellen sind, oder ob dieser Amputationsentwurf nicht auf allzuviel verzichtet.Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß daran erinnern, daß wir heute den jährlichen Weltkindertag begehen. In diesem Jahr, dem Jahr des Kindes, kommt ihm ganz besondere Bedeutung zu. Ein neues Jugendhilferecht wird das Schicksal vieler Kinder und Jugendlicher in Zukunft so oder so beeinflussen. Ich appelliere deshalb an die Familienpolitiker der Union, in der Öffentlichkeit ähnlich sachlich und konstruktiv zu argumentieren, wie wir es im Ausschuß miteinander tun. Ebenso appelliere ich an die Politiker der Union, ihre Kolleginnen und Kollegen, die im Land draußen die gebotene Sachlichkeit nicht immer zeigen, ein wenig an die Kandare zu nehmen. Wenn die Frau Kollegin Krone-Appuhn — sie ist jetztleider nicht da —
— in der Öffentlichkeit erweckt sie aber einen anderen Eindruck — im Zusammenhang mit den Jugendhilferechtsentwürfen am 19. Juli im Landkreis Ansbach von einem „Zangenangriff auf die Familie" spricht, so hat sie mit Sicherheit den Boden der gebotenen Sachlichkeit verlassen und in den Gesetzentwurf Dinge hineininterpretiert.
— Ich hoffe doch, daß sie, wenn sie über das Thema spricht, den Entwurf zumindest gelesen hat. Wir werden aber nur dann die vorliegenden Gesetzentwürfe zügig beraten und vor allem Verunsicherung in der Bevölkerung verhindern können, wenn wir die gebotene Sachlichkeit im Ausschuß und in der Öffentlichkeit einhalten und wenn sich die Opposition endlich auf eine Strategie einigen kann, entweder auf die, die heute z. B. von Frau Karwatzki vertreten worden ist — diese möchte ich durchaus als sachlich bezeichnen —, oder z. B. auf die von Frau Krone-Appuhn oder Franz Josef. Strauß.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 8/3108 an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend —, an den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend — sowie mitberatend und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwaltung der Mittel der Träger der Krankenversicherung
— Drucksache 8/3126 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Interfraktionell ist eine Aussprache mit Kurzbeiträgen für alle Fraktionen vereinbart. Zunächst hat zur Einbringung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Buschfort das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über die Verwaltung der Mittel der Träger der Krankenversicherung unternimmt die Bundesregierung einen Schritt zur Stärkung der eigenverantwortlichen Finanzwirtschaft der gesetzlichen Krankenversicherung. Kernpunkt des Gesetzentwurfes ist es, die Vorschriften über die Rücklagen der Krankenkassen und der Ersatzkassen den veränderten Verhältnissen anzupassen. Die Kassen sollen künftig weniger Rücklagen bereithalten als bisher. Durch die neue Zweckbestimmung der Rücklagen als Schwankungsreserve werden die Kassen in ihrer Finanzierung flexibler.
Die bisherigen Rücklagebestimmungen sind überholt. So hatten die Kassen in den vergangenen Jahren, um ihre Rücklagen aufzufüllen, teilweise höhere Beiträge erheben müssen, als sie zur Dek-kung der laufenden Ausgaben benötigten. Deshalb hat auch der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages bei der Erörterung des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes darauf hingewiesen, eine Neuregelung der Rücklagebestimmungen der Krankenversicherung sei erforderlich.
Der Gesetzentwurf sieht vor, daß die Höhe der Rücklage von der Selbstverwaltung bestimmt wird und zwischen einer halben und einer ganzen Monatsausgabe betragen soll. Damit wird den Besonderheiten der einzelnen Kassen Rechnung getragen und der Selbstverwaltung der erforderliche Spielraum eingeräumt. Die neuen Rücklagebestimmungen sollen auch dazu beitragen, die bisher schon erreichte Beitragsstabilität zu sichern. Für die Durchführung der Aufgaben der Krankenversicherung nicht erforderliche Kapitalansammlungen werden vermieden.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht vor, daß die .Krankenkassen selbst — nicht, wie nach bisherigem Recht, die Landesversiche-
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Parl. Staatssekretär Buschfort
rungsanstalten — ihre Rücklagen verwalten. Es ist nämlich nicht einzusehen, daß die Krankenkassen nicht in der Lage sein sollen, die Rücklage selbst zu verwalten. Sie verwalten doch die viel größeren sonstigen Mittel zur Durchführung der Krankenversicherung ohne Schwierigkeiten. Die Mittel der Krankenversicherung sollen von den Trägern der Krankenversicherung ohne Ausnahme selbst verwaltet werden.
Es ist allerdings möglich, daß z. B. bei Arbeitskämpfen in einzelnen Wirtschaftszweigen finanzielle Engpässe insbesondere bei Betriebskrankenkassen entstehen. Möglicherweise könnte dann die von der Krankenkasse verwaltete Rücklage nicht ausreichen, um Liquiditätsschwierigkeiten zu beheben. Hierfür bietet sich die Schaffung einer Gesamtrücklage an. Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, daß durch Satzungsbestimmungen der Landesverbände ein Teil der Rücklagen der Mitgliedskassen zu einer Gesamtrücklage zusammengefaßt werden kann. Aus dieser Gesamtrücklage sollen in Not geratene Kassen die Möglichkeit erhalten, nicht nur über einen Betrag in Höhe ihres Rücklageguthabens zu verfügen, sondern darüber hinaus ein Darlehen aus der Gesamtrücklage in Anspruch zu nehmen.
Die Neuregelung der Rücklagevorschriften macht es auch erforderlich, die weiteren Vermögensteile der Krankenkassen — Betriebsmittel und Verwaltungsvermögen — gesetzlich klar voneinander zu trennen und auf das notwendige Maß zu begrenzen. Durch Änderung beitragsrechtlicher Vorschriften wird die Beitragsgestaltung enger mit der Haushaltsplanung verbunden. Die Beiträge sollen so festgesetzt werden, daß die zu erwartenden Einnahmen mit den Verpflichtungen nach dem Haushaltsplan übereinstimmen und für ein ganzes Haushaltsjahr ausreichen. Es soll grundsätzlich vermieden werden, daß die Beitragssätze während eines Haushaltsjahres verändert werden.
Das schließt allerdings nicht aus, daß die Krankenkassen in Ausnahmefällen auch während des Haushaltsjahres die Beiträge verändern können, wenn dies zur Sicherstellung ihrer Aufgaben erforderlich ist.
Der Gesetzentwurf sieht über diesen Finanzierungskomplex hinaus die Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung vor, die infolge der Rechtsentwicklung in den letzten Jahren überholt sind. So werden die unständig Beschäftigten grundsätzlich den in ständigen Arbeitsverhältnissen Beschäftigten in der Krankenversicherung gleichgestellt. Durch Änderung der Kassenzuständigkeit für behinderte Jugendliche in Berufsbildungswerken werden die außergewöhnlichen Belastungen der wenigen bisher zuständigen Krankenkassen auf eine Vielzahl von Krankenkassen verteilt.
Einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folgend, soll die Umlage zum Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen nach dem Lohnfortzahlungsgesetz bei Betrieben mit Kurzarbeit nicht mehr nach dem Vollohn, sondern nach dem tatsächlich erzielten Arbeitsentgelt berechnet werden.
Auch der krankenversicherungsrechtliche Schutz der im Bundesgebiet eintreffenden Aussiedler wird verbessert.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß der vorliegende Gesetzentwurf bisher weitgehend positiv aufgenommen worden ist. So hat insbesondere auch der Bundesrat im ersten Durchgang dem Entwurf in seinen wesentlichen Teilen einmütig zugestimmt. Es wäre wünschenswert, wenn die mit dem Gesetzentwurf angestrebten Ziele so schnell wie möglich erreicht werden.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gesetzes über die Verwaltung der Mittel der Träger der Krankenversicherung vorgelegt. Darin nimmt sie einmal eine klarere und stärkere Abgrenzung des Vermögens der Versicherungsträger als bisher vor. Sie schreibt Betriebsmittelrücklagen und Verwaltungsvermögen fest. Hierbei werden Mindestgrenzen, aber auch Obergrenzen gebildet, um zum einen die notwendige Liquidität bei den Krankenkassen zu gewährleisten, zum anderen aber auch um unnötige Kapitalansammlungen zu vermeiden, so wie es die Bundesregierung im Gesetzesvorblatt ausdrückt.Wenn man nun die Finanzaufstellung im Gesetzentwurf etwas näher betrachtet, so zeigt die Finanzlage der Krankenkassen 1977, daß man sicherlich nicht feststellen kann, daß die Krankenkassen damals Ansammlungsstellen von unnötig hohen Kapitalien waren. Während die durchschnittlichen monatlichen Ausgaben aller Krankenkassen 1977 bei 5,8 Milliarden DM lagen, betrug ihr Rücklagevermögen 1977 4,6 Milliarden DM, und die Betriebsmittel lagen bei 5,2 Milliarden DM. Diese Beträge waren noch deutlich unterhalb der im Gesetzentwurf angegebenen Obergrenzen gelegen. Diese Obergrenzen hätten nämlich Rücklagen bis zu 5,8 Milliarden DM und Betriebsmittel bis zu 8,7 Milliarden DM zugelassen. Ende 1977 waren die Rücklagen etwas angestiegen, so daß die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf jetzt schreiben konnte, daß sechs Siebtel aller Krankenkassen über dem Mindestrücklagensoll von einer halben Monatsausgabe lagen. Man kann davon ausgehen, daß 1978 und wahrscheinlich auch 1979 — wenn hier auch etwas geringer — ein weiterer Anstieg der Rücklagen bei den Krankenkassen eintrat. Dafür spricht auch die Beitragssatzgestaltung in diesen beiden Jahren.Für das kommende Jahr wird damit gerechnet, daß ein Abbau der Rücklagen eintreten wird, nicht nur durch die Rücklagenvorschriften dieses neuen Gesetzes. So wird man im Wahljahr 1980 sicherlich von Beitragserhöhungen bei den Krankenkassen wenig hören. Dies würde auch zu sehr stören. Jedoch ist bei einer Abschmelzung der Rücklagen bis
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Dr. Becker
in die Nähe des Mindestsolls, wie es die Bundesregierung wünscht, nachher die Gefahr um so größer, daß dann 1981 bei einer nur geringfügigen Unterschreitung des Rücklagenmindestsolls die Maschinerie der Beitragssatzerhöhungen bei den Krankenkassen auf breiter Front mit dem ganzen Apparat des Verwaltungsaufwandes wegen nur 0,1 Prozentpunkten in die Wege geleitet werden muß. Hier sollten wir uns vielleicht im Ausschuß eine etwas flexiblere Lösung einfallen lassen.Das Hauptziel dieses Gesetzentwurfes scheint wohl darin zu liegen, eventuell notwendige Beitragssatzerhöhungen und -veränderungen auf den Jahresanfang zu verlegen, um — wenn irgend möglich — während des laufendes Jahres Ruhe an der Beitragsfront zu haben — der Herr Staatssekretär drückte das soeben auch in seiner Rede so aus —, denn die Rücklage wird hier als Schwankungsreserve zur Stabilisierung des Beitragssatzes innerhalb des Haushaltsjahres eingeführt.Ein solcher Sachverhalt fordert aber unweigerlich bei dem Sprecher einer Opposition den Hinweis auf die „Ruhe an der Wählerfront" im kommenden Jahr heraus.Außer diesen Änderungen des bisherigen Rechts werden noch einige weitere Änderungen von Vorschriften der Reichsversicherungsordnung vorgenommen. Die bisherige Kassenzuständigkeit für behinderte Jugendliche, insbesondere in Berufsbildungswerken, hatte wegen der Größe dieser Institutionen zu übermäßigen Belastungen bei einzelnen wenigen Krankenkassen am Ort dieser Berufsbildungswerke geführt. Hier wird jetzt als Lösung vorgeschlagen, daß die bisher versichernde Krankenkasse bzw. die für den Wohnort zuständige Ortskrankenkasse, wahlweise auch eine Ersatzkrankenkasse Kostenträger sind bzw. bleiben. Dies ist sicherlich richtig und vernünftig.Jedoch erscheint uns hier noch eine Ergänzung insoweit erforderlich, als wir eine Übergangsbestimmung einfügen sollten. Denn bei einem Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Januar 1980 würde diese Regelung nur für alle neuen Fälle gelten. Die alten Fälle würden aber erfahrungsgemäß die Krankenkassen am Ort des Berufsbildungswerkes noch eine sehr lange Zeit belasten. Dies sollte vermieden werden.Auch sei vermerkt, daß es anscheinend im Bereich der landwirtschaftlichen Krankenkassen wegen ihrer Besonderheiten Schwierigkeiten gibt, die wir uns in den Ausschußberatungen näher ansehen müssen.Die Verbesserung des Krankenversicherungsschutzes der im Bundesgebiet eintreffenden Aussiedler und die Neuberechnung der Umlage zum Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen nach dem Lohnfortzahlungsgesetz — nicht mehr nach dem Vollohn, sondern nach dem tatsächlich erzielten Arbeitsverdienst — werden auch unsererseits begrüßt. Letztere mußte allerdings auch auf Grund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts geändert werden.Die Regelungen über die Krankenversicherung der unständig Beschäftigten, die denen der sonstigen Beschäftigten angepaßt werden, sind sicherlich ebenfalls notwendig, wenn auch nicht verkannt werden darf, daß dies für eine Reihe von öffentlichen Betrieben mit Mehrkosten verbunden sein wird.Meine Fraktion stimmt der Überweisung des Gesetzentwurfes an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu und ist bereit, an einer zügigen Beratung mitzuwirken um das Gesetz alsbald auf den Weg zu bringen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über die Verwaltung der Mittel der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, das wir hier heute in erster Lesung beraten, ist nur auf den ersten Blick ein Gesetz, das ausschließlich verwaltungstechnische Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung regelt. Herr Kollege Dr. Bekker hat ja wahlpolitische Gesichtspunkte gewittert; ich würde es bei der Feststellung bewenden lassen, daß es hier durchaus auch um politische Auswirkungen dieses Gesetzentwurfes geht.
Ohne hier auf alle Einzelheiten des Entwurfs einzugehen — dies wird sicherlich in der erforderlichen Gründlichkeit während der Ausschußberatungen geschehen können und müssen —, möchte ich für meine Fraktion auf vier Kernpunkte des Gesetzes eingehen.
Erstens begrüßen wir es, daß künftig das Kassenvermögen klar in Betriebsmittel, in Rücklagen und Verwaltungsvermögen gegliedert wird. Damit wird die Übersichtlichkeit und Klarheit in diesem Bereich erhöht. Zu den Wesensmerkmalen gut geführter Betriebe gehört es sowieso schon, daß die Anlagearten des Vermögens klar gegliedert sind. Nun sind sicherlich Krankenkassen mit Betrieben nur begrenzt vergleichbar, aber ich meine, da, wo es sinnvoll ist, sollte man geeignete Kriterien und Begriffe aus dem Wirtschaftsleben übernehmen.
Zweitens begrüßen wir es, daß der Gesetzentwurf die ständige Zahlungsfähigkeit der Krankenkassen sichern will. Das Vorhandensein ausreichender Liquidität ist für die wirtschaftliche Kassenführung von erheblicher Bedeutung. Liquiditätsengpässe führen zwangsläufig zu Mehrkosten, weil sie durch Betriebsmittelkredite überbrückt werden müssen. Das kostet Zinsen und belastet mittelbar die Beitragszahler.
Wir begrüßen es drittens, daß die Blockierung von Finanzmitteln in den Rücklagen in Zukunft verhindert werden soll. Überflüssige Liquidität ist angesammeltes totes Kapital und damit wirtschaftlich falsch. Überhöhte Rücklagen sind weder ein Zeichen von Sparsamkeit noch von finanzieller Solidität, sondern von wirtschaftlicher Unvernunft.
— Die Solidität einer Krankenkasse, Herr Kollege Müller, hängt nicht von der Höhe ihrer Rückla-
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Egert
gen ab, sondern von einem vernünftig gestalteten Einnahmen- und Ausgabenverhältnis.
Viertens begrüßen wir es, daß den gesetzlich vorgeschriebenen Kassenrücklagen nunmehr die Aufgabe einer Schwankungsreserve zugewiesen werden soll. Die Kassen sollen sie künftig einsetzen, um während eines Haushaltsjahres Beitragssatzveränderungen zu verhindern. Wir sehen darin einen wichtigen Fortschritt, der sowohl den versicherten Arbeitnehmern, den Beitragszahlern, als auch den Unternehmungen ein längerfristiges Kalkulieren und Planen ihrer Ausgaben und Kosten möglich macht.
Wenn ich diese vier Schwerpunkte für meine Fraktion noch einmal besonders hervorgehoben habe, so deshalb, weil wir mit diesem Gesetzentwurf ein doppeltes Ziel erreichen können.
Die finanzwirtschaftliche Bewegungsfreiheit ist für die Unabhängigkeit und für die Entscheidungsmöglichkeit der Selbstverwaltung von wesentlicher Bedeutung. Wir verhelfen den Selbstverwaltungen der Kassen auch im finanzwirtschaftlichen Bereich zu mehr Unabhängigkeit. Dies stärkt die Selbstverwaltung. Wir reden also nicht nur an Sonn- und Feiertagen von der Stärkung der Selbstverwaltung, sondern wir tragen dazu bei, daß sie auch im Alltag praktiziert werden kann. Dies ist der Punkt, an dem wir uns gern von der Opposition unterscheiden.
Zum zweiten leistet der Gesetzgeber mit diesem Gesetz auch verwaltungstechnisch einen Beitrag, Kosten zu stabilisieren. Zweifelsfrei wird der Entwurf zur Folge haben, daß bisher in den Rücklagen festgelegte Finanzmittel nunmehr frei werden.
Herr Kollege Dr. Becker hat uns hier mit Zahlen beeindruckt. Ich will mich an den Spekulationen über die Höhe der frei werdenden Mittel nicht beteiligen; denn die Gelehrten streiten seit langem, wieviel das sein wird. Fest steht, Herr Kollege Becker: Es wird ein erkleckliches Sümmchen sein, insgesamt ein Betrag, der sich stabilisierend auf die Beiträge auswirken kann.
Ich würde nun nicht hingehen und sagen, dies sei, bezogen auf den Wahltag, ein schlechter Vorgang, sondern ich finde, daß das, was den Beitragszahlern und Versicherten zugute kommt, durchaus unser gemeinsames Interesse finden sollte. Dies ist kein vordergründiger, sondern ein notwendiger Vorgang, der doch vor dem Hintergrund der sich erneut abzeichnenden Kostendiskussion sehr wichtig ist. Das muß doch ein gemeinsames Interesse sein. Wir sollten uns also hier bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs nicht mit vorwurfsvollem Fingerzeigen wechselseitig behindern,
Sehen wir uns doch einmal das erste Halbjahr 1979 an! Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen ist in wichtigen Bereichen schon über die Empfehlungen der Konzertierten Aktion hinausgegangen. Sicherlich ist es richtig, daß wir erst nach Ablauf des Gesamtjahres Rückschlüsse ziehen können und daß es verfrüht wäre, gegenwärtig schon zu sagen: Das läuft aus dem Ruder. — Aber es besteht neben den Chancen, die Entwicklung in den Griff zu bekommen, auch Anlaß, die gefahrenreiche Entwicklung sorgfältig zu beobachten. Wir hören die warnenden Stimmen der Ortskrankenkassen, und diese nehmen wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, sehr ernst. Wir werden uns also an Bestrebungen nicht beteiligen, die diese gefahrenreiche Entwicklung herunterspielen, etwa nach dem Motto, es sei doch nicht so schlimm, wenn die Kostenentwicklung ein halbes oder ganzes Prozent über die Empfehlungen der Konzertierten Aktion hinausgeht. An einer so leichtfertigen und verharmlosenden Argumentation können wir uns als SPD-Fraktion nicht beteiligen, im Gegenteil, wir müssen ihr entgegentreten, weil sie dazu beiträgt, die Begriffe zu verwirren und die Tatsachen zu verdrehen.
Ich will dies begründen: Die Empfehlungen der Konzertierten Aktion geben Höchstgrenzen für die Steigerungsraten an, sie geben also an, was gerade noch tolerierbar ist. Wer also jetzt so argumentiert, als seien diese Empfehlungsdaten gleichsam die Norm, die in jedem Falle erreicht werden müsse, verfälscht die Aussage und setzt sich in Widerspruch zum Ziel des Kostendämpfungsgesetzes, das ja schließlich in diesem Hause beschlossen worden ist. Wenn aber die Empfehlungen angeben, was gerade noch toleriert werden kann, so ist ganz eindeutig, daß das, was über den Empfehlungen liegt, nicht mehr toleriert werden kann. Wir werden nicht zulassen, daß daran, mit welchen Relativierungen auch immer, herumgedeutelt wird. Wenn die Grenzen des gerade noch Tragbaren überschritten werden, auch nur um ein halbes oder ein ganzes Prozent, dann wird die Entwicklung eben untragbar und sollte mit Bemerkungen wie „Ist ja nicht ganz so schlimm" nicht verharmlost werden. Es geht da um Millionenbeträge, es geht um die Geldbeutel der Versicherten und Beitragszahler. Dies sollten wir uns gemeinsam immer wieder vor Augen halten.
Lassen Sie mich meinen Beitrag mit einer Bitte an die Kassen, die diesen Gesetzentwurf insgesamt unterstützen, beenden. Sie sind zur Zeit dabei, ihre Haushaltspläne für 1980 aufzustellen. Wir wollen in den Ausschußarbeiten alles daransetzen, daß wir den Gesetzentwurf zügig beraten und fertig werden, bevor die Haushaltspläne der Kassen von den Selbstverwaltungsgremien verabschiedet werden. Sollte uns dies nicht gelingen — die Zeit ist äußerst knapp —, so bitten wir darum, die Bestimmungen dieses Gesetzes, das am 1. Januar 1980 in Kraft treten wird, bei diesen Beratungen bereits im Vorgriff zu berücksichtigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine politi-
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Schmidt
schen Freunde und ich waren der Auffassung, daß dieser von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf so selbstverständlich ist, daß eine große Debatte in diesem Hause nicht erforderlich sein würde, daß vielmehr — und hier stimme ich dem Kollegen Becker zu — eine rasche Beratung und Verabschiedung im Ausschuß möglich sein würde. Ich habe aber Verständis dafür, Herr Kollege Becker, daß Sie Gelegenheit genommen haben — ich darf das von dieser Stelle aus erwähnen —, an Ihrem Geburtstag hierzu vor dem Plenum zu sprechen.
Herr Kollege Becker, lassen Sie mich vorausschicken, Sie haben im Vergleich zum Kollegen Höpfinger — er ist vorsichtshalber nicht anwesend —
in abgemilderter Form Stellung geonmmen. Er hat dieses Gesetz sozusagen verdonnert, hat von einer bösen Angelegenheit, einem Eingriff in die Selbstverwaltung und was weiß ich gesprochen. Sie, Herr Kollege Becker, haben das dankenswerterweise etwas relativiert. Ich nehme an, daß auch der Kollege Höpfinger das Gesetz inzwischen gelesen hat und deshalb seine damalige Kritik nicht mehr aufrechterhält, so daß wir im Ausschuß zu guten gemeinsamen Beratungen kommen.Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten begrüßen es sehr, daß die Bundesregierung dieses Gesetz, ich sage bewußt: endlich vorgelegt hat. Wir hätten es noch mehr begrüßt, wenn es sehr bald nach den Entscheidungen in diesem Hause zur Lohnfortzahlung — Sie wissen alle, wir waren etwas anderer Meinung als die damalige Große Koalition — vorgelegen hätte. Was im Bereich der Rücklagenbildung der Krankenversicherungen bis heute gilt, ist unter dem Gesichtspunkt der damaligen Lohnfortzahlungsregelung zu sehen, die noch keine Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber vorsah. Insoweit war es längst überfällig, eine Lösung für die Rücklagenbildung zu finden. Wir begrüßen dankbar, daß die Bundesregierung eine entsprechende Vorlage gemacht hat.Wir begrüßen darüber hinaus sehr, daß es in dem Zusammenhang möglich ist, den Krankenkassen für die Beitragsgestaltung eine Stabilisierungshilfe zu geben, die jährliche Anpassungen ermöglicht. Denn für keine Krankenkasse und für keinen Beitragszahler ist es sehr schön, nie genau zu wissen, ob nicht unter dem Jahr wieder einmal etwas passiert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hasinger?
Bitte.
Herr Schmidt , können Sie sich vorstellen, daß im Zug der Beratung dieses Gesetzes auch die längst überfällige
Frage des Beitragseinzugs, insbesondere des ungerechtfertigten Ausschlusses der Ersatzkassen vom Beitragseinzug, geregelt wird?
Ich kann mir vorstellen, daß es möglich ist.
Ich wiederhole: Ich begrüße sehr, daß hier eine Beitragsstabilisierung für Jahresbeiträge — wenn ich so sagen darf — möglich ist.
— Auch für Ersatzkassen! Natürlich, mein lieber Kollege Glombig.
Wir begrüßen vor allem aber — und dies sollte die Opposition zur Kenntnis nehmen, wenn ich so an bestimmte Diskussionen im Rahmen des Kostendämpfungsgesetzes denke —, daß dieser Gesetzentwurf wieder ein Stück mehr Selbstverwaltung und nicht weniger Selbstverwaltung ist, was der Kollege Höpfinger seinerzeit behauptet hat. Es ist ein Stück mehr Selbstverwaltung. Denn die Selbstverwaltung kann über die Rücklage, die auf einen halben Monat festgelegt ist, aber auch einen Monat festgelegt sein kann, und über anderes frei entscheiden und ist nicht mehr an andere in der bisherigen Form gebunden.
— Herr Kollege Becker, nicht eingeengter! Sie waren ja noch nicht in diesem Hause, als wir uns über die Lohnfortzahlung unterhielten. Das war eine ganz andere Rücklagensituation. Aber Sie sind ja nun Freiberufler, wenn ich das so sagen darf. Sie dürfen ja auch ein bißchen davon ausgehen, daß Rücklagen eigentlich nur für das da sind, was notwendig ist, und nicht etwa im Tresor irgendwo schmoren sollen. Wenn man durch die Lohnfortzahlung nun einmal einen Teil der Rücklagennotwendigkeiten nicht mehr hat, sollte man diese Verpflichtungen auflösen. Ich glaube, da sind wir uns einig. Also kann man nicht von „eingeengt" reden, sondern kann man nur davon reden:
Es wird das, was sich aus dem Lohnfortzahlungsgesetz eigentlich selbstverständlich ergab, heute nachvollzogen. Wir hätten es gerne eher gehabt. Es wird mit diesem Gesetz, das wir beraten, nachvollzogen.
Wir begrüßen es auch, daß gewisse Ungleichgewichte in der Belastung bezüglich des behinderten Kindes durch einen Ausgleich erleichtert werden, weil dies eine Stärkung des von uns hier immer wieder betonten gegliederten Systems unserer Krankenversicherung ist: daß ungerechte einseitige Belastungen in einem gewissen Maß ausgeglichen werden müssen, um die Solidarität und die Gliederung zu erhalten. Deshalb halten wir diesen Punkt
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Schmidt
für sehr bedeutsam zur Festigung des gegliederten Systems.
Wir begrüßen darüber hinaus — und ich persönlich begrüße es besonders —, daß bezüglich der Ausgleichsumlage im Rahmen der Lohnfortzahlung ein neuer Berechnungsmaßstab bei Kurzarbeit eingeführt wurde. Ich begrüße das deshalb so sehr, weil ich damals einsam im zuständigen Ausschuß stand, als ich gegen die Große Koalition sagte: Man kann ja nicht einen Teilzeitarbeiter, einen Kurzarbeiter einfach wie eine Vollarbeitskraft rechnen, sondern man muß das vernünftiger gestalten. Dies geschieht hier, indem man auf Arbeitsentgelt und nicht mehr einfach auf die Kopfzahl der Arbeitnehmer ausgeht. Dies ist ein Stück späte Rechtfertigung dessen, was wir Freien Demokraten damals schon für richtig hielten und wofür ich mich schon damals eingesetzt habe.
Insgesamt kann ich nur hoffen und bitten — und hier schließe ich mich dem Kollegen Egert an —, daß wir im Ausschuß die Beratung dieses Gesetzes sehr schnell vornehmen, damit die Krankenkassen sehr bald wissen, wie sie ihre Beiträge für 1980 gestalten müssen. Ich gehe davon aus: Sie brauchen dann die Beiträge nicht zu erhöhen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 8/3126 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Bundes-TierärzteOrdnung
— Drucksache 8/3055 —
Interfraktionell ist eine Aussprache mit Kurzbeiträgen vereinbart worden. Zur Einbringung wird das Wort nicht gewünscht. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hammans.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur ersten Lesung genügt in der Tat eine kurze Anmerkung.
MIL
Die CDU/CSU-Opposition begrüßt diesen Gesetzentwurf. Das Gesetz wird uns Europa einen kleinen Schritt näherbringen. So soll nunmehr für die Tierärzte das freie Niederlassungsrecht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft durchgesetzt werden. Nach dem Beschluß des Bundesrates vom 6. Juli ergeben sich gegen den Gesetzentwurf keine Einwendungen. Allerdings bleibt die Bundesregierung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, aufgefordert, nunmehr die sich aus dieser Änderung ergebenden Konsequenzen für die Approbationsordnung der Tierärzte zu verfolgen und eine entsprechende Änderung vorzulegen. Wir werden das in den Ausschußberatungen sicher noch im einzelnen sehen.
Besonders bemerkenswert scheint mir in diesem Gesetzentwurf allerdings zu sein, daß es europäischen Gemeinschaftsgepflogenheiten gemäß nicht erforderlich ist, daß die Tierärzte aus dem europäischen Bereich, die sich in der Bundesrepublik betätigen wollen, die deutsche Sprache beherrschen müssen. Nicht einmal Herr Stern berichtet, wie Tiere reagieren, wenn sie nicht in der Landessprache behandelt werden. Aber, Scherz beiseite, es ist in der Tat widersprüchlich, wenn einerseits keine Deutschkenntnisse gefordert werden, daß es andererseits aber in der Erklärung des Rates anläßlich der Verabschiedung der Richtlinien im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 23. Dezember 1978 heißt:
Unbenommen bleibt den zuständigen Behörden auch die Möglichkeit, Tierärzten, insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten der EG, die Durchführung der Schlachttier- und Fleischbeschau nur dann zu übertragen, wenn der Tierarzt in einem Fachgespräch gegenüber der zuständigen Behörde nachgewiesen hat, daß er mit den einschlägigen Rechtsvorschriften vertraut ist.
Ich möchte gern denjenigen sehen, der das kann, ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein. Im Gegenteil, ich bin sogar der Meinung, daß ein Tierarzt nicht nur der deutschen Sprache mächtig sein sollte, sondern in einer Landpraxis auch den ortsüblichen Dialekt beherrschen müßte.
Herr Präsident, gerade weil ich hier an dieser Stelle schon oft unter Zeitdruck reden mußte, andererseits aber auch für diesen Tagesordnungspunkt gilt, was Herr Schmidt für den Tagesordnungspunkt 13 angeführt hat, beantrage ich für meine nächste Rede einen Gutschein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neumann .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich genauso kurz wie mein Vorredner fassen. In der Tat handelt es sich hier um ein unproblematisches Gesetz. Wir füllen nur eine EG-Richtlinie aus. Wir wollen mit dem Gesetz erreichen, daß die Diplome der anderen Länder innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bei uns genauso wie deutsche Diplome in den anderen Ländern der EG anerkannt werden, soweit es die Tierärzte anbelangt, und wir wollen erreichen, daß geregelt wird, wie es ist, wenn Tierärzte aus anderen Ländern in Deutschland Dienstleistungen erbringen. Es ist sozusagen nur eine verwaltungsmäßige Ausfüllung einer EG-Richtlinie, so daß es keinen Streit zwischen den Fraktionen
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Neumann
geben wird, wie dieses Gesetz zu handhaben ist. Wir haben praktisch nur juristisch zu überprüfen, ob wir in dem Gesetz alle Voraussetzungen erfüllen, die die EG-Richtlinie fordert. Das ist in dem Gesetzentwurf der Fall.Da Sie, Herr Dr. Hammans, die Frage der Sprachkenntnis angesprochen haben, darf ich darauf hinweisen, daß die Sprachkenntnis nach dem EWG-Vertrag nicht zur Voraussetzung gemacht werden kann. Wir sind also juristisch daran gebunden, bei allen Bedenken, die Sie haben und die ich auch verstehe. Sie haben ja auch nicht gefordert, daß die Tierärzte eventuell auch noch die Sprache der Tiere verstehen sollten,
sondern sich auf die Kenntnis der Sprache der Region beschränkt.Wenn also Redebeiträge zu diesem Thema in der ersten Lesung überhaupt einen Sinn haben, so nur den, um darzustellen, wie weit wir bei der europäischen Einigung sind und wie weit wir uns bemühen, im Bereich der Heilberufe nach den Ärzten und Krankenschwestern nun auch die Tierärzte hinsichtlich der Freizügigkeit und hinsichtlich der Möglichkeit, freie Dienstleistungen überall in den europäischen Ländern zu erbringen, voll gleichzustellen.
Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es gehört zu den ganz erfreulichen Tagesereignissen, wenn wir hier einen Gesetzentwurf haben, bei dem die sonst so strenge und kritische Länderkammer keine Anmerkungen, keine Wünsche anzumelden hat. Das bedeutet, daß hier eben doch gute Arbeit geleistet wurde, aber gute Arbeit nicht vom Parlament, sondern vorneweg schon von den Regierungen. Denn dieser glatte erste Durchgang im Bundesrat hat mit der besonderen Rolle zu tun, in die der Bundestag wie der Bundesrat bei EG-Vorlagen gedrängt sind. Wir transformieren nämlich nur noch das, was die Regierungen im Rat ausgehandelt haben. Diese EG- Richtlinien werden wir in innerdeutsches Recht umsetzen. Im Grunde genommen spielt das Parlament mehr oder weniger die Rolle eines Gesetzgebungsnotars, der nur nachvollzieht, was die Regierungen schon an europarechtlichen Normensetzungen vollzogen haben.
Man kann dies als Parlamentarier beklagen oder auch nicht. Bewußt bleiben sollte uns freilich diese Umkehr der Gewichte zwischen Regierung und Gesetzgeber, die bei diesen vielen Transformationsgesetzen vorhanden ist. Es wird immer mehr Transformationsgesetze geben.
Das ist der Grund dafür, daß ich hier noch einmal das Wort ergriffen habe. Ich wollte deutlich machen, welche Veränderungen — von vielen draußen oft gar nicht bemerkt — in der Gewichtsverlagerung sich vollziehen.
Aber diese kritischen Überlegungen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir den vorliegenden Gesetzentwurf genauso wie die CDU und die SPD voll inhaltlich begrüßen als einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Freizügigkeit der Gesundheitsberufe in der Europäischen Gemeinschaft, als einen weiteren Schritt zu einem gemeinsamen Europa, in dem man sich zunehmend auch beruflich frei bewegen kann.
Lassen Sie mich dies an einem kleinen Beispiel aus dem tierärztlichen Bereich erläutern. Neben der Niederlassungsfreiheit wird ja nun auch etwas anderes geregelt. Nehmen wir einmal etwa einen holländischen Tierarzt, der ein holländisches Pferdegestüt betreut und nun bei einem Pferderennen in der Bundesrepublik Deutschland als tierärztlicher Betreuer tätig werden möchte. Hier soll es nun gottlob bald der Vergangenheit angehören, daß dieser Selbstverständlichkeit unterschiedliche nationale Rechtsvorschriften im Wege stehen. Der Entwurf will neben der Niederlassungsfreiheit nämlich mit seinen Vorschriften über die sogenannten Dienstleistungserbringungen auch diesen grenzüberschreitenden Berufsverkehr der Tierärzte, wenn ich das einmal so bezeichnen darf, regeln.
Meine Damen und Herren, auch die FDP spricht sich für eine zügige Behandlung des Entwurfs im Ausschuß aus.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wenn es auch noch nicht das Institut der Gutschrift gibt, so hat sich doch das gute Beispiel ausgewirkt.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 8/3055 an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung. auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
— Drucksache 8/3167 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Becker Das Wort wird nicht gewünscht.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/3167 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? • — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist einstimmig angenommen.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1979 13717
Vizepräsident Dr. von Weizsäcker
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Beratung der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksache 8/3151 —
Das Wort wird nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 8/3151 an den Ausschuß für Wirtschaft vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.