Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Amtliche Mitteilung ohne Verlesung
Der Präsident des Deutschen Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember 1977 die in der Zeit vom 20. bis 25. Juni 1979 eingegangenen EG-Vorlagen an die aus Drucksache 8/3025 ersichtlichen Ausschüsse überwiesen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten von der Heydt Freiherr von Massenbach, Dr. Langner, Pfeffermann, Dr. Becker , Dr. Möller, Landré, Schröder (Lüneburg), Lampersbach, Dr. Hornhues, Dr. Kraske, Gerster (Mainz), Milz, Krey, Feinendegen, Kolb, Dr. Sprung, Pohlmann, Dr. Zeitel, Dr. Köhler (Duisburg), Schmitz (Baesweiler), Hauser (Krefeld), Dr. Friedmann, Dreyer, Frau Will-Feld, Dr. Hoffacker, Dr. Rose, Dr. Waigel, Neuhaus, Glos, Dr. Hennig, Wohlrabe, Stommel, Stutzer, Dr. Laufs, Spilker, Dr. George, Würzbach, Dr. Voss, Pieroth, Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Pfennig, Dr. von Wartenberg, Dr. von Geldern, Vogt (Düren) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts
— Drucksache 8/2726 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Begründung gewünscht?
— Zur Begründung und Aussprache. Dann eröffne ich gleichzeitig die Aussprache.
Ich erteile das Wort Herrn Abgeordneten von der Heydt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf — Drucksache 8/2726 vom 2. April 1979 — dient der Vereinfachung des deutschen Steuerrechtes. Mit ihm wollen wir von der CDU/CSU dem Ankündigungsgerede endlich einEnde bereiten und das Parlament bitten, ein Zeichen zu setzen, einen sichtbaren Anfang zu machen.Wir beantragen die Abschaffung der kleinen Verbrauchsteuern auf Zucker und Salz, auf Leuchtmittel und Zündwaren sowie auf Spielkarten und Essigsäure. Wir beantragen die Beseitigung von sechs Bagatellsteuern, die Beseitigung von über 6000 Wörtern teils unsinnigen Gesetzestextes, die Beseitigung von über 23 000 Wörtern an Durchführungsverordnungen und über 22 000 Wörtern an teils kuriosen, teils grotesken Arbeitsanweisungen.Keine Regierungserklärung seit 1949 hat es ausgelassen, in irgendeiner Form die Steuervereinfachung anzusprechen, ja man könnte für die heutigen Steuervereinfachungsdebatten bereits Redevorlagen von Bismarck aus dem Reichstag des Kaiserreiches verwenden. Alle Vereinfachungsbestrebungen gingen bisher wie das Hornberger Schießen aus. Dabei wäre es so einfach, hier einmal einen Anfang zu setzen.Bei dieser unserer Vorlage handelt es sich meines Wissens um den ersten Gesetzentwurf, mit dem nicht zusätzliches Recht geschaffen, sondern sogar sechs Gesetze auf einen Streich abgeschafft werden sollen. Es gibt Gesetze, mit denen 30 andere Gesetze verändert worden sind. Aber soweit ich feststellen konnte, hat diesem Parlament noch kein Gesetzentwurf vorgelegen, der sechs Gesetze auf einmal verschwinden lassen will. Bei der allgemein beklagten Gesetzesflut, die natürlich auch schon den Bundeskanzler zu populären Reden veranlaßt hat, ist das der erste Hieb in das Randgestrüpp eines unübersichtlichen, oft unverständlichen und deshalb auch ungerechten Paragraphendschungels in unserem Steuerrecht. Der Zug ist in dieser Frage abgefahren. Jetzt heißt es ja oder nein sagen. Meine Freunde und ich bitten alle Fraktionen um Unterstützung dieses Gesetzentwurfes.Sie brauchen dabei keine Angst zu haben. Die Sache ist ja nicht nur populär, sie, ist sogar richtig.
Das Kabinett Brandt hatte auf Antrag des damaligen Bundesfinanzministers Alex Möller bereits im März 1971 beschlossen, genau diese sechs Bagatellsteuern abzuschaffen. Geschehen ist dann freilich leider nichts. Die Steuerreformkommission unter dem ehe-
Metadaten/Kopzeile:
13096 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
von der Heydt Freiherr von Massenbachmaligen bayerischen Finanzminister Eberhard hat ebenfalls schon 1971 u. a. empfohlen, auch diese sechs Ministeuern zu beseitigen. Die Deutsche Steuergewerkschaft tritt seit langem für die Abschaffung von Bagatellsteuern ein, und noch vehementer hat das erst jüngst wieder der Bund der Steuerzahler getan.Bundesfinanzminister Matthöfer ist „ziemlich entschlossen" — wie er sagt —, zunächst vier Bagatellsteuern zu Leibe zu rücken. Jahr für Jahr soll dann eine weitere folgen — ein offenbar langfristiges Konzept. Er könnte sich einen Ruck geben und unserem Entwurf zustimmen; er müßte nur einmal „ziemlich entschlossen" — um seine eigene Formulierung aufzunehmen — mit der SPD-Fraktion reden. Hat er dazu den Mut, oder hat er den traurigen Mut zu Ausflüchten? Wir werden das sehen.Auch die FDP ist dafür — sagt sie. Sie sagt es auf ihrem Bundesparteitag. Sagt sie es auch hier? Wohl kaum. Und wie stimmt sie dann ab? Auch das werden wir sehen. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband hat noch nicht vergessen, daß es Briefe mit Zusicherungen und nachher ein anderes Abstimmungsverhalten der FDP gegeben hat.
Die Europäische Kommission ist übrigens auch dafür. Also handeln wir doch, meine Damen und Herren! Wenn so viele bedeutende Leute und Institutionen für eine Sache sind, warum ist dann nicht schon längst etwas geschehen? Wer ist eigentlich dagegen? Wo liegen denn eigentlich die Probleme?Als erstes wird behauptet, die Abschaffung von Bagatellsteuern stelle keine Vereinfachung des Steuerrechts dar, weil diese Steuern ja durch die Verwaltung leicht zu erheben seien, weil es da jeweils nur wenige Steuerschuldner gebe. Es wird auch behauptet, hier werde eine Scheinvereinfachung angestrebt, und die viel wichtigere Vereinfachung z. B. bei der Kraftfahrzeugsteuer, bei der Grunderwerbsteuer, vor allem aber bei der Lohn- und Einkommensteuer, dem Kernstück unseres Steuerdschungels, werde dabei vergessen.Dies ist jedoch absurd, ist Blödsinn. Die Abschaffung von sechs Steuern, die überflüssig sind wie ein Kropf, muß nebenbei mit durchgeführt werden. Wir haben für die Vereinfachung der Kraftfahrzeugsteuer schon 1972 das einfache Plakettenverfahren vorgeschlagen. Wir werden Ihnen in Kürze unseren Vorschlag zur Vereinfachung der Grunderwerbsteuer vorlegen. Wir haben gegen den Kinderbetreuungsfreibetrag des Bundesfinanzministers Matthöfer und des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Böhme, dem ich von hier aus gute Besserung wünsche,
im letzten Steueränderungsgesetz gestritten, gegen einen Freibetrag, der einen Arbeitsmehraufwand von 800 Beamten in den Finanzämtern ausmacht. Das ist ein kurioser Kinderbetreuungsfreibetrag.
Wir fordern einen leistungsgerechten Lohn- und Einkommensteuertarif ohne Übermaß an Sonderregelungen, mit milder und gleichmäßiger Progression und einem familiengerechten Freibetrag.Zweitens wird eingewendet, die hier zur Debatte stehenden Verbrauchsteuern erfüllten eine unverzichtbare marktordnende Funktion. Dies ist jedoch an den Haaren herbeigezogener Unsinn. Abgesehen davon, daß es den marktwirtschaftlichen Prinzipien widerspricht, den Wettbewerb mit Hilfe von Steuern zu lenken, haben weder die Hersteller noch die Verbraucher — sie schon gar nicht — von Zucker und von Salz, von Leuchtmitteln, von Zündwaren und von Spielkarten irgendwelche Einwände gegen die Abschaffung der sie betreffenden Verbrauchsteuern geltend gemacht. Lediglich die Gäressighersteller haben angemahnt, daß sie im Vergleich zu den Herstellern synthetischen Essigs nicht benachteiligt werden dürften. Die Benachteiligung rührt von niemand anderem her als vom Staate selbst, der ja den Rohstoff für Gäressig, nämlich den Branntwein, der Branntweinsteuer unterwirft. Die Branntweinsteuer auf Essigbranntwein muß fallen.Nur am Rande sei hierzu noch angemerkt, daß der Wegfall der sechs in Frage kommenden Bagatellsteuern auch das Problem der Steuerkumulierung beseitigen würde, das ja darin besteht, daß diese sechs Verbrauchsteuern die Bemessungsgrundlage für die noch dazu anfallende Umsatzsteuer sind.Drittens wird von manchen angemahnt, der Haushalt hielte die Streichung dieser sechs Bagatellsteuern nicht aus; ein Einnahmeausfall von gut 300 Millionen DM sei nun einmal kein Pappenstiel. Es ist zwar richtig, daß 300 Millionen, für sich gesehen, ein hoher Betrag sind. Dennoch ist diese Argumentationsweise naiv oder unseriös. 300 Millionen sind ja genauso gut ein hoher Betrag für die Bürger, die in aufbringen müssen.
Andererseits handelt es sich hierbei Um eine Summe, die kleiner ist als ein Tausendstel des Gesamtsteueraufkommens, das immerhin über 12 % der rund 50 Steuerarten, die wir bisher noch auf der Bund-Länder-Ebene haben, aufgebracht wird.Das Lamento, die Staatskasse könne auf diese Einnahmen nicht verzichten, wirkt scheinheilig, wenn man bedenkt, daß es sich hier in Wahrheit nicht vor allem um eine Steuersenkung, sondern um eine Steuerbereinigung handelt, die in erster Linie die Übersichtlichkeit verbessert, indem der Verwaltungswust bei Behörden und Steuerpflichtigen etwas entrümpelt wird.
Im übrigen ist in diesem Zusammenhang noch anzumerken, daß der Nettomindereingang an Steuern lediglich bei etwa 120 Millionen DM liegen dürfte, wenn man die Kostenentlastungen und entsprechend höheren Ertragsteuern berücksichtigt. Bedenkt man dazu noch, daß die Steuern wesentlich rascher steigen als das Bruttosozialprodukt, dann ist es einfach lachhaft, wenn ernsthaft vorgetragen wird, der Haushalt könne eine solche Randbereinigung nicht verkraften.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13097
von der Heydt Freiherr von MassenbachViertens meinen manche Superschlauen, man könne die europäische Steuerharmonisierung als Argument dafür mißbrauchen, daß man angeblich zur Zeit keine kleinen Verbrauchsteuern bei uns abschaffen dürfe. Sie tragen — man sollte es kaum für möglich halten — tatsächlich vor, wir müßten diese Steuern als Verhandlungsmasse aufbewahren und ihre Beseitigung später nur gegen Konzessionen unserer europäischen Partner eintauschen. Also das sind mir schöne Europäer, die so etwas vortragen!Die Europäische Kommission hat sich bereits darauf geeinigt, auf die Dauer solle es nur noch besondere Verbrauchsteuern auf Mineralöl, Tabak, Alkohol, Bier und Wein geben; also nicht auf Zucker, nicht auf Salz, nicht auf Leuchtmittel, nicht auf Zündwaren, nicht auf Spielkarten und nicht auf Essigsäure.Fünftens und letztens hört man noch zwei Einwände, für die eigentlich die Spucke zu schade ist, um sich mit ihnen ernsthaft zu beschäftigen. Ich behandele sie nur der Vollständigkeit halber. Da wird also etwa von den einen gesagt, sechs Bagatellsteuern müßten weg, bloß um Gottes willen nicht jetzt. Wieder andere erheben ihre Stentorstimme und verkünden, alle 18 müßten verschwinden, und zwar sofort, alles andere sei ein untauglicher Versuch der Popularitätshascherei. Jedem, der Anmerkungen zur Zahl der im ersten Schritt abzuschaffenden Bagatellsteuern macht, sei gesagt: Wir haben den ersten Gesetzentwurf zur Beseitigung überflüssiger und schädlicher Ministeuern eingebracht. Wir wollen ihn durchbringen, dann kann man ja weitersehen.
Schließlich wird von den Damen der FDP gesagt, wer Bagatellsteuern abschaffen wolle wie wir, die Feuerschutzsteuer allerdings erhalten und sogar reformieren wolle wie wir, der müsse diesen angeblichen, eklatanten Widerspruch erläutern. Frau Funcke und Frau Matthäus, Sie müßten es eigentlich besser wissen. Sie müßten wissen, daß man Äpfel und Birnen nicht verwechseln darf. Es kommt nicht darauf an, wie groß eine Steuer ist, sondern vor allem, ob sie einen sinnvollen Zweck erfüllt wie die Feuerschutzsteuer
oder nicht, wie das bei den sechs Verbrauchsteuern der Fall ist.Sie behaupten immer wieder, wenn ich mich nicht sehr irre, die Steuerreformkommission habe auch die Abschaffung der Feuerschutzsteuer empfohlen. Das ist aber nicht wahr. In ihrer Schlußempfehlung sagt sie zu dieser Steuer wörtlich folgendes:
Im Hinblick auf die Notwendigkeit, einen ausreichenden Brandschutz sicherzustellen, und mit Rücksicht auf die Tatsache, daß die Erhebung der Feuerschutzsteuer bei der geringen Zahl von Steuerschuldnern die Verwaltung kaum belastet, spricht sie sich jedoch unter Zurückstellung von Bedenken für die Beibehaltung der Feuerschutzsteuer aus, solange nicht sichergestellt ist, daß ausreichende Mittel für die Brandbekämpfung in den öffentlichen Haushalten bereitgestellt werden können.Dieser Auffassung sind wir auch. Die Lage, die dort beschrieben worden ist, halten wir heute für gegeben. Die Versorgung der Freiwilligen Feuerwehren mit öffentlichen Mitteln für die Investitionen ist leider so, daß auf die Feuerschutzsteuer derzeit nicht verzichtet werden kann.Herr Huonker, Sie sagen, daß das ein Schraubensalto rückwärts ist. Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen in meine turnerischen Fähigkeiten. Mich würde dann aber interessieren, ob Sie nun eigentlich auch für die Abschaffung der Feuerschutzsteuer oder für die Nichtverabschiedung des Feuerschutzsteuergesetzes sind.
Meine Damen und Herren, sollten die Koalitionsfraktionen trotz dieser meiner Darlegungen immer noch der Ansicht sein, es sei doch bequemer, vorerst allem beim alten zu lassen, möchte ich Ihnen zum Schluß am Beispiel der Spielkartensteuer — dabei handelt es sich um die traditionsreichste Bagatellsteuer — noch einen Einblick in das gönnen, was Sie damit erhalten würden.
In der Zeit des Merkantilismus kamen in den deutschen Territorien nach französischem Vorbild Stempelabgaben, zum Teil in Verbindung mit einem staatlichen Spielkartenhandelsmonopol, auf. Dieses in Preußen 1714 anzutreffende System wurde dort 1838 durch eine reine „Stempelsteuer " ersetzt und 1867 — man höre und staune — noch verbessert. Der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 bestätigte den Spielkartenstempel als Landesabgabe. Durch Reichsgesetz vom 3. Juli 1878 auf das Reich übertragen, wurde die Abgabe im Reichsspielkartensteuergesetz vom 10. September 1919 zu einer Verbrauchsteuer erklärt, die dann 1949 auf den Bund überging. Sie sehen, diese Steuer hat eine traditionsreiche Geschichte.
— Das ist wahr.Heute sieht das im perfektionistischen Gesetzestext so aus — Herr Kühbacher, lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen —:Spielkarten im Sinne des Gesetzes sind Kartenblätter, mit denen ein Kartenspiel gespielt werden kann.
Keine Spielkarten sind Papierstücke mit Kantenmaßen von weniger als 27 mm Breite und 35 mm Länge.
Metadaten/Kopzeile:
13098 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
von der Heydt Freiherr von MassenbachDie Spielkartensteuer beträgt für jedes Kartenspiela) mit Blättern aus Papier, wenndie einzelnen Blätter bestehenaus weniger als drei Lagen 0,30 DMaus drei oder mehr Lagen 0,50 DM,b) mit Blättern aus anderen Stoffen als Papier 1,50 DM.Wie diese einzelnen Lagen zusammengefügt sind, interessiert den Zoll, der für die Eintreibung der Gelder zuständig ist, nicht so furchtbar. Für ihn zählen nur die Lagen. Wie man diese zählt, steht auch im Gesetzestext:... dadurch, daß eine Karte ins Wasser gelegt oder an einer Ecke angebrannt wird. Die Karte spaltet sich dann in die einzelnen Papierlagen.
Doch diese Methode erschien dem Fiskus auf die Dauer zu simpel. So wurde unter dem Zwischentitel „Kochprobe" im Jahre 1966 — —
— Franz Josef Strauß.
— Meine Damen und Herren, wer immer da Finanzminister gewesen sein mag — ich werde mich anschließend genau erkundigen —, spielt dabei gar keine Rolle. Aber was damals in die Durchführungsverordnung hineingeschrieben worden ist, müssen Sie für sich selbst werten. Es wurde also unter dem Zwischentitel „Kochprobe" im Jahre 1966 folgende Vorschrift in die Durchführungsbestimmungen aufgenommen:Ca. 10 mm breite Streifen einer Spielkarte werden in kochende 2 %ige Natronlauge eingehängt.
Wenn sich nach kurzer Kochdauer die Proben in einzelne Lagen getrennt haben , werden diese eine Zeitlang in einem Gefäß mit einer 1 %igen Lösung des Netzmittels „Nekal BX extra"
bei einer Temparatur von 50 ° C weiterbehandelt. Lagen, die ihrerseits aus mehreren zusammengegautscht sind, lassen sich dann nochmals in dünne Bahnen teilen.
Herr Abgeordneter von der Heydt, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen? Wenn ich Abgeordneter wäre, würde ich jetzt die Bemerkung machen: Selbst wenn einer das Gesetz auswendig lernt, kann er immer noch nicht Skat spielen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, dafür werden Sie wahrscheinlich demnächst hier Kurse einrichten müssen.
Ich komme zum Schluß. Die Bagatellverbrauchsteuern auf Zucker und Salz, Leuchtmittel und Zündwaren, Essigsäure und Spielkarten gehören nicht in die Finanzämter und Zollverwaltungen, sondern in 'das Steuermuseum auf den Michaelsberg in Siegburg. Schaffen wir sie doch bitte ab, und zwar so schnell wie möglich!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gobrecht.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die gewiß unterhaltsame Rede des Kollegen von der Heydt und die ausführliche Behandlung der chemischen oder sonstwie gearteten Zusammensetzung von Spielkarten war sicher angenehm zu hören. Ob sie allerdings dem Gewicht von Steuervereinfachungen, wie sie sich die Bürger wünschen und erhoffen, gerecht wird, bezweifle ich sehr.
Dieses Thema soll ja nicht dazu dienen, uns hier am Vormittag ein wenig aufzumuntern — es ist natürlich schön, wenn auch das möglich ist —, sondern es geht darum, deutlich zu machen, was denn der Bürger eigentlich unter dem Stichwort „Steuervereinfachung" von uns, dem Parlament, erwartet.
Ich möchte zu dem vorliegenden Gesetzentwurf kommen und sagen: Viel Lärm um nichts. Man kann das natürlich auch unfreundlicher sagen: Außen hui, innen pfui.
Über dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion, den wir hier heute behandeln sollen, steht tatsächlich: „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts". Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Da schlägt einem nämlich wirklich das Herz höher in froher Erwartung inhaltsreicher, konkreter und durchführbarer Vorschläge für eine grundlegende Vereinfachung des deutschen Steuerrechts. Und .Was steht als Lösung in diesem Gesetzentwurf? Ganze sechs kleine Steuerarten sollen abgeschafft werden, und zwar, damit es nur ja keinen Ärger mit den Stadtkämmerern und Landesfinanzministern gibt, natürlich nur Bundessteuern!
Von dem Gesamtaufkommen an Steuern in Bund und Ländern und Gemeinden von gut 300 Milliarden DM erbringen acht Steuern rund 91 %, neun weitere Steuern rund 6 % und rund 26 weitere Steuerarten die restlichen 3 %. Von diesen 26 Steuerarten, die also ganze 3 % der Steuereinnahmen ausmachen, sollen durch diesen Gesetzentwurf sechs bedeutsame Steuerarten abgeschafft werden, die, wie auch der Herr Kollege von der Heydt schon gesagt hat, rund
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 1b4. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13099
Gobrecht
ein Tausendstel der Steuereinnahmen betreffen. Ich meine, pompöser kann man mit dem Namen eines Gesetzentwurfs an diesem Thema nicht vorbeischreiben.
Am Rand bemerkt: Auch die Begründung des Gesetzentwurfs ist bezüglich der Kosten zumindest lesenswert, wenn nicht eigenartig. Zum Beispiel wird gesagt, daß der Steuerausfall, der durch die Abschaffung der sechs Steuerarten entstände, unter anderem durch die eingesparten Verwaltungskosten bei der Wirtschaft und zum anderen durch eine entsprechende Erhöhung der Ertragsteuern sich mindern werde. Man höre und staune: Zu der beabsichtigten Streichung dieser Steuerarten wird also sogleich empfohlen, man möge sie dem Gewinn einverleiben, auf jeden Fall aber die ersparten Steuern nicht an die Verbraucher und Bürger weitergeben. Auch das finde ich ganz bezeichnend für die CDU/CSU. Bei der Mentalität der CDU/CSU ist das nicht verwunderlich. Bei der Mentalität derer, die diesen Gesetzentwurf, wenn er Gesetz würde, lesen würden, ist zu erwarten, daß sie genauso verfahren würden.
— Ja, insofern ist es ehrlich. Aber von dieser Art der Steuervereinfachung hätten die Bürger und Verbraucher mit Sicherheit überhaupt nichts. Die Preise würden nicht sinken. Über die Haushaltsausfälle wollen wir lieber gar nicht reden. Für den Bürger würde alles beim alten bleiben.
Wenn es der Opposition wirklich um konkrete und gewichtige Ansätze zur Steuervereinfachung ginge, dann hätten Sie schon bei vielen Gelegenheiten seit langem eine andere Haltung einnehmen können und müssen, da alle Steuergesetze der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, wo Sie leider noch die Mehrheit haben. Wie stand es denn mit Ihrer Haltung beim Wohnraummodernisierungsgesetz, als die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ein praktikables Programm über Zuschüsse vorgelegt und Sie ein kompliziertes Steuerabschreibungsprogramm draufgesattelt haben? War das ein Beitrag zur Steuervereinfachung? — Gewiß nicht.
Warum haben Sie z. B. 1974/1975 nicht dem vereinfachten Abzug der Sonderausgaben von der Steuerschuld zugestimmt, sondern es beim gegenwärtigen komplizierten System belassen wollen? Das war gewiß auch kein Beitrag zur Steuervereinfachung.
Warum erneuern Sie ständig Ihre Forderungen nach Einführung von Kinderfreibeträgen, obwohl wir, wenn bei Ihnen auch sehr mühsam, 1975 endlich das gleiche und gerechte Kindergeld für alle eingeführt haben?
Dies führt doch dazu, daß wir solche Mißgeburten wie den Kinderbetreuungsbetrag, den Sie auch
schon erwähnt haben, vom Vermittlungsausschuß oktroyiert bekommen, wahrlich eine steuerliche Mißgeburt. Eine Steuervereinfachung ist dies mit Sicherheit auch nicht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gobrecht, wer hat denn diese „Mißgeburt" Kinderbetreuungsfreibetrag im Vermittlungsausschuß mit aller Vehemenz durchgesetzt? Wer war das?
Das ist ganz einfach zu beantworten. Ihre Forderung nach einem Kinderfreibetrag war der Ausgangspunkt für die Einführung dieses Kinderbetreuungsbetrags, weil sonst das ganze Steuerpaket gescheitert wäre, was wir den Bürgern allerdings nicht zumuten wollten. Deswegen haben wir zustimmen müssen, leider.
Ich möchte nur noch einen Punkt herausgreifen. Man könnte das verlängern, aber ich will das nicht zu lange ausdehnen. Warum haben Sie 1974/75 die Einführung von steuerlichen Ausbildungsfreibeträgen durchgeboxt, neben der Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz, und auch da für eine Doppelgleisigkeit gesorgt? Das war mit Sicherheit auch kein Beitrag zur Steuervereinfachung.Wie gesagt: Ich will die Liste dieser Sündenfälle nicht noch weiter verlängern, zumal man „zur Hoffnung berufen" bleiben möchte, daß eines Tages neben diesem untauglichen Gesetzentwurf der Oppositionsfraktionen doch eine konkrete Bereitschaft der Opposition zur Mitwirkung bei der Steuervereinfachung folgt.Die gewiß wichtige Diskussion über die Möglichkeiten der Steuervereinfachung darf nach meiner Meinung mitnichten den Eindruck erwecken, als sei dies das einzige und entscheidende Problem auf dem Gebiet der Steuern zwischen Bürger und Staat. Ich meine, die Steuervereinfachungsdiskussion darf nicht den Abbau des steuerlichen Gerechtigkeitsgefälles vernebeln, sie darf nicht den Abbau ungerechter Verteilungswirkungen im Steuerrecht behindern. Sie darf schon gar nicht als Synonym für Steuersenkungen mißverstanden werden.
Sie darf nicht — das gehört gleich dazu — die finanzielle Leistungsfähigkeit der Gemeinden, der
Metadaten/Kopzeile:
13100 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
GobrechtLänder und des Bundes beeinträchtigen. Sie darf auch schon gar nicht unerfüllbare Erwartungen und Hoffnungen beim Bürger wecken. Die Steuervereinfachungsdiskussion darf nicht so tun, als sei die Abschaffung von einer, zwei oder drei Bagatellsteuern, über die man durchaus ein Kabarett gestalten kann, der große Durchbruch zur Steuervereinfachung. Das ist dies bestimmt nicht.
Der entscheidende Ansatz muß nach meiner Meinung in den großen Gesetzen gesucht werden, dort, woher der Staat hohe Einnahmen bezieht und folglich die große Mehrheit der Bürger unmittelbar von der Kompliziertheit der Gesetzesformulierung und von den umfangreichen Formularen getroffen wird. Hier ist gewiß in erster Linie das Einkommen- und Lohnsteuerrecht zu nennen.Aber was ist denn — das wissen Sie — im Bereich des Einkommen- und Lohnsteuerrechts der entscheidende Grund für die komplizierten und schwer verständlichen Regelungen? Der Grund ist doch — wer könnte das bestreiten? — im großen und ganzen die steuerpolitisch differenzierte Betrachtung und Behandlung des einzelnen Bürgers nach seiner finanziellen Leistungsfähigkeit zumindest des Versuchs dazu. Dabei sollen auch noch soziale Gesichtspunkte und unverzichtbare gesellschaftspolitische Kriterien berücksichtigt werden.Niemand, der ernst genommen werden will, kann doch behaupten, daß dieser Zielkonflikt zwischen Steuergerechtigkeit auf der einen Seite und Steuervereinfachungen auf der anderen Seite mit Kraftsprüchen zu lösen sei, als sei es damit getan, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, und dann sei alles einfach und leicht verständlich.Man muß sich darüber im klaren sein, daß' die Schwierigkeit im Bereich des Steuerrechts gewiß nicht daher rührt, daß der Staat höhere Steuern gefordert hätte, sondern die Kompliziertheit ist durch die Forderung nach immer größerer Differenzierung einzelner Sachverhalte entstanden, durch die Forderung von allen Seiten nach Steuerentlastungen für diese Berufsgruppe, für jenen Unternehmensbereich, für diese Einkunftsart, für den Abzug jener unvermeidlichen Kosten. Immer bedeutet der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und Differenzierung in diesem Hauptbereich des deutschen Steuerrechts für den Fordernden selbstverständlich den Wunsch nach einer Steuersenkung. Stets ist die andere Seite der Medaille dann eine faktische Erhöhung für die anderen Bürger und eine weitere Komplizierung dieses Rechtsgebiets.Selbst wenn man mit vereinfachenden Pauschalierungen im Einkommensteuer- und Lohnsteuerrecht das Problem seriös anpackte, wären die damit verbundenen Steuerausfälle außerordentlich hoch, die dadurch aufgewirbelten Erwartungen der Bürger gleichwohl nicht erfüllbar.Ich meine allerdings, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß eine wirklich fühlbare Vereinfachung bei der Menge der vom Steuerzahler ständig auszufüllenden Formulare möglich sein müßte. Die Einkommensteuererklärungen und die Anträge auf Lohnsteuerjahresausgleich könnten sehr viel mehr als bisher auf einfache Grundmuster für den Hauptantrag reduziert werden, wobei für Besonderheiten mit Anlagen gearbeitet werden könnte. Wenn ich mir diese Hauptformulare anschaue, kann ich einfach nicht einsehen, warum immer noch die große Mehrheit der Arbeitnehmer, z. B. im Hauptantrag auf Lohnsteuerjahresausgleich oder im Hauptblatt der Einkommensteuererklärung, nach ausländischen Einkünften im Zusammenhang mit Doppelbesteuerungsabkommen, nach Verlustabzügen im Rahmen des Auslandsinvestitionsgesetzes oder nach Beteiligungen im Sinne des Außensteuergesetzes befragt. wird. Dies müßte doch abschaffbar sein. Das wird sicherlich auch geschehen.Bei einer Diskussion über Steuervereinfachung sollte nicht unerwähnt bleiben, daß in der letzten Zeit einige gewichtige Änderungen, einige gewichtige Vereinfachungen Gesetz geworden sind. Ich nenne die Abschaffung der Lohnsummensteuer, bei der zugleich die großen Schwierigkeiten einer grundlegenden Vereinfachung in unserem Finanzsystem, in dem Bund, Länder und Gemeinden zusammenwirken müssen und wo nicht der eine auf Kosten des anderen sozusagen mit der Faust auf den Tisch schlagen darf, deutlich geworden sind. Ich nenne die Erhöhung der Freibeträge bei der Gewerbesteuer, die inzwischen dazu geführt hat, daß immerhin rund 80 °/o der Gewerbebetriebe von dieser Steuer freigestellt sind, wahrlich eine Vereinfachung, die sich sehen lassen kann. Ich nenne ferner — ich bleibe immer noch im betrieblichen Bereich — bei der Umsatzsteuer die Verminderung der Umsatzsteuervoranmeldungsfälle um immerhin 3,5 Millionen jährlich — mit Sicherheit weniger Bürokratie, mit Sicherheit Vereinfachung. Ich nenne die Verwaltungsvereinfachung bei der Kraftfahrzeugsteuer durch Umstellung auf Jahreszahlung und den Wegfall der mit der Vierteljahresoder Halbjahreszahlung bisher verbundenen Pflicht der Bürger zur Zahlung eines Aufgeldes. Es ist ferner die Umwandlung des bisherigen Steuererlasses im Zusammenhang mit Pkw für Behinderte in eine umfassende Steuerbefreiung für alle Behinderten zu nennen, die zugleich mehr Gerechtigkeit und mehr Vereinfachung brachte. Sicher ist ebenfalls die Annäherung der Fristen — wenn auch aus meiner Sicht noch nicht ganz zufriedenstellend — für die Abgabe des Lohnsteuerjahresausgleichs und der Einkommensteuererklärungen — für beide ist der Abgabetermin grundsätzlich der 30. September des Folgejahres — zu nennen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, um auf den vorliegenden Gesetzentwurf zurückzukommen
— Sie haben in bezug auf Ihren Gesetzentwurf viel Unterhaltsames geboten, aber, Herr Kollege von der Heydt, so sehr ich Sie schätze, Sie sind der Ankündigung in der Überschrift überhaupt nicht nahege-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13101
Gobrechtkommen, ein Gesetz zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts vorzulegen.
— Ich habe Ihren Zwischenruf leider nicht verstanden.Ich will aber gerne im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf auch zu Ihnen sagen: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion verschließt sich keineswegs einer Prüfung der Frage, ob „kleine" Steuern mit minimalem Aufkommen und möglicherweise hohem Verwaltungsaufwand abgeschafft werden sollten. Aber — und das will ich hinzufügen — dies ist nicht die zentrale Frage der Vereinfachung des deutschen Steuerrechts,
wie Sie es mit Ihrem Gesetzentwurf weismachen wollen.
Die Prüfung dieser Frage hat nichts mit den großen Vereinfachungserwartungen der Bürger zu tun;
denn die meisten dürften die in diesem Gesetzentwurf genannten Steuern nicht einmal dem Namen nach kennen.
Jedenfalls muß bei einer Abschaffung von Bagatellsteuern, die zugleich einen hohen Verwaltungsaufwand haben, sichergestellt werden, daß die Steuersenkung in den Preisen der bisher besteuerten Waren auch an den Verbraucher weitergegeben wird — das ist eine wichtige Voraussetzung —
und daß die Abschaffung dieser Steuern nicht etwa zu neuen gesetzlichen Bestimmungen oder Verordnungen im Bereich des Wirtschaftsrechts führen, was bisher so nebenbei die Steuergesetze erledigt haben; denn wir wollen nicht mehr, sondern weniger Bürokratie..Zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren: die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird weiterhin den Schwerpunkt ihrer Steuerpolitik in einem Abbau des steuerlichen Gerechtigkeitsgefälles in unserer Gesellschaft sehen und, um nur e i n aktuelles Beispiel zu nennen, das von mir vielleicht erwartet wird, für mehr steuerliche Gerechtigkeit bei der Einkommensbesteuerung der Landwirte und zwischen den Landwirten einerseits und allen Bürgern andererseits sorgen.
Zugleich wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion jeden Vorschlag für Steuervereinfachung im Bereich der großen Gesetze aufgreifen, soweit er gleichzeitig für mehr Steuergerechtigkeit sorgen hilft. Wir werden bei jeder unumgänglichen steuerlichen Änderung darauf achten, daß die Chance zu Vereinfachungen voll ausgeschöpft wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Frau 'Matthäus-Maier : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP hat vor wenigen Tagen auf ihrem Bundesparteitag in Bremen einen Beschluß zur Vereinfachung des Steuerrechts gefaßt und umfangreiche Forderungen aufgestellt. Ich darf nur einige nennen: die Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer und deren Umlegung auf die Mineralölsteuer bei gleichzeitiger Einführung einer einmaligen Zulassungsabgabe zugunsten der Gemeinden, der mittel- und langfristige Abbau der Gewerbesteuer im Rahmen der EG-Harmonisierung, den wir schon begonnen haben durch die mehrfache Erhöhung der Gewerbesteuerfreibeträge und die Abschaffung der Lohnsummensteuer, die Anhebung der Werbungskostenpauschale von 564 DM auf 936 DM und die Einführung einer verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale statt der bisherigen Kilometergeldpauschale, die Anhebung der Vorsorgepauschale von 18 auf 20 %, die Verdoppelung der 800-DM-Grenze für die Veranlagung von Arbeitnehmern bei zusammen veranlagten Ehegatten, Vereinfachung in Bagatellsachverhalten — das ist etwas anderes als die Bagatellsteuern —, im betrieblichen Bereich die Anhebung der Umsatzgrenzen für den Beginn der Buchführungspflicht und die Vereinfachung der Buchführung für kleinere und mittlere Unternehmer und Freiberufler durch Schaffung von kostenorientierten Betriebsausgabenpauschalen. Dazu kommen Vorschläge mittelfristiger Art, z. B. die nach unserer Ansicht erforderliche Zusammenfassung der Transferleistungen wie BAföG und Kindergeld beim Finanzamt. Wir bedauern sehr, daß das Kindergeld heute über die Arbeitsämter ausgezahlt wird und damit eine doppelgleisige Verwaltungsarbeit entstanden ist.
Dieses Paket ist so umfangreich, daß es — im Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf — den Titel „Papier zur Vereinfachung des Steuerrechts" verdient hätte. Wir meinen jedenfalls, daß es Ansätze zu einer Steuervereinfachung enthält und Schritt für Schritt verwirklicht werden sollte.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich doch, da ich gerade angefangen habe, eben weitermachen, Herr von der Heydt. Sie können dann gleich einhaken.Dieses Papier enthält auch die Forderung nach Abschaffung von acht Bagatellsteuern, darunter die sechs, die hier im CDU/CSU-Entwurf auftauchen. Wir meinen, daß für die Abschaffung dieser Bega-
Metadaten/Kopzeile:
13102 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Frau Matthäus-Maiertellsteuern mehrere Gründe vorhanden sind. Zum einen glauben wir, daß durch die Abschaffung von Bagatellsteuern die große Zahl von über 50 Steuern gesenkt würde und dadurch das Gesamtsteuerrecht durchschaubarer wäre. Sehen Sie sich einmal die — wie ich finde — dankenswerterweise erstellte Broschüre des Finanzministeriums „Unsere Steuern von A bis Z" an: was da alles steht, beginnend unter A mit Aufsichtsratsteuer, über Lotterie-, Rennwett- und Sportwettsteuer bis unter Z Zündwarensteuer; dann merken Sie, daß die Abschaffung einiger Steuern — zu denen nach unserem Programm nicht nur die Bagatellsteuern gehören — schon eine Bereinigung in diesem Steuerdschungel darstellen würde.Hinzu kommt: Mit einer solchen Abschaffung würde auch eine beträchtliche Menge an Gesetzestext, nämlich an Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Durchführungserlassen verschwinden. Ich darf darauf verweisen, daß die Vorschriftensammlung der Bundesfinanzverwaltung zur Zuckersteuer beispielsweise 155 DIN-A-4-Seiten umfaßt. Dort sind u. a. die komplizierten Durchführungsbestimmungen zum Zuckersteuergesetz, die umfangreiche Zuckersteuerbefreiungsordnung, Zuckersteuervergütungsordnung und Bestimmungen für die Steueraufsicht enthalten. Außerdem sind wegen der Zuckersteuer noch umfangreiche Zollbestimmungen nötig, um die Einfuhr von Zucker und zuckerhaltigen Waren zollrechtlich zu regeln.Die Vorschriftensammlung zur Spielkartensteuer umfaßt 81 DIN-A-4-Seiten. Das Leuchtmittelsteuergesetz nennt nicht weniger als 29 verschiedene Steuersätze für unterschiedliche Leuchtkörper; ich darf der Kuriosität halber einmal kurz zitieren: „13 Pf für normale Glühlampen bis 100 Watt in Standardausführung, 30 DM für stab- und röhrenförmige Entladungslampen mit einer Leistungsaufnahme von mehr als 1000 Watt."Wenn man die Stilblüten so weitertreiben will, dann darf ich das aufgreifen, was Sie hier vorgetragen haben, Herr von der Heydt. Nach allem, was Sie über die „Kochprobe" bei der Spielkartensteuer vorgetragen haben, hat wahrscheinlich Robert Lemke bei seinem Spiel „Das heitere Beruferaten" in Zukunft Chancen, auch noch Vertreter von weiteren Berufen dort auftauchen zu sehen. Denn wahrscheinlich wird es dann auch einen Spielkartenabkocher geben. Wenn ich den öffentlichen Dienst richtig einschätze, wird das dann auch alles genau organisiert, und wahrscheinlich gibt es dann auch einen Vorgesetzten, der Oberspielkartenabkocher sein wird.Ein weiterer Grund für die Abschaffung der Bagatellsteuern ist nach unserer Ansicht, daß die Belastungstransparenz für den Bürger verbessert würde. Nun sagen viele Leute: Der Bürger kennt diese Bagatellsteuern nicht. Das ist richtig. Oft kennt er sie nicht. Aber wir meinen, daß es zur Möglichkeit eines Bürgers gehören muß, abzuschätzen: Was zahle ich tatsächlich an Steuern? Es muß ihm transparent gemacht werden, was er von dem Einkommen, das er verdient, abgibt. Dazu gehört auch, daß er weiß, daß es solche Steuern gibt und wie sie sich auswirken.Insbesondere muß man dabei berücksichtigen, daß solche Steuern zum Teil Steuern auf Steuern sind, z. B. die Mehrwertsteuer auf die gezahlten Steuern mit bezahlt wird.
— Das ist richtig. Das können Sie selbstverständlich nicht überall abbauen. Selbstverständlich ist es so, daß die Mehrwertsteuer in manchen Fällen eine Steuer auf Steuern sein muß. Doch wenn man bereit ist, die Bagatellsteuern abzuschaffen, dann könnte man in einem Teilbereich das Problem der Steuern auf Steuern zu den Akten legen.Ein weiterer Grund spricht dafür. Wenn der Bürger von der Existenz dieser Steuern erfährt, ärgert er sich. Er weiß oft nichts davon. Doch wenn er davon weiß, stellen solche Bagatellsteuern für ihn ein schlichtes Ärgernis dar.Der steuerpolitische Sprecher der SPD — Herr Huonker, ich darf mir das erlauben — hat gegen die FDP-Beschlüsse unseres Bremer Parteitages und die dort vorgesehene Abschaffung der Leuchtmittelsteuer mit der Begründung polemisiert, dies sei energiepolitisch widersinnig, weil es nach der Leuchtkraft unterschiedliche Steuersätze bei unterschiedlichen Lampen gebe. Das kann ich wohl eher als einen Beitrag zur Erheiterung auffassen — ich glaube, Sie im Grunde auch.
— Wissen Sie, Herr von der Heydt, das können wir uns erlauben.
— Nein, das können wir uns erlauben, weil die entscheidenden Punkte von uns dann gemeinsam gemacht werden. Auf diesem Gebiet — darauf komme ich gleich noch — werden wir auch einiges tun.
Herr von der Heydt hat zu Recht darauf hingewiesen, daß auch die Europäische Kommission bereits beschlossen hat, die Steuererhebung auf einige wenige Steuern zu beschränken, und zwar die Einkommen- und Lohnsteuer, die Umsatzsteuer und einige große Verbrauchsteuern wie die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer und die Alkoholsteuer. Auch ich meine, das Gegenargument, man dürfe nicht durch die Abschaffung von Bagatellsteuern bereits Vorleistungen im Hinblick auf dieses europäische Einigungsziel erbringen, kann doch genauso gut umgedreht werden mit dem Ergebnis: ein Land muß ja nun mal anfangen und mit einer Signalwirkung für andere Länder vorausgehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13103
Frau Matthäus-MaierWeiter wird vorgetragen, solche Steuern seien unsozial, weil sie eine degressive Wirkung hätten; das heißt, der Kleinverdiener müsse genausoviel Leuchtmittelsteuer oder Zündwarensteuer zahlen wie der Großverdiener. Dies ist richtig, doch halte ich dies nicht für ein schwerwiegendes Gegenargument, da es sich dabei wirklich um Pfennigbeträge handelt.Schließlich ist der Verwaltungsaufwand bei den einzelnen Bagatellsteuern höchst unterschiedlich. Zweifellos ist es nicht so, daß der Verwaltungsaufwand bei den Bagatellsteuern generell geringer ist als bei den anderen Steuern. Zum Teil ist das richtig. Deswegen haben wir auch auf unserem Bremer Parteitag gesagt, daß die Abschaffung der Bagatellsteuern sicher nicht der entscheidende Punkt bei der Steuervereinfachung ist, um es klar zu sagen, Herr von der Heydt.
— Doch! Wenn Sie über Ihren Gesetzentwurf schreiben „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts",
dann verstehe ich das so, daß dies der Kernpunkt Ihrer Absicht zur Vereinfachung ist. Sie sagen sogar: „deutsches" Steuerrecht. Sie begnügen sich also nicht mit „Steuerecht", sondern es muß das „deutsche" Steuerrecht sein. Das ist doch wohl etwas pompös!
— Sie müssen aber zugeben, Herr Häfele, daß ein anderer Titel dem Problem angemessener gewesen wäre.
Sie wissen, daß unter den vorhandenen Bagatellsteuern z. B. die Essigsäuresteuer mit 10,46 % einen sehr hohen Verwaltungsaufwand hat im Vergleich zu 0,7 % im Durchschnitt aller Verbrauchsteuern. Bei der Salzsteuer beträgt er 4,14 %. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß vom gesamten Salzabsatz überhaupt nur 3,2 % der Steuerpflicht unterliegen, während der Rest steuerfrei ist.Hinzu kommt folgendes: Wir Liberale meinen, daß es hinsichtlich der Vereinfachungswirkung nicht nur auf die Erleichterung bei der Verwaltung, sondern gerade auch auf die Erleichterung beim Steuerpflichtigen ankomme. Deshalb .fordern wir z. B. auch die Abschaffung der Wechselsteuer, die Sie hier Gott sei Dank gar nicht erst vorgesehen haben, weil sie allein fast 300 Millionen DM kostet und deshalb jetzt nicht zu finanzieren ist.Ich hoffe, Herr von der Heydt, Sie haben unser FDP-Programm genau gelesen. Unter den vielenForderungen stellen die Bagatellsteuern nur einen kleinen Punkt und — das betone ich — auch nicht den wichtigsten dar; denn es gibt sehr viel wichtigere Forderungen zur Vereinfachung des Steuerrechts, insbesondere im Bereich der Massenverfahren bei der Einkommen- und Lohnsteuer.Wir haben in unserem Programm aber auch niedergeschrieben: „Eine solide Finanzierung ist zu gewährleisten; soweit Steuervereinfachungen zwangsläufig zu Mindereinnahmen führen, sind sie aus Steuermehreinnahmen zu finanzieren, ohne die notwendige Haushaltskonsolidierung zu gefährden."
Wir meinen, es ist einfach unseriös, auf einen Schlag die Abschaffung von sechs Bagatellsteuern zu fordern. Wir sagen: Unser Gesamtprogramm kann nur Schritt für Schritt verwirklicht werden, nicht auf einmal und nicht sofort.
— Ja, das werden wir auch tun. Das werden Sie sehen. Sie werden staunen, was wir zum 1. Januar 1981 machen. Ich bin auch sicher, daß wir im Rahmen der Bagatellsteuern etwas machen werden. Ich darf darauf hinweisen, daß auch Herr Gobrecht hier klargemacht hat, daß die Forderung nach Bereinigung der Bagatellsteuern etwa bei der SPD-Fraktion keineswegs auf taube Ohren gestoßen ist; das hat er hier deutlich gesagt. Nur paßt es uns nicht, Herr von der Heydt, daß Sie den Eindruck erwecken, man könne dies sofort und auf einmal machen, ohne gleichzeitig zu sagen, daß es den Staat Geld kostet und deswegen andere Dinge nicht verwirklicht werden könnten.Ich darf an den gestrigen Nachmittag erinnern. Da hat es lange Diskussionen z. B. um die Frage des Haushalts für die Bundeswehr gegeben. Es waren doch Ihre Vertreter im Deutschen Bundestag, die den Verteidigungsminister angegriffen haben, weil er den Verteidigungshaushalt nicht genügend erhöht habe. Es waren doch Ihre Vertreter, die hier gestern umfangreiche Erhöhungsanträge gestellt haben. Auf der anderen Seite war es die FDP, die bei der Beratung des Nachtragshaushalts beantragt und im Finanzausschuß auch durchgestzt hat, daß z. B. von den Zuschüssen für die Bundesanstalt für Arbeit 500 Millionen DM qualifiziert gesperrt werden; denn wir wollen, daß in diesem Jahr die Nettokreditaufnahme geringer ist als in den letzten Jahren.
— Ja eben, Sie sagen es dauernd. Aber gleichzeitig stellen Sie hier den Antrag, auf einen Schlag Steuern mit einem Aufkommen von 310 Millionen DM abzuschaffen. Selbst wenn Sie die Ertragsteuern gegenrechnen, bleibt ein Batzen von zig Millionen DM übrig. Wir sagen: Es ist einfach unseriös und widersprüchlich, dies auf einmal zu tun. Wir sind der Ansicht, daß dies nur Schritt für Schritt gemacht werden kann.
Metadaten/Kopzeile:
13104 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Frau Matthäus-MaierDa gibt es dann Leute, die sagen: Der Staat kassiert z. B. infolge der gestiegenen Preise für Heizöl und Benzin eine höhere Mehrwertsteuer. Dazu ist aber darauf hinzuweisen, daß in diesem Jahr wegen der Situation beim Erdöl auf diesen Staat auch zusätzliche Kosten zukommen werden. Ich darf daran erinnern, daß wir schon in Aussicht gestellt haben, Heizölkostenzuschüsse für geringverdienende Mitbürger vorzusehen, wenn die Situation auf dem Heizölmarkt so bleibt. Darum werden wir nicht herumkommen. Wir werden gar nicht darum herumkommen, im Rahmen unseres Forschungshaushalts — noch viel mehr als bisher — die Erforschung von Alternativenergien und kostspielige Versuchsverfahren wie z. B. die Kohlehydrierung zu finanzieren. All das kostet viel Geld, und dafür brauchen wir die Mehreinnahmen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stutzer?
Bitte schön.
Sehr verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, können Sie uns sagen, was nach Ihrem Programm ab 1. Januar 1981 vorgesehen ist und was das kostet?
Da wir wußten, daß diese Frage von Ihnen kommen würde, haben wir dies in unserem Programm und in den entsprechenden Erläuterungen auch deutlich gesagt: Wir sind der Ansicht, daß von den Forderungen unseres umfangreichen Vereinfachungs-Programms, das insgesamt 3,6 Milliarden DM kostet, bis 1981 zwar nicht alle, aber doch mehrere verwirklicht werden können. Dazu gehört, um es klar und deutlich zu sagen, ein Teil der Bagatellsteuern. Ich will mich an dieser Selle nicht festlegen, welche und wie viele. Denn es gibt da — Sie wissen es — Probleme, Probleme z. B. bei der Essigindustrie, Probleme z. B. beim Zündwarenmonopol, so daß man darüber nachdenken muß, ob man diese beiden Steuern abschaffen kann, ob man sie nur mit Zusatzregelungen abschaffen kann oder ob man damit etwas wartet. Wir sind der Ansicht, daß z. B. im Bereich der Massenverfahren, insbesondere bei der Werbungskostenpauschale, etwas im Jahr 1981 getan werden muß. Aber wir sind auch der Ansicht — das können Sie sicher verstehen —, daß wir uns die Prioritäten in unserer Politik von Ihnen nicht vorschreiben lassen können. Stellen Sie sich vor, Sie von der Opposition kämen auf die Idee, unser ganzes Vereinfachungspapier als Gesetzesantrag im Deutschen Bundestag vorzulegen und dann zu sagen: Sehen Sie einmal, die FDP stimmt nicht zu, obwohl sie es in Bremen beschlossen hat.
Meine Damen und Herren, an diesem Beispiel sehen Sie doch selber, daß Sie uns mit dieser Argumentation nicht hereinlegen können. Wir sind der Ansicht, daß wir auch Bagatellsteuern abschaffen müssen, aber bitte nur bei solider Finanzierung. Wir glauben, daß es in der Koalition dafür ausreichende Übereinstimmung geben wird.Aber, Herr von der Heydt — Sie sprachen es selber schon an —: Wir meinen allerdings auch, daß es sehr widersprüchlich ist, wenn Sie hier sagen, Bagatellsteuern müßten abgeschafft werden, sich aber gleichzeitig bei der Feuerschutzsteuer so sperrig stellen, wie Sie es getan haben. Sie verfahren hier nach der Devise: Meine Bagatellsteuer ist eine gute, eure Bagatellsteuer ist eine schlechte; deswegen muß meine bleiben und eure abgeschafft werden. Wir meinen, konsequent ist es nur, wenn Sie auch bei der Feuerschutzsteuer Farbe bekennen und sagen: Diese Steuer ist überholt. Wenn wir sie im Moment vielleicht auch nicht abschaffen können, was wünschenswert wäre, sollten wir sie aber auf jeden Fall nicht erhöhen und nicht auch noch zu einer Bundessteuer machen.Die Widersprüchlichkeit zeigt sich auch an anderer Stelle, meine Damen und Herren: Wer hat denn zusätzliche Steuern eingeführt? Es war Franz Josef Strauß, der in seiner Amtszeit nicht nur acht Steuererhöhungen durchgeführt, sondern mit der Ergänzungsabgabe und der Exportsteuer auch noch neue Steuern eingeführt hat.Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn es nach Ihnen ginge, würde das Steuerrecht ganz erheblich verkompliziert. Ich darf daran erinnern, daß Sie der Ansicht sind, daß man in den heutigen § 7 b des Einkommensteuergesetzes eine Berücksichtigung der Kinderzahl einführen soll, was ja nichts anderes bedeutet, als daß wir zukünftig rechtlich in der Lage sein würden, Kinder abzuschreiben; eine ganz unnötige und sinnlose Verkomplizierung des Steuerrechts. Wir meinen, eine Berücksichtigung der Kinderzahl ist nur im Rahmen einer Umlegung des § 7 b auf einen direkten Zuschuß möglich, der wahlweise zu der bisherigen Regelung des § 7 b gewährt wird.
Oder: Wer hat denn dafür gesorgt, daß wir parallel zum Kindergeld und zur Bundesausbildungsförderung Ausbildungsfreibeträge bekommen?Oder: Wer hat denn jetzt im Bundesrat einen Antrag gestellt, meine Damen und Herren von der Opposition, daß z. B. für den Einbau von Notstromaggregaten eine Sonderabschreibung gewährt werden soll? Ich bin zwar mit Ihnen der Meinung, daß Ministerpräsident Stoltenberg nach dem harten Winter, gerade auch in Schleswig-Holstein, seinen Bauern für den Einbau von Notstromaggregaten einen Zuschuß gewähren sollte, damit das Land Schleswig-Holstein für zukünftige Unglücksfälle dieser Art gerüstet ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13105
Frau Matthäus-Maier— Entschuldigen Sie: Daß dies mit einer solchen unnötigen Verkomplizierung des Steuerrechts einhergehen soll, ist uns überhaupt nicht begreiflich zu machen.
Von daher bitten wir Sie, Ihren großen Worten hier im Bundestag auch konkrete Taten in den gesetzgebenden Körperschaften folgen zu lassen.
Ich darf zum Abschluß kommen. Wir sind der Meinung, daß auch die Abschaffung von Bagatellsteuern zur Steuervereinfachung gehört. Wir sind der Meinung, daß in dieser Legislaturperiode noch einige abgeschafft werden müssen, aber nicht alle auf einmal, weil dies zu teuer ist.Mein Fraktionsvorsitzender Mischnick hat vor etwa zwei Jahren dem damaligen Finanzminister Apel vorgeschlagen, er sollte doch jedes Jahr eine Bagatellsteuer abschaffen. Dies ist leider nicht geschehen.
Wir meinen, daß wir in der Zukunft nach diesem Prinzip verfahren dürften. Da wir danach einen Nachholbedarf haben, ist die Forderung der FDP:, Wir sollten mehr als eine, aber weniger als sechs abschaffen. Dies werden wir aber mit Sicherheit auch tun..
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Haehser.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Wenn der Kollege von der Heydt nicht davon gesprochen hätte, daß man mit dem Ankündigungsgerede ein Ende machen müsse, dann häte ich mir überlegt, ob ich mich überhaupt hätte zu Wort melden sollen. Aber dadurch, daß er das gesagt hat, hat er einen falschen Eindruck erweckt, nämlich den, als habe es bisher keine Steuervereinfachungen gegeben. Dies ist schlechstweg falsch. So wurde z. B. mit der Steuerreform erreicht, daß Millionen von Arbeitnehmern keine Anträge auf Lohnsteuerermäßigung stellen müssen und dennoch mehr Geld in der Tasche haben. Sie sehen, dem Bundesfinanzminister liegen vorrangig Vereinfachungen bei der Einkommensteuer und Lohnsteuer am Herzen, von der die Bürger unmittelbarer und millionenfach betroffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt hat zuletzt beisieplsweise das Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 21. Mai zur Vereinfachung beigetragen, indem es eine großzügigere Anerkennung von Kosten der doppelten Haushaltsführung ermöglicht.Die Initiatoren des vorliegenden Gesetzentwurfes meinen, daß bereits der geringe Anteil der sechs genannten Bagatellsteuern am gesamten Steueraufkommen einen Verzicht auf diese Steuern rechtfertige. So leicht, wie in diesem Entwurf die Kostenfrage genommen wird, darf man es sich, bitte sehr, nicht machen. Ich zitiere aus dem Vorblatt:Steuerausfall zirka 310 Millionen DM. Dieser Ausfall vermindert sich um die eingesparten Verwaltungskosten in der Finanzverwaltung und in der Wirtschaft sowie durch eine entsprechende Erhöhung der Ertragsteuern. Der Rest ist durch Einsparungen im Bundeshaushalt zu erwirtschaften.So mit immerhin 310 Millionen DM umzugehen, muß man als unsolide bezeichnen.
Der Bundesfinanzminister beantwortet sich die Frage nach der Abschaffung sogenannter Bagatellsteuern nicht so einfach. Die Durchforstung unseres Verbrauchsteuersystems darf nicht dazu führen, daß die Finanzkraft des Staates in einem unverantwortlichen Maße geschwächt wird. Zumindest gegenwärtig und kurzfristig hat das Ziel der konjunkturell angepaßten Haushaltsfinanzierung und -konsolidierung einen hohen Stellenwert.Die Opposition redet zwar auch immer von der notwendigen Absenkung der Neuverschuldung des Staates. Ihre Beiträge mit Reden und Anträgen erschweren aber gerade dieses Bemühen der Bundesregierung.Selbst die Abschaffung der vier kleinsten Verbrauchsteuern ist nicht unproblematisch. In der Anhörung, die das Bundesfinanzministerium am 16. April hierzu durchgeführt hat, haben gerade diejenigen, die vordergründig begünstigt würden, durchaus auch kritische, ja ablehnende Stellungnahmen abgegeben. Die Probleme liegen im Detail, weil diese kleinen Verbrauchsteuern neben der fiskalischen oft weitere Funktionen erfüllen, die den Unternehmen unmittelbar zugute kommen, sei es in Form von Qualitätskontrolle oder marktordnenden Funktionen. Das Bundesfinanzministerium wird deshalb seine Vorschläge zur Abschaffung von kleinen Steuern erst nach gründlicher Auswertung des Hearings vom 26. April vorlegen.Die Gesetzesinitiatoren meinen, daß die Beseitigung der sechs genannten Steuern auch aus Gründen der Harmonisierung des Steuerrechts in der EG erforderlich sei. Richtig hieran ist, daß es nach den Vorstellungen der EG-Kommission nur noch fünf zu hormonisierende Verbrauchsteuern geben soll. Der bereits 1972 vorgelegte Vorschlag für eine entsprechende Rahmenrichtlinie ist vom Rat bisher jedoch noch nicht behandelt worden. Die Mitgliedstaaten sehen sich eben noch nicht in der Lage, sich auf die Abschaffung bestimmter Verbrauchsteuern festzulegen. Für die Bundesrepublik
Metadaten/Kopzeile:
13106 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Parl. Staatssekretär HaehserDeutschland ist daher die Abschafffung von Verbrauchsteuern unter dem Gesichtspunkt der Steuerharmonisierung keinesfalls vordringlich, zumal sie mit ihren 13 besonderen Verbrauchsteuern in der Gemeinschaft keineswegs an der Spitze steht.Wollte man übrigens den Kommissionsvorschlag zur Richtschnur der Verbrauchsteuergesetzgebung machen, müßte man auch eine allgemeine Weinsteuer einführen.
Hiergegen sollten wir uns aber gerade unter dem Gesichtspunkt der Steuervereinfachung zur Wehr setzen. Verzeihen Sie mir, Herr Kollege Häfele, wenn ich als ein Mann aus Trier gerade auf diesen Punkt zu sprechen komme.
Denn im Gegensatz zur Schaumweinsteuer, die in der Bundesrepublik nur bei rund 100 Schaumweinherstellungsbetrieben erhoben wird, würde eine allgemeine Weinsteuer, wie sie die EG vorschlägt, die steuerliche Erfassung von über 100 000 Personen erforderlich machen. Das können wir nicht als einen sinnvollen Schritt zur Steuerharmonisierung ansehen, schon gar nicht in Richtung auf Vereinfachung.
— Danke sehr. Diese Zusammenhänge sind den gesetzgebenden Körperschaften — ich merke das an Ihrer Bemerkung — seit Jahren bekannt.Zum Schluß: Unser Steuersystem ist nicht für die Ewigkeit geschaffen. Das gilt auch für einzelne Steuerarten.
Veränderungen müssen aber gut überlegt sein. Für solche Veränderungen gibt es selbstverständlich auch im Bundesministerium der Finanzen Aufgeschlossenheit. Prüfen wir in Ruhe das Für und Wider der zahlreich vorliegenden Anregungen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/2726 an den Finanzausschuß — federführend — sowie an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung — zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Ersten Tätigkeitsberichts des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes
— Drucksache 8/2460 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
b) Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zum Schutz der Rechte des einzelnen angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung
—Drucksache 8/2928 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der erste Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist Anfang Januar 1979 fristgerecht vorgelegt worden. Er stellt die schwierige Rechtsmaterie des Datenschutzes vor allem im öffentlichen Bereich dar.Lassen Sie mich vorab eine Bemerkung zur Stellung des Bundesbeauftragten selbst machen. Sein Bericht läßt erkennen, daß die Tätigkeit des Bundesbeauftragten auf Konflikt angelegt ist. Sie vollzieht sich im Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Informationsbedürfnis und Geheimhaltungsinteresse des Bürgers. Kontroversen mit der Bundesregierung konnten nicht ausbleiben. Wir haben sie ausgeprägt im Sicherheitsbereich erlebt. Sie haben die Diskussion wiederaufleben lassen, ob die organisatorische Angliederung des Bundesbeauftragten beim Bundesminister des Innern, dessen Dienstaufsicht er untersteht, eine glückliche Lösung ist.Ob die Datenschutzkontrollinstanz grundsätzlich neugestaltet werden muß, ist heute noch nicht abschließend zu beurteilen. Das Recht des Bundesbeauftragten als eines Regierungsorgans auf uneingeschränkte Akteneinsicht sollte erhalten bleiben. Es ist aber zu erwägen, ob seine Stellung durch einen parlamentarisch besetzten Beirat gestärkt werden sollte. Diese Regelung wäre einer voreiligen Grundgesetzänderung vorzuziehen, die bei seiner Zuordnung zum Bundestag oder zum Bundesrechnungshof erforderlich würde. Bei skeptischen Bürgern darf nicht der Zweifel aufkommen, der Kontrolleur könnte von den Kontrollierten abhängen.Die erste Frage, die sich bei der Lektüre des Tätigkeitsberichts aufdrängt, lautet: Sind das Bundesdatenschutzgesetz und seine Zielsetzung vom Bürger überhaupt verstanden und angenommen worden? Man kann diese Frage nicht mit Ja beantworten. Es mangelt an echten Fällen des Mißbrauchs personenbezogener Daten. Es mangelt an breitem Interesse der Bevölkerung. Das öffentliche Problembewußtsein, das Herr Kollege Wendig schon bei der Schlußberatung im Juni 1976 als unterentwickelt beklagte, fehlt bis zur Stunde nahezu völlig.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte berichtet, daß nur wenige Auskunftsersuchen bei allen öffentli-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13107
Dr. Laufschen Stellen eingegangen sind. In der Tat waren es bei den Bundesbehörden im Jahre 1978 nur 127 Anfragen. 65 betrafen den Geschäftsbereich des Innern, davon mußte bei 51 eine Auskunftserteilung aus besonderen gesetzlichen Gründen unterbleiben. Das sind gewiß keine ermutigenden Zahlen für anfragende Bürger.Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, sind keine Beschwerden über konkrete Datenschutzverstöße vorgebracht worden. Rechtsstreitigkeiten und Strafverfahren in Sachen Datenschutzverletzungen haben einen außerordentlich hohen Seltenheitswert. Selbst die gesetzlich vorgeschriebenen millionenfachen Benachrichtigungen über die Datenspeicherung bei Auskunfteien und im Adressenhandel hatten ein verschwindend schwaches Echo.Alle diese Fakten deuten darauf hin: Das Datenbewußtsein der Bürger hat sich noch nicht entwikkelt. Die meisten Mitbürger können mit den Schlagworten vom „gläsernen Menschen" und vom „großen Bruder" nichts anfangen. Sie fragen: Wo sind die Schäden, welche die Datenfurcht der vergangenen zehn Jahre rechtfertigten? Wo sind die für jedermann einleuchtenden Konfliktfälle und aufrüttelnden Datenskandale? Es hat sie nicht gegeben, und das ist gut so, aber sie hätten das Datenbewußtsein bilden können, wenn schon die Bundesregierung nichts dazu beiträgt.
Das Datenbewußtsein breitet sich nur langsam von den Expertenzirkeln nach unten aus. Der Bürger hat weithin das Gefühl, daß er beim besten Willen die Zusammenhänge des Datenschutzrechts nicht durchschauen kann. Selbst auf den Fachtagungen der Spezialisten ringt man seit Jahren um das Verständnis der zahlreichen neu eingeführten Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe und versucht, sich in der hochkomplizierten Verweisungstechnik des Bundesdatenschutzgesetzes zurechtzufinden. Über die Interpretation wichtiger Begriffe hat sich noch immer keine herrschende Meinung herausgebildet. Was ist im Zweifel eine Datei? Wann ist ein Datenschutzbeauftragter zu bestellen? Welche Datensicherungsmaßnahmen entsprechen dem doppelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz? Wann gilt das Datenschutzgesetz, wann gelten andere gesetzliche Bestimmungen? Das sind Fragen, auf die es bis heute keine klaren Antworten gibt.Wie ein roter Faden zieht sich die Beobachtung des Bundesdatenschutzbeauftragten durch den Bericht, daß jeder dazu neigt, die Generalklauseln in seinem eigenen Interesse großzügig auszulegen. Das ist eine natürliche menschliche Neigung. Nur bleibt der Datenschutz dabei auf der Strecke. Das Gesetz wird zu Zwecken mißbraucht, für die es nicht geschaffen wurde.Bei allen interessierten und betroffenen Bürgern herrscht ein dumpfes Gefühl des Unbehagens und der Ratlosigkeit oder die unverändert hoffnungsvolle Grundeinstellung: Wer anständig lebt, hat nichts zu verbergen, und dem wird schon nichts passieren. Die große Aufgabe der Bürgerinformation über den Datenschutz ist ganz offensichtlich nicht befriedigend gelöst worden. Die Öffentlichkeitsarbeit hat bisher die Bevölkerung insgesamt nicht erreicht.Eine weitere wichtige Frage, die der Tätigkeitsbericht aufwirft, ist die der notwendigen Erweiterung der Bürgerrechte, der erforderlichen Verstärkung des Datenschutzes sowie die Bereinigung des Gesetzes, das sich in wesentlichen Punkten nicht bewährt hat. Der Bericht enthält übergreifende Erfahrungen, Kritik und erste Änderungsvorschläge. Der Bundesbeauftragte hält aber ein Urteil darüber noch für verfrüht. Die CDU/CSU widerspricht ihm hier entschieden.
Was heute als unzulänglich beklagt wird, hat die Union in Verbesserungsvorschlägen schon vor der Verabschiedung gutmachen wollen. Die CDU/CSU hat 1976 das Bundesdatenschutzgesetz abgelehnt, weil sie einen besseren Datenschutz wollte.Das geltende Gesetz ist dringend verbesserungsbedürftig. Wir stellen bereits ein deutliches Gefälle des Datenschutzes von den Ländern zum Bund hin fest. Die Ländergesetze enthalten eine Fülle von weiterreichenden Regelungen, wie Schadensersatzanspruch, Sperrecht, stärkere Stellung des Datenschutzbeauftragten oder Grundrechtsanspruch. Der Bund hinkt hinter der Entwicklung her. Selbst bei der Erarbeitung von Durchführungsbestimmungen und Verwaltungsvorschriften zur einheitlichen Gesetzesauslegung ließ die Bundesregierung die Länder vorangehen.
Die Novellierung ist überfällig, und der Bundesinnenminister handelt nicht. Wir erinnern ihn daran, daß er schon bei der Verabschiedung 1976 das Bundesdatenschutzgesetz als hart umstritten bezeichnete und meinte, eine Novellierung könne sich schon in der 8. Legislaturperiode durchaus als notwendig erweisen.Die Bundesregierung hat ihr Hauptaugenmerk auf den bereichsspezifischen Datenschutz, wie z. B. das Sozialgeheimnis, gerichtet. Dort sind die Probleme griffiger und gegenständlicher. Aber ausgereifte Lösungsvorschläge der Bundesregierung liegen bis heute noch nicht vor. Darauf wird Herr Kollege Spranger nachher eingehen. Das Wort vom „bereichsspezifischen Datensalat" hat schon die Runde gemacht. Andere Bereiche stehen an, wie Sicherheit, Gesundheit, Statistik und Wissenschaft, Kredit- und Versicherungswesen.Es fragt sich, ob das Bundesdatenschutzgesetz als Auffanggesetz mit subsidiärer Wirkung in der Folge einer konkreten bereichsspezifischen Ausgestaltung des Datenschutzes in den Hintergrund treten und seine Existenzberechtigung einbüßen könnte. Dies ist in der Tat vorauszusehen, falls die in ihm festgelegten Normen nicht der übergeordneten Orientierung dienen können.Welche übergreifende Grundsätze müssen bei einer Novellierung Eingang in das Gesetz finden? Die vom Bundesdatenschutzbeauftragten gegebenen Anregungen sind wertvoll. Wichtige Elemente ei-
Metadaten/Kopzeile:
13108 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Laufsner notwendigen Änderung des geltenden Gesetzes sind aber in seiner Übersicht nicht enthalten.Zuerst einmal geht es um die Unterrichtung des Betroffenen, insbesondere bei der Datenverarbeitung durch Behörden. Der Bürger möchte wissen, wo Daten über ihn gespeichert sind, was das für Daten sind, wohin sie weitergegeben und zu welchem Zweck sie verarbeitet werden. Behörden sollten deshalb den Bürger über die erstmalige Speicherung oder Änderung seiner Daten benachrichtigen, falls ër nicht auf eine andere Weise unterrichtet wurde.
Bei Anfragen nach bereits gespeicherten Daten sollte die Erstauskunft kostenfrei sein. Weiter darf aber die Anstandspflicht des Staates, wie der Bundesbeauftragte vor kurzem formulierte, im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz einer kostendekkenden Verwaltung nicht gehen. Die Veröffentlichung von Dateiregistern in Amtsblättern hat sich mit Sicherheit nicht bewährt. Denn wer liest schon Amtsblätter?Ein Zweites. Der moderne Sozialstaat hat einen nahezu unbegrenzten Datenhunger. Die persönlichen Lebensumstände werden immer feiner erfaßt, die privaten Verhältnisse völlig offengelegt. Die multifunktionale Arbeitsweise der Verwaltungen kann nur noch von Experten begriffen werden. Es ist ein mühseliges und wahrscheinlich vergebliches Unterfangen, jedem Bürger diese Vorgänge transparent machen zu wollen. Die Furcht des Bürgers, daß seine Daten aus ihrer eigentlichen Zweckbindung gelöst und unzulässig weiterverwendet werden, läßt sich jedoch weitgehend bannen, wenn der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der öffentlichen Informationsverarbeitung eingeführt wird. Er sollte sicherstellen, daß der Datenaustausch zwischen Behörden nur zur Erfüllung gesetzlicher, nicht auch wie bisher von nur rechtmäßigen Aufgaben zulässig ist, sofern es sich nicht um anonymisierte Daten handelt. Auch die Kriterien für die Löschung gespeicherter Daten müßten dabei präzisiert werden.Ein weiteres Anliegen ist die Regelung für freie Daten, die gegenwärtig nicht schlüssig und im Sinne des Datenschutzes nicht glücklich ist. Die listenmäßige Übermittlung von Daten muß den allgemeinen Regeln über die Zulässigkeit der Datenverarbeitung unterworfen werden. Für Name, Anschrift, akademische Grade und Rufnummern sollte jedoch klargestellt sein, daß eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange im Regelfall ausscheidet. Das Geburtsdatum sollte geschützt werden. Es ermöglicht technisch problemlos die Einführung eines Personenkennzeichens, das von diesem Hause einheitlich abgelehnt wird. Es wird allerdings zu prüfen sein, ob für die Freigabe von Jubiläumsdaten eine besondere Klausel gefunden werden kann.Weitere Merkposten sind die Schaffung eines verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruches, stärkere Betonung der Zweckbindung der Datenverarbeitung im privaten Bereich, erweiterte Befugnisse der Aufsichtsbehörden. Die Liste läßt sich. fortsetzen.Neben der Bereinigung redaktioneller Schwachstellen ist auch die schärfere Fassung von uneinheitlich auslegbaren Begriffen vordringlich. Der zentrale Begriff des Bundesdatenschutzgesetzes, der den Schutzbereich wesentlich eingrenzt, ist der unglücklich gewählte Dateibegriff. Er ist schwer verständlich und scheint der , technologischen Weiterentwicklung der Datenverarbeitung nicht gerecht zu werden. Es wird zu prüfen sein, ob er nicht gänzlich entfallen kann. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz weist dagegen in seinem Bericht darauf hin, daß die Unsicherheiten aus den unterschiedlichen Interpretationen dieses Begriffs durch eine Neuformulierung beseitigt werden müssen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort zum Grundrecht auf Datenschutz sagen, das der Bundesbeauftragte als starke Hervorhebung und Bekräftigung des Datenschutzes begrüßen würde. Die Erweiterung des Grundrechtskatalogs ist schon in der vergangenen Legislaturperiode von Unionsabgeordneten in die Diskussion eingeführt worden. Inzwischen hat der Bremer FDP-Parteitag diese Forderung übernommen. Nordrhein-Westfalen hat dieses Grundrecht bereits in seiner Landesverfassung verankert. Gleichwohl meinen wir, daß die Aufnahme eines allgemeinen Gegenrechts gegen die in der Verfassung geschützte Informationsfreiheit noch nicht abschließend bewertet werden kann. Die Risiken eines solchen publizistisch gewiß gut verwertbaren Vorstoßes sind noch unüberschaubar.
Es erscheint fraglich, ob der Schutzbereich des Bundesdatenschutzgesetzes dann noch durch einfache Ausnahmeregelungen beschränkt werden könnte wie z. B. für Presse, Rundfunk und Film im Blick auf die in Art. 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit.Es versteht sich von selbst, daß ein Grundrecht auf Geheimhaltung personenbezogener Daten nicht uneingeschränkt gelten könnte, sondern mit einem Gesetzesvorbehalt versehen werden müßte. Als erster Schritt empfiehlt es sich deshalb, die öffentliche Informationsverarbeitung der Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Die Einführung eines Grundrechts auf Datenschutz sollte nicht überhastet etwa noch in dieser Wahlperiode angestrebt werden.Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Datenschutz-Entschließung des Europäischen Parlaments machen. Eine Reihe der Empfehlungen des Europäischen Parlaments an die Kommission und den Rat sind in der Bundesrepublik Deutschland Bestandteil de's Datenschutzrechts. Andere können wir uns zu eigen machen, besonders jene aus dem zweiten Abschnitt, in dem es um die Rechte des Betroffenen geht. Auch mit der jährlichen Berichtspflicht der obersten Datenschutzorgane aus den Mitgliedstaaten — bei uns des Bundesbeauftragten — an das Datenschutzorgan der Europäischen Gemeinschaft könnten wir einverstanden sein.Jedoch einige der empfohlenen Grundsätze gehen weit über das geltende Recht hinaus. Ich nenne einige strittige Punkte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13109
Dr. LaufsDie Forderung, alle Dateien für personenbezogene Daten und darüber hinaus jede Vereinigung bisher getrennter Datenbanken der Zustimmung des Datenschutzorgans zu unterwerfen, begegnet unseren starken, teilweise auch verfassungsrechtlichen Bedenken.
Das Datenschutzorgan hat nach unseren Vorstellungen ausschließlich eine Kontroll- und keine Exekutivfunktion.
Die Verantwortung des Betreibers darf nach unserer Auffassung nicht verwischt werden.Wir können uns auch nicht dem Vorschlag anschließen, alle öffentlichen und privaten Stellen zu verpflichten, das Datenschutzorgan frühestmöglich von ihren Automationsvorhaben zu unterrichten.Ein weiterer Grundsatz der europäischen Entschließung trifft auf unsere erhebliche Zurückhaltung. Es handelt sich um den Datenexport aus dem Gebiet der EG-Mitgliedstaaten, der generell unter den Genehmigungsvorbehalt des Datenschutzorgans der Europäischen Gemeinschaft zu stellen sei. Hier dürften nationale Hoheitsrechte stark berührt werden. Es ist uns ohne sorgfältige Prüfung auch nicht möglich, abzuschätzen, welche rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen sich aus einer solchen Regelung für die Unternehmen ergeben würden, die über den EG-Raum hinaus international verflochten sind.Bei der Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes, die wir bald erwarten, wird die Neuregelung der Zulässigkeit des Datenverkehrs mit dem Ausland einen hohen Stellenwert erhalten müssen. Den Grundsätzen der europäischen Entschließung wird eine gewichtige Rolle bei den Beratungen darüber zukommen. Wir wollen sicherstellen, daß unsere Normen des Persönlichkeitsschutzes auf diesem Gebiet nicht in ausländischen Datenparadiesen umgangen werden können.
Der Datenschutz ist ein neues Rechtsgebiet, dessen Ausgestaltung erst begonnen hat. Im Mittelpunkt steht die Frage: Welches ist der innerste Bereich der Person, der unantastbar ist, und unter welchen Umständen ist er unantastbar? Die Abgrenzung dieses Schutzbereichs ist noch keineswegs befriedigend gelungen.Ich schließe mit dem Gedanken, daß der beängstigend angewachsene Umfang der Verarbeitung schutzbedürftiger personenbezogener Daten ursächlich nicht mit dem technischen Fortschritt, sondern wesentlich mit der Gesetzgebung in diesem Land zusammenhängt. Die Freiheit und Würde des Menschen können wir letztlich am wirkungsvollsten dadurch schützen, daß wir dem Staat Grenzen setzen, der immer tiefer in alle Lebensbereiche reglementierend eingreifen will.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wernitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte an den Beitrag des Kollegen Laufs anschließen und, ohne dem, was er hier ausgeführt hat, jetzt im einzelnen zuzustimmen, festhalten, daß auf der Grundlage seiner konkreten Aussagen ein rationaler, sachlicher Dialog im Innenausschuß und in den anderen Ausschüssen des Parlaments sicher möglich sein wird.Am 1. Januar 1978 trat das Gesetz zum Schutz vor Mißbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung — kurz: das Bundesdatenschutzgesetz — in seinen wesentlichen Bestimmungen in Kraft. Damit war die Bundesrepublik Deutschland das erste Land in der Europäischen Gemeinschaft, das ein umfassendes Datenschutzgesetz erlassen hat. Inzwischen sind innerhalb und außerhalb der Europäischen Gemeinschaft weitere Staaten gefolgt.Innerhalb der Bundesrepublik selbst haben bislang neun von elf Bundesländern für ihren Verantwortungsbereich Landesdatenschutzgesetze erlassen, zum Teil schon novelliert, die in den Rechtsgrundsätzen und wichtigen Bestimmungen weitgehend dem Bundesdatenschutzgesetz folgen.Man muß bei der Gelegenheit, Herr Kollege Laufs, auch sehen, daß dadurch, daß wir auf diesem Gebiet relativ früh tätig wurden, wenn man die Vorarbeiten mit einbezieht, manches durch die Weiterentwicklung in den Landesdatenschutzgesetzen vorangebracht worden ist. Aber dies ist ein sehr guter Spannungszustand, der bei der Weiterentwicklung des Datenschutzrechts insgesamt hilfreich ist.Innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik — im Grunde weltweit, international — ist inzwischen begriffen worden, daß die stürmische Entwicklung insbesondere der automatischen Datenverarbeitung in Staat und Wirtschaft nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren für den Bürger und seine Rechte bewirken kann. Der Einsatz modernster Techniken bei der Informationssammlung und -verarbeitung bietet eben nicht nur höhere Leistung, Rationalisierung und bessere Informationsqualität; zur Kehrseite dieser Entwicklung zählen zusätzliche Gefährdungen und Risiken für den Freiheitsraum des einzelnen Staatsbürgers und für die Qualität und Struktur von Staat und Gesellschaft insgesamt.Bei der Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes haben wir Sozialdemokraten den Standpunkt vertreten, daß dieses Gesetz bei aller Unvollkommenheit eine reelle Chance bietet, die Entwicklung der Datenverarbeitung durch rechtliche Regeln vorausplanend so zu steuern, daß Datenschutz in der Bundesrepublik keine akademische Diskussion bleibt.Mit dem gültigen Gesetz wurde der Einstieg in eine relativ neue und schwierige Materie unternommen. Das Datenschutzrecht auf Bundesebene bleibt für die Klärung strittiger und nicht hinlänglich gelöster Fragen nicht zuletzt im Zuge der praktischen Erprobung offen.
Metadaten/Kopzeile:
13110 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. WernitzWir haben uns 1976 nicht, wie die Opposition lange Zeit propagierte, für die legislative Abstinenz entschieden, sondern nach dem Motto gehandelt: Ergänzungsbedürftige Regelungen, jetzt geschaffen, sind besser als verspätet verabschiedete scheinbar perfekte Regelungen.Datenschutz ist nicht mehr nur oder überwiegend Gegenstand grundsätzlicher Erörterungen, sondern tritt zunehmend als Anwendungs- und Auslegungsproblem in Erscheinung. Einen guten Überblick hierzu bietet der erste Tätigkeits- und Jahresbericht, den der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Professor Hans Peter Bull, am 10. Januar dieses Jahres dem Deutschen Bundestag vorgelegt hat. Dieser Bericht, der sich durch präzise Information und insgesamt durch eine ausgewogene Darstellung auszeichnet, stellt eine ausgezeichnete und unverzichtbare wichtige Arbeits- und Diskussionsgrundlage für die Fortentwicklung des Datenschutzrechts dar. Dem Beauftragten und seinen Mitarbeitern gebührt für diese Arbeit Dank und Anerkennung.
Die heutige Debatte im Plenum bietet Gelegenheit zu einer ersten gedrängten Erörterung und Bewertung des Tätigkeitsberichts. Eine eingehende Durcharbeit im federführenden Innenausschuß sowie in den. einschlägigen Teilen durch die beteiligten mitberatenden Ausschüsse muß nach der Sommerpause folgen. Auch die Bundesregierung selbst wird für sich parallel zu prüfen haben, ob und inwieweit sie für die Fortschreibung des Datenschutzrechts aktuelle Konsequenzen ziehen will.Es hat sich gezeigt, daß das Datenschutzgesetz ein von vielen nicht erwartetes großes Interesse der Bürger gefunden hat, was sich durchaus auch in den Anfragen, Eingaben und Beschwerden beim Bundesbeauftragten ausgedrückt hat. Hier sehe ich die Dinge, Herr Laufs, ein klein wenig anders als Sie. Die Bürger werden ohne Zweifel verstärkt selbst initiativ, wollen genauer über ihre Rechte Bescheid wissen, exakte Informationen über speichernde Stellen haben und wehren sich verstärkt gegen Informationsanforderungen, die ihnen suspekt erscheinen. Die Tatsache, daß die vom Beauftragten herausgegebene Informationsschrift „Was bringt das Datenschutzgesetz?" mit einer Auflage von rund 54 000 Exemplaren in verhältnismäßig kurzer Zeit praktisch vergriffen war, belegt dies ein weiteres Mal.Deshalb sollten auch künftig alle möglichen Anstrengungen unternommen werden, um die Themen und Probleme des Datenschutzes einer möglichst breiten Offentlichkeit zugänglich zu machen. Die Veröffentlichung des Ersten Tätigkeitsberichts in der Schriftenreihe „Zur Sache" durch das Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages ist ein konkreter und begrüßenswerter Beitrag zu diesem Aufklärungsprozeß innerhalb unserer Bevölkerung.Nicht weniger bedeutsam ist die zunehmende Sensibilisierung der datenverarbeitenden Stellen im Staat und auch in der Wirtschaft für die Notwendigkeiten des Datenschutzes. Hier lag und wird auch Zukunft liegen — ein wesentlicher Schwerpunkt der Arbeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz. Wir werden ihn dabei aus dem Parlament heraus nach besten Kräften unterstützen.Der Beauftragte kommt zu der erfreulichen Grundsatzfeststellung, daß sich das Datenschutzgesetz des Bundes in seinen Grundlinien bewährt habe. Gleichzeitig werden aber auch erste Überlegungen zur Verbesserung dieses Gesetzes angestellt und Vorschläge unterbreitet. Darüber hinaus erklärt Bull wörtlich:Viele Fragen sind aber gegenwärtig noch nicht entscheidungsreif, weil noch Erfahrungen über die Anwendung fehlen, zum Teil auch nicht formulierungsreif, weil unterhalb der Ebene des Gesetzes eine Vielzahl von Richtlinien und Klauseln erprobt werden, deren Wirkungen noch nicht verglichen werden konnten.Nicht zu Unrecht verweist der Beauftragte weiter darauf, daß die Forderung nach umfassender Novellierung des Gesetzes in dem Maße etwas an Dringlichkeit verliere, in dem bereichsspezifische Regelungen im Rahmen eigener Gesetze zustande kämen.Das Bundesdatenschutzgesetz hat in der kurzen Zeit seines Bestehens jedoch auch schon viel Kritik hinnehmen müssen. In dem vorigen Beitrag klang davon auch etwas an. Auch wir beschäftigen uns in unserer parlamentarisch politischen Arbeit immer wieder mit dieser Problematik.Im Blickpunkt stehen dabei insbesondere die vielen Generalklauseln, die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe. Dies ist eine strukturbedingte Schwäche des Gesetzes, weil hier datenschutzrechtliche Regelungen für die verschiedenen Bereiche der staatlichen Verwaltung und der privaten Wirtschaft umfassend bestimmt werden. Wir haben im Parlament aber nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Fortschreibung des Datenschutzrechtes zu den ständigen Aufgaben des Bundestages gehört. Bevor aber eine umfassende Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes in Angriff genommen wird, sollten, wie gesagt, hinreichend gesicherte Erfahrungen mit dem geltenden Gesetz gesammelt werden, um eine allzu kurzatmige, hektische Gesetzesproduktion zu vermeiden.Vorrangig ist dagegen der Erlaß von Datenschutzvorschriften für bestimmte Verwaltungsbereiche, z. B. für die Sicherheitsbehörden, die Sozialverwaltung, das Gesundheitswesen, das Meldewesen und die Statistik. In solchen bereichsspezifischen Datenschutzregelungen kann der Umgang mit personenbezogenen Daten wesentlich konkreter, eindeutiger und eingepaßter geregelt werden als in dem für die unterschiedlichsten Lebensbereiche geltenden Datenschutzgesetz des Bundes.Dieser Erste Tätigkeitsbericht, meine Damen und Herren, zeigt, wie richtig es war, das Amt eines Bundesbeauftragten für den Datenschutz einzurichten, das die Beachtung des Datenschutzes im Bereich der Bundesverwaltung zu gewährleisten und die Weiterentwicklung des Datenschutzes zu fördern hat. Es muß, wie bisher, auch künftig alles getan werden, um die personelle und sachliche Ausstattung dieser Dienststelle im notwendigen Umfang sicherzustellen. Jedenfalls ist nach dem bisherigen Stand und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13111
Dr. WernitzEntwicklungsgang absolut nicht zu befürchten — und dabei schließe ich die Entwicklung in den Ländern beim Aufbau entsprechender Behörden und Institutionen mit ein —, daß hier eine überdimensionierte Datenschutzbürokratie aufgebaut wird, wie das da und dort in öffentlichen Diskussionen bereits angeklungen ist.Die Stärkung der Stellung des Datenschutzbeauftragten ist aber noch unter einem anderen, mehr grundsätzlich-systematischen Aspekt zu sehen. Dies hängt damit zusammen, daß der Beauftragte als sachlich unabhängige Instanz im Rahmen der externen Kontrolle des Datenschutzes bei der Bundesverwaltung im Jahre 1976 installiert worden ist. Es entspricht durchaus der politischen Zielsetzung des Gesetzgebers, wenn sich diese Institution zu einer Art Ombudsmann und Bürgeranwalt in Datenschutzfragen entwickelt hat. Wenn ein Kommentator des Gesetzes den Bundesbeauftragten, institutionell gesehen, als „Gewissen des Datenschutzes" bezeichnet hat, so entspricht dies nach den vorliegenden Erfahrungen im Berichtszeitraum den Erwartungen eines breiten Publikums. Dadurch ist der Datenschutzbeauftragte teilweise zu einem Ansprechpartner bzw. zu einer Anlaufstelle für Fragen der Datenverarbeitung bei nichtöffentlichen Stellen oder auch in Landesverwaltungen geworden. Auch wenn in solchen Fällen mangels Zuständigkeit für Aufsichtsmaßnahmen konkrete Erwartungen nicht erfüllt werden können, ist es dennoch grundsätzlich für den Beauftragten, aber auch für uns im Parlament wertvoll, diese Datenschutzprobleme aus der Sicht des Bürgers kennenzulernen.Die komplizierte, vor allem für den Bürger zuweilen wenig durchschaubare verfassungsmäßige Zuständigkeitsverteilung im föderalistischen Staat auf Bund und Länder enthält natürlich auch manche Risiken; denn so notwendig eine sorgfältige Aufspaltung und Aufteilung der Kontrollfunktionen sein mag, so wenig darf sie dem Bürger zum Nachteil gereichen. Der Bürger darf nicht Gefahr laufen, sich nach dem bekannten Beispiel des Wanninger von Kontrollinstanz zu Kontrollinstanz verweisen lassen zu müssen. Hier muß in der Tat rechtzeitig und wirksam allen möglichen Gefahren entgegengewirkt werden, die dem Datenschutz durch eine verengt zuständigkeitsfixierte datenbürokratische Entwicklung eventuell erwachsen könnten. Deshalb haben sowohl der Bundes- als auch die Landesgesetzgeber von Anfang an die Kooperationsverpflichtung hervorgehoben. Es geht hier darum, daß in voller Kenntnis der unterschiedlichen Kompetenzen im Interesse der Bürger Kooperationsformen erreicht werden müssen, die eine regelmäßige gegenseitige Unterrichtung ebenso garantieren, wie sie Zuständigkeitskonflikte rechtzeitig eliminieren. Der Datenschutz ist kein taugliches Objekt für Kompetenzstreitigkeiten, sondern ein im Interesse des Bürgers entwickeltes Instrument.Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz ist bekanntlich der Exekutive zugeordnet. Er untersteht der Rechtsaufsicht der Bundesregierung und der Dienstaufsicht des Bundesministers des Innern. In Ausübung seines Amtes ist er unabhängig und nurdem Gesetz unterworfen. Bei der seinerzeitigen Verabschiedung des Datenschutzgesetzes ging es in erster Linie darum, das Prinzip der Fremdkontrolle auch im Bereich der Bundesverwaltung zu verankern. Diese Anbindung sollte man jedoch nicht dogmatisch sehen. In jedem Falle sollte darüber nachgedacht werden, Einrichtung und Befugnisse eines unabhängigen Kontrollorgans — hier des Bundesbeauftragten für den Datenschutz — verfassungsrechtlich abzusichern. Eine Festschreibung auf ein bestimmtes Modell sollte dabei jedoch vermieden werden, bevor weitere Erfahrungen vorliegen. Die Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten kann gegebenenfalls durch einfache Gesetze verstärkt werden.Daneben geht es um eine weitere Bekräftigung der Beratungsaufgaben des Beauftragten und eine Präzisierung bzw. Konkretisierung seines Rechtes, sich an den Bundestag zu wenden, wobei — das sei in diesem Kreis einmal gesagt — es schon problematisch wird und Schwierigkeiten gibt, wenn es darum geht, wo der Beauftragte bei dieser Debatte sitzen soll. Die gleichen Schwierigkeiten und entsprechenden Plazierungsprobleme haben sich bei den Beratungen im Ausschuß ergeben. Dies ist zwar ein marginales Problem, aber ganz außen vor sollte man es nicht lassen.Für das Parlament ist der Beauftragte ein unverzichtbarer Partner bei der Weiterentwicklung und Vertiefung des Datenschutzrechts. Zu bestimmten Einzelfragen des Bundesdatenschutzgesetzes, die inzwischen durch Weiterentwicklung des Datenschutzrechts insbesondere auf der Länderebene weitgehend einer positiven Klärung zugeführt werden konnten, gehören die Einführung eines verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruchs und der Gebührenverzicht bei Auskunfterteilung. Hier darf ich, Herr Kollege Laufs — Sie waren damals noch nicht dabei —, noch einmal an das erinnern, was wir in bezug auf den Schadenersatzanspruch seinerzeit im Parlament diskutiert haben. Wir waren im Innenausschuß damals bereits überwiegend dafür, ihn einzuführen, und haben dies dann — auf Empfehlung des Rechtsausschusses, nachzulesen im damaligen Bericht des Innenausschusses an das Plenum — zurückgestellt und gesagt: Diese Frage soll nach zwei bis drei Jahren, wenn Erfahrungen gesammelt wurden, nach neuer Diskussion im Rahmen einer Novellierung der Entscheidung zugeführt werden.Inzwischen kann der Bürger nach den Bestimmungen mehrerer Landesdatenschutzgesetze — ich erwähne z. B. Hessen, Niedersachsen und Bayern — Schadenersatz verlangen, ohne ein Verschulden der datenverarbeitenden Stelle nachweisen zu müssen, natürlich in dem dort gesetzlich gegebenen Verantwortungsbereich, wenn bei unzulässiger Datenverarbeitung seine schutzwürdigen Belange beeinträchtigt worden sind. Dies sollte uns in der Tat dazu veranlassen, den verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch als dringenden Merkposten in den Novellierungskatalog mit aufzunehmen.Zu den in absehbarer Zeit klärungsbedürftigen Fragen gehört ebenfalls die Kostenfrage. Zahlreiche Bürger haben Kritik daran geübt, daß für eine Aus-
Metadaten/Kopzeile:
13112 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Wernitzkunft über die eigenen Daten eine Gebühr verlangt wird. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt — wir haben damals bei der Beratung des Datenschutzgesetzes auch darüber intensiv diskutiert —, daß Befürchtungen hinsichtlich einer unerträglichen Belastung der Behörden durch Auskunftsanträge unbegründet sind. Eher ist es heute notwendig, darauf zu achten, daß die Barrieren bei der Wahrnehmung der Auskunfts- und Kontrollrechte durch den Bürger beim Datenschutz nicht zu hoch angesetzt sind. Weil die Auskunftsrechte fundamentale Datenschutzrechte des Bürgers sind, sollten die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Auskunftsgebühren im öffentlichen Bereich umgehend geprüft werden, eventuell differenziert gestuft, wie es vorhin in dem Beitrag schon angesprochen worden ist. Analog dazu sollten auch die Möglichkeiten für den privaten Bereich geklärt und diskutiert werden. Der Beauftragte hat sich dafür ausgesprochen, daß solche Auskünfte kostenfrei erteilt werden sollten.Im übrigen wäre es sicher auch wünschenswert, wenn die zum Teil recht komplizierte Auskunftserteilung im öffentlichen Bereich vereinfacht bzw. bürgerfreundlicher gestaltet werden könnte.Zu den Themen, die seit Jahren die öffentliche Diskussion zum Datenschutzrecht in Politik und Wissenschaft beleben, gehört das Grundrecht auf Datenschutz. Der Vorschlag, den Grundrechtskatalog durch die Aufnahme eines Grundrechtes auf Datenschutz in die Verfassung zu erweitern, ist von verschiedenen Seiten gemacht worden. Urheberrechte können hier letztlich von keiner politischen Gruppierung geltend gemacht werden; in die Diskussion eingespeist haben dieses Thema im Grunde genommen alle drei Gruppierungen. Ein edler Wettstreit ist dabei gut, aber man sollte ihn nicht zu weit treiben.Vor kurzem hat das Land Nordrhein-Westfalen einen entsprechenden Artikel in die Landesverfassung aufgenommen. Auch andere Staaten wie Osterreich und Portugal haben entsprechende Grundrechte verfassungsmäßig festgeschrieben. Es gibt sowohl für als auch gegen die Aufnahme eines entsprechenden Artikels in das Grundgesetz gewichtige Argumente. Die Gegner verweisen darauf, daß zwischen der Proklamation eines weitreichenden Grundrechts auf Datenschutz und seiner Aktualisierung eine nicht unerhebliche Diskrepanz bestehe. In der Verfassung würden Erwartungen erweckt, denen der Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt in der Praxis oft nicht gerecht werden könnten. Ein solches Grundrecht würde also weithin nur Programm und Verheißung bleiben. Weiterhin wird die Gefahr gesehen, daß die Gerichte bei entsprechenden Klagen ein solches Grundrecht in nicht vorhersehbarer Weise konkretisieren und insoweit die Rolle der politischen Führungsorgane übernehmen könnten.Von den Befürwortern eines Grundrechts auf Datenschutz wird auf den Impuls- und Signaleffekt verwiesen, der insbesondere von neugeschaffenen Verfassungsnormen ausgeht. Die verfassungsmäßige Verankerung bringe eine größere Breitenwirkung und Verstärkung des Datenschutzbewußtseins. Vor allem aber bringe eine erhöhte formale Gesetzeskraft eine größere Stabilität der Datenschutznormen.Eine von mir in Auftrag gegebene wissenschaftliche Ausarbeitung vom Januar dieses Jahres kommt alles in allem zu einer eher skeptischen Beurteilung. Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz kommt in seinem Tätigkeitsbericht bei aller Würdigung der positiven Aspekte zu einer insgesamt zurückhaltenden Beurteilung. Nach seiner Auffassung kann die Diskussion um ein Grundrecht auf Datenschutz ohne Zeitdruck geführt werden, um eine Reihe verfassungspolitischer und juristisch-praktischer Aspekte abzuklären. Demgegenüber hat es sich im Zusammenhang mit den jüngsten Erörterungen im Innenausschuß zu Fragen des bereichsspezifischen Datenschutzes bei den Sicherheitsbehörden — offensichtlich vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen und Eindrücke — in der Tendenz eher wieder für ein Grundrecht auf Datenschutz ausgesprochen. Hier werden wir den Dialog weiterzuführen haben.Ende November 1978 hatte ich die Bundesregierung nach eventuellen Vorarbeiten zu einem konkreten Vorschlag für ein Grundrecht auf Datenschutz bzw. danach gefragt, ob ein entsprechender Diskussionsvorschlag noch in dieser Legislaturperiode vorgelegt werde. In Beantwortung der Frage stellte der Bundesinnenminister für die Bundesregierung u. a. fest — ich zitiereDie Meinungsbildung der Bundesregierung zu diesem Komplex ist noch nicht abgeschlossen, zumal über die Auswirkungen des Bundesdatenschutzgesetzes noch nicht hinreichend gesicherte Erfahrungen vorliegen. Bei dieser Sachlage bitte ich um Verständnis, daß ich von einer Terminierung eines eventuellen Diskussionsvorschlags zum gegenwärtigen Zeitpunkt absehen möchte.Auch als persönlicher Befürworter eines Grundrechts auf Datenschutz respektiere ich die Auffassung, daß einer Entscheidung dieser Frage eine sehr gründliche und solide Auslotung der vielschichtigen Aspekte dieses Themas vorausgehen sollte.Meine Damen und Herren, der Bull-Bericht bietet mit seinen Darlegungen zum Stand des Datenschutzes in ausgewählten Bereichen wichtiges Material und zahlreiche Merkposten für eine Novellierung des Datenschutzgesetzes in der nächsten Legislaturperiode und für die Weiterentwicklung des bereichsspezifischen Datenschutzes.Aus der umfangreichen Palette können hier nur einige Schwerpunkte herausgegriffen werden. Bezüglich des Themas „Datenschutz und Sicherheitsbereich" kann hier auf die entsprechenden Ausführungen in der Plenardebatte der letzten Woche verwiesen werden. Das Meldewesen ist der Bereich der öffentlichen Verwaltung, in dem, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Daten über alle Bewohner des Bundesgebiets gesammelt und für administrative Zwecke zur Verfügung gehalten werden. Es geht hier im wesentlichen um den Zielkonflikt zwischen Effektivität und Freiheitlichkeit. Das Meldewesen muß einerseits bürgerfreundlich sein und bedarf andererseits bereichsspezifischer Datenschutzregeln.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13113
Dr. WernitzVersuche, von der Kompetenz des Bundes zum Erlaß eines Rahmengesetzes über das Meldewesen Gebrauch zu machen, konnten bisher leider nichtzum Abschluß gebracht werden. Es wäre aber gerade auf diesem Sektor dringend zu wünschen, daß die einschlägigen Formulierungshilfen auch des Bundesbeauftragten für den Datenschutz letztlich dazu beitragen, daß in absehbarer Zeit doch noch ein datenschutzgerechtes Rahmengesetz zum Meldewesen zustande kommt. Ich gehe aber davon aus, daß ein solches erst dann eingebracht wird, wenn eine wasserdichte Abstimmung zwischen Bund und Ländern erreicht worden ist.Bereichsspezifische Datenschutzregeln haben naturgemäß eine besonders hochrangige Bedeutung auf den Gebieten der Sozialverwaltung und des Gesundheitswesens. Hier sei insbesondere auf das zur Zeit in Beratung stehende Sozialgesetzbuch verwiesen, in dessen Rahmen das Sozialgeheimnis exakt definiert werden muß. Es bedarf einer klaren Regelung, in welchen Fällen in diesem Bereich Auskünfte erteilt werden dürfen.Die einschlägigen Passagen des Tätigkeitsberichts bedürfen noch einer sehr sorgfältigen Erörterung in den beteiligten Parlamentsausschüssen. Denn man muß wissen, daß auf diesem Gebiet bei den hier vorliegenden sensiblen Daten im Grunde genommen faktisch eine Art zweites Melderegister vorhanden ist, das zum Teil wesentlich aktueller ist als dasjenige, welches die Meldebehörden haben.Wenn auch die Weiterentwicklung des Datenschutzes in diesem und anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung dringend erforderlich ist, so ist der Eindruck sicher falsch, daß Risiken fürprivate Rechte des Bürgers ausschließlich oder vornehmlich durch die Datenverarbeitung des Staates oder der Kommunen entstünden. Bull verweist hier insbesondere darauf, daß sich die Kontroll- und Abwehrrechte, die das Bundesdatenschutzgesetz den Betroffenen gibt, auf dem Gebiet des Adressenhandels und der Direktwerbung als unzureichend erwiesen haben.Im Rahmen dieser heutigen Darlegungen kann nur am Rande auf das schwierige, aber wichtige Thema Datenschutz und Arbeitsrecht grundsätzlich hingewiesen werden. Eine besondere Problematik betrifft dabei das im Bereich der Gewerkschaften seit einiger Zeit diskutierte Verhältnis von Datenschutzrecht und Betriebsverfassungsrecht. Analog dazu kann auch das Verhältnis von Datenschutzrecht und Personalvertretungsrecht genannt werden. Es wäre sicher wünschenswert, wenn der Datenschutzbeauftragte dieser Thematik im folgenden Jahresbericht einen entsprechenden Raum geben würde, um den notwendigen Erörterungen dieser Fragen in den zuständigen Parlamentsausschüssen eine tragfähige Ausgangsbasis zu bieten, zusätzlich zu dem, was sich auf diesem Sektor an Literatur inzwischen schon angesammelt hat.Der verständliche Blick auf die aktuellen und grundsätzlichen Probleme des Datenschutzes im Inland darf nicht dazu führen, daß die internationalen Komponenten und Fragen des Datenschutzes übersehen werden. Es ist deshalb ausdrücklich zu begrüßen, daß Professor Bull in seinem Tätigkeitsbericht einen Überblick über den Stand der Datenschutzgesetzgebung im Ausland bietet. Mit Recht verweist er auch auf die Probleme des grenzüberschreitenden Datenverkehrs.In diesem Zusammenhang möchte ich heute angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung wenigstens kurz die vom vorigen Europäischen Parlament einstimmig verabschiedete Entschließung zum Schutz der Rechte des einzelnen ansprechen und auch dem Berichterstatter, der aus unserem Hause und aus meiner Fraktion kommt, Alfons Bayerl, herzlich danken.
Mit den dort genannten Grundsätzen des Datenschutzes ist der Weg zur Harmonisierung des Datenschutzrechtes in Europa in sehr mutiger und zukunftweisender Weise vorgezeichnet, auch wenn man nicht jedem Vorschlag dort zustimmt. Herr Laufs, wenn Sie hier Skepsis anmelden, darf ich daran erinnern, daß auch Ihre Kollegen im Europäischen Parlament dieser Vorlage aus dem Europäischen Parlament zugestimmt haben. Es ist unbestreitbar notwendig, daß die nationale Datenschutzgesetzgebung durch entsprechende Arbeiten auf europäischer Ebene auch weiterhin den unverzichtbaren Flankenschutz bekommt.Jedenfalls wird der umfangreiche, instruktive Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten in diesem Parlament und seinen Ausschüssen sorgfältig beraten werden. Seine Anregungen und Empfehlungen werden im weiteren kritisch-konstruktiven Dialog mit dem Datenschutzbeauftragten zu prüfen sein. Wir sind bereit und entschlossen, alle Anstrengungen zu unternehmen, die datenschutzrechtlichen Bestimmungen mit realistischem Augenmaß zu verfeinern und den Datenschutz insgesamt zu verbessern. Die zweite Hälfte dieses Jahres muß zu entsprechender Weichenstellung genutzt werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte zunächst dem Kollegen Laufs sagen, daß sein Beitrag — wenn ich auch nicht in allen Punkten mit ihm übereinstimme — eine Grundlage für eine sachliche Debatte im Innenausschuß zu den uns alle interessierenden Fragen ist.
Ich möchte dies sehr begrüßen.
In der Ausgabe des „Spiegel" von dieser Woche hat der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Herr Professor Bull, in einer Stellungnahme zu einer bestimmten „Spiegel"-Serie geschrieben — ich zitiere diesen Satz —:Die Angst ist groß, das Wissen über konkreteGefahren und Abwehrchancen gering. Dies gilt
Metadaten/Kopzeile:
13114 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Wendigfür alle Formen moderner Informationsverarbeitung in Wissenschaft und Verwaltung.Nehme ich einmal diesen Satz als Ausgangspunkt meiner Überlegungen, so möchte ich meinen, daß Angst — für sich genommen — kein zuverlässiger Motivator für künftige Überlegungen sein kann. Es kommt schon sehr auf ein solides Wissen über konkrete Gefahren moderner Informationsverarbeitung an, um auch zuverlässige Grundlagen für Abwehrunternehmen und -mechanismen gewinnen zu können. Herr Kollege Laufs, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß das Problembewußtsein in diesem Bereich — ich habe das schon 1976 angesprochen — in der Tat noch nicht so entwickelt ist, wie es wünschenswert wäre. Das liegt aber, wie ich meine, weder an diesem Gesetz noch an der Informationspolitik der Bundesregierung, des Bundesministers des Innern oder des Datenschutzbeauftragten, sondern daran, daß dieser Bereich im Gegensatz zu anderen — nehmen wir einmal den Umweltschutz — für den Bürger weit weniger einsichtig und begreifbar ist.
Daran wird klar, wie schwierig es ist, den einzelnen Bürger hier an eine Erkenntnis der wirklichen Sachverhalte und der daraus resultierenden Gefahrenmöglichkeiten heranzubringen.Für solche Überlegungen bietet der erste Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten, wie ich meine, eine ausgezeichnete Voraussetzung. Wir erkennen zugleich, daß im Datenschutzgesetz durch die Schaffung der Funktion eines solchen Datenschutzbeauftragten eine unabhängige Instanz geschaffen worden ist, die sich mit Sachkompetenz um die Probleme kümmert, die uns alle angehen.Zum erstenmal seit Verabschiedung des Datenschutzgesetzes und seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1978 ist eine Grundlage für die Beantwortung der Frage vorhanden, ob sich das, was wir damals beschlossen haben, bewährt hat. Das ist auch eine Beantwortung der Frage: Reicht das Datenschutzgesetz aus, um ausnahmslos jeden Bürger vor einer Verletzung seiner Privatsphäre zu schützen?Ich darf daran erinnern: Schon bei seiner Beratung und Verabschiedung waren wir uns im Grunde genommen alle darüber einig, daß wir uns mit dem Datenschutzgesetz auf rechtssystematisches und rechtspolitisches Neuland begeben haben und daher eine lex perfecta kaum schaffen konnten. Ich erinnere auch daran, daß vergleichbare Gesetze in anderen Ländern — weder im Bundesgebiet noch im Ausland — nicht vorhanden waren. Erst die Erfahrung und der Umgang mit den einzelnen Bestimmungen mußten zeigen, wo Korrekturen notwendig und noch Lücken zu schließen sind.Dennoch meinten wir damals — es war im Juni 1976, am Ende der letzten Legislaturperiode; ich glaube, man muß diesen Zeitpunkt im Auge behalten —, mit der Verabschiedung dieses Datenschutzgesetzes nicht mehr warten zu können; die Opposition hatte damals noch andere Vorstellungen. Ich darf an den Hinweis von Herrn Wernitz erinnern, daß die Frage des verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruchs im Rechtsausschuß anders beantwortet worden ist. Ich darf hinzufügen, daß auch im Bundesrat ein entsprechender Vorschlag des Innenausschusses nachher im Finanzausschuß und im Plenum gescheitert ist. Ich will hier keine Schuldverschiebungen bringen; aber das war die Sachlage.Es war notwendig, daß wir damals vor Beginn der neuen Legislaturperiode diesen ersten wichtigen Schritt getan haben, und ich stehe heute nach wie vor unverändert dazu. Gerade der vor uns liegende erste Tätigkeitsbericht macht deutlich, wie dringend diese Materie — ich spreche von 1976 - einer gesetzlichen Regelung für unser Land bedurfte.Nun kommt es darauf an, daß das Gesetz im Sinne eines umfassenden Schutzes des einzelnen auch wirklich befolgt wird. Daß dabei der Datenschutz mit anderen Interessen sowohl im öffentlichen, aber auch im privaten Bereich kollidiert, war und ist klar und allen selbstverständlich. Dennoch zeigt der erste Tätigkeitsbericht, daß wir nicht müde werden dürfen, die jeweiligen Interessen abzuwägen, wobei in der Regel der Schutz der Privatsphäre des einzelnen Bürgers oberstes Gebot ist.Das Bundesdatenschutzgesetz hat, wie dies Professor Bull in seinem Bericht zu Recht hervorhebt, alle datenverarbeitenden Stellen genötigt, sich selbst und anderen Rechenschaft über die Art und Weise und die Notwendigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten zu geben. Allein diese Sensibilisierung für die Probleme des Datenschutzes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.Der Bericht hat zum anderen klargestellt, daß das Datenschutzrecht nicht nur ein technisches Recht, d. h. die Übersetzung technischer Regeln in Rechtsnormen, ist. Die in diesem Bericht aufgeführten Fälle machen deutlich, daß es sich bei dem Bestreben nach Einhaltung des Bundesdatenschutzgesetzes nicht um einen blinden Formalismus handelt. Nur die sorgfältige Erfüllung der formalen Vorschriften über Dateien, Register und Veröffentlichungen, über Benachrichtigungen und Auskünfte ist geeignet, die durch die fortschreitende technische Entwicklung bedrohte Privatsphäre zu schützen.
Bei einer ersten Beratung kann man unmöglich alle Bereiche behandeln, die in dem Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten aufgeführt sind. Einen großen Teil nehmen in diesem Bericht die Behörden der inneren Sicherheit ein. Gerade auf diesen Abschnitt des Berichts will ich heute nicht näher eingehen. Er war schon im Zusammenhang mit der Überprüfung bestimmter Dateien beim Bundeskriminalamt Gegenstand einer Debatte in der vergangenen Woche, und diese Fragen werden uns im Innenausschuß auch in der kommenden Zeit noch sehr intensiv beschäftigen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13115
Dr. WendigHierzu gehört auch die Problematik der Amtshilfe, über die der Bundesminister des Innern eine gesonderte Untersuchung eingeleitet hat. Mit diesel Untersuchung werden wir uns im Herbst im Innenausschuß beschäftigen, wobei ganz zwangsläufig auch die Positionen mit einbezogen werden, die der Tätigkeitsbericht im Bereich der inneren Sicherheit eingenommen hat. Deshalb will ich nur auf einige andere Schwerpunkte des Berichts kurz eingehen.Da ist einmal das Meldewesen. Nachdem dieser Bereich durch ein Bundesmeldegesetz nicht geregelt werden konnte, kommt dem Bundesdatenschutzgesetz eine besondere Bedeutung zu; denn nirgendwo sonst werden Daten über alle Bundesbürger gesammelt und für administrative Zwecke zur Verfügung gehalten. Zu Recht ist in dem Bericht darauf hingewiesen, daß das Meldewesen zwar bürgerfreundlich gestaltet werden müsse, jedoch der Konflikt zwischen der Effektivität des Meldewesens und den Geheimhaltungsinteressen des Bürgers nicht so gelöst werden dürfe, daß eines der Ziele zu Lasten des anderen verabsolutiert werde. Es ist wohl unbestreitbar, daß bei der Abwägung zwischen Effektivität der Verwaltung und Freiheitspositionen des einzelnen Rationalisierung und Vereinfachung der Verwaltung ganz eindeutig einen geringeren Stellenwert haben müssen.Dabei stimmen wir mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten auch darin überein, daß die sogenannte einfache Auskunft, d. h. die Auskunft über Anschrift und Namen an Private zwar zulässig ist, der Betroffene diese Daten jedoch sperren können lassen muß, wenn er daran ein berechtigtes Interesse hat. Die über diese sogenannte einfache Auskunft hinausgehenden Daten sind dagegen nur so weit weiterzugeben, als der Auskunftsersuchende ein berechtigtes Interesse gerade an diesen Daten nachweisen kann.Es gibt noch einige andere Überlegungen. Ich will sie nicht weiter ausführen. Ungeachtet dieser Überlegungen aber ist es gerade in diesem Bereich erforderlich, daß das Meldewesen durch eine bereichsspezifische Regelung, ein Rahmengesetz, von dem Herr Wernitz gesprochen hat, datenschutzrechtlich möglichst bald hinreichend abgesichert wird.In diesem Zusammenhang ist zu wünschen, daß schon sehr bald eine Neufassung des Bundesmeldegesetzes in Angriff genommen wird. Dabei muß allerdings gesetzlich sichergestellt sein, daß nicht durch Zusammenführung von Namen, Geschlecht, Geburtsdatum oder Ausweisnummer eine umfassende Datei mit einer bundeseinheitlichen Personalkennziffer ermöglicht wird, die eine Kombination mit weiteren Spezialdaten begünstigt, also die Einführung des Personenkennzeichens durch eine Hintertür gestatten würde.Zum zweiten Bereich, zur Sozialverwaltung und zum Gesundheitswesen: Gerade dieser ohnehin schon stark automatisierte Bereich bedarf unserer besonderen Beachtung, handelt es sich hier doch zum Teil um höchst sensible Daten über fast alleBürger. Auch die Tatsache, daß mit der Versicherungsnummer ein Identifizierungsschlüssel vorhanden ist, der eine Vielzahl von Verknüpfungen ermöglicht, macht deutlich, daß den Problemen des Datenschutzes in einem Bereich, in dem es sich vielfach um besonders vertrauliche Daten handelt, besondere Beachtung geschenkt werden muß. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient darf nicht durch eine leichtfertige Handhabung von Daten in diesem Bereich gefährdet werden. Ich freue mich — das habe ich gestern der Presse entnehmen können —, daß der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands unter Hinweis auf das Sozialgesetzbuch Sonderregelungen für den Schutz medizinischer Daten gefordert hat. Man kann das nur unterstreichen.Das Sozialgeheimnis, das Grundlage dieser Vertrauensbeziehung ist, muß in jedem Fall gewahrt bleiben. Darüber hinaus sind allerdings drei Dinge erforderlich. Es muß sichergestellt werden, daß auch Amtshilfeersuchen in diesem Bereich nicht dazu führen, daß Daten über die Intimsphäre des Bürgers anderen Stellen als denjenigen zugänglich gemacht werden, denen sie mitgeteilt worden sind. Ferner muß auch der interne Datenschutz bei der Datenverarbeitung und dem Datenaustausch zwischen den einzelnen Sozial-, Renten-, Kranken- und Unfallversicherungsträgern besser abgesichert werden. Schließlich ist bei der Datenverarbeitung im Rahmen wissenschaftlicher Forschung besonders darauf zu achten, daß der Empfänger die ihm übermittelten Daten nur für den Zweck verwenden darf, zu dessen Erfüllung sie ihm übermittelt worden sind. Ich weise besonders darauf hin: Wegen der hohen Sensibilität der Daten darf auch hier eine Weitergabe nur in anonymisierter Form erfolgen.Ein kurzes Wort zu den Versicherungen. Die Bedenken, die gegen die sogenannte Datenschutzklausel von Versicherungsträgern erhoben worden sind — in dem Bericht nachzulesen —, müssen von uns mit aller Sorgfalt überprüft werden. So muß sichergestellt werden, daß die Einwilligung der Betroffenen in die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten auf einem Mindestmaß an Information darüber beruhen muß, welche Daten aus welchem Anlaß zu welchem Zweck an welche Empfänger übermittelt werden sollen. Ich kann dem Bericht hier voll zustimmen, wenn darin festgestellt wird — ich zitiere —:Ein Höchstmaß an Information über das, was mit den Daten geschehen soll, dürfte auch hier das beste Mittel sein, um unbegründetes Mißtrauen abzubauen.Lassen Sie mich nach diesen Bemerkungen die Frage stellen — auch die Kollegen Vorredner haben diese Überlegung angestellt —: Sind schon heute Folgerungen für die Zukunft, vielleicht sogar schon für eine nähere Zukunft zu ziehen?Eine erkennbare Schwachstelle des Datenschutzgesetzes ist die Tatsache, daß in sehr großem Umfange mit Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet wird. Dieses Verfahren
Metadaten/Kopzeile:
13116 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Wendigist rechtssystematisch stets zweifelhaft. Ein zentrales Bundesdatenschutzgesetz wird allerdings, wie ich meine, kaum mehr leisten können.Deshalb kommt es darauf an — und das scheint mir eine zentrale Frage zu sein —, für einzelne Bereiche bereichsspezifische Datenschutzregelungen zu schaffen. Die Bundestagsfraktion der FDP hält dies für die vorrangige Aufgabe, die bei einer Verbesserung des Datenschutzrechts zu lösen sein wird. Im Zusammenhang mit dem Meldewesen habe ich dazu schon einiges gesagt. Nur ein Datenschutzrecht, das sich sehr konkret an den Aufgaben der einzelnen Bereiche orientiert, kann auf die Dauer einen wirksamen Schutz des Bürgers in dem jeweiligen Bereich gewährleisten.Niemand soll mehr personenbezogene Daten erhalten, als sie zur Erfüllung der Aufgaben benötigt werden und es das Recht des Bürgers auf Schutz seiner Privatsphäre zuläßt. Auch die Weitergabe von Daten muß an strenge Voraussetzungen geknüpft werden. Ebenso bedarf die Löschung von Daten einer klaren Regelung nach bestimmten Fristen.Ein solcher bereichsspezifischer Datenschutz — gleich, wo er eingeführt wird — setzt, wie bereits erwähnt, Informationen über den Datenfluß sowie über die Verwendung der Daten voraus. Hier muß die notwendige Transparenz der Datenverarbeitung geschaffen werden, damit die Generalklauseln des Datenschutzgesetzes, die wir alle beklagen, für spezifische Bereiche hinreichend konkretisiert werden können.Der zweite Punkt: Vordringlich geprüft werden muß meines Erachtens — da schließe ich mich meinen Vorrednern an — die Einführung eines verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruchs. Über die Vorgeschichte bei der Beratung des Entwurfs 1975/76 habe ich ja schon gesprochen. Die vorhandenen Schadenersatzansprüche des BGB, die den Beweis des Verschuldens des Schädigers voraussetzen, reichen bei der Kompliziertheit der Materie und angesichts der Schwierigkeiten, die Vorgänge bei der Datenverarbeitung — nicht nur im automatisierten Bereich — zu rekonstruieren, nicht aus. In diese Richtung gehen auch die Empfehlungen des Europäischen Parlaments im Rahmen des Entschließungsantrages, den wir heute mit beraten.Weiter hat sich gezeigt, daß gerade der grenzüberschreitende Datenverkehr - ein Problem, das auch die anderen Kollegen angesprochen haben — insbesondere im Bereich der Europäischen Gemeinschaft einer Regelung bedarf. Eine Harmonisierung des Datenschutzrechts auf internationalem Gebiet ist daher dringend erforderlich. Seit Inkrafttreten des Datenschutzgesetzes sind in einer Reihe von Nachbarländern ebenfalls spezielle Datenschutzregelungen entstanden; der Bericht des Datenschutzbeauftragten weist sie erfreulicherweise mit ihren wichtigen Einzelheiten aus.Bei einer Harmonisierung des Datenschutzrechts im internationalen Bereich müssen wir u. a. aber auch dafür Sorge tragen, daß nationale Schutzvorschriften nicht durch eine Verlagerung der Datenverarbeitung ins Ausland umgangen werden. Der am 14. Mai 1979 dem Europäischen Parlament vorgelegte Initiativbericht zum Datenschutz, der eine Richtlinie zur Harmonisierung des Datenschutzrechts in der Gemeinschaft für den Bürger fordert, wird von uns voll unterstützt.Ein wesentliches Problem liegt für uns schließlich auch in der Frage, ob ein neues Grundrecht auf Datenschutz ins Grundgesetz eingefügt werden sollte. Sicher gibt es gute Gründe dafür, den bewährten Katalog der Grundrechte nicht ohne Not zu erweitern, ganz abgesehen von allen anderen Problemen, die ein Grundrecht auf Datenschutz in verfassungssystematischer und anderer Hinsicht aufwirft. U. a. deshalb habe ich mich bei der Beratung und Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes 1976 an dieser Stelle zurückgehalten.Der jetzt vorliegende Bericht, unsere bisherigen Erfahrungen und die inzwischen nicht verstummte Sachdiskussion über eine stärkere Hervorhebung und Bekräftigung des Datenschutzes haben mich und meine Fraktion dazu geführt, daß wir eine solche Erweiterung des Grundrechtskatalogs für wünschenswert, ja notwendig und dringlich halten.Dies, meine Damen und Herren, sind nur einige Aspekte einer künftigen Fortentwicklung des Datenschutzrechts in unserem Lande. Der erste Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz zeigt deutlich, wie notwendig und richtig es war, eine selbständige und unabhängige Instanz mit der Wahrnehmung dèr Aufgaben der Drittkontrolle zu befassen. Die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten dankt dem Bundesbeauftragten Professor Bull für seinen umfassenden Bericht.Ob der Bundesbeauftragte für Datenschutz in seiner gegenwärtigen Form richtig in unser staatliches System eingeordnet ist, muß und kann zu einem späteren Zeitpunkt geprüft werden. Es geht dabei um die Frage, ob eine Zuordnung zum Parlament eine größere Wirksamkeit und Unabhängigkeit verspricht.Schon jetzt sollten wir nach Auffassung der FDP-Fraktion aber prüfen, ob nicht noch in dieser Legislaturperiode — ich sage dies ganz bewußt und prononciert — einige Verbesserungen im Datenschutzgesetz geschaffen werden sollten. Wir denken dabei besonders an drei Punkte, nämlich erstens an ein bereichsspezifisches Datenschutzrecht im Meldewesen, zweitens an einen verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch und drittens an die Frage, ob nicht jetzt schon die gewonnenen Erkenntnisse dazu ausreichen, im Grundgesetz ein Grundrecht des Bürgers auf Datenschutz zu verankern.Meine Damen und Herren, manch einer mag einwenden, daß einmal beschlossene Gesetze nicht ständig, vielleicht schon nach kurzer Zeit und vielleicht mehrmals, novelliert werden dürfen. Dieser Grundsatz ist richtig. Wir sollten ihn bei unserer Gesetzgebung nie aus dem Auge verlieren. Beim Datenschutzrecht indessen handelt es sich um eine Materie, die, wie wir alle wissen, nur sehr schwer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13117
Dr. Wendigmit den üblichen Instrumenten des Rechts in den Griff zu bekommen ist.Hinzu kommt, daß die technologische Entwicklung auf diesem Gebiet mit Riesenschritten voranschreitet. Ich sage Ihnen ganz offen, ich fürchte mich ein wenig vor einer Entwicklung, die dazu führen könnte, daß der Abstand zwischen dem jeweiligen Stand der Technik auf der einen Seite und den rechtlichen Schutzvorschriften für den Bürger auf der anderen ständig größer statt kleiner wird. Manchmal beschleicht mich die Sorge, daß wir uns schon heute ein wenig — mit einem Bein jedenfalls — in einem solchen Zustand befinden. Deswegen ist für uns die kritische Überprüfung des Datenschutzgesetzes eine Aufgabe von besonders hohem Rang.Ich glaube nicht zu hoch zu greifen, wenn ich meine, daß dem Datenschutzgesetz für die Privatsphäre des Bürgers die gleiche Bedeutung zukommt wie dem Umweltschutz für die körperliche Unversehrtheit der lebenden und der künftigen Generation. Die besondere rechtspolitische Brisanz dieses Themas liegt darin, daß es uns gelingen muß, moderne technologische Entwicklungen mit den Instrumenten unserer rechtsstaatlichen Ordnung aufzufangen.Die Fraktion der Freien Demokratischen Partei erblickt in dem vorliegenden Tätigkeitsbericht eine sehr wichtige Grundlage für ihre künftige Arbeit und zunächst für die Diskussion im Bundestagsinnenausschuß.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spranger.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Verfassungsväter haben die Würde des Menschen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit an die erste Stelle der Grundrechte gestellt. Ich weiß mich mit allen demokratischen Kräften einig, wenn ich feststelle, daß diese persönlichen Grundwerte aus das höchste gefährdet werden, wenn wir es nicht schaffen, den einzelnen Menschen einen persönlichen Freiraum vor den immer perfekter werdenden Informationsspeichern und Rechenzentren unserer Bürokratie zu sichern. Gelingt uns das nicht, ist das vielbeschworene Jahr „1984" nicht mehr fern.Diese Sorge, von der auch Herr Kollege Wendig gesprochen hat, hatte die CDU/CSU schon bei den Beratungen des Bundesdatenschutzgesetzes 1976 und vorher immer wieder vorgetragen. Aus dem Gesichtspunkt der Würde des Menschen und des Schutzes seiner Person und seiner Persönlichkeit, aus dem Gebot des Freiseins und Freibleibens vor übermächtiger, unzulässiger staatlicher Registrierung, Einwirkung und letztlich sogar Steuerung haben wir damals zahlreiche Kritik an dem von SPD und FDP beschlossenen Datenschutzgesetz geübt und zahlreiche Änderungsanträge gestellt, die leider abgelehnt wurden. Ich kann feststellen, daß heute bei allen Vorrednern zahlreiche Änderungsvorschläge zu diesem Gesetz vorgetragen wurden. Es ist zu hoffen, daß diese Verbesserungen und Änderungen dann auch bald vorgenommen werden.
Der Bericht des Datenschutzbeauftragten bestätigt in weiten Bereichen unsere damalige Befürchtung, daß dieses Gesetz nur unzureichend die persönlichen Daten schütze. Wir wären heute besser dran, wenn damals unserer Kritik entsprochen worden wäre. Wir bedauern, daß die Bundesregierung die notwendige Novellierung, die wir schon in einer Kleinen Anfrage im März 1977 angesprochen haben, bisher noch nicht vorgenommen hat.Wirksamer Datenschutz bleibt demnach nach wie vor eine politische Aufgabe von hohem Rang auch in der Zukunft. Diese Aufgabe kann man allerdings nicht dadurch lösen, daß in zunehmendem Maße von bestimmter Seite ein Geschäft mit der berechtigten Sorge unserer Bürger um diese persönliche Freiheit getrieben wird. Zahlreiche Kritiker unseres Staates und seiner Organe sowie unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung haben sich auf diesen Zug des Datenschutzes geschwungen. Sie scheuen sich nicht, unter dem Deckmantel der besorgten Demokraten den Begriff des Datenschutzes, der in der Offentlichkeit — auch das ist heute schon betont worden — nach wie vor merkwürdig verschwommen und unpräzise gebraucht wird, vor ihren Wagen zu spannen und ihn als Vehikel für ihre sogenannte Systemkritik und für eine verzerrte Darstellung unserer staatlichen Institutionen zu mißbrauchen.
Unsere Sicherheitsbehörden sind in den vergangenen Monaten bevorzugte Zielscheiben dieser Attacken gewesen. Diese vordergründigen Machenschaften, die mit dem Datenschutz nicht das geringste zu tun haben, verurteilen wir auf das schärfste. Wer den Bericht des Bundesbeauftragten aufmerksam liest, kann bei aller Kritik, die er vorträgt und die berechtigt sein mag oder nicht, keinerlei sachliche Grundlage für diese seit einem Jahr immer wieder durchgeführten Kampagnen gegen unsere Sicherheitsbehörden finden.Der zeitgerecht erstellte Bericht des Bundesbeauftragten befaßt sich neben einer allgemeinen Beschreibung seiner Aufgaben, seiner Tätigkeiten und neben der möglichen und nötigen Änderung des Datenschutzgesetzes — Herr Kollege Dr. Laufs hat das im einzelnen erläutert — in einem weiteren Schwerpunkt ausführlich mit dem Stand des Datenschutzes in den einzelnen Bereichen staatlicher und privater Datenverarbeitung. Gerade dieser Teil des Berichts ist für unsere Bürger von großer Bedeutung, weil hier die praktischen Auswirkungen der Datenverarbeitung für Wirtschaft und Verwaltung, aber auch für die jeweils Betroffenen sichtbar werden. Die Darstellung des Bundesbeauftragten dazu ist geeignet, die bisher meist undurchschaubaren und undurchsichtigen Verhältnisse in den Rechenzentren und Datenspeichern der Bürokratien zu erhellen und eventuelle Mißbräuche zu
Metadaten/Kopzeile:
13118 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Sprangerbeseitigen oder ihnen entgegenzuwirken und Unbehagen abzubauen, das — das ist immer wieder betont worden — darin besteht, daß die allermeisten Bürger unseres Landes immer noch nicht wissen, was mit welchen persönlichen Daten geschieht. Insofern gebührt dem Bundesbeauftragten sicher der Dank dieses Hauses.Wir bejahen seine Kontrollfunktion, die notwendig ist. Wir sagen aber auch: Diese Kontrolle ist notwendig gegenüber allen Behörden und Verbänden, nicht nur mit Schwergewicht gegenüber den Sicherheitsbehörden. Dabei vertreten wir grundsätzlich den Standpunkt, daß im Interesse einer einheitlichen Handhabung die Regelungen des Datenschutzes für alle Bereiche in gleicher Weise gelten müssen. Hieraus folgt, daß sogenannte bereichsspezifische Regelungen, d. h. Sondervorschriften des Datenschutzes für bestimmte Bereiche, nur in wenigen Ausnahmefällen getroffen werden können. Wir sind jedoch dagegen, daß den Bereichen unterschiedliche Aufmerksamkeit gewidmet wird. Wir sind für eine gleichmäßige Kontrolle aller Bereiche mit gleicher Intensität.Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat leider in der Vergangenheit den Eindruck erweckt und ihn in seinem Bericht teilweise bestätigt, seine Aufmerksamkeit müsse vor allem der Aufdeckung und Beseitigung rechtswidriger Praktiken der Sicherheitsbehörden im Bereich des Datenschutzes gehören. Ich möchte hier nicht im einzelnen die verschiedenen öffentlichen Äußerungen über angebliche Mißstände und rechtswidrige Praktiken bei den Sicherheitsbehörden wiederholen. Wir haben im Innenausschuß am 14. Mai erlebt, daß der Bundesbeauftragte wesentliche Behauptungen seiner früheren Prüfberichte revidieren mußte und daß er auch einräumen mußte, daß zu einer auch nur teilweise systematischen Überprüfung der Datenverarbeitung z. B. im Bereich des Bundeskriminalamtes bisher keine ausreichende personelle Kapazität zur Verfügung stand. Um so mehr hätten lautstarke und vorschnelle Urteile über die Dateien dort unterbleiben müssen.
Wir hätten es als besser erachtet, wenn der Bundesbeauftragte eine systematische und gründliche Analyse vor Ort im Bundeskriminalamt und in den Polizeidienststellen der Länder, wo diese Dateien aufgehoben und gespeichert werden, vor Erstellung des Dateienberichts durchgeführt hätte und wenn er mit öffentlichen Äußerungen insgesamt zurückhaltender gewesen wäre.
Für das öffentliche Auftreten des Bundesbeauftragten sollte die Arbeitsweise des Präsidenten des Bundesrechnungshofs Vorbild sein. Dessen Behörde unterzieht zwar nicht so spektakulär, aber um so wirkungsvoller die Behörden des Bundes einer laufenden gründlichen Überprüfung. Erst wenn der Datenschutzbeauftragte ein derartiges Amtsverständnis übernimmt, wird er die Aufgaben erfüllenkönnen, die ihm das Bundesdatenschutzgesetz zugewiesen hat.Nach dieser notwendigen Kritik verdient der Bericht auch Anerkennung, z. B. im Bereich des Meldewesens. Die Forderung nach dem baldigen Erlaß eines Rahmengesetzes des Bundes auf Grund des längst ausgewerteten Hearings vom November 1978 ist vollauf berechtigt. Auch das hat der Kollege Laufs schon vorgetragen. Wir fordern die Bundesregierung nochmals auf, unverzüglich Initiativen für ein Bundesmelderahmengesetz zu ergreifen, um eine Rechtszersplitterung in diesem Bereich, die zweifelsohne droht, zu verhindern.Wir teilen nicht die Empfehlung des Bundesbeauftragten, die Angaben über die Religionszugehörigkeit von der Übermittlung an andere Stellen, also auch an die Kirchen, auszuschließen. Das Recht der Kirchen auf diese Information ist durch Art. 140 Grundgesetz und Art. 137 Weimarer Verfassung garantiert. Demnach ist die Kirche auf Hilfeleistungen des Staates angewiesen und der Staat zu derartigen Hilfeleistungen verpflichtet. Die Kirchen haben keine eigenen Informationsmöglichkeiten. Deshalb muß der Staat diese Information übermitteln.Nach unserer Auffassung sollten auch Neben- und Unterorganisationen der Kirchen wie das Diakonische Werk in Bayern oder kirchliche Arbeitskreise aus dem staatlichen Datenmaterial Informationen erhalten. Es muß der Kirche überlassen bleiben, selbst zu bestimmen, welche Stellen und Organisationen bestimmte kirchliche Aufgaben wahrnehmen, ohne daß dadurch Nachteile für den notwendigen Informationsfluß entstehen.
Über den Datenschutz im Sicherheitsbereich haben die Mitglieder des Innenausschusses in den letzten Wochen viele Stunden umfassend diskutiert. Eine Debatte darüber wurde in der vorigen Woche auch hier geführt. In diesen ganzen Diskussionen hat sich eindeutig erwiesen: Solange die Sicherheitsbehörden mit dem Bundesbeauftragten in weiten Bereichen uneinig sind, wo die Grenzen zwischen der Sicherheit einerseits und den Persönlichkeitsschutz andererseits zu ziehen sind, ist es Aufgabe vor allem des Bundesinnenministers, hier zu einer baldmöglichen Klärung beizutragen, die beiden Interessen entspricht.Insgesamt ist festzustellen, daß der Datenschutz aus dem Bereich der Sicherheitsbehörden nicht auszuschließen ist. Es kann keinen Zweifel geben, daß auch im Sicherheitsbereich Datenschutz stattfinden muß. Der Freiheitsschutz durch Gewährleistung innerer Sicherheit, zu dem diese Behörden eingerichtet sind, kann aber nur dann funktionieren, wenn nicht die, die in Verdacht stehen oder überführt sind, durch Straftaten oder Verfolgen verfassungsfeindlicher Bestrebungen die Freiheit und die Sicherheit ihrer Mitbürger zu bedrohen, das Recht haben sollen, sich jederzeit ein umfassendes Bild darüber zu machen, was Polizei und Nachrichtendiensten über sie bekannt ist. Das ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13119
Sprangerso offenkundig, daß man darüber nicht zu diskutieren braucht.Wenn trotzdem auch auf diesem Feld Datenschutz selbstverständlich gewährleistet sein muß, dann bedarf es hier anderer Mittel, um ihn sicherzustellen. Wir haben ja jetzt schon Rechtsbereiche, wo das der Fall ist. Man denke an die Post-und Telefonkontrolle und die G-10-Gremien. Hier sind Einrichtungen mit quasirichterlicher und parlamentarischer Kontrolle vorhanden. Ähnliches sollte man für den übrigen Sicherheitsbereich durchdenken, um zu vernünftigen Lösungen zu kommen, ohne daß die sicherheits- und freiheitsschützenden Funktionen von Polizei- und Nachrichtendiensten beeinträchtigt werden.Ein ganz wichtiges Thema ist der Bereich der Datenverarbeitung innerhalb der Sozialverwaltung, im Gesundheitswesen. Gerade im Vergleich zu den ausführlichen Darlegungen zu den Sicherheitsbehörden ist hier der Bericht des Datenschutzbeauftragten unzureichend und verbesserungsbedürftig. So vermissen wir die genauen Angaben über die Art und die Menge der Daten, die im gesamten Bereich der Sozialversicherung gespeichert sind. Die Frage bleibt unbeantwortet, ob es richtig ist, daß die in den Datenbanken der Sozialversicherung gespeicherten Daten ausreichen, um Einzelheiten aus dem Lebenslauf fast jedes Zeitgenossen lückenlos zusammenzufügen.Aus den Dateien der Krankenversicherungen können nicht nur jedes Gebrechen, jede Kranheit erfahren werden, sondern auch jene Zeiten, die ein Versicherter vielleicht wegen einer übel ausgegangenen Schlägerei krankfeiern mußte. Hier sind zum Teil brisante und den Intimbereich zutiefst berührende Daten gespeichert und abrufbar. Darum .muß dem möglichen Mißbrauch in diesem Bereich bald und wirksam vorgebeugt werden.
In dem Bericht wird kein Wort darüber verloren, ob nach Auffassung des Bundesbeauftragten der Begriff des Sozialgeheimnisses beibehalten oder durch den Begriff der „personenbezogenen Daten", der im Bundesdatenschutzgesetz Verwendung findet, ersetzt werden sollte.Der Bundesbeauftragte hat auch nur andeutungsweise die wichtigen Fragen der Amtshilfe im Bereich der Sozialversicherung angesprochen. Hier sehe ich noch weit größere Probleme als im Sicherheitsbereich.Es ist auch zu fragen, wie in der praktischen Arbeit bei den Trägern der Sozialversicherung sichergestellt ist, daß die Millionen von personenbezogenen Daten, die bei den Krankenkassen, den Berufsgenossenschaften und den anderen Trägern der Sozialversicherung gespeichert sind, nicht zu den falschen Behörden und in falsche Akten geraten.Schließlich wurde nichts darüber gesagt, ob und in welchem Umfang personenbezogene Daten an Gerichte zur Durchführung von Rechtsstreitigkeiten und an Finanzämter zur Feststellung des Steuerbescheids weitergegeben werden dürfen. Wennhier keine wasserdichte Lösung gefunden wird, hat der große Bruder zu unseren Bürokratien bereits längst Zugang gefunden.Die große Ungewißheit unserer Bevölkerung in diesen Fragen schlägt sich in der geringen Zahl der Eingaben an den Bundesbeauftragten nieder. Deswegen unsere Forderung, daß die Bürger endlich erfahren, welche Möglichkeiten es in diesem Bereich gibt. Hier besteht eine echte Informationslücke bei der Bevölkerung. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung und des auf ihren Vorschlag hin ernannten Bundesbeauftragten, diese Lücke möglichst schnell und auch umfassend zu schließen.Der Bundesbeauftragte hat sich auch zum nichtöffentlichen Bereich geäußert. Hier ist darauf hinzuweisen, daß das an sich zur Kompetenz der Länder nach §§ 30, 40 des Bundesdatenschutzgesetzes gehört. Die Aufsichtsbehörden der Länder führen seit geraumer Zeit entsprechende Gespräche mit dem Verband der Versicherungswirtschaft, den Banken und der Schutzgemeinschaft der Sparer. Diese Gespräche, die erfolgverheißend verlaufen, sollten erst abgewartet werden, bevor der Bundesbeauftragte hier weitere Aktivitäten entwickelt.Der Bundesbeauftragte hat sich in seinem Tätigkeitsbericht sehr zurückhaltend zum sogenannten Medienprivileg geäußert. Auch wir sind der Auffassung, daß Presse, Rundfunk und Film im Hinblick auf das Grundrecht nach Art. 5 des Grundgesetzes eine besondere Stellung zukommen muß. Trotz dieser Sonderstellung muß jedoch einmal eingehend geprüft werden, inwieweit Datenschutz und Persönlichkeitsrechte bei diesen Medien tatsächlich sichergestellt sind. Hierzu bedarf es klarer und eindeutiger Äußerungen nicht nur des Bundesdatenschutzbeauftragten, sondern auch der Bundesregierung. Diese Antworten liegen leider bis heute nicht vor.Zusammenfassend können wir feststellen: Der Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist eine brauchbare Grundlage für den weiteren Ausbau und die Festigung des Datenschutzes. Voraussetzung dafür ist, daß berechtigte Kritik nicht nur zur Kenntnis genommen wird, sondern daß auch für Abhilfe der Mängel gesorgt wird. Zukünftig müssen in vermehrtem Maße außerhalb der Sicherheitsbereiche an Ort und Stelle die Datenspeicherung und die Rechenzentren der Bürokratie eingehend auf mögliche Mißbräuche hin kontrolliert werden. Nur so kann der Freiheitsraum unserer Bürger gegenüber den übermächtigen Bürokratien zukünftig ausreichend geschützt werden.Die CDU/CSU-Fraktion ist wie schon in der Vergangenheit zu jeder Zusammenarbeit bereit, wenn sie dieses Ziel, nämlich den Schutz unserer Bürger, zum Inhalt hat.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Staatssekretär von Schoeler.
Metadaten/Kopzeile:
13120 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Erste Bericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gibt Gelegenheit zu einer Zwischenbilanz über die Wirkungen des 1976 verabschiedeten Gesetzes und zur Stellungnahme zu einigen aktuellen Fragen, die in dem Bericht aufgeworfen werden. Darüber hinaus muß uns der Bericht herausfordern, über die Fortentwicklung des Datenschutzes hier zu diskutieren.Bei der Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes ging es darum, den Freiheitsraum des Bürgers vor den Gefährdungen moderner Technologien zu bewahren, seine Persönlichkeitssphäre nicht schutzlos den Rationalisierungsbemühungen von Staat und Wirtschaft auszusetzen und dieses Ziel ohne eine gigantische und perfektionistische Datenschutzbürokratie in Staat und Wirtschaft zu gewährleisten. Diese Ziele sind aktuell geblieben. Zu ihrer Erreichung werden wir noch manche Anstrengung unternehmen müssen.Aber schon heute, zweieinhalb Jahre nach Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes, können wir, so meine ich, sagen: Die Verabschiedung dieses Gesetzes war ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Sicherung der Privatsphäre des Bürgers im Zeitalter sprunghafter technischer Entwicklung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung.Kollege Laufs hat darauf hingewiesen, daß die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages damals gegen dieses Gesetz gestimmt hat. Herr Kollege Laufs, ich muß Sie fragen, was die Folge gewesen wäre, wenn Sie sich damals durchgesetzt hätten. Die Folge wäre doch nicht ein besserer Datenschutz gewesen, sondern die Folge wäre gewesen, daß die Auskunftsansprüche, die Berichtigungsansprüche, die Kontrollrechte des Bürgers,
die Institution des Bundesbeauftragten für den Datenschutz nicht geschaffen worden wären. Wir können uns gerne darüber unterhalten, wo und wie wir das Datenschutzrecht fortentwickeln müssen,
nur, ihren Standpunkt von damals als die Weisheit bezüglich der Fortentwicklung des Datenschutzes zu bezeichnen, leuchtet mir nicht ein, weil das Ergebnis die Schutzlosigkeit des Bürgers gewesen wäre.
Herr Kollege Laufs, man sollte, glaube ich, die Vergangenheit auch nicht verklären. Wie kam denn das Nein der CDU/CSU-Fraktion zustande? Ich nehme Ihnen ab, daß Sie bzw. diejenigen, die damals bei der Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes Ihre Position vertreten haben, dagegen gestimmt haben, weil ihnen der Gesetzentwurf noch nicht weit genug ging.
Das ehrt Sie. Das gibt eine Basis dafür, daß man das Datenschutzrecht fortentwickeln kann. Aber Sie wissen doch so gut wie ich, daß damals nicht alle in Ihrer Fraktion aus den gleichen Motiven dagegen gestimmt haben. Wir haben es doch in den Beratungen des Bundesrates erlebt. Da haben wir uns doch mit den Argumenten von CDU/CSU-Vertretern auseinanderzusetzen gehabt, die nicht gegen das Gesetz waren, weil es ihnen nicht weit genug ging — so wie Ihnen —, sondern die dagegen waren, weil ihnen das Gesetz schon viel zu weit ging. So ist das Nein der CDU/CSU-Fraktion zum Datenschutzgesetz von 1976 eines der vielen Beispiele, wo sich die Fraktion der CDU/CSU im Bundestag zwar auf ein Nein einigen konnte, über die Gründe für dieses Nein aber in den eigenen Reihen sehr uneinig war.Mit dem Gesetz, meine Damen und Herren, ist die Rechtsstellung des Bürgers verbessert worden. Die Befürchtungen, daß die Datenverarbeitung in Staat und Wirtschaft in unerträglicher Weise eingeschränkt werde, wie damals vor allem aus den Kreisen der Wirtschaft geäußert wurde, haben sich nicht bewahrheitet.Die Grundkonzeption des Gesetzes als „Grundgesetz" des Datenschutzes, das eine perfektionistische und abschließende Regelung für alle Bereiche weder bieten will noch kann, hat sich bewährt. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat dies in seinem Bericht anerkannt. Ich stimme ihm ausdrücklich zu.Das Gesetz hat aber nicht nur eine stärkere Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung und der privaten Wirtschaft, die Daten verarbeitet, gebracht, es sind nicht nur Ansprüche auf Auskunft, Berichtigung oder Löschung geschaffen worden, sondern das Gesetz hat auch ein Kontroll- und Aufsichtssystem geschaffen, das für die Sicherung der Privatsphäre des Bürgers große Bedeutung hat und von dem Anstöße für die Fortentwicklung des Datenschutzes ausgehen und weiter ausgehen werden. Mit dem Gesetz ist ja nicht nur die Institution des Bundesbeauftragten für den Datenschutz geschaffen worden, dessen ersten Bericht wir heute diskutieren. Als Folge des Gesetzes sind durch die Landesdatenschutzgesetze entsprechende Kontrollinstanzen in den Ländern geschaffen worden. Die Datenschutzkontrolle im nichtöffentlichen Bereich ist den Aufsichtsbehörden der Länder übertragen- worden. Sie wird ergänzt durch die betriebsinternen unabhängigen Datenschutzbeauftragten. Ich möchte ausdrücklich die Arbeit dieser rund 10 000 innerbetrieblichen Datenschutzbeauftragten anerkennen, von denen jeder in der Alltagspraxis vor Ort ein Stück Datenschutz verwirklichen soll. Die Debatte sollte nicht vorbeigehen, ohne daß diese Arbeit anerkannt wird.
Meine Damen und Herren, von denjenigen, die in diesem breit gefächerten Aufsichts- und Kontrollsystem als Anwalt der Bürger zum Schutz unserer Rechte tätig werden, gehen auch Anregungen für die Fortentwicklung des Datenschutzes aus.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13121
Parl. Staatssekretär von SchoelerSolche Anregungen, Vorschläge und Kritik mögen manchmal unbequem sein. Aber mit Bequemlichkeit sind Bürgerrechte nicht zu schützen. Deshalb sollten wir in den Anregungen derjenigen, die in diesem Kontrollsystem tätig sind, und in den Beiträgen der Vertreter der Datenschutzwissenschaft einen unverzichtbaren Beitrag zur Fortentwicklung des Datenschutzes sehen. Mit solchen Anregungen und Anstößen bestätigt sich gerade die Richtigkeit der bei der Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes für das Kontroll- und Aufsichtssystem gewählten Konzeption. Wir haben bewußt davon abgesehen, eine einzige, den gesamten Anwendungsbereich des Datenschutzgesetzes überspannende Kontrollinstanz zu schaffen. Wir hätten uns damit der Gefahr einer Überbürokratisierung des gesamten Kontrollsystems ausgesetzt. Wir haben die andere Konzeption des Gesetzes aber auch deshalb gewählt, um aus den Erfahrungen und Berichten der vielen als Anwalt der Bürger tätigen Kontrolleure Anregungen für unsere gesetzgeberische Arbeit zu erhalten. Zugleich wird durch die Tätigkeit der Kontrolleure und ihre Berichte ein Beitrag zur Entwicklung eines Datenschutzbewußtseins des einzelnen Bürgers geleistet. Wir alle wissen, wie schwierig und wichtig gerade diese Aufgabe ist, Herr Kollege Spranger. Deswegen verstehe ich nicht, wieso Sie sagen — und Ihre alte Forderung von 1976 immer noch aufrechterhalten —, daß der Datenschutzbeauftragte besser quasi im geheimen arbeiten würde, wie der Bundesrechnungshof, oder jedenfalls mit äußerster Zurückhaltung. Wie wollen Sie dann erreichen, daß dieses Datenschutzbewußtsein gestärkt, daß es entwickelt wird, wenn nicht über den Datenschutz geredet wird, wenn nicht auch kritische Anmerkungen und Anregungen in die Offentlichkeit gebracht werden und sich damit der Datenschutz dynamisch fortentwickelt?Der erste Jahresbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz zeigt diese verschiedenen Aspekte seiner Tätigkeit. Der Jahresbericht gibt eindrucksvoll wieder, wie intensiv und umfassend der Bundesbeauftragte für den Datenschutz seine Aufgabe im ersten Jahr seiner Tätigkeit wahrgenommen hat. Er zeigt, daß der Bundesbeauftragte sich nicht nur als reaktiver Kontrolleur des Datenschutzes versteht, sondern daß er auch einen Beitrag zur Bildung des Datenschutzbewußtseins des Bürgers leisten will. Beide Aspekte seiner Tätigkeit sind wichtig; denn wir brauchen ein aufgeklärtes, realitätsbezogenes Datenschutzbewußtsein. Datenschutz bedarf der Mitwirkung der Bürger. Er muß auf die Respektierung seiner Rechte bedacht sein, muß Eingriffen in seine Persönlichkeitssphäre selbst entgegentreten. Datenschutz können wir nicht am Bürger vorbei exekutieren oder verordnen. Deswegen sollten wir diese Debatte nicht vorübergehen lassen, ohne an die Bürger zu appellieren, von ihren Rechten nach dem Bundesdatenschutzgesetz Gebrauch zu machen. Je mehr Bürger fragen werden, je öfter Auskunft verlangt wird, um so mehr werden unsere Bemühungen um eine Stärkung der Rechte des Bürgers Erfolg haben.Die konzeptionelle Idee des Datenschutzgesetzes, den Bürgern den Bundesbeauftragten für den Datenschutz als Partner zur Seite zu stellen, ist dabei von eminenter Bedeutung. Der Bundesbeauftragte ist aber nicht nur Partner des Bürgers, sondern auch der öffentlichen Verwaltung. Er ist die institutionalisierte Sensibilität, das Datenschutzgewissen des Bundes. Die Transparenz der Kontrolle, die der Bericht bewirkt, fördert das Datenschutzbewußtsein auch bei den Beamten, die mit sensiblen Daten arbeiten müssen.Die Notwendigkeit, bei der Fortentwicklung des Datenschutzrechtes insbesondere die bereichsspezifischen Datenschutzregelungen im Auge zu behalten, ist von allen Rednern in dieser Debatte unterstrichen worden.Die Ergänzung des Bundesdatenschutzgesetzes durch bereichsspezifische Datenschutzregelungen ist ein Versprechen des Deutschen Bundestages an alle diejenigen gewesen, die mehr Datenschutz wollten, als 1976 bei der Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes zu verwirklichen war. Ich meine, dieses Versprechen muß eingelöst werden. Die Bundesregierung arbeitet intensiv an der Entwicklung bereichsspezifischer Datenschutzregelungen. Ein Bereich, in dem diese Arbeiten begonnen wurden, zu ersten Ergebnissen geführt haben und auch fortgesetzt werden, nämlich der Bereich der Sicherheitsbehörden, war in der letzten Woche Gegenstand einer ausführlichen Debatte hier im Plenum des Deutschen Bundestages. Ich werde nachher noch etwas zu dem ebenso wichtigen Bereich des Meldewesens sagen. Es gibt in anderen Ressorts der Bundesregierung als dem Bundesinnenministerium, beispielsweise beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, sehr intensive Überlegungen zur Fortentwicklung des Datenschutzes im Bereich der Sozialversicherungsträger.Bereits bei Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes ist neben der Forderung nach bereichsspezifischen Datenschutzregelungen auch darauf hingewiesen worden, daß das Bundesdatenschutzgesetz selbst novelliert werden muß, wenn sich der Datenschutz als verbesserungsfähig erweisen soll.Ich möchte einige wenige Worte zu der Frage sagen, wo das Bundesdatenschutzgesetz selbst verbesserungswürdig und -bedürftig ist. Ich habe bereits erwähnt, meine Damen und Herren, daß Datenschutz auch Sache des Bürgers ist, daß er seine Rechte selbst wahrnehmen muß und daß er Eingriffen in seine Rechte entgegentreten muß. Das Auskunftsrecht des Bürgers gehört daher zu den grundlegenden Rechten des Bürgers nach dem Bundesdatenschutzgesetz. Erst über diese Auskunft wird er in die Lage versetzt, von seinen weiteren Rechten gegen unrichtige oder unzulässige Datenverarbeitung Gebrauch zu machen. Von der Wahrnehmung dieser Rechte darf er nicht durch Gebühren und Entgelte abgeschreckt werden.Im öffentlichen Bereich des Bundes hat der Bundesminister des Innern daher kürzlich eine großzügige Handhabung der vom Gesetz getroffenen Gebührenregelung empfohlen. Auf die Erhebung der Gebühr soll danach grundsätzlich schon jetzt vor
Metadaten/Kopzeile:
13122 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Parl. Staatssekretär von Schoelereiner eventuellen generellen Abschaffung der Gebühr durch eine Gesetzesänderung bzw. eine Verordnungsänderung abgesehen werden. Ich hielte es für eine sinnvolle Weiterentwicklung des Datenschutzrechts, wenn auch im privaten Bereich grundsätzlich die Gebührenerhebung abgeschafft würde.Wege zur Fortentwicklung des Datenschutzrechts zeigen vor allem auch die Landesdatenschutzgesetze auf, die nach Inkrafttreten des Bundesdatenschutzgesetzes erlassen worden sind. Deswegen, Herr Kollege Laufs — Herr Kollege Wernitz hat schon darauf hingewiesen —, ist es gar nicht schlecht, wenn die Landesdatenschutzgesetze neue Erfahrungen auf Grund ihrer späteren Verabschiedung haben aufnehmen können. Wir stellen uns heute die Frage: Was können wir lernen von den Gesetzgebungsverfahren in den Ländern? Welche Punkte, die 1976 noch nicht in das Bundesdatenschutzgesetz, aber später in die Landesgesetze aufgenommen wurden, können wir jetzt auch übernehmen?
— Herr Kollege Laufs, da stimme ich ja durchaus mit Ihnen überein. Wir handeln auch.Zu diesen Punkten rechne ich die Einführung eines verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruchs für die betroffenen Bürger gegen die datenverarbeitenden Stellen im öffentlichen wie im nichtöffentlichen Bereich. Die Rechtsentwicklung, die von der Rechtsprechung im allgemeinen Schadensersatzrecht eingeleitet worden ist und in den meisten Landesdatenschutzgesetzen einen speziellen Niederschlag gefunden hat, sollte hier auch im Bundesdatenschutzgesetz verankert werden. Ich freue mich, daß in diesem Punkt bei Rednern aller Fraktionen in dieser Debatte Übereinstimmung festzustellen ist.
Meine Damen und Herren, in der Debatte ist hier auch einiges zu der Frage, ob man ein Grundrecht auf Datenschutz in die Verfassung übernehmen sollte, gesagt worden. Herr Kollege Dr. Wernitz hat zu Recht auf die Antwort der Bundesregierung hingewiesen, die ihm vor einiger Zeit gegeben worden ist. Ich meine, wir sollten uns jetzt alle gemeinsam überlegen, ob wir diese Frage noch klären können. Wir müssen uns dabei ernsthaft mit den Argumenten auseinandersetzen, die es für beide Seiten gibt.Ein in der Verfassung verankertes Grundrecht auf Datenschutz würde sicherlich ein Signal für die verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Dimension des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre geben. Mit einem solchen Grundrecht würde deutlich, daß die Sammlung, Speicherung und Weitergabe von Daten grundsätzlich als Eingriff in die Privatsphäre verstanden wird, der einer Rechtfertigung bedarf. Der Gesetzgeber würde bei jedem Eingriff in ein solches Grundrecht gezwungen, das Zitiergebot des Art. 19 GG zu beachten.Uns allen würde damit die Bedeutung des Datenschutzes für den Schutz der Privatsphäre immer wieder vor Augen geführt.Das dagegen ins Feld geführte Argument, ein solches Grundrecht würde unter Umständen weitgehend leerlaufen und Programmsatz bleiben, ist ernst zu nehmen. Aber wenn wir es bewerten, müssen wir uns, glaube ich, die Frage stellen, ob dies nicht ein allgemeines Problem unserer Verfassung ist, daß verfassungspolitisch ausgedrückte Ziele auf der einen und Verfassungswirklichkeit auf der anderen Seite noch auseinanderklaffen, ohne daß man deshalb sagen würde, daß die Verfassung geändert werden müßte. Vielmehr liegt hierin ein Appell, die Verfassungswirklichkeit dem Ideal der Verfassung anzunähern.Das sind, wie ich meine, die Probleme. Herr Kollege Laufs, wir sollten in der nächsten Zeit alle miteinander darüber nachdenken, ob wir hier einen gemeinsamen Schritt unternehmen sollten.Meine Damen und Herren, dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz obliegt die Kontrolle des Datenschutzes im gesamten öffentlichen Bereich des Bundes. Ihm stehen sämtliche personenbezogene Dateien aller Behörden und sonstigen öffentlichen Stellen des Bundes von Gesetzes wegen für seine Kontrolltätigkeit offen, auch diejenigen des Sicherheitsbereichs; letzteres sollte hier besonders hervorgehoben werden, weil viele glauben, dies sei nicht so. Das Datenschutzgesetz spart die Sicherheitsbehörden nur von der Auskunftspflicht gegenüber dem Bürger, nicht von der Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten aus.Von der im Gesetz vorgesehenen Staatswohlklausel, dem Bundesbeauftragten in einem besonders gelagerten Einzelfall den Zugang zu einer Datei zu verweigern, ist bisher in keinem einzigen Fall Gebrauch gemacht worden. Das werden wir auch berücksichtigen müssen, wenn wir über die Fortentwicklung des Datenschutzes und des Datenschutzgesetzes nachdenken.Der Tätigkeitsbericht umfaßt das gesamte Gebiet der Arbeit des Bundesbeauftragten. Er betrifft eine Großzahl von Bundesressorts, die in eigener Verantwortung Anregungen und Bedenken prüfen und Beanstandungen im Hinblick auf datenschutzrechtliche Vorschriften in eigener Verantwortlichkeit abstellen. Der Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern nimmt in dem Bericht einen breiten Raum ein. Das ist selbstverständlich, weil gerade der Sicherheitsbereich datensensibel ist.Ich begrüße die Kontrolltätigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ausdrücklich. Wir werden den Bundesbeauftragten wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft in die Überprüfungen und Überlegungen zur Fortentwicklung des bereichsspezifischen Datenschutzes im Sicherheitsbereich einbeziehen. In diesem Bereich wird die Ombudsman-Funktion des Bundesbeauftragten besonders deutlich. Zu dieser Funktion möchte ich mich ausdrücklich bekennen.Ich teile die Bewertung des Bundesbeauftragten, daß dem Datenschutz im Meldewesen, das über na-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13123
Parl. Staatssekretär von Schoelerhezu alle Bewohner des Bundesgebiets Daten sammelt, eine große Bedeutung zukommt. Der bereichsspezifische Datenschutz muß hier durch ein Melderechtsrahmengesetz auf eine klare gesetzliche Grundlage gestellt werden. In einem solchen Gesetz müssen u. a. die Aufgaben der Meldebehörden klar beschrieben; der Umfang der zu speichernden Daten eingegrenzt und klare Regelungen zur Beschränkung von Daten geschaffen werden. Ein Melderechtsrahmengesetz muß sicherstellen, daß nicht eine umfassende zentrale Registrierung aller Bürger erfolgt. Die Einführung von Landesadreßregistern werden wir deshalb nicht vorsehen. Hier besteht mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz sicherlich Übereinstimmung. Das Melderechtsrahmengesetz muß bereichsspezifischen Datenschutz im Meldewesen sicherstellen. Wir werden einen solchen Entwurf auch nur dann einbringen und verabschieden, wenn wir wissen, daß wir das Ziel, den bereichsspezifischen Datenschutz sicherzustellen, damit auch erreichen.Der Bericht des Bundesbeauftragten widmet sich auch den international relevanten Fragen des Datenschutzes. Ich stimme der Einschätzung des Bundesbeauftragten zu, daß der Harmonisierung der nationalen Datenschutzgesetze in möglichst weitem Rahmen ganz besondere Bedeutung zukommt. Nur damit lassen sich die Probleme des grenzüberschreitenden Datenverkehrs wirklich lösen.Der Bundesminister des Innern hat daher von Anfang an bei den entsprechenden Vorhaben von OECD, Europarat und Europäischen Gemeinschaften intensiv mitgearbeitet. Er wird diese wichtige Mitarbeit zur Lösung der Probleme des internationalen Datenschutzes fortsetzen. Die Beratungen im Innenausschuß, auch über die Beschlußempfehlung des Europäischen Parlaments, werden hierbei sicherlich eine wichtige Funktion haben.Meine Damen und Herren, ich habe nur einige wenige der durch den Bericht aufgeworfenen Fragen ansprechen können. Die Bundesregierung wird alle Vorschläge des Bundesbeauftragten sorgfältig prüfen. Der Bundesminister des Innern versteht den ersten Jahresbericht des Bundesbeauftragten als Unterstützung seiner Arbeit und dankt ihm für diesen Bericht.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 8/2460 an den Innenausschuß — federführend — und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Forschung und Technologie und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 8/2928 an den Innenausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend - vor. Erhebt sich Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung wird jetzt der Tagesordnungspunkt 15, dann der Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen. Im Anschluß daran werden die Tagesordnungspunkte 13, 14 ff. behandelt.
Ich rufe also nunmehr den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Raumordnungsberichts 1978 - Drucksache 8/2378 -
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Innenausschuß
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Haack.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Raumordnungsbericht 1978 der Bundesregierung knüpft inhaltlich an die Raumordnungsberichte der Jahre 1966, 1968, 1970, 1972 und 1974 an. Er unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von den bisherigen Berichten: Er umfaßt einen Zeitraum von vier Jahren und zum ersten Mal wird über die Realisierung des 1975 beschlossenen Bundesraumordnungsprogramms durch die Fachplanungen des Bundes berichtet. Dabei werden die Forschungs- und Technologieförderung und die berufliche Bildung erstmals in einem Raumordnungsbericht der Bundesregierung behandelt.Die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilräumen des Bundesgebietes wird von der Bundesregierung unverändert als die Aufgabe der Raumordnungspolitik angesehen. Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen bedeutet dabei aber nicht Gleichartigkeit oder Gleichheit. Für die Raumordnungspolitik kann die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen nur heißen, für die Bürger in allen Teilräumen der Bundesrepublik ein quantitativ und qualitativ angemessenes Angebot an Arbeitsplätzen, Wohnungs-, Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten sowie an Infrastruktureinrichtungen in zumutbarer Entfernung zu unterbreiten und vor allem humane Umweltbedingungen zu gewährleisten. Dies ist nicht zuletzt auch eine sozialstaatliche Verpflichtung. Insofern ist die Forderung nach Chancengleichheit auch Bestandteil der Raumordnungspolitik.Für die Bundesregierung — das muß ganz deutlich betont werden — geht es dabei um einen Raum, also um das gesamte Bundesgebiet, um einen Raum, der allerdings unterschiedliche Probleme in seinen Teilräumen hat. Daher können wir auch Forderungen der Art nicht unterstützen, die Sanierung des einen Teilgebietes auf Kosten des anderen vorzunehmen. Nicht passive, sondern aktive Sanierung muß das Konzept für jede Raumordnungspolitik sein.Der Raumordnungsbericht ist ein politischer Rechenschaftsbericht an das Parlament. Seine Ergänzung oder Anreicherung um Kartenmaterial, Statistiken wäre ohne weiteres möglich gewesen, hätte
Metadaten/Kopzeile:
13124 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Bundesminister Dr. Haackjedoch von der Diskussion über die Umsetzung programmatischer Vorstellungen in den Jahren 1974 bis 1978 abgelenkt. Ich sage das deshalb, weil in der Fachdiskussion über den Raumordnungsbericht 1978 kritisiert worden ist, daß er diesmal nicht den Umfang wie in den vergangenen Jahren hat. Das hängt aber damit zusammen, daß die Bundesregierung — jedenfalls jetzt — der Auffassung ist, daß es nicht Aufgabe von Berichten der Regierung sein kann, große wissenschaftliche Abhandlungen vorzulegen. Wir arbeiten allerdings — um das gleich zur Ergänzung und Information zu sagen — an einem Materialband, der dann Informationen über die Raumentwicklung enthält, die bisher in dem Bericht noch vermißt worden sind.Die drei Kernbereiche der Raumordnungspolitik sind: Sicherung und Schaffung neuer Arbeitsplätze, Sicherung einer gleichwertigen Infrastrukturversorgung und Verbesserung der Wohn- und Umweltqualität. Hier wird auch künftig das Schwergewicht der Anstrengungen beim Vollzug des Bundesraumordnungsprogramms liegen müssen.Einige kurze Bemerkungen zu diesen drei wichtigen Bereichen der Raumordnungspolitik. Erstens komme ich zur Sicherung und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Bestandsanalyse, die wir im Raumordnungsbericht 1978 vorlegen, zeigt und legt offen, daß sich die Lebensbedingungen in den Teilräumen des Bundesgebietes unterschiedlich entwikkelt haben. In den strukturschwachen, ländlichen Gebietseinheiten konnten die regionalen Ungleichgewichte bei den Erwerbsmöglichkeiten nicht abgebaut werden. Die Abwanderung bleibt nach wie vor ein Problem. So weisen die strukturschwachen, die ländlichen Räume auch weiterhin relativ hohe Wanderungsverluste auf. Dies gilt insbesondere für junge Erwerbstätige, weil in diesen Gebieten die Zahl der in das Erwerbsleben eintretenden Jugendlichen gerade in diesen Jahren besonders groß ist. Diese sogenannten Fernwanderungen sind zum größten Teil auf den Mangel an angemessenen Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten zurückzuführen. Deshalb ist die Verbesserung der ungünstigen Erwerbsstruktur in diesen Räumen zum Schlüsselproblem der Raumordnungspolitik geworden. Allerdings weisen auch die Verdichtungsräume, insbesondere die monostrukturierten Gebiete, wie die Montanreviere an Ruhr und Saar, hohe Arbeitslosenquoten auf. Mittlerweile fühlen sich auch einige Verdichtungsräume benachteiligt, weil der Strukturwandel, z. B. in der Stahlindustrie, zu erheblichen Problemen, auch städtebaulicher Art, geführt hat. Hier ist das Ruhrgebiet wieder das beste Beispiel, und das zeigt deutlich, daß die Raumordnungspolitik in Zukunft von der überholten Vorstellung abgehen muß, Raumordnungspolitik müsse es nur für bisher strukturschwache Gebiete, für Grenzgebiete oder für das Zonenrandgebiet geben. Das bleibt selbstverständlich nach wie vor wichtig; aber Raumordnungspolitik muß in Zukunft verstärkt auch an den städtischen Bereich jedenfalls dort denken, wo wir die soeben geschilderten Probleme haben.
Weil ich vorhin sagte, dieser Raumordnungsbericht 1978 ist ein Leistungsbericht, möchte ich stichwortartig anführen, worin ich wichtige Maßnahmen auch der Raumordnungspolitik in dem vergangene Jahre sehe, die wesentlich entweder zur Verbesserung der Situation in den Teilräumen des Bundesgebietes oder jedenfalls zu einer Sicherung des vorher Erreichten geführt haben. Ich nenne die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Ich will hier nicht die Zahlen im einzelnen bekanntgeben; Sie können im Bericht nachlesen, wie viele Milliarden DM wir zur Verfügung gestellt haben, wie viele Arbeitsplätze wir dadurch gesichert oder neu geschaffen haben. Ich nenne die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", ich nenne die vier Konjunkturprogramme der Bundesregierung der Jahre 1974/75 mit einem Mittelvolumen von etwa neun Milliarden DM und das Programm für Zukunftsinvestitionen von 1977 mit einem Mittelvolumen von 16 Milliarden DM.Nach der Verabschiedung des Bundesraumordnungsprogramms ist auf Standortentscheidungen von Behörden unter raumordnerischen Gesichtspunkten verstärkt Einfluß genommen worden. So sind z. B. bei der Neuordnung der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung des Bundes die Direktionen in Aurich, Kiel sowie die Ämter in Aschaffenburg, Braunschweig, Lübeck, Rheine und Schweinfurt gerade aus raumordnerischen Gesichtspunkten, aus regionalpolitischen Gründen beibehalten worden.Um einer Konzentration der Forschungs- und Technologieförderung in den Verdichtungsräumen zu begegnen und dem Strukturwandel, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft, Rechnung zu tragen, hat die Bundesregierung erst im vergangenen Jahr ein Forschungs- und technologiepolitisches Gesamtkonzept für kleine und mittlere Unternehmen beschlossen. Diese Unternehmen — deshalb erwähne ich das hier — stellen nicht nur rund 60 °/o der industriellen Arbeitsplätze dar, sondern sie sind gerade in strukturschwachen Gebieten tragende Pfeiler der dortigen Wirtschaftskraft.Daß die Bundesregierung das Problem der Arbeitsplätze weiter als vorrangig ansieht, zeigt das erst jüngst — das geht jetzt über den Berichtszeitraum des uns vorliegenden Berichts hinaus — verabschiedete arbeitsmarktpolitische Programm für Regionen mit besonderen Beschäftigungsproblemen vom 16. Mai 1979 mit einem Volumen von 500 Millionen DM. Damit wird die Arbeitsmarktpolitik stärker als bisher auf das Gefälle zwischen den regionalen Arbeitsmärkten ausgerichtet.Die Förderung des Ausbaus der schulischen und überbetrieblichen Ausbildungsstätten dient dem Ziel — auch das ist raumordnerisch von besonderer Bedeutung —, in den benachteiligten Gebieten hochwertige Arbeitsplätze in Betrieben mit höheren Ansprüchen an die Qualifikation zu sichern und neue zu schaffen. Auch hier können Sie im Bericht nachlesen, welche Mittel wir für die überbetriebliche Ausbildung, für den beschleunigten Ausbau des berufsbildenden Schulwesens in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13125
Bundesminister Dr. HaackEine kurze Bemerkung zum zweiten wesentlichen Bereich der Raumordnungspolitik, zur Sicherung einer gleichwertigen Infrastrukturversorgung. Die Versorgung mit Infrastruktur in Bereichen der strukturschwachen ländlichen Räume — ich habe das vorhin in anderem Zusammenhang erwähnt, lange Zeit das Hauptproblem und Sorgenkind der Raumordnung, in Zukunft einer der Problembereiche — hat sich in den letzten Jahren im großen und ganzen merklich verbessert. Ich nenne ganz wenige Beispiele: Planung und Bau der Bundesverkehrswege. Hier werden eben nicht mehr rein verkehrliche oder rein betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte zugrunde gelegt, sondern zunehmend auch raumordnerische Gesichtspunkte. Ich weise darauf auch im Zusammenhang mit der Diskussion über Streckenstillegungen bei der Bundesbahn hin. Der Bundesregierung war aus raumordnerischer Sicht von vornherein klar, daß die ursprünglichen Überlegungen der Deutschen Bundesbahn überhaupt nicht verwirklicht werden können. Ich hoffe, die weiteren Erörterungen der nächsten Monate werden dazu führen, daß gerade mit Blick auf die Raumordnung die notwendigen Strecken im wesentlichen erhalten bleiben.Ich darf auf die Probleme der Energiepolitik hinweisen — Seite 30 ff. unseres Berichts; die aktuelle Diskussion dieser Tage, Wochen und Monate, auch mit dem raumordnerischen Bezug —: Energieeinsparung, Kraftwerkstandorte, regionale Energieversorgung und schließlich Forschung. Ich darf darauf hinweisen, daß die unserem Ministerium nachgeordnete Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung erst vor kurzem bemerkenswerte Vorschläge für eine Akzentuierung der Energiepolitik vorgelegt hat, vor allem bei den Problemen der Fernwärmeversorgung.Der Ausbau der beruflichen Bildung ist von mir bereits im Zusammenhang mit der Arbeitsplatzentwicklung als Stichwort erwähnt worden. Er spielt aber selbstverständlich auch eine große Rolle, wenn wir von der Infrastruktur der schwach strukturierten Gebiete des Bundesgebietes sprechen. Deshalb messen wir den Fragen eines ausreichenden Bildungsangebots für die strukturschwachen Gebiete eine besondere Bedeutung bei. Aber ich muß deutlich darauf hinweisen, daß es in Zukunft bei der Raumordnungspolitik nicht nur darum gehen kann, in strukturschwachen Gebieten neue, verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen — das ist ja in den letzten Jahren teilweise schon erreicht worden —, sondern es muß gleichzeitig zumindest auch versucht werden, daß entsprechende .Arbeitsplätze in diesen Gebieten geschaffen werden, die der verbesserten Ausbildung entsprechen; denn sonst wäre ein verbessertes Bildungsangebot nur eine Teillösung idieser schwierigen Probleme.Ich darf in diesem Zusammenhang der Infrastruktur folgende Bemerkungen machen, weil auch das in der Diskussion ist. Ich meine, daß eine Konzentration der infrastrukturellen Einrichtungen auf wenige Standorte mit unzumutbar langen Wegen für dieBenutzer nicht in Frage kommen kann. Ich sage das ganz deutlich mit Blick auf diese Diskussion.
Deshalb müssen auch neue Organisationsformen der Infrastruktur in verstärktem Maße erprobt werden. Stichwort — wie auch im Bericht —: Ausbau einer mobilen sozialen Infrastruktur.Dritter und letzter Bereich: die Verbesserung der Wohn- und Umweltqualität. Im Raumordnungsbericht 1978 wird die Bedeutung der Wohn- und Umweltqualität für die weitere Entwicklung der Verdichtungsräume besonders hervorgehoben. Im Vergleich zu den Erwerbsmöglichkeiten verläuft das räumliche Gefälle in den Bereichen Wohnen und Umwelt in umgekehrter Richtung. Deshalb habe ich vorhin im Zusammenhang mit dem Bereich der Arbeitsplätze auch schon gesagt — ich wiederhole das —, daß Raumordnungspolitik in Zukunft auch die Wohn- und Umweltsituation in den Ballungsgebieten in verstärktem Maße beachten muß.
Wenn wir eine differenzierte Raumordnungspolitik betreiben, müssen wir wissen, daß wir einerseits in bestimmten Bereichen eine Unterversorgung im Ballungsgebiet — gerade beim Wohnen und in der Umwelt — haben, während wir auf der anderen Seite eine günstige Situation bei Wohnen und Umwelt im ländlichen Bereich, aber eine schlechtere Situation in der Erwerbsstruktur haben. Von daher muß sich die Raumordnungspolitik bemühen, auf diese differenzierten Fragen im einzelnen mit differenzierten Instrumenten zu antworten. — Wir haben im übrigen bei der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen zur Städtebaupolitik ausführlich zu diesen Fragen Stellung genommen, so daß ich das hier nicht zu wiederholen brauche.Ich möchte eine abschließende Bemerkung zur. Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms machen; denn der Raumordnungsbericht 1978 beruht auch auf den Grundentscheidungen des Raumordnungsprogramms 1975. An der Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms wird gearbeitet. Ich muß allerdings deutlich machen, daß es nicht darum gehen kann, eine grundlegend neue programmatische Konzeption für das Bundesraumordnungsprogramm zu entwickeln, die Fortschreibung soll vielmehr das Programm aktualisieren und damit letztlich einen noch besseren Vollzug dieses Programms in der Zukunft ermöglichen.Wie wir bereits in dem Ihnen schriftlich vorliegenden Bericht dargelegt haben, konzentrieren wir uns bei der Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms auf vier Bereiche: Neuabgrenzung der Gebietseinheiten mit dem Ziel, die bestehenden Ungleichheiten in der Erwerbs- und .Infrastruktur besser ausgleichen zu können — statt auf die 38 Gebietseinheiten des Bundesraumordnungsprogramms soll künftig auf die 75 Planungsregionen bzw. Oberbereiche der Länder abgestellt werden —; Aktualisierung der Daten und Verbesserung der Indikatoren zur Bestimmung von regio-
Metadaten/Kopzeile:
13126 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Bundesminister Dr. Haacknalen Infrastruktur- und Erwerbsstrukturschwächen; Überprüfung der Prognosen und schließlich— auch das muß in dieser Debatte natürlich eine Rolle spielen; wir haben es im Bericht ausgeführt— Berücksichtigung europäischer Raumordnungsbezüge insbesondere im grenzüberschreitenden Bereich, was ja schließlich auch bei der aktuellen Diskussion über Kraftwerksstandorte eine Rolle spielt.Ich glaube, daß dieser Raumordnungsbericht 1978 ein realistischer Bericht, ein Erfahrungsbericht über die Vergangenheit ist. Er soll aber gleichzeitig darstellen, wie sich die Bundesregierung die Raumordnungspolitik in den zukünftigen Jahren vorstellt. Selbstverständlich werden wir unsere Ziele nur dann erreichen, wenn wir hier eine Politik auch in enger Abstimmung mit den Bundesländern machen können. Ich habe aber das Gefühl, daß es nach bestimmten Kontroversen um das Bundesraumordnungsprogramm 1975 mittlerweile zu einer vernünftigen Kooperation zwischen Bund und Bundesländern gekommen ist; denn es geht ja schließlich um das Ziel, um dessen Erreichung wir uns gemeinsam bemühen: Verbesserung der Lebensverhältnisse unserer Bürger.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Pack.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Raumordnungsbericht 1974 und in Verbindung damit das Raumordnungsprogram.m waren die letzten programmatischen Äußerungen der Bundesregierung vor diesem heute zu diskutierenden Raumordnungsbericht. Daher kommt diesem Bericht unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Bundesraumordnungsprogramms besondere Bedeutung zu.Wir nehmen zur Kenntnis, Herr Minister, daß die Bundesregierung diesen Raumordnungsbericht darauf konzentriert, über die Ausführung des Bundesraumordnungsprogramms innerhalb des Bundesbereichs zu berichten. Sie wird damit allerdings dem § 11 des Raumordnungsgesetzes und der inzwischen entwickelten Praxis nicht gerecht. Die Bundesregierung hatte zur Komplettierung des Berichtes noch einen Materialband angekündigt, und wir hätten eigentlich erwarten können, daß bei den immensen Mitteln, die wir für Forschung ausgeben, dieser Materialband erstellt worden und so rechtzeitig als Bundestagsdrucksache erschienen wäre, daß er noch in die Ausschußberatungen hätte einbezogen werden können.
Es hat sich von vornherein als schwerwiegender Fehler herausgestellt, daß das Programm von Anfang an als fortschreibungswürdig bezeichnet wurde. Daher wurde von Anfang an die Bindungswirkung dieses Programms auch für die Fachplanungen des Bundes mit einem großen Fragezeichen versehen; denn wer richtet sich bei seiner Fachplanung schon an einem überholungsbedürftigen Programm aus?Im umfangreichsten Teil des Berichts wird der Vollzug des Bundesraumordnungsprogramms in den Fachplanungsbereichen des Bundes dargestellt. Man sollte nun annehmen, daß in den einzelnen Bereichen dargestellt wird, wie die Zielvorstellungen des Programms in den Fachplanungen Eingang gefunden haben oder, anders formuliert, wie die Praxis der Fachplanungen an die Zielvorstellungen des Raumordnungsprogramms angepaßt wird. Dies ist allerdings nicht der Fall. Vielmehr werden die einzelnen Fachplanungen beziehungslos nebeneinander dargestellt. Das einzige Verbindende ist die Überschrift „Vollzug des Bundesraumordnungsprogramms". Es erhebt sich durchaus der Verdacht, daß die Darstellung von Konflikten aus Kabinettsdisziplin unterblieben ist. Ich habe daher den Eindruck, daß der Bericht die wirkliche Lage nur verschönt wiedergibt.
Im Grunde werden seit der Schaffung des Raumordnungsgesetzes Mitte der 60er Jahre bis heute die gleichen raumordnungspolitischen Ziele immer wieder neu verkündet. Dies bewegt ja kaum etwas.Dagegen besteht ein erhebliches Defizit im Instrumentarium der Raumordnung, also bei der Durchsetzung dieser so hehren Ziele. Die Fraktion der CDU/CSU bittet den Raumordnungsminister, diesen Widerspruch durch kraftvolle Inanspruchnahme raumordnerischer Instrumente zu beseitigen.
Vor allem muß zunächst einmal Ordnung im eigenen Hause geschaffen werden. Damit bin ich bei dem Thema Behördenstandorte. Die Fahrlässigkeit der Bundesregierung beim Vollzug des Programms wird nämlich besonders bei diesem Kapitel „Behördenstandorte" deutlich. Das Kapitel endet mit dem Satz — ich zitiere —:Die Gesichtspunkte der Raumordnung bei der Neugründung und Umstrukturierung von Behörden ... können am wirkungsvollsten durch eine frühzeitige Beteiligung des für die Raumordnung zuständigen Bundesministers bei den Funktions- und Organisationsplanungen berücksichtigt werden.Dieser Satz stimmt natürlich. Aber unsere Frage lautet: Ist dies die Darstellung einer rein theoretischen Erkenntnis? Wird ein solches Verfahren praktiziert, wird es vorbereitet oder lediglich erwogen?Dies ist just ein Beispiel dafür, daß der Bericht dann ins Mehrdeutige, ins Unverbindliche abfällt, wenn man sich konkrete Aussagen wünschen würde. In dem Abschnitt „Behördenstandorte" heißt es in dem Bericht:Nach Verabschiedung des Bundesraumordnungsprogramms ist auf Standortentscheidungen von Behörden des Bundes verstärkt unterFrau Packraumordnungspolitischen Gesichtspunkten Einfluß genommen worden.Als Beleg hierfür wird dann angeführt — ich zitiere —:So konnten z. B. die mit der Zusammenlegung von Oberpostdirektionen verbundenen Auswirkungen für die regionalen Arbeitsmärkte in Braunschweig und Trier durch ergänzende Maßnahmen gemildert werden.Wenn man unterstellt, daß diese Beispiele ausgesucht wurden, um die Durchschlagskraft der raumordnungspolitischen Argumente darzustellen, muß man für die übrige Politik in bezug auf die Behördenstandorte das Schlimmste befürchten;
denn hier wurde nichts Gutes geschaffen, meine Damen und Herren, sondern das Schlimmste verhindert.Es ist auch bezeichnend, daß bewußt verschwiegen wird, wer denn eigentlich unter raumordnungspolitischen Gesichtspunkten hier Einfluß genommen hat. Ich bin überzeugt, wäre dies durch den zuständigen Minister geschehen, würde das in einem besonderen Abschnitt eine ganz gebührende Würdigung finden.
Es dürfte jedoch so sein, daß die verantwortlichen Politiker der jeweiligen Region Krach geschlagen haben und lediglich durch einige ergänzende und abmildernde Maßnahmen zur Ruhe gebracht wurden. Hier waren die Regionalpolitiker erfolgreicher als die Raumordner.
Dieses Verfahren nennt man dann „unter raumordnerischen Gesichtspunkten Einfluß nehmen". Dies ist sicherlich kein Ruhmesblatt für die Nutzung von Behördenstandorten im Dienste der Raumordnungspolitik.Während in den Niederlanden die Regierung die Absicht erklärt hat, 16 500 Arbeitsplätze aus Den Haag in schwach strukturierte Provinzen zu verlegen, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht einmal Koordinierungsrichtlinien für die Neueinrichtung, Erweiterung und Verlagerung von Bundesbehörden. Dies ist nun wirklich beklagenswert.
Ein weiteres Beispiel für die Unverbindlichkeit der Aussagen ist das Fachkapitel „Verkehr und Nachrichtenwesen" in Kapitel III. Es befaßt sich vorwiegend mit künftigen Planungen. Eine Darstellung und raumordnerische Würdigung der im Berichtszeitraum tatsächlich durchgeführten Maßnahmen wird vermißt.Ungewöhnlich allgemein ist das Kapitel „Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms". Wir erwarten, daß in Zukunft stärker über den instrumentalen Teil der Raumordnungspolitik gesprochen wird. Hier herrscht gegenüber der allgemeinen und oft unverbindlichen Zieldiskussion ein er-hebliches Defizit. Die CDU/CSU-Fraktion hält eine solche Diskussion für vordringlich. Wir werden uns an einer solchen Diskussion sehr gerne beteiligen. So enthält bereits unser Antrag auf Drucksache 8/1656 einen eigenen Abschnitt mit einem Katalog von Maßnahmen und Instrumenten zur Verwirklichung der Ziele der Raumordnungspolitik. Wir sollten diesen Katalog gemeinsam diskutieren, konkretisieren und, wenn es sein muß, erweitern. Ich bedaure nachdrücklich, daß sich der zuständige Ausschuß noch nicht die Zeit genommen hat, über unseren Antrag zu beraten.Weil ich eben darauf eingegangen bin, erwähne ich als Beispiel aus diesem Katalog noch einmal die Aufforderung an die Bundesregierung, „bei Entscheidungen über Standorte von Bundesbehörden den Bedürfnissen der Problemregionen Rechnung zu tragen". Ich füge aber in Richtung der Kollegen von der SPD-Fraktion hinzu, daß die Instrumente das marktwirtschaftliche Ordnungssystem ergänzen müssen und nicht zerstören dürfen.
Wir wollen keine Planwirtschaft durch die Hintertür der Raumordnung. Marktwirtschaftskonforme Raumordnungspolitik liegt vor allem darin, daß der Staat einen Rahmen gibt und verläßliche Daten setzt, an denen sich das Verhalten der Privaten orientieren kann.Auch die Bundesregierung fordert in dem Bericht — allerdings zu vage, wie es für diesen Bericht so typisch ist — die Diskussion besserer raumordmungspolitischer Instrumente. Dort heißt es:Trotz der unveränderten Zielsetzungen führen die zum Teil wesentlich veränderten demographischen, wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen dazu, die raumordnungspolitischen Instrumente zu überprüfen.Ich erkläre für meine Fraktion nochmals: Wir sind zu dieser Diskussion bereit und wollen an dieser Diskussion mitwirken.Die Bundesregierung erklärt im Raumordnungsbericht 1978, sie werde an dem Ziel, gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilräumen des Bundesgebietes sicherzustellen, festhalten. Damit kann sich nur derjenige zufriedengeben, der die Dinge oberflächlich betrachtet.
Dieses meines Erachtens zentrale Problem der Raumordnungspolitik wird in dem vorliegenden Raumordnungsbericht verdeckt, aber nicht inhaltlich angesprochen. Es geht um die Problematik des Bevölkerungsrückganges, verbunden mit einer doppelten Wanderungsbewegung, doppelten Wanderungsbewegung deshalb, weil es das Problem der Abwanderung aus dem ländlichen Raum und das Problem der Stadtrandwanderungen gibt. Beide Wanderungsbewegungen, verbunden mit der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung, gefährden langfristig die gegenwärtige Raumstruktur. Für die Städte ergeben sich Probleme, weil eine soziale Entmischung stattfindet, die langfristig einen er-
Metadaten/Kopzeile:
13128 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Frau Packheblichen sozialen Sprengstoff aufhäufen kann. Die Randwanderung führt gleichzeitig zu einem Schwund an Steuerkraft, so daß die notwendigen finanziellen Ressourcen für eine Wende aus eigener Kraft verlorengehen. Es besteht die Gefahr, daß die Städte ihre gewachsene Identität verlieren. Den Städten bleiben die Bürger als Wirtschaftsbürger in den meisten Fällen erhalten. Der Bezug zur Stadt, auch wenn er sich nur noch auf den Arbeitsplatz und die wesentlichen zentralen Infrastrukturen erstreckt, bleibt ebenfalls erhalten. Hieraus könnten Ansatzpunkte für eine Tendenzumkehr entwickelt werden. Der Deutsche Bundestag hat bereits Maßnahmen in dieser Richtung beschlossen.Anders aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Tendenz zur Abwanderung aus den ländlichen Gebieten zu beurteilen. Wer vom Land abwandert, verläßt diesen Raum in der Regel auf Nimmerwiedersehen.
Deshalb stellt sich die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten als endgültig und daher als. besonders schwerwiegend dar.Wenn ich mir die Presseerklärungen des Bundesministers aus den letzten zwei Jahren vor Augen führe, so stoße ich immer wieder auf Verlautbarungen und Maßnahmenankündigungen zum Thema Stadtflucht. Die meisten dieser Verlautbarungen bezeichnen die Stadtflucht als eine besorgniserregende Entwicklung, gegen die man mit einem Bündel von Maßnahmen antreten müsse. Es ist selbstverständlich die Pflicht des Bundesraumordnungsministers, Maßnahmen gegen gesellschaftspolitisch unerwünschte Abwanderungen aus den Kernstädten zu ergreifen. Was ich dem Bundesraumordnungsminister aber im Zusammenhang mit dem Raumordnungsbericht 1978 vorwerfen möchte, ist, daß er offenbar nur bei den Zielen der Raumordnungspolitik, nicht aber bei der praktischen Verwirklichung Stadt und Land gleichbehandelt.
Herr Bundesminister, es gibt von Ihnen und auch vom Bundeskanzler eine Flut von Erklärungen zur Stadtflucht. Was Sie bisher zur Landflucht gesagt haben, ist äußerst spärlich. Dies ist für meine Fraktion deshalb so besorgniserregend, weil nach der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Raumordnungsprognose 1990 langfristig die Konzentration der Bevölkerung auf einige wenige Verdichtungsgebiete anhalten wird. Auf der anderen Seite kommt es zu rapider Arbeitsplatzabnahme in meist peripher gelegenen ländlichen Räumen, die die Bundesregierung im Bundesraumordnungsprogramm ausgewiesen hat. Die Menschen aus diesen Räumen müssen abwandern. Alle Gebietseinheiten mit mehr als 3 % Arbeitsplatzabnahme liegen in schwach strukturierten Gebieten. Gleichwohl hämmert die Bundesregierung auf dem Thema Stadtflucht herum, obwohl sie weiß, daß langfristig die existentiellen räumlichen Probleme in der Landflucht liegen.
Meine Fraktion will mit diesen Feststellungen den Bundesraumordnungsminister zu mehr Ausgewogenheit bei der Behandlung der Themen Stadtflucht und Landflucht auffordern. Wir unterstützen alle darin, den Prozeß der sozialen Entmischung in abwanderungsbedrohten Städtequartieren zu stoppen. Der sich hier vollziehende Prozeß darf niemandem gleichgültig sein.Der Bundesraumordnungsminister muß aber nachdrücklich daran erinnert werden, daß er Erfolge auf diesem Gebiet nur dann erzielen wird, wenn er an einer flächenabdeckenden Raumordnungspolitik festhält. Das bedeutet, er muß Stadtflucht und Landflucht im Zusammenhang behandeln und für beide Bereiche das notwendige Instrumentarium einsetzen. Hier besteht hinsichtlich der Landflucht ein nicht zu übersehender Nachholbedarf des Bundesraumordnungsministers, nicht nur in den Zielen, sondern auch bei den praktischen Maßnahmen, Stadt und Land gleichwertig zu behandeln.Wir bleiben bei dieser Einschätzung der Politik des Bundesministers, selbst wenn er sich hier vorhin verbal vielleicht anders ausgedrückt hat. Wir müssen auch feststellen, daß trotz der verbalen Beteuerungen, die wir vorhin gehört haben, die Politik der SPD auf eine endgültige Schwächung der ländlichen Gebiete hinausläuft.
Die Raumordnungspolitik der Bundesregierung würde erfolgreicher aussehen, wenn der nächste Raumordnungsbericht 1982 deutlich machen könnte, was gegen Stadt- und Landflucht konkret erreicht werden konnte. Daran werden wir die Raumordnungspolitik der Bundesregierung in den nächsten Jahren messen.Lassen Sie mich zum Abschluß noch einen Wunsch in Übereinstimmung mit Herrn Kollegen Immer vortragen. Wir bitten um zusätzliche Überweisung dieses Raumordnungsberichts an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Immer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann zunächst feststellen, daß eine ganze Reihe von Anregungen und Gedanken, die Frau Kollegin Pack hier vorgetragen hat, geeignet ist, in den Ausschußberatungen ernsthaft geprüft zu werden. Wir werden in einigen Punkten sicher Übereinstimmung finden, wenngleich ich der etwas ausgeprägten Verelendungstheorie, die Sie hier vorgetragen haben, nicht zustimmen kann. Schauen Sie sich landauf, landab um, und Sie sehen, daß viel geschehen ist. Ich glaube, das geht auch aus dem Bericht hervor. Sie können es mit eigenen Augen anschauen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13129
Immer
Ich möchte Ihre Grundhaltung, die da durchschimmert, durch ein Zitat deutlich machen, das ich zufällig gefunden habe. Es' paßt ein wenig auf Sie:Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht; sie haben Füße und können nicht laufen; sie haben Hände und begreifen es nicht und packen es nicht an.Ein sehr alter Spruch,
2500 Jahre alt. Er steht in Psalm 115, Vers 6 ff.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kolb?
Herr Kolb, lassen Sie mich doch erst mal ein paar Gedanken vortragen. Aber bitte!
Herr Kollege Immer, ist Ihnen bekannt, daß die Bundesregierung schon zweimal über die demographische Entwicklung diskutiert hat, diesen Bericht aber nicht verabschiedet hat, in dem es heißt, daß die Entwicklung im flachen Land dazu führen wird, daß Infrastrukturmaßnahmen unterbleiben und bis 1990 mit einer überproportionalen Abwanderung zu rechnen ist, d. h., daß sich die Infrastrukturmaßnahmen dort noch verschlechtern werden, was zu einer Schwierigkeit für die anderen führt?
Herr Kolb, ich habe zur Sache ja noch gar nichts gesagt. Darum können Sie eigentlich noch keine Zwischenfrage stellen. Ich dachte, Sie wollten den Bibelspruch in Zweifel ziehen.
Frau Pack, noch eine Bemerkung. Sie haben an zwei Stellen Beifall von Ihren Kollegen erhalten. Die eine Stelle war, als Sie die Bundesregierung veranlassen wollten, ein Instrumentarium zu entwickeln, das eine Gegenwirkung entfaltet, das also praktisch darauf hinausläuft, Investitionen räumlich zu lenken. Da haben Sie Beifall erhalten. Aber auch ein paar Sätze weiter haben Sie Beifall erhalten, als gesagt wurde: Aber die freie Marktwirtschaft darf nicht untergehen! Was stimmt denn nun eigentlich? Hier genau liegt die Konfliktsituation, die Sie zu bewältigen haben.
— In der Bibel steht sehr viel. Das würde ich gern mit Ihnen einmal privat durchgehen.
Ich möchte in Ergänzung zu dem, was Bundesminister Haack vorgetragen hat, bezüglich der Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms einige Bemerkungen machen. Es hat sich gezeigt,
daß sich der von uns in der letzten Legislaturperiode beschlossene vierjährige Rhythmus offensichtlich bewährt hat, weil hier langfristigere Tendenzen deutlicher ablesbar gemacht werden konnten, als wenn die Bundesregierung und die Länder gezwungen wären, alle zwei Jahre in aller Hektik einen Bericht zusammenzuschreiben.
Dieser lange Rhythmus zeigt aber auch, daß im Zusammenhang mit dem Bundesraumordnungsprogramm von 1975, das im wesentlichen auf dem Raumordnungsbericht 1972 basiert — also noch einmal ein paar Jahre zurück —, enorme Divergenzen auftreten, die wir durch eine Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogamms berücksichtigen müssen.
In diesem Bericht sind sicherlich sehr positive Aspekte enthalten, die real dargestellt sind. Ich darf sie ganz kurz nennen: eine erhebliche Verbesserung der Verkehrserschließung auch der ländlichen Räume, eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge und -fürsorge, ein besseres Bildungs- und Ausbildungsangebot, die Verbesserung der öffentlichen Infrastrukturangebote etwa im sportlichen Bereich oder im Freizeitbereich.
Trotzdem sage ich, daß wir diese positiven Entwicklungen relativ betrachten müssen, immer im Verhältnis zu den Entwicklungen, die in Ballungsräumen zu beobachten sind. Wir müssen allerdings auch die Negativposten mit einbeziehen, nämlich daß sich in den Ballungsräumen Entwicklungen breitgemacht haben, die das Wohnen und das Dortbleiben trotz vieler guter Dinge gefährden. Die Negativposten bzw. was noch nicht erreicht ist, ist kurz darzustellen, nämlich daß nach wie vor im ländlichen Raum die ärztliche Versorgung nicht ausreichend ist, daß die Erreichbarkeitswerte, d. h. die Zeiten, die die Menschen brauchen, um zu Schulen und Ausbildungsplätzen oder Arbeitsstellen zu kommen, noch zu lang sind. Der öffentliche Nahverkehr hat nicht die Ausstattung erfahren, die eigentlich erwartet werden muß. Wir nehmen an, daß die neueren Entwicklungen in der Energieversorgung hier auch ein Umdenken bewirken werden, so daß man nicht so schnell bereit ist, Bestehendes abzubauen, sondern es vielleicht sogar erweitert.
Es ist durch viele Maßnahmen nicht verhindert worden, daß insbesondere qualifizierte junge Menschen, die eine Ausbildung oder Schulbildung mit einer höheren Qualität erfahren haben, abwandern, etwa weil das Lohnniveau niedriger ist, weil es keine Arbeitsplatzalternativen gibt, daß andere abwandern, weil die Ausbildungschancen geringer sind und weil trotz des vorhin Gesagten das Freizeitangebot natürlich nicht den Standard haben kann, den die Menschen weithin wünschen.
Es gibt zusätzliche Probleme in der Entwicklung der Stadtkerne, der Ballungsräume, es gibt das Problem der Entleerung oder das der Erhöhung des Lärmpegels. Das sind alles Dinge, welche die
Metadaten/Kopzeile:
13130 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Immer
Menschen aus diesen Räumen heraus in die Randzonen treiben. Damit — das ist das zweite Problem — ergibt sich um die Städte herum sozusagen ein Siedlungsbrei, was leider durch die kommunale Planung auch nicht verhindert wird; vielmehr werden nach meiner Einschätzung leichtfertig Genehmigungen für Siedlungen erteilt, die nicht organisch wachsen können, die keine Kerne haben und die die Vereinzelung der Menschen verstärken, statt eine Gesellung etwa im Sinne der alten Dörfer zu ermöglichen.
Darüber hinaus haben wir die Strukturschwächen im wirtschaftlichen Bereich, insbesondere in den alten Montan-Gebieten an Saar und Ruhr, die wir nicht unterschätzen dürfen. Wir müssen sehr aufpassen, daß hier nicht eine viel größere Zahl von Arbeitsplätzen verlorengeht als in anderen Räumen.Dadurch entstehen allerdings — und davor dürfen wir die Augen nicht verschließen — neue räumliche Konkurrenzsituationen. Sie wissen — ich werde nachher noch kurz darauf eingehen —, daß die Sonderprogramme zu den Gemeinschaftsaufgaben in der Fläche in Konkurrenz treten. Hier werden wir darauf achten müssen, daß sich die Wirkungen nicht gegenseitig aufheben oder scharf miteinander konkurrieren.Allgemein ist feststellbar, daß das Investitionsvolumen beklagenswerterweise begrenzt wird. Hier ist die Entwicklung verlangsamt. Die Industrie handhabt Erweiterungsinvestitionen nicht stärker, sondern vorsichtiger.Was gilt es für die Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms zu bedenken? Auch das will ich nur telegrammstilartig ausführen. Wir werden die Gemeinschaftsaufgaben überprüfen müssen. Die Dinge sind in den entsprechenden Ausschüssen, auch im Raumordnungsausschuß, schon angesprochen worden.Wir werden Bilanzen des Inhalts fordern müssen, ob unter dem Strich wirklich Arbeitsplätze geschaffen worden sind oder ob sich die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Stillegung von Arbeitsplätzen nicht gegenseitig aufgehoben haben.Wir werden auch die Folgewirkungen von Sonderprogrammen überprüfen müssen. Es ist zu überlegen, ob es etwa durch Erstellung von Bedingungen möglich ist, den Stillegungseffekt in anderen Regionen verhindern zu helfen. Es hat doch wohl keinen Sinn, daß sich Konzerne auf Sonderprogramme stürzen, in einem Gebiet neue, moderne Arbeitsplätze schaffen und daraufhin kleine Betriebe in anderen Regionen abstoßen, weil sie unmodern geworden sind, obwohl sie aber noch rentabel wirtschaften. Es darf nicht nach dem — und hier darf ich einmal einen plattdeutschen Ausdruck gebrauchen — alten ostfriesischen Sprichwort gehen: „Een' sin Dod is den annern sin Brod". Hier muß es vielmehr ein Zusammenwirken geben. Man muß wissen, welche Wirkungen es auf der anderen Seite hat, wenn man auf der einen Seite etwas tut.Ein weiterer Punkt: Wir werden die Zuschnitte der Fernsprechnahbereiche überprüfen lassen müssen, weil wir den Eindruck haben, daß die raumordnerischen Gesichtspunkte im Einzelfall nicht gewürdigt worden sind, wie es wünschenswert wäre, da es eine rein technokratische Lösung gegeben hat. Gerade weil wir wissen, daß die Verwaltungsreform in den meisten Bereichen abgeschlossen ist und sich kurzfristig neue Veränderungen nicht ergeben werden, sollten wir daran denken und darum bitten, daß die Gebiete miteinander verbunden werden, die verwaltungsmäßig oder von der Versorgung und dem Dienstleistungsangebot her zusammengehören.
— Entschuldigung, das haben wir schon des öfteren gesagt. Das ist keineswegs eine neue Erkenntnis.Ich möchte fortfahren.
Wir werden bitten, die Krankenhausbedarfspläne daraufhin zu überprüfen, ob es sinnvoll ist, eine derartige Konzentration in gewissen medizinischen Abteilungen durchzuführen, wie das geschieht. Ich denke nur daran, daß einfach nach zahlenmäßigen Gesichtspunkten Entbindungsstationen in Krankenhäusern aufgelöst werden, wodurch der Effekt auftritt, daß in den ländlichen Räumen in Zukunft zunehmend Kinder daheim — wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden ist —, aber mehr noch im Taxi geboren werden. Das scheint uns nicht richtig zu sein. Hier ist man über die Praxis hinaus theoretisch zu Lösungen gekommen, die nicht in Ordnung sind.
— Das gehört alles dazu.Wir werden überprüfen müssen, inwieweit wir gerade beim knapper werdenden Flächenbereich Möglichkeiten erhalten, Vorzugs- und Reservestandorte freizuhalten, die wir einmal dringend benötigen. Wir können also nicht der Zersiedlung der Räume das Wort reden. Bei aller Würdigung unserer Beschlüsse in § 35 des Bundesbaugesetzes und der weitergehenden Forderungen der CDU/CSU, die wir nicht beschlossen haben, meinen wir, daß wir nicht die Räume verschleudern dürfen, sondern daß wir sie dringend in der Zukunft brauchen.Zusammenfassend stelle ich fest: Erstens. Die Raumordnung wird, auch wenn die Diskussion immer noch nicht den Raum einnimmt, den wir uns wünschen, de facto immer wichtiger bei knapper werdenden Flächen, bei zunehmenden Problemen in den Kerngebieten, bei den Überlastungen der Zentren.Zweitens. Das Gebot der Stunde ist die Verbesserung der kooperativen Abstimmung innerhalb der Bundesressorts — Frau Pack hat darauf hingewiesen; wir unterstreichen das —, aber auch vertikal zwischen Bund und Ländern und innerhalb der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13131
Immer
Länder, auf die wir leider keinen direkten Einfluß haben.Drittens. Für all das ist die Fortschreibung des Bundesraumordnungsprogramms ein Prüfstein. Hier wird sich erweisen, welche Ziele nun wirklich in ein neues Konzept umgesetzt werden, in dem all die Dinge aufgeführt werden, die uns neu ein- oder aufgefallen sind; es wird ein Prüfstein nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für die Länder sein.Viertens. Wir ermutigen den Raumordnungsminister, die schwierige Aufgabe der Fortschreibung weiter anzupacken.
- Wir ermutigen ihn. Dazu gehört auch Mut;
denn die Länder machen ihren eigenen Stremel. Sie sollten Ihre Länder auffordern, gleichfalls zu unterschreiben. Das letztemal haben nämlich zwei Länder nicht mit unterschrieben, obwohl es schon ein kaum tragfähiger Kompromiß war.
Fünftens. Wir möchten als sozialdemokratische Bundestagsfraktion in den Ausschüssen diese Bemühungen durch sorgfältige Beratungen konstruktiv begleiten, also auch unseren Beitrag leisten.Letzte Bemerkung: Wie schon angekündigt, sind wir auch der Meinung, daß schon allein wegen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" der Agrarausschuß mitberatend sein sollte.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an den Beginn meiner kurzen Ausführungen zwei Feststellungen setzen.Erstens. Es war nach unserer Überzeugung richtig, daß wir für die Vorlage dieses Berichtes den Vierjahresrhythmus gewählt haben.Zweitens. Gerade der Berichtszeitraum von 1974 bis 1978 mit Rezession, sich rasch vollziehenden Strukturveränderungen der Wirtschaft, geringerem Wachstum, rückläufigen Geburtenziffern und — das kommt uns im Bericht zu wenig zum Ausdruck — wachsender Bürgerkritik an der Inanspruchnahme des Raumes durch die Planung gibt mit diesen veränderten Rahmenbedingungen Veranlassung, eine kritische Überprüfung der einen oder anderen Zielsetzung vorzunehmen, insbesondere aber des einen oder anderen Instrumentes.Die Bundesregierung betont in dem Bericht mehrfach, daß sie an dem Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilräumen der Bundesrepublik festhalte. Das heißt, überall soll ein qualitativ und quantitativ angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbsmöglichkeiten, sämtlichen öffentlichen Infrastruktureinrichtungen, Freizeitmöglichkeiten usw. in zumutbarer Entfernung und alles in heiler und gesunder Umwelt verwirklicht werden.Meine Damen und Herren, das Festhalten an diesem Ziel hindert die Bundesregierung jedoch nicht daran — dies ist gut und richtig —, auf Grund der eingangs skizzierten veränderten Rahmenbedingungen kritische Fragen zu stellen, was die Richtigkeit solcher Zielsetzung im Detail angeht.
Die FDP-Fraktion begrüßt diese kritischen Fragestellungen, wie sie sich insbesondere aus dem Abschnitt V des Berichtes ergeben. Sie unterstreicht auch das prinzipielle Festhalten an. dem Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen. Die FDP-Fraktion ist aber der Überzeugung, daß die Antworten auf die gestellten kritischen Fragen im Ergebnis dazu. führen können, daß das formulierte Ziel mindestens der Interpretation bedarf. Die rein quantitative Beurteilung einer Region danach, ob und welche Straßen, insbesondere welche Autobahnen vorhanden sind, welche Arbeitsplätze mit welchen Verdienstmöglichkeiten zur Verfügung stehen, ob ein breitgefächertes Bildungsangebot gegeben ist, welche Wohnungen der Markt zur Verfügung stellt und in welchem Umfang soziale und sonstige technische Infrastruktureinrichtungen geschaffen wurden, reicht nicht aus, den Begriff der gleichwertigen Lebensbedingungen auszufüllen. Eine stärkere Beachtung subjektiver Bürgerwünsche fordert die größere Berücksichtigung nur subjektiv qualitativer Beurteilungskriterien, die am Ende dazu führen können, daß Gleichwertigkeit in der Vielfalt trotz unterschiedlicher objektiver Strukturdaten festgestellt werden kann und muß, oder um es ein wenig überpointiert und damit konkreter auszudrücken: Die Region mit geringeren Verdienstmöglichkeiten, schlechteren Verkehrsanbindungen, weiteren Entfernungen zu Bildungs- und Sozialeinrichtungen, aber mit mehr Feld, Wald, Wiesen, reiner Luft und günstigen Bodenpreisen kann in der subjektiven Wertung seiner Bewohner z. B. der Rhein-Main-Region überlegen sein.Die Wanderungsbewegungen, die hier bereits angesprochen worden sind, ich meine die Stadt-Umland-Bewegungen, zeigen, daß eine gewisse Zahl von Bürgern versucht, die verschiedenen Beurteilungskriterien für sich miteinander zu verbinden und hier eine optimale Lösung zu finden.
Dieser Versuch wird nur ganz geringen Bevölkerungskreisen möglich sein. Das zeigt, wie problematisch dies raumordnungspolitisch einzustufen ist.Der zunehmende Bürgerunwille gegenüber der Inanspruchnahme des Raumes durch planende Ver-
Metadaten/Kopzeile:
13132 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Gattermannwaltungen, von dem ich gesprochen habe, der in Bürgerbeteiligungen, aber auch in Bürgerinitiativen sichtbar wird, zwingt ganz einfach zu solchen Überlegungen. Dazu genügt es im Zweifel nicht, mehr oder weniger am Reißbrett die eine oder andere Region zum Naturschutzpark und zu einer Region mit besonderem Erholungs- und Freizeitwert zu erklären, wenn dann doch die Trassen für die Autobahnen dort hindurchgeschlagen werden müssen. Es ist unerläßlich, daß dabei das historisch Gewachsene berücksichtigt wird, daß es gefördert und entwickelt wird. Meine Damen und Herren, das ist wichtiger, als abstrakt formulierte Planziele zu verwirklichen.
Hinzu kommt, daß enger werdende öffentliche Mittel — um nicht von ökonomischen Zwängen zu sprechen — ein Nachdenken über gewisse Instrumente der Raumordnungspolitik erfordern, insbesondere dort, wo Raumordnungspolitik zugleich Wirtschaftsstrukturpolitik ist. Bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" z. B. haben wir die Frage zu beantworten, ob es eigentlich noch sinnvolle Regionalpolitik ist, wenn zwischenzeitlich 61,1 % der Fläche dieser Republik mit 36 % der Bevölkerung Fördergebiet ist.
.
Bei der Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen, insbesondere technischer Art, haben wir uns die Frage zu stellen, ob es gesamtwirtschaftlich eigentlich zu verantworten ist, wenn wir den letzten Winkel unserer Republik durch erheblichen Kostenaufwand mit allen technischen, bildungsmäßigen und sozialen Infrastruktureinrichtungen versehen, auf der anderen Seite aber Gebiete mit hervorragender Infrastrukturausstattung bevölkerungs- und arbeitsplatzmäßig ausgedünnt werden, so daß die dort vorhandenen Infrastruktureinrichtungen auch nicht näherungsweise mehr voll angenommen und benutzt werden. Meine Damen und Herren, dies ist kein Plädoyer gegen die Entwicklung des ländlichen Raums. Frau Kollegin Pack, ich werde dazu gleich auch noch etwas sagen.Unter mehr oder weniger kurzfristigen politischen, Konjunktur-, Arbeitsplatz-, Finanz- und Umweltüberlegungen wird ohnehin bereits wie anskizziert gedacht, ohne daß die übergeordneten Ziele der Raumordnungspolitik immer in ausreichendem Maß berücksichtigt werden.Die uns hier interessierende Frage ist, ob die Raumordnungspolitik bereit ist, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen und in einem gewissen Umfang zu akzeptieren und in ihre eigenen Politikstrukturen zu übernehmen.Die These der freien Demokraten jedenfalls lautet: Nicht abstrakt formulierte Planungsziele zu verwirklichen, sondern das historisch Gewachsene und von den Bürgern Angenommene zu erhalten und fortzuentwickeln ist das erste Gebot. Damitkein Irrtum auftaucht, sage ich: Dies ist keine Abwehr von der Raumordnungspolitik der Bundesregierung, wie sie in dem Bericht dargelegt ist. Dies sind lediglich einige weiterführende Gedanken auf der Grundlage von Fragen, die der Bericht selber stellt.Dazu gehört auch — dies betrifft den ländlichen Raum —, daß man dem Ziel des Raumordnungsprogramms, auch in den ländlichen Gebieten gleichwertige Lebensbedingungen anzustreben, nicht durch allzu stringentes Bauplanungsrecht zuwiderhandelt. Mit der Beschleunigungsnovelle — Sie erinnern sich, es ist erst wenige Wochen her — haben wir gerade die Möglichkeiten für einen erweiterten Bestandsschutz des gewerblichen und Wohnbereichs eröffnet. Hier ist aber möglicherweise die Frage offengeblieben, wie wir Heranwachsende zum Verbleiben im ländlichen Raum veranlassen können, u. a. auch dadurch, daß sie in ihrem Heimatort bauen dürfen.
Meine Damen und Herren, das alles bekommt eine zusätzliche und ausschlaggebende Bedeutung dadurch, daß die Geburtenzahlen in diesem Land in den letzten Jahren signifikant rückläufig waren und bei allem Vorbehalt gegenüber Prognosen mittelfristig wohl auch weiter rückläufig bleiben werden. Das zwingt auch in der Raumordnungspolitik zu neuen Überlegungen, insbesondere bei den Bildungs- und sozialen Infrastruktureinrichtungen.Was ist daraus zu folgern, daß für überschaubare Zeiträume die Bevölkerungszahlen bei Jugendlichen unter 15 Jahren drastisch rückläufig sind, die der Mitbürger innerhalb und außerhalb des Arbeitslebens aber größer werden. Auch von hier aus ist die Forderung nach flächendeckender optimaler Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen aller Art zu problematisieren. Vielleicht ist es ein Weg zu dem in dem Bericht der Bundesregierung angesprochenen Ziel, zu mobilen sozialen Infrastruktureinrichtungen zu kommen.Meine Damen und Herren, es ist unmöglich, in dieser zeitlich limitierten Debatte zu allen wesentlichen Details des Berichts im einzelnen Stellung zu nehmen. Wir sind der Meinung, daß die entscheidenden, zukunftsweisenden Fragen im Bericht gestellt sind und die Bundesregierung darangegangen ist, diese Fragen zu beantworten.Bei der anstehenden Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans werden wir erstmalig Gelegenheit haben, zu dokumentieren, welche Lehren wir aus den veränderten Rahmenbedingungen zu ziehen bereit sind.Lassen Sie mich aber noch auf einen Einzelpunkt eingehen, da ich in anderem Zusammenhang von Bürgerbeteiligung und Bürgerinitiativen gesprochen habe. Ich meine die Standortplanung für großindustrielle Vorhaben, insbesondere für Kraftwerke, seien es nun konventionelle oder Kernkraftwerke. Hier ist der gleichfalls bereits angesprochene Unwille des Bürgers über die Inanspruchnahme des Raumes neben den Straßenplanungen am deutlichsten ausgeprägt und von der Sache her wohl auch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13133
Gattermannam nächstliegenden. Die Antwort der verantwortlichen Politik auf diesen angesprochenen Bürgerunwillen kann nicht dahin gehen, auf für das Gemeinwohl Notwendiges aus vordergründig taktischen Gründen zu verzichten, wofür es aktuelle Beispiele gibt. Die Antwort kann nur darin bestehen, daß alle Beteiligten vom industriellen Betreiber über die planenden Verwaltungen bis hin zur verantwortlichen Politik breite Aufklärungsarbeit leisten. Das Gefühl der Verplanung — unsere ersten Erfahrungen mit § 2 a des Bundesbaugesetzes belegen es — kommt nur dort auf, wo dem Bürger Notwendigkeit, Ausmaß und Risiken der Planungen nicht überzeugend, bis ins einzelne gehend deutlich gemacht werden. Daß es dabei nicht möglich sein wird, auch den letzten zu überzeugen, ist selbstverständlich. Denn der unmittelbar vor Ort Betroffene wird nie eine befriedigende Antwort auf seine Frage „Warum gerade ich?" bekommen. Der so herum oder so herum ideologisch Verblendete wird Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Aber damit kann und muß jede Gesellschaft fertig werden. Bei umfassender Aufklärung und Beteiligung jedenfalls wird es breite, dauerhafte und nur mit unvertretbarem Aufwand zu überwindende Widerstände nicht geben;
davon bin ich überzeugt.
Gerade in diesem Bereich aber sind Vorsorge-Standortplanungen wegen der ungewöhnlich langen Planungs- und Bauzeiten unerläßlich. Wir alle wissen, daß hier in der Vergangenheit gesündigt worden ist und daß nicht zuletzt auch deshalb viele Projekte verzögert worden sind. Der Bericht weist aus, daß hier zwischenzeitlich in vielen Ländern — leider noch nicht in allen —, was die Raumordnungspolitik betrifft, Entscheidendes getan worden ist und weiter getan werden wird. Angesichts der Weltenergiesituation ist dies ein Schlüsselbereich, in dem sich vorausschauende, verantwortliche Raumordnungspolitik zu bewähren hat.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch einmal betonen, daß der vorliegende Bericht die Notwendigkeit der Bundesraumordnungspolitik — in Koordination mit den entsprechenden Politiken der Länder — sinnvoll unterstreicht, daß Raumordnungspolitik eine Langzeitaufgabe ist, die ohne jede Hektik verwirklicht werden muß, daß Raumordnungspolitik aber auch stets bereit sein muß, Programme und Planziele unter veränderten Rahmenbedingungen und auch bei veränderten Bürgerwünschen in Frage zu stellen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Raumordnungsberichts 1978 an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — federführend— und an den Innenausschuß, an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen sowie — interfraktionell vorgeschlagen — an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend— vor. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe nun den Tagensordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schneider, Dr. Jahn , Niegel, Francke (Hamburg), Kolb, Metz, Dr. Möller, Frau Pack, Schmidt (Wuppertal), Dr. Jenninger und der Fraktion der CDU/CSUDrittes Wohnungsbaugesetz— Drucksache 8/2902 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für WirtschaftWir haben Kurzbeiträge vereinbart. Wenn sich alle Herren noch kürzer halten, könnten wir das noch abschließen.Das Wort zur Aussprache hat Herr Dr. Schneider.Dr. Schneider CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wohnungs- und Städtebaupolitik steht — seit Jahren schon erkennbar — vor einer schwierigen Bewährungsprobe. Der Wohnungs- und Baupolitik des Bundes ist es nicht gelungen, die bauwirtschaftliche Entwicklung saisonal und regional zu verstetigen. Was heute not tut, sind langfristige politische Perspektiven, sachgerechte Vorschläge zur Förderung wohnungswirtschaftlicher Maßnahmen sowohl im Eigentumsbereich als auch im Bereich des sozialen Mietwohnungsbaus.Die rapide Steigerung der Bau- und Bodenpreise sowie die veränderten Kapitalmarktbedingungen drohen die Baukonjunktur schon in nächster Zeit wieder zu ersticken. Immer weniger Bürger — geschweige kinderreiche Familien — sind in der Lage, sich angesichts der sich weiter öffnenden Schere zwischen Herstellungs- und Erwerbskosten einerseits und der Einkommensentwicklung andererseits Wohneigentum zu bilden oder Mietbelastungen zu tragen.Wohnungspolitik und Städtebaupolitik durften noch nie isoliert, getrennt voneinander gesehen und betrieben werden. Die gegenseitige Integration der Wohnungs- und Städtebaupolitik und die stärkere Verzahnung der verschiedenen Förderungsinstrumentarien waren bereits ein wohnungs- und städtebaupolitisches Thema der 50er Jahre. 1970 ging der Städtebaubericht auf dieses Thema ausführlich ein. Obwohl die Bundesregierung seither immer wieder die Notwendigkeit dieser Integration betont und entsprechende Maßnahmen in Aussicht gestellt hat, ist es bisher im wesentlichen bei effektvollen Ankündigungen und unverbindlichen Absichtserklärungen geblieben.
Metadaten/Kopzeile:
13134 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. SchneiderDas Zweite Wohnungsbaugesetz, das die Objektförderung im sozialen Wohnungsbau regelt, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in Kraft und inzwischen 31mal geändert worden. Es ist am 27. Juni 1956 an die Stelle des Ersten Wohnungsbaugesetzes vom 4. April 1950 in Kraft getreten, mit dem die rechtliche Voraussetzung für einen geordneten Wiederaufbau unserer kriegszerstörten Städte und Gemeinden gelegt wurde.Mit ihrer Initiative vom 30. Mai 1979 für ein Drittes Wohnungsbaugesetz greift die CDU/CSU-Fraktion ihre Forderung nach einem abgewogenen und in sich schlüssigen wohnungs- und städtebaupolitischen Gesamtkonzept wieder auf. Dabei ist der Titel eines solchen Gesetzes ohne Belang. Bei dem von uns gewählten Titel handelt es sich zunächst um einen Arbeitstitel. Ein Drittes Wohnungsbaugesetz hat neben einer systematischen und geordneten Anpassung der Wohnungs- und Städtebauförderungssysteme auch die Aufgabe, neue Förderungsmethoden rechtlich zu normieren. Dabei ist von der Kenntnis auszugehen, daß die öffentlichen Mittel zur Wohnungsbauförderung kaum nennenswert erhöht werden können. Diese können in Zukunft schwerpunktmäßig nur noch für Problemgruppen bereitgestellt werden. Die Aufgaben der Wohnungspolitik und der Wohnungswirtschaft sind wirtschaftlich und finanziell nur lösbar, wenn dafür verstärkt private Mittel bereitgestellt werden. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn die wohnungspolitischen und wohnungsrechtlichen Rahmenbedingungen mehr als gegenwärtig Anreize für Investitionen am Wohnungsmarkt bieten.Die Wohnungsbauförderung muß in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe sein; alle Wohnungsbauförderung hat subsidiären Charakter. Es kommt also heute darauf an, die knappen öffentlichen Mittel einerseits mit privaten Kapitalmarktmitteln in einer wirtschaftlich sinnvollen Kombination so einzusetzen, daß mittel- und langfristig der Wohnungsneubau und die Substanzerhaltung im Wohnungsbau gesichert bleiben. Dabei bleiben die Aufgaben der Stadtsanierung, des Umweltschutzes, der Verbesserung des Wohnumfeldes gleichrangige und gleichwertige Aufgaben.Das wohnungspolitische Problem unserer Zeit und Zukunft ist in erster Linie ein Finanzierungsproblem. Die Instrumente des Ersten und Zweiten Wohnungsbaugesetzes haben zu ihrer Zeit in hervorragender Weise gewirkt, unter den veränderten wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Gegenwart und Zukunft vermögen sie ihre frühere Wirkung aber nur noch teilweise zu erbringen. Es ist die Aufgabe eines Dritten Wohnungsbaugesetzes, neuen strategischen wohnungs- und städtebaupolitischen Möglichkeiten und Aktivitäten eine Chance zu eröffnen.Insbesondere geht es darum, die Finanzierungsmethoden zu vereinheitlichen und damit übersichtlich zu machen und den inneren und materiellen Zusammenhang von Städtebau und Wohnungsbau auch in den Finanzierungsmethoden konkreter zu fassen und in der praktischen Förderung zweckmäßiger zu berücksichtigen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Objekt- und Subjektförderung, die steuerliche und Bausparförderung sowie die wohnungsmietrechtlichen Bestimmungen in sich schlüssig abzustimmen. Diese Schlüssigkeit — das kann niemand bezweifeln, der etwas von der Sache versteht — ist seit längerer Zeit verlorengegangen. Diese verlorengegangene Stimmigkeit im sozialen Wohnungsbau, insbesondere in der Wohnungsbestandspolitik und in der Neubauförderung, ist wieder zu gewinnen.Sie wissen alle: Der Markt ist zwar sozial blind, aber er sagt, was die Ware kostet, er sagt, wo das Gut gebraucht wird. Die zukunftspolitischen Probleme im Wohnungsbau sind nur dann lösbar, wenn die marktwirtschaftlichen Kräfte wieder mehr als bisher ins Spiel kommen, wenn es uns gelingt und wenn wir die Kraft und den Mut dazu haben, unnötige, unsoziale, wirtschaftlich nicht sinnvolle Bestimmungen aus dem Wohnungs-, Miet- und Baurecht zu streichen. Eine neue Chance der Hilfe zur Selbsthilfe soll dieses Gesetz bringen.
— Das Konkrete werden wir sehr wohl bringen. Aber wir geben der Bundesregierung, insbesondere dem Herrn Bundesbauminister die Chance, aus der Summe seiner Ankündigungen, die er seit Jahren— und seit Monaten in verstärktem Maße — in der Offentlichkeit in sehr attraktiver Form zu machen weiß, einmal konkrete politische Schlüsse zu ziehen.Es ist also eine Chance, die wir der Bundesregierung und primär dem Bundesbauminister bieten. Meine Freunde in der Fraktion der CDU/CSU sind bereit, im zuständigen Ausschuß in kollegialster und sachlichster Weise mit ihm nach dem besten Weg zu suchen. Die Bundesregierung ist am Zug. Wir warten auf ihre Antwort.
Besteht Übereinstimmung, daß wir die Debatte zu diesem Punkt noch abschließen können? — Dann hat Herr Abgeordneter Polkehn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung wird von der Opposition aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Wohnungsbauförderung, die Städtebauförderung, die Wohnungsmodernisierung und die Wohnumfeldverbesserung zusammenfassen soll. Auf den ersten Blick ist dies eine berechtigte Forderung, eine gute Forderung; auf den zweiten Blick ist es jedoch eine Scheinforderung, die — darüber sind sich alle Fachleute einig — nicht so einfach durchsetzbar ist.Die Kürze Ihres Antrages zeigt doch, daß Ihnen, verehrte Herren der Opposition, kein sachlicher Beitrag zur Realisierung Ihrer Forderung eingefallen ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13135
PolkehnIn der Kürze liegt zwar die Würze, wie das Sprichwort sagt. Bei Ihnen muß man das Wort „Würze" allerdings durch das Wort „Scheingefecht" ersetzen. Das reimt sich zwar nicht, aber ist doch wahr.Lassen Sie mich einige wenige Sätze zum Antrag selbst sagen. Wir sind dabei, Herr Dr. Schneider, wenn es darum geht, Gesetze kürzer zu fassen, für den Bürger besser lesbar zu machen. Hier erinnere ich an das Petitum, das der Deutsche Bundestag bereits 1974 in seiner Entschließung anläßlich der Verabschiedung des Zweiten Wohnraumkündigungsschutzgesetzes erhoben hat: das zersplitterte Recht über die soziale Sicherung des Wohnens zu bereinigen und verständlich und übersichtlich zusammenzufassen. Zu diesem mietrechtlichen Teil hat der Bundesjustizminister u. a. auf Fragen des Kollegen Dr. Schneider am 15. September 1977 und des Kollegen Dr. Möller am 13. Juni dieses Jahres in den Fragestunden geantwortet. Wegen der Kürze der Zeit brauche ich darauf nicht einzugehen.Was den Wohnungsbauförderungsteil angeht, so sind wir überzeugt, daß es nicht möglich ist, nur eine redaktionelle Neufassung und Zusammenfassung der Förderungsvorschriften zu erarbeiten, ohne gleichzeitig anstehende Sachprobleme zu lösen und damit auch inhaltlich Änderungen vorzunehmen. Sie kennen die Schwierigkeiten im Bereich der Wohnungsbauförderung. Wegen vieler ungeklärter Grundsatzfragen — ich verweise auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, Beteiligungsquoten, Förderungsschwerpunkte und anderes mehr — führten die Bemühungen unseres Bundesbauministers mit seinen Länderkollegen noch zu keinem Erfolg. Hinzu kommt, daß sich die Bundesländer bei der Festlegung des Verteilungsschlüssels untereinander streiten.Das Städtebauförderungsgesetz unterscheidet sich wesentlich vom Wohnungsmodernisierungsgesetz und vom Wonungsbaugesetz, auch in einer Form, in der die Wohnumfeldverbesserung einbezogen wird. Es regelt in Teilen die Durchführung einer Sanierungsmaßnahme und enthält Spezialregelungen des Bundesbaugesetzes. Die Finanzhilferegelung ergänzt die übrigen Bestimmungen.Demgegenüber, meine Damen und Herren, ist das Wohnungsmodernisierungsgesetz im wesentlichen ein Finanzhilfegesetz. Die Bindungen für den einzelnen Investor sind sehr viel geringer. Sie wissen, gerade im Bereich der Wohnungsmodernisierung gibt es verschiedene Förderungsmöglichkeiten. Dies hängt damit zusammen, daß das Wohnungsmodernisierungsgesetz nur für Bund-Länder-Programme gilt, und nur für diesen Bereich gilt auch das steuerliche Kumulationsverbot. Daneben gibt es landeseigene Programme mit Kumulationsmöglichkeiten und die Möglichkeit der steuerlichen Förderung.Bauminister Dr. Dieter Haack hat in seiner Rede auf dem Baumeistertag 1979 am 25. Mai und durch, Veröffentlichung seiner Thesen zur Zukunft der Wohnungs- und Städtepolitik vom 20. Juni dieses Jahres deutlich gemacht — ich hoffe, die Damen und Herren der Opposition haben es gelesen —, daß sich unser wohnungspolitisches Instrumentarium bewährt hat.
Er hat Perspektiven aufgezeigt und erklärt, daß es eine Illusion wäre, zu glauben, daß der Umbau des wohnungs- und städtebaulichen Instrumentariums ohne breit angelegte politische und öffentliche Fachdiskussion innerhalb einiger Monate erreicht werden könnte. Die Zersplitterung der Zuständigkeiten unserer Fachpolitik auf verschiedene Ressorts innerhalb jeder Gebietskörperschaft sowie auf Bund, Länder und Gemeinden macht umfangreiche Abstimmungsarbeiten und viele überzeugende Argumente notwendig.Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion ist auf den fachlichen Beitrag der Kollegen der CDU/ CSU bei den Beratungen zu einem Dritten Wohnungsbaugesetz im 15. Ausschuß sehr gespannt.
Wir stimmen der Überweisung dieses Antrages an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch meine Fraktion stimmt selbstverständlich der Überweisung dieses Antrages an die Ausschüsse zu.Es ist vor dem Hintergrund der plakativen Diskussion über die sogenannte Gesetzesflut immer ungeheuer werbewirksam, wenn die Forderung nach der Zusammenfassung verschiedener Gesetze in einem einheitlichen Gesetzbuch erhoben wird. Es ist insbesondere sehr werbewirksam, dabei zu fordern, die Vorschriften der verschiedenen Gesetze zu bereinigen, zu vereinheitlichen und sie dem Bürger in einer verständlichen Fassung vorzulegen.
Insoweit, in dieser abstrakten Formulierung, handelt es sich dabei um ein Petitum, das, so glaube ich, von jedem in diesem Hause voll unterstützt wird.
Dann allerdings, wenn es darum geht, solch hehren Vorsatz in die Tat umzusetzen,
ergeben sich Schwierigkeiten, die sich häufig genug als nicht überwindbar herausstellen, oder aber,, lassen Sie es mich so sagen — das fiel mir heute morgen ein, als ich die Debatte verfolgte —, der
Metadaten/Kopzeile:
13136 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
GattermannElefant gebiert ein Mäuslein; ich denke da an Ihren Gesetzentwurf zur Steuervereinfachung.Meine Damen und Herren, weil wir so wenig Zeit haben, will ich nur ganz kurz einen Problemkreis anreißen, der dies sinnfällig werden läßt. Sie wollen das Recht der Wohnungsbauförderung und das Recht der Wohnungsmodernisierung, insbesondere die Förderinstrumente, vereinheitlichen und zusammenfassen. Zu diesem Bereich der Wohnungsbauförderung gehört zweifellos auch der gesamte Bereich der Bausparförderung; Herr Kollege Dr. Schneider hat dies ausdrücklich angesprochen. Hierzu gehört der Bereich des steuerbegünstigten Wohnungsbaus, hierzu gehören die Abschreibungsregelungen des § 7 b des Einkommensteuergesetzes und der §§ 82 a ff. der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung, und hierzu gehören, wie der Kollege Polkehn hier eben gesagt hat, die Finanzverfassungsprobleme in diesem Bereich.Auch die Wohnungsmodernisierung ist ohne die steuerlichen Komponenten überhaupt nicht faßbar. Der Energiesparbereich vollends ist durch Ihre tatkräftige Mithilfe — durch das fakultative Nebeneinander von steuerlicher Förderung und Direktzuschüssen — zu einem äußerst komplexen Bereich geworden.
Wie aber, so frage ich mich heute noch — und ich bin auf die Antwort gespannt —, soll all dies vereinheitlicht und in einem Dritten Wohnungsbaugesetz zusammengefaßt werden?Wenn wir Ihrem Anliegen nähertreten sollen und wollen, wird man sich wahrscheinlich darauf beschränken müssen, das eine oder andere zusammenzufassen. Man wird aber nicht den gesamten Bereich erfassen können. Diese Befürchtung habe ich heute, zumal das eigentliche Durcheinander und das kaum Durchschaubare aus den Länderregelungen zu diesem Thema resultiert. Ob das ganze Unterfangen dann am Ende noch sinnvoll ist, kann und will ich hier nicht entscheiden und beantworten. Ich will nur darauf hinweisen, daß ein ernsthaftes, machbares Anliegen in diesem Zusammenhang unsere Unterstützung finden kann. Wir werden aber nicht mitwirken, falls sich herausstellen sollte, daß es darum geht, an irgendwelchen Schauaufträgen mitzuwirken, die nur dazu dienen sollen, in der allgemeinen polemischen Debatte gegen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen Material zu liefern. Daran werden wir, meine Damen und Herren, natürlich nicht mitwirken.
Im letzten Satz Ihres Antrages erheben Sie zugleich die Forderung, alle direkten und indirekten öffentlichen Förderungsinstrumente mit dem Ziel zu überprüfen, inwieweit ihre Wirksamkeit gesteigert werden kann. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen bedürfen wohl keines besonderen Auftrages, um in dieser Hinsicht tätig zu werden.
Es ist für uns jedenfalls selbstverständlich, daß mit Steuergeldern finanzierte Instrumente zur Beeinflussung eines bestimmten Marktgeschehens immer wieder ernsthaft daraufhin überprüft werden, wie effizient sie sind, ob der Aufwand in einem erträglichen Verhältnis zum Erfolg steht und wie die vorhandenen Mittel eventuell besser eingesetzt werden können. Dies alles sind übrigens Fragen — ich sehe Herrn Kollegen Biedenkopf im Saal —, mit denen sich auch die Wissenschaft befaßt. Dabei kommt es gelegentlich zu ganz pikanten Ergebnissen.Meine Damen und Herren, in der Begründung zu dem eben zitierten Satz wird von einer Neuorientierung gesprochen. Dieses Wort schätzen wir eigentlich nicht so sehr. Wir wollen die Wohnungsbaupolitik, die in den letzten Jahren sehr deutliche Entwicklungstendenzen zeigt, fortentwickeln. Wir wollen sie verbessern. Wir wollen sie aber nicht im Rahmen einer Neuorientierung radikal umkrempeln. Die Diskussion über diesen Antrag im Ausschuß wird aber, kurzum, ganz sicherlich nicht ohne Reiz sein.
Wir schließen die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — federführend — sowie an den Ausschuß für Wirtschaft — mitberatend — vor. — Das Haus ist einverstanden.
Wir fahren um 14 Uhr mit der Fragestunde fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.Wir treten in die Fragestunde ein: Fragestunde— Drucksache 8/3000 —Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Die Fragen werden entweder von Herrn Staatssekretär Bölling oder von Herrn Staatsminister Wischnewski beantwortet. Ich werde jede einzelne Frage so aufrufen, daß ich auch ankündigen kann, wer von der Bundesregierung die Frage beantwortet.Ich rufe Frage 60 des Herrn Abgeordneten Wohlrabe auf:Ist in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes eine Ausarbeitung angefertigt worden, nach der im Hinblick auf die Bundestagswahl 1980 besondere Anstrengungen im Bereich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13137
Präsident Stücklender Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung notwendig sind und vorbereitet werden sollen und in der vorgeschlagen wird, ein Gutachten darüber einzuholen, „welches die Reizworte sind, die angesichts vorhandener Unsicherheiten eher vermieden werden und welche statt dessen gefunden werden sollten"?Diese Frage wird Herr Staatssekretär Bölling beantworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Wohlrabe, die Planung der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung ist, wie Sie wissen, in erster Linie Sache des Bundespresseamtes und der entsprechend einem Kabinettsbeschluß vom Februar 1978 eingesetzten Koordinierungsgruppe von BPA und den einzelnen Bundesressorts. Dennoch, so scheint mir, ist es völlig normal, daß bei Untersuchungen zur Optimierung und Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit, die von uns ständig durchgeführt werden, Anregungen auch aus anderen Häusern und natürlich auch Anregungen des Bundeskanzleramtes genutzt werden. Um eine solche Anregung handelt es sich bei dem als Entwurf gekennzeichneten Papier einer Mitarbeiterin des Bundeskanzleramtes. Darin wurde ein Gutachten angeregt, wie Sie wissen, in dem u. a. auch Einstellungsänderungen in der Bevölkerung gegenüber bestimmten politischen Sachverhalten und Begriffen erhoben werden. In diesem Vorschlag, der übrigens nicht aufgegriffen worden ist, über den wir im Amt nur diskutiert haben, ist vielleicht etwas mißverständlich von sogenannten Reizworten die Rede, die daraufhin geprüft werden sollten, wie die Bevölkerung auf sie reagiert.
In der Sache, Herr Abgeordneter, halte ich es für notwendig, gelegentlich mit wissenschaftlichen Methoden dafür zu sorgen, daß in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung gebrauchte Begriffe nicht dazu beitragen, Mißverständnisse zu erzeugen, sondern daß sie im Gegenteil Mißverständnissen vorbeugen. Solche Untersuchungen hat das Bundespresseamt übrigens bereits seit den frühen 50er Jahren gemacht. Ich denke, es ist die legitime Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit einer jeden Regierung, durch eine verständliche Darstellung der politischen Entwicklung und der Regierungsarbeit dazu beizutragen, daß der Bürger eine bessere Orientierung im komplizierten politischen Geschehen gewinnt.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, obwohl sich das alles so harmlos anhört, bitte ich, uns doch einmal zu erklären, warum auf dem Entwurf dann „streng vertraulich" steht?
Bölling, Staatssekretär: Dazu, Herr Abgeordneter Wohlrabe, habe ich mich schon in der Antwort auf eine schriftliche Stellungnahme Ihres Fraktionskollegen Althammer in der Bundespressekonferenz äußern können. Ich habe dort ganz offen gesagt, daß mir nach kritischer Lektüre dieses in der Sache gänzlich harmlosen Vermerks völlig unerfindlich geblieben ist, warum darauf der eigentlich in der Bundesregierung überhaupt nicht gebräuchliche
Vermerk „streng vertraulich" steht. Das war völlig entbehrlich.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Könnten Sie uns dann doch bitte erklären, was Ihr Signum „einverstanden" auf diesem Papier bedeutet?
Bölling, Staatssekretär: Mühelos, Herr Abgeordneter. Wir haben eine gründliche Diskussion — der Leiter der Inlandsabteilung meines Amtes und ich — über den Nutzen solcher semantischen Untersuchungen gehabt, die — ich darf noch einmal daran erinnern — auch in den 50er Jahren von Herrn von Eckardt und später von Herrn Diehl angefertigt worden sind. Ich war von Anbeginn an skeptisch, was den Nutzen eines solchen Gutachtens anlangt. Aber ich habe dem Abteilungsleiter dann gesagt: Reden Sie mit der Firma; stellen Sie fest, ob es wirklich einen überzeugenden Nutzen einer solchen Untersuchung gibt, dann reden wir weiter darüber. — Wir haben ein weiteres Mal darüber gesprochen und sind zu dem Schluß gekommen: Die Sache ist zu teuer; wir lassen es bleiben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatssekretär, da Sie soeben von mißverständlichen Formulierungen gesprochen haben, frage ich Sie: Warum haben sie vor Ihrer Einverständnis-Signierung nicht darauf bestanden, daß mißverständliche Formulierungen geändert werden, und warum haben Sie angesichts der Bewertung, die Sie hier vorgenommen haben, keinen Wert darauf gelegt, daß die strenge Vertraulichkeit aufgehoben wird?
Bölling, Staatssekretär: Zu Ihrer letzten Frage, Herr Abgeordneter Schröder: Das Kanzleramt arbeitet nicht unter der Jurisdiktion ides Bundespresseamts. Aber ich bin ganz sicher, daß sowohl mein Kollege Schüler als auch Staatsminister Wischnewski meine Auffassung teilen, daß diese etwas wichtigtuerische Etikettierung des Vermerks von der Sache her überhaupt nicht gerechtfertigt war. Mißverständliche Termini — das werden Sie als Parlamentarier mir sicher zugeben — beschäftigen und bekümmern gelegentlich nicht nur die Bundesregierung, sondern in diesen Tagen auch andere — und offenbar doch recht heftig.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Lepsius.
Herr Staatssekretär, gehe ich eigentlich fehl in der Annahme, daß die so viel zitierte und strapazierte Semantik erst durch die kämpferischen Bemühungen des ehemaligen Generalsekretär der CDU, Herrn Biedenkopf, in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt und damit germanisiert worden ist?
Metadaten/Kopzeile:
13138 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Bolling, Staatssekretär: Ihre Erinnerung, Frau Abgeordnete Lepsius, täuscht Sie natürlich nicht. Der Abgeordnete Professor Biedenkopf hat sich in der Tat ein besonderes Verdienst um die Semantik erworben, wenn auch vielleicht nicht vor dem gleichen intellektuellen Hintergrund wie der bekannte deutsche Philosoph Edmund Husserl. Dieser dachte über Semantik nämlich im Zusammenhang mit transzendentalem Idealismus nach. Das war das Motiv für Herrn Professor Biedenkopf sicher nicht.
Aber ich kann mir vorstellen, daß er, würde er noch über die Möglichkeit verfügen, Mitarbeiter im Konrad-Adenauer-Haus mit semantischen Aufgaben zu beschäftigen, in diesen Tagen Reizwörter wie „Parität" und „Einheit" vielleicht mit Gewinn untersuchen ließe.
Ich bitte herzlich darum, Fragen an die Bundesregierung zu stellen, nicht aber Dreiecksfragen, um über die Bundesregierung eine Bewertung von nicht der Bundesregierung angehörigen Personen zu erhalten.
Ich habe nur geglaubt, Frau Kollegin Lepsius, Ihnen zutrauen zu können, daß Sie mir als einem Kavalier nicht allzuviel zumuten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Haase.
Verehrter Herr Bölling, darf ich fragen — dabei möchte ich der Fairneß halber vorausschicken, daß ich der Beantwortung dieser Frage eine besondere Bedeutung beimesse —: Sind von dem Dokument vom 4. April 1979, das hier als „streng vertraulich" umläuft, nachträglich Exemplare gefertigt worden,
die von dem ursprünglichen Dokument hinsichtlich ihres Inhalts abweichen?
Bölling, Staatssekretär: Diese Vermutung, Herr Abgeordneter Haase, kann ich definitiv als falsch kommentieren. Sollten Sie aber darauf anspielen wollen, daß es von diesem Vermerk eine Fotokopie gibt, die Ihnen vorliegt - es ist nicht meine Sache, in diesem Hohen Haus darüber nachzudenken, wie sie aus meinem Haus vielleicht herausgekommen „worden" ist; das ist ein weites Feld —, auf der ein Vermerk von mir, nämlich „einverstanden", enthalten ist, und ein anderes Exemplar, auf dem das „einverstanden" fehlt, so erklärt sich das ganz simpel daraus, daß ich Ihrem Fraktionskollegen Dr. Friedmann ein Exemplar gezeigt habe, das ich mir während der Sitzung des Haushaltsausschusses aus dem Kanzleramt besorgt habe. Mein eigenes zirkulierte nur im Bundespresseamt. Wenn sie da eine schreckliche Manipulation vermuten, Herr Abgeordneter, vermuten Sie falsch.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Möller.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin dieses Dokument als „Entwurf" und die Bezeichnung „streng vertraulich" als eine „wichtigtuerische Etikettierung" bezeichnet. Hat nicht dieses Papier durch die Abzeichnung seitens verschiedener Abteilungsleiter — Ministerialdirektoren — und durch die Abzeichnung durch Sie und durch Ihr Einverständnis über die „wichtigtuerische Etikettierung" hinaus einen amtlichen Charakter erhalten?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Voraussetzung,. auf der aufbauend Sie diesen Schluß ziehen, ist nicht zutreffend; denn das Papier ist mir zur Kenntnis gegeben worden. Im Bundeskanzleramt hat es nicht ein einziger Vorgesetzter der Autorin abgezeichnet, Herr Abgeordneter.
— Ich habe es zur Kenntnis bekommen und habe, wie vorhin erläutert, aus eben jenen Gründen, daß es interessant sein könne, mit der Firma darüber zu sprechen, für den Abteilungsleiter vermerkt „einverstanden". Das bezog sich darauf, einmal mit den Leuten darüber zu reden, und zwar nicht nur über das finanzielle Volumen eines solchen Auftrags, sondern auch über die Chancen, etwas Ordentliches als Ergebnis zu bekommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Ist es zutreffend, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung nur dann Papiere als „streng vertraulich" klassifiziert, wenn sie will, daß sie auf Umwegen der Opposition zur Kenntnis gebracht werden?
Bölling, Staatssekretär: Ich würde das, Herr Abgeordneter Gansel, nicht so monokausal betrachten. Erfreulicherweise funktioniert es nicht so oft, wie manche das für wünschbar halten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Riedl.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie die Tatsache, daß Sie ein Papier im Kanzleramt anfordern, von dem Sie wissen, daß es in Ihrem Hause vorrätig ist, daß es in Ihrem Hause zirkuliert? Machen Sie das immer so,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13139
Dr. Riedl
daß Sie im Kanzleramt Papiere suchen, die bei Ihnen anhängig sind?
Bölling, Staatssekretär: Nein, Herr Abgeordneter. Hier handelt es sich ganz simpel darum, daß an dem Morgen, als die „Welt" glaubte, hier einer ungeheuren Intrige auf der Spur zu sein, im Kanzleramt darüber kurz — der Wichtigkeit des Vorgangs angemessen: sehr kurz — gesprochen worden war und ich einen Mitarbeiter der Abteilung 5, der das Papier verfügbar hatte, habe anrufen lassen, um es Ihrem Fraktionskollegen Dr. Friedmann im Haushaltsausschuß zeigen zu können.Ich ging nämlich davon aus, daß aus Ihren Reihen dieses Thema sofort bei der Beratung im Haushaltsausschuß aufgenommen werden würde. Darin habe ich mich ja dann auch nicht getäuscht. Der Herr, Abgeordnete Dr. Friedmann hat das Papier mit dem Titel „streng vertraulich" zu lesen bekommen. Es ist nicht meine Aufgabe, in der Physiognomie von Herrn Dr. Friedmann zu lesen oder daraus etwas abzulesen; ich hatte jedenfalls den Eindruck, daß er mit mir davon überzeugt war, daß dieses Papier wirklich nur die Bedeutung hat, die ich ihm zumaß.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Friedmann.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bitte noch einmal vor dem Hintergrund, daß Sie ja nicht unvorbereitet auf diese Frage waren, bestätigen, daß Sie im Haushaltsausschuß mir gegenüber mit einem Exemplar arbeiteten, das den Vermerk „einverstanden" nicht trug, während wir jetzt über ein Exemplar reden, das Ihr Einverständnis dokumentiert?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Dr. Friedmann, das habe ich doch eben gerade erläutert. Mir lag daran, ganz schnell dieses Exemplar, von dem ich ja wußte, daß ich es eine halbe Stunde vorher im Kanzleramt gesehen hatte, einfach zwecks Dokumentation in der Hand zu haben. Ich habe gar keinen Hehl daraus gemacht, daß ich auf dieses Exemplar in meinem Hause das Wort „einverstanden" tatsächlich geschrieben habe. Dahinter müssen Sie doch nicht eine finstere Ranküne vermuten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie recht verstanden, daß dieser ganze Vorgang, wie er jetzt zur Sprache gebracht wird, im Haushaltsausschuß bereits behandelt wurde? Können Sie uns sagen, welche Stellungnahme die Sprecher der Opposition dazu eingenommen haben?
Balling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Professor Schäfer, ich habe, weil ich von Anbeginn den Eindruck korrigieren wollte, daß hier etwas gegen das Karlsruher Urteil geschehen sei, daß hier etwas nicht Korrektes geschehen sei, aus eigener Initiative — nicht, weil ich darum gebeten worden war — dieses Papier dem Herrn Abgeordneten Friedmann im Haushaltsausschuß gegeben. Er hat sich dort nicht dazu geäußert. Aber ich sagte schon: Es war mein Eindruck, daß er die Bedeutung dieses Papiers etwa ebenso wie ich beurteilte.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatssekretär, würden Sie mir darin zustimmen, daß sich die Kollegen im Haushaltsausschuß, denen Sie ein Exemplar ohne den Vermerk „einverstanden" vorzeigten und denen Sie damit eine geringere Bedeutung dieses Dokuments vorspiegelten, als auf Grund des Vermerks eigentlich anzunehmen war, durch Ihr dortiges Verhalten getäuscht sehen mußten und daß erst dadurch der Eindruck entstanden ist, als ob das, was Sie jetzt als Bagatelle darstellen wollen, verborgen werden sollte?
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Jäger, es war zu keinem Augenblick meine Absicht, irgend etwas vorzutäuschen. Ich habe Ihnen vorhin schon meine Einschätzung dieses Vermerks wahrheitsgemäß dargestellt. Das „einverstanden" — ich habe es bereits sagen können — bezog sich lediglich darauf, daß man mit einer solchen Firma redet, um zu sehen, ob es überhaupt lohnt, eine solche Untersuchung in Auftrag zu geben.
Solche Untersuchungen, Herr Abgeordneter Jäger, hat es in den Jahren 1952 bis 1968 unter der Leitung des Herrn von Eckardt und auch unter der Leitung des Staatssekretärs Diehl viele Male gegeben. Damals hat man z. B. ein solches Reizwort wie „Funktionär" zu untersuchen für lohnend gehalten — sicherlich interessant für eine CDU-geführte Regierung, sicherlich nicht bloß ein semantisches, sondern, wie Sie mir vielleicht zugestehen werden, hochpolitisches Unternehmen.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Wohlrabe auf:Ist es richtig, daß die Ausarbeitung die Ergebnisse des Gutachtens als „besonders wichtig" bezeichnet, „falls — wie schon 1976 — die Wahlplattform für 1980 im Bundeskanzleramt vorbereitet wird", und daß es für „wünschenswert gehalten wird, wenn Ergebnisse bereits für die Öffentlichkeitsarbeit ab Herbst zur Verfügung stünden (z. B. Anzeigenkampagnen, bundespolitische Musterargumentationen etc.)"?Bitte, Herr Staatssekretär.Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Wohlrabe, es trifft nicht zu, daß 1976 die Wahlplattform der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Bundeskanzleramt vorbereitet worden ist. Insofern ist der entsprechende Hinweis in dem von Ihnen als
Metadaten/Kopzeile:
13140 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Staatssekretär Bolling„Ausarbeitung" bezeichneten Entwurf unpräzise. Richtig ist vielmehr, daß in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes Vorarbeiten für das Regierungsprogramm 1976 bis 1980 geleistet worden ist.Ich denke, es ist die Pflicht der Bundesregierung und vor allem des Bundeskanzlers, die Aufgaben der Regierungsarbeit auch für die Zukunft zu definieren. Eine verantwortungsbewußte Regierung kann schlecht ihre langfristigen Zielvorstellungen zu einem Wahltermin willkürlich abbrechen. Sie muß ihre Vorhaben und Entscheidungen in längerfristiger Perspektive anlegen. Sie muß auch der Bevölkerung sagen, welche Aufgaben in den kommenden Jahren auf sie zukommen und wie sie aufgegriffen werden müssen.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, warum haben Sie, nachdem sich die Situation im Vergleich zur Amtszeit Ihrer Vorgänger erheblich geändert hat — das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist in der Zwischenzeit ergangen —, bei diesen gewichtigen Formulierungen nicht sofort Einspruch erhoben? Es ist nun einmal der Eindruck, daß Sie trotz Urteilsspruch Öffentlichkeitsarbeit im falsch verstandenen Sinne, zur Vorbereitung eines Wahlkampfs, betreiben.
Balling, Staatssekretär: Aber Herr Abgeordneter Wohlrabe, da Sie so viele Male an Beratungen über den Haushalt meines Amtes teilgenommen haben, wissen Sie ganz Beau, daß wir durch dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum erstenmal ausdrücklich legitimiert worden sind, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Dies ist für alle, die sich mit Öffentlichkeitsarbeit beschäftigen, sicherlich der besonders positive Aspekt des Karlsruher Urteils. Daß man darüber nachdenkt — ich habe dazu vorhin schon einige Bemerkungen machen können —, bestimmte politische Termini unter dem Gesichtspunkt „erreichen sie überhaupt das Bewußtsein des Bürgers?" wissenschaftlich untersuchen zu lassen, ist doch völlig in der Ordnung. Ich kann überhaupt nicht einsehen, wo hier auch nur von Ferne eine Kollision mit dem Urteil des Karlsruher Gerichtes entdeckt werden soll.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Da kann ich nur fragen: Warum „streng geheim" oder „streng vertraulich", und dann der Ausdruck „Wahlplattform für 1980"? Wenn Sie das selbst nicht billigen, dann frage ich: Gehen die Weisungen Ihres Hauses oder die des Staatsministers Wischnewski nicht an Ihre Mitarbeiter? Dies riecht doch nach Verfassungsverstoß.
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Wohlrabe, es handelt sich hier um den Vermerk einer jungen Hilfsreferentin.
Natürlich ist dieser Mitarbeiterin des Kanzleramtes gesagt worden, daß dies ein Mißverständnis ist.
Sie können doch unmöglich aus einer solchen Fehlformulierung nun den gewaltigen Schluß ziehen, daß das Bundespresseamt auf dem Wege gewesen sei, gegen das Urteil des Karlsruher Gerichtes zu verstoßen. Wenn Sie mit solcher Akribie die Öffentlichkeitsarbeit immer wieder mit dem Karlsruher Spruch konfrontieren, dann möchte ich Sie in allem Freimut einladen, sich die Öffentlichkeitsarbeit z. B. der Landesregierung von Schleswig-Holstein anzusehen, wo man noch wenige Tage vor der Landtagswahl mit einem Leistungsbericht an die Offentlichkeit getreten ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Haase.
Herr Staatssekretär, die Fülle von Mißverständnissen nimmt zu, und deshalb möchte ich ganz sicher gehen. Sie haben eben, wenn ich Sie recht verstanden habe, ausgeführt, daß die Wahlplattform '76 für die SPD nicht im Kanzleramt erarbeitet worden sei. Wie kommt die Verfasserin der im Kanzleramt erarbeitete Studie, die mit „streng geheim" ausgezeichnet ist, zu der Auffassung, die Wahlplattform 76 sei im Kanzleramt erarbeitet und man müsse sich jetzt im Zusammenhang mit 1980 ähnlich verhalten?
Balling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Haase, die junge Dame ist ganz offensichtlich einem Irrtum zum Opfer gefallen;
denn ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, es ist doch das Normalste von der Welt und in den Zeiten, da Sie Regierung gebildet haben, selbstverständliche Praxis gewesen, daß der Bundeskanzler seine Vorstellungen von dem, was er an der Spitze der Regierung in der Zukunft entwickeln will, auch seiner Partei zur Verfügung stellt und daß hier ein enger gedanklicher Zusammenhang ist. Aber deshalb müssen Sie doch nicht diesen Terminus hin- und herwenden, um daraus einen solchen Schluß zu ziehen — aus einem völlig normalen politischen Vorgang.
Die nächste Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatssekretär, wie sind Sie eigentlich so spontan auf die Idee gekommen, das erste zirkulierende Exemplar ausgerechnet in der Abteilung 5 des Bundeskanzler-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13141
Schröder
amtes, nämlich der Planungsabteilung, die für die Bearbeitung der Wahlplattform zuständig ist, anzufordern? In welcher Weise ist dieses Papier in der Abteilung 5 in der Zwischenzeit, nämlich von April bis zur Ihrer erneuten Anforderung, dort verarbeitet worden?Bölling, Staatssekretär: Daran ist überhaupt nichts verändert worden. Ich habe Ihnen vorhin schon sagen können, Herr Abgeordneter Schröder, ich habe nach Lektüre eines Berichtes in der „Welt" mir vorstellen können, daß Sie und Ihre Fraktionskollegen im Haushaltsausschuß vielleicht eine politische Information von mir erfragen würden. Da wir just eine Stunde vorher darüber gesprochen haben, lag es nahe, sich den Text zu besorgen, über den wir uns eben gerade unterhalten hatten, und zwar mit genau der politischen Einschätzung, Herr Abgeordneter, die ich im Laufe der letzten 20 Minuten hier unter allen Aspekten zu begründen versucht habe.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Lepsius.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie zu Recht darauf hingewiesen haben, daß nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung nicht nur als verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch als notwendig bezeichnet worden ist, würde ich im Hinblick auf die Konsequenzen für die Parteien gern wissen, ob von seiten Ihres Amtes Überlegungen angestellt worden sind, neue Vertriebswege zu finden, um die Offentlichkeit auch während des Wahlkampfes und in der Vorwahlkampfzeit, also in den normalen Zeiten, zu informieren.
Bölling, Staatssekretär: Frau Abgeordnete Dr. Lepsius, natürlich sind wir seit geraumer Zeit mit der Überlegung beschäftigt, wie wir die Druckschriften zur Unterrichtung des Bürgers unter dem Gesichtspunkt, daß wir nicht gegen das Karlsruher Urteil verstoßen, an den Bürger heranbringen. Denn es hat keinen Sinn, Broschüren zu drucken, die dann irgendwo in Kellern verstauben.
Wir haben eine ganze Reihe von neuen Vertriebswegen gefunden, z. B. bei Messen und bei kommunalen Veranstaltungen. Aber genau wie z. B. der Ministerpräsident von Bayern, Herr Dr. Strauß, empfinden auch wir und empfinden auch in den Reihen der CDU manche, die mit Öffentlichkeitsarbeit zu tun haben, hier nach wie vor eine Lücke. Eine Lücke deshalb, weil nach dem Karlsruher Urteil den Parteien bis zum heutigen Tage nicht erlaubt ist, die Druckschriften zu verteilen.
Der Herr Ministerpräsident in München hat neulich die Frage der sozialdemokratischen Landtagsopposition erhalten, wie er es mit dem Karlsruher Urteil vereinbaren könne, daß bestimmte „Wandzeitungen" — so wird es offenbar in der Münchener Staatskanzlei ganz freimütig genannt — über die CSU an die Bürger verteilt werden. Er hat gemeint, das sei in Ordnung. Nach den Maßstäben, an die sich das Bundespresseamt bisher gehalten hat, ist das
nicht in Ordnung. Dennoch bin ich der Meinung, daß die politischen Parteien dieses Problem weiter diskutieren und prüfen sollten, ob nicht auch unter dem Dach des Karlsruher Urteils eine solche Verteilungsmethode in der Zukunft sinnvoll sein könnte.
Hier wird nicht die eine oder die andere Partei begünstigt, sondern hier haben die demokratischen Parteien nach meiner Auffassung die Möglichkeit, im unmittelbaren Kontakt mit dem Bürger Informationsschriften an den Mann zu bringen. Aber das bleibt eine Aufgabe, über die noch weiter zu reden sein wird.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Friedmann. — Ich würde bitten, daß wir die Zusatzfragen hierzu allmählich abschließen. Die anderen Abgeordneten haben auch noch ein Anrecht, ihre Fragen beantwortet zu bekommen.
Herr Staatssekretär, da Sie sich durch den handschriftlich angebrachten Vermerk „einverstanden" in ganz besonderer Weise mit dem Inhalt dieses Papiers identifiziert haben und damit auch mit dem Passus über die Wahlplattform 76, möchte ich fragen, welche neueren Erkenntnisse Sie nun auf einmal veranlassen, zu sagen, die Wahlplattform 76 sei nicht im Kanzleramt erstellt worden.
Bolling, Staatssekretär: Diese Erkenntnis, Herr Abgeordneter Friedmann, daß es sich nicht um eine Wahlplattform handelt, war mir seit mehreren Jahren geläufig. Ich habe schon einmal gesagt: der Vermerk „einverstanden", in den Sie nun, weil Sie das offenbar aus dramaturgischen Gründen für lohnend halten, eine so gewaltige Bedeutung hineinprojizieren, bedeutete nichts weiter, als daß ich einer Abteilung des Bundespresseamtes grünes Licht für Gespräche über die Voraussetzungen für die Bestellung eines solchen Gutachtens gegeben habe, und nichts weiter.
Denn das andere betraf mich ja unmittelbar überhaupt nicht. Sondern das Bundeskanzleramt hat nur die Anregung gegeben: könnte nicht das Bundespresseamt eine Untersuchung über die sogenannten Reizworte anfertigen. Da bin ich im Gespräch mit meinen Mitarbeitern nachher zu dem Schluß gekommen: es lohnt nicht.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Simonis.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß wir zur Zeit Zeugen einer ins Parlament verlegten Arbeitsgruppensitzung der Arbeitsgruppe Haushalt der CDU/CSU sind, die man vielleicht aus zeitlichen Gründen nicht mehr woanders hat unterbringen können?
Frau Abgeordnete Simonis, in aller Freundlichkeit: auch Ihnen kann ich diese Frage nicht durchgehen lassen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Riedl.
Metadaten/Kopzeile:
13142 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie Ihren Sinneswandel, der darin besteht, daß Sie am 17. April auf das Papier geschrieben haben „einverstanden Bö" — Bölling —, das „Streng vertraulich" nicht durchgestrichen haben, in der Sitzung des Haushaltsausschusses am 30. Mai 1979 hingegen dieses Papier als eine völlig sinnlose Notiz bezeichnet haben? Welcher Denkprozeß, Herr Staatsekretär, ist in Ihnen in diesen fünf Wochen vorgegangen?
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, meine Meinung über dieses Papier stand von Anfang an fest, was jene Teile angeht, die Sie, da Sie alle meine erläuternden Bemerkungen einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen, für politisch relevant halten. Ich habe dem Herrn Abgeordneten Friedmann dieses Papier gegeben, um ihm darzutun: Dies ist, gemessen an anderen Gegenständen — auch nur solchen, die mein Amt beschäftigen, Herr Abgeordneter —, in Wahrheit ein politischer Fliegendreck. Ich habe lediglich zu dem Prinzip, ob man gelegentlich sematische Untersuchungen nötig habe, meinem Abteilungsleiter gesagt: Reden Sie mit der Firma; wenn Sie glauben, daß etwas Handfestes dabei herauskommt, dann werden wir das machen; wir reden noch einmal darüber. — Und genauso hat er es verstanden.
Zu einer vorletzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatssekretär, nachdem die CDU/CSU mit allem Nachdruck versucht, den Nachweis einer starken inhaltlichen Übereinstimmung zwischen den Vorarbeiten zu einem zukünftigen Regierungsprogramm und der Lösung zukünftiger Probleme sowie der Wahlplattform der Sozialdemokratischen Partei zu führen, frage ich: Sehen Sie darin den gelungenen Nachweis für eine starke inhaltliche Identität zwischen dem Bundeskanzler und der Sozialdemokratischen Partei, die nachzuweisen immer ein starkes Anliegen der Christdemokraten war?
Herr Staatssekretär, Sie brauchen nicht zu antworten.
Balling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, bis zu diesem Augenblick war es nicht mein Eindruck, daß dies das dringliche Motiv der Fragesteller aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion sei. Aber ich wiederhole: Es wäre ganz sonderbar und abwegig, wenn nicht ein Bundeskanzler versuchte, mit seinen Vorstellungen von dem, was künftig die Regierungspolitik zu sein hat, auf seine Partei einzuwirken. Daß das umgekehrt genauso ist, ist den Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion sicherlich genauso geläufig wie mir.
Zu einer letzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Möller.
Herr Staatssekretär, da ich annehme, daß Ihr Abteilungsleiter III, ein Ministerialdirektor, und Sie dieses Papier, das Sie eben als „Fliegendreck" bezeichnet haben, doch zumindest intensiv gelesen und mitgezeichnet haben, und da Sie es mit dem Zusatz „einverstanden" versehen haben, frage ich: Wäre es nicht angemessen gewesen, schon zu der damaligen Zeit eine Notiz zu machen mit dem Ziel, daß dieser verfassungsrechtlich bedenkliche Satz herausgestrichen wird? Hätten Sie nicht diesen Satz als falsch herausstreichen können?
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich habe schon vorhin darauf hingewiesen: Dies war ein Papier des Bundeskanzleramts. Es ist nicht meine Kompetenz, Papiere des Bundeskanzleramts zu zensieren, Vermerke zu verändern oder gar zu streichen. Aber die Einschätzung im Bundeskanzleramt war, daß hier jemand produktiv nachgedacht hat, aber daß er sich falscher Termini bedient hat und daß das Ganze überhaupt keine Konsequenz gehabt hat.
Bitte keine Zwischenrufe in der Fragestunde!
Eine Zusatzfrage.
Nachdem der Jubel Ihrer Troubadoure etwas abgeklungen ist, frage ich Sie, Herr Minister: Warum haben Sie sich denn 1976 die nötigen Inspirationen aus dem Kanzleramt geholt? War denn da die Truppe, die Sie eben so lobend herausgestrichen haben, noch nicht vorhanden?Wischnewski, Staatsminister: Im Jahre 1976, in dem ich leider noch nicht die Chance hatte, in dieser hervorragenden Behörde tätig zu sein,
haben die Mitarbeiter an einem Regierungsprogramm, an den Grundlinien eines Regierungsprogramms 1976/80 gearbeitet. Dies ist insbesondere auf Anregung der Opposition erfolgt, die dem Bundeskanzler von Zeit zu Zeit vorwirft, daß er nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13143
Staatsminister Wischnewskirechtzeitig und in dem notwendigen Maße vorausdenke. Wir haben Ihre Anregungen dankbar aufgegriffen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatsminister, wie können Sie es mit der Zustandsbeschreibung „hervorragende Behörde" in Übereinstimmung bringen, daß in einer solch hervorragenden Behörde so grauenvoll schlecht informierte Mitarbeiter sitzen, die schlicht und einfach wider besseres Wissen behaupten, daß 1976 in diesem Amt, in dem Sie tätig sind, die Wahlplattform erstellt wurde, und die einen gleichen unkeuschen Vorschlag für 1980 unterbreiten?
Einen Moment, Herr Staatsminister. — Sie haben zwar alles losgebracht, was Sie losbringen wollten, Herr Abgeordneter Schröder, aber die Frage wird nicht zugelassen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Herr Staatsminister, teilen Sie die Auffassung des Staatssekretärs Bölling, daß es sich bei dieser Ausarbeitung einer Mitarbeiterin, die sicher besser ist, als sie heute dargestellt worden ist — ich möchte sie wenigstens ein bißchen in Schutz nehmen —, um „Fliegendreck" handelt.
Wischnewski, Staatsminister: Also, ich muß sagen: Der Herr Staatssekretär hat nicht die Mitarbeiterin so bezeichnet,
sondern der Herr Staatssekretär hat zu einem entsprechenden Teil in diesem Papier Stellung genommen. Und da kann ich mich seiner Beurteilung nur in vollem Umfang anschließen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 63 des Herrn Abgeordneten Haase auf:
Wie glaubt die Bundesregierung gegebenenfalls die Erarbeitung einer Studie über die Verstärkung ihrer Öffentlichkeitsarbeit im Wahljahr 1980 und die darin vorgesehenen Aktivitäten mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 über die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vor Bundestagswahlen vereinbaren zu können, wonach es gegen das Grundgesetz verstößt, wenn die amtierende Bundesregierung sich sozusagen selbst zur Wahl stellt, indem sie werbend und parteiergreifend in den Wahlkampf eingreift, und dadurch das Recht der anderen politischen Parteien auf Chancengleichheit verletzt?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär Bölling.
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Haase, ein Teil meiner Antwort ist durch mehrere Äußerungen eigentlich schon vorweggenommen worden. Die Frage der Vereinbarkeit mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 1977 stellt sich in
diesem Zusammenhang nach meiner Überzeugung überhaupt nicht, weil ja das angeregte Gutachten überhaupt nicht in Auftrag gegeben worden ist. Im übrigen — das habe ich, Herr Abgeordneter, sinngemäß auch schon ausführen können — würde ein Gutachten mit dem Ziel, Informationsdefizite und Verständigungsschwierigkeiten zu eruieren, von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sicherlich voll und ganz gedeckt werden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, daß sich die Bundesregierung bisher ohne Wenn und Aber an die Grundsätze des Urteils gehalten hat und daß sie sich auch im Hinblick auf die Bundestagswahl von 1980 strikt daran zu halten gedenkt. Die Bundesregierung führt nur solche Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit durch, die dem eigentlichen Zweck jeder regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit entsprechen, nämlich Darlegung und Erläuterung der Politik, der Maßnahmen und der Vorhaben der Bundesregierung und der künftig zu lösenden Fragen, damit der Bürger hinsichtlich der wesentlichen Sachfragen, der getroffenen Entscheidungen, der Maßnahmen und Lösungsvorschläge ausreichend informiert und dadurch zu einem sachgerechten Urteil befähigt ist.
Zusatzfrage.
Verehrter Herr Staatssekretär, darf ich in diesem Zusammenhang noch eine Frage stellen, die vielleicht etwas der Wahrheitsfindung dient. Sie bezeichnen dieses Geheimdokument als Arbeit einer einzelnen, irregeleiteten, jungen, unerfahrenen Mitarbeiterin dieses von Herrn Wischnewski so hochgelobten, leistungsfähigen Amtes. Wie qualifizieren Sie denn nun die Arbeit jener Referate — das ist Ihrer Aufmerksamkeit vielleicht entgangen -, die dieses Dokument mitgezeichnet haben, Herr Staatssekretär? Das ist ja nicht nur die Arbeit einer einzelnen Mitarbeiterin, sondern das ist ja durch das Kanzleramt gelaufen. Noch einmal meine Frage: Wie qualifizieren Sie die Mitarbeit der anderen Referate, die mitgezeichnet haben? Es tut mir leid, daß ich das fragen muß, aber Sie zwingen mich dazu.
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Haase, in Wahrheit zwinge ich Sie überhaupt nicht dazu; denn ich habe vorhin auf eine ähnliche, fast gleichlautende Frage eines Ihrer Herren Fraktionskollegen bereits mitgeteilt, daß im Kanzleramt meines Wissens nicht ein einziger Vorgesetzter dieses Papier gezeichnet hat.
Herr Kollege Haase, Sie haben eine Zusatzfrage. Wir sind nicht in der Debatte.
Metadaten/Kopzeile:
13144 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Präsident Stücklen— Herr Staatssekretär, geben Sie bitte auf Zwischenrufe keine Antwort; sonst pflegen Sie auch der Unordnung.Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Lepsius.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie mir im vergangenen Jahr auf verschiedene Anfragen in der Fragestunde Hinweise darauf gegeben hatten, daß zwischen den Pressesprechern der Länder und dem Pressesprecher der Bundesregierung eine Vereinbarung über Konkretisierungen des Verfassungsgerichtsurteils auch hinsichtlich der Vorwahlkampfzeit getroffen worden sei, frage ich: Würden Sie mir bitte bestätigen, daß diese Beschränkung unisono auf einen Fünf-Monats-Zeitraum vor der Bundestagswahl festgelegt wurde und wir uns heute nicht im Wahlkampf befinden?
Bolling, Staatssekretär: Ich kann Ihnen das uneingeschränkt Satz für Satz bestätigen, Frau Abgeordnete.
Ich habe mir vorhin schon erlaubt darauf hinzuweisen, daß sich die Regierung in Schleswig-Holstein trotz der übereinstimmenden Meinung der Pressesprecher der Bundesregierung und aller Landesregierungen über diese klare Verabredung wenige Tage vor der Landtagswahl hinweggesetzt hat.
Vorhin habe ich auch schon darauf hingewiesen, daß auch die Münchener Regierung neulich einen sehr laxen Umgang mit diesem fest verabredeten Prinzip gezeigt hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
• Jäger (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie erklären Sie es, daß die Studie, die gerade der Bedeutung der Semantik einen so hohen Rang zuweist, den Begriff „Musterargumentation" gebraucht, der geradezu typisch für Parteiwahlkämpfe, nicht jedoch für die Informationsarbeit von Regierungen ist?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Jäger, ich zögere überhaupt nicht, Ihnen zu sagen, daß auch ich diesen Terminus für recht sonderbar und in diesem Zusammenhang für völlig entbehrlich und unpassend angesehen habe. Herr Abgeordneter, die Autorin, die — das will ich bei dieser Gelegenheit ausdrücklich sagen — grundsätzlich eine positive Idee entwickelt hat, hat wahrscheinlich an Zielinformationen gedacht, wie sie z. B. das Bundespresseamt für Arbeitnehmer und für andere Gruppen, besonders auf deren informatorische Bedürfnisse gézielt, seit langen Jahren herausgibt. Diese kennen Sie, Herr Abgeordneter, und das sind keine Musterargumentationen. Ich halte diesen Terminus in der Tat für verfehlt, und ich mache kein Hehl daraus.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becker .
Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Wer ist unter der Bezeichnung „Referat 53" zu verstehen, von dem dieses hier angesprochene Dokument mit gezeichnet worden ist?
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen im Augenblick nicht den Namen dieses Gruppenleiters nennen — vielleicht kann das der Herr Staatsminister —, aber Sie sprechen genau das Thema an, über das sich der Herr Abgeordnete Haase soeben so erregt hat, der mir unterstellt hat, ich wolle die Unterschriften wegmanipulieren. Herr Abgeordneter, hier ist zwar die sogenannte Hühnerleiter genannt, aber es gibt keine Paraphen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möller.
Herr Staatssekretär, da die „Hühnerleiter" offensichtlich auf diesem Papier in der Tat nicht erkennbar ist, aber Ihr Ministerialdirektor, der Abteilungsleiter III, mitgezeichnet hat, frage ich, ob das nicht einer Mitzeichnung Ihres Hauses gleichbedeutend ist.
Bölling, Staatssekretär: Der Abteilungsleiter meines Hauses war in der Tat mein Gesprächspartner. Das habe ich. ja vorhin gesagt. Wir beide haben unter dem für uns als Bundespresseamt einzig interessanten Aspekt darüber geredet: Lohnt sich die Sache, wollen wir sie machen, kann man verantworten, dafür 35 000 DM auszugeben? Wir waren uns darin einig, daß solche semantischen Untersuchungen gelegentlich im Interesse aller Bürger — nicht nur der Bundesregierung — sinnvoll seien. Wir sind zu dem Schluß gekommen: Nein. Aber die Vorgesetzten dieser Dame, die da eine Initiative entwikkelt, aber falsche Ausdrücke benutzt hat, haben jedenfalls auf der sogenannten „Hühnerleiter" nicht mitgezeichnet, Herr Abgeordneter. Das sehen Sie doch aus der Fotokopie, die Ihnen vorliegt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Löffler.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß sich die gerade amtierende Regierung in einer jedweden Demokratie in einer Wahl völlig neutral verhält, so tut, als ob sie mit der Wahl nichts zu tun habe, ihre Erfolge nach draußen nicht kundtut, den Bürger nicht über ihre Leistungen aufklärt, und würden Sie das als einen guten demokratischen Stil bezeichnen?Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Löffler, wenn das so wäre, wäre das nicht nur eine blutlose Demokratie; das wäre für mich — offenbar genausowenig für Sie — überhaupt nicht vorstellbar. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil, das einige der Herren Abgeordneten der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13145
Staatssekretär BöllingOpposition ja sehr genau studiert haben, ausdrücklich festgestellt, daß es gelegentlich bei der Selbstdarstellung, bei der Information über die Regierungsleistung natürlich zu Übereinstimmungen auch mit den Zielen der die Regierung tragenden Parteien kommen muß. So weltfern war dort niemand, als daß er das ignoriert hätte.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, wenn durch die Erarbeitung eines Regierungsprogramms 1980 bis 1984 für eine SPD/FDP-Regierung die Chancengleichheit der Parteien verletzt sein könnte — wie der Kollege Haase das befürchtet —, könnte man sie nicht dadurch wieder herstellen, daß für den unwahrscheinlichen Fall, daß die CDU/CSU gewinnt, auch ein Regierungsprogramm vorgeschlagen wird, da dazu beide Parteien alleine ohnehin nicht in der Lage wären?
Herr Abgeordneter Gansel, diese Frage kann ich nicht zulassen.
Ich rufe die Frage 64 des Herrn Abgeordneten Dr. Möller auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß es gegen Amts- und Dienstpflichten verstößt, wenn Angehörige des Bundeskanzleramtes oder der Bundesministerien sich dienstlich mit Aktivitäten wie Erarbeitung von Wahlkampfplattformen und Musterargumentationen befassen, die als Wahlkampfhilfe für die die Regierung tragenden Parteien zu qualifizieren sind, oder wenn sie mit solchen Tätigkeiten beauftragt werden, und wenn ja, welche Folgerungen zieht sie daraus?
Herr Staatsminister Wischnewski beantwortet sie.
Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Möller, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Angehörigen des Bundeskanzleramtes und der Bundesministerien beschäftigen sich dienstlich nicht mit Wahlkampfaktivitäten oder mit Wahlkampfhilfe. Sie werden dazu auch nicht beauftragt. Insofern ist die Frage nach möglichen Amts- und Dienstpflichtverstößen rein hypothetisch. Folgerungen lassen sich daraus logischerweise nicht ziehen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, der Herr Staatssekretär hat dieses Papier soeben und im Haushaltsausschuß als völlig sinnlos, als harmlos und als „Fliegendreck" bezeichnet. Was hat das Bundeskanzleramt gegen diese Produzentin von „Fliegendreck" unternommen? Haben Sie irgend etwas unternommen, um diese doch unfähige Mitarbeiterin herabzustufen oder zu entlassen?
Wischnewski, Staatsminister: Das ist eine sehr fähige Mitarbeiterin.
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe, Ihnen allen, die Sie jetzt so lachen, ist noch niemals im Leben eine kleine Panne passiert. Dann könnten Sie sehr stolz sein.
Herr Abgeordneter Möller, ich bitte, auf die Person gezielte Fragen, die eine Bewertung auslösen müssen, zu vermeiden.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister und Herr Staatssekretär, kommt es im Bundeskanzleramt und Bundespresseamt häufig vor, daß sich hochkarätige Ministerialdirektoren mit solch sinnlosen Notizen befassen müssen?
Wischnewski, Staatsminister: Was das Bundeskanzleramt anbetrifft, hat sich kein Ministerialdirektor im Hause mit diesem Papier beschäftigt. Ich nehne an, wenn Sie das Papier in der Hand haben, können Sie das sicherlich klar und eindeutig erkennen. Sie sprechen ja jetzt mit demjenigen, der hier das Kanzleramt vertritt.
— Er hat darauf bereits geantwortet.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe Frage 65 des Herrn Abgeordneten Dr. Möller auf:Wie viele Planstellen und wie viele Stellen könnten gegebenenfalls im Einzelplan des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes künftig eingespart werden, wenn die Arbeiten im Bundeskanzleramt auf dessen eigentliche Aufgaben konzentriert und Aktivitäten der in der Ausarbeitung des Kanzleramtes über die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung im Wahlkampfjahr geschilderten Art entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 unterlassen würden?Bitte, Herr Staatsminister Wischnewski.Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Möller, die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung ist Sache des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung und der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Stellen der Ressorts. Das Bundeskanzleramt entfaltet in diesem Bereich keine Aktivitäten und kann infolgedessen auch keine unterlassen. Aus diesem Grunde stellt sich hierauch nicht die Frage möglicher Stelleneinsparungen.Dem wirderspricht jedoch keineswegs, daß die Ressorts sowie das Bundeskanzleramt dem Bundespresseamt Anregungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung geben. Dies gilt für das Bundeskanzleramt in besonderem Maße, weil entsprechend einem Kabinettsbeschluß vom 30. März 1977 die Vorhabenplanung der Bundesregierung verstärkt mit der Planung der Öffentlichkeitsarbeit koordiniert wird.Um eine solche Anregung handelt es sich bei der in der Frage erwähnten sogenannten Ausarbeitung des Bundeskanzleramtes. Bei diesem Papier, das einigen Presseorganen und so auch der Opposition aus durchsichtigen Gründen, aber auf undurchsichtigen Kanälen zugespielt wurde, handelt es sich um eine Gedankenskizze, die in der Überschrift als
Metadaten/Kopzeile:
13146 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Staatsminister Wischnewski„Entwurf" gekennzeichnet und vom Verfasser nicht einmal unterschrieben worden ist.
— Ich habe das Original hier. Es steht „Entwurf" darauf.
Meine verehrten Kollegen, die Fragestunde ist keine Debatte, und daher müssen die Zwischenrufe auch bitte unterbleiben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Möller.
Herr Staatsminister, ist es in Ihrem Hause bzw. im Bundespresseamt üblich, daß auf Entwürfen Schlußverfügungen wie „Einverstanden" angebracht werden, oder wartet man die Reinschrift ab?
Wischnewski, Staatsminister: Es kann durchaus sein, daß jemand zu irgendeiner Frage erst einmal einen Entwurf erstellt und daß es eine Diskussion über diesen Entwurf gibt. Da ja in dieser Diskussion keine Entscheidung gefällt, sondern nur eine Prüfung angeregt worden ist, halte ich es für durchaus möglich, daß dieses Stadium auch im Rahmen eines Entwurfs erreicht wird.
Im übrigen bitte ich um Verständnis: Prüfen spielt bei der Arbeit der Bundesregierung immer eine große Rolle.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Lepsius.
Herr Staatsminister, sind Sie, da es ja nach dem Verfassungsgerichtsurteil den Parteien jetzt untersagt ist, Materialien der Bundesregierung direkt an die Bürger weiterzugeben, nicht mit mir der Meinung, daß im Bundeshaushalt sogar zusätzliche Mittel für einen neuen Verteilerapparat ausgebracht werden müßten, nachdem diese Verteilung in der Vergangenheit ja auf Kosten der Parteien vorgenommen worden ist.
Frau Abgeordnete Lepsius, Sie machen mir heute schwere Sorgen, denn diese Zusatzfrage hat weiß Gott mit Frage 65 nichts mehr zu tun. Dort geht es nämlich um Planstellen im Bundeskanzleramt. Aber wenn der Herr Staatsminister ganz kurz antworten möchte, bitte schön.
Wischnewski, Staatsminister: Verehrte Frau Kollegin, ich glaube, daß die Mittel für die Informationspolitik der Bundesregierung auf Grund sehr komplizierter Vorgänge — ich denke nur daran, daß heute vormittag beim Datenschutz gerade von seiten der Opposition mehr Information verlangt worden ist; oder denken wir an den schwierigen Sektor der Energiepolitik — eigentlich bei weitem nicht ausreichen. Wenn das Haus bereit ist, hier behilflich zu sein, sind wir sehr dankbar.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Haase .
Herr Staatsminister, Sie haben sich eben, wenn ich es richtig gehört habe, meinem Kollegen Möller gegenüber dahin gehend eingelassen, daß in Ihrem Amt niemand dieses „streng vertrauliche Dokument" vom 4. April 1979 mitgezeichnet hat.
Wie kommt dann die Referentin, die dieses „Geheimdokument" gefertigt hat, zu der Aussage unter Position 4: „Referat 53 hat mitgezeichnet" ?
Wischnewski, Staatsminister: Dann muß ich dieses Dokument noch einmal in Erinnerung bringen. Hier steht „Herrn Gruppenleiter 51" — ohne Zeichnung, Herrn „Abteilungsleiter 5" — ohne Zeichnung. „Referat 53 hat mitgezeichnet" — ohne Zeichnung. Ich glaube, damit hat sich die Sache erledigt.
Herr Abgeordneter Löffler, Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, sehen Sie eine reelle Chance, einen Kollegen, der wie ich aus der höheren Beamtenschaft stammt,
über den Unterschied zwischen Kenntnisnahme und Mitzeichnung aufzuklären, damit bestimmte Mißverständnisse aus diesem Saal verschwinden, die offensichtlich mit Absicht sehr gepflegt werden?
Wischnewski, Staatminister: Ich bin gerne dazu bereit, einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten, aber nicht im Rahmen der Fragestunde.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Friedmann.
Herr Staatsminister, wie viele Planstellen sind beim Bundespresseamt und beim Bundeskanzleramt seit dem Verfassungsgerichtsurteil eingespart worden?
Wischnewski, Staatsminister: Sie werden sich daran erinnern, das Urteil des Bundesverfassungs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13147
Staatsminister WischnewskiBerichts beschäftigt sich nicht mit der Tätigkeit des Bundeskanzleramts.
Es gab also auch nicht den geringsten Anlaß, beim Bundeskanzleramt Veränderungen vorzunehmen.Aus der Antwort, die ich soeben auf die Frage gegeben habe, ergibt sich, daß das Informationswesen wegen der sehr viel komplizierteren Materie sehr viel komplizierter geworden ist. Ich habe ein paar Angaben gemacht. Ich könnte Ihnen gerne noch einige zusätzliche Daten nennen. Ich könnte Ihnen auch Beispiele nennen, wo Kollegen der CDU gesagt haben, auf diesem Informationssektor würden sie eigentlich mehr brauchen. Deshalb müßte mein Kollege Staatssekretär Bölling eigentlich mehr Mitarbeiter haben.
Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatsmininister, Sie betonen so sehr, daß sich das Kanzleramt, das engere Kanzleramt, wenn ich es einmal so formulieren darf, überhaupt nicht mit diesen Dingen befaßt hat und befaßt. Daher frage ich Sie: Was hat dieser vertrauliche Vermerk denn in der Abteilung 5, ausgerechnet in der Planungsabteilung, gemacht?
Wischnewski, Staatsminister: Wie Sie genau an der Entstehung dieses Papiers sehen können, hat sich dort eine Dame Gedanken über die Thematik gemacht. Es ist niemandem verboten, sich zu einem Thema Gedanken zu machen, auch nicht im Kanzleramt.
Ich rufe die Frage 66 des Herrn Abgeordneten Dr. Friedmann auf:
Bei welchen Themen sieht die Bundesregierung die Schwerpunkte ihrer Öffentlichkeitsarbeit im nächsten Jahr?
Nun ist wieder Herr Staatssekretär Bölling dran, für die nächsten Fragen auch.
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Dr. Friedmann, die Öffentlichkeitsarbeitsreferate der Bundesressorts und des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung haben gemäß dem Auftrag des Kabinettsbeschlusses zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vom Februar 1978 bereits im Frühjahr 1978 in einer Rahmenplanung die Themen festgelegt, die bis zum Ende der Legislaturperiode, also auch 1980 grundsätzlich — grundsätzlich, betone ich — Schwerpunkte der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung sein sollen.
Diese Rahmenplanung sieht für 1980 vor — ich muß Ihnen das gewissenhaft beantworten —:
1. Die Unterrichtung der Bevölkerung über den Ausbau der Rechte, Chancen und Freiheiten der Burger.
2. Informationen über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat mit dem Ziel, die Bürger zu verstärkter Mitwirkung im politischen Entscheidungsprozeß zu gewinnen.
3. Informationen in den Themenbereichen, äußere Sicherheit und internationales Zusammenleben mit den Schwerpunkten internationale Sicherheitspolitik, Europapolitik, internationale Wirtschafts- und Währungspolitik sowie die umfängliche Thematik der Politik gegenüber der Dritten Welt.
4. Informationen über die deutschlandpolitischen Entwicklungen und Entscheidungen.
5. Informationen zu den Themen Konjunktur, Arbeitsmarkt, Haushalt und Steuern.
6. Informationen zur sozialen Sicherung, inneren Sicherheit und zum Ausbau der Lebensbedingungen, beispielsweise im Umweltschutz, Städtebau, Bildungssystem, Arbeitswelt und wahrlich nicht zuletzt Energiesicherung.
7. Darlegung der Aufgabe und Perspektiven der Bundesregierung für die 80er Jahre.
Die Auswahl dieser in der Rahmenplanung der gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit festgelegten Themenkomplexe orientiert sich sowohl an den. im Regierungsprogramm festgelegten Schwerpunkten der politischen Arbeit als auch an den ständig untersuchten Interessenschwerpunkten der Bevölkerung. Im Interesse einer gleichmäßigen Unterrichtung der Bürger werden die Öffentlichkeitsarbeitsmaßnahmen 1980 auf den in den Vorjahren vermittelten Informationen aufbauen, also im wesentlichen keine neuen Themen behandeln, soweit nicht — diese Einschränkung werden Sie verstehen — aktuelle politische Entwicklungen und Entscheidungen zu einer zusätzlichen Unterrichtung der Offentlichkeit Anlaß geben.
Entschuldigen Sie die Ausführlichkeit meiner Antwort, aber Ihre Frage machte das wohl notwendig.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, darf sich bei alledem die FDP in ihrer Parteiarbeit in gleicher Weise wie die SPD Ihrer Zuarbeit bedienen?Bolling, Staatssekretär: Herr Dr. Friedmann, alle Parteien und erfreulicherweise trifft das auch auf die Christlich Demokratische Union zu, natürlich nicht so umfänglich; das ist ja auch nicht zu erwarten — haben sich der wegen ihrer Sachlichkeit immer wieder anerkannten und gelobten Veröffentlichungen des Bundespresseamtes bedient. Wir möchten gern, daß das so bleibt.
Metadaten/Kopzeile:
13148 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glos.
Herr Staatssekretär, ist bei der Verbreitung der von Ihnen genannten Themen aus der Sicht der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien auch wieder daran gedacht, dafür das Zündwarenmonopol der Bundesregierung zu mißbrauchen?
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wir haben hier kein Monopol mißbraucht. Wir haben auch keine Propaganda gemacht, wie in einem kleinen Artikelchen in einer Ihnen nahestehenden Zeitung angedeutet worden ist. Wir haben ganz korrekt einen Antrag gestellt. Wir haben experimentiert, ob man mit dieser Art von Information den Bürger anregen kann, sich umfänglichere Druckschriften des Bundespresseamtes zu besorgen. Ich halte das für völlig in der Ordnung.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, wenn ich den Katalog der Schwerpunkte Ihrer Öffentlichkeitsarbeit nehme und dabei sehe, daß der Bitte des Abgeordneten Spranger von der CSU damit noch nicht entsprochen worden ist, über die Problematik des Datenschutzes umfassend zu informieren, bedürfen Sie dann einer Mittelaufstockung und werden Sie die beantragen?
Balling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Lutz, es wäre sicherlich gut, wenn wir gerade auf diesem Feld des Datenschutzes noch mehr Informationsarbeit leisten könnten. Wir werden dies trotz der Begrenzung der Mittel versuchen.
Ich möchte noch einmal feststellen: Die Unterstellung in einigen Zeitungsartikeln der letzten Zeit, wir bereiteten uns auf propagandistische Offensiven vor, ist absurd. Die Damen und Herren der CDU/CSU, die im Haushaltsausschuß sitzen, wissen ganz genau, daß davon überhaupt nicht die Rede sein kann. Herr Abgeordneter, wir werden uns bemühen, durch Umschichtung die Prioritäten in der Informationsarbeit zu beachten, die im Interesse des Bürgers liegen. Das ist machmal allerdings schwer, weil viel mehr von unseren Broschüren verlangt werden, als wir aus finanziellen Gründen zu drucken in der Lage sind.
Keine weitere Zusatzfrage mehr.
Ich rufe Frage 67 des Abgeordneten Dr. Friedmann auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, ihre Öffentlichkeitsarbeit im nächsten Jahr insgesamt oder bei einzelnen dieser Themen gegenüber 1979 und dem Vorjahr zu verstärken, gegebenenfalls aus welchen Gründen?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Dr. Friedmann, eine Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung — ich habe das soeben in einer anderen Antwort sagen können — ist im Jahre 1980 schon deshalb nicht möglich, weil für die Haushaltsansätze für die Öffentlichkeitsarbeit in Übereinstimmung zwischen dem Bundesminister der Finanzen und unserem Amt keine Steigerung vorgesehen ist.
Ich kann natürlich nicht ausschließen — ich habe das soeben schon ausführen können —, daß einzelne der Ihnen von mir in meiner Antwort auf Ihre erste Frage genannten Themen soviel Aktualität, soviel Dringlichkeit bekommen — ich nenne als Beispiel nur das komplizierte und komplexe Thema der Energiepolitik —, daß wir dann tatsächlich eines dieser Themen in den Vordergrund stellen und intensiver, als eigentlich geplant darstellen müssen. Aber die Unterstellung — ich habe es schon gesagt —, hier werde sozusagen über Karlsruhe hinweg oder an Karlsruhe vorbei mit vollen Rohren geschossen, ist einfach abwegig. Jemand, der ernsthaft argumentiert, sollte sich einer solchen Unterstellung besser nicht bedienen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie wollen Sie bei all dem die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung von der Parteiarbeit der sie tragenden Parteien abgrenzen?
Bolling, Staatssekretär: Wir haben ja, verehrter Herr Abgeordneter, eine ganz klare Definition unserer Aufgaben. Sie brauchen nur unseren Haushaltstitel anzusehen. Er zieht die Grenze. Wir werden diese Grenze genau wie in der Vergangenheit streng respektieren.
Ich muß wiederholen, auch wenn es dem Abgeordneten Wohlrabe nicht gefällt: Es wäre gut, wenn alle, die Öffentlichkeitsarbeit aus einer Regierung heraus machen, die Grenze beachten würden,
die da lautet: Darstellung der Regierungsarbeit, mit Ausnahme der Vorwahlzeit, und alle Informationen, die den Bürger dazu befähigen, komplizierte Gesetze zu verstehen. Denn was nützt es, wenn das Hohe Haus Gesetze beschließt, die nicht durch eine sinnvolle Öffentlichkeitsarbeit dem Bürger überhaupt bekanntwerden? Denn dann versteht er gar nicht, daß er bestimmte Möglichkeiten hat, die er nutzen kann.
Eine weitere Zusatzfrage. Bitte, Herr Abgeordneter Grobecker.
Herr Staatssekretär, denken Sie auch daran, in Ihrem Etat den Mittelansatz für Besuchergruppen zu erhöhen, damit möglichst viele
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13149
GrobeckerBürger in den Genuß solcher Fragestunden kommen?
Herr Abgeordneter, diese Frage wird nicht zugelassen, da der Zusammenhang fehlt.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Lepsius.
Herr Staatssekretär, würden Sie noch einmal ganz deutlich machen, daß im Bundesgerichtsverfassungsurteil ausdrücklich als Aufgabe der Bundesregierung beschrieben ist, über Rechte, die den Bürger unmittelbar betreffen, Informationen zu liefern, und daß hier eine der zentralen Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit einer Regierung liegt, gleich, ob es die Bundesregierung oder eine Landesregierung ist?
Balling, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, genau das ist es, was Karlsruhe in dem entsprechenden Passus seines grundsätzlichen Urteils gemeint hat. Ich füge hinzu, daß die Informationspolitik einer jeden Regierung, vorn Bürger her betrachtet, nicht eine Holschuld ist, sondern, von uns aus betrachtet, eine richtige Bringschuld ist. Wir müssen mit allen wichtigen Informationen, die dem Bürger zum Urteil befähigen, an ihn herangehen. Das ist unsere Aufgabe.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 68 der Frau Abgeordneten Berger auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, ihre Anzeigenaktionen in den nächsten 18 Monaten im Vergleich mit den Jahren 1977 und 1978 sowie im ersten Halbjahr 1979 zu verstärken?
Balling, Staatssekretär: Herr Präsident, wenn die Frau Abgeordnete einverstanden ist, möchte ich die Fragen 68 und 69 im Zusammenhang beantworten.
Ich rufe daher jetzt die Frage 69 der Frau Abgeordneten Berger auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Herausgabe von Broschüren in den nächsten 18 Monaten im Vergleich mit den Jahren 1977 und 1978 sowie dem ersten Halbjahr 1979 zu verstärken ?
Balling, Staatssekretär: Frau Abgeordnete Berger, eine Verstärkung der Anzeigenaktionen des Bundespresseamtes und der Ressorts ist für die nächsten 18 Monate nicht beabsichtigt. Es ist allerdings nicht auszuschließen — diesen Vorbehalt habe ich schon einige Male machen müssen —, daß aktuelle Entwicklungen uns veranlassen, auch von dem Instrument der Anzeige womöglich Gebrauch zu machen, um die Bevölkerung breit und umfassend über notwendige Maßnahmen zu unterrichten.
Bei der Herausgabe von Broschüren ist in den nächsten 18 Monaten eine Erhöhung der Auflagen nicht — ich betone: nicht — angestrebt. Da allerdings die Bundesregierung nach den durch das Karlsruher Urteil auferlegten Einschränkungen bei der Publikation und Verteilung über politische Parteien — darüber haben wir jetzt schon mehrmals gesprochen — entsprechend der vom Haushaltsausschuß ausgesprochenen Erwartung eine Reihe neuer Vertriebswege eröffnet hat, die jetzt auch vom Bürger gut genutzt werden, ist ebenso wie im ersten Halbjahr 1979 auch in der zweiten Hälfte des Jahres 1979 wie auch, so vermute ich, 1980 eine im Vergleich zu 1977 und 1978 stärkere Nachfrage aus der Bevölkerung nach solchen Broschüren zu erwarten. Das ist übrigens, Frau Abgeordnete, an dem Interesse zu erkennen, dem die nach Modellversuchen 1978 eingerichteten Informationsstände der Bundesregierung auf Verbrauchermessen und in Kommunen begegnen. Ich habe darauf schon vorhin hinweisen können.
Was die Zahl der Titel anlangt, macht die politische Entwicklung entweder gelegentlich Aktualisierung notwendig — ich denke da an die Europabroschüre, die wir schon vor Jahr und Tag herausgebracht und dann erneuert haben, oder an die Tips für die Arbeitnehmer —, oder die politische Entwicklung verlangt in den kommenden Monaten eine Komplettierung des Angebots an Publikationen. In Planung sind bei uns jetzt Publikationen zur Außenpolitik, zum Umweltschutz, zur Energie, zum Arbeitsmarkt und zur Verbraucherpolitik.
Es ist selbstverständlich, daß in der Vorwahlzeit zur Bundestagswahl 1980, Frau Abgeordnete, keine Broschüre produziert wird, die nicht aus aktuellem Anlaß erforderlich sein wird.
Keine Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Schröder auf:Will die Bundesregierung ab Herbst 1979 „bundespolitische Musterargumentationen" erarbeiten, und wenn ja, auf welche politischen Themen beziehen sich diese, und sind solche „bundespolitischen Musterargumentationen" auch schon im Jahr 1976 im Bundeskanzleramt oder in Bundesministerien ausgearbeitet worden?Balling, Staatssekretär: Herr AbgeordneterSchröder, in der Substanz glaube ich, die Frage, die Sie gestellt haben, vorhin bereits in meiner Antwort auf die Frage des Herrn Abgeordneten Jäger beantwortet zu haben. Ich wiederhole: Das Presse- und Informationsamt wird bei komplexen politischen Entscheidungen und Problemen fachorientierte Zielgruppen auch künftig in dem vorhin angesprochenen Rahmen, also im Rahmen dessen, was ich dem Herrn Abgeordneten Friedmann habe sagen können, über sozial- und wirtschaftspolitische Fragen in den dafür vorgesehenen Diensten informieren. Deshalb meine Bezugnahme auf meine Antwort auf den Abgeordneten Jäger. Die Bezeichnung „bundespolitische Musterargumentation" kommt mir für diese, wie ich denke, völlig normale Tätigkeit, die Ihnen ja bekannt ist, reichlich pompös vor. Ich hätte sie nicht gebraucht.Mit dem Bundestagswahlkampf in Beziehung zu bringende Musterargumentationen etwa für politische Parteien sind dem Bundespresseamt aus dem
Metadaten/Kopzeile:
13150 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Staatssekretär BöllingBereich der Ressorts so wenig wie aus dem Bundeskanzleramt bekanntgeworden. Das ist meine Antwort.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wie kann die schon so oft apostrophierte Mitarbeiterin nicht nur bezüglich der Ausarbeitung der Wahlkampfplattform einem solchen Irrtum unterlegen sein, sondern auch bezüglich der bundespolitischen Musterargumentation? Wie kommt es, daß dieser Begriff ausgerechnet im Zusammenhang mit Wahlkampfvorbereitungen in einem Arbeitspapier verwandt wird?
Boiling, Staatssekretär: Ich habe mir mit dieser Mitarbeiterin des Kanzleramts darüber kein Gespräch gehabt. Ich habe vorhin — ich möchte das gern richtigstellen — nicht die Arbeit dieser Mitarbeiterin als „Fliegendreck" bezeichnet, sondern ich habe das Wort „Fliegendreck" nur in dem Kontext benutzt, daß diesem Papier eine Bedeutung beigemessen wird, die ihm, verglichen mit anderen Gegenständen, die uns in diesen Tagen beschäftigen, nicht zukommt.
Warum sollte nicht — hier schließe ich an das an, was der Herr Staatsminister gesagt hat — eine' Mitarbeiterin einen solchen Terminus, der in der Öffentlichkeitsarbeit da und dort verwendet wird, in einem Diktat oder handschriftlich benutzen? Ich kann darin nun wahrlich kein Sakrileg erkennen, Herr Abgeordneter.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich aus dieser soeben vorgenommenen Wertung die Schlußfolgerung ziehen, daß Sie das von Ihnen benutzte Wort auf Anfragen beziehen wollen, denen es darum geht, die Bundesregierung zu einem verfassungskonformen Verhalten anzuhalten?
Boiling, Staatssekretär: Nein, Herr Abgeordneter, das wäre eine Anmaßung, die ich mir sicherlich nie gestatten würde. Ich habe nur meine subjektive Einschätzung der Bedeutung des ganzen Vorgangs, in dessen Mittelpunkt der Vermerk steht, zum Ausdruck bringen wollen. Ich habe nicht die Ausarbeitung einer Mitarbeiterin gemeint, die, wie der Herr Staatsminister gesagt hat — das war meine Überzeugung vom ersten Tage an —, durchaus in die richtige Richtung gedacht hat; in der Terminologie hat sie sich vergriffen. Wollen Sie so pharisäisch sein, eine junge Mitarbeiterin wegen solcher terminologischer Ungenauigkeiten auf die Anklagebank zu setzen?
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für angebracht, der Mitarbeiterin die Verantwortung für dieses Papier zu überlassen, oder tragen Sie die selbst?
Boiling, Staatssekretär: Ich habe mich von Anbeginn der Fragestunde insofern zur Mitverantwortung bekannt, als ich ja gesagt habe: Ich habe „einverstanden" darauf geschrieben, Herr Abgeordneter. Ich meinte damit den Auftrag an den Leiter der Inlandsabteilung, der als einziger außer mir einen Vermerk darauf geschrieben hat — —
— Herr Abgeordneter Haase, dies genau ist zutreffend.
— Nein. Im Ausschuß war ich doch gar nicht danach gefragt worden.
Herr Abgeordneter Dr. Friedmann wird Ihnen das bestätigen. Sie haben doch auch selber an der Sitzung teilgenommen.
Ich habe natürlich insofern die Verantwortung übernommen, als ich den Auftrag gegeben habe: Seht mal zu, ob das wirklich eine lohnende Sache ist. Das habe ich heute mittag schon mehrfach ausführen können, Herr Abgeordneter.
Ich rufe die Frage 71 des Abgeordneten Schrader auf:
Ist die Bundesregierung bereit, diese bundespolitischen Musterargumentationen" allen Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Verfügung zu stellen?
Boiling, Staatssekretär: Die Frage, Herr Abgeordneter Schröder, habe ich vorhin sinngemäß auch schon beantworten können. Das Presseamt ist gerne bereit, die von mir erwähnten Informationen für Zielgruppen der Opposition zur Verfügung zu stellen. Das wäre im übrigen, Herr Abgeordneter, keine Premiere, weil einige aus Ihren Reihen diese Zielgruppeninformationen — und nicht bundespolitische Musterargumentationen — seit Jahren hier in diesem Hohen Hause beziehen. Aber wenn Sie höhere Auflage wünschen — gerne zu Ihrer Verfügung.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, darf ich daraus die Zusage entnehmen, daß Sie die nur — wie Sie es sagen — fälschlich titulierten Sachverhalte nunmehr laufend den Fraktionen dieses Hauses zugänglich machen wollen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13151
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, alles, was unter dem Dach des Bundespresseamtes veröffentlicht wird, steht zu Ihrer Verfügung. Wir freuen uns darüber, daß Sie von zahlreichen unserer Ausarbeitungen regen Gebrauch machen. Wir sehen darin auch ein wenig Anerkennung für die Arbeit, die wir leisten.
Wir haben auch bei den letzten Haushaltsberatungen von Ihrer Seite nichts grundsätzlich und nichts konkret Kritisches gegen unsere Arbeit zu hören bekommen.
Darüber bin ich nicht unzufrieden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, darf ich aus dem „alles" die Schlußfolgerung ziehen,
daß Sie auch vorbereitende Überlegungen, wie sie in diesem Papier, um das es hier heute geht, niedergelegt sind, dem zuständigen Ausschuß, dem Haushaltsausschuß, in Zukunft rechtzeitig zuleiten werden, um für die Zukunft Mißverständnisse zu vermeiden?
Bolling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Schröder, ich erlaube mir, einen gelinden Zweifel daran zu haben, ob Sie die Frage ganz ernst meinen, ob wir Überlegungen, die sich gelegentlich auch in Vermerken oder Aufzeichnungen ausdrükken, bevor sie zu einer tatsächlichen Entscheidung oder Veröffentlichung führen, mitteilen wollen. Das wollten Sie, glaube ich, doch nicht ernstlich intendieren.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Lepsius.
Obwohl eben von Mißverständnissen gesprochen worden ist, darf ich Sie, Herr Staatssekretär, dennoch fragen, ob nicht in regelmäßigen Abständen im Bulletin der Bundesregierung sehr ausführlich sämtliche Broschüren und sämtliche Informationen der Bundesregierung für die Bevölkerung veröffentlicht werden und sich jeder Abgeordnete davon Kenntnis verschaffen kann.
Bölling, Staatssekretär: Ja, Frau Abgeordnete. Ich glaube, daß das einer der wichtigsten Beiträge war, mit dem wir zeigen wollten, wie ernst wir das Karlsruher Urteil nehmen.
— Trotz des Lachens des Abgeordneten Wohlrabe glaube ich, daß das so ist und daß sich nicht alle Landesregierungen mit gleicher Ernsthaftigkeit in dieser Richtung bewegt haben.
Aber vielleicht sind die Herren von der Opposition, die so um die Genauigkeit unserer Arbeit besorgt sind, auch bereit, diese schönen Prinzipien gegenüber solchen Landesregierungen zu vertreten, denen sie näherstehen als der Bundesregierung.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Frau Staatsminister Dr. HammBrücher zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Dr. Becher auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung auf die Absicht der polnischen Seite zu reagieren, Patenschaften mit deutschen Städten auf Grund von Verträgen zu gestalten, deren übereinstimmende Präambeln die einseitige polnische Auslegung der Ostverträge zum Ausdruck bringen?
Herr Kollege Dr. Becher, abgesehen davon, daß Sie in Ihrer Frage nicht „Patenschaften", sondern „Partnerschaften" gemeint haben, möchte ich Ihre Frage 72 wie folgt beantworten:
Die Bundesregierung begrüßt grundsätzlich den Abschluß von Städtepartnerschaften zwischen deutschen und polnischen Städten, weil sie einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen den Menschen in beiden Ländern leisten können. Der Abschluß vollzieht sich im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung dieser Städte. Über die Modalitäten der Partnerschaften befindet daher auch nicht die Bundesregierung, sondern die jeweilige Stadt. Ihre Vertretungskörperschaft trägt die Verantwortung für etwaige politische Aussagen. Deshalb sieht die Bundesregierung keinen Anlaß, auf geschlossene oder beabsichtigte Partnerschaftsvereinbarungen zu reagieren. Fragen in diesem Zusammenhang, Herr Kollege, wären an die jeweilige Stadt zu richten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Frau Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß polnische Stadtverwaltungen nach Verhandlungen mit Bremen, Hannover und Göttingen nunmehr auch bei den Verhandlungen zwischen Krakau und Nürnberg Partnerschaftsvereinbarungen erzwingen bzw. vorlegen, die den Warschauer Vertrag nicht nur einseitig politisch interpretieren, sondern auch in konkreten Paragraphenvorschlägen die Auflage machen, jeder politischen Tätigkeit entgegenzutre-
Metadaten/Kopzeile:
13152 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Becher
ten, die, wie es wörtlich heißt, „dem Geiste dieses Vertrages widerspricht"?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, grundsätzlich können polnische Städte souveränen kommunalen Körperschaften natürlich keine Paragraphen aufzwingen, sondern das unterliegt der Mehrheitsentscheidung der gewählten kommunalen Körperschaften.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, gewinnt der Vorgang nicht dadurch ein besonderes Gewicht, daß bei all diesen Vorschlägen, offenbar von polnischer Seite zentral gelenkt, diese Auflagen gemacht wurden, und was gedenkt die Bundesregierung, deren Träger früher einmal den Verzicht auf ostdeutsche Städte als Verrat bezeichneten, zu unternehmen, wenn die Regierungen der ehemaligen Vertreiberstaaten daraus das Recht ableiten, gegen Zusammenkünfte von Bürgern ehemaliger deutscher Städte oder ostdeutscher Gebiete, wie geschehen, zu intervenieren?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, abgesehen davon, daß in dieser Frage viele Einzelfragen untergebracht worden sind, möchte ich noch einmal betonen, daß sich die Bundesregierung in Entscheidungen kommunaler Körperschaften weder einmischen kann noch einmischen will und daß in den von Ihnen angeschnittenen Fragen von Patenschaften zwischen Städten und Heimatorten von Heimatvertriebenen ja von den Städten, soweit mir das im Augenblick bekannt ist, immer darauf bestanden worden ist, daß diese Patenschaften weiter aufrechterhalten bleiben und daß im Hinblick auf ein solches Verhalten auch die eine oder andere zunächst vorbereitete Städtepartnerschaft gar nicht zustande gekommen ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Frau Staatsminister, kann die Bundesregierung kommunale Rahmenvereinbarungen mit Auslegung internationaler Verträge hinnehmen, nachdem die Pflege internationaler Beziehungen nach dem Grundgesetz Sache der Bundesregierung ist und das Bundesverfassungsgericht Einmischungen von Kommunen in ähnliche außen- und verteidigungspolitische Fragen bereits einmal in einer Entscheidung als bundesunfreundliches Verhalten und als in Widerspruch zu Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes stehend bezeichnet hat?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, meiner Kenntnis nach sind in diesen Vereinbarungen keine Auslegungen von Verträgen enthalten, die nicht den Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung und Polen entsprechen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becker.
Frau Staatsminister, nachdem zwischen den Städten Tortun und Göttingen eine Städtepartnerschaft abgeschlossen worden und das wohl im Sinne von Frieden und Völkerverständigung vor sich gegangen ist: könnten Sie möglicherweise in diesem Zusammenhang dem Herrn Kollegen einmal das Zustandekommen und den Vertrag zwischen diesen beiden Städten und den Geist, den die Städte und ihre Bewohner inzwischen diesem Vertrag gegeben haben, nahebringen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich will das gern tun. Meiner Kenntnis nach hat sogar auch die CDU-Fraktion im Göttinger Stadtrat dieser Vereinbarung zugestimmt.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 73 — Abgeordneter Becher — auf:
Fällt es nach Meinung der Bundesregierung in die Kompetenz von Städten, in Patenschaftsabkommen Formulierungen zu übernehmen, die Verträge mit anderen Staaten eigenwillig und in gegebenen Fällen in verfassungswidriger Weise interpretieren, und wenn nein, was kann und wird die Bundesregierung gegebenenfalls dagegen unternehmen?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, nach Auffassung der Bundesregierung fällt der Abschluß von Städtepartnerschaftsvereinbarungen, wie ich eben schon gesagt habe, in den Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, innerhalb deren die Städte politisch eigenverantwortlich handeln. Dazu gehört neben der Formulierung der eigentlichen Vereinbarung auch die Formulierung von Aussagen und politischen Absichten, die in den Präambeln dazu getroffen werden.
Derartige Vereinbarungen begründen nach Auffassung der Bundesregierung weder völkerrechtliche Rechte und Pflichten für die Bundesrepublik Deutschland, noch haben sie eine rechtliche Bedeutung für die Auslegung bestehender völkerrechtlicher Verträge.
Die Auffassung der Bundesregierung zum Warschauer Vertrag und seine Auslegung durch sie sind klar und allgemein bekannt.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Frau Staatsminister, darf ich den Tenor meiner Frage mit einem Beispiel verdeutlichen? Würde etwa folgender Tatbestand das Auswärtige Amt völlig unbeteiligt lassen: wenn irgendeine — theoretisch gesprochen — von einer kommunistischen Mehrheit geleitete Kommune der Bundesrepublik Deutschland mit der Hauptstadt Albaniens, Tirana, eine solche Partnerschaft abschließt und ein Punkt der Vereinbarung heißt „Beide Partner verpflichten sich, dafür einzutreten, daß die Bundesrepublik Deutschland die NATO verläßt"? Betrifft das nicht unsere Außenpolitik? Das ist doch das Dilemma!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13153
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, Sie wissen, daß auf rein hypothetische Fragen die Bundesregierung keine Antwort erteilt, weil das ja ohne jeden Sinn ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wurde die Bundesregierung über die erwähnten Verhandlungen zwischen deutschen und polnischen Städten unterrichtet, und ist das Auswärtige Amt zumindest bereit, Informationen über die Landesregierungen an die Kommunen darüber zu geben, wo die Grenzen dieser Verhandlungen liegen, wenn eindeutig ganze Paragraphen dieser Übereinkommen in das außenpolitische Ressort fallen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe wiederholt betont, daß es Aufgabe der kommunalen Körperschaften ist, solche Vereinbarungen abzuschließen. Mir ist bekannt, daß in Einzelfällen — beispielsweise unsere Botschaft in Warschau — von solchen geplanten Vereinbarungen informiert gewesen ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Frau Staatsminister, sind Sie der Auffassung, daß die in allen diesen Rahmenvereinbarungen enthaltene Berufung auf die „Prinzipien" des Warschauer Vertrages sich mit dessen Auslegung, die Sie hier bekanntgegeben haben, seitens der Bundesregierung deckt? .
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich kenne nicht den Wortlaut anderer Vereinbarungen, die getroffen worden sind. Ich kann Ihnen deshalb nur sagen, daß, soweit es uns bekannt ist, diese Vereinbarungen sich im Rahmen des Vertrages und der Beurteilung der Bundesregierung halten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Broll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatsminister, da es ja sicher nicht im Interesse der Bundesregierung liegen kann, daß sich durch unvorsichtig formulierte Partnerschaftsverträge Mißdeutungen über unsere auswärtigen Beziehungen einschleichen: wird die Bundesregierung vielleicht in Zukunft die Notwendigkeit einsehen, die Kommunen, die natürlich in diesem Bereich souverän sind, dadurch über die wahren Sachverhalte zu informieren, daß man diesen Bereich in den Katalog der Punkte aufnimmt, die das Bundespresseamt für den nächsten Wahlkampf vorbereiten möchte?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Wir sind selbstverständlich gerne bereit, Kommunen, die solche Partnerschaften beabsichtigen, zu beraten.
Das ist, wie ich vorher gesagt habe, beispielsweise auch durch unsere Botschaft in Warschau geschehen. Im übrigen sind solche Partnerschaften, soweit ich das sehe, immer einstimmig von allen Fraktionen der jeweiligen Stadträte beschlossen worden und deshalb wohl kein Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung.
Zu einer letzten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Dr. Schneider.
Frau Staatsminister, wie würden Sie den gleichen Fall beurteilen, wenn, wie im Falle Nürnberg geschehen, keine Einmütigkeit in der Beurteilung eines solchen Freundschaftsvertrages wegen der zitierten Klausel zustande kommt, wenn also eine Fraktion, in diesem Fall die CSU, dazu entschieden nein sagt?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, mir ist im Augenblick nicht bekannt, wie der Stand der Entscheidungen in Nürnberg ist. Meine letzte Nachricht war, daß in einem entsprechenden Ausschuß auch die CSU grundsätzlich diesem Vereinbarungsentwurf zugestimmt hat. Ob es höhere Weisung seitens der CSU-Landesleitung gegeben hat oder nicht, ist mir nicht bekannt.
Meine Damen und Herren, die Fragen 74 und 75 des Abgeordneten Dr. Hupka, 76 und 77 des Abgeordneten Kirschner, 78 und 79 des Abgeordneten Weisskirchen werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind am Ende der Fragestunde. Die nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Kunz .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die Frage meines Kollegen Haase, ob die Wahlplattform der SPD wie bereits 1976 auch für 1980 im Bundeskanzleramt vorbereitet werden soll, hat die Bundesregierung zwar geantwortet, dies sei nicht der Fall; aber in der hochkarätigen Studie des Bundeskanzleramts wird 1976 als Modell für 1980 dargestellt.
Dies stellt das Zentrum der Studie dar.Es ist der Bundesregierung nicht gelungen, diese Studie herunterzuspielen. Es ist ihr schon gar nicht dadurch gelungen, daß dieses als streng vertraulich eingestufte Dokument des Bundeskanzleramts, das . mehrfach Gegenstand der Planungsabteilung V dieses Hauses war, als unverbindliche Arbeit einer jungen Hilfsreferentin herabgestuft
Metadaten/Kopzeile:
13154 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Kunz
werden sollte. Dies sind keine Antworten für unser Haus!
Herr Präsident, namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verlange ich eine Aktuelle Stunde.
Es ist der Antrag auf eine Aktuelle Stunde gestellt. Wird er ausreichend unterstützt? Ich bitte um ein Handzeichen. — Es ist ausreichende Unterstützung gegeben.
Ich eröffne die
Aktuelle Stunde.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Antworten, die wir soeben in der Fragestunde auf unsere Fragen gehört haben, sind unbefriedigend. Sie können damit an der Tatsache nichts ändern, daß folgendes feststeht.Erstens. Im Bundeskanzleramt und im Bundespresseamt laufen bereits jetzt die Vorbereitungen für die Bundestagswahlen 1980.
Zweitens. Regierungsapparat und Haushaltsmittel sollen wieder zur Wahlkampfführung der SPD und gegebenenfalls auch der FDP eingesetzt werden.
Drittens. Damit besteht die Gefahr, daß ein neuer Verfassungsverstoß vorbereitet wird.Es ist unbestreitbar, daß Staatssekretär Bölling durch seine Paraphe und den Vermerk „einverstanden" auf dem Dokument der Ausarbeitung des Bundeskanzleramts zugestimmt hat. Es soll ein Gutachten über — das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen — „Sprachbarrieren als Problem einer bürgernahen Publikumsumsetzung im Hinblick auf den Wahlkampf 1980" in Auftrag gegeben werden. Kostenpunkt: 35 000 DM. Zielrichtung: Durch das Gutachten soll herausgefunden werden, „wie durch Öffentlichkeitsarbeit Ängste und Unsicherheiten abgebaut", „wie die Akzeptanz" — so wörtlich — „für die Regierungspolitik erhöht werden kann"
und „welches die Reizworte sind, die angesichts vorhandener Unsicherheiten der Wählerschaft eher vermieden werden sollten".Weiter heißt es in der Ausarbeitung wörtlich:Im Wahljahr 1980 werden Öffentlichkeitsarbeitund kurzfristige politische Planung der Bundesregierung an Bundespresseamt und Bundeskanzleramt ganz besondere Anforderungen stellen.Und dann heißt es:Wir regen deshalb die Vergabe eines Gutachtens an. Dadurch sollen Grundlagen für die Öffentlichkeitsarbeit und kurzfristige politische Planung gewonnen werden.Ich zitiere weiter:Wünschenswert wäre, wenn Ergebnisse bereits für die Öffentlichkeitsarbeit ab Herbst zur Verfügung stünden, z. B. für Anzeigenkampagnen, bundespolitische Musterargumentationen etc.
Damit, meine Damen und Herren, ist klar, was unter dem Titel „Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung" mit Haushaltsmitteln betrieben werden soll. Die wahren politischen Ziele und Inhalte Ihrer Politik sollen mit geschickter Wortwahl, der Vermeidung von Reizworten und statt dessen mit der Verwendung unverdächtiger, positiver Vokabeln verschleiert und übertüncht werden.
Nicht sachliche Information, sondern Manipulation mit Hilfe von Steuergeldern und Regierungsapparat — so heißt Ihre Devise auch für 1980.
Schon 1976 haben Sie den Regierungsapparat rücksichtslos für den Wahlkampf eingesetzt. Auch das beweist die Ausarbeitung. Ich darf hier einmal den entsprechenden Kernsatz zitieren:Besonders wichtig wären Ergebnisse, falls — wie schon 1976 — die Wahlplattform für 1980 im Bundeskanzleramt vorbereitet werden soll.
Davon — so steht es geschrieben, und die Worte, die wir hier in der Fragestunde gehört haben, waren wenig überzeugend — kommen Sie nicht herunter, daran ist nichts zu deuteln. Das Wort „Wahlplattform" ist ein eindeutiger Begriff. „Wahlplattform" ist nicht Regierungsprogramm, „Wahlplattform" ist das Programm für die SPD — eventuell auch für die FDP — für 1980.Der Hinweis auf ,1976, meine Damen und Herren, wird sicherlich auch das Bundesverfassungsgericht interessieren, das die Bundesregierung in seinem Urteil vom 2. März 1977 hinsichtlich der Verwendung ihrer Mittel für Öffentlichkeitsarbeit im Bundestagswahlkampf 1976 des Verfassungsbruchs für schuldig befunden hat, indem es ausführt:Die Bundesregierung hat im Bundestagswahlkampf 1976
die Chancengleichheit der Parteien und dasNeutralitätsgebot verletzt, indem sie durch An-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13155
Wohlrabezeigenserien, Faltblätter und sonstige Publikationen werbend und Partei ergreifend in den Wahlkampf eingegriffen hat.
So weit das Urteil.
Meine Damen und Herren, schon jetzt erfahren wir von der Vorbereitung eines neuen Verfassungsverstoßes im Bundeskanzleramt. Den gilt es abzuwehren. Hier besteht die Gefahr, daß Sie Wiederholungstäter werden. Deshalb wenden wir uns mit aller Kraft gegen die hier im Ansatz gefundenen und niedergeschriebenen Gedanken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man möchte sich wünschen, daß eine Fragestunde öfter so stark besetzt ist. Man möchte sich wünschen, daß sich die Abgeordneten öfter so präzise vorbereiten. Es war sehr deutlich zu sehen, daß die Abgeordneten der Opposition ihre Fragen vorbereitet und sich mit dem gesamten Fragenkomplex intensiv befaßt hatten.
Das ist erfreulich. Es ist richtig, wenn über diesen Vorgang nicht nur im Haushaltsausschuß, sondern auch hier im Plenum des Bundestages in aller Offentlichkeit gesprochen wird.Ich stelle als Ergebnis dieser öffentlichen Aussprache
— vielen Dank: dieser Fragestunde —, die Sie mit Hartnäckigkeit geführt haben — das steht Ihnen zu —, fest, daß Sie nur in einem Punkt ein menschliches Fehlverhalten, aber in keiner Sache politisches Falschverhalten der Bundesregierung feststellen konnten. An nicht einem Punkt konnten Sie feststellen, daß die Bundesregierung gegen das Urteil vom 2. März 1977 verstoßen habe, an nicht einem Punkt konnten Sie das!
Sie konnten nicht eine Broschüre nennen, meine Damen und Herren,
die gegen die Gründe, die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts dargelegt sind, verstoßen würde; nicht eine Broschüre konnten Sie hier zur Diskussion stellen!
Vielmehr haben Sie mit Unterstellungen gearbeitet.Sie haben mit Fragen gearbeitet, die wie Feststellungen lauteten. Und: Der neutrale Beobachter mußsich fragen, wie es denn in einer Fraktion aussieht, wenn man korrekten, sauberen Antworten in dieser Art und Weise glaubt begegnen zu müssen.Es ist richtig und notwendig, daß wir, das Parlament, darüber wachen, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingehalten wird.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts — ich werde gleich darauf zu sprechen kommen —
gilt im Bund und in den Ländern, meine Damen und Herren.Zunächst darf ich feststellen, daß das ganze Haus das Bundespresse- und -informationsamt wiederholt gedrängt hat, seiner Informationspflicht gegenüber dem Bürger umfassender nachzukommen. Sie werden bei vielen Veranstaltungen und Gesprächen mit dem Bürger selbst feststellen, daß das eine sehr schwierige Aufgabe ist. Wir möchten, daß das Presse- und Informationsamt die Arbeit, die hier geleistet wird, dem Bürger so nahebringt, daß er sie nicht nur versteht, sondern sie auch in seinem persönlichen Bereich anzuwenden weiß.
Das Presse- und Informationsamt hat sich seiner Verpflichtung gemäß bemüht, dem Urteil auch in den Ländern Geltung zu verschaffen. Es gab mehrere Besprechungen mit den offiziellen Sprechern der Länder. Ich will nur einen Punkt nennen, über den man sich geeinigt hat, nämlich daß die Vorwahlzeit, die das Urteil sehr vage umschreibt, allgemein mit fünf Monaten vor der Wahl angesetzt werden möge. Ich frage mich, was es soll, wenn hier Fragen wie diese gestellt werden: „Was beabsichtigt die Regierung in den nächsten 18 Monaten zu tun?" Diese Frage können Sie stellen; aber sie hat mit der Respektierung des Urteils nichts zu tun.Vergessen Sie bitte nicht, daß das Urteil vom 2. März 1977 ist! Das Urteil stellt ganz generell für alle früheren Bundesregierungen fest, daß sie den Apparat für Wahlkämpfe eingesetzt haben und daß das für die Zukunft im Bund und in den Ländern nicht zulässig sein soll.
Wir haben seither keinen Bundestagswahlkampf gehabt; wir haben Landtagswahlkämpfe gehabt. Einen Satz aus den Leitsätzen des Urteils möchte ich Ihnen vorlesen: „Weder dürfen die Verfassungsorgane des Bundes anläßlich von Wahlen in den Ländern noch dürfen die Verfassungsorgane der Länder anläßlich von Wahlen zum Bundestag Partei ergreifend in den Wahlkampf hineinwirken." Das Verfassungsgericht hatte Anlaß für diese Formulierung;
Metadaten/Kopzeile:
13156 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Schäfer
denn früher wurden die Landtagswahlkämpfe vom Bundeskanzleramt aus geführt. Ich erinnere an den Reptilienfonds, ich erinnere an die ADK unseligen Angedenkens, die wir liquidiert haben. Ich erinnere an die Mobilwerbung.
Herr Kohl, Sie freuen sich als ehemaliger Ministerpräsident, welche Unterstützung Sie im Landtagswahlkampf vom Bundeskanzleramt bekommen haben.
Gern hätten Sie es getan, aber Sie konnten nicht einen Punkt nachweisen.
Bei der Aktuellen Stunde bin ich verpflichtet, darauf zu achten, daß die Redezeiten nicht überschritten werden.
Den Satz darf ich beenden. Es haben Landtagswahlkämpfe stattgefunden. Wir haben in den Ländern Hamburg, Niedersachsen, Berlin und Hessen keine Beanstandungen zu treffen. Wir haben ernste Anstände, die hier zur Sprache kamen, in den Ländern Bayern, RheinlandPfalz, Schleswig-Holstein zu treffen. Was sich in Baden-Württemberg anbahnt,
das seine Mittel um 26 % erhöht hat, werden wir nachprüfen.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es in Nr. 3 Abs. 2 der Bestimmungen über die Aktuelle Stunde heißt: „Der einzelne Redner darf nicht länger als fünf Minuten sprechen." Ich bin also gezwungen, hier einzuschreiten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war „Die Welt", auch „Bayern-Kurier der Nordlichter" genannt, die von jenem Plan berichtet hat, der nach Wahlwerbung riechen soll. Dabei sieht alles an sich ganz vernünftig aus.
Es geht um die Öffentlichkeitsarbeit und jenen Vorschlag, die Information über die politischen Ziele und Arbeit der Bundesregierung bürgernah und verständlich zu machen.
Es ist in der Tat unser aller Interesse, daß sich Staatsverdrossenheit nicht dadurch entwickelt, daß komplizierter werdende Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben nur noch von Experten zu durchschauen sind, während sich der Bürger aus dem Prozeß der Meinungsbildung ausgeschlossen fühlt.
Deshalb hat der Staatsbürger einen Anspruch auf eine Information, die sich allerdings strikt am Prinzip der sachlichen Aufklärung orientiert. Diesen Auftrag muß die Bundesregierung erfüllen. In diesen Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 2. März 1977 Öffentlichkeitsarbeit nicht nur für zulässig erklärt, sondern für notwendig.Kritik muß dort einsetzen, wo an die Stelle der Information amtliche Wahlwerbung treten soll.
Der Vermerk, der in Rede steht, mobilisiert diese Kritik selbst, wenn er das Ganze auf das Wahljahr 1980 projiziert und in den Zusammenhang mit einer Wahlplattform stellt.
Hier läßt der Vermerk ein bedenkliches Manko erkennen. Was dort geschrieben ist, geht ganz und gar nicht, zumindest geht es nicht mehr, und vor allen Dingen geht es nicht in Bonn. Hier ist es wohl auch nicht beabsichtigt.
Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatten wir eine unselige Tradition. Sie reichte weit in die Zeiten der Regierungsverantwortung der CDU/CSU zurück. Reptilienfonds und schwarzer Kanal sind die Stichworte
— Herr Kohl, Sie können hier auch einmal einen Augenblick den Mund halten; woanders müssen Sie ihn ja schon halten —
einer Hybris, als sich eine Partei mit dem Staat gleichsetzen wollte.Die CSU hat diesen Prozeß der Vermischung von Partei und Staat bis zur Perfektion entwickelt. Die CDU kann da nur vor Neid erblassen.
Aber Bayern ist nicht Bonn, und in Bonn dürfen nicht wieder bayerische Zustände einreißen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13157
HoppeDie Ausarbeitung einer Wahlplattform mag auf allen möglichen Ebenen und in allen denkbaren Gremien stattfinden. In Ministerien und Kanzleien haben solche Aktivitäten nichts zu suchen, und die FDP wird sie dort nicht abverlangen; denn nach Art. 21 des Grundgesetzes wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung im Staat mit. Zu einer Umkehr dieses Grundsatzes darf es deshalb auch nicht einmal im Ansatz kommen.Die Identität von Staat und Partei ist auch für die Parteien ein fragwürdiges Unterfangen. Aber für die Demokratie und für die Staatsbürger ist sie Gift.
Die Parteien sollten der Versuchung widerstehen. Das Parlament aber hat dafür zu sorgen, daß die Regierung gar nicht in die Versuchung kommen kann, auf dem Feld der Parteien zu grasen und sich dort zu tummeln. Wenn es nötig ist, dann mag auch die richtige Zuweisung von Haushaltsmitteln hier ihre heilsame Wirkung haben.
Das Wort hat Herr Staatsminister Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zuerst einmal möchte ich die ungeheuren und unberechtigten Vorwürfe des Kollegen Wohlrabe gegen die Bundesregierung eindeutig zurückweisen.
Es ist eine schlechte Abschiedsrede, die Sie im Deutschen Bundestag gehalten haben.
Ich bestreite nicht, daß einer Mitarbeiterin im Bundeskanzleramt eine Panne passiert ist. Ich bedaure das. Aber ich weiß nicht, ob diese Panne einer Mitarbeiterin diese Aktuelle Stunde wert ist.
Was die semantischen Untersuchungen betrifft, so ist das ja im Bundespresse- und Informationsamt nichts Neues. Ich sage Ihnen jetzt, welche semantischen Untersuchungen in früheren Jahren von welchen Bundespresse- und -informationschefs veranlaßt worden sind.1952 wurde eine semantische Untersuchung, veranlaßt von Felix von Eckardt, beim Allensbacher Institut in Auftrag gegeben: Verständlichkeit gängiger Begriffe — „integrieren", „EVG", „Souveränität", „Funktionär".Eine weitere semantische Untersuchung 1954, in Auftrag gegeben beim Allensbacher Institut durch Felix von Eckardt: Die Verständlichkeit politischer Begriffe — „EVG", „NATO", „Regierungskoalition".Eine weitere semantische Untersuchung 1955, in Auftrag gegeben von Felix von Eckardt beim Allensbacher Institut — merken Sie sich den Titel jetzt ganz genau —: Einheit oder Freiheit — die Wirksamkeit von Schlagworten.
Eine weitere, 1956 in Auftrag gegeben vom Chef des Bundespresse- und -informationsamtes, Herrn Diehl: Grundeinstellung der Bevölkerung an Hand politischer Parolen.
Was die Tätigkeit des Bundespresse- und -informationsamtes betrifft, möchte ich Ihnen gern den Auszug eines Briefes von Herrn von Brentano an Felix von Eckardt zur Kenntnis geben. Ich zitiere Herrn von Brentano, einen Ihrer großen Vorgänger, Herr Kollege Kohl, wörtlich:Auf der anderen Seite weiß ich wohl, was eine gute Arbeit des Presse- und -informationsamtes zu bedeuten hat. Wir haben auf diesem Gebiet in den letzten Monaten nicht sehr erfolgreich gearbeitet. Im nächsten Jahr werden wir die Wahl zum Bundestag haben, und gerade darum ist ein gutes Funktionieren des Amtes von ganz entscheidender Bedeutung.So also der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU anden Chef des Bundespresse- und -informationsamtes.
Lassen Sie mich mit fünf Bemerkungen abschließen.Erstens. In der parlamentarischen Demokratie unseres Landes ist ein Höchstmaß an Information für die Bürgerinnen und Bürger zwingend notwendig. Die Bundesregierung fühlt sich nicht nur verpflichtet, sondern ist auch verpflichtet, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande ein Höchstmaß an Information zu gewähren.
Sie wird sich auch von niemandem abhalten lassen, diese Pflicht den Bürgern gegenüber in vollem Umfange zu erfüllen.
Zweitens. Die Bundesregierung kennt sehr genau den Unterschied zwischen notwendiger Informationspolitik und Wahlkampf.
Sie wird ihn auch für die Zukunft beachten.
Metadaten/Kopzeile:
13158 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Staatsminister WischnewskiDrittens. Gerade weil die Bundesregierung die-, sen Unterschied sehr genau kennt, hat sie die früher bestehenden Zustände entscheidend verändert.
Ich erinnere an die Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise e. V., ich erinnere an die Bundespressekorrespondenz GmbH, ich erinnere an das Deutsche Korrespondenzblatt GmbH und vor allen Dingen an die Ungeheuerlichkeit der Mobil-Werbung, die Sie sich erlaubt haben und wobei Sie die Mittel des Bundespresse- und Informationsamtes viele Jahre direkt in Ihre Parteikasse haben fließen lassen.
Sie wissen auch — oder einige von Ihnen wissen es —, daß die Große Koalition niemals zustande gekommen wäre, wenn nicht die Vorbedingung, all diese einseitigen Parteiinstrumente der CDU/CSU abzubauen, erfüllt worden wäre.
Herr Staatsminister, darf ich Sie unterbrechen. Es ist meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, daß es einen Briefwechsel zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag — genauer, dessen Präsidium — gibt, den Sie im Altestenrat dem Geiste und auch dem Inhalte nach weiter bestehen lassen wollten.
Herr Präsident, ich werde mich im Rahmen dieses Briefes bewegen und mit drei Sätzen zum Abschluß kommen.
Viertens. Die Bundesregierung respektiert im vollen Umfange das Urteil des Verfassungsgerichts
und wird sich auch für die Zukunft daran halten, auch dort, wo sie — wie der bayerische Ministerpräsident — nicht mit allem voll übereinstimmt.
Fünftens. Was für den Bund gilt, gilt auch für die Länder.
Ich habe deshalb dem Staatssekretär Bölling vorgeschlagen, daß wir, wenn es geht, im Deutschen Bundestag unmittelbar nach den Ferien eine Ausstellung veranstalten, auf der die Informationsmittel von Bund und Ländern ausgestellt werden.
Alle Mitglieder des Hohen Hauses sind dazu eingeladen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatsminister Wischnewski hat eben versucht, vom wahren Thema abzulenken.
Was soll denn der Hinweis auf unseren verstorbenen Freund von Brentano? Sind Sie etwa der Meinung, ein Bundespresseamt soll nicht gut sein?
Ist es schon etwas so Außergewöhnliches für diese Regierung, daß einmal ' eine Dienststelle gut operiert?
Es scheint mir wohl notwendig zu sein, den wahren Sachverhalt noch einmal in die Mitte zu rükken. Am 30. Mai und 1. Juni berichtete die überregionale Presse darüber, daß wieder beabsichtigt sei, eine Wahlplattform bei der Bundesregierung im Kanzleramt zu erstellen. Ich habe daraufhin Herrn Staatssekretär Bölling im Haushaltsausschuß gefragt, ob dies so sei. Wohl gemerkt, mit „Wahlkampfplattform" ist hier eine gedruckte Zusammenstellung von Wahlkampfaussagen der SPD gemeint. Daraufhin hat Staatssekretär Bölling gesagt, es handele sich dabei um eine völlig harmlose, völlig sinnlose Ausarbeitung einer Hilfsreferentin. Eben hat er die Ausarbeitung noch als Fliegendreck abqualifiziert.
Er war bereit, mir in diese Ausarbeitung Einsicht zu gewähren. Er schickte mir einen Mitarbeiter während der Sitzung, damit ich in dieses Papier hineinsehen konnte. Das habe ich auch getan. Es handelte sich dabei aber um ein Papier, in dem nicht wie in der jetzigen Ausfertigung, über die wir reden, das Wort „einverstanden" stand.
Ich durfte dieses Papier auch nicht behalten, ich durfte es auch nicht fotokopieren. Der Mitarbeiter hat es sofort wieder zu Herrn Staatssekretär Bölling mit sich genommen.
Doch wie es nun einmal so im politischen Leben ist, ein lauer Wind hat uns dann dieses Papier doch zugeflüstert und zugeweht. Da haben wir gesehen, daß das ganz anders aussieht, daß auf diesem Papier Herr Bölling nicht nur mit Namenszug abgezeichnet hat, sondern daß er mit seiner Handschrift unter dem 17. April ausdrücklich „einverstanden" dahinter geschrieben hat.
Das ist nun einmal mehr, als nur mal so im Vorbeigehen Kenntnis genommen. Das heißt ausdrücklich, sich mit dem Inhalt dieses Schreibens identifiziert zu haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13159
Dr. FriedmannNichts anderes heißt hier „einverstanden". So ist auch der Usus in der ganzen Bonner Bürokratie.Es ist unwürdig, Herr Regierungssprecher, das nun als menschliches Versagen hinzustellen und hier eine Hilfsreferentin dafür verantwortlich zu machen, die sich hier gar nicht wehren kann.
Herr Regierungssprecher, Sie haben im Haushaltsausschuß des Bundestages und damit im ganzen Parlament die Unwahrheit gesagt.
Sie haben den Haushaltsausschuß und das Parlament hintergangen.
Sie muten Ihren Mitarbeitern zu, in dieser Zielsetzung, nämlich Verstoß gegen das Verfassungsgerichtsurteil, mitzuwirken, und stoßen damit diese Mitarbeiter in einen unverantwortlichen Loyalitätskonflikt.
Materiell verstoßen Sie gegen das Urteil, indem Sie Steuergelder für Parteipropaganda ausgeben.
— Herr Kollege Löffler, für uns wäre es eine unerhörte Leistung.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Friedmann. — Herr Abgeordneter Löffler, ich rufe Sie zur Ordnung.
Sie haben in ihrem Amtseid gelobt, die Gesetze der Bundesrepublik einzuhalten. Durch Ihren bewußten Verstoß gegen das Gerichtsurteil betätigen Sie sich aber anders. Ich muß darauf hinweisen: Ihr Verhalten hat auch gezeigt, wie Regierungsapparat und Parteiapparat miteinander verflochten sind.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie davon Abstand nähme, ihre Politik mit Mitteln der Unwahrheit verkaufen zu wollen.
Wer gute Arbeit leistet, braucht das Licht der Offentlichkeit und das Licht der Wahrheit nicht zu scheuen.
Frau Abgeordnete Dr. Lepsius.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich weiß nicht, was die Bürger von einer solchen Rede halten mögen, wie sie eben hier gehalten worden ist.
Wir sind hier beim Thema Öffentlichkeitsarbeit. Dieses kann in der Tat einige Aufregung hervorrufen. Ich bin aber der Meinung, daß die Bürger im Lande nicht an. Propaganda interessiert sind, sondern daß sie — —
— Es macht mich natürlich glücklich, daß Sie mal wieder an der falschen Stelle klatschen.
Frau Abgeordnete Lepsius, darf ich eine Bemerkung machen. — In der Aktuellen Stunde sind keine Zwischenfragen vorgesehen. Das heißt, daß die kurze Redezeit von fünf Minuten dem Redner auch tatsächlich zur Verfügung stehen soll. Es geht nicht, daß er durch Zwischenrufe so behindert wird, daß seine Rede nicht voll zur Wirkung kommt. Ich bitte, das zu beachten.
Die Bürger draußen im Lande wollen Informationen haben. Sie wollen vor allen Dingen wissen, welche neuen Rechte sie bekommen und welche Folgen, welche Konsequenzen das für sie hat und welche Leistungen sie unter Umständen daraus beziehen können. Das sind die Interessen der Bürger an einer wahrhaft guten Öffentlichkeitsarbeit.Ich darf kurz auf das zurückkommen, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gesagt hat. Es hat gesagt, daß Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern auch notwendig ist. Ich darf im Hinblick auf die hier vorgetragenen Argumentationen noch einmal wiederholen: Die Bundesregierung soll gerade auf jene Fragen Antworten geben, wo es sich darum handelt, den demokratischen Grundkonsensus lebendig zu erhalten. Sie soll zweitens den Bürgern vor allen Dingen Broschüren öffentlich zugänglich machen, in denen die Bürger Informationen über Rechte erhalten, die ihnen unmittelbar zustehen.
Ich möchte Sie daran erinnern, daß die Pressesprecher der Länder zusammen mit dem Pressesprecher der Bundesregierung Regeln gefunden und sich darauf geeinigt haben, daß die Vorwahlzeit auf fünf Monate festgelegt wird. Zweitens wurde eine uns als Parteien insgesamt betreffende Regelung gefunden, die ich zutiefst bedauere. Ich neh-
Metadaten/Kopzeile:
13160 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Frau Dr. Lepsiusme an, das sieht auch bei der Opposition nicht anders aus. Staatliches Informationsmaterial darf nämlich den politischen Parteien und den sie im Wahlkampf unterstützenden Organisationen und Gruppen nur zur Information der eigenen Mitglieder zur Verfügung gestellt werden. Wir alle im Parlament, Sie sowohl wie wir, finden uns in der Situation, daß unsere Parteien kein Informationsmaterial mehr an die Bürger verteilen können, obwohl wir alle ein Interesse daran haben müssen.
Dies ist unsere schwierige Situation. Wir täten gut daran, wenn wir sozusagen als ein positives Ergebnis einer solchen aktuellen Debatte Überlegungen anstellen würden, wie wir diese seltsame restriktive Einigung, die das Kind mit dem Bad ausschüttet, im Interesse unserer Burger, die Informationen haben wollen, rückgängig machen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröder .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Verharmlosungsversuche und der Rückgriff auf uralte semantische Untersuchungen, Herr Staatsminister,
ändern nichts daran, daß uns dieser „streng vertrauliche" Aktenvermerk vom 4. April 1979 viererlei offenbart.
Erstens offenbart er einen beabsichtigten Mißbrauch des Staatsapparats und seiner Bediensteten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich halte es für sehr unfair, in welch einer rüden Art und Weise die Verfasserin dieses Papiers hier heute auch von den nachfolgenden Rednern der Koalition behandelt worden ist. Sie ist nicht unfähig, sondern sie ist eine übereifrige, eine 150prozentige Genossin, die etwas Gutes für ihre Regierung tun wollte. Da sollten Sie sie nicht so abkanzeln, wie Sie es getan haben.
Herr Abgeordneter Schröder, die politische Einstellung von Mitarbeitern von Ministerien steht hier nicht zur Debatte.
Hier wird auch deutlich, was die wahre und wirkliche Funktion der Abteilung 5 des Bundeskanzleramts, nämlich der Planungsabteilung, ist. Sie ist das, was wir wiederholte Male hier zum Ausdruck gebracht haben, nämlich nichts anderes als eine Außenstelle des Erich-Ollenhauer-Hauses.
Zweitens offenbart dieser Aktenvermerk einen beabsichtigten Mißbrauch von Steuergeldern für werbende Zwecke. Dies wird — um nur ein Beispiel zu bringen — schon daran deutlich, daß Sie 1979 den Gesamtetat Ihres Hauses für Öffentlichkeitsarbeit um 5,8 % angehoben haben, die Mittel für die Inlandsarbeit — sprich: die Werbung für die Politik Ihrer Regierung — aber um 13,4 %.
Schon hier wird deutlich, in welche Richtung der Weg geht.
Drittens wird durch diesen Aktenvermerk und die Vorgänge um diesen Aktenvermerk eine Mißachtung des Parlaments deutlich: Was sich im Haushaltsausschuß und heute im Plenum abgespielt hat, dieses Sich-Heraushangeln-Wollen aus der eigenen unmittelbaren Verantwortung,
dieses Leugnen vor einem Ausschuß und vor dem Parlament insgesamt kann ich nur als beschämend ansehen.
Viertens und letztens — und dies ist der eigentliche Punkt — offenbart diese Aktennotiz eine ganz klar erkennbare und beabsichtigte Mißachtung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und demgemäß einen beabsichtigten Verstoß gegen die Verfassung unseres Landes.
Lassen Sie mich deshalb hier noch einmal den Kernsatz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 zitieren, um deutlich zu machen, wie weit Sie sich in der Zwischenzeit, in diesen zwei Jahren von dem Boden dieses Verfassungsgerichtsurteils entfernt haben. Es heißt dort wörtlich:Es ist mit dem Verfassungsprinzip, daß Bundestag und Bundesregierung nur einen zeitlich begrenzten Auftrag haben, unvereinbar, daß die im Amt befindliche Bundesregierung als Verfassungsorgan im Wahlkampf sich gleichsam zur Wiederwahl stellt und dafür wirbt, daß sie als Regierung wiedergewählt wird.Es heißt weiter an anderer Stelle:Ein Partei ergreifendes Einwirken von Staatsorganen in die Wahl zur Volksvertretung ist auch nicht zulässig in der Form von Öffentlichkeitsarbeit.
Aus der Verpflichtung der Bundesregierung, sich jeder Partei ergreifenden Einwirkung auf die Wahl und Vorbereitung der Wahl zu enthalten, folgt schließlich auch für die Vorwahlzeit das Gebot äußerster Zurückhaltung und das Verbot jeglicher mit Haushaltsmitteln betriebener Öffentlichkeitsarbeit in Form von so-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13161
Schröder
genannten Arbeits-, Leistungs- und Erfolgsberichten.Was ergibt sich daraus? Daraus ergibt sich eindeutig, daß die Öffentlichkeitsarbeit, auch die in einem Wahljahr und in der Vorwahlzeit, nur zulässig ist, soweit sie sich im Rahmen der vom Grundgesetz der Bundesregierung zugewiesenen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiche und im Rahmen der durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 2. März 1977 klar gezogenen Grenzen hält.Dies ist der eigentliche Punkt, um den es uns geht: Sie daran zu hindern, daß Sie auch nur im Ansatz den Verstoß gegen ein Ureil des Bundesverfassungsgerichts erneut vollziehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Löffler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe vorhin in der Erregung dem Kollegen Friedmann den Ausdruck „Verleumder" zugerufen. Ich nehme das mit Bedauern zurück. Herr Friedmann, es tut mir wirklich leid, daß ich mich zu diesem Ausdruck habe hinreißen lassen.Aber noch mehr tut es mir leid, Herr Friedmann, daß Sie hier von dieser Stelle aus den traurigen Mut aufgebracht haben, einen Staatssekretär, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen,
des Verfassungsbruchs zu bezichtigen.
Dieser Staatssekretär hat, nebenbei gesagt, den gleichen Amtseid auf die Verfassung geleistet, wie derjenige Beamte, der durch eine Dienstpflichtverletzung dieses Dokument den Händen der Opposition zugespielt hat. — Vielleicht war es auch ein Angestellter; der hat allerdings keinen Eid geleistet. — Sie rühren nun damit eine trübe politische Suppe an, weil Ihnen sonst nichts anderes mehr einfällt.
Ich freue mich, Herr Kollege Schröder, daß Sie hier nur den Versuch eines Verfassungsbruchs festgestellt haben. Aber das eigentlich Beschämende ist dieser Vorgang, den ich eben gekennzeichnet habe, nämlich einen Mann, der sich an dieser Stelle nicht verteidigen kann, einfach in den Schmutz zu treten.
Aber wissen Sie, die ganze Veranstaltung heute hatte ja wohl ganz offensichtlich diese Aufgabe. Da wir heute so viel über Semantik gesprochen haben, darf ich vielleicht einmal eine Definition des Begriffs geben: Semantik ist die Lehre, die sich mit der Ermittlung, Beschreibung und Erklärung der Bedeutung der sprachlichen Elemente sowie mitden Beziehungen der Bedeutungen zueinander beschäftigt.Man könnte diese Definition auf die verschiedensten Vorgänge innerhalb der CDU/CSU-Fraktion anwenden. Ich tue es z. B. nicht, weil der Herr Kollege Dr. Kohl hier sitzt; da könnte man nämlich eine ganze Reihe von Beziehungen anführen, wie man mit Semantik jemanden fertig zu machen versucht hat.Ich will es aber einmal auf den heutigen Vorgang anwenden. Da wird unterstellt, ob nicht ein Vermerk vielleicht manipuliert worden ist. Wie schlimm, Herr Haase, da ist doch irgend etwas geschehen.
—'Es gibt noch mehr Exemplare.
Machen Sie denn von Ihren Schreiben keine Durchschriften? So unordentlich werden Sie doch wohl nicht sein!
Da wird von „Verfassungsbruch" gesprochen und von „Mißverständnissen" und von „Mißbrauch". Da wird gesagt, nun müsse man eine Frage zur „Wahrheitsfindung" stellen — und das alles natürlich unter „streng vertraulich" !Sie haben heute auch versucht, Semantik zu betreiben, allerdings eine Semantik, die auf die niederen Schichten der Seele abzielt, weil Sie nämlich in den oberen Schichten die Leute nicht ansprechen können mit dem, was Sie gegenwärtig unter Politik verstehen zu müssen oder zu können glauben.
Das war so die Semantik des Sumpfes, unten.Wenn sich die Regierung hingegen bemüht, durch semantische Gutachten herauszufinden, ob der Bürger noch die Sprache derjenigen versteht, die den Staat repräsentieren, dann ist das ein legitimes demokratisches Anliegen; denn Demokratie und Information gehören nun einmal eng zusammen. Es gibt keine Demokratie ohne Information.Wer von Ihnen hat denn nicht auch schon beklagt, daß wir mit unserer immer stärker bürokratisierten Sprache, mit unseren bürokratisierten Formeln einfach nicht mehr an den Menschen herankommen? Da ist es legitim, wenn sich das Bundespresseamt bemüht, einmal herauszufinden, mit welchen Worten wir noch mit den Bürgern sprechen können, wenn man sich bemüht, die gleiche Sprache wie der Bürger zu sprechen. Nebenbei gesagt ist das unsere Aufgabe als Politiker ganz genauso.Das, finde ich, ist durchaus in Ordnung. Aber das, was Sie getrieben haben, war mehr oder weniger so etwas wie eine After-Semantik, so wie man jede Wissenschaft zu hohen Zwecken und auch zu niederen Zwecken gebrauchen kann.
Metadaten/Kopzeile:
13162 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
LöfflerSie haben heute ein Beispiel dafür gegeben, wie Sie die ganze Geschichte einschätzen.Da wird z. B. dem Staatssekretär unterstellt, daß er mit dem Wort „Einverstanden" nunmehro den gesamten Text gebilligt habe.
Wo gibt es denn so etwas? Was schreiben Sie denn alles auf Ihre Briefe? Er hat einen Vorschlag gebilligt, ohne die Begründung, ohne die Formulierung anzunehmen.
Ein anderer hoher Beamter hat es immer noch nicht begriffen, ob ein Zeichen „Kenntnisnahme" nun Kenntnisnahme bedeutet oder ob dieses Zeichen Mitzeichnung bedeutet. Sie werden doch einmal eine Geschäftsordnung gelesen haben, Herr Kollege Dr. Möller.
Ich komme zum Schluß. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedaure diese Debatte.
Ich bedaure vor allen Dingen zutiefst die Scheinheiligkeit, die hinter Ihren Motiven steckt. Daran werden Sie noch selber zu kauen haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte wäre sicherlich überflüssig, wenn sich die Bundesregierung entsprechend den Bestimmungen und den Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts verhalten hätte. Dann hätten wir heute hierüber in der Tat nicht zu diskutieren brauchen.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil an mehreren Stellen betont — ich zitiere —, daß die Staatsorgane als solche allen zu dienen und sich neutral zu „verhalten" haben.
Dieser Grundsatz der Neutralität der Staatsorgane verpflichtet nicht nur die Bundesregierung als Organ, sondern auch die Ministerialverwaltung und damit die Beamten und Angestellten zu verfassungskonformem Verhalten bei der Öffentlichkeitsarbeit.Wer als Mitarbeiter eines Staatsorganes unzulässige, weil verfassungswidrige Propaganda vorbereitet,
verstößt nicht nur gegen die Zielsetzung des Urteils, sondern gleichzeitig gegen seine Treuepflicht;denn sowohl Beamte als auch Angestellte haben sich durch Eid bzw. Gelöbnis verpflichtet, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu wahren.
Wer also auf Weisung seiner Vorgesetzten oder aus eigenem Antrieb unzulässige Wahlpropaganda erarbeitet, kommt mit seinem Diensteid in Konflikt.
Wer als Dienstherr unzulässigerweise Wahlplattformen, Anzeigenkampagnen, Musterargumentationen erarbeiten läßt, bringt die Mitarbeiter in einen schweren Loyalitätskonflikt.
Die Beamten und Angestellten haben dem Staat als ganzem und nicht einer Partei zu dienen. Wer sie zu einem Verstoß gegen die Treuepflicht anleitet oder gar anstiftet, handelt moralisch verwerflich und verleitet zum Gesetzesverstoß.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Staatssekretär Bölling und der Staatsminister haben heute versucht, die Bedeutung des Dokumentes herunterzuspielen, indem sie es als „völlig sinnlose Notiz" eingestuft haben. Diese Erkenntnis muß ihnen und den hochbezahlten Abteilungsleitern aber sehr spät gekommen sein; denn wie sonst ist es zu verstehen, daß Ministerialdirektoren und Staatssekretäre solche „völlig sinnlosen" und „harmlosen" Papiere mitzeichnen und damit billigen? Alle die Beamten, die dieses Papier mitgezeichnet haben,
sind mit der Verpflichtung zur Neutralität in Konflikt geraten.Diejenigen, die sich jetzt von diesem Papier distanzieren, tun das auf Kosten ihrer Untergebenen. Meine Damen und Herren, das ist ein schäbiger, ein mieser Stil.
Die Treuepflicht eines Beamten ist nicht einseitig, sondern verpflichtet auch den Dienstherrn zur Fairneß seinen Mitarbeitern gegenüber.
Was Sie, Herr Staatsseketär, hier dazu gesagt haben, war mehr als unfair. Es war einfach primitiv.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung lernt offensichtlich auch heute noch nicht aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts; denn aus vielen Broschüren, die uns in den letzten Wochen und Monaten auf den Tisch gekommen sind, zeigt sich, daß sie nach wie vor gegen den Grundsatz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13163
Dr. Möllerder Neutralität in der Öffentlichkeitsarbeit verstößt; denn auch Arbeitsberichte, ähnliche Erfolgsberichte der Bundesregierung sind vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich dann für unzulässig erklärt worden, wenn sie einseitig die Leistungen der Regierung bzw. der sie tragenden Parteien herausheben und die Mitwirkung des Parlaments und damit der anderen Parteien verschweigen. In den meisten dieser Broschüren wird geflissentlich verschwiegen, daß alle Gesetze vom Parlament verabschiedet worden sind und daß die Opposition bei vielen dieser Gesetze nicht nur zugestimmt, sondern zahlreiche Anregungen und Initiativen dazu entwickelt hat.
Die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung darf nicht— ich zitiere — „den Mehrheitsparteien zur Hilfe kommen". Sie muß schon „den Eindruck einer werbenden Einflußnahme vermeiden", wie es das Gericht ausdrücklich festgelegt hat. Diese Grenze wird in vielen Broschüren bereits überschritten. Die Bundesregierung ist also auch hier schon wieder auf dem Wege zum Verstoß gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes. Die heutige Debatte sollte für die Bundesregierung Anlaß sein, den Pfad der Tugend zu beschreiten, d. h. den Weg des Grundgesetzes zu gehen, den die Karlsruher Richter aufgezeigt haben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gärtner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es nicht fair, daß die Kollegen der Opposition sich hier fürsorgerisch vor eine Angestellte im Bundeskanzleramt stellen, während der Kollege Schröder es nicht lassen konnte, sie als Zielscheibe seines Angriffes hier vorzuführen. Die Debatte halte ich nicht für überflüssig.
— Bei fünf Minuten muß es etwas schneller gehen. Aber Ihre Aufnahmefähigkeit ist ja sonst nicht so beschränkt, Herr Franke.
Die Debatte ist — wie gesagt — nicht überflüssig. Die Klarheit, die wir von seiten der Regierung bekommen haben, sollte nicht dazu benutzt werden, ihr permanent zu unterstellen, daß das, was sie zugesagt hat, nicht eingehalten wird. Wenn die Regierung sagt, sie werde nicht in dieser Form aktiv, wie es in dem Vermerk gestanden hat, sollten wir das zur Kenntnis nehmen und ihr nicht dauernd unterstellen, daß sie etwas anderes vorhat.
Legitim ist nach meinem Eindruck schon die Frage,
wie man mit der Sprache in diesem Lande Ängste
und Unsicherheiten abbaut, insbesondere dann,
Herr Glos, wenn es in diesem Lande keinen Anlaß gibt, Angst und Unsicherheit zu verbreiten.
— Ich kenne dieses Wort, Herr Franke. Die Wirklichkeit dieses Landes ist so, daß trotz aller möglichen Verbesserungen der Bürger in diesem Lande keine Angst und Unsicherheit zu empfinden braucht. Das gilt für jeden Wähler, ob der FDP, SPD oder CDU. Für Angst und Unsicherheit ist nach meinem Eindruck hier im Lande kein Platz.
Die Regierung hat erklärt: Information ja, Propaganda nein. Daran wird sie sich halten. Wir werden sie dabei kritisch begleiten.
— Sie können wenigstens uns unterstellen, daß wir der Regierung etwas glauben. Im übrigen haben wir bisher immer noch für unsere Regierung mehr Prozente bei den Wahlen bekommen als Sie.
Die zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit im Wahljahr 1980 wird gewährleistet sein. Der Staatssekretär hat das angedeutet. Wir werden im Haushaltsausschuß dafür sorgen, daß die Steigerungsrate der entsprechenden Öffentlichkeitsmittel so aussieht, wie sie nach unserem allgemeinen Verständnis aussehen soll. Ein Regierungsprogramm 1980 bis 1984 im Kanzleramt schon jetzt zu produzieren, halte ich allerdings nicht für möglich. Die Produktion eines Regierungsprogramms kann es erst geben, wenn es einen Wahlkampf und danach eine Abstimmung gegeben hat. Die Zusage von Herrn Wischnewski, daß es keine Wahlplattform der SPD, im Bundeskanzleramt erarbeitet, geben wird, nehmen wir zur Kenntnis. Wir sind sicher, daß die Regierung sich daran hält.
Was die Vergangenheit angeht, so muß ich leider für uns feststellen, daß sich offenbar die beiden größeren Parteien etwas stärker bedient haben und wir in jedem Falle übergangen worden sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Riedl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde und die vorangegangene Fragestunde haben eines deutlich gemacht: Das Bundespresseamt und die Bundesregierung waren und sind offensichtlich nicht gewillt, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 zu beachten. Sonst gäbe es dieses Papier nicht. Sonst hätte der Staatssekretär Bölling sein schriftliches Einverständnis nicht darauf niedergeschrieben, und sonst gäbe es das Verhalten nicht, das die SPD-Abgeordneten, die bisher gesprochen haben, und Herr Staatsminister Wischnewski hier am Rednerpult geboten haben.
Metadaten/Kopzeile:
13164 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Riedl
Eines ist auch nach dieser Aktuellen Stunde unbestritten festzustellen. Im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung wurde vor kurzem damit begonnen, entgegen dem klaren und unzweideutigen Spruch des Bundesverfassungsgerichtes eine Wahlplattform für 1980 zu erarbeiten. Daß die Kollegen Hoppe und Gärtner von der FDP sich so verhalten haben, ist klar, denn sie sind ja von dieser Wahlplattform nicht begünstigt.
Schon 1976 hat es eine solche Wahlplattform gegeben, und auch die war verfassungswidrig. Auch sie war mit Steuergeldern finanziert. Aber was schert dies die Bundesregierung. Sie hatte ja damit recht viel Erfolg. Sie hat damit offensichtlich einen wesentlichen Beitrag selbst mit Steuermitteln geleistet, die Bundestagswahl 1976 zu ihren Gunsten so zu entscheiden, wie sie ausgegangen ist.
Das Geld für diese unzulässige Wahlplattform 1980 sollte auch wieder aus Steuergeldern kommen. Das ist diesem Papier auch eindeutig zu entnehmen.Um die ganze Sache geheimzuhalten — auch das ist unwidersprochen geblieben; sie sollte geheimgehalten werden, weil die ganze Sache verfassungswidrig war und ist —, hat der Herr Staatssekretär zugelassen, daß der Vermerk „Streng vertraulich" darauf geblieben ist; er hätte ihn ja auch streichen können. Das Wort „Einverstanden" bezieht auch den Vermerk „Streng vertraulich" mit ein.
Damit beginnt sozusagen des Dramas zweiter Teil. Denn wenn man schon, Herr Staatssekretär, so erwischt wird, wie wir von der Opposition Sie nun einmal in diesem Fall erwischt haben — also bei einer unrechtmäßigen Handlung —, dann ist es für einen Staatssekretär einer Bundesregierung, die mit dem Wahlslogan angetreten ist „Mehr Demokratie in unserem Land" nur das einzig Selbstverständliche, daß er sich hier hingestellt hätte, die volle Verantwortung übernommen hätte, nicht kleinkariert auf dieser kleinen Beamtin herumgetreten wäre, sondern die Verantwortung übernommen hätte, sich entschuldigt hätte, und dann hätte diese ganze Aktuelle Stunde überhaupt nicht stattgefunden.
Herr Staatssekretär, Sie haben ja auch im Haushaltsausschuß mit einer unglaublichen Unschuldsmiene — wie ein Unschuldsengel in Reinformat — den Kollegen Friedmann hinters Licht geführt. Ich saß doch neben Ihnen. Ich war doch sozusagen in Atemnähe neben Ihnen. Ich habe doch gemerkt, wie Sie gefeixt haben, um den Kollegen Friedmann hinters Licht zu führen. Das ist Ihnen nicht gelungen. Offensichtlich gelingt Ihnen das Hinterslichtführen der Bürger draußen mit Ihren ständigen Presseerklärungen vor den deutschen Fernsehkameras besser als das Behandeln des Deutschen Bundestages.
Da nützt auch der schöne blaue Anzug nichts. Er ist ja heute ganz in bayrisch gekommen: Weißes Hemd und blauer Anzug. Das nützt Ihnen nichts.
Ich will es jetzt ernst sagen. Das ist nicht die von mir so verehrte feine hanseatische Art, auf kleinen Angestellten herumzutrampeln.
— Ach, Herr Kollege Löffler, Ihr Auftreten hier .war heute doch wirklich so, daß Sie auch jetzt besser den Mund halten würden.
Herr Staatssekretär, jetzt sage ich Ihnen noch zum Abschluß, was Sie hätten machen müssen. Sie hätten nicht hinzuschreiben brauchen „Einverstanden Bölling", sondern Sie hätten hinschreiben müssen „Nicht einverstanden — Verfassungsbruch -Rücksprache", damit Sie der Beamtin das erklären konnten.
— Ach, gnädige Frau, sehen Sie, Sie geben mir noch das Stichwort. Ich habe den Originalwortlaut der Antwort des bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß auf die Frage eines SPD-Abgeordneten hier, eine Antwort, die Sie, Herr Staatssekretär, völlig falsch interpretiert haben. Jetzt weiß ich, warum Sie semantischen Nachhilfeunterricht brauchen, wenn Sie eine so klare Antwort des bayerischen Ministerpräsidenten so völlig falsch interpretieren. Da steht nämlich von den Bedenken, die der Ministerpräsident angeblich gegenüber dem Verfassungsgerichtsurteil hat, überhaupt nichts darin. Ich habe sie Ihnen im Fernschreibtext-Original mitgebracht. Lesen Sie sie bitte nach. Ich nehme an, Sie haben jetzt die Zeit, nach dieser Lehrstunde einer parlamentarischen Demokratie, diese Antwort des bayerischen Ministerpräsidenten zu lesen.
Der bayerische Ministerpräsident braucht keine eigene Wahlplattform. Wir haben unseren „Bayernkurier", der ist weitaus besser als die von Ihnen mit vielen Millionen bezahlte Wahlplattform.
Herr Kollege Löffler, dem „Bayernkurier" haben wir es zu verdanken, daß die SPD in Bayern bei der Europawahl auf 29 % abgesunken ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Liedtke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zum Kollegen Riedl habe ich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13165
Liedtkedie Äußerungen von Herrn Bölling und Herrn Wischnewski als klar, offen und präzise empfunden.
Ich verleihe meiner Sorge Ausdruck, daß die Bayern nun offenbar auch kein Hochdeutsch mehr zu verstehen beginnen. Das war meine erste Bemerkung.Die zweite Bemerkung. Wenn Herr Friedmann in diesem Hause Herrn Bölling ungerügt des Verfassungsbruchs bezichtigt, muß es mir erlaubt sein, ihn extremistischer Äußerungen zu verdächtigen.
Meine dritte Bemerkung. Ich gratuliere dem Kollegen Bölling — —
— Bei uns hat „Kollege" noch eine sehr tiefgehende Bedeutung.
— Jetzt habe ich das Wort und nicht Sie. Achten Sie darauf, was der Präsident vorhin erbeten hat, damit man durchkommt.Um Ihre Gefühle nicht zu kränken, sage ich: Ich gratuliere Herrn Staatssekretär Bölling zu der Entscheidung, die Kosten für ein Gutachten über Semantik einzusparen.
Das Protokoll der Fragestunde und der Aktuellen Stunde ist ein kostenloses Gutachten über den Unwert und die Unfruchtbarkeit einer politischen Debatte über Semantik.
Vierte Bemerkung. Wenn das so ist, meine Damen und Herren, haben Sie die Kunst vollbracht, uns zweieinhalb Stunden mit einem sogenannten Non-Papier zu beschäftigen. Da hat zwar jemand drei Seiten aufgeschrieben, aber die Regierung hat erklärt: Nichts davon wird exekutiert. Die verbale Schubkraft Ihres Deutsch, um das Sie sich bemühen, ändert nicht an diesem Faktum.Eine letzte Bemerkung. In diesem Hause sind wir uns sicher einig, daß wir im Jahre des dreißigjährigen Bestehens der Bundesrepublik gemeinsam feststellen können, daß unsere Verfassung und unsere Verfassungswirklichkeit in hohem Maße identifizierbar sind. Das heißt: Uns ist es gelungen, die Demokratie durchzukonstruieren. Ihre periodisch wiederkehrenden Versuche, die Regierung an den Rand dieser Wirklichkeit zu stellen, sind so oberflächennah angesiedelt, sind so leicht durchschaubar und sobillig, daß Sie damit keinen politischen Marktwert erreichen.
Mit keinem einzigen Satz — das ist mein Schlußwort — verteidige ich heute die Regierung, weil dort nichts zu verteidigen ist.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
— Drucksache 8/2651 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/3023 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Riedl
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 8/3022
Berichterstatter: Abgeordnete Jaunich, Krey
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Interfraktionell ist eine Kurzdebatte mit je einem Kurzbeitrag der Fraktionen vereinbart. Das Wort hat Herr Abgeordneter Burger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die gemeinsamen Anstrengungen der Fraktionen hatten Erfolg. Der Gesetzentwurf zur Änderung und Ergänzung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes kann heute verabschiedet werden.
Die Rentennachteile der ehemaligen Kriegsgefangenen sollen durch eine Härteregelung gemildert werden. Diese Benachteiligungen haben ihre Ursache in der Tatsache, daß die Spätheimkehrer ihre berufliche Tätigkeit für längere Zeit unterbrechen mußten. Wer das Glück hatte, 1945, bald nach Kriegsende, heimzukehren, konnte sich von diesem Zeit-
Metadaten/Kopzeile:
13166 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Burgerpunkt an wieder eine Existenz gründen und Versicherungsbeiträge zahlen, wodurch in der Regel die durch den Krieg verursachten beitragslosen Ersatzzeiten mit eventuellen Nachteilen ausgeglichen werden konnten. Wer jedoch später heimkehrte, mußte — bedingt durch den späteren Wiederbeginn der beruflichen Tätigkeit — oftmals Minderverdienste hinnehmen, die dazu führten, daß die Zeiten der Gefangenschaft und des Kriegsdienstes — entsprechend dieser Minderverdienste — schlecht bewertet wurden. Schon der Bericht der Bundesregierung vom 2. Januar 1975 stellte fest, daß es Rentenversicherte mit Kriegsdienst- und Kriegsgefangenenzeiten gebe, bei denen die Bewertung von Ersatzzeiten zu Nachteilen führe, ja, daß es sogar Fälle mit nicht unerheblichen Nachteilen gebe.Die Bemühungen nach finanzierbaren Lösungen dieser Rentenproblematik der Spätheimkehrer gehen viele Jahre zurück. Nunmehr wird die Heimkehrerstiftung in die Lage versetzt, Leistungen an ehemalige Kriegsgefangene zur Minderung von Rentennachteilen zu gewähren, die durch die Bewertung der Zeiten des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft als Ersatzzeit entstanden sind und die eine Härte bedeuten. Eine Härte wird vermutet, meine Damen und Herren, wenn bei langer Gefangenschaft oder später Heimkehr — unter Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse — eine ausreichende Altersversorgung nicht vorhanden ist. Das Nähere werden Richtlinien bestimmen. Die Mittel erhält die Stiftung aus Rückflüssen gewährter Darlehen an Spätheimkehrer. Der Bund stellt seinen Anteil von 80 % der Darlehensrückflüsse der Stiftung zur Verfügung. Ich bitte die Bundesländer namens meiner Fraktion, auch ihre Anteile von 20 0/o der Darlehensrückflüsse ebenfalls an die Stiftung abzutreten.Meine Fraktion begrüßt die jetzt gefundene Lösung. Unsere Vorstellungen von einer rentenrechtlichen Regelung, die wir jahrelang verfolgt haben, die aber wegen der finanziellen Entwicklung in der Rentenversicherung nicht zu realisieren war, sind in der Stiftungs-Lösung aber grundsätzlich enthalten. Den Vorteil der Stiftungs-Konzeption sehen wir auch darin, daß der Heimkehrerverband und damit die betroffenen Heimkehrer selbst in die Verantwortung eingebunden sind. Die Stiftung hat schon bisher für die soziale Betreuung der Heimkehrer vorbildlich gewirkt. Sie wird nunmehr auch noch den rentenrechtlichen Bereich übernehmen. Durch diese Einbindung erhoffen wir uns positive Ergebnisse für die Betroffenen, wohlwissend, wie schwierig gerade diese Aufgabe werden wird.„Überall zu spät gekommen", diesen wahren Titel, meine Damen und Herren, trägt eine Schrift des Heimkehrerverbandes. In einer problemgeschüttelten Zeit, lange nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, in der nicht nur drängende Tagesprobleme, sondern auch die des Jahres 2000 diskutiert werden, ist es sehr schwer geworden, soziales Unrecht aus Kriegsfolgen zu beseitigen. Doch die Verpflichtung des Sozialstaates gilt für alle! Deshalb auch die gemeinsame Anstrengung aller Fraktionen. Mit der gefundenen Regelung werden nicht alle Hoffnungenerfüllt werden können. Es können zwar nicht die Rentennachteile beseitigt werden, aber in Härtefällen kann nun mehr geholfen werden.Ich danke dem Vorsitzenden des Parlamentarischen Beirats, meinem Kollegen Becker, für seinen Einsatz und seinem Vorgänger, dem Kollegen Josten, für seine jahrelangen Bemühungen. Ich danke auch den Experten aller Fraktionen und der Ministerien. Ohne den guten Willen aller wäre es nicht zu diesem gemeinsamen Gesetzentwurf und zu seiner schnellen Verabschiedung gekommen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt diese Härteregelung zur Minderung von Rentennachteilen für Spätheimkehrer. Sie wird dem Gesetz zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jaunich.
Frau Präsident! Meine Damen! Meine Herren! 34 Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges begegnen wir immer noch den tiefen Spuren, die dieser hinterlassen hat. Die Folgen des nationalsozialistischen Unrechtssystems sind vielfältig sichtbar; mit ihnen müssen wir leben. Auch das, womit wir uns hier jetzt zu beschäftigen haben, ist eine Folge dieses zweiten Weltkrieges. Wenn wir heute mit dem Siebenten Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eine Regelung finden, wo Härten in der Altersversorgung aufgefangen werden können, dann soll und darf damit keine neue Runde der Kriegsfolgengesetzgebung eröffnet werden. Es bleibt für uns bei der Erklärung, die der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 17. Mai 1974 abgegeben hat, in der er ausgeführt hat — ich zitiere —:Die Bundesrepublik Deutschland, d. h. die Steuerzahler der Bundesrepublik haben in den vergangenen Jahren 220 Milliarden DM aufgebracht, und sie werden nach dem geltenden Recht in der Zukunft noch einmal 174 Milliarden DM für diese Kriegsfolgelast aufbringen müssen. Darüber hinaus sieht die Bundesregierung keine Möglichkeit mehr, noch weiter Belastungen auf die Steuerzahler zu wälzen. Die Bundesregierung weiß dabei, daß eine voll befriedigende Regelung all der vielen Entschädigungen, die man sich wünschen möchte, nicht zu erreichen ist. Dazu reicht eben die steuerliche Leistungsfähigkeit dieses Volkes nicht aus. Jetzt müssen die in der Zukunft liegenden Aufgaben den Vorrang bekommen. Auch deren Erfüllung dient den Geschädigten.Ich glaube, daß wir uns alle miteinander dieser Erklärung des Herrn Bundeskanzlers anschließen können, und sie gilt auch für diesen Bereich.Mit dem, was wir hier tun, gleichen wir Härten aus, indem wir Mittel, die einmal bereits für Heimkehrer vorgesehen waren, nämlich die Rückflüsse aus gewährten Darlehen, auf die der Herr Kollege Burger bereits hingewiesen hat, für diesen Zweck neu zur Verfügung stellen. Entgegen einer weit ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13167
Jaunichbreiteten Ansicht trifft es nicht zu, daß jeder, der Zeiten der Kriegsgefangenschaft oder des Kriegsdienstes in seiner Rentenberechnung hat, auch einen Nachteil daraus erfährt. Ersatzzeiten — der Name deutet bereits darauf hin — ersetzen Beitragszeiten, d. h., sie werden als Versicherungsjahre voll angerechnet, und sie werden mit dem Durchschnitt aller erreichten Beträge desjenigen Versicherten angerechnet, die er bis zum 31. Dezember 1964 erreicht hat. Das heißt, daß es durch diese Regelung nur im Einzelfall zu Benachteiligungen in der Rente von Kriegsteilnehmern kommt; aber es kann Einzelfälle geben, die durchaus eine große Härte bedeuten. In aller Regel wird es sich um Personen handeln, die nach der Kriegsgefangenschaft nicht wieder voll den Anschluß in ihrem beruflichen Leben gefunden haben, und dies wird in aller Regel durch die Zeit der Kriegsgefangenschaft bedingt gewesen sein. Deswegen sagen wir: In Fällen von langer Kriegsgefangenschaft und später Heimkehr soll ihnen, wenn ihnen ein solcher Rentennachteil entstanden ist, eine Härteleistung gewährt werden.Nachdem dieses übereinstimmende Wollen aller drei Fraktionen klar war, ging es nunmehr darum, einen Weg zu suchen, der ohne großen bürokratischen Verwaltungsaufwand und unter flexibler, aber sachgerechter Anwendung eine solche Leistung bewirken konnte. Es lag daher sehr nahe, die Heimkehrerstiftung, die auf anderen Sektoren bereits ein sehr verdienstvolles Wirken hinter sich hat, rechtlich und finanziell in den Stand zu versetzen, diese neue Leistung zu übernehmen. Auch ich möchte mich ganz nachdrücklich an die Bundesländer wenden, denen aus diesen in der Vergangenheit gewährten Darlehen der Rückfluß in Höhe von 20 % — das entspricht ihrem damaligen Finanzierungsanteil —zusteht, mit der Bitte, auf diese 20 % Rückflüsse zu verzichten, damit sie hier in diese Stiftung einfließen und wir in der Tat von dem anvisierten Finanzierungsvolumen ausgehen können.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist über die einvernehmliche Regelung froh, die wir hier gefunden haben. Ich glaube aber, daß es auch richtig ist, darauf hinzuweisen, welchen Anteil der Verband der Heimkehrer an dieser Regelung hat. Ich glaube, wir dürfen uns bei ihm dafür bedanken, daß er mit uns gemeinsam nach Wegen gesucht hat, zu einer vernünftigen Regelung zu kommen.
Bei dieser Gelegenheit sei aber auch dem Verband der Heimkehrer dafür gedankt, daß er es verstanden hat, den größten Teil der Kriegsgeneration in unsere demokratische Gesellschaft einzugliedern,
ihnen hierbei Hinweise und Hilfestellungen zu geben. Auch seine frühzeitige Hinwendung zu Europa ist eines Wortes des Lobes an dieser Stelle wert.
Wir gehen davon aus, daß mit diesem Gesetz die Frage der Bewertung beitragsloser Ersatzzeiten für Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft eine abschließende Regelung erfahren hat. Wir bitten alleBeteiligten und Betroffenen um Verständnis, daß wir nicht alles voll ausgleichen können, weil, wie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zu Recht gesagt hat, alle diese Leistungen von uns, von der großen Solidargemeinschaft finanziert werden müßten und zu neuen Belastungen führen würden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, es ist eine gute Sache, daß nach der Konfrontation in der Aktuellen Stunde dieser Tagesordnungspunkt zur Beratung ansteht. Hier führt gemeinsames Wollen und Handeln zu einer verantwortungsvollen, vom gesamten Haus getragenen Entscheidung. Das halte ich, wiè gesagt, für eine gute Sache, weil es manchem Zuhörer und manchem Leser der Protokolle vielleicht deutlich macht, daß wir einerseits die harte politische Konfrontation durchstehen müssen — und sie auch brauchen —, daß dieses Haus aber andererseits dort, wo es um wichtige Belange bestimmter Gruppen unserer Bevölkerung geht, mit viel Elan und mit wenig Bearbeitungszeit auch zu einem Ziel, und zwar einvernehmlich, kommt. Dafür möchte ich mich zunächst bei all denen bedanken — das gilt für alle Fraktionen —, die dazu beigetragen haben, daß wir dieses Gesetz heute verabschieden können. Weiter möchte ich mich bei den zuständigen Ressorts bedanken, die an den Beratungen beteiligt waren und mitgeholfen haben, die Finanzierungs- und anderen Probleme, die es gab, zu überwinden. Nicht zuletzt habe ich die Hoffnung, daß die Länder dem entsprechen, was zu diesem Gesetz schon gesagt worden ist.Die Freien Demokraten begrüßen es sehr, daß wir heute dieses Gesetz verabschieden; denn wir alle —ich sage jetzt etwas Persönliches —, die wir noch zur Kriegsgeneration gehören, sind immer wieder betroffen gewesen, wenn wir feststellen mußten, daß der eine oder andere, der in Gefangenschaft war, bei der Berechnung seiner Rente benachteiligt wurde. Ich gebe zu, es war ein langer Weg, hier zu einer Lösung zu kommen, weil am Anfang der Beratungen Überlegungen standen, die für jeden etwas gebracht hätten, weil eine Gießkannenlösung in die Diskussion gebracht wurde, weil Milliardenbeträge genannt wurden, ohne daß mit solchen Vorschlägen demjenigen hätte gezielt geholfen werden können, der tatsächlich bei der Berechnung seiner Rente auf Grund seiner Gefangenschaft einen Nachteil hat. Das ist jedoch mit der Vorlage, wie wir sie heute verabschieden, möglich.Ich bin ein bißchen stolz, daß es ein Freier Demokrat war — ich darf ganz leise hinzufügen: ich selbst war es —, der bereits auf dem Verbandstag in Sindelfingen am 14. Oktober 1972 erklärt hatte, daß es notwendig sei, eine induviduelle Regelung zu finden, daß es hingegen sehr schwierig sein dürfte, die Belange der Betroffenen mit dem Gießkannenprinzip und ähnlichen Regelungen zu lösen.
Metadaten/Kopzeile:
13168 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Josten?
Bitte schön.
Herr Kollege Schmidt , teilen Sie meine Meinung, daß wir uns schon vor 1970 gemeinsam um eine Lösung bemüht haben und daß es daher sicherlich sehr schwer ist, jetzt zu sagen, wer den größeren Anteil an dem Erfolg hat, und stimmen Sie mir im übrigen zu — das ist meine eigentliche Frage —, daß es durchaus möglich ist, daß wir — je nach den Erfahrungen mit diesem Gesetz — später sogar zu einer. Änderung dieses Gesetzes kommen müssen?
Zu dem zweiten Teil Ihrer Frage werde ich gleich etwas sagen, Herr Kollege Josten. Den ersten Teil Ihrer Frage hätten Sie sich sparen können; denn ich wollte als nächstes gerade feststellen — in Sindelfingen wurde das von uns zum erstenmal in der Offentlichkeit gesagt —, daß das auf der fruchtbaren Zusammenarbeit aller Fraktionen im Parlamentarischen Beirat des Verbandes der Heimkehrer — ich war damals zufällig sein Vorsitzender — fußte. Das Ergebnis, das wir heute gemeinsam verabschieden, resultiert eben aus der Verantwortung, die nicht zuletzt die Kriegsgeneration in diesem Hause — viele gehören noch dazu — den besonders Betroffenen gegenüber immer empfunden hat. Aber es war eben ein weiter Weg, von den damaligen Forderungen — 30 Milliarden und was alles im Raum stand; ich sage das einmal so offen — zu der Lösung zu kommen, eine Art Versorgungsausgleich für tatsächliche Nachteile zu schaffen. Dies haben wir gemeinsam geschafft. Dies haben wir in Zusammenarbeit mit dem Verband der Heimkehrer geschafft. Daher möchte ich auch dem Verband, ganz besonders aber den vielen Kollegen im Beirat danken.
Da meine Redezeit schon zu Ende geht, abschließend nur noch zwei Sätze: Wir begrüßen ganz besonders die individuelle Regelung. Wir begrüßen ganz besonders, daß durch die Einschaltung der Stiftung die Heimkehrer selbst und damit diejenigen, die am besten beurteilen können, was an Problemen vorhanden ist und was an Nachteilen beseitigt werden muß, die Entscheidungen treffen können: Wir begrüßen auch, daß seitens der Heimkehrer weitere Forderungen, die einmal im Raum standen, etwas moderater — wenn ich so sagen darf — vorgetragen werden. Ich möchte sogar sagen, daß auf sie eines Tages vielleicht verzichtet werden kann, weil ich glaube, daß wir in diesem Bereich nunmehr zu einem sauberen, verantwortungsvollen Abschluß gekommen sind. Wir werden diesem Gesetz einmütig zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geisenhofer.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dem vorliegenden interfraktionellen Gesetzentwurf, den ich sehr, sehr begrüße, darf ich noch einige kurze Bemerkungen machen. Im Mai 1973, also vor zirka sechs Jahren, haben 135 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion dem Deutschen Bundestag einen Gruppenantrag mit dem Ziel vorgelegt, die rentenrechtlichen Nachteile der ehemaligen Kriegsteilnehmer und Kriegsgefangenen gegenüber den Versicherten, die in dieser Zeit zu Hause waren, zu beseitigen. Dieser Gesetzentwurf beinhaltete auch das Vorziehen der Altersgrenze um die Jahre der Kriegsgefangenschaft.Zwei Jahre später, im Jahre 1975, hat die Bundesregierung unter ausdrücklichem Hinweis auf diese Gesetzesinitiative der CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten, vor allem der Abgeordneten Josten und Burger usw., dem Deutschen Bundestag einen Bericht über die Beseitigung etwaiger Härten für Kriegsgefangene vorgelegt. In diesem Bericht bestätigt die Bundesregierung, daß für einen Teil ehemaliger Kriegsgefangener erhebliche Nachteile vorliegen, deren Beseitigung einschließlich des Vorziehens der Altersgrenze 30,6 Milliarden DM erfordern würde.Meine Damen und Herren, heute, sechs Jahre später, wird von allen Fraktionen übereinstimmend festgestellt, daß die Beseitigung von Härten für Kriegsgefangene in der Rentenversicherung wegen der angespannten Finanzlage nicht möglich ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf bewirkt, daß die Heimkehrerstiftung rechtlich und finanziell in die Lage versetzt wird, benachteiligten und bedürftigen ehemaligen Kriegsgefangenen in der Rentenversicherung einen gewissen Ausgleich, begrenzt durch die vorhandenen Mittel, zu gewähren. Der Maximalforderung von damals 30,6 Milliarden DM steht heute die Minimallösung von zirka 90 Millionen DM gegenüber.Meine Damen und Herren, wir sind sachlich und ehrlich genug, zu sagen — und Sie werden Verständnis dafür haben —: Ein besonderer Grund zu vielem Jubeln besteht anläßlich dieser Mini-Lösung ja nicht. Aber wir anerkennen dankbar, daß es nun durch eine gute interfraktionelle Zusammenarbeit möglich war,
für die Heimkehrer wenigstens das zu retten, was zu retten war.Die Anträge auf Leistungen aus dem Härtefonds werden den Antragstellern nach Bekanntgabe des Zeitpunktes auf Anforderung vom Verband der Heimkehrer ausgehändigt. Sie sind nach den Richtlinien des Stiftungsrates, deren Vorlage bis Ende des Jahres zu erwarten ist, auszufüllen und über die Orts- und Kreisverbände des Heimkehrerverbandes an die Heimkehrerstiftung in Bad Godesberg zu senden; dort werden die Anträge bearbeitet und letztlich auch beschieden. Die zunächst vorgesehene generelle Einschaltung der Rentenversicherungsträger zur Festsetzung des Benachteiligungsbetrages ist wegen des erheblichen Verwaltungsaufwandes im Ausschuß von allen Parteien abgelehnt worden. Im Zweifelsfalle wird aber der Stiftung Amtshilfe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13169
Geisenhofervon seiten der Rentenversicherungsträger gewährt werden.
Die Feststellung, ob eine Härte vorliegt oder nicht, obliegt der Heimkehrerstiftung mit Hilfe von Richtlinien des Stiftungsrates, in dem auch die einschlägigen Ministerien vertreten sind. Die vorgesehene Bedürftigkeitseinkommensgrenze, die sich wahrscheinlich bei 1 200 DM monatlich bewegen wird, wird einen Teil der zunächst Anspruchsberechtigten wieder ausschließen. Ich meine, es ist sehr wichtig, daß keine falschen Informationen in die Öffentlichkeit gebracht werden. Deshalb sage ich dies: Umunberechtigten Hoffnungen und einer Flut von Fehlanträgen vorzubeugen, wird von seiten des Heimkehrerverbandes eine vorbeugende Aufklärungsarbeit dringend notwendig sein.Alle Parteien sind sich einig, daß der vorgesehene Härteausgleich über die Heimkehrerstiftung ein praktikabler Weg und noch die einzige Möglichkeit ist, den bedürftigen benachteiligten Heimkehrern, deren Altersversorgung nicht sichergestellt ist, zu helfen.
Meine Damen und Herren, daß diese Lösung zustande kam, verdanken wir dem guten Willen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages und der Hartnäckigkeit der Mitglieder des Parlamentarischen Beirates des VdH, vor allem dem Vorsitzenden, Herrn Abgeordneten Becker, und dem Stellvertreter, Herrn Abgeordneten Josten. Wir danken auch — im Namen der CDU/CSU-Fraktion möchte ich das sagen dem Heimkehrerverband Deutschlands.
Meine Damen und Herren, das Wort wird nicht mehr gewünscht. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Wer den Artikeln 1, 1 a, 2, 3 sowie Einleitung und Überschrift seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung. Das Wort wird nicht gewünscht.
Wer in dritter Beratung dem Gesetz seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Wir haben noch über die Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/3022 unter Ziffer 2 abzustimmen, nämlich die eingegangenen Eingaben für erledigt zu erklären. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen
— Drucksache 8/2947 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Das Wort zur Einbringung hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär von Schoeler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den Ihnen die Bundesregierung heute vorlegt, betrifft die Probleme einer kleinen Minderheit. Niemand weiß genau, um wieviel Menschen es geht; Schätzungen sagen: einige wenige Tausend. Aber es geht um eine Minderheit, die sich nicht auf Grund eigenen Verschuldens in einer schwierigen Situation befindet und deren Schwierigkeiten durch unsere Gesetze, so wie sie heute sind, noch vergrößert werden. Es geht um Menschen, die sich auf Grund besonderer Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Geschlecht zugehörig empfinden und mit allen Kräften danach streben, daß ihr Leben in der Rolle des anderen Geschlechtes anerkannt wird.Die Wissenschaft bezeichnet sie als Transsexuelle und unterscheidet sie scharf von den Transvestiten, die ihr Geburtsgeschlecht nicht ablehnen, sondern nur äußerlich im Gewande des anderen Geschlechts auftreten.Unsere Gesetze lassen zwar zu, daß sich diese Transsexuellen einer geschlechtsverändernden Operation unterziehen, daß sie z. B. vom Mann zur Frau werden. Unsere Gesetze lassen aber nicht zu, daß dieser medizinischen Veränderung der äußeren Erscheinung und der Lebensführung rechtliche Konsequenzen folgen. Der Transsexuelle, der medizinisch Frau geworden ist, bleibt rechtlich Mann. Sein Personalausweis und seine sonstigen Papiere können nicht geändert werden. Dies führt dazu, daß dieser Personenkreis bei Wohnungssuche, bei Arbeitsplatzsuche, bei jedem Grenzübertritt und sonstigen Kontakten mit Behörden unsagbare Schwierigkeiten hat; Schwierigkeiten, die vermeidbar wären und die Menschen entstehen, die schon genug Schwierigkeiten haben.Der Ihnen vorliegende Entwurf soll einen Beitrag dazu leisten, daß die Probleme, die unsere Rechtsordnung Transsexuellen schafft, gelöst werden. Er entspricht damit einer Aufforderung des Deutschen Bundestages, der die Bundesregierung am 10. Juni 1976 zur Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfes aufgefordert hat. Während der Vorbereitung des Entwurfs ist der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1978 ergangen. Durch diesen Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde eines Transsexuellen stattgegeben. Das Gericht hat ausgesprochen, daß das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Achtung der Menschenwürde es gebieten, die Angabe des Geschlechts eines Transsexuellen im Geburtenbuch jedenfalls dann zu än-
Metadaten/Kopzeile:
13170 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Parl. Staatssekretär von Schoelerdern, wenn es sich nach den Erkenntnissen der Medizin um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus handelt und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist.Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus einen Weg gewiesen, auf dem schon jetzt entsprechende Berichtigungen des Geburtenbuches von den Gerichten angeordnet werden können. Es hat sich jedoch im Interesse der Rechtssicherheit auch für eine gesetzliche Regelung der Probleme ausgesprochen. Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung entspricht also sowohl der erwähnten Aufforderung des Deutschen Bundestages als auch dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts.Bei der Arbeit an dem Entwurf hat sich freilich sehr bald gezeigt, daß die Probleme nicht allein durch die Änderung des Personenstands- und Namensrechts gelöst werden können, ja, daß dort nicht einmal das Schwergewicht der Regelung liegen muß. Sicher, die Möglichkeit, den Namen in amtlichen Papieren zu ändern, wäre für die Beroffenen schon eine wichtige Hilfe. Damit würden aber nicht alle sich für diesen Personenkreis ergebenden Probleme gelöst. Es blieben Fragen auf den Gebieten des Ehe- und Kindschaftsrechts, des Sozialversicherungs- und des Versorgungsrechts. Schwierige Fragen haben sich auch hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrens und hinsichtlich der Voraussetzungen und des Inhalts der gerichtlichen Entscheidung gestellt. Angesichts des Umfangs und des interdisziplinären Charakters der notwendigen Untersuchungen, die zudem gesetzgeberisches Neuland betrafen, sowie angesichts der notwendigen Klärung schwieriger medizinischer Fragen und der notwendigen Abstimmungen konnte der Gesetzentwurf nicht von heute auf morgen vorgelegt werden.Der Entwurf sieht eine „kleine" und eine „große" Lösung vor. Nach der ersteren werden nur die Vornamen eines volljährigen Transsexuellen geändert. Von dem Antragsteller wird dabei nicht verlangt, daß er sich einer geschlechtsverändernden Operation unterzogen hat. Der Transsexuelle erhält damit die Möglichkeit, in der Rolle des anderen Geschlechtes aufzutreten, ohne zu unveränderbaren Entscheidungen gedrängt zu werden.Bei der „großen" Lösung ist die gerichtliche Feststellung vorgesehen, daß eine Person als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist. Dafür wird insbesondere verlangt, daß sich der Betroffene einem operativen Eingriff unterzogen hat. Von der Rechtskraft dieser Feststellung an richten sich die vom Geschlecht abhängigen Rechte und Pflichten allgemein nach dem anderen Geschlecht. So wird z. B. eine bestehende Ehe mit der gerichtlichen Feststellung aufgelöst. Die Folgen bestimmen sich nach dem Scheidungsrecht.Sowohl bei der „kleinen" als auch bei der „großen" Lösung ergeben auf Grund eines Antrags des Betroffenen gerichtliche Entscheidungen im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dabei sind Gutachten von zwei Sachverständigen einzuholen, die nach ihrer Ausbildung und Erfahrung die besonderen Probleme des Transsexualismus im Einzelfall beurteilen können.Zum Schutz der Betroffenen und ihrer Angehörigen sieht der Gesetzentwurf ein Offenbarungsverbot vor, nach dem die vor der Entscheidung geführten Vornamen und die frühere Geschlechtszugehörigkeit ohne Zustimmung des Betroffenen grundsätzlich nicht bekanntgegeben oder ausgeforscht werden dürfen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat sich die Vorbereitung des Gesetzentwurfes und die Prüfung der mit ihm zusammenhängenden Fragen nicht leichtgemacht. Sie hat alle Fragen ausführlich mit den Ländern erörtert. Gleichwohl hat der Bundesrat, von Detailvorschlägen abgesehen, in zwei Punkten grundsätzliche Einwendungen gegen den Entwurf erhoben. Der Bundesrat vermißt erstens ausreichende,, den Entwurf tragende Erkenntnisse aus dem medizinisch-wissenschaftlichen Bereich und Zusammenstellungen über die Auswirkungen der rechtlichen Zuordnung zum Gegengeschlecht. Er spricht sich zweitens gegen die „kleine" Lösung mit der Begründung aus, es gebe keine zwei Gruppen von Transsexuellen, und dem echten Transsexuellen könne nur die „große" Lösung helfen.Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß diese grundsätzlichen Bedenken des Bundesrates auf Empfehlungen des Innenausschusses und des Rechtsausschusses zurückgehen. Diesen hat sich gerade der für diese Fragen zuständige Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit nicht angeschlossen. Die Bundesregierung muß der Stellungnahme des Bundesrates in beiden Punkten entgegentreten. Sie ist bei der Vorbereitung dieses Entwurfs den Rechtstatsachen und den medizinischen Grundlagen mit größter Sorgfalt nachgegangen. Über die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland haben wir uns über die Rechtslage in zahlreichen ausländischen Staaten informieren lassen. Die Ergebnisse werden Sie der Begründung des Entwurfs entnommen haben. Eine eingehende wissenschaftliche Dokumentation der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung aus dem Jahr 1974, auf die sich auch das Bundesverfassungsgericht bei seinem vOrhin erwähnten Beschluß gestützt hat, ist von uns aktualisiert worden. Zusätzlich sind Äußerungen weiterer namhafter Sachkenner eingeholt worden. Auf welchen Rechtsgebieten welche Folgeregelungen erforderlich sind, haben die Bundesressorts für ihre Zuständigkeitsbereiche untersucht. Die Ergebnisse sind in dem Entwurf berücksichtigt worden.Die Bundesregierung hält insbesondere daran fest, daß neben der „großen" auch die „kleine" Lösung vorgesehen werden sollte. Sie ist für die noch nicht 25jährigen notwendig, die angesichts ihres Reifegrads möglicherweise die Konsequenzen einer unveränderbaren Entscheidung noch nicht voll überblicken. Sie ist darüber hinaus für solche Transsexuellen nötig, die sich aus anerkennenswerten Gründen — z. B. weil eine Operation mit lebensgefährlichen Risiken verbunden wäre — nicht operieren lassen können oder wollen. Hierzu ist in der Ihnen vorliegenden Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrats im einzelnen Stellung genommen worden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13171
Parl. Staatssekretär von SchoelerDies ist ein Gesetzentwurf, der von vielen belächelt werden wird und von einigen kritisiert wird. Viele Bürger werden sich fragen, ob wegen einer so kleinen Minderheit der Aufwand eines Gesetzgebungsverfahrens berechtigt ist. Mancher Politiker wird darauf hinweisen, daß dies keine Angelegenheit ist, die Wählerstimmen bringt.Aber ich meine, die Liebralität eines Staates bemißt sich auch und vielleicht gerade daran, wie er mit Minderheiten umgeht, ob er ihre Probleme ernst nimmt und zu lösen bereit ist. Die Bundesregierung würde es daher trotz der unstreitig schwierigen Materie begrüßen, wenn der Deutsche Bundestag das Gesetzgebungsverfahren weiter mit der Einmütigkeit betreiben würde, die das Parlament zu diesem Thema schon einmal bekundet hat. Die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetzentwurf ihren Beitrag dazu geleistet.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jentsch.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn dieser Gesetzentwurf nur einen kleinen Personenkreis betrifft, handelt es sich um eine einschneidende gesetzliche Regelung. Deshalb ist diesem Gesetzentwurf eine ganz beachtliche Bedeutung beizumessen. Ich stehe nicht an, das zu unterstreichen und mich zu dem zu bekennen, was Herr Staatssekretär von Schoeler am Schluß seiner Ausführungen gesagt hat: Wir sind verpflichtet, für diesen Personenkreis tätig zu werden.Mit diesem Gesetzentwurf soll — das ist das Einschneidende — der Grundsatz der Unwandelbarkeit des Geschlechts abgeschafft werden. Von diesem Grundsatz ging unsere Rechtsordnung bisher aus. Es soll eine gesetzliche Fiktion einer Geschlechtsumwandlung eingeführt werden.Der Gesetzentwurf geht auf einen bestimmten Beschluß des Deutschen Bundestages der 7. Wahlperiode vom Juni 1976 zurück. Der Bundestag hat damals die Bundesregierung um Vorlage eines Gesetzentwurfs gebeten, der ein rechtliches Verfahren festlegen soll, nach dem im Falle einer Geschlechtsumwandlung festgelegt wird, ob und gegebenenfalls seit wann die betreffende Person als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist.Inzwischen liegt — Herr Staatssekretär von Schoeler hat darauf hingewiesen — die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1978 vor. Das Bundesverfassungsgericht hält es im Interesse der Rechtssicherheit für geboten, daß der Gesetzgeber die Fragen einer Geschlechtsumwandlung und ihrer Auswirkungen regelt. Es ist aber auch festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht die Gerichte für bereits jetzt verpflichtet hält, den Transsexuellen dadurch zumindest zum Teil gerecht zu werden, daß sie die Änderung der Geschlechtsangabe im Geburtenbuch anzuordnen haben, wenn -dies sind die Voraussetzungen hierfür — nach denErkenntnissen der medizinischen Wissenschaft ein irreversibler Fall von Transsexualität vorliegt und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ermöglicht es, die gesetzliche Regelung ohne einen der Sache abträglichen Zeitdruck durchzuführen.Da es sich um eine schwerwiegende gesetzliche Maßnahme, um einen schwerwiegenden gesetzlichen Eingriff in unser differenziertes Rechtssystem handelt, sollte auch nicht ohne vorhergehende sehr sorgfältige interdisziplinäre rechtstatsächliche Untersuchung eine solche Gesetzgebungsmaßnahme ergriffen werden. Ich teile auch hier die Meinung des Herrn Regierungsvertreters, daß diese Untersuchungen sich sowohl auf den medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereich als auch — und das ist genauso wichtig — auf die kaum zu übersehenden Folgewirkungen erstrecken müssen, die eine solche Zuordnung eines Menschen zu einem anderen Geschlecht natürlich auslösen muß.Obwohl Sie, Herr Staatssekretär von Schoeler, seit dem Beschluß des Bundestags zweieinhalb Jahre bis zum Zeitpunkt der Einbringung Zeit zur Vorbereitung hatten, überzeugen uns die Materialien, die vorgelegt worden sind, noch nicht davon, daß ausreichende Erkenntnisse sowohl in dem einen Bereich der medizinisch-naturwissenschaftlichen Bedeutung als auch in dem anderen Bereich der Folgewirkungen vorliegen.Wir melden unsere Bedenken gegen diesen Entwurf in der Weise an, daß wir ihn noch nicht für ausreichend vorbereitet ansehen. Wir erkennen in diesem Entwurf eine Reihe von Mängeln. Trotz Studiums der Begründung können wir nicht sicher abschätzen, was wir nun wirklich in letzter Konsequenz mit diesem Gesetz, wenn wir es hier beschließen, anrichten. Dies müssen wir meines Erachtens aber wissen.Wir schließen uns daher der Empfehlung des Bundesrats an, der vorschlägt,unter Einbeziehung der bisherigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft einschließlich aller zugänglichen Erfahrungen aus dem Ausland eine Zusammenstellung aller Bereiche zu erarbeiten, auf die die rechtliche Zuordnung einer Person zum Gegengeschlecht Auswirkungen hat, und anhand dieser Zusammenstellung zu prüfen, welche Rechtswirkungen besonderer Regelung bedürfen.Bei der Beratung des Gesetzentwurfs in den Ausschüssen wird meine Fraktion großen Wert darauf legen, daß die Auswirkungen der Zuordnung eines Menschen zum anderen Geschlecht auf Dritte sehr genau untersucht werden. Zu diesen Dritten gehören insbesondere der Ehegatte und die Kinder des Betroffenen.Bezüglich der Kinder halten wir die Regelungen, die der Gesetzentwurf vorschlägt, für nicht ausreichend, für unvollständig. Wir alle sind uns sicherlich einig darüber, daß eine solche Veränderung des
Metadaten/Kopzeile:
13172 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Jentsch
Geschlechts eines Elternteils in Form einer Fiktion natürlich ganz einschneidende Bedeutung für ein Kind haben muß.Wenn die Regierung in ihrer Begründung hierzu nicht viel mehr zu sagen hat, als daß die Zuordnung zum anderen Geschlecht des Rechtsverhältnis zum Kind unberührt läßt, so halten wir das nicht für ausreichend. Wir meinen, daß das Wohlergehen des Transsexuellen zwar ein berechtigtes Anliegen ist, daß aber das Wohlergehen des Kindes mindestens genauso bedeutend ist und genauso sicher und vernünftig geregelt werden muß.
Hier müssen wir erwarten, daß die Bundesregierung ihren Entwurf in den Beratungen noch erheblich nachbessert.Ähnliches gilt für das Verhältnis des Transsexuellen zu seinem Ehegatten. Wir melden ganz erhebliche Bedenken gegen die Regelung des Entwurfs an, wonach die Ehe mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Zuordnung zum anderen Geschlecht aufgelöst werden soll. Diese Regelung ist in unseren Augen ebenfalls ein typisches Beispiel für zu große Einseitigkeit bei der Lösung eines Interessenkonflikts. Wir wollen auch die Interessen des Ehegatten gewahrt sehen. Deshalb hat der Transsexuelle nach unserer Auffassung vor dem Verfahren auf Zuordnung zum anderen Geschlecht die Scheidung seiner Ehe durchzuführen. Nur so könnten auch die Folgen der Scheidung im Verfahrensverbund mit der Auflösung der Ehe geregelt werden. Wird jedoch, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, die Ehe des Betroffenen erst mit seiner gerichtlichen Zuordnung zum Gegengeschlecht aufgelöst, können die Folgen der Auflösung der Ehe nicht in diesem selben Verfahren geregelt werden.Es kommt hinzu, daß wir der Meinung sind, es handelt sich bei dem Verfahren der Zuordnung zum Gegengeschlecht um eine höchst persönliche Angelegenheit des Betroffenen selbst. Der Ehegatte sollte an diesem Verfahren nicht mehr beteiligt sein.Schließlich lehnen wir, ebenso wie es der Bundesrat in seiner Stellungnahme dargelegt hat, die sogenannte kleine Lösung ab, bei der unter geringeren Voraussetzungen lediglich der Vorname des Betroffenen in einen solchen des Gegengeschlechts geändert würde. Bei dieser Lösung soll auf die Voraussetzung der Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes an das des Gegengeschlechts durch eine Operation verzichtet werden. In diesem Verfahren soll folgerichtig auch nicht die Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht festgestellt werden. Gerade weil aber der Zwang, zum Gegengeschlecht zugehörig zu leben, typisch für die Transsexualität ist, ist unseres Erachtens die Forderung nach einer Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes an das de Gegengechlechts durch eine Operation eben keine unangemessene Zumutung.Die von der Bundesregierung vorgesehene kleineLösung muß nach unseren Befürchtungen dazu führen, transsexuelle Neigungen zu fördern und Personen, die eben nicht zum Kreis der Transsexuellen gehören oder deren transsexuelle Neigungen nicht so verfestigt sind, den Umstieg zum Gegengeschlecht zu erleichtern.
Das darf jedoch nicht das Ziel des Gesetzgebers sein.Meine Damen und Herren, hinter diesem Interesse muß unseres Erachtens auch das Interesse der kleinen Gruppe derer zurücktreten, von der Herr von Schoeler hier auch gesprochen hat, bei denen eine geschlechtsanpassende Operation aus gesundheitlichen Gründen kontraindiziert ist. Wir meinen, die Rücksichtnahme auf solche wenigen Einzelfälle würde zu einer Gefährdung einer großen Zahl anderer Personen führen.Als einen weiteren Mangel des Gesetzentwurfs sehen wir an, daß über die dort geregelte Rückumwandlung eines Transsexuellen keinerlei Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen vorgelegt werden. Dabei sind die damit verbundenen medizinisch-psychologischen Probleme einschließlich der doch wohl nicht mehr rückgängig zu machenden Folgewirkungen ganz erheblich. Hier reicht es nicht aus, meine Damen und Herren, in der Begründung des Entwurfs auf einen Erfahrungsbericht eines anderen Landes zu verweisen.Ich komme zum Schluß:Erstens. Die Absicht der Bundesregierung, für den betroffenen Personenkreis eine Regelung zu treffen, ist lobenswert. Wir stehen nach wir vor hinter diesem Anliegen.Zweitens. Der vorgelegte Entwurf ist viel zu oberflächlich. Eine gesetzliche Regelung bedarf erheblich fundierterer Begründung.Drittens. Der Gesetzentwurf bietet Lösungen an, denen wir nicht zustimmen können.Viertens. Die Beratungen im Ausschuß werden zu einer erheblichen Veränderung des Entwurfs führen müssen, wenn er die Zustimmung meiner Fraktion finden soll.Wir sind an einer gemeinsamen Arbeit an diesem Gesetzgebungsvorhaben nach wie vor nicht nur interessiert, sondern dazu bereit, weil wir, glaube ich, in dieser Sache von demselben Anliegen ausgehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Meinecke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Verständnis für den Unwillen mancher Kollegen, die damals im März 1976 den Antrag des Bundestages unterschrieben haben — der später einstimmig angenommen wurde —, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, eine gesetzliche Regelung vorzubereiten und vorzulegen. Man wird aber auch anerkennen müssen, daß bei einer schwierigen Ma-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13173
Dr. Meinecke
terie drei Jahre gesetzestechnischer Arbeit doch eben nicht allzuviel sind. Aber die Chronologie und die Entstehungsgeschichte des uns vorliegenden Gesetzentwurfes hat in Wirklichkeit bereits vor sieben Jahren begonnen, und gerichtkundig ist das Problem schon vor zwanzig Jahren geworden. Bis Anfang der 70er Jahre entschieden mehrere Gerichte auf Antrag sogenannter transsexueller Personen, daß eine Vornamensänderung zulässig sei. Im Jahre 1958 urteilte ein Hamburger Gericht, es sei nun „wirklich nicht einzusehen, warum ein Mensch, der sowieso ein bedauernswertes Schicksal hat, aus formalrechtlichen Erwägungen unglücklich gemacht werden soll, ohne daß jemandem damit gedient ist".Diese durchaus positiven Entscheidungen im Sinne des Art. 1 unseres Grundgesetzes wurden sozusagen höherinstanzlich in den Jahren 1969 bis 1971 leider revidiert, und zugleich wurde der Gesetzgeber aufgefordert, eine gesetzliche Grundlage zu erarbeiten. Aus diesem Grund fragte unser ehemaliger Bundestagskollege Dr. Claus Arndt, der am Zustandekommen dieses Gesetzentwurfs sicherlich einen erheblichen Anteil hat, am 15. März 1972 zum erstenmal in der Fragestunde, ob es nicht auch nach Meinung der Bundesregierung einem Grundprinzip unserer freiheitlichen Ordnung, nämlich dem Prinzip der Menschenwürde entspreche, daß eine solche Minderheit in diesem Lande auch besonderen Schutz durch den Gesetzgeber zu erfahren habe. Der damalige Staatssekretär Dr. Erkel erklärte: „Ich stimme Ihnen zu, Herr Abgeordneter. Die Frage ist aber, wann die Bundesregierung dieses Problem aufgreifen kann." Unterschiedliche Rechtsprechung hat sicher der Vorlage dieses Gesetzes nicht gedient, und darum möchte ich in dieser Frage durchaus die Bundesregierung exkulpieren:Natürlich hat der Kollege Schoeler recht — und ich wiederhole das mit Absicht —, wenn er erklärt, daß eine Demokratie nur so gut ist, wie sie mit Minderheiten umgeht. Die tragenden Pfeiler unseres Systems haben sich an diesem Beispiel nicht besonders hervorgetan, ganz besonders nicht unsere allerhöchste Gerichtsbarkeit.Wenn man ansonsten zu Grundfragen unserer politischen Entwicklung und Ordnung vieles glaubt beitragen zu müssen, dann sollte man für die Lösung der Grundfrage, ob es hinzunehmen ist, daß eine Gruppe von Mitbürgern in ihrer Menschenwürde verletzt wird, nicht nahezu sieben Jahre benötigen. Die Karlsruher Richter haben am 11. Oktober 1978 einen Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 21. September 1971 aufgehoben und sind nach sieben Jahren Beratungszeit zu der Meinung gekommen, daß die Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit es gebieten, die Angabe des männlichen Geschlechts eines Transsexuellen im Geburtenbuch ebenfalls dann zu ändern, wenn es sich nach den medizinischen Erkenntnissen um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus handelt — dies ist schon einmal zitiert worden, ich wiederhole es — und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist. In der Grundtendenz ist diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen, doch läßt sie die gesamte Bandbreite der medizinischen Erkenntnisse auf diesem Gebiet außer acht.Ich will ja konzedieren, daß eine Menge an Unverständnis und Unwissenheit auch mit dazu geführt hat, daß die unglückliche Situation dieser Menschen solange angedauert hat, daß die sogenannten Normalen durch Unwissenheit diese Menschen, um die es hier geht, oft genug als sexuell Abartige angesehen haben. Dazu hat auch so manche Überschrift in den gutgemeinten Artikeln der öffentlichen Berichterstattung beigetragen. Ich meine z. B.: „Wenn aus dem Oskar die Claudia wird", „Die Ärztin, die früher ein Mann war", „Wenn Männer sich als Frauen fühlen", „Vati wird jetzt Frau", und „Fritz will Friederike heißen". Die Berichte waren entsprechend bebildert und illustriert, und so hat mancher Leser gemeint, es handle sich um die Legalisierung perverser Empfindungen. Lassen Sie mich deutlich noch einmal erklären: Bei einem transsexuellen Menschen handelt es sich nicht um eine sexuelle Deviation. Transsexualität hat mit den Erscheinungen des Transvestitismus, der Bi- oder Homosexualität, der Intersexualität oder mit irgend solchen Erscheinungen nichts zu tun.Es ist deshalb auch ein Widerspruch in sich, wenn der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Entwurf der Bundesregierung behauptet, daß es bisher nicht gelungen ist, den Transsexualismus in einer für die Rechtsprechung brauchbaren Weise mit hinreichender Sicherheit von anderen Erscheinungen abzugrenzen. Dies ist halt schlicht falsch. Gerade dieses Gesetz bedeutet ja die Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen, die Fachleute eben als sexuelle Deviation bezeichnen.Lassen Sie mich noch einmal deutlich — auch für die Offentlichkeit — darauf hinweisen, daß Transsexualismus überhaupt kein Problem der Sexualität bedeutet, sondern ausschließlich ein Problem des personalen Selbstverständnisses ist, das sich in der Geschlechtsrolle und in der Geschlechtsidentität manifestiert. Diesen Menschen zu helfen, nicht nur medizinisch, sondern in der Folge auch juristisch, ist eben auch eine Aufgabe der Politik. Durch die bisher bestehenden Einbindungen in gesetzestechnische Gegebenheiten sind für die transsexuellen Menschen äußerst diffamierende Situationen grauer Alltag: bei der Arbeitssuche, beim Abschluß von Verträgen, bei Grenzübertritten, Ausweiskontrollen — denken Sie einmal gerade jetzt daran, wie unwürdig oder gefährlich das sein kann —, überhaupt bei Ihrem Auftreten in Ihrer Eigenschaft als Staatsbürger, z. B. als Zeuge vor Gericht, bei der Aufnahme in Krankenhäuser, Altersheime. Ich könnte Ihnen, wenn es hier möglich wäre, in eine sich über sieben Jahre erstreckende Korrespondenz Einblick geben und Ihnen die persönlichen Briefe von Petenten geben. Es würde Sie erschüttern, welche Schicksale da zum Teil ertragen werden mußten, über Jahre. Wir brauchen eine Gesetzgebung.
Metadaten/Kopzeile:
13174 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Meinecke
Dies darf nicht an formalen Einwänden scheitern oder daran, daß das Problem angeblich nicht ausreichend durch wissenschaftliche Grundlagenforschungen geklärt sei:Die Bundesregierung hat den medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nach ein fortschrittliches Gesetz vorgelegt. Es wird auf diesem Gebiet das fortschrittlichste Gesetz in der Welt sein. Es hätte den Betroffenen bei allen Zugeständnissen für ihren Unmut nichts genützt, wenn sie, wie mir manche in ihren Briefen geschrieben haben, ausgewandert wären. Mich hat das sehr erschüttert. Nirgendwo — das hat die Bundesregierung dankenswerterweise bei dem ausgezeichneten, Rechtsvergleich aufgelistet — gibt es eine gesetzliche Regelung zugunsten der betroffenen Bürger, außer in Schweden. Diese Regelung ist ein wenig dem Vorschlag näher gelegen, der eben hier gemacht wurde. Diese gesetzliche Regelung in Schweden hat sich nicht bewährt.Ich halte auf Grund des Gutachtens des Hamburger Instituts für Sexualforschung die von der Bundesregierung angebotenen Wahllösungen, also die kleine Lösung und die große — und diese können auch stufenweise in Anspruch genommen werden —, für den gangbaren Weg. Insbesondere würde die vom Bundesrat allein bevorzugte große Lösung eine gewisse Benachteiligung für die weiblichen transsexuellen Menschen bedeuten. Sie sind zwar nicht so viele wie die männlichen — es handelt sich ungefähr um ein Drittel —, aber dies ist doch ein gewaltiger Entschluß auch im Leben, sich dann der hormonalen Behandlung und danach der notwendigen körperlichen Umformung zu unterwerfen und das Risiko einzugehen. Wir werden noch eine Regelung finden müssen für Menschen, die aus Angst nicht bereit sind, dieses Risiko einzugehen. Wir können nicht sagen: wir machen das, aber nur, wenn du die Voraussetzungen für die große Lösung erbracht und dich hast operieren lassen. Es geht hier nicht um Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen das Risiko nicht eingehen wollen, sondern es geht um Menschen, die schlicht Angst davor haben. Auch denen müssen wir helfen.Es gibt für das geltende Personenstandsrecht eine Verwaltungsvorschrift, die in 42 Abschnitte mit 403 Paragraphen gegliedert ist. Sie umfaßt 103 eng bedruckte Seiten. In § 266 steht beispielsweise folgendes: „Bei Geburten in Bergwerken ist als Geburtsort der Ort der Schachteinfahrt einzutragen." Ich möchte jedoch die Frage stellen, was wirklich wichtiger ist: amtlich festzustellen, ob ein Kind das Licht der Welt nun auf Sohle 15 erblickt oder ob ein mündiger Bürger für eine neue und reale Identität einen entsprechenden Vornamen erhalten darf.Die mögliche Scheu eines transsexuellen Menschen, trotz seiner tiefen Empfindungen, vor einer geschlechtskorrigierenden Operation sollte nicht allein zum Kriterium für seine erwünschte Identität werden. Ich habe darum auch die herzliche Bitte an die Kollegen in den Ausschüssen, die sich mit dem Entwurf befassen werden, daß sie dem Konzept des Regierungsentwurfs folgen mögen.Ich möchte gerne noch einem Argument entgegentreten, das Sie, Herr Kollege Jentsch, gebracht haben, nämlich daß die kleine Lösung vielleicht dazu beitragen könnte, eine gewisse Neigung zur Transsexualität zu fördern. Hier liegen Sie juristisch möglicherweise richtig, naturwissenschaftlich ist das totaler Unfug. Denn es ist keine Neigungsangelegenheit. Sie müssen sich einmal die Bücher, von denen Sie und auch der Bundesrat behaupten, daß es sie noch nicht gebe, zu Gemüte führen. Dort wird klar, daß es sich hier um eine hormonale Fehlsteuerung im ganz frühen embryonalen Stadium handelt und daß sich im Laufe der Embryonalzeit von neun Monaten und in den ersten Jahren der Kindheit unabhängig von Neigung das psychische Empfinden des . Menschen und die Prägung seiner Persönlichkeit auf der einen Seite und die Ausbildung der inneren und der äußeren Geschlechtsorgane auf der anderen Seite auseinanderentwickeln. Dies hat nichts mit Neigung zu tun, dies ist Malheur.Ich würde sagen: Freunde, wir sollten diesen Menschen helfen!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wolfgramm.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Besetzung des Plenums spiegelt ein wenig wider, daß wir uns mit dem Problem einer kleinen Minderheit beschäftigen. Trotzdem ist es für uns eine ganz wichtige Sache. Ich bin sehr froh, daß es jetzt gelingt, der Lösung des Problems der Transsexuellen näherzukommen.Herr Kollege Jentsch, sie haben bezweifelt, daß es ausreichende Untersuchungen gebe und daß sie schon fundiert genug seien, um hier einen solchen Gesetzesvorschlag vorlegen zu können. Auch die Gerichte haben sich mit dieser Angelegenheit sehr intensiv befaßt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist schon zitiert worden. Die Gerichte haben ihre Auffassungen bereits in großem Umfang auf medizinisch-naturwissenschaftliche Unterlagen gestützt. Das Bundesverfassungsgericht hat eine große Anzahl dieser Unterlagen zitiert, auf die es seine Entscheidung damals gestützt hat.Es ist nicht mehr so, daß wir von einer Unwandelbarkeit des Geschlechts ausgehen können, sondern es gibt Menschen mit transsexueller Prägung. Diese beruht auf einer vom Willen des Betroffenen unabhängigen Entwicklung. Sie kann weder umgekehrt noch beseitigt noch gehemmt werden.Ich meine, wir müssen diese Ausgangspunkte für diese Debatte und die weitere Beratung im Innenausschuß festschreiben. Für uns gilt, daß diese Beweisführung auf medizinisch-naturwissenschaftlicher Ebene ausreichend gesichert ist.Ich begrüße, daß wir uns nun endlich mit dem Gesetzentwurf beschäftigen können; dies geht auf einen einstimmig beschlossenen Bericht und Antrag des Innenausschusses vom 10. Juni 1976 zu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13175
Wolfgramm
.rück. Aus dem Gesetzentwurf geht hervor, welche rechtlichen Konsequenzen bei der Umwandlung zum anderen Geschlecht und welche namensrechtlichen Möglichkeiten vorgesehen sind.Das Ausland hat sich mit dieser Frage bisher kaum auseinandergesetzt. Außer in Schweden — Herr Kollege Meinecke hat es schon angesprochen — besteht eine solche Möglichkeit der Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung nicht, auch nicht in Frankreich und Großbritannien. Belgien, Dänemark, Österreich und Spanien beschäftigen sich mit diesem Problem überhaupt nicht. Sie tabuisieren es. Nur das japanische Recht kennt bezüglich des Namensrechts keine Schwierigkeiten; denn in Japan gibt es keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Vornamen.Wenn wir es einmal für uns ein wenig anspruchsvoll und positiv formulieren dürfen, so schlagen wir mit unserem Gesetzentwurf die humanste und umfassendste der Lösungen vor, die es bisher in Rechtsstaaten gibt. Wir können auch erwarten, daß, wenn dieser Gesetzentwurf beschlossen worden sein wird, von unseren Kollegen im Europäischen Parlament ein entsprechender Entwurf eingebracht werden wird, um die anderen Länder zur Initiierung entsprechender Schritte zu motivieren.Ich meine, daß die „kleine Lösung" einen ganz wichtigen Bestandteil — ich glaube: den Hauptbestandteil — in diesem Gesetzentwurf darstellt. Denn sie schafft, ohne daß die ganze, die nicht umkehrbare Konsequenz gefordert wird, für diejenigen, die davon betroffen sind, die psychologische Möglichkeit, ihre wahre Identität zu finden, eben die Möglichkeit, sich mit dem anderen Geschlecht — für sich selbst, aber auch nach außen gegenüber der Bürokratie, gegenüber der Verwaltung — zu identifizieren.Diese „kleine Lösung" wird vom Bundesrat abgelehnt. Ich bedaure das und meine, daß wir in der Beratung des Innenausschusses und der mitberatenden Ausschüsse versuchen müssen, diese Bedenken des Bundesrates auszuräumen, zumal sich auch der Bundesratsausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit mit diesem Problem nicht abwertend und negativ beschäftigt hat. Vielmehr hat er dem Bundesrat klar gesagt, daß er für die „kleine Lösung" sei. Ich meine, daß gerade die soziale und medizinische Frage, die hier im Vordergrund steht und der sich meiner Ansicht nach die rechtliche Position nachordnen muß, einen solchen Stellenwert hat, daß der Bundesrat aufgefordert wird, das Votum der beiden anderen Ausschüsse, des Rechts- und Innenausschusses, noch einmal sorgfältig zu überprüfen.Herr Kollege Jentsch, ich bin mit Ihrem Vorschlag nicht einverstanden. Ich war zuerst davon angetan, als Sie sagten, daß die Ehescheidung in der vorliegenden Form für Sie nicht der Weisheit letzter Schluß sei. Ich meine es genau andersherum, als Sie es vorschlagen. Sie haben gesagt, Sie möchten die Ehescheidung vor der Gerichtsentscheidung über die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit haben. Ich möchte es ausschließlich vom Willen der Ehepartner abhängig machen, ob eine Ehescheidung erfolgen soll, und zwar nachdem der Gerichtsbeschluß — mit all den Folgen, die wir kennen: Operation usw. — ergangen ist, weil es eine Menge anderer, zusätzlicher Bindungen in einer Ehegemeinschaft geben kann. Ich meine, daß die betroffenen Ehepartner es unter sich ausmachen müssen, ob sie eine Trennung der Ehe wollen oder nicht. Ich darf in diesem Zusammenhang anmerken: Wenn wir immer stärker erleben, daß schon Lebensgemeinschaften rechtlich fast wie Ehegemeinschaften behandelt werden, dann wird man sich zu überlegen haben, ob Lebensgemeinschaften sehr intensiver Art immer heterosexuelle Gemeinschaften sein müssen oder ob man sich nicht auch gleichgeschlechtliche Ehepartnerschaften vorstellen kann. Jedenfalls entspricht die Auflösung einer solchen Ehe durch Gerichtsbeschluß, die ja dann automatisch erfolgen würde, nicht unseren Vorstellungen.Ich begrüße das Offenbarungsverbot, das sicherstellt, daß hier keine Indiskretionen an die Offentlichkeit gelangen.Ich unterstreiche noch einmal, daß wir uns hier in die Lage versetzt sehen, tatkräftig dabei zu helfen, daß Minderheiten, die keine Pressuregroup, keinen Verband hinter sich haben, die von der Zahl her nicht groß sind, eine Lösung für ihre persönlich sehr schwierige Situation finden, jedenfalls soweit wir helfen können. Wir können ihnen hinsichtlich ihrer seelischen Not, in der sie lange Zeit stehen, nicht unmittelbar helfen, aber wir können ihnen wenigstens die Schwierigkeiten und Mühsamkeiten ersparen, die sie bisher im Umgang mit Behörden, Arbeitgebern und der unmittelbaren Umgebung erfahren mußten.Dies ist ein weiterer Punkt, bei dem wir versuchen, das Sozialverhalten der Bürger menschlicher zu machen. Ich darf in diesem Zusammenhang an unsere Reform im Homosexuellen-Bereich erinnern. Ich glaube, daß wir auch in anderen Bereichen noch einiges vor uns haben. Ich trenne in diesem Punkt, Herr Dr. Meinecke, nicht so scharf wie Sie, der Sie — sicher zu Recht — die Dinge aus medizinischen und naturwissenschaftlichen Gründen unterscheiden müssen. Ich sehe hier mehr den Sozialfaktor mit seiner Bedeutung für die Beziehungen zur Umwelt. Ich sehe, wie der Normalbürger auf ein Verhalten reagiert, das er aus Unkenntnis und aus einer Mehrheitsposition heraus ablehnt. Er bemüht sich nicht um Differenzierung. Ich meine, daß auch die Transvestiten in den Bereich gehören, daß wir ihnen helfen und die Vorurteile abbauen müssen. Insofern sehe ich hier eine Parallele.Wir Liberalen werden dieses Gesetz sorgfältig beraten, und wir werden es auch rasch beraten, damit denen, die lange Zeit darauf gewartet haben, nun endlich geholfen werden kann.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Metadaten/Kopzeile:
13176 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Vizepräsident Frau FunckeDer Ältestenrat empfiehlt die Überweisung an den Innenausschuß — federführend — und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß sowie an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Böhm , Graf Huyn, Dr. Marx, Petersen, Straßmeir, Dr. Mertes (Gerolstein), Amrehn, Jäger (Wangen), Baron von Wrangel, Frau Tübler, Metz, Dr. Narjes, Lintner, Sauer (Salzgitter), Schröder (Lüneburg),Schmöle und der Fraktion der CDU/CSU Kampfgruppen der DDR— Drucksache 8/2918 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß VerteidigungsausschußAusschuß für innerdeutsche BeziehungenInterfraktionell ist ein Kurzbeitrag je Fraktion vereinbart worden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Böhm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehrfach hat sich der Deutsche Bundestag im vergangenen und in diesem Jahr auf Initiative aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion mit der Bedeutung der sogenannten Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR beschäftigt. Mehrfach wurde die Bundesregierung von uns darauf hingewiesen, daß diese Kampfgruppen in den letzten Jahren in der DDR eine neue militärische und strategische Qualität gewonnen haben und daß ihre Bedeutung folglich in der Verteidigungskonzeption des Westens und möglicherweise bei den Abrüstungsverhandlungen in Wien eine neue Bewertung erfahren müsse.
Die Bundesregierung erklärte jeweils, daß die Kampfgruppen der DDR deshalb nicht Teil der Verhandlungen in Wien gewesen seien — ich zitiere —, weil „nur Soldaten, also militärisches Personal des sogenannten aktiven Dienstes", Verhandlungsgegenstand seien. Die Bundesregierung sei im übrigen an einer Begrenzung des Verhandlungsgegenstandes interessiert, ihr Ziel sei der Abbau der Konfrontation der regulären Streitkräfte, und eine Ausdehnung des Verhandlungsgegenstandes würde — man höre und staune — eine unnötige und unerwünschte Komplizierung der Verhandlungen mit sich bringen.Dieses Verhalten der Bundesregierung steht nach unserer Auffassung im Gegensatz zu den Erkenntnissen, die sie selbst durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. von Bülow in der Fragestunde des 26. April 1979 hat vortragen lassen.
Danach seien die Kampfgruppen ein Kampfinstrument in der Hand der SED,
das auch überregional eingesetzt werden könne, und es handele sich bei ihnen um eine Organisation, die mit Verteidigungskräften unseres Systems nicht vergleichbar — ich füge von mir aus hinzu: also auch nicht an- und aufrechenbar — sei. Die Bundesregierung stellte außerdem fest, daß sich die Kampfkraft jener Kampfgruppen im Ausbildungsjahr 1978 weiter erhöht habe.In den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses findet unser Bemühen um eine sachgerechte Bewertung des militärischen Potentials dieser Kampfgruppen im Rahmen des Warschauer Paktes bedauerlicherweise keinen Widerhall. Im Gegenteil: Hier scheint man noch immer der Auffassung zu sein, es handele sich bei den Kampfgruppen um eine Art „Filzpantoffelarmee" biertrinkender Altfunktionäre oder um eine politisch im Sinne des kommunistischen Systems unzuverlässige Truppe. Beide Beurteilungen sind falsch und können für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährlich sein. Bei einem Großteil der Kampfgruppenangehörigen handelt es sich heute um jüngere Reservisten der Nationalen Volksarmee, und, wie SED-Chef Erich Honecker erklärte, sei — ich zitiere — in jedem Fall die politische Zuverlässigkeit von entscheidender Bedeutung für die Einsatzfähigkeit der Kampfgruppen. Daher dürfe man auch — so Erich Honecker — nicht dulden, daß sich die zahlenmäßige Verstärkung der Kampfgruppen auf Kosten der politischen Zuverlässigkeit vollziehe.Der Anteil der Nicht-SED-Mitglieder in den Kampfgruppen liegt nur bei etwa 12 %. Auch diese Parteilosen müssen, wie es heißt, ihre sozialistische Gesinnung bereits unter Beweis gestellt haben. Sie werden vor ihrer Aufnahme in die Kampfgruppe längere Zeit beobachtet und dann beurteilt. Ich warne also davor, die Zuverlässigkeit in politischer Hinsicht gerade dieser Truppe zu unterschätzen und ihre Bedeutung herabzuspielen.Bezeichnend für die Unkenntnis und Verharmlosung der militärischen Kampfkraft dieser Kampfgruppen ist der Zwischenruf eines Kollegen aus den Reihen der SPD-Fraktion. Auf die Frage meines Kollegen Dr. Hennig am 26. April 1979 an die Bundesregierung, welche Erkenntnisse sie darüber habe, daß im Rahmen der Kampfgruppenausbildung eine Ausbildung auch an schweren Waffen erfolge, machte dieser SPD-Kollege den Zwischenruf: „Was Sie fragen, gibt es nicht!"Mittlerweile hat die Bundesregierung auf diese Frage, nämlich wo und in welchem zeitlichen Rahmen die motorisierten Einheiten der Kampfgruppen ihre Übungen mit dem scharfen Schuß durchführen, erklärt — ich zitiere aus dem Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesverteidigungsminister von Bülow vom 20. Juni 1979 an mich —: Die Übungen mit dem scharfen Schuß könnten generell in drei Bereiche aufgeteilt werden, und zwar erstens: Übungen mit schweren und mittleren Infanteriewaffen wie z. B. Flakmaschinengewehr, Haubitze, Granatwerfer und Mörser, mittlere Infanteriewaffen wie z. B. schweres Maschinengewehr und Panzerfaust. Die Übungen mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13177
Böhm
schweren und mittleren Infanteriewaffen würden mindestens zweimal jährlich durchgeführt, und zwar auf den Truppenübungsplätzen der Nationalen Volksarmee.
Zweitens. Die Flakbatterien der Kampfgruppen übten alle zwei Jahre mit scharfem Schuß auf Luftziele, ebenfalls auf einem Truppenübungsplatz der NVA, während drittens die Übungen mit leichten Infanteriewaffen ausschließlich auf standortnahen Schießplätzen anderer bewaffneter Organe durchgeführt würden. Soweit die Antwort der Bundesregierung auf unsere Fragen, zu denen es aus den Reihen der SPD in diesem Hause, wie ich bereits sagte, hieß: „Was Sie fragen, gibt es nicht!"Ich möchte den Kollegen der SPD-Fraktion im übrigen empfehlen, die Nr. 21 des Jahrganges 1978 der von der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie herausgegebenen Zeitung „einheit" zu lesen.
— Ich denke, wenn Sie die ganze Ausgabe durchblättern, werden Sie bei Ihrer Intelligenz auch die Seite finden. — Darin ist ein hervorragender und informativer Bericht, der nach eigener Aussage die Bedeutung und Arbeitsweise dieser 500 000 Mann-Armee darstellt, die — wie die Zeitung schreibt — bei den Abrüstungsgesprächen in Wien nicht mitgezählt und mitbehandelt wird. Der Hinweis auf MBFR in diesem Zusammenhang sollte den Kollegen der SPD zu denken geben.Sie kennen die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Datendiskussionen bei MBFR. Die Richtigkeit und die Genauigkeit der Berechnung von Truppenstärken kann einmal über Frieden und Freiheit in Europa entscheiden. Angesichts der erheblichen Überlegenheit des Warschauer Paktes im Bereich der konventionellen Streitkräfte und der Tatsache lokaler Kriege auch im Nuklearzeitalter muß der Truppenstärke und ihrer Ausbildung und Ausrüstung größte Bedeutung zugemessen werden. Es besteht die ernst zu nehmende Gefahr, daß trotz der unbestrittenen Überlegenheit des Warschauer Paktes im konventionellen Bereich die Zahl der tatsächlich verfügbaren militärischen Kräfte weiter zuungunsten des Westens manipuliert wird, wenn die Kampfgruppen der Arbeiterklasse als eine Art „Zweitarmee" der DDR außer Betracht blieben.
Die Kampfgruppen, die die kommunistische Führung der DDR in eigener Befehlsgewalt unterhält, sind jetzt gut 25 Jahre alt. Sie wurden unter dem Namen „SED-Betriebskampfgruppen" in der Zeit nach ,dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 als sogenannte „Arbeiterwehren zum Schutz der Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates" gegründet.Selbst wenn die DDR ihre zahlenmäßig halb so starke Volksarmee völlig auflösen würde, verfügte sie mit den rund 500 000 Mann der Kampfgruppen,also der zahlenmäßigen Stärke der Bundeswehr, über eine erhebliche militärische Macht, die im Mobilisierungsfall Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung von ernst zu nehmender Bedeutung ist.
Die Kampfgruppen sind heute überall in der DDR als vollmotorisierte schwere Infanterie mit Spezialeinheiten organisiert. Die Parteiarmee unterscheidet sich kaum von regulären Streitkräften. Sie verfügt über schweres Gerät und schwere Waffen, z. B. 8 500 Granatwerfer, über Flugabwehr von der Vierlingsflak bis zur 3,7-cm-Kanone, Panzerabwehrlenkraketen vom Typ Sagger, Artillerie mit direktem und indirektem Richten, Pioniergerät, Schützenpanzer, Aufklärungsfahrzeuge und Fernmeldegerät. Die „Allgemeine Schweizer Militärzeitung" berichtet auch von 485 Kampfpanzern der Typen T 54 und T 55 sowie von 450 leichten Panzerfahrzeugen. Diese Ausrüstungen befähigen die Kampfgruppen heute, an der Seite der NVA zu kämpfen und Aufgaben im Flankenschutz und bei der Flugabwehr zu übernehmen.Die Kampfgruppen entfalten militärisches Gepränge mit Orden und martialischem Auftreten. Bei Aufmärschen und Paraden unterscheiden sie sich in Disziplin und militärischem Auftreten nicht von der NVA.
Meine Damen und Herren, die „Genossen Kämpfer", wie sie offiziell heißen, sind im Betrieb oder in der nahegelegenen Wohnung jederzeit verfügbar und auf diese Weise schnellstens mobilisierbar. Den Jugendlichen und Kindern in der DDR werden die „Genossen Kämpfer" als leuchtende Vorbilder hingestellt. Ihre ideologische Erziehung zum Haß wird im Rahmen der Militarisierung des gesamten Lebens in der DDR systematisch betrieben.In der militärischen Ausbildung wird seit 1968 zielstrebig auf die operative Einsatzfähigkeit hingearbeitet. Das beweist die folgerichtige Ausbildung in den einzelnen Ausbildungsperioden. 1968 bis 1970 gab es Einzelausbildung und Ausbildung kleiner Kampfkollektive, 1971/72 Ausbildung in der Hundertschaft und 1973 bis 1976 Verbandsausbildung mit Schwerpunkt Taktik. In der gegenwärtigen Ausbildungsperiode, 1977 bis 1980, gibt es Komplexausbildung mit den Schwerpunkten Taktik, Angriff, Aufklärung und Schutzausbildung. Ausbildungsgebiete, die Aufschluß über den Stand und das militärische Können geben, sind Nahkampf Ortskampf, Angriff und Verteidigung in Zusammenarbeit mit der NVA, Aufklärung im Gefechtseinsatz bei Tag und Nacht, Schützenzug im Angriff und in einer Sturmausgangsstellung bei Nacht, Angriff eines motorisierten Kampfbataillons aus der Bewegung und Übergang über Gewässer — und das alles, meine Damen und Herren, auf der Grundlage der bereits erfolgten Ausbildung in der NVA.Es ist undenkbar, daß die militärische Bedeutung der Kampfgruppen nicht im Rahmen der Abrüstungsverhandlungen zur Sprache gebracht wird. Die führenden Militärpolitiker der DDR unterstrei-
Metadaten/Kopzeile:
13178 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Böhm
chen immer wieder die Bedeutung der Kampfgruppen, sie unterstreichen ihre Einbindung in das Bündnis des Warschauer Paktes, und sie unterstellen diesen Kampfgruppen selbst einen hohen militärischen Wert.Es ist undenkbar, daß die Aussagen führender Militärfunktionäre der DDR nicht mit der Sowjetunion abgesprochen sind. Die Verantwortungsträger der DDR tun in diesen Fragen nichts, was nicht in Übereinstimmung mit der Sowjetunion steht.Unsere Fraktion meint daher, daß es verhängnisvoll wäre, diese militärische Entwicklung in der DDR nicht ernst zu nehmen. Nähme man diese Entwicklung nicht ernst, käme ein solches Verhalten einer Selbsttäuschung gleich, die von den eigenen Wünschen und Maßstäben auf andere schließt. Deshalb haben wir diesen Antrag mit dem Ziel gestellt, darüber in den zuständigen Ausschüssen sachlich und gründlich zu diskutieren und zu prüfen, ob die Bundesregierung im Rahmen der NATO diese für die Sicherheit auch der Bundesrepublik Deutschland und ganz Europas wichtige Frage erneut und mit Nachdruck ansprechen soll.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Möhring.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Willen des Antragstellers, der CDU/CSU-Fraktion, soll die Bundesregierung die militärische Bedeutung der Kampfgruppen der Arbeiterklasse der DDR im MBFR-Raum in der NATO ansprechen und auf zweckdienliche Konsequenzen für die westliche Verhandlungsposition in Wien hinwirken. Nun, bei näherem Hinsehen und ein wenig Nachdenken wird klar, daß die erstrebte Absicht dieses Antrags, die westliche Verhandlungsposition zu stärken, das genaue Gegenteil bewirken kann.
Was ist eigentlich das Ziel von MBFR? NATO und Warschauer Pakt sind ab 1973 in vielen mühsamen Gesprächen und Verhandlungen übereingekommen, innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes „stehende aktive Streitkräfte" — oder, wie es dort korrekt heißt, „active duty uniformed" — so zu reduzieren, daß die überlegene einseitige Offensivfähigkeit abgebaut wird und sich die beiderseitigen Truppenstärken und Rüstungspotentiale allein noch an der Verteidigungsfähigkeit orientieren. Dies ist, wenn ich den Sinn von MBFR richtig verstanden habe, die Kernposition. Dies bedeutet, daß nach den festgelegten Zählkriterien nur sogenannte Friedensstärken zur Debatte stehen. Hierüber hat es wohl zuletzt noch 1976 verbindliche Absprachen gegeben.Nun wünschen die Antragsteller, daß die Kampfgruppen der Arbeiterklasse der DDR dem östlichen Truppenpotential hinzugerechnet werden. Was bedeutet dies? Was sind diese Kampfgruppen? Herr Kollege Böhm, ich will versuchen, auch selber einmal ganz präzise zu sagen, was ich darüber weiß. Wir können uns vielleicht gegenseitig helfen.Die Kampfgruppen der DDR sind ab 1952 in den Großbetrieben unter alleiniger Führung der SED als reine Parteiarmee entstanden. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 wurden sie unter dem Schock der Ereignisse forciert ausgebaut, um als Betriebsmiliz solche spontanen Streiks künftig jederzeit im Keime ersticken zu können.
Sie wirkten als Sicherungskräfte beim Mauerbau am 13. August 1961 mit.Heute spielen sie in der Landesverteidigungsplanung der DDR eine bedeutende Rolle, allerdings als Bestandteil der territorial gebundenen Kräfte. Sie haben den eindeutigen Auftrag, in begrenzten geographischen Räumen des eigenen Territoriums zu verteidigen und dabei überwiegend auch Objektschutzaufgaben durchzuführen.
Sie bestehen aus Betriebsangehörigen und sind außerhalb der Arbeitszeit an Wochenenden in 132 Ausbildungsstunden an leichten und mittleren Infanteriewaffen ausgebildet.
Sie sind in begrenztem Umfang transportfähig — die Lkws werden den Betrieben entnommen — und können auch Luftabwehraufgaben und kleinere Angriffsoperationen durchführen.
— Was heißt „aha"? Ich werde auf Ihr Aha noch zurückkommen, um die Vergleichbarkeit in der Bundesrepublik einmal anzuleuchten.Gegliedert sind die Betriebskampfgruppen in Hundertschaften zu je drei Zügen, ausgerichtet auf die jeweilige Betriebsgröße. Es werden auch Betriebe zusammengelegt, um solche Betriebskampfbataillone zu bekommen. Der größte Verband ist das Bataillon. Oberhalb der Bataillonsebene gibt es keine militärischen Führungsebenen mehr.Herr Kollege Böhm, ich möchte ein wenig relativieren. Mir sind nur Zahlen zwischen 350 000 und 400 000 bekannt. Wir müssen uns irgendwann einmal auch über Zählkriterien abstimmen, die solche Spekulationen von eben mal 100 000 mehr oder weniger zum Schluß ausschließen.Männer — und begrenzt auch Frauen — im Alter von 25 bis 60 Jahren haben sich ausbilden zu lassen. Die Leitung hat dabei überwiegend die Volkspolizei und bei Frauen das Rote Kreuz. Die Führung des Bataillons obliegt dem Ersten Sekretär der SED des Bezirks oder des Kreises. Oberster Dienstherr ist nach dem Generalsekretär Honecker der Innenminister. Damit ist die Zuständigkeit der Volkspolizei gegeben. •Die Waffen werden nur zu Übungen oder Manövern herausgegeben. Sie lagern in streng bewachten Depots der Volkspolizei.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13179
MöhringDie Moral der sicher gut ausgebildeten Kampfgruppenangehörigen wird gelegentlich in Veröffentlichungen sichtbar, so bei einer kritischen DDR-Berichterstattung, in der es heißt: „Bei uns kämpft eine ganze Anzahl von Genossen — aber um Untauglichkeitsbescheinigungen!" Denn während der Ausbildung und Übungen müssen andere Betriebsangehörige die Arbeit übernehmen, und die Kämpfer müssen durch Sonderschichten versäumte Arbeitsstunden nachholen.Warum berichte ich solche Einzelheiten? Ich möchte einmal korrekt nachweisen, daß die Kampfgruppen der Arbeiterklasse der DDR eine völlig andere Qualität besitzen als die für die Reduzierung charakterisierten und verabredeten Streitkräfte. Sie haben zugegebenermaßen in ihrer Art keine Entsprechung im Westen, aber auch nur als bewaffnete Betriebsangehörige. Sie sind nicht präsent, sie sind aber mobilisierbar.Wenn nun der Versuch unternommen wird, diese Truppenarten über die NATO in die Wiener Verhandlungen nachzuschieben, laufen wir Gefahr, daß die ursprünglich zwischen NATO und Warschauer Pakt vereinbarte Geschäftsgrundlage ausgeweitet wird und die Gespräche verzögert, gestört werden oder sogar von vorne beginnen müssen. Wir sollten uns an das System wie bei SALT halten: Erst einmal den vereinbarten Kern reduzieren, und erst dann, wenn die Vereinbarungen unterzeichnet sind, uns den Sekundär- und Tertiärbereichen der übrigen waffentragenden oder waffenbesitzenden Organisationen zuwenden. Allerdings wird dann sicher auch die Heimatschutztruppe der Bundesrepublik Deutschland angesprochen werden.
Wir können das nicht verhindern. Die Territorialverteidigung besteht zu 85 % aus Reservisten.
— Sie ist in der Aufgabenstellung vergleichbar: Objektschutz und flächendeckende Verteidigung im eigenen Territorium.
Dazu müssen Sie mir schon einigen Sachverstand zugestehen. Ich bin letzten Endes auch Mitglied des Verteidigungsausschusses.
— Das sagt schon einiges, Herr von Hassel, denn als Oberst der Reserve bin ich durchaus über unser Territorialheer sachkundig.Schon jetzt darf ich für meine Fraktion sagen, daß uns der Antrag zweckwidrig erscheint, weil die Kampfgruppen im Sinne der heute geltenden Zählkriterien nicht MBFR-fähig sind. Da die Antragsteller gerne Zitate benutzen, darf auch ich aus dem 1979 erschienenen Buch von Joachim Nawrocki „Bewaffnete Organe der DDR" zitieren:Die Kampfgruppen können sowohl nach militärischen Regeln als auch als Guerilla-Einheiten kämpfen. Nach Struktur und Organisation gehören sie aber nicht zu den regulären Verbänden, sondern zu den irregulären Kombattanten im Sinne von Artikel 3 der Haager Landkriegsordnung. Deshalb werden die Kampfgruppen von den eventuellen Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung nicht erfaßt.Wir stimmen der Überweisung dieses Antrages an die vorgeschlagenen Ausschüsse zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU hat am 8. August 1978 zum Thema der Betriebskampfgruppen der DDR eine Kleine Anfrage gestellt. Sie hat diesem Thema dann innerhalb ihrer Großen Anfrage zur Friedenssicherung durch Verteidigung und Entspannung eine Frage gewidmet, und sie hat überdies in diesem Hause zahlreiche mündliche Anfragen zum gleichen Thema an die' Regierung gerichtet, Fragen, die sich zum Teil ständig wiederholten. Insofern kann ich Ihnen zustimmen, Herr Kollege Böhm.
Ich muß aber auch feststellen, daß die CDU/CSU auf alle diese Fragen erschöpfende Auskunft über die Bewertung der Kampfgruppen sowohl von der Bundesregierung als auch von meinem Vorredner erhalten hat. Ich schließe mich dieser Bewertung an und stelle für meine Fraktion fest, daß Gliederung, Ausbildung, Ausrüstung und Unterstellung die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR" befähigen, Aufgaben in der territorialen Verteidigung zu übernehmen. Das heißt, daß diese Kampfgruppen zwar kein Offensivpotential sind, das Offensivpotential aber dadurch stärken, daß sie es in bestimmten Bereichen entlasten.Nun hat die Opposition auf Drucksache 8/2918 den Antrag gestellt, der heute zur Debatte steht. Es ist, um es gleich vorweg zu sagen, ein Antrag, der eine Maßnahme fordert, die längst in den für MBFR zuständigen Gremien des Bündnisses Routine geworden ist, Herr Kollege Böhm. Meine Damen und Herren, ich bedaure eigentlich sehr, daß hier nicht ein Kollege gesprochen hat, der mit der MBFR-Problematik vertraut ist. Ich bedaure, daß z. B. Herr Kollege Mertes nicht da ist.Obwohl der Opposition in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Friedenssicherung mitgeteilt wurde — ich darf zitieren —:Die Bundesregierung widmet der Entwicklung bei den Kampfgruppen wie auch bei anderen militärischen und paramilitärischen Organisationen des Warschauer Pakts größte Aufmerksamkeit. Sie stimmt in dieser wie bei allen MBFR betreffenden Fragen ihre Bewertung ständig im Bündnis mit den Verhandlungsteilnehmern, ab.stellt sie nun diesen Antrag.
Metadaten/Kopzeile:
13180 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
JungIch frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Wo liegt nach Ihrer Meinung der Unterschied zwischen Ihrer Forderung, das Thema erneut in der NATO anzusprechen und auf zweckdienliche Konsequenzen für die westliche Verhandlungsführung hinzuwirken, und der von der Bundesregierung als Tatsache geschilderten, im Bündnis ständig stattfindenden Abstimmung der Bewertung der Kampfgruppen? Diese Bewertung findet doch selbstverständlich ständig im Hinblick auf die westliche Verhandlungsposition in Wien statt.Und wo liegt denn das Zweckdienliche -dieses Antrags? Wir dürfen doch sicher davon ausgehen, daß Sie wissen, daß der Westen aus gutem Grund von Anfang an gefordert hat, daß in die zur Zeit stattfindenden MBFR-Verhandlungen nur Soldaten einbezogen werden sollen, die Uniform der Land- oder Luftstreitkräfte tragen und ständig und ausschließlich militärischen Dienst versehen. Wir dürfen auch davon ausgehen, daß Sie wissen, was es bedeuten würde — ich hoffe es wenigstens, Herr Böhm; es hatte allerdings den Anschein, daß Sie das nicht ganz kapiert haben —,
mitten in laufenden Verhandlungen solche Vereinbarungen in Frage zu stellen. Oder wollen Sie MBFR überhaupt in Frage stellen?Wir dürfen wohl auch annehmen, daß Ihnen bekannt ist, welche Belastung es für die Verhandlungen, vor allem aber für die Datendiskussion bedeuten würde, wenn den genannten Kriterien nun weitere hinzugefügt würden. Sie wissen sicher auch, daß es zu diesem Zeitpunkt darauf ankommt, in der Datendiskussion konsequent auf Wahrheit und Klarheit zu drängen, und daß dieses schwierige Unterfangen durch eine Ausweitung der Kriterien besonders belastet würde, ja daß die Aussichten für einen Erfolg der Verhandlungen völlig zunichte gemacht würden. Zudem würden diese Forderungen an den Westen Konsequenzen auslösen, die uns nicht recht sein können.Wir gehen deshalb davon aus, daß Sie es nicht für . eine zweckdienliche Konsequenz halten, die Kriterien auf die paramilitärischen Verbände des Ostblocks oder auch nur auf die Kampfgruppen der DDR im besonderen auszudehnen. Wir verstehen Ihren Antrag daher als eine Erinnerung an die Tatsache, daß die zahlenmäßige Überlegenheit des Warschauer Pakts an rein militärischen Verbänden auch deshalb sehr ernst zu nehmen ist, weil diese von paramilitärischen Verbänden zusätzlich wirksam unterstützt werden können. Dies gilt zumindest für die Unterstützung der NVA durch die Betriebskampfgruppen.Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, diese Erinnerung mag für jene gut sein, die dem Prinzip der ungefähren Parität oder der Notwendigkeit der Datendiskussion kritisch gegenüberstehen. Die sozialliberale Bundesregierung bedarf solcher Erinnerung allerdings nicht. Bundesaußenminister Genscher wird sich vom Prinzip der ungefähren Parität nichts, aber auch gar nichts abhandeln lassen.Die Bundesregierung weiß darüber hinaus, daß ein MBFR-Ergebnis nur dann solide sein kann, wenn Klarheit über die Ausgangsdaten herrscht. Sie hat dies alles ja durch ihre praktische Politik bewiesen. Auch die FDP-Fraktion braucht solche Erinnerungen durch die Opposition nicht.Ein Ergebnis, das die bestehenden Disparitäten festschreibt oder bei dem unklar bleibt, ob tatsächlich Parität hergestellt ist, würde die Unsicherheit und das Mißtrauen aufrechterhalten und möglicherweise verstärken, die gerade bei MBFR abgebaut werden sollen. MBFR würde so ad absurdum geführt. Ein solches Ergebnis hätte auch innenpolitische Folgen, die eine Weiterführung der Entspannungspolitik und damit der Rüstungskontrollpolitik mindestens erschweren können.Liberale Sicherheitspolitik hat es immer als ihre wichtigste Aufgabe betrachtet, ausgewogene konventionelle Kräfteverhältnisse in Mitteleuropa sicherzustellen; denn die konventionellen Stärkeverhältnisse entscheiden auch über die Höhe der atomaren Schwelle, die gerade für unser Volk von so vitaler Bedeutung ist.Wir fühlen uns auch deshalb besonders verpflichtet, für eine ausreichende konventionelle Kampfkraft einzutreten, weil wir, die Freien Demokraten, es waren, die ihr Sicherheitskonzept nach dem Prinzip der Arbeitsteilung im Bündnis erstellt und die Übernahme des konventionellen Parts durch die Bundeswehr bei Verzicht auf nukleare Teilhabe gefordert haben.Wir gehen also davon aus, daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die Verhandlungsposition des Bündnisses, zu der die Bundesregierung ganz wesentlich beigetragen hat, weiter unterstützen. Wir gehen nicht davon aus, daß Sie diesen Antrag gestellt haben, weil Sie nun auch bei MBFR, wie Sie das ja leider in allen anderen Bereichen der Entspannungspolitik tun, einen destruktiven Kurs des Alles oder Nichts steuern und die Verhandlungen unnötig belasten wollen. Ich wäre deshalb auch an einer Klarstellung Ihrer Aussage, Herr Böhm, Sie wollten das in die Datendiskussion einbezogen wissen, sehr interessiert.Wir gehen nicht davon aus, daß Sie diesen Antrag gestellt haben, weil Sie Angst in der Bevölkerung wecken wollen, so wie dies leider gestern Herr Dregger wieder in der Debatte über die Gesamtverteidigung getan hat. Wir gehen davon aus, daß Sie die MBFR-Politik der Bundesregierung weiter in der bisherigen verantwortungsbewußten Weise, wie es beispielsweise Herr Mertes hier Wiederhalt dargestellt hat, unterstützen werden — eine Politik, die davon ausgeht, daß Verteidigung und Entspannung gleichwertige und einander ergänzende Säulen unserer Sicherheit sind.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrags auf Drucksache 8/2918 federführend an den.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13181
Vizepräsident Frau RengerAuswärtigen Ausschuß sowie mitberatend an den Verteidigungsausschuß und an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen vor. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Erhard , Dr. Lenz (Bergstraße), Dr. Marx und der Fraktion der CDU/CSUVerletzung der Menschenrechte im Iran— Drucksache 8/2971 —Überweisungsvorschlag des ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußInterfraktionell sind zwei Kurzbeitragsrunden vereinbart worden. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lenz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute morgen konnten wir in den Zeitungen die Nachricht von einem angeblichen oder wirklichen Attentat auf den Schah lesen, der zur Zeit in Mexiko im Exil lebt. Das ist der Hintergrund für den Antrag, den wir heute beraten.Der Präsident der islamischen Revolutionsgerichte, Ayatollah Sadek Khalkhali hat mehrfach öffentlich erklärt, daß die in Abwesenheit zum Tode verurteilten Mitglieder der Schahfamilie vogelfrei seien. Er hat wörtlich erklärt, daß der Vollzug dieser Todesurteile, wo auch immer dieser stattfinde, als legale Handlung gelte. Er hat die Regierungen der Staaten, in denen diese Urteile vollstreckt werden, aufgefordert, den oder die Vollzieher dieser Hinrichtungen nicht zu verfolgen. Er hat jetzt sogar verkündet, daß ein für rund 300 000 DM gedungenes Kommando nach Mexiko unterwegs sei, um dort die Urteile zu vollstrecken.Er hat nicht davor zurückgescheut, auch die Kaiserin aufzufordern, ihren Mann zu töten. Sie erhielte für diese Tat nicht nur eine Belohnung — eben jene rund 300 000 DM —, sondern Vergebung ihrer Verbrechen und könne unbehelligt nach Persien zurückkehren.
Meine Damen und Herren, ich bin kein Kenner des persischen oder des islamischen Rechts. Andere islamische Staaten haben offenbar keine Schwierigkeiten, eine auf die Grundsätze des Islams begründete Politik mit der Verwirklichung der Menschenrechte und der Achtung des Völkerrechts zu vereinbaren.
Aber selbst wenn die genannten Aufforderungen nicht Ausdruck eines politischen oder religiösen Fanatismus, sondern der Ausdruck einer weitverbreiteten religiösen oder politischen oder rechtlichen Auffassung sein sollten, muß ich in aller Deutlichkeit sagen, meine Damen und Herren: Niemand hatdas Recht, diese seine Auffassungen in fremde Länder zu exportieren.
Ich möchte hier in aller Klarheit sagen, daß ein Vollstrecker eines solchen „Todesurteils" uns nicht als ein Held, sondern als ein verspäteter Nachkomme jener Assassinen erscheinen würde, die im Mittelalter von der Festung Alamut in Nordpersien aus Furcht und Schrecken an den Höfen des Orients und unter den Kreuzfahrern verbreiteten. Die von dieser Sekte ausgesandten Meuchelmörder sind in die Geschichte nicht als gläubige Moslems, sondern als teuflische Mörder eingegangen.Es besteht kein Zweifel daran, meine Damen und Herren, daß die zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland einen solchen Anschlag, fände er in unserem Lande statt, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln abwenden müßten und abwenden werden. Ein solches Vorgehen wäre ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht.Kein Staat hat das Recht, Amtshandlungen oder gar Hinrichtungen auf dem Territorium eines anderen Staates ohne die Zustimmung des Staates, in dem diese Handlung stattfindet, durchzuführen oder durchführen zu lassen. Alle Staaten der Welt, insbesondere alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen — und dazu gehört auch der Iran —, haben sich zur Einhaltung dieses Grundsatzes verpflichtet. Kein souveräner Staat kann es hinnehmen, Beauftragte eines fremden Staates auf seinem Staatsgebiet Strafjustiz im Wege der Selbsthilfe ausüben. Das ist nach den hier herrschenden Auffassungen ein Verbrechen, gegebenenfalls ein Verbrechen des Mordes.Es ist besonders anzuerkennen, meine Damen und Herren, daß der ägyptische Staatspräsident Sadat diesen Drohungen die Stirn geboten und den Schah eingeladen hat, Asyl in seinem Lande zu nehmen. Er hat damit einen weiteren Beweis seines Mutes und seiner Weitsicht geliefert.
In diesem Zusammenhang muß ich auch darauf hinweisen, daß das Vorgehen gegen den Schah und seine Familie, ebenso wie andere zur Zeit im Iran stattfindende revolutionäre Verfahren, nicht geeignet ist, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Treibens der iranischen Revolutionsgerichte auszuräumen. Im Gegenteil, der sogenannte Prozeß gegen den Schah ist, ebenso wie andere Prozesse, nach unserer Kenntnis der Dinge unter Ausschluß der Offentlichkeit abgelaufen. Ob ein Verteidiger aufgetreten ist und ob er die Möglichkeit zur Verteidigung hatte, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob es die Möglichkeit einer rechtlichen Nachprüfung gab und die Möglichkeit, den Gnadenweg zu beschreiten. Die Aufforderung an die Kaiserin, ihren Gatten zu ermorden, um Vergebung ihrer Verbrechen zu erreichen, läßt auf das Gegenteil schließen.Dies alles ist nach unserer Auffassung ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen, gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, gegen
Metadaten/Kopzeile:
13182 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. Lenz
den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.
Die Einzelheiten, meine Damen und Herren, sind in unserem Antrag aufgeführt.Manche mögen sich sagen, man könne sich trotzdem, vielleicht im Hinblick auf die eigene wirtschaftliche Macht, ein derartiges Vorgehen leisten, das Geschrei über das völkerrechtswidrige Verbrechen würde doch bald verklungen und verstummt sein. Meine Damen und Herren, daß eine solche Haltung zynisch ist oder wäre, brauche ich nicht zu betonen. Sie widerspricht im übrigen auch der geschichtlichen Erfahrung.1960 hat ein Agent des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR zwei Exilsowjetbürger in der Bundesrepublik Deutschland ermordet. Dieser Fall ist jedem deutschen Juristen als Staschynskij-Fall bekannt.1940 ließ Stalin den in Mexiko im politischen Asyl lebenden Trotzkij ermorden. Er wurde mit einem Eispickel erschlagen.1804 ließ Napoléon Bonaparte den Herzog von Enghien aus dem benachbarten Baden nach Frankreich verschleppen und nach einem Scheinprozeß erschießen. Die Erschießung dieses Bourbonen-Prinzen ist als die abscheulichste Tat in Napoléons ganzer Laufbahn bezeichnet worden.Damals wie heute haben Hunderttausende, ja Millionen Menschen durch Krieg und Gewalt ihr Leben verloren. Dennoch sind diese Einzeltaten im Gedächtnis der Menschheit haften geblieben. Wer würde heute noch den Namen des Herzogs von Enghien kennen, wenn er nicht auf so gewaltsame Art getötet worden wäre?Das iranische Volk ist mit dem deutschen Volk durch alte freundschaftliche Beziehungen verbunden. Diese Beziehungen haben das Ende unseres Kaiserreichs, das Ende der Weimarer Republik, das Ende des Dritten Reiches überlebt, und wir — ich bin sicher, wir alle — wünschen sie mit dem persischen Volk fortzusetzen, unabhängig davon, welche Regierungsform sich dieses Land gibt.
Wir hoffen und wünschen deshalb, daß die persische Führung von einem Vorhaben Abstand nimmt, das die Beziehungen des Iran zu seinen Nachbarn und Freunden in der Welt schwer und dauerhaft belasten wird und das dem Ansehen des Islams in der Welt nach unserer Überzeugung schwersten Schaden zufügen wird.
Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, in diesem Sinne bei den Vereinten Nationen vorstellig zu werden, und wir bitten die Fraktionen dieses Hauses um Unterstützung dieses Anliegens.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Opposition ist einer der Anträge, von denen man meinen könnte, daß er der Notwendigkeit entspringt, die Bundesregierung auf dem Gebiet der Menschenrechte zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten. Ich glaube nicht, daß das notwendig ist, und ich fände es gut, wenn wir in der weiteren Debatte über den Antrag im Ausschuß, Herr Kollege Lenz, zunächst einmal feststellen könnten, daß über die Menschenrechte im Grundsatz in diesem Hause kein Streit besteht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Wenn sie mir nicht auf meine zehn Minuten angerechnet wird, gern.
Herr Kollege Ehmke, könnten Sie sich vielleicht auch vorstellen, daß wir diesen Antrag eingebracht haben, damit sich dieses Haus mit diesem Thema beschäftigt?
Ich sagte ja, ich hoffe, daß die weitere Beschäftigung dazu führt, zunächst einmal davon auszugehen, daß man sich darüber einig ist. Die Bundesregierung hat im übrigen immer bestimmte Grundsätze eingehalten in bezug auf die Art, in der sie Menschenrechte vertritt. Sie hat sich nie auf einen verbalen Protest beschränkt, sondern sie hat immer ihre Aufgabe darin gesehen, den Versuch zu machen, durch praktische Politik im Rahmen unserer politischen Möglichkeiten etwas zur Veränderung beizutragen. Sie hat darauf Wert gelegt, daß nicht selektiv vorgegangen wird, auch nicht in den Vereinten Nationen, und zweitens, daß sie glaubwürdig bleibt.Der Antrag, den die Opposition wegen der Verletzung der Menschenrechte im Iran eingebracht hat, greift ein Problem auf, das auch die sozialdemokratische Bundestagsfraktion mit Besorgnis erfüllt. Der Antrag läuft aber insofern ins Leere, als die Bundesregierung mit ihren Partnern in der EG bereits tätig geworden ist, um der Verletzung der Menschenrechte durch die Revolutionsgerichte im Iran entgegenzuwirken. Die Bundesregierung hat in ihren bilateralen Gesprächen und Kontakten gegen die Todesurteile protestiert; in diesem Sinne hat sich auch der deutsche Botschafter im Iran gegenüber der iranischen Regierung geäußert. Die Bundesregierung hat außerdem im Mai dieses Jahres mit den EG-Partnern eine allgemeine Entschließung des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen unterstützt, in der die Zunahme von Todesurteilen in einzelnen Ländern verurteilt wird, in der aber — wegen der Ablehnung der Selektivität — nicht ein Land herausgegriffen wird.Die Bundesregierung hat weiter in Gesprächen mit iranischen Regierungsvertretern in der Bundesrepublik ihre Sorge über die Verletzung von Menschenrechten zum Ausdruck gebracht. Der Sprecher der Bundesregierung hat ferner gegenüber Meldungen, in denen von dem Versuch die Rede war, den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13183
Dr. EhmkeSchah durch sogenannte Vollstrecker ermorden zu lassen, erklärt, daß ein solches Vorgehen außerhalb jeder zivilisierten Rechtsordnung stehe.Für die Sozialdemokratische Partei hat ihr Sprecher am 13. Juni erklärt, daß die SPD mit Sorge und Bestürzung die Prozesse und Urteile im Iran verfolge. Sie hat die dafür Verantwortlichen daran erinnert, daß die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Gerichte sowie die Durchsetzung der Prinzipien der Menschenrechte entscheidender Bestandteil der demokratischen Widerstandsbewegung gegen das Regime des Schah gewesen ist. Unrecht kann nicht durch Unrecht wiedergutgemacht werden.
Auch unsere drei Faktionskollegen Coppik, Gansel und Thüsing haben bei ihrem Besuch im Iran mit Nachdruck diese Kritik vorgebracht. Sie haben das im einzelnen dargestellt. Leider ist nach ihrer Rückkehr ihr Verständnis für die schwierige und gefährliche Lage, die heute im Iran herrscht, mißdeutet und mißinterpretiert worden als Einverständnis mit der Tätigkeit der Revolutionsgerichte. Das Gegenteil haben sie gesagt, wenn man die Texte liest.Meldungen des heutigen Tages, daß an eine Änderung der Revolutionsgerichte gedacht sein soll, möchte ich noch nicht bewerten, da die Meldungen so widersprüchlich sind, daß man sich kein rechtes Bild machen kann.Aber ich muß nun auch darauf hinweisen, Herr Kollege Lenz, daß die Sozialdemokraten in früheren Jahren auch den Schah und seine Regierung wegen Verletzung von Menschenrechten kritisiert und sich mit den Zielen der demokratischen Opposition im Iran solidarisiert haben. Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit — sie ist eine zentrale Frage — muß sich die Opposition fragen lassen, was sie denn damals an Anträgen in diesem Haus gestellt hat, als unter der Herrschaft des Schahs Menschenrechte in massiver Form verletzt worden sind.
Ich sage das jetzt gar nicht polemisch, weil ja immer die Gefahr besteht — ich komme nachher auf ein Beispiel, wo wir in der umgekehrten Versuchung sein könnten —, es einseitig zu sehen. Für alle im Hause gilt, daß wir in Fragen der Menschenrechte nicht nach irgendeiner taktischen Einschränkung urteilen können, noch nicht einmal nach Sympathien und Antipathien. Um ein Beispiel anzuführen: Wer die Menschenrechtsverletzungen unter den faschistischen Regimen in Portugal, Spanien und Griechenland nicht kritisiert hat, der hat eine sehr schwache Stellung, zu Menschenrechtsverletzungen im Ostblock Stellung zu nehmen. Wenn Franz Josef Strauß Sympathie für die Diktatur Pinochets in Chile erklärt hat — wörtlich hat er dazu gesagt: Es ist einfach Unsinn, davon zu reden, daß in Chile gemordet und gefoltert wird
— ein Interview im Deutschen Fernsehen vom 25. November 1977 —, dann verhöhnt er damit nicht nur Tausende von Menschen, die in Chile verfolgt und gefoltert worden sind, sondern er macht sich auch unglaubwürdig in Sachen Menschenrechten.
Das gleiche gilt für das offene Eintreten für die Apartheid in Südafrika. — Ich verstehe nicht, daß Sie jetzt erregt sind. Ich sage noch einmal: Wir machen uns selbst unglaubwürdig, wenn wir zu allen diesen Dingen nichts sagen und dann plötzlich einen Fall herausgreifen und hier darstellen. Ich teile Ihre Meinung in diesem Fall. Aber wir müssen es uns alle zur Regel machen: man darf auf keinen Fall - wir alle dürfen es nicht — das Bekenntnis zu. Menschenrechten politisch instrumentalisieren und damit die Menschenrechte gewissermaßen zu einem Schlaginstrument im politischen Kampf machen.Lassen Sie mich das zum Schluß an einem Beispiel belegen, das uns schon seit Wochen in Atem hält, am Beispiel des Befreiungskampfes des Volkes von Nicaragua gegen die Somoza-Diktatur. Heute gab es eine Meldung, die inzwischen bestätigt worden ist — von der provisorischen Regierung selbst, wenn ich es der Meldung recht entnehme —, daß sandinistische Einheiten 130 Anhänger Somozas erschossen haben. Es heißt in der Meldung, daß „Tribunale der Gerechtigkeit" eingerichtet würden, die offenbar die Abrechnung mit den Leuten Somozas machen sollen. Eine solche Rachejustiz kann von uns nicht gebilligt werden, von keinem in diesem Hause.
Aber, Herr Lenz, wenn ich das sage, dann sage ich auch ein offenes Wort darüber, was ich von dem Somoza-Regime halte. Das ist ein Diktator, der Nicaragua wie eine Privatplantage behandelt und die Bürger des Landes wie seine Leibeigenen. Das ist ein Regime, wo es ausreicht, jung zu sein, um liquidiert zu werden. Das ist ein Regime, das seine Söldner Bomben in die Slums der Hauptstadt werfen läßt ohne jede Rücksicht auf Frauen und Kinder. Ich hätte mir gewünscht, die Vereinigten Staaten und auch die lateinamerikanischen Staaten hätten noch viel früher, als sie es jetzt getan haben, sich klar und deutlich von diesem Regime distanziert.
— Sicher, auch darüber rede ich, Herr Jäger. Aber gerade eine solche Aufrechnung halte ich für falsch. Ich sage Ihnen zum Beispiel auch: wir alle haben uns — ich glaube, mit Ausnahme des Bundeskanzlers — in einem Fall falsch verhalten. Wir haben so getan, als ob Kambodscha so weit weg liege, daß wir zu dem, was in Kambodscha passiert ist, nicht Stellung nehmen müßten. — Ja, so haben wir getan.
Metadaten/Kopzeile:
13184 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. EhmkeEs gibt keine entschiedene Äußerung der Parteien zu dieser Frage, und dort ist Furchtbares geschehen. Ich sage das an uns alle gerichtet.
— Ich sage nicht, daß wir darüber nicht geredet haben, aber im Ausmaß zu dem, was dort passiert ist, war eigentlich unsere Reaktion und die Reaktion auch der übrigen Welt des Westens erstaunlich schwach. Denn dort sollen die Verluste nach dem, was man in Berichten liest, die Million überschritten haben.Die in der Sozialistischen Internationale zusammengefaßten Parteien haben die Somoza-Diktatur seit Jahren kritisiert. Folgerichtig hat die Sozialistische Internationale jetzt auch die Errichtung einer provisorischen Regierung für die demokratischen Kräfte in Nicaragua begrüßt. Der Parteirat der Sozialdemokratischen Partei hat sich auf seiner letzten Sitzung dieser Entschließung angeschlossen. Er hat gleichzeitig die Bundesregierung gebeten, sich darauf vorzubereiten, in Nicaragua Hilfe für den Wiederaufbau zu leisten, wenn der Bürgerkrieg beendet sein wird.Ich bin der Meinung, wenn wir uns einmal darüber verständigten, daß nicht der eine auf dieses und der andere auf jenes Beispiel zeigt — es gibt für jeden von uns immer „angenehmere" und „unangenehmere" Beispiele —, dann würden wir der Sache der Menschenrechte einen guten Dienst erweisen. Wir würden sie in ihrer eigenen Würde belassen, statt sie zu instrumentalisieren. Wenn wir uns dann noch darüber einigen könnten, daß es darauf ankommt, sich nicht nur verbal zu den Menschenrechten zu bekennen, sondern auch eine Politik zu machen, die den bedrohten Menschen aktuell hilft, dann hätten wir ein wichtiges Stück Gemeinsamkeit in einer Grundsatzfrage in diesem Hause entweder wiederhergestellt oder, wenn sie vorhanden ist, auch der Offentlichkeit gegenüber dargestellt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schäfer .
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU ist nach unserer Auffassung zwischen der ihm zugrunde liegenden Substanz, nämlich der Verurteilung der im Iran herrschenden islamischen Revolutionsgerichtsbarkeit und der vorgeschlagenen Methode zu unterscheiden, Herr Lenz, nämlich den von ihr betroffenen Menschen zu helfen.Auch wir betrachten die Art und Weise, in der sogenannte Revolutionsgerichte Schnellverfahren durchführen, Todesurteile fällen und vollstrecken, als Verstöße gegen die Menschenrechte und als Mißachtung international herrschender Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.
Besonders erschreckend finden wir, daß Todesurteile offensichtlich keineswegs nur gegen solche Personen verhängt wurden, die während der Herrschaft des Schahs Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben — was allerdings außer Zweifel steht —, sondern auch gegen Menschen, denen, wie es so schön heißt, Kampf gegen Allah und seine Diener, Verbreitung des Bösen auf Erden, Homosexualität oder Verschwörung und Zusammenarbeit mit dem Zionismus vorgeworfen werden. Wir halten es für unerträglich, daß selbstverständliche rechtsstaatliche Prinzipien wie die Offentlichkeit des Verfahrens und die Zulassung von Verteidigern nicht eingehalten werden, abgesehen davon, daß diese Gerichte nicht mit qualifizierten Richtern besetzt sind.Die Darstellung der Hingerichteten im iranischen Fernsehen und in der Presse hat ein weiteres dazu getan, die Weltöffentlichkeit zu schockieren. Wir wissen zwar inzwischen, daß es unter dem Deckmantel des letztlich doch totalitären Regimes des Schahs zu schrecklichen Ausschreitungen der Geheimpolizei Savak gekommen ist und daß der größte Teil der Bevölkerung des Iran die Prozesse vor den Revolutionsgerichten offensichtlich für gerechtfertigt hält; wir müssen aber Herrn Khomeini ernsthaft fragen — das hat, glaube ich, auch Herr Ehmke schon getan —, ob er wirklich glaubt, der großen und bewunderungswürdigen Religion des Islams in der Weltöffentlichkeit dadurch zu dienen, daß er auf diese Weise grausame Rachejustiz üben läßt.Die Bundesregierung hat zu den Vorgängen im Iran keineswegs geschwiegen. Zu wiederholtem Male hat sie in direkter Form ihre Betroffenheit zum Ausdruck gebracht und an die Verantwortlichen im Iran appelliert, den Menschenrechten Geltung zu verschaffen und den Angeklagten ein faires Verfahren zu garantieren. Das gilt auch für unsere Partner in der EG und die Vereinigten Staaten.Die Deutsche Botschaft in Teheran hat sich immer wieder eingeschaltet und im Kontakt mit iranischen Regierungsstellen unsere Kritik vorgetragen. Dem Staatssekretär im iranischen Innenministerium, Herrn Dr. Tabatabai, wurde zuletzt bei seinen offiziellen Gesprächen im Mai dieses Jahres — u. a. mit Staatssekretär van Well, mit Herrn Wischnewski, mit Herrn Minister Graf Lambsdorff — die deutsche Kritik an diesen Verfahren sehr deutlich vorgetragen.Bisher hatten die Proteste immerhin offensichtlich den Erfolg, daß seit Mitte April wenigstens auch Verurteilungen zu Freiheitsstrafen und sogar Freisprüche erfolgt sind. Es bleibt zu hoffen — das betone ich —, daß es der iranischen Regierung gelingt, endlich Kontrolle über die bisher dem Ayatollah Khomeini unmittelbar unterstellten Gerichte zu gewinnen. Äußerungen führender islamischer und iranischer Politiker, auch der Rücktritt des Justizministers Mobasheri, deuten darauf hin, daß auch dort Unbehagen über diese Vorgänge herrscht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13185
Schäfer
Andererseits, meine Damen und Herren, müssen wir natürlich auch iranische Kritik am Westen sehr ernst nehmen: wir mäßen mit zweierlei Maß, hätten uns unter dem Schah-Regime für die Menschenrechte keineswegs so leidenschaftlich eingesetzt, wie wir das jetzt tun. Daß hier Unterlassungen vorliegen — Herr Ehmke hat darauf hingewiesen —, sollten wir nicht zu leugnen versuchen.Um so mehr gilt es nunmehr, behutsam zu verfahren. Damit komme ich zu der Methode, die der Antrag der Opposition vorsieht. Ziffer 2 Ihres Antrages erscheint mir etwas anmaßend, weil es uns wohl kaum zusteht
— ich zitiere jetzt —, „alle Regierungen, deren Länder Mitglieder der Vereinten Nationen sind", aufzufordern, „Vollstrecker von Todesurteilen als gemeine Mörder" zu verfolgen. Wir sollten wirklich Vertrauen zu der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten der UN haben und uns nicht zu der Pose moralischer Lehrmeister versteigen.
Alle weiteren Maßnahmen müssen mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft sehr sorgfältig abgewogen und abgestimmt werden und sich vor allem an den Betroffenen orientieren. Einen spektakulären Alleingang, wie der Antrag der Opposition ihn vorsieht, halten wir nicht für eine sinnvolle und erfolgversprechende Maßnahme.
Gerade vor dem Hintergrund unserer vergangenen intensiven politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu dem Regime des Schahs sollten wir uns hüten, die Dinge zu überziehen.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Bitte schön.
Herr Kollege, ist Ihnen entgangen, daß sich die in Ziffer 2 enthaltene Forderung der CDU/CSU nicht auf einen Alleingang der Bundesregierung, sondern auf einen Antrag bezieht, der zu einem Beschluß der Vereinten Nationen erhoben und als solcher dann an alle den Vereinten Nationen angehörenden Staaten gerichtet werden soll?
Herr Jäger, ich bin grundsätzlich der Auffassung — das ist eine in der Außenpolitik dieser Bundesregierung vertretene' Auffassung —, daß wir alle Schritte in den Vereinten Nationen mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft sehr sorgfältig abstimmen und keine Alleingänge in einer so prekären Frage unternehmen sollten.
Lautstarke Demonstrationen, Herr Jäger, könnten leicht das Gegenteil von dem bewirken, was wir
eigentlich wollen, nämlich den einzelnen Betroffenen zu helfen. Sie könnten auch den Prozeß einer von uns erhofften Normalisierung im Rahmen unserer fortbestehenden und meiner Ansicht nach durchaus hinnehmbaren, vielleicht sogar befriedigenden Beziehungen zur iranischen Regierung eher stören. Wir sollten das, meine Damen und Herren, bei den Beratungen dieses Antrags in den zuständigen Ausschüssen ernsthaft bedenken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Marx.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Der eigentliche Führer des Iran, der Ayatollah Khomeini, hat kürzlich in einer Rede in Ghom radikale Heißsporne in seinem Lande vor den verherrenden Folgen ihrer, jedes internationale Recht verletzenden Taten gewarnt. Er sagte:Wenn wir einen falschen Schritt tun, wird die Welt Schande auf den Islam laden.Er fügte hinzu:Wenn wir die Ehre des Islam antasten, dann haben wir die Katastrophe herbeigeführt.In diesen Sätzen drückt jener Mann, der Persien mit unbeirrter Hartnäckigkeit in die Revolution geführt, den Schah vertrieben, das alte Regime gestürzt und versucht hat, eine Islamische Republik zu begründen, die Gefahren aus, die seinem Land heute drohen, ihm deshalb drohen, weil seine eigenen engen Freunde — eben unter Berufung auf den Islam als der alleinigen, alle Lebensbereiche, auch das Recht und den internationalen Umgang bestimmenden Macht — nicht einen islamisch-iranischen Gottesstaat herbeigeführt, sondern dieses wichtige Land im Mittleren Osten jetzt an den Rand der Anarchie gedrängt haben. Religiöse Eiferer und sektiererische Fanatiker sind es, die durch ihre geheimen Gerichte und gnadenlose Todesurteile, durch ihre öffentlichen Aufforderungen zum Mord und zum rigorosen Eingriff in die Souveränität anderer Staaten das Bild und Ansehen Persiens, die Ehre dieses Landes auch nach dem Abgang des Schahs befleckt haben. Dies, Herr Kollege Ehmke, ist ein wichtiger Punkt, der in Ihren Darlegungen, die uns ansonsten die Möglichkeit geben, auch einmal im Ausschuß vertieft darüber zu sprechen, gefehlt hat. Sie haben kein Wort zur Aufforderung gesagt, in anderen Ländern desjenigen, den man für vogelfrei erklärt hat, habhaft zu werden.
— Herr Ehmke, ich glaube, es wäre wichtig gewesen, von Ihrer Seite in diesem Punkt, der uns ganz besonders betrifft und der das eigentliche Zentrum oder — wenn Sie so wollen — der Anlaß unseres
Metadaten/Kopzeile:
13186 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Dr. MarxAntrags ist, von Ihnen im Parlament etwas Deutlicheres zu hören.
Ich möchte sagen, daß wir uns gegen die arroganten Aufrufe, vogelfrei erklärte Personen sollten überall in der Welt, wo man sie findet, hingerichtet werden, wenden und daß wir uns gegen die Aufforderung an die zivilisierte Staatengemeinschaft wenden, jene Mörder, welche als Arm der Revolutionsgerichte verstanden werden, straffrei zu lassen. Wir wenden uns — so steht es über dem Antrag — gegen die Mißachtung der elementaren Menschenrechte. In unserem Antrag machen wir ausdrücklich einen Unterschied zwischen dem persichen Volk, mit dem wir uns seit langen Jahren gegenseitiger Achtung und Freundschaft verbunden wissen, und jenen kleinen, aber offenbar mächtigen Gruppen, die in blinder Rachsucht die Gesetze der Zivilisation verachten.Ich möchte gern mit Nachdruck darauf hinweisen, daß sich auch der persische Ministerpräsident Bazargan gegen die eilig organisierten Tötungsprozesse in seinem Land gewandt hat, vor allem gegen die in den letzten Wochen wiederholten Aufrufe zu Mord in fremden und fernen Ländern. Uns kommt es darauf an, meine verehrten Kollegen, durch unseren Antrag und durch diese Debatte klarzumachen, daß wir bereit sind, einer gemäßigten Regierung, die weiß, daß ihr Land auch den Menschenrechten verpflichtet ist, und die sich auch um die Durchsetzung der Menschenrechte in einer schwierigen geschichtlichen Phase bemüht, zu helfen. Natürlich wissen wir, daß die Anforderungen der Außenpolitik und die ihr innewohnenden Bedingungen nicht auf das Thema der Menschenrechte reduziert werden können. Es geht uns aber darum, unsere außenpolitischen Beziehungen zum Iran zu erhalten und auszubauen und alle Störungen, wie wir sie in der Aufforderung der Ayatollah Khalkhali, die der Kollege Lenz vorhin zitiert hat, nämlich zur Einsetzung international tätiger Banden, sehen, entschieden zurückzuweisen und auszuschalten.Heute sind — Herr Lenz hat darauf hingewiesen — die Zeitungen wieder voll von Berichten und Kommentaren über die Jagd nach dem Schah. Haß und Anmaßung, über die Grenze und in die Rechte anderer Völker eingreifen zu dürfen, wird in Khalkkhalis jetzt publiziertem Anspruch deutlich, daß der Schah in jedem Falle — man höre die Wortwahl —„abgeknallt" werde und man ihn sogar aus einem versteckten Winkel, wie man sagt, des Weißen Hauses in Washington herauszerren werde. Gestern haben Boulevardzeitungen mit entsprechenden Überschriften von einem Hubschrauberattentat auf den Schah in Mexiko berichtet. Heute erscheint dies alles als Ausbund von Gehirnen, die nur noch auf Sensationen eingestellt sind und die nichts mehr für unmöglich halten. Die mexikanische Regierung hat alle diese Meldungen dementiert.Trotzdem verdient festgehalten zu werden, daß sich, als die Attentatsmeldung kaum über die Tikker gelaufen war, wiederum der genannte Ayatollah Khalkhali zu Wort meldete, die sogenannte Verantwortung, wie man sich bei ähnlichen Fällen zu sagen angewöhnt hat, für sich übernommen hat und jenes Kommando laut rühmte, in welchem angeblich auch PLO-Mitglieder mitwirkten, das die Tat begangen haben soll.
Es ist die Dimension einer solchen, bewußt die internationale Ordnung aus den Angeln hebenden Aktion, die uns zwingt, diese Vorgänge öffentlich aufzugreifen. Es ist keineswegs der Wunsch, in interne Verhältnisse anderer Länder hineinzureden. Aber die Verletzung der Menschenrechte ist heute — wo immer sie verletzt werden, Herr Kollege Ehmke; da sind wir sehr einig — zu bedauern. Das ist unabhängig davon, in welchem Land das auch immer sei; denn die Menschen, denen die Rechte weggenommen werden und die unter Verleugnung der Menschenrechte gequält werden, spüren überall den gleichen Schmerz und entbehren überall in einem vergleichbaren Maße der Freiheit, wenn sie ihnen genommen wird.
Die Verletzung der Menschenrechte ist heute also kein internes, auf einen einzelnen Staat oder auf seine inneren Verhältnisse beschränktes, sondern ein internationales Problem. In diesem Falle, den wir jetzt behandeln, ist das um so mehr der Fall, da in Ländern jenseits der iranischen Grenze Menschenrechtsverletzungen verübt werden sollen und auch die Staatengemeinschaft aufgefordert wird, sie solle die Hand dazu bieten, daß bei ihr selbst Menschenrechte ohne Strafe verletzt werden können.Wir glauben, daß unser Antrag auch über die Überschrift „Verletzung der Menschenrechte im Iran" hinausgeht; denn wir wollen in dieser Debatte gleichzeitig auf die jüngst hochgekommenen vielfältigen Formen der Zerstörung internationaler Moral und Verwilderung der allgemeinen Sitten hinweisen. Mit dem international geführten und nationale Rechtfertigung suchenden Terrorismus gegen Israel hat es begonnen. Im Namen roter Kampfdiktaturen gegen „die Herrschenden", wie man sagte, wurde versucht, die Gesetze der Unterwelt den nationalen und internationalen Gemeinschaften und Gesellschaften aufzudrängen.Im Zusammenhang mit dem Massaker vom 16. Juni 1979 gegen alawitische Kadetten und Offiziere in der syrischen Stadt Aleppo gibt es Meldungen über angeblich von deutschem Boden ausgehende Verschwörungen. Laut „dpa" meldet die Beiruter Zeitung „Al Safir" am vorgestrigen Tage, daß offizielle Vertreter der syrischen Regierung in der Baath-Partei angekündigt hätten, Anführer der sogenannten Moslem-Bruderschaft, die in der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich leben, sollten liquidiert werden. Man habe, so heißt es, diese Feinde genau identifiziert; ihre Aufenthaltsorte in unseren Ländern seien bekannt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13187
Dr. MarxFalls diese Meldung stimmt, gibt es also neben den Aufforderungen des Ayatollah Khalkhali aus ganz anderer Quelle stammende Absichten, dieses Mal auch auf unserem, auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland Racheexpeditionen zu unternehmen. In diesem Zusammenhang erinnern wir uns mit Schmerz an die Mordserie gegen türkische Botschafter und gegen arabische Diplomaten in europäischen Staaten und den USA. „Wann findet dieser Spuk wohl ein Ende?" fragt in der heutigen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Harald Vocke. Er meint dabei die Entwicklung in Persien, und seine Antwort auf diese Fage ist eher skeptisch als hoffnungsvoll.Für uns aber, meine verehrten Kollegen, die wir im deutschen Parlament unsere Meinung zu all diesen bedrohlichen Entwicklungen frei und offen sagen können, die wir uns gegen Terrorunternehmen entschieden zur Wehr setzen, ist es, wie ich glaube, Zeit, gemeinsam — wenn ich ;,gemeinsam" in dieser Sache sage, meine ich: ohne Unterschied der Fraktionen und auch ohne Berücksichtigung all der verschiedenen Probleme, die uns sonst trennen mögen — jedem Anschlag auf die Freiheit, auf das Asylrecht und auf unsere gesetzliche Ordnung entschlossen entgegenzuwirken.
Wir können das in diesem Hause tun, aber auchdort, wo unsere Stimme von Gewicht ist, nämlich— Herr Ehmke, das ist ja Teil zwei des Antrages— in der Europäischen Gemeinschaft, in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Natürlich will niemand von uns Alleingänge. Aber wir möchten die Regierung gerne bitten, davon auszugehen, daß sie in all diesen Unternehmungen auch die Stütze und die Hilfe der Opposition in Anspruch nehmen kann.Wir sind sicher, daß es in vielen Ländern der Welt gleiche oder zumindest ähnliche Gedanken, Vorstellungen und Wertungen gibt wie bei uns. Die Vereinten Nationen, welche sich oft sehr eifrig bei der Verurteilung ihr unliebsamer Handlungen zeigen, sollten ohne besondere Schwierigkeit, ihrer eigenen Charta folgend, bereit sein, einer inhumanen Bewegung entschieden — wenn es geht, sollten das alle Mitglieder der Vereinten Nationen miteinander tun — entgegenzutreten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist über alle Fraktionen hinaus klar, daß wir die Tätigkeit von Mörderkommandos, ganz egal aus welchem Lande sie entsandt sein sollten, in der Bundesrepublik Deutschland nicht dulden können und daß wir die Regierung gemeinsam auffordern, gegen die Tätigkeit solcher Mörderkommandos, falls sie in diesem Lande avisiert sein sollten, frühzeitig etwas zu tun.Für uns Sozialdemokraten ist der Einsatz für die Prinzipien der Menschenrechte keine taktische Frage. Das ist für uns eine grundsätzliche Frage.
— Für Sie auch; das akzeptiere ich. — Noch viel mehr ist es für uns eigentlich auch die Frage, wie wir einzelnen Menschen im konkreten Einzelfall helfen können. Insofern können wir gemeinsam auf die Einhaltung der Menschenrechte im Iran drängen.Ich möchte dem, was bisher an Sorgen und an Bedenken gegen bestimmte Entwicklungen geäußert worden ist, sogar einige Punkte hinzufügen. Für mich sind es nicht nur die Revolutionsgerichte, für mich genauso wie für Norbert Gansel und die Kollegen Thüsing und Coppik ist es das Prinzip der Todesstrafe überhaupt, das wir als Sozialdemokraten ablehnen, was wir durchaus auch aus diesem Hause in den Iran hinein sagen sollen.Wir sind für rechtsstaatliche Verfahren, und wir sind für die Gleichberechtigung der Frau. Auch wenn diese im Entwurf der Verfassung jetzt vorgesehen sein sollte, ist es so, daß wir für die konkrete Ausgestaltung, wie sie sich dort anbahnt, keinerlei Verständnis haben; ich halte sie für völlig unzureichend. Auch geht es um die Art und Weise— die wir ja in vielen Ländern erleben —, wie das Prinzip der freien Presse und der freien Berichterstattung eingeschränkt werden soll.Das alles ist uns, so hoffe ich, gemeinsam. Was mich aber bei dieser Diskussion hier doch etwas stört, ist, daß Sie von der CDU/CSU bisher kein Wort über das undemokratische, menschenrechtsverachtende Regime des Schah und die Tätigkeit des Savak im Iran und auch, so muß ich annehmen, auf deutschem Boden gesagt haben.Ich habe zu denjenigen gehört, die am 2. Juni 1967 gegen den Schah von Persien demonstriert haben, und ich habe es als beschämend empfunden, wie sich Politiker damals mit dem Schah-Regime solidarisiert haben.
Als ebenso beschämend habe ich es empfunden, daß Alfred Dregger noch im April 1977 gesagt hat, der Iran sei eines der stabilsten Länder der freien Welt, und die Politik des Schah Reza Pahlewi sei so überzeugend, daß er diese Politik offensiv vertreten sollte. Am 21. April 1977 hat er auf die ausdrückliche Frage, ob er in dem anderthalbstündigen Gespräch mit dem Schah auch die Gelegenheit wahrgenommen hat, auf die Lage der politischen Gefangenen und auf Todesurteile hinzuweisen, nichts anderes zu antworten gewußt als:Aber ich halte es für arrogant, zu meinen, daß wir unsere Maßstäbe auf alle Teile der Welt anwenden könnten und daß wir sie für alle Teile der Welt ohne weiteres verbindlich machen könnten.Nun kann man sich in der Einschätzung des Iran irren. Ich habe diese Äußerungen damals verurteilt
Metadaten/Kopzeile:
13188 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979
Voigt
und würde sie auch heute verurteilen, aber man kann sich irren.
Jedoch würde ich Sie doch darum bitten, daß Sie, wenn Sie jetzt Menschenrechtsverletzungen und bedrohliche Entwicklungen gegen die Demokratie im Iran verurteilen, wenigstens heute bereit sind, das undemokratische und menschenrechtsverachtende Regime des Schah wenigstens nachträglich zu kritisieren.Ich halte es—entschuldigen Sie das harte Wort — ein wenig für Heuchelei, wenn man Mißstände und bedenkliche Entwicklungen dort heute kritisiert, aber zu früheren Mißständen im selben Lande weiterhin schweigt und keine Korrektur früherer Positionen vornimmt.Außerdem halte ich es für wichtig, daß wir in der heutigen Diskussion deutlich machen, daß unsere Kritik an den Entwicklungen im Iran eine Solidarität mit denjenigen ist, die nach wie .vor im Iran für Rechtsstaatlichkeit, für mehr Demokratie und für Gleichberechtigung der Frauen ringen — offensichtlich auch innerhalb der Regierung ringen, denn auch dort gibt es unterschiedliche Strömungen.Vor allen Dingen halte ich es für wichtig, daß wir heute in der Debatte deutlich machen, daß diese Kritik nicht eine Kritik an oder ein Vorurteil gegenüber den Grundsätzen des Islam ist, sondern daß wir eigentlich mehr als bisher bereit und willens sind, uns in ein konstruktives Gespräch mit dem Islam zu begeben. Der Kollege Barzel hat das anläßlich einer anderen Debatte hier im Bundestag einmal gefordert, und ich halte das für eine wichtige Forderung. Ich habe in den letzten Monaten mit Bedauern festgestellt, daß die deutsche Presse zum. großen Teil doch weniger zur Aufklärung über Geschichte und Wirklichkeit des Islam als dazu beigetragen hat, Vorurteile zu schüren. Mir scheint, gerade Christdemokraten sollte es gut anstehen, für Motivationen von Politik, die aus anderen Religionen gespeist werden, Verständnis zu entwickeln oder zumindest um Verständnis zu werben.Es sollte uns auch zu denken geben, daß viele derjenigen, die heute dort für die Reislamisierung im Iran eintreten, in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland studiert haben. Haben wir ihnen in der Zeit, als sie hier studiert und gearbeitet haben, die christlichen Prinzipien, die christlichen Wertvorstellungen, die Wertvorstellungen der Demokratie nicht glaubwürdig genug vorgelebt, daß sie sie für ihr Land als vorbildlich empfanden? Haben wir sie in eine Ecke getrieben, wo sie nachher selber vor allen Dingen davon geprägt waren, wie sie gegenüber Europa ihre eingenständigen Wertvorstellungen und Kulturprinzipien realisieren sollten, statt mit Europa und in Zusammenarbeit mit Europa? Ich glaube, daß das uns sehr zu denken geben sollte.Wir sollten außerdem heute noch ein wenig im Gedächtnis behalten, wie viele sich von uns — ich will mich dabei gar nicht ausschließen — über die Entwicklung im Iran nach dem Schah geirrt haben und wie vielen vorschnellen Urteilen wir teilweise unterlegen gewesen sind. Zum Beispiel hieß es unmittelbar nach dem Sturz des Schahs und am Ende des Schah-Regimes, daß dies eine von der Sowjetunion mehr oder weniger inszenierte Sache sei oder daß die Sowjetunion davon profitieren würde. Davon spricht heute kaum noch jemand. Je mehr man die Entwicklung und die Spannungsverhältnisse zwischen dem Iran und Afghanistan und die Entwicklung in Afghanistan beobachtet, desto mehr werden ganz andere Sorgen laut.Ich meine, daß wir auch für die Zukunft nicht bei jedem Sturz eines Regimes, das für prowestlich gehalten wird, von vornherein gleichzeitig sagen sollten, dahinter stecke die Sowjetunion. Das würde im Umkehrschluß bedeuten, wir müßten jedes korrupte antidemokratische Regime verteidigen, nur weil es sich als prowestlich erklärt und weil dahinter irgendein anderes Regime oder eine andere Regierung kommen könnte, die sozusagen demokratische und soziale Argumente nur als Vorwand benutzt.
Wir sollten dort in Zukunft in der Beurteilung vorsichtiger sein. Das meine ich auch in bezug auf andere Länder im Nahen Osten und im Mittleren Osten, besonders auch in der arabischen Welt, wo wir wohl ein bißchen der Gefahr erliegen, auch heute wieder kurzfristig auf einige Staaten zu setzen und sie mit Waffen auszurüsten und zu meinen, daß sich damit das Problem der innergesellschaftlichen Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit lösen ließe.Wir haben in bezug auf die Beurteilung des Schah-Regimes in diesem Lande ein Zuviel an öffentlicher Unterstützung lange Jahre hindurch aufrechterhalten. Gerade diejenigen, die das gemacht haben, sollten jetzt zur Selbstkritik bereit sein. Gemeinsam aber sollten wir auch diejenigen, die das Schah-Regime verurteilt haben, heute auf die Einhaltung demokratischer Prinzipien im Iran drängen und auf die Einhaltung von Menschenrechten ebenfalls drängen und auch konkret versuchen, einzelnen Menschen zu helfen.Gemeinsam bleibt uns die Aufgabe, das Gespräch mit dem Islam und auch mit den Völkern und ihren Kulturen im Nahen und Mittleren Osten mehr als bisher zu suchen. Die Kooperation mit diesen Ländern ist nicht nur eine sicherheitspolitische Frage. Sie ist es am allerwenigsten. Sie ist auch nicht nur ein ökonomische Frage. Sie ist auch eine Frage der Bereitschaft Europas, andere Wertvorstellungen zu akzeptieren, ohne eigene Menschenrechtsprinzipien und demokratische Prinzipien preiszugeben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1979 13189
Vizepräsident Frau RengerDer Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrages auf Drucksache 8/2971 an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und an den Rechtsausschuß — mitberatend — vor. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Bitte, haben Sie noch einen Moment Geduld. Ich darf daran erinnern, daß vom 1. bis 4. Juli, also vom Sonntag bis Mittwoch, Präsenzpflicht der Abgeordneten des Deutschen Bundestages besteht.Am Sonntag versammeln sich um 11 Uhr die Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates hier zur gemeinsamen Sitzung anläßlich der Eidesleistung des Bundespräsidenten. Nach den Fraktionssitzungen am Montag findet die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages am Dienstag, dem 3. Juli 1979, statt, die ich hiermit für 9 Uhr einberufe.Die Sitzung ist geschlossen.