Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste „Zusatzpunkte zur Tagesordung" aufgeführten Beratungspunkte ergänzt werden:
1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anzeige und Beanstandung von Landpachtverträgen
— Drucksache 8/2615 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschuß
2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes — Drucksache 8/2651 —Überweisungsvorschlag :
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Mutterschutzgesetzes
— Drucksache 8/2667 —Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Der unter Punkt 7 b der Tagesordnung aufgeführte Gesetzentwurf zur Verbesserung der Jugendhilfe soll abgesetzt werden. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so 'beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 41 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 8/2586 —
b) Beratung der Sammelübersicht 42 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 8/2633 —
Das Wort zur Berichterstattung hat Herr Abgeordneter Dr. Becker .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Um größere Gerechtigkeit für einen Personenkreis, der unserer besonderen Unterstützung bedarf, geht es bei dem Ihnen in der Sammelübersicht 42 vorliegenden Antrag, eine Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen.Es geht um die den ehemaligen politischen Häftlingen der DDR gewährten Eingliederungshilfen. Nach dem Häftlingshilfegesetz sind dafür bestimmte Beträge vorgesehen, die nach der Haftdauer gestaffelt sind. Dabei gibt es außer den sogenannten Eingliederungshilfen noch zusätzliche Hilfen und Ausgleichsleistungen, wenn die.. Gewahrsamsdauer mindestens zwei Jahre betragen hat. Das führt im Ergebnis dazu, daß die Leistungen einen großen Sprung dort aufweisen, wo die Haftdauer zwei Jahre übersteigt. Ein Unterschied von drei Monaten z. B. führt zu einer Leistungssteigerung von 660 auf 5 530 DM. Der Petitionsausschuß hält es für erforderlich, diesen unbefriedigenden Zustand zu beseitigen. Ein geeigneter Weg dürfte es sein, das Vermögen der durch § 15 des Häftlingshilfegesetzes eingerichteten Stiftung für ehemalige politische Häftlinge entsprechend zu erhöhen.Nachdrücklich sprach sich der Ausschuß ferner dafür aus, das Verfahren bei der Gewährung finanzieller Hilfen zu vereinfachen und die Beratung der Betroffenen über weitere Hilfsmöglichkeiten zu verstärken.Mit einem weiteren Problem haben wir uns in der letzten Zeit viel beschäftigt und dazu auch Vertreter verschiedener Ministerien gehört. Es geht darum, ob Soldaten auf Zeit künftig Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz erhalten sollen, also z. ' B. Arbeitslosenunterstützung oder Zuschüsse zu Aus- und Fortbildungsmaßnahmen. Bisher wurde dies im wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, daß Zeitsoldaten nicht als Arbeitnehmer zu gelten hätten.Als Beratungsunterlage ließen wir uns ausführliches statistisches Material und Berechnungen über die finanziellen Folgen einer Neuregelung geben.11380 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15..März 1979Dr. Becker
I Wir kamen zu dem Ergebnis, daß versucht werden sollte, hier eine Lösungsmöglichkeit zu finden, zumal der jetzige 'Rechtszustand auch von den zuständigen Bundesministerien als unbefriedigend empfunden wird.Wir beantragen daher, dieses Anliegen der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Zugleich werden wir es dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Kenntnis geben, damit er es in die bevorstehende Beratung über die 5. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes einbeziehen kann.
Mit einem Problembereich, der zu meinem speziellen Arbeitsgebiet gehört, nämlich dem Gesundheitswesen, müssen wir uns leider des öfteren beschäftigen, einem Problembereich, der manchem Bürger nicht nur Kopfzerbrechen, sondern auch erhebliche finanzielle Sorgen macht. Zahlreiche Prospekte und Broschüren der Reiseveranstalter versprechen den Bundesbürgern, gerade zu Beginn der neuen Reisesaison, wieder unbeschwerte Urlaubstage im Ausland. Buchen, zahlen und erleben -- das ist die griffige Aussage der meisten Kataloge. Verschwiegen wird aber, daß es für die Touristen, gerade bei Auslandsreisen, häufig ein böses Erwachen geben kann, und zwar dann, wenn am ausländischen Urlaubsort eine ernsthafte Erkrankung auftritt. Wenn dann eine gesonderte Rückführung notwendig wird, so gehen die Kosten in die Tausende. Ein Sonderflug von Teneriffa nach Deutschland ko- stet beispielsweise etwa 20 000 DM. Diese Kosten hat der Tourist selbst zu tragen, auch wenn er gegen Krankheit gesetzlich versichert ist.Diese Rechtsauffassung der gesetzlichen Krankenversicherungen ist durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts im Oktober 1978 bestätigt worden. Für den Bürger bleibt somit nur die Möglichkeit, das mit einer am Urlaubsort auftretenden Erkrankung verbundene Transportrisiko durch den Abschluß einer Privatversicherung abzudecken. Die Ausschußvorsitzende hat daher den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung gebeten, die Bevölkerung auf diese Rechtslage im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit hinzuweisen, um zu vermeiden, daß weitere Bürger auf diese Weise in Not geraten.
Mit welch tragischen Problemen wir uns manchmal beschäftigen müssen, ohne immer sofort und unmittelbar helfen zu können, zeigt folgender Fall: Der Sohn eines Petenten mußte gegen Tollwut geimpft werden. Einige Zeit danach traten bei ihm gesundheitliche Störungen auf, und er muß jetzt als Pflegefall versorgt werden. Ein Entschädigungsantrag wurde vom Versorgungsamt abgelehnt, weil Impfschäden nach Tollwutimpfungen nicht im Bundesseuchengesetz aufgeführt sind. Dieses Gesetz gewährt nämlich eine Entschädigung im wesentlichen nur dann, wenn jemand durch eine gesetzlich vorgeschriebene oder auf Grund des Bundesseuchengesetzes angeordnete oder von den Behörden öffentlich empfohlene Impfung beschädigt worden ist. Das lag aber hier nicht vor.Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß ein öffentliches Interesse an Impfungen, das eine Entschädigungspflicht des Staates bei Impfschäden rechtfertigt, nur dann besteht, wenn durch eine Erkrankung die Allgemeinheit gefährdet wird. Dies aber ist hier — so schwerwiegend eine Tollwuterkrankung für den davon Betroffenen auch ist — nicht der Fall, da diese Krankheit nicht von Mensch zu Mensch übertragen wird. Daher ist das Impfschadenrisiko nicht auf die Allgemeinheit übertragen worden, sondern die Kosten werden von den Krankenkassen erstattet, oder es muß das Bundessozialhilfegesetz eingreifen. Dem Petenten wird bereits ein Pflegegeld gewährt. Wir hoffen jedoch, daß die Bundesregierung die hier offensichtlich bestehende Gesetzeslücke bald schließen wird.
In einem anderen Fall aus dem Gesundheitsbereich konnten wir eine unbürokratische Lösung erreichen: Ein Kind mußte, um eine Verkrüppelung zu vermeiden, an der Wirbelsäule operiert werden. Dafür war dem Vater ein Spezialist in der Schweiz empfohlen worden. Die Krankenkasse wollte nur die Kosten für eine Behandlung in der Bundesrepublik übernehmen. Da die Eltern aber in der Nähe der deutsch-schweizerischen Grenze wohnten, fielen bei der Behandlung in der Schweiz nur geringe Fahrtkosten an. Vor allem konnte der wichtige, enge Kontakt zwischen Eltern und Kind aufrechterhalten werden. Zudem war der schweizerische Arzt eine anerkannte Kapazität. Die Krankenkasse hat sich daher auf unser Ersuchen hin entgegenkommenderweise bereit erklärt, die Kosten für die Operation bei dem Schweizer Arzt ausnahmsweise zu übernehmen.
Meine Damen und Herren, im letzten mündlichen Bericht hatte Frau Kollegin Matthäus-Maier mitgeteilt, daß sich das Bundesverteidigungsministerium bedauerlicherweise nicht zu einer Änderung seiner Ansicht bereit gefunden hatte, Parteiaufkleber auf Kasernenplätzen müßten verboten werden. Sie hatte ihren Bericht mit dem Satz beendet: „Ich hoffe, daß das Verteidigungsministerium seine Meinung doch noch ändern wird." Nun, dies ist leider nicht eingetreten, so daß sich der Ausschuß mit diesem wichtigen Thema erneut beschäftigen mußte.Er hat nach längeren Beratungen mit Mehrheit folgenden Beschluß gefaßt:Der Petitionsausschuß nimmt die abschließende Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung vom 6. November 1978 zur Kenntnis. Er bedauert, daß die Bundesregierung den Beschlüssen des Deutschen Bundestages nicht gefolgt ist.
Der Petitionsausschuß bemängelt, daß der Bundesminister der Verteidigung seine ablehnende Haltung im wesentlichen mit der für die Soldaten nach § 15 des Soldatengesetzes geltenden Rechtslage begründet, obwohl sich die Petitionen nur auf die zivilen Bediensteten der Bun-
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Dr. Becker
deswehr beziehen. Bedauerlicherweise läßt die Stellungnahme trotz achtmonatiger Bearbeitungszeit jede Abwägung zwischen den dienstlichen Erfordernissen der Bundeswehr und der Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung vermissen.
: Das ist aber ungewöhnlich!)
Der Petitionsausschuß bekräftigt erneut seinen Standpunkt, daß die Frage der Parteiaufkleber von zivilen Bediensteten der Bundeswehr nach den für diesen Personenkreis geltenden Vorschriften entschieden werden muß, also unabhängig davon, welche Entscheidung auf Grund des Soldatengesetzes gegebenenfalls für die Soldaten getroffen werden muß.Der Petitionsausschuß verbindet mit diesen Feststellungen die Erwartung, daß die Fraktionen des Deutschen Bundestages seine Auffassung eingehend erörtern, und empfiehlt dem Bundesminister der Verteidigung seine Haltung kritisch zu überdenken.
Er begrüßt es, daß der Bundesminister der Verteidigung in dieser Sache ein Gespräch mit dem Hauptpersonalrat führen wird.Bedauerlicherweise hat sich der Bundesverteidigungsminister bisher nicht zu einer Änderung seiner Auffassung entschließen können. Wir werden den Bundesminister der Verteidigung bitten, zu unserer Entschließung Stellung zu nehmen, weil wir meinen, daß er sich mit diesen Argumenten im einzelnen auseinandersetzen muß, und weil wir hoffen, daß er dabei doch noch zu einem anderen Ergebnis kommen wird.
Da dies der erste mündliche Bericht des Petitionsausschusses in diesem Jahr ist, möchte ich Sie über die wichtigsten Zahlen der Petitionsarbeit im vergangenen Jahr unterrichten. Auch 1978 ist die Zahl der Petitionen weiter angestiegen. Während noch vor wenigen Jahren kaum mehr als 7 000 Eingänge pro Jahr verzeichnet wurden, waren es im vergangenen Jahr fast 14 000, also nahezu doppelt so viele. Zwei Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein, zum einen das verstärkte öffentliche Interesse an der Arbeit gerade dieses Ausschusses, zum anderen aber gewiß auch eine kritischere Einstellung der Bürger gegenüber der Verwaltung. Aus den Landtagen werden übrigens ähnliche Steigerungsraten gemeldet.Um eine ungefähre Vorstellung von der Arbeit zu vermitteln, die vom Ausschußhilfsdienst und vom Ausschuß selbst zu bewältigen ist, noch ein paar weitere Zahlen: Pro Arbeitstag gingen fast 56 Eingaben ein. Das Schwergewicht lag auf dem Gebiet der Sozialversicherung einschließlich der Kinderbeihilfen mit rund 18 °/o. Selbstverständlich aber verteilen sich die Petitionen auf praktisch alle Gebiete der Bundespolitik, von der Verteidigung — mit immerhin mehr als 500 Eingaben, vorwiegend von aktiven Soldaten — über den nach wie vor stark vertretenen Bereich des Lastenausgleichs bis zu Bahn, Post und Verkehr — wo es zur Zeit vor allem um die Lärmbelästigung an den sogenannten Altstraßen geht —, bis zu auswärtigen Angelegenheiten usw. Nicht selten bringen Bürger auch Vorschläge zur Gesetzgebungsarbeit, die wir entweder an die Bundesregierung oder — bei bereits eingebrachten Gesetzgebungsvorhaben — an den zuständigen Fachausschuß weiterleiten. Nach wie vor kommen mehr als doppelt so viele Eingaben von Männern als von Frauen. Immerhin gab es auch 230 Sammelpetitionen mit insgesamt 12 400 Unterschriften. Am eingabefreudigsten waren wiederum die Berliner, denn auf eine Million Einwohner kamen dort 460 Eingaben, mehr als dreimal soviel wie beispielsweise aus dem Saarland.Insgesamt meine ich, daß die Bundesbürger von ihrem grundgesetzlich verbrieften Beschwerderecht noch zuwenig Gebrauch machen. Wenn man alle Eingaben an die Parlamente in Bund und Ländern sowie an den Wehrbeauftragten zusammenzählt, kommen kaum 40 000 Eingaben pro Jahr heraus. Hinzu kommen natürlich die Eingaben, die uns Abgeordnete direkt erreichen.Das bedeutet aber, daß auf i 000 Haushalte in der Bundesrepublik nur zwei Eingaben jährlich entfallen. Hat wirklich nur jeder 500. Haushalt Anlaß, sich über die Verwaltung zu beschweren? Ich meine, hier sollte vor allem noch viel mehr Aufklärung über das wichtige Petitionsrecht betrieben werden. Wir bemühen uns deshalb darum, daß das Petitionsrecht auch in den Veröffentlichungen des Deutschen Bundestages anläßlich seines 30jährigen Bestehens angemessen gewürdigt wird.In einem Gespräch mit dem Generalsekretär der Kultusministerkonferenz haben wir kürzlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, in "den Schulen verstärkt über das Petitionsrecht zu unterrichten. Darüber hinaus sollte sich auch die Wissenschaft stärker dieses Themas annehmen und z. B. untersuchen, warum bisher nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bevölkerung von diesem Grundrecht Gebrauch macht.
Eine nähere Aufgliederung der Petitionen zeigt, daß ein knappes Drittel der Eingaben zuständigkeitshalber an die Landtage ging. Etwa 12 % waren für eine Behandlung im Bundestag ungeeignet, weil sie sich beispielsweise gegen eine Gerichtsentscheidung wandten, auf die wir natürlich wegen der Dreiteilurig der Gewalten keinen Einfluß haben. Von den verbleibenden Eingaben, über die wir sachlich entscheiden konnten, wurden immerhin mehr als ein Drittel entweder voll im Sinne des Petenten oder doch zu seiner Zufriedenheit erledigt.Das Petitionsrecht ist also durchaus nicht etwa ein Luxus der Demokratie, sondern kann Jahr für Jahr vielen Tausenden von Bürgern Hilfe bringen.
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11382 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Becker
Ich möchte Sie nun um Zustimmung zu den Ihnen vorliegenden Sammelübersichten 41 und 42 bitten und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort wird anderweitig nicht gewünscht.
Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses, die in den Sammelübersichten 41 und 42 enthalten sind, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses einstimmig angenommen sind.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines _Gesetzes zur Einführung eines Mutterschaftsurlaubs
— Drucksache 8/2613 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß 96 GO
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Kohl, Carstens , Windelen, Frau Dr. Wex, Franke, Dr. Dregger, Dr. Blüm, Dr. Ritz, Katzer, Dr. Jenninger, Dr. Biedenkopf, Erhard (Bad Schwalbach), Frau Geier, Köster, Pfeifer, Dr. von Weizsäcker, Kunz (Berlin), Dr. Zeitel, Zink, Hauser (Krefeld), Dr. Becker (Frankfurt), Hoffacker, Burger, Vogt (Düren), Haase (Kassel), Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. Waffenschmidt, Frau Verhülsdonk, Vogel (Ennepetal) und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die stufenweise Einführung eines Familiengeldes (Bundesfamiliengeldgesetz — BFGG)
— Drucksache .8/2650 —Überwefsungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß ß 96 GO
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Mutterschutzgesetzes
— Drucksache 8/2667 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort zur Einbringung hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf zurEinführung eines Mutterschaftsurlaubs ist der dritte sozialpolitische Eckpunkt des Programms nach dem Weltwirtschaftsgipfel. Der erste war bereits die massive Verbesserung des Familienlastenausgleichs durch das neue Kindergeld, der zweite die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte. Daran schließt sich jetzt die Einführung des Mutterschaftsurlaubs an. Diese Regelung verdeutlicht für jedermann, der es sehen will, daß sozialpolitischer Fortschritt auch unter ökonomisch schwierigen Bedingungen möglich ist.
Im Vordergrund unseres Vorhabens steht das Ziel eines verbesserten Mutterschutzes für Arbeitnehmerinnen. Es hat sich gezeigt, daß das geltende Mutterschutzgesetz nicht ausreicht. Heute ist die Arbeitnehmerin sechs Wochen vor und normalerweise acht Wochen nach der Entbindung von der Arbeit freigestellt. Die achtwöchige Freistellung nach der ,Entbindung ist in vielen Fällen zu kurz. Nach allen Erfahrungen sind Arbeitnehmerinnen auch nach diesen acht Wochen noch schonungsbedürftig und im Betrieb nicht voll einsatzfähig. Diese Situation soll durch den vorliegenden Gesetzentwurf verbessert werden. Lassen Sie mich die wichtigsten Punkte der Neuregelung hier nennen:Erstens. Im Anschluß an die jetzige Schutzfrist nach der Entbindung wird die Arbeitnehmerin für weitere vier Monate zu Hause bleiben können. Sie wird also auf eigenen Wunsch für insgesamt ein halbes Jahr nach der Entbindung von der Arbeit freigestellt.Zweitens. Die Arbeitnehmerin erhält für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs ihr bisheriges Mutterschaftsgeld weiter. Das sind bis zu 750 DM im Monat. Diese Lohnersatzleistung soll den Arbeitnehmerinnen die Inanspruchnahme des Mutterschaftsurlaubs ermöglichen oder zumindest erleichtern. Viele Arbeitnehmerinnen, gerade die aus den unteren Lohngruppen, könnten ohne diese Ausgleichszahlung das Angebot auf Freistellung gar nicht annehmen.Drittens. Die Arbeitnehmerin bleibt beitragsfrei in der Renten- und Krankenversicherung versichert. Die Beitragsausfälle werden bis 1981 vom Bund erstattet. Im Laufe des Jahres 1981 muß eine Entscheidung über die weitere Finanzierung getroffen werden. Daneben bleibt die Arbeitnehmerin beitragsfrei in der Arbeitslosenversicherung versichert.Viertens. Die Arbeitnehmerin genießt während des gesamten Mutterschaftsurlaubs Kündigungsschutz, so daß sie sich ohne Furcht um ihren Arbeitsplatz, ohne Sorgen um ihre weitere berufliche Entwicklung für den Mutterschaftsurlaub entscheiden kann.Meine Damen und Herren, gegen diese grundlegende Verbesserung des Mutterschutzes hat es eine Reihe von kritischen Stimmen, eine Vielzahl von Diskussionsbeiträgen. gegeben. Es hat Versuche gegeben — und der hier in verbundener Debatte gleichzeitig zu behandelnde Gesetzentwurf einer Mehrheit der Fraktion der CDU/CSU zeigt das
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11383
Bundesminister Dr. Ehrenbergauch —, dieses Vorhaben in eine breite familienpolitische Richtung abzudrängen.
Andere wiederum halten unsere Regelungen für nicht ausreichend und sähen lieber noch weitergehende Verbesserungen des Mutterschutzes. Lassen Sie mich zu dieser Kritik ein paar Anmerkungen machen.Es ist kritisiert worden, daß sich dieser Gesetzentwurf ausschließlich auf berufstätige Frauen bezieht. Der Mutterschaftsurlaub sowie das für diese Zeit zu zahlende Mutterschaftsgeld fügen sich nahtlos in das bestehende Mutterschutz- und Sozialversicherungssystem ein, das seit 1883 Schritt für Schritt fortentwickelt worden ist. Die Verbesserung jetzt bedeutet einen wesentlichen Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dieser Gesetzentwurf kann darum nicht ausschließlich unter finanziellen Gesichtspunkten, unter dem Begriff Mutterschaftsgeld allein, betrachtet werden. Er ist gleichzeitig ein ganz wesentlicher Schritt zur besseren arbeitsrechtlichen Absicherung der Frau.
Dieser 'Ausbau des Mutterschutzes wird von den Gewerkschaften seit Jahren mit guten sozialpolitischen und gesundheitspolitischen Gründen gefordert.
Das Mutterschaftsgeld ist Ausgleich für den bei Inanspruchnahme des Urlaubs entstehenden Lohnausfall. Für eine „Lohnersatzleistung" an nicht erwerbstätige Mütter kann im. Rahmen dieses Gesetzes zur Einführung eines Mutterschaftsurlaubs kein Platz sein. Lohnersatz kann doch nur dort geleistet werden, wo vorher Lohn oder Gehalt bezogen wurden.Wir wollen mit diesem Gesetz den Mutterschutz ausbauen. Hierdurch werden zumindest beim ersten Kind praktisch alle Mütter begünstigt; denn es gibt heute nur noch ganz wenige Frauen, die vor dem ersten Kind nicht berufstätig sind.Es handelt sich hier um eine sinnvolle Fortentwicklung des Mutterschutzes für Arbeitnehmerinnen, eine Fortentwicklung, die Entwicklungen in der Familienpolitik nicht präjudiziert, aber den gegenwärtigen Zustand verbessert.Natürlich befreit die begrüßenswerte Verbesserung des Mutterschutzes niemanden von der Pflicht, über künftige Entwicklungen in der Familienpolitik ernsthaft nachzudenken. Aber es ist für mich kein Zeichen ernsthaften Nachdenkens, sondern eher ein Zeichen totaler Verwirrung, wenn nun die Mehrheit der CDU-Abgeordneten gegen den Willen ihrer Finanzexperten, gegen den Willen der CSU
einen in seiner Finanzierbarkeit und in seinen Folgewirkungen völlig undurchdachten Gesetzentwurfvorlegt, einen Gesetzentwurf, der mit Mutterschutz überhaupt nichts mehr zu tun hat,
der viermal so teuer ist wie der Regierungsvorschlag und der wegen seiner Ungereimtheiten eine Fülle weiterer Probleme aufwirft.
Ich habe neulich beim ersten Durchgang unseres Gesetzentwurfes im Bundesrat mit großem Interesse den Ausführungen des bayerischen Ministerpräsidenten zur Finanzpolitik gelauscht. Wäre er heute hier, würde ich sicher seinen Ausführungen mit noch größerem Interesse lauschen, denn sie würden sicher der finanzpolitischen Unzurechnungsfähigkeit der Autoren dieses Gesetzentwurfes gelten.
Meine Damen und Herren, wer ständig die Finanzpolitik der Bundesregierung kritisiert und dann innerhalb weniger Tage einen Gesetzentwurf mit mehr als 3,6 Milliarden DM an zusätzlichen Bundesausgaben auf den Tisch legt, der opfert doch seine eigene Glaubwürdigkeit auf dem Altar seiner Profilneurose. Anders kann man das doch nicht bezeichnen!
Aber auch über diese unsolide finanzielle Vorbereitung hinaus gibt es Punkte schwerwiegender Kritik an Ihrem Entwurf. Ihr Familiengeld kann mit seinen 400 DM für die berufstätige Mutter keine Lohnersatzfunktion haben; dazu ist es zu niedrig.
Es gäbe viele Mütter — und zwar gerade die, bei denen es besonders darauf ankommt —, die dann wegen dieser Höhe, bei dieser Größenordnung den Mutterschaftsurlaub nicht in Anspruch nehmen könnten.
Bei Ihrer Lösung genießt die berufstätige Mutter auch keinen Arbeitsplatzschutz. Sie muß ihr Arbeitsverhältnis beenden, will sie das Familiengeld in Anspruch nehmen. Da hilft auch die schwammige Formulierung mit der bevorzugten Wiedereinstellung nicht. Diese Formulierung ist nirgendwo einklagbar und darum ohne Wert für die Arbeitnehmerin, die ihren Arbeitsplatz aufgegeben hat.
Weiter sollen Zeiten des Bezugs von Familiengeld nach Ihrem Entwurf nicht in die Rentenversicherung einbezogen werden. Auch hier wird die berufstätige Mutter gegenüber dem Regierungsentwurf klar benachteiligt.
Ich glaube, so kann man Familienpolitik nicht ernsthaft betreiben. Nachdem Sie jahrelang den
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Bundesminister Dr. EhrenbergProblemen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgewichen sind, wollen Sie jetzt plötzlich in einer Größenordnung von 3,6 Milliarden DM aus der Bundeskasse die Löcher Ihrer eigenen familienpolitischen Glaubwürdigkeit stopfen.Wer im Frühjahr 1979 über Familienpolitik redet, der muß auch das Kindergeld einbeziehen, der kann nicht darüber hinweggehen, daß ab 1. Juli dieses Jahres eine Familie mit drei Kindern 350 DM und eine mit vier Kindern 550 DM Kindergeld bekommt. Das ist in vier Jahren eine Steigerung um mehr als 50 %.
Ein wenig muß ich auch mein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, daß gerade Sie, die Sie in Ihrer Fraktion so viel von Freiheit und Selbstverantwortung der Familie reden, Kindererziehung hier jetzt zu einer staatlich finanzierten Aufgabe machen wollen.
Es wird hier über ein vorausschauendes familienpolitisches Konzept sehr viel sorgfältiger nachzudenken sein.
— Entschuldigen Sie bitte, aber wir haben eine verbundene Debatte über diese Entwürfe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Redner ist nicht gehindert, auch auf die anderen Punkte, die zur Tagesordnung gehören, einzugehen. Fahren Sie bitte fort, Herr Bundesminister!
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird von anderer Seite aus dahin gehend kritisiert, daß er nur den Mutterschutz für die leiblichen Mütter fortentwickelt und nicht die Väter oder Adoptiveltern mit einbezieht. Ich habe für diese Vorstellungen und diese Wünsche sehr viel Verständnis, und wir haben sie sehr sorgfältig geprüft und nach allen Seiten abgewogen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß man sie wegen der vorrangigen Zielsetzung unseres Vorhabens des Ausbaus des Mutterschutzes wegen Schwangerschaft und Entbindung jetzt nicht weiter verfolgen kann. Wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht, und der jetzige Ausbau des Mutterschutzsystems schließt spätere, umfassendere Lösungen in keiner Weise aus.
Er präjudiziert weder weitere Regelungen über die Freistellung der Väter noch die Einbeziehung der Adoptiveltern.
Ungeachtet Ihrer Zwischenrufe bestätigen uns die Richtigkeit unseres Vorhabens das starke positive öffentliche Echo und die vielen Zuschriften, die uns hier täglich erreichen. Diese Zuschriften machen deutlich, wie stark die Arbeitnehmerinnen auf dieses Gesetz und auf den Zeitpunkt des 1. Juli 1979 schon heute ausgerichtet sind, und das Vertrauen dieser Mütter in ein rechtzeitiges Inkrafttreten dieser Regelung darf nicht enttäuscht werden. Ich bitte Sie alle, daran mitzuarbeiten, daß wir die Beratungen zügig und planmäßig durchführen können und dieser Gesetzentwurf zum 1. Juli 1979 in Kraft tritt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das. Wort hat der Herr Abgeordnete Franke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der besondere Stil der Reden und des Auftretens von Herrn Ehrenberg spricht immer für sich. Er ist mit Sicherheit hier nicht für eine Verbesserung des Klimas in diesem Hause förderlich. Er hat dafür heute wiederum ein besonderes Beispiel geliefert.
Es ist unbestritten, daß die ersten drei Lebensjahre eines Kindes für seine Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind. Es muß das Ziel der Gesellschaft sein, das Kind in der häuslichen Gemeinschaft, in der Familie geborgen aufwachsen zu sehen. Die Fachleute sagen, die Sicherung einer ständigen Bezugsperson — ich finde dieses Wort auch nicht schön, aber sie sagen es so —, hauptsächlich der Mutter, ist die entscheidende Voraussetzung für die Persönlichkeitsbildung des heranwachsendes Kindes.
Wo das verabsäumt wird, können Spätfolgen auftreten. Die Betreuung des Kleinkindes in einer nicht familiaren Einrichtung kann die Familie, die Mutter oder den Vater nicht oder nur unvollkommen ersetzen.
Damit Kleinkinder eine optimale Betreuung und Erziehung in ihrer eigenen Familie erhalten können, soll ein Familiengeld in Höhe von 400 DM pro Monat für die ersten 18 Monate eines Kindes gewährt werden, wenn ein Elternteil auf eine wesentliche Erwerbstätigkeit verzichtet. Das ist der Vorschlag der großen Mehrheit der CDU-Abgeordneten in diesem Hause.
Das Familiengeld soll nicht nur eine wirtschaftliche Besserstellung der Familie mit Kleinkindern erreichen, sondern erscheint auch geeignet, die An-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11385
Frankenahme ungeborenen Lebens in schwierigen Situationen einer Schwangerschaft zu erleichtern.
Angesichts der fast 80 000 Abtreibungen in dem letzten Jahr ist es wichtig, dies hier einzuführen. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, weshalb so viele Frauen die Kinder nicht austragen.Die Bundesrepublik Deutschland ist zum geburtenschwächsteh Land dieser Erde geworden. Während im Jahre 1900 noch 36 lebendgeborene Kinder auf 1 000 Einwohner kamen, 1942 immerhin noch 15 Lebendgeborene zu verzeichnen waren, gibt es heute nur 8,7 lebendgeborene Deutsche auf 1 000 Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind damit zu einem traurigen Schlußlicht in dieser Welt geworden. Wenn dieser Trend anhält, wird im Jahre 2000 die Zahl der Bürger unseres Landes von 58 Millionen auf 52 Millionen gesunken sein. Wenn Sie das weiter hochrechnen, haben Sie im Jahre 2030 eine Einwohnerzahl von 39 Millionen, die im Jahre 2070 gar auf 20 Millionen bis 23 Millionen herabgesunken sein wird. In deutschen Ehen werden heute im Durchschnitt etwa 1,4 Kinder geboren. Zur Bestandserhaltung der deutschen Bevölkerung wären aber 2,2 Kinder pro Ehe notwendig. Die Geburtenstatistik in unserem Lande wird nur dadurch etwas aufgebessert, daß man die Kinder, die von ausländischen Mitbürgern hier geboren werden, in der Statistik mit einrechnet.Nun muß man sich fragen: Welche Gründe haben dazu geführt, daß wir mit unserer Geburtenrate an letzter Stelle aller Staaten dieser Welt liegen? Ist es die Wirkung der verbesserten Empfängnisverhütung? Oder haben andere äußere Einflüsse, die von den Regierenden zu verantworten sind, zu dieser katastrophalen Entwicklung der Geburtenrate geführt?Ich möchte hier einmal ein paar Beispiele anführen und frage: Liegt es vielleicht an folgendem? Ich darf einmal das Beispiel eines Ehepaares nehmen, wo beide Teile erwerbstätig sind. Das Bruttoeinkommen des Mannes beträgt 2 050 DM. Davon zahlt er 190,10 DM Lohnsteuer, Kirchensteuer 17,11 DM, Sozialversicherung 335 DM bei einem Krankenversicherungsbeitrag von 11,7 %. Er hat ein Nettoeinkommen von 1 507,49 DM. Das Bruttoeinkommen der mitverdienenden Ehefrau beträgt 1 600 DM, die Lohnsteuer 394,30 DM, Kirchensteuer 35,49 DM, Sozialversicherung 261,72 DM, das Nettoeinkommen 908,49 DM. Das verfügbare Monatseinkommen dieses Ehepaares ist 2 415,98 DM, d. h. ein Einkommen pro Person von 1 207,99 DM. Unterstellt man für beide Ehepartner eine Versicherungszeit von 40 Jahren für die Rentenversicherung, so kann der Mann. mit einer Rente von etwas über 900 DM und die Frau mit einer Rente von etwa 700 DM rechnen. Das Ehepaar zusammen hat also ein Renteneinkommen von 1 600 DM. Kommt ein Kind in die Familie und wird unterstellt, daß die Frau die Berufstätigkeit aufgibt, dann verändert sich die Einkommenssituation wie folgt: das Bruttoeinkommen des Mannes 2 050, das Nettoeinkommen 1 524,28 DM, zusätzlich Kindergeld 50 DM, zusätzlich Wohngeld 32 DM, verfügbaresEinkommen 1596,28 DM, Einkommen je Person 592,09 DM. Vorher hatte jede Person 1 207 DM. Das ist die Situation. Man muß sich doch fragen: Weshalb sinkt die Geburtenrate? Unter anderem wegen dieser Tatsache.
Aber hier kommt noch folgendes hinzu. Während diese Familie dafür sorgt, daß die Rente für die anderen, die vielleicht keine Kinder haben, später erarbeitet wird, sinkt der Anteil der Alterseinkommenserwartung dieser Frau bzw. dieser Familie um etwa 350 DM. Das heißt also: Wenn die Frau auf eine nennenswerte Erwerbstätigkeit wegen der Aufzucht eines Kindes verzichtet
— so sagen die Fachleute; verzeihen Sie —, haben sie nicht nur während der Zeit, wo das Kind von ihnen großgezogen wird, Einkommensverluste, sondern sie haben auch Einkommensverluste im Alter. Sie haben nämlich eine geringere Rente durch die Tätigkeit oder besser: durch die Nichttätigkeit der Frau, weil sie Kinder bekommen und großgezogen hat. Wenn Sie das hochrechnen, wenn Sie zugrunde legen, daß zwei oder drei Kinder in die Familie hineinkommen, wird die Situation für diese Familie wesentlich schlechter.Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel bringen. Denken Sie doch an das Beispiel Schule. Seit Georg Picht den Bildungsnotstand ausgerufen hat und die Politiker aller Parteien hinter dieser These hergelaufen sind — die einen mehr und die anderen etwas weniger, nicht wahr —, haben wir Eltern und Kinder doch aufs tiefste verschreckt. Hinzu kommt, daß in einigen Ländern Schulpolitik betrieben wird und wurde, die als familienfeindlich bezeichnet werden kann.
I Ein prominentes Mitglied unseres Hauses sagte vor kurzem in einer Rede:Es gilt in manchen Schulen als ein Ziel der schulischen Erziehung, die Kinder aus ihren Bindungen an ihre Eltern zu lösen, ja sie regelrecht gegen ihre Eltern und deren angeblich autoritäres und repressives Verhalten zu mobilisieren.So ein prominentes Mitglied unseres Hauses. Wo sollen die Ehepaare denn noch den Mut herbekommen, Kinder in die Welt zu setzen, wenn die Schule nachher noch zusätzliche Probleme schafft?
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel bringen. Denken Sie an den öffentlich geförderten Wohnungsbau. Der öffentlich geförderte Wohnungsbau hat wenig Rücksicht auf Familien mit Kindern genommen. In von vielen oft als entsetzliche Mietskasernen bezeichneten Wohnungen ist wenig Platz für Kinder. Die Einrichtung von Kinderspielplätzen mußte häufig einer neuen Art von Mietskasernenerrichtung oder aber sie mußten Schnellverkehrsstraßen weichen. Die Schuld daran müssen wir uns selbstverständlich alle vorhalten. Wenn wir danach
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11386 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Frankefragen, warum es so wenige Kinder gibt, spielt das natürlich auch eine ganz bestimmte Rolle.Die geringe Geburtenentwicklung hat auch fatale Auswirkungen auf das, was wir allgemein den Generationenvertrag nennen. Ich will deshalb aus der Begründung unseres Gesetzentwurfs folgendes zitieren:Das Familiengeld erscheint auch geeignet, den immer noch anhaltenden Geburtenrückgängen entgegenzuwirken, sofern es als Teilelement eines insgesamt notwendigen Ausbaus der Familienförderung verstanden wird. Es geht nicht um den Geburtenrückgang als primäres Problem, sondern um die Anerkennung der Zukunftsinvestitionen durch die Familie.Der Unterhalt der Kinder ist eine auf Raten gezahlte Human-Investition in die Zukunft. Die Gesellschaft übernimmt einen Teil der Kosten, die den Familien entstehen. Künftig haben diese Humaninvestitionen größeres Gewicht als Sachinvestitionen. So hätten z. B. Wohnungsbauinvestitionen keinen Sinn, wenn als Folge starker Bevölkerungsrückgänge schon ab etwa 1990 viele Wohnungen nicht mehr genutzt würden. Investitionen in Kinder sind Investitionen in die Zukunft. Der Staat kann nicht ausschließlich „Sachinvestitionen" unterstützen und die Lasten für die Kinder als wichtigste „Zukunftsinvestition" der Familie allein überlassen.
Hier ist eine Änderung der staatlichen Prioritäten erforderlich, auch als Voraussetzung für die Finanzierbarkeit des Familiengeldes und anderer Verbesserungen der Familienförderung. Die Sicherung in etwa ausreichender Geburtenzahlen ist unerläßliche Voraussetzung für die langfristige Gewährleistung des Generationenvertrages in der Alterssicherung nicht nur im Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung, sondern auch auf die Beamtenversorgung, Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung und der individuellen Altersvorsorge.Der Grundsatz, daß Eltern autonom über die Zahl der Kinder selbst zu entscheiden haben, wird von den Antragstellern voll bejaht. Es wird aber davon auszugehen sein, daß ein Familiengeld mit dazu beitragen kann, daß sich Mütter frei- ich wiederhole: frei —für die Aufgabe der Kindererziehung und Haushaltsführung entscheiden können.
Dies ist eine wichtige Voraussetzung zur Bereitschaft zu mehr Kindern, als heute geboren werden.
Nun hat uns in den letzten Tagen ein Mitglied des Bundeskabinetts, nämlich Frau Huber, vorgeworfen, unsere familienpolitischen Vorschläge seien unseriös.
Im gleichen Atemzug aber meldet sie zusätzliche eigene Forderungen an; ich zähle auf: zusätzliche Finanzhilfen zum Bau von Eigenheimen, Haushaltshilfen für den Urlaub, Extraferien für frischgebackene Väter — ich bin leider etwas zu alt dazu, es kommt zu spät; aber ich bin nicht dagegen —, Geld für die Erstausstattung der Babys, Ehestandsdarlehen. Zusammengerechnet - wenn Sie es zahlen — gibt das auch sicher eine jährliche Leistung in Milliardenhöhe. Auf der einen Seite wird gesagt, unsere Forderungen in Höhe von 3,28 Milliarden DM nicht 3,68 Milliarden DM, Herr Ehrenberg; da haben Sie nur ein Jahr bezeichnet, nicht die laufenden Ausgaben — seien unseriös, aber wenn von der anderen Seite Forderungen in derselben Höhe, nur anders verteilt, vorgelegt werden, dann ist das nicht unseriös. Was ist das für eine Argumentation! Was ist das für eine Doppelzüngigkeit!
Aber nicht nur die SPD, auch die FDP redet in dieser Frage mit gespaltener Zunge. Einerseits spricht die Vorsitzende des Finanzausschusses — ich will persönlich hinzufügen: eine auch von mir mit ihren Fachkenntnissen sehr geachtete Finanzexpertin der FDP —, Frau Liselotte Funcke, jedesmal von mangelnder Finanzierbarkeit, sobald die CDU es wagt, ihre Prioritäten in einem kostenwirksamen Gesetzesvorschlag zu konkretisieren. Aber gerade in der hier zu behandelnden Frage fordert Frau Funcke selbst in einer am 27. Februar von der eigenen Fraktion veröffentlichten Pressemitteilung, „keinen grundsätzlichen Unterschied zu machen zwischen den Eltern, die vor' der Geburt erwerbstätig waren oder nicht".Nichts anderes fordern wir auch. Frau Funcke verlangt weiter, daß auch kein Unterschied gemacht werden soll zwischen den Elternteilen, die nach der Geburt daheim bleiben oder erwerbstätig sind. Das ist finanziell sogar noch mehr, als wir in unserer Gesetzesvorlage verlangt haben. Ich habe die Ausführungen von Herrn Ehrenberg von eben noch im Ohr, der sagte, es sei unsolide, was wir dort gefordert haben. Wie muß er erst Frau Funcke hier beschimpfen, wenn er uns hier kritisiert!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gern, Herr Präsident, wenn mir Frage und Antwort von der Gesamtzeit von 30 Minuten abgerechnet werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es tut mir sehr leid, Herr Abgeordneter, das ist nicht möglich. Die Entscheidung liegt bei Ihnen, ob Sie die Frage zulassen wollen oder nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann kann ich leider keine Zwischenfrage zulassen, sonst komme ich mit dem, was ich sagen will, in 30 Minuten nicht zu Ende.Was die zeitliche Dimension betrifft, so plädiert die Finanzexpertin der FDP für ein erhöhtes Kindergeld als Betreuungszuschlag, nicht wie die Vorlage
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11387
Frankeder Regierung nur für sechs Monate, sondern für die ersten Jahre eines Kindes, damit die sorgeberechtigten Eltern die Betreuung des Kleinkindes durch Verzicht auf eigene Erwerbstätigkeit oder durch Dritte leichter sicherstellen können. Nicht viel anders argumentieren wir auch. Aber wenn das die Finanzexpertin der FDP fordert, ist das seriös, und wenn wir das fordern, ist das unseriös. Was ist das für eine Doppelzüngigkeit!
Aber das ist nicht nur die Argumentation der beiden Repräsentantinnen von FDP und SPD; das ist die Argumentation dieses Bundeskanzlers und dieser Regierung seit jeher. Herr Ehrenberg hat eben ein Beispiel dafür gegeben. Dazu einige wenige Beispiele, die fast beliebig ergänzt: werden können.Als die CDU/CSU im vergangenen Jahr den Abbau der Überbesteuerung bei der Lohn- und Einkommensteuer durch einen neuen Einkommensteuertarif ab 1. Januar 1979 beantragte, lehnte die Koalition von SPD und FDP dies mit der Begründung ab, das sei nicht finanzierbar. Finanzminister Matthöfer erklärte noch am 21. Juni 1978 von dieser Stelle aus wörtlich: „Ich kann dazu nur wiederholen, daß das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit derartige Überlegungen von vornherein ausschließt." Nur einen Monat später, am 28. Juli 1978, beschloß die Bundesregierung auf Antrag desselben Finanzministers einen neuen Einkommensteuertarif ab 1. Januar 1979, also genau für den von der CDU/ CSU beantragten Zeitraum und zu dem vorher von der Koalition abgelehnten Termin, mit einem Steuerausfall im Entstehungsjahr von 10,6 Milliarden DM. Was vorher nicht finanzierbar war, war vier Wochen später finanzierbar, nur weil es von der Regierung auf den Tisch gelegt wurde. So seriös ist Ihre Argumentation, was die Finanzierbarkeit angeht.
Die Bundesregierung beschloß gleichzeitig am 28. Juli 1978 einen Haushalt und einen Finanzplan für die Jahre bis 1982 mit genau bezifferten Ausgabesummen. Natürlich waren das in ihrer Argumentation Höchstgrenzen, die durch Ausgabeanträge der Opposition nicht überschritten werden durften. Als die Regierung aber am 16. November ein Verkehrsabkommen mit der DDR abschloß, waren auf einmal die Mittel da, über den anderen Teil Deutschlands das Füllhorn von .1,9 Milliarden DM in einem einmaligen zusätzlichen, nicht im Finanzplan berücksichtigten Ausgabenstück oder -brocken auszuschütten und zusätzlich eine Aufstockung der sogenannten Transitpauschale um jährlich 125 Millionen DM vorzunehmen. So seriös und solide ist ihre Finanzpolitik.
Für Mehrausgaben ist auch immer dann Geld da, wenn die Regierung weitgehend selbst verschuldete Reparaturen zu finanzieren hat, beispielsweise bei der Bundesbahn. Für sie steht seit Jahren ein taugliches Sanierungskonzept aus, oder es wird, was auf dasselbe herauskommt, mangels Durchsetzungsvermögen nicht verwirklicht, weil der Kanzler zu feige ist, das durchzusetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich rüge den Ausdruck „feige".
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mangels Durchsetzungsvermögen werden die Bundeszuschüsse an die defizitäre Bundesbahn allein für das eine. Jahr 1979 gegenüber den ursprünglichen Planzahlen des Finanzplans von 1975 um 3 Milliarden DM auf jetzt fast 15 Milliarden DM erhöht.Wie steht es mit anderen überschuldeten Bundesunternehmen, z. B. der DIAG in Berlin,
für die gerade kürzlich aus dem ERP-Haushalt auf Antrag der Regierung zusätzlich 180 Millionen DM bereitgestellt oder zugesagt werden?
Seit 1975 erhält damit dieses Unternehmen zur Abdeckung der nicht zuletzt durch riskante Geschäfte verursachten Verluste insgesamt 825 Millionen DM. Anders ausgedrückt, jeder Arbeitsplatz bei der DIAG wird mit 200 000 DM subventioniert, etwa dem Doppelten des Betrages, den heute die Einrichtung eines neuen Arbeitsplatzes in der Industrie kostet. Mit diesen 200 000 DM wird nicht etwa der Arbeitsplatz auf Dauer gesichert, wie meine Kollegen bei einem Besuch der DIAG von der Unternehmensleitung erfahren haben, vielmehr wird damit bei der DIAG in Berlin nur die Entlassung von etwa drei Fünfteln der Belegschaft um einen kurzen Zeitraum hinausgeschoben. Offenbar wollte man nur verhindern, daß diese Massenentlassung den Koalitionsparteien in Berlin bei der Wahl am Sonntag Stimmeneinbußen bringt.
Für die Kaschierung des Versagens bei der Bundesbahnsanierung oder für die erneute Wählertäuschung in Berlin können riesige Beträge bereitgestellt werden, aber kein Geld ist da, wenn es um die Finanzierung von Investitionen in die Zukunft geht, d. h., wenn es um Familiengeld geht.
In der Familienpolitik geht es doch heute nicht primär um soziale Gerechtigkeit. Nicht zuletzt die Bundesbank hat in ihrem letzten Geschäftsbericht darauf hingewiesen, daß die auf Sicht gedämpften Wachstumsperspektiven unter anderem ihren Grund in dem für die Zukunft zu erwartenden alarmierenden Rückgang der Bevölkerung als Folge der rückläufigen Geburtenzahlen haben. Sie schreibt:
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11388 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
FrankeEs liegt auf der Hand, daß mit der rückläufigen Bevölkerungszahl in manchem Bereich der Güterbedarf abnimmt, insbesondere mit Konsequenzen für die Nachfrage nach Wohnraum sowie im Gesundheits- und Erziehungswesen. Es ist wahrscheinlich, daß sich bei der Abnahme der Bevölkerungszahl und der ständigen Verminderung des Anteils der Kinder und alsbald auch der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung auf lange Sicht Verbrauchsveränderungen durchsetzen werden, die sich negativ auf die Dynamik des privaten Verbrauchs, jedenfalls auf die Quantitäten im Verbrauch von Waren und Dienstleistungen auswirken werden.So die Deutsche Bundesbank. Politik für die Familie, die dieser Entwicklung entgegenwirkt, zahlt sich also aus, sowohl für unsere gesamtwirtschaftliche Entwicklung wie auch auf die Dauer für die Staatsfinanzen.Zum Thema Finanzierung haben wir im übrigen eine bemerkenswerte Vergleichsrechnung zwischen den ursprünglichen Ausgabenplänen für das Jahr 1979 im Finanzplan des Jahres 1975 und dem verabschiedeten Haushaltsplan 1979 angestellt. Bei insgesamt 20 ausgewählten Positionen wurden die Beträge entweder aufgestockt oder neue Ansätze geschaffen. Beispiele: Zukunftsinvestitionsprogramm plus 2,3 Milliarden DM, vorzeitige Zurückzahlung gestundeter Zuschüsse an die Rentenversicherung 1,25 Milliarden DM, Liquiditätshilfe an die Nürnberger Bundesanstalt 2,2 Milliarden DM, Bundesbahn plus 3 Milliarden DM, Entwicklungshilfe plus 1 Milliarde DM, Verteidigung plus 1,3 Milliarden DM. Die Mehrausgaben bei nur diesen Positionen belaufen sich gegenüber der ursprünglichen Planung auf 20,1 Milliarden DM. Die ursprünglichen Gesamtausgaben werden aber um 8,7 Milliarden DM erhöht. Über 11 Milliarden DM konnten also durch Umschichtungen, eine Verminderung des Ausgabenbedarfs bei anderen Positionen und ähnliche Maßnahmen gedeckt werden.Gewiß sind die 3,3 Milliarden DM für das Familiengeld kein kleiner Brocken. Aber es ist weniger als ein Drittel des Betrages, den die Regierung im Rahmen ihrer Planungen zugunsten anderer Maßnahmen für das Jahr 1979 durch Umschichtungen ausgleichen konnte. Wenn die Regierung und die Koalitionsmehrheit nur wollen, muß nach meiner Auffassung auch hier ein Ausgleich durch Umschichtungen möglich sein. An diese Ihre Hilfe apellieren wir, da wir allein das durchzusetzen nicht in der Lage sind.
Die Familienpolitik hat für die Union Priorität. Wir sind uns bewußt, daß Mehrausgaben hier Abstriche an anderer Stelle mit sich bringen.Wir haben bewiesen, daß wir nicht so verfahren, wie es früher die SPD als Opposition z. B. beim Haushaltssicherungsgesetz getan hat. Ich habe noch den Ausspruch des Kollegen Wehner im Ohr: „Wir waschen doch nicht anderer Leute schmutzige Wäsche." Im Gegensatz zu dieser Haltung der damaligen Opposition, die die SPD war, sind wir bereit,auch bei unpopulären Maßnahmen Mitverantwortung zu übernehmen. Wir erinnern daran, daß wir beim Haushaltsstrukturgesetz, mit dem Sie in gesetzlich beschlossene Leistungen eingreifen mußten — das ist dasselbe, was wir 1965/66 gemacht haben —, die wesentlichsten Ausgabekürzungen voll mitgetragen haben und 40 von 44 Artikeln des Haushaltsstrukturgesetzes ausdrücklich zugestimmt haben. Wir werden uns auch künftig der Verantwortung für die Solidität der Staatsfinanzen nicht entziehen. Die dafür erforderlichen Vorschläge müssen allerdings von der Regierung ausgehen. Wenigstens in diesem Punkt bin ich mit dem Kollegen Hoppe von der FDP einig, der das dazu Erforderliche bei der Haushaltsdebatte in der dritten Lesung hier eindeutig gesagt hat.Lassen Sie mich zum Schluß noch ein paar Bemerkungen zu der Vorlage der Regierung betreffend Mutterschaftsurlaub sagen. Mein Kollege Höpfinger wird gleich noch darauf eingehen. Was hat Sie von der SPD und von der FDP eigentlich für ein Teufel geritten, die nichterwerbstätige Mutter, die ein Kind bekommt, nicht mit einem Mutterschaftsgeld oder einem Familiengeld zu bedenken? Was Sie da bewogen hat, das so zu lösen, bleibt mir schleierhaft. Sie wollen 300 000 Frauen und Mütter schlechterstellen als andere.
Wir sind nicht gegen die Wirkung des Mutterschaftsgeldes für die erwerbstätige Mutter. Wir protestieren aber energisch dagegen, daß Sie von SPD und FDP die ohnehin in unserer Gesellschaft, was soziale Leistungen angeht, schon benachteiligte Hausfrau und Mutter noch zusätzlich durch Ihre Gesetze diskriminieren und benachteiligen.
Sie werden hier unseren energischen Protest vernehmen. Ich bin sicher, die Frauen, die das hören und lesen, was Sie vorhaben, werden Ihnen von der SPD und der FDP in den nächsten Tagen bei der Wahl schon die entsprechende Antwort geben.
Wir fordern Sie hier und heute auf, sich klar zu erklären, ob die Diskriminierung der Hausfrau und Mutter durch SPD und FDP endgültig festgeschrieben werden soll oder ob Sie eine Chance sehen, mit uns gemeinsam an diesem wichtigen Ziel zu arbeiten.Eine Schlußbemerkung.
Ich beantrage, meine Damen und Herren, die Überweisung der Vorlage zum Familiengeld an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend — sowie an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Mitberatung.Ich bedaure, meine Damen und Herren, daß Sie den Ausdruck „Aufzucht" — ich bedaure ihn auch — in den falschen Hals bekommen haben. Ich nehme den Ausdruck hiermit zurück, damit keine Mißver-
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Frankeständnisse auftauchen können. Aber ich sage hier ganz eindeutig: Was Sie hier vorhaben, dient nicht der sozialen Befriedung in unserem Land, sondern der Diskriminierung einer in unserem Land ohnehin schon benachteiligten Gruppe. Wir werden versuchen, da zu Verbesserungen zu kommen. Dem dient auch unser Antrag auf ein Familiengeld.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Lepsius.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich komme zur Sache zurück, Herr Franke:
zum Mutterschaftsurlaubsgesetz. Zunächst einmal möchte ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion diese familien- und sozialpolitische Initiative der Bundesregierung nachdrücklich begrüßen, im Rahmen des Mutterschutzgesetzes erstmals einen Mutterschaftsurlaub einzuführen.
Dies ist für uns Sozialdemokraten eine seit langem gewünschte und sozial wie auch finanziell machbare Leistung. Denn das alles ist solide finanziert.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleichfalls für die Fraktionen der SPD und der FDP einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Mutterschutzgesetzes einbringen; denn es ist zweckmäßig, die Befreiung des Mutterschaftsgeldes und anderer Leistungen nach dem Mutterschutzgesetz von der Einkommensteuer im Einkommensteuergesetz zusammenzufassen.
Wie ich sagte, ist dies alles solide finanziert. Das ist natürlich der entscheidende Unterschied zu dem vorgelegten Gruppenantrag von CDU-Abgeordneten zur Einführung eines Familiengeldes. Dieses Milliardending weise ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion entschieden zurück.
Was Sie, meine Damen und Herren, da zusammengebraut haben, erscheint mir abenteuerlich. Es ist auch unseriös — Sie wissen es ganz genau —, wenn Ausgaben von mehr als 11 Milliarden DM innerhalb weniger Jahre ohne finanzielle Deckung hier in den Raum gestellt werden.
Hier werden bei den Familien nicht erfüllbare Hoffnungen geweckt. Ich finde es auch betrügerisch, solche Blankoschecks auszustellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, der Ausdruck „betrügerisch" sollte hier nicht verwendet werden.
Frau Dr. Lepsius Es kann mich dabei auch nicht beruhigen, daß diese familienpolitische Utopie
nicht nur von den Koalitionsfraktionen SPD und FDP abgelehnt wird, sondern bereits von der CDU/CSU-Strategiekommission wegen der gigantischen Größenordnung begraben wurde und sich auch kein CSU-Abgeordneter an diesem Spiel beteiligt hat.
Ganz unbegreiflich ist es, daß der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, Helmut Kohl, seinen Namen für dieses politische Machwerk hergegeben hat
und daß seine eigene Fraktion den Herrn Kohl, der ja jetzt nicht hier unter uns ist, weil er laufen muß, auch noch ins Messer laufen läßt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?
Ich kann dies — genauso wie mein Vorredner — leider nicht zulassen,
weil wir einen strengen Präsidenten hinter uns haben. — Der Gruppenführer der CDU steht schlecht da. Ihre Fraktion ist zerfallen. Denn die CSU steht nicht mehr hinter Ihnen. Das ist in der Geschichte des Parlamentarismus ein einmaliger und ernster Vorgang.
Ich sage auch das: Im Jahr des 30jährigen Bestehens des Grundgesetzes, in dem wir uns als freie Bürger eine rechtsstaatliche und soziale Ordnung gegeben haben, geht die Union mit ihrem Vorsitzenden so liederlich um. Das kann für uns kein Grund zur Freude sein.
Das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz ermöglicht es einer erwerbstätigen Mutter, sich für weitere vier Monate um die Erziehung ihres Babys zu kümmern. Ohne eigenes Gesundheitsrisiko, ohne um die Erhaltung ihres Arbeitsplatzes besorgt zu sein, kann sie ihrem Kind Liebe, Geborgenheit und Zuversicht geben. Wir alle wissen, wie entscheidend dies für den weiteren Verlauf eines Menschenschicksals ist. Ich freue mich auch darüber, daß die Bundesregierung im Bundeshaushalt rund 2,2 Milliarden DM für die Verbesserung dieses Mutterschutzes ausgewiesen hat.
Vor einem Jahr hätte das niemand auch nur im Traum für möglich gehalten. Dies ist ein Stück veränderter finanzpolitischer Qualität und Sensibilität, aber immerhin mit dem Augenmaß für das Machbare.
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Frau Dr. LepsiusWir sozialdemokratischen Parlamentarierinnen brauchen nun nicht mehr voller Neid auf die erweiterten Mutterschutzbestimmungen in manchen anderen europäischen Ländern zu schielen. Osterreich und Schweden, die ich hier besonders herausstellen möchte, aber auch Italien und Frankreich kennen schon jetzt einen weitergefasten Mutterschutz. Natürlich sind deren finanzielle Regelungen, Kündigungsschutz und Arbeitsplatzgarantie sehr unterschiedlich ausgestaltet. Aber eines haben diese Länder gemeinsam: Es handelt sich ausnahmslos um gesetzliche Regelungen, die erwerbstätige Mütter und ihre Babys schützen. Keines der genannten Länder ist auf eine Gießkannenlösung nach CDU-Machart verfallen, nämlich ausnahmslos allen Müttern . oder Vätern eineinhalb Jahre ein Familiengeld zu zahlen, wenn sie auf eigene Erwerbstätigkeit verzichten und sich der Betreuung ihres Kleinstkindes widmen.
Ich habe in diesen anderen Ländern auch nirgendwo feststellen können, daß man aus diesem Mutterschutz nun eine Ungleichbehandlung, eine Benachteiligung oder gar eine Bestrafung der Hausfrauen konstruieren würde. Ein solcher Umkehrschluß, wie er ja von Ihrer Seite immer zu hören ist, stellt alle Fakten auf den Kopf. Worin soll denn eigentlich der vermeintliche Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung der Hausfrau liegen? Etwa darin, daß eine nichterwerbstätige Mutter ihr Kind versorgen kann, wenn eine Arbeiterin schon nach acht Wochen ans Fließband und in den Akkord zurückkehren muß? Der CDU geht es doch lediglich darum, finanzielle Leistungen auf alle Frauen auszustreuen, koste es, was es wolle. Kein Staat der freien Welt ist bisher auf die gloriose Idee gekommen, Mütter über ein Familiengeld zu honorieren und sie damit gewissermaßen zu Staatsangestellten zu machen.
Mit dieser Forderung — das mögen Sie nicht bedacht haben — fordern sie die Einmischung des Staates in die Familie. Dies lehnen wir Sozialdemokraten ab. Aber mit Ihrem antiquierten Leitbild werde ich mich gleich noch auseinandersetzen.Bei dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf handelt es sich um eine Weiterentwicklung des geltenden Mutterschutzes. Erwerbstätige Mütter werden auf Wunsch für weitere vier Monate von der Arbeit freigestellt. Diese Zeit dient sowohl der eigenen Gesundheit als auch der damit eng verbundenen Mutter-Kind-Beziehung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Prinz zu Sayn-Wittgenstein?
Ich kann sie doch nicht zulassen; Sie wissen das.
— Ich würde es gern tun. Vielleicht haben wir einmal fünf Stunden Zeit, solche Fragen in diesem Parlament zu diskutieren. Das wäre schön.
Erstmals werden die Mütter für die Dauer dieses Urlaubs eine finanzielle Entschädigung erhalten, die sie in die Lage versetzt, sich überhaupt für diesen Urlaub und damit für die Versorgung ihres Babys zu entscheiden. Das bedeutet ja auch ein Stück mehr an qualitativer Freiheit. Um einen solchen verbesserten Mutterschutz für erwerbstätige Frauen haben wir seit langem gekämpft. Genau dies wollen wir: daß sich eine erwerbstätige Mutter ebenso intensiv wie eine nicht erwerbstätige Mutter um ihr Baby kümmern kann,
ohne um ihren Arbeitsplatz besorgt sein und ohne befürchten zu müssen, berufliche Qualifikationen zu verlieren. Dieses Gesetz bringt den Arbeitnehmerinnen wirklich eine echte Chance und die Freiheit, sich für die Kindererziehung zu entscheiden, ihr Kind selber zu erziehen,
wie Sie die Frauen haben, die schon bisher wirtschaftlich besser gesichert sind.Die Neuregelung gilt für Arbeitnehmerinnen und Heimarbeiterinnen, desgleichen für arbeitslose Mütter, die ein Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen. Für Beamtinnen des Bundes haben wir inzwischen eine entsprechende Regelung im Rahmen einer Verordnung von seiten der Bundesregierung vorbereitet. Wir erwarten natürlich von den Ländern, daß sie für ihren Bereich entsprechend verfahren; ich bin nach den Ausführungen von Herrn Franke von heute früh, der sagte, in der Sache werde das Gesetz unterstützt, zuversichtlich, daß dies geschehen wird.Die Leistungen kommen nahezu allen jüngeren Frauen zugute. In den jüngeren Jahrgängen ist ja beinahe jede Frau erwerbstätig, und nur wenige Frauen geben den Beruf bereits nach der Eheschließung auf. Jedes zweite Kind, das in der Bundesrepublik geboren wird, hat eine erwerbstätige Mutter. Wir können also davon ausgehen, daß rund 315 000 Arbeitnehmerinnen, die heute Anspruch auf Leistungen nach dem Mutterschutzgesetz haben, hiervon profitieren und tatsächlich in die Lage kommen werden, sich länger um ihr Baby zu kümmern.
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Frau Dr. LepsiusNicht alle Wünsche konnten berücksichtigt werden. Viele von uns hätten es begrüßt, wenn der neue Mutterschaftsurlaub auch auf Väter oder auf Adoptiveltern ausgedehnt würde. Damit hätte man die Verantwortung der Väter in der Kindererziehung sehr viel mehr verdeutlichen können und hätte auch der gerade in der jüngeren Generation, in vielen jüngeren Ehen ernsthaft praktizierten partnerschaftlichen Aufgabenteilung besser entsprochen. Dies war aber im Rahmen der anstehenden Änderung des Gesetzes nicht zu verwirklichen. Ich werde mich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens dafür einsetzen, daß diese beiden Merkposten nicht in Vergessenheit geraten. Wir sollten in einer Entschließung den Wunsch verdeutlichen, beim weiteren Ausbau dieses Gesetzes zu einer Urlaubsregelung zu gelangen, die auch Väter und Adoptiveltern einbezieht.
Noch mit einem weiteren Punkt werden wir uns in den Ausschußberatungen intensiv zu befassen haben. Das ist die Arbeitsplatzgarantie, mit der der Arbeitsplatz der Mutter auf sechs Monate gesichert wird. Ich kann auf diesen Punkt jetzt nicht näher eingehen.Meine Fraktion übersieht auch nicht die Probleme, die sich für viele Mütter mit der Geburt eines zweiten Kindes oder weiterer Kinder ergeben. Auch bei uns in der Bundesrepublik wird es jetzt eine ganz neue Generation junger Mütter geben, die in diesen Mutterschutz hineinwachsen, eine neue Generation, die von dem neuen Recht nun wirklich profitieren kann.Ich meine, daß wir uns darüber hinaus sehr wohl Gedanken machen müssen, gezielt auch das Problem der kinderreichen Familien im Rahmen des Familienlastenausgleichs anzugehen.
— Ich bin nie verlegen, Herr Kollege.
Nun zur CDU/CSU! Nach den vielen Offensiven, die Ihr Fraktionsvorsitzender im Laufe der Jahre angekündigt hat, rollt ja nun die Frühjahrsoffensive für eine neue Familienpolitik. In den Ländern, wo die CDU das Sagen hat, bleibt allerdings von der Liebe zur Familie wenig übrig, wenn man sich die Programme einmal ansieht.
„Erziehungsgeld als Modell in Niedersachsen" — tatsächlich handelt es sich um vier Gemeinden dieses Landes, in denen Sie erwerbstätige Mütter oder Väter — ich glaube, es sind zwei oder jetzt vielleicht fünf Väter — bei einem Entgelt von 350 DM monatlich
an den häuslichen Herd zurückgeschickt haben,,selbstverständlich ohne den früheren Arbeitsplatzzu sichern.
Ich kann es nicht nachahmenswert finden, die reale Arbeitsmarktsituation so zu verniedlichen, wenn man genau weiß, daß nach anderthalb Jahren der frühere Frauenarbeitsplatz wegrationalisiert wird.Wie ist es denn um die Familienpolitik in Baden-Württemberg bestellt?
Im Beantragen sicherlich rührig, Familienförderung ganz groß. Aber im Ländle der Häuslebauer selbst geht es sehr viel sparsamer zu. Da lehnt man die Kindergartenbeiträge ab, da lehnt man auch die Finanzierung des Tagesmüttermodells ab, da lehnt man den Jugendhilferechtsentwurf zunächst aus Kostengründen ab.
Aber dabei geht es jetzt hier zunächst nur um die kleinen Fische im Vergleich zu dem nunmehr vorliegenden Gruppenantrag von Unionsabgeordneten, ein Familiengeld einzuführen. „Bundesfamiliengesetz" nennen Sie es in aller Bescheidenheit. Kosten von mehr als 11 Milliarden sind erforderlich, um diese erste Stufe eines großzügig über die Familien der Bundesrepublik ausgeleerten Füllhorns finanzieren zu können. Aber eher nimmt ein Alkoholiker Abschied von der Flasche, als die CDU von der Gießkanne.
Anders kann man dieses Familiengeld sicherlich nicht mehr verstehen. Das ist die Christlich-Soziale Union: Ihre Finanz- und Wirtschaftspolitiker fordern unverdrossen Steuererleichterungen, ihre Familien- und Sozialpolitiker Volksbeglückungsprogramme in gigantischer Größenordnung, und gleichzeitig prangern ihre Haushaltspolitiker den Bund wegen zu hoher Staatsverschuldung an; ein schäbiges Spiel, das die Bürger in unserem Lande für Dumme hält.
Während die Bundesregierung mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf ein realisierbares Konzept vor-
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Frau Dr. Lepsiuslegt, hetzen Sie mit Gleichheitsparolen die Hausfrauen gegen die erwerbstätigen Frauen auf.
Ja, gewissermaßen machen Sie eine neue Art Klassenkampf, der jetzt sogar in die Gruppe derjenigen berufstätigen Mütter hineinzielt, die wieder ihre Arbeit aufgenommen haben, nachdem sie die Kindererziehung hinter sich gebracht haben.
—Sie wissen sehr wohl, welche Briefe bei Ihnen gelandet sind.Dabei sieht der typische Lebensablauf einer Frau so aus, daß Phasen einer Erwerbstätigkeit und der ausschließlichen Widmung für Familienaufgaben sich überschneiden, und daß es den von Ihnen aufgeworfenen Graben zwischen Hausfrau und erwerbstätiger Frau überhaupt nicht gibt. Sie versuchen ja, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Dabei bedienen Sie sich ironischerweise auch noch der berechtigten Forderungen der Frauenemanzipation, die Sie bei anderer Gelegenheit in so beleidigender Weise bekämpfen. Frau Geier spricht hier unwidersprochen von Emanzipationshysterie, und die CDU klatscht dazu.
Sie mißbrauchen dann auch noch den Wunsch nach Einbeziehung der Väter als Steigbügel für Ihr Familiengeld.Uber Probleme, die Arbeitnehmerinnen berühren, ob durch arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen nicht gewisse Verdrängungseffekte auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst werden, gehen Sie völlig hinweg, oder Sie lösen sie auf Ihre CDU-eigene, unnachahmliche Art und Weise: Mütter werden für eineinhalb Jahre an den häuslichen Herd zurückgeschickt — und dieser „Heimarbeitsplatz" ist einer Mutter sicher. Was braucht sie dann auch noch außerhäusliche Erwerbstätigkeit?
Die CDU hat in ihrem Gesetzesantrag auf eine Arbeitsplatzsicherung gänzlich verzichtet. Darauf können Sie stolz sein, muß ich sagen, daß Sie dies den erwerbstätigen Frauen zumuten. Eine auf drei Monate befristete Bevorzugung hinsichtlich der Wiedereinstellung durch den früheren Arbeitgeber geht deutlich an der Wirklichkeit vorbei.Ich muß auch hinzufügen: Nach der Rede von Frau Geier in der Haushaltsdebatte unlängst kann doch kein Zweifel mehr bestehen: Die Gleichberechtigung der Frau in Familie und Beruf haben Sie sich doch nur angeschminkt.
Die alten Parolen aus der Zeit der Eherechtsreform, „familienfeindlich", „männerfeindlich", „frauenfeindlich", ja sogar „volksfeindlich", kommen doch jetzt alle wieder von unten nach oben und zum Vorschein.
Sie wollen dien mühsam erkämpften Stand der Gleichberechtigung der Frauen, so unzulänglich dieser in manchen Bereichen noch ist, wieder zurückdrehen.
Sie wollen die Frauen zurück ins Haus verweisen. Dann mißbrauchen Sie noch unser klares Konzept eines erweiterten Mutterschutzes für Ihre beleidigenden Zwecke,
Muttersein von Geburtenprämien abhängig zu machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, ich bitte Sie, Ihre Ausdrucksweise zu mäßigen.
Sie wollen den Staat zum Arbeitgeber kindererziehender Mütter umwerten und die Einmischung des Staates in die Familien herausfordern.
Sie pervertieren damit das Selbstverständnis von Eltern — als ob die Liebe zu Kindern und der Wunsch, Kinder zu haben, von irgendeiner staatlichen Subvention abhängig zu machen wäre.
Dieses Feindbild verkaufen Ihre Wahlkampfstrategen dann als „Schutz der Familie".
Haben Sie nicht bedacht, daß Sie sich damit ein Kuckucksei ins Familiennest gelegt haben? Denn das ist in den Ländern des Ostens ausgebrütet worden, wo man staatlicherseits die Familiengröße planen und die Familien auch steuern kann. Ihnen schwebt ein seltsames Leitbild der gleichberechtigten Hausfrau auf Staatskosten vor.
Wundern muß mich auch: Sie fordern all dies unter Berufung auf sozialistische Vorbilder, Gesellschaftssysteme, die Sie sonst so bekämpfen, und uns Sozialdemokraten und Freie Demokraten denunzieren Sie im gleichen Atemzug der Verstaatlichung und Zerstörung der Familie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, ich rüge den Ausdruck „denunzieren".
Präsident Carstens
Ich bitte Sie noch einmal, Ihre Ausdrucksweise zu mäßigen.
— Herr Abgeordneter Wehner, ich rufe Sie wegen Ihres Zwischenrufs zur Ordnung.
Wenn Frau Geier in diesem Hause in bezug auf unsere freiheitliche Ordnung von einer totalitären Staatsform spricht, dann wird sie vom Präsidenten nicht gerügt.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion
lehnt Ihr Konzept eines Familiengeldes ab, auch wenn wir uns hierbei in ungewohnter Übereinstimmung zu den CSU-Abgeordneten befinden.
Wir lehnen es ab, weil es unsolide und nicht finanzierbar ist. Wir lehnen es ab, weil es eine Einmischung des Staates in die grundgesetzlich geschützte Autonomie der Familie bringt, vor der wir die Familie schützen werden. Wir lehnen es ab, weil es keine echte Wahlfreiheit zwischen Kindererziehung und Berufstätigkeit darstellt
und weil Mütter zwangsläufig ihren Arbeitsplatz verlieren und selbst dann nicht weiterarbeiten können, wenn sie an der Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit interessiert sind.
Im Interesse der berufstätigen Mütter, die auf das Inkrafttreten des erweiterten Mutterschutzes dringlich warten, setzen wir Sozialdemokraten uns dafür ein, daß unser Gesetzentwurf so schnell wie möglich in den Bundestagsausschüssen beraten wird, damit das Gesetz, wie angekündigt, am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höpfinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Lepsius,
so leicht und leider auch so polemisch,
wie Sie es hier getan haben, kann man dieses ernste Thema nicht behandeln.
Einige Male wurden in den Ausführungen die zwischen CDU und CSU unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des Gesetzentwurfes der CDU angesprochen. In einem, meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungsparteien, dürfen Sie sicher sein: In der Zielrichtung, den Familien kräftig zu helfen, sind sich CDU und CSU vollauf einig.
Auch wenn einige ordnungspolitische, finanzpolitische und Verfahrensfragen einer weiteren Erörterung bedürfen: Der Weg, den CDU und CSU in der Familienpolitik gehen wollen und gehen werden, nämlich die Mütter nicht in Berufstätige und Hausfrauen einzuteilen, ist familienpolitisch auf jeden Fall der richtige Weg, viel richtiger als das, was Sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Mutterschaftsurlaubs mit Mutterschaftsgeld begünstigt die erwerbstätigen Mütter und benachteiligt die Mütter, die sich unter Verzicht auf Einkommensmehrung ganz dem Haushalt und der Erziehungsaufgabe zur Verfügung gestellt haben. Bei 600 000 Geburten im Jahr soll nach diesem Gesetzentwurf die Hälfte der Mütter begünstigt, die, andere Hälfte benachteiligt werden. Das ist keine Familienpolitik;
das kommt einer Diskriminierung der Hausfrau und Mutter gleich.
Die Bundesregierung zeigt damit wiederum sehr deutlich, wie wenig sie die Familie als natürliche Gemeinschaft anerkennt
und wie gering sie die Erziehungsaufgabe und Hausfrauentätigkeit einschätzt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird bemüht sein, diese Ungerechtigkeit zu verhindern. Die Änderung dieses Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist dringend erforderlich, weil das Vorhaben der Bundesregierung die Entscheidungsfreiheit der Frau und Mutter ungebührlich beeinträchtigt.
Die Gesetzesvorlage ist eine Fortschreibung des Mutterschutzgesetzes hinsichtlich der Schutzzeiten. Die Änderung trägt zwar dem Gesundheitszustand und der Schonung der Mutter Rechnung, berücksichtigt die Bedürfnisse des Kindes aber nicht gebührend. Wenn es den Regierungsparteien und der Regierung um die Schonung der Mutter geht, frage ich mich, warum diese Leistung ausgesetzt wird,
Höpfinger
falls das Kind stirbt, warum dann also die Leistung nach der dritten Woche wegfällt.
Ist denn die Mutter dann gesünder?
Also muß man sich fragen, was dahintersteckt.
Die Ausweitung des Mutterschutzes von bisher acht bzw. zwölf Wochen nach der Geburt des Kindes auf sechs Monate und die Verlängerung des Verbotes der Kündigung seitens des Arbeitgebers von vier auf sechs Monate bringen für manchen Betrieb eine Reihe von Problemen mit sich, die nicht einfach übergangen, sondern von ihren Auswirkungen her angesprochen werden müssen. Die mehrfach geäußerte Befürchtung, daß diese beabsichtigte Gesetzesänderung zu einem Arbeitsplatzverhinderungsgesetz werden könnte, muß auf jeden Fall ernstgenommen werden. Die neue Gesetzeslage könnte zumindest vorübergehend eine negative, skeptische Haltung auslösen, je nachdem, wie die Arbeitsmarktsituation sich entwickelt.
Ebenso ist die andere Verhaltensweise möglich, daß sich Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen und als arbeitslos gemeldete Frauen Anspruch auf die finanziellen Leistungen des Mutterschaftsschutzgesetzes, auf, das Mutterschaftsgeld, erwerben. Diese Annahme wird in der Äußerung der Bundesregierung zwar für unbegründet gehalten, doch was bleibt denn der Hausfrau und Mutter allmählich anderes zu tun übrig, wenn sie feststellen muß, daß sie fortwährend benachteiligt und von dieser Bundesregierung geradezu zum Aschenputtel der Nation gestempelt wird?
Mit dieser Haltung verhindern Sie eine positive Einstellung zur verantworteten Elternschaft;
Dabei fordert der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die gesellschaftlichen Kräfte auf mitzuhelfen, daß unser Land kinderfreundlicher wird. Wenn die Bundesregierung andere schon um Mithilfe bittet, sollte sie vorrangig bemüht sein, voranzugehen und familienpolitische Leistungen zu gestalten. Dazu gehören zwei wesentliche Dinge: erstens der gesetzliche Schutz für die Familie und zweitens die finanziellen Hilfen für die Familien. Die finanziellen Hilfen gehören deshalb dazu, weil die schönen Worte allein keine Wende der negativen Familiensituation unseres Landes herbeiführen.
Nun sagt 'die Bundesregierung: Da ist doch viel geschehen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat darauf hingewiesen und gesagt, daß in den letzten Jahren z. B. das Kindergeld erhöht worden sei. Dabei darf man nicht vergessen, wie sehr CDU und
CSU fortwährend geschoben haben, damit das Kindergeld angepaßt wurde.
Aber wie ist die Wirklichkeit? Mit der Kindergeldanhebung für das dritte und jedes weitere Kind haben Sie von den 13 Millionen kindergeldberechtigten Kindern bisher 2,4 Millionen erreicht. Erst mit Erhöhung des Zweitkindergeldes ab 1. Juli werden weitere 4 Millionen Zweitkinder begünstigt. Vergleicht man Geburtenentwicklung und Kindergeldleistung, so stellt man fest: Bei gleichbleibender Geburtenentwicklung, ausgehend vom Jahr 1970, hätte der Bund bis zum Jahr 1977 rund 5 Milliarden DM mehr an Kindergeld aufbringen müssen.
Es wurden also höhere Leistungen für weniger Kinder bezahlt.
Die Anhebung ,der Kindergelder war mehr als fällig. Eine überragende Gesamtleistung und Glanzleistung der Bundesregierung war es also nicht.
Ein weiterer Punkt ist der gesetzliche Schutz der Familie. Betrachtet man die Gesetzgebung dieser Bundesregierung im Bereich von Ehe und Familie und unterzieht sie einer Wertung, dann kann man nur erschüttert feststellen: Sie reißen, zerren und schlagen an den Wurzeln von Ehe und Familie herum, schlimmer als die Axt im Walde, die den Baum entwurzelt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Höpfinger, ich bitte auch Sie, sich in Ihrer Ausdrucksweise zu mäßigen.
Von dieser Bundesregierung wird Art. 6 des Grundgesetzes nicht ausgeformt, sondern ausgehöhlt.
Wenn wir in der Frage des Mutterschaftsgeldes so sehr für die Hausfrau und Mutter eintreten, ist das keine Zurückstellung der in der außerhäuslichen Berufsarbeit stehenden Frau und Mutter. Wir wissen nur zu gut, wie viele Frauen und Mütter zur Arbeit gehen müssen, um den Lebensunterhalt der Familie bestreiten und aufbessern zu können. Worum es uns geht, ist, die Familie als Lebensgemeinschaft zu sehen. Die Familie ist mehr als nur Tankstelle bei Tag, Kino am Abend und Schlafstätte bei Nacht. In der Familie erlebt der Mensch die tiefste und ursprünglichste Gemeinschaft. Wenn bei uns die Familiensituation nicht wieder gesundet, sind alle anderen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11395
HöpfingerBemühungen und Investitionen für die Zukunft vergebens. Darum wenden wir uns gegen die Benachteiligung der Hausfrau und Mutter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, mir liegt inzwischen das stenografische Protokoll der Rede des Herrn Abgeordneten Franke vor. Darin sind Zwischenrufe verzeichnet, die gemacht worden sind und die hier oben im Präsidium zu diesem Zeitpunkt niemand gehört hat. Ich rüge zwei Zwischenrufe des Herrn Abgeordneten Wehner an dieser Stelle.
Ich erteile nunmehr das Wort der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Franke, Ihre erste Rede hier von seiten der CDU/CSU hat mich betroffen gemacht. Ich fand sie peinlich.
Sie haben von 8,7 lebendgeborenen Deutschen auf 1 000 Einwohner gesprochen. Dabei vergessen Sie — ganz locker nebenbei —, daß es auch ausländische Lebendgeborene gibt.
Sie sprechen hier von Humaninvestitionen, Sie sprechen von Aufzucht eines Kindes.
Das haben Sie zwar zurückgenommen, aber die Denkweise bleibt die gleiche.
Wir sind doch nicht in der Agrardebatte.
Wenn man Ihnen zuhört, wie Sie Minute um Minute immer nur über eines gesprochen haben, nämlich über Geld und mehr Geld und praktisch über einen langjährigen Investitionsplan bis weit über das Jahr 2000 hinaus, dann kommt man zu der Meinung, dies verfehlt das Thema, das wir hier heute morgen diskutieren.
Sie werfen dieser Koalition vor, sie sei zu materialistisch ausgerichtet.
Ich kann Ihnen nur sagen, Geld spielt bei dem Thema Familienunterstützung auch eine Rolle. Es ist ein Mosaikstein unter anderen. Aber wenn man es so ausschließlich darauf reduziert, daß Kinder eben nicht nur auch Freude machen, sondern daß es andere Probleme in diesem Lande gibt, dann ist daseine materialistische Betrachtungsweise, die gar nicht mehr zu überbieten ist.
Sie sagen, Ihr Gesetzentwurf sei Voraussetzung dafür, daß mehr Kinder geboren werden. Ich bezweifle das. Ich komme nachher noch zu den Einzelheiten. Ich glaube auch, daß Geld nötig ist, damit in diesem Lande. mehr Kinder geboren werden, damit sie sich wohlfühlen und damit ihnen die Eltern eine angemessene Umgebung verschaffen können. Aber ich glaube, die Probleme liegen doch ganz überwiegend woanders. Solange es in diesem Lande möglich ist, daß ein Rasenmäher mit seinem Krach hingenommen wird, aber über Kinderlärm geschimpft wird, werden wir das Problem von weniger Kindern haben.
Solange man eher einen Hund ins Hotel mitnehmen kann als kleine Kinder, solange man eher mit einem Hund in eine Gaststätte gehen kann als mit einem Kind, das dann auch schon mal weint, werden wir über dieses Thema diskutieren.
Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen — und das sage ich selten, weil es, glaube ich, normalerweise nicht zutrifft —, daß über das Thema von Kindern, Kindererziehung, Belastung und auch Freude durch Kinder in diesem Hause doch etwas anders gesprochen würde, wenn mehr Frauen in diesem Hause wären.Der vorliegende Gesetzentwurf hat einige wichtige Eckpunkte, auf die die Kollegin Lepsius schon hingewiesen hat. Es handelt sich um die Einlösung dessen, was die Bundesregierung im letzten Jahr auf dem Weltwirtschaftsgipfel zugesagt hat. Nach einem umfangreichen Paket, das wir im letzten Jahr mit der Abschaffung des Tarifsprungs, der Erhöhung des Grundfreibetrages, der Abschaffung der Lohnsummensteuer, der Gewerbesteuersenkung, Erhöhung des Vorwegabzugs, mit Realsplitting und deutlicher Erhöhung des Kindergeldes , verabschiedet haben,
ist dies der dritte Punkt, und zwar der dritte sozialpolitische Punkt, mit dem wir diese beim Weltwirtschaftsgipfel eingegangene Verpflichtung einlösen.
Das Kernstück dieses Gesetzentwurfes ist, daß über die zweimonatige Frist hinaus erwerbstätige Frauen sechs Monate lang, wenn sie es wünschen, unter Fortzahlung der Nettobezüge bis zu höchstens 750 DM von der Arbeit freigestellt werden können. Sie sind dabei in der Renten- und Krankenversicherung beitragsfrei. Übrigens sind wir der Meinung, daß auch nach 1981 die Gelder für die Rentenversiche-
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11396 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Frau Matthäus-Maierrung vom Bund zu zahlen sind und nicht etwa, wie jetzt bei uns vorsichtig und ängstlich angefragt wurde, vom Arbeitgeber. Sie sind beitragsfrei in der Arbeitslosenversicherung, und ihr Arbeitsplatz ist während dieser Zeit gesichert.Ich halte das für einen guten ersten Schritt; denn ich meine, daß die ersten acht Wochen nicht ausreichen, um einerseits die physische und psychische Belastung der Mutter zu überwinden, andererseits aber auch die Beziehungen mit dem kleinen Kind anzuknüpfen, die nötig sind, um auf Dauer eine feste Mutter- und Vater-Kind-Beziehung anzubahnen und zu erhalten. Es gibt eine wichtige Umstellung im Leben jeder Familie: die Umstellung des Tagesablaufs, die Frage der Arbeitsteilung, das Einüben der Arbeitsteilung. Dafür reichen zwei Monate nicht aus.Ich meine, daß unser Gesetzentwurf z. B. auch eine wichtige Voraussetzung dafür ist, daß den Frauen, die ihr Baby stillen wollen, dazu überhaupt die Chance geboten wird. Zwar steht heute schon im Mutterschutzgesetz, daß nach Ablauf der Schutzfrist Mütter von ihrem Arbeitgeber frei bekommen, um das Kind zu Hause stillen zu können. Aber in der Praxis ist es eben nicht möglich, vom Arbeitsplatz nach Hause zu gehen, um dort zu stillen, und dann wieder zurückzukommen. Ich glaube also, daß auch unter diesem Gesichtspunkt die Verlängerung auf sechs Monate eine gute Sache ist.Wir verkennen nicht, daß der Gesetzentwurf zur Verlängerung des Mutterschaftsurlaubes auch einige wichtige Probleme nicht löst. Wir sind uns, glaube ich, darin einig, daß selbstverständlich dann Probleme auftauchen werden, wenn z. B. zwei Nachbarinnen nebeneinander wohnen, von denen die eine Lehrerin ist, noch kein Kind hat, ihren Beruf ausübt und nun, wenn sie ihr erstes Kind bekommt, Mutterschaftsurlaub erhält, und von denen die zweite bereits Mutter von zwei Kindern ist, nicht erwerbstätig ist und diesen Urlaub, wenn sie das dritte Kind bekommt, nicht erhält.
Wir verkennen dieses Problem überhaupt nicht. Wir halten das aber für zwei unterschiedliche Dinge.Das, was wir heute behandeln — dies ist nur ein erster Schritt —, ist die Frage der Entlastung der Frauen, die eine Doppelbelastung haben. Sie haben eine andere Belastung als die Frau, die nicht erwerbstätig ist; deren Belastung will ich gar nicht schmälern, aber die Doppelbelastung hat eben nur die erwerbstätige Frau. Wir wollen heute die Entlastung dieser erwerbstätigen Frau in Angriff nehmen, die bisher schon nach zwei Monaten wieder an den Arbeitsplatz zurück muß. Das bedeutet nicht, daß wir nicht auch meinen: Diese Regierung muß auch das Problem der nicht erwerbstätigen Mütter — das steht auch in unserem Programm — in absehbarer Zeit in Angriff nehmen. Das ist unbestritten.
Wir betrachten das als einen ersten Schritt, aber als einen notwendigen Schritt. Er hat bei uns Priorität, weil im Hinblick auf die Stärkung der Mutter und auch im Hinblick auf die Stärkung der MutterKind-Beziehung die Doppelbelastung sowohl für die Mutter als auch für das Kind schädlicher ist als die einfache Belastung der Frauen, die bereits zu Hause sind.Das Kinderprogramm der FDP enthält einen Vorschlag, von dem wir meinen, daß er im Unterschied zu dem, was die CDU vorschlägt, eben kein bestimmtes Leitbild der Frau verbindlich macht.
— Doch. Im übrigen haben Sie die Möglichkeit,Zwischenfragen zu stellen. Ansonsten bitte ich Sie,mich in meinen Ausführungen fortfahren zu lassen.Sie wollen der. Gesellschaft ein Leitbild der Frau aufoktroyieren. Sie sagen nämlich, das Erziehungsgeld gibt es nur dann, wenn sich einer von beiden, Vater oder Mutter, der Kindererziehung tatsächlich völlig oder ganz überwiegend widmet. Wir sagen, diese Entscheidung muß dem einzelnen freigestellt werden. Wir entsprechen mit dieser Haltung auch der Wirklichkeit in diesem Lande; denn es gibt knapp 10 Millionen Frauen, die heute schon erwerbstätig sind. Es gibt Millionen von Frauen, die Kinder erziehen und erwerbstätig sind, zum Teil, weil sie es müssen, zum Teil aber auch, weil sie es wünschen. Wir als Liberale wären die letzten, die für die Ehe ein Leitbild mit verbindlichem Charakter vorschreiben würden.
Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag ab, der einen Teil der Familie zwingt, seinen Beruf aufzugeben und zu Hause zu bleiben.
Die FDP sieht eine generelle Unterstützung der Familie vor, die an das Kindergeld anknüpft. Unser Kinderprogramm ist, wie Sie, Frau Wex, zu Recht sagen, noch nicht verabschiedet;
Sie werden die Diskussion verfolgen. Frau Wex, wir sind die einzige Partei, die .den Entwurf eines Kinderprogramms eingebracht hat; denn wir halten nichts davon, die Kinder immer nur unter dem Thema „Familie" und „Frauen" zu behandeln, sondern Kinder haben eigene Rechte, sind eigene Persönlichkeiten, sind nicht nur kleine Erwachsene.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Wex?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11397
Bitte schön.
Sie haben zwar festgestellt, daß Sie dieses Programm noch keineswegs verabschiedet haben; würden sie aber auch darauf hinweisen, daß bei Ihrem Parteitag noch einmal die Fristenlösung angestrebt werden sollte? Würden Sie bestätigen, daß es notwendig ist, aus den Erfahrungen der Kinderpsychiater und Kinderpsychologen die Konsequenz zu ziehen, daß ein Elternteil zu Hause bleiben sollte? Ich denke doch, daß das eine Konsequenz ist, die nichts mit Zwang zu tun hat, sondern Erkenntnisse müssen ja auch einmal in die Praxis umgesetzt werden.
Die erste Frage habe ich von mir aus schon beantwortet. Die zweite Frage: Im Gleichberechtigungsprogramm, das bereits verabschiedet ist, Frau Wex, steht — dies steht nicht im Kinderprogramm —, daß die FDP — ich muß es jetzt aus dem Kopf zitieren — nach wie vor die Fristenlösung für die bessere und humanere Lösung hält,
daß wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil akzeptieren, daß wir uns aber in Übereinstimmung mit dem Minderheitenvotum befinden. Vielleicht wissen nicht alle Leute draußen, daß es ein Minderheitenvotum von zwei Richtern — darunter die einzige Frau in diesem Senat — bei diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil gab. In diesem Minderheitenvotum wird festgestellt, daß das Strafgesetz nicht die einzige Möglichkeit ist, um den Schutz des ungeborenen Lebens zu gewährleisten.
Das ist exakt unsere Meinung. Wir sind mit diesem Minderheitenvotum der Ansicht, daß es andere Möglichkeiten gibt, das ungeborene Leben zu schützen, als das Strafgesetzbuch. Aus diesem Grunde streben wir die Fristenlösung nach Ablauf einer bestimmten Frist an, z. B. im europäischen Zusammenhang. Es bleibt jedem unbenommen, wenn er meint, das sei verfassungswidrig, erneut den Weg nach Karlsruhe anzutreten. Ich halte das für eine saubere, offene und rechtsstaatliche Lösung, die zweifellos auch im Interesse der Frauen liegt.
Wir werden auf unserem Parteitag hoffentlich eine generelle Finanzierungsregelung verabschieden, die mit dem Arbeitsplatzschutzgesetz nichts zu tun hat, die eine Erhöhung des Kindergeldes um bestimmte Beträge — 250 DM, 300 DM — in den ersten Lebensjahren des Kindes vorsieht.
Dieser Entwurf hat auch den Vorteil — das wird von Ihnen nicht gelöst —, daß er z. B. au die Selbständigen, die mithelfenden Familienangehörigen in der Landwirtschaft, .die Freiberufler mit einbezieht, also die Personengruppen, die nach Ihrer Vorstellung überhaupt nicht betroffen sind,
da sie von Ihnen dieses Geld nicht bekommen können, wenn sie nicht nachweisen können, daß sie sich ganz dem Kind widmen.
— Ich komme zu den Finanzen, Herr Franke. Nach § 4 Ihres Entwurfs steht der Gewährung dieses Erziehungsgeldes eine Teilzeitbeschäftigung nicht entgegen, wenn — das muß ich zitieren — ausreichend Zeit für die Pflege und Erziehung des Kindes verbleibe und während der übrigen Zeit die Aufsicht über das Kind gesichert sei. Das Nähere soll eine Rechtsverordnung der Bundesregierung regeln.
Wissen Sie eigentlich, was das heißt? Sie sagen, in diesem Lande gäbe es zuviel Bürokratie. Was Sie hier machen, ist ein klassischer Ansatz, mehr Bürokratie einzuführen.
Dann müßten z. B. diejenigen, die eine Teilzeitarbeit verrichten, darüber Buch führen, wieviel Stunden sie für das Baby aufbringen, wieviel Stunden für den Beruf, wann sie nach Hause gekommen sind, wann das Kind gestillt wurde, wann es gewikkelt wurde usw. Dies ist wirklich eine Einmischung in die Familie par excellence, die Sie uns immer vorwerfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Dr. Wex?
Frau Matthäus, würden Sie bitte zugeben, daß das, was Sie hier ausführen, genau die Konsequenz der Haltung ist, die wir bei ihrer Familienpolitik überhaupt vermuten, nämlich als erste Grundlage Mißrauen gegen die Familie zu haben? Die Fragen der Betreuung und der Zuwendung können doch auch von Ihnen nur so gesehen werden, wenn Ihre Prämisse stimmt, daß es sich dabei um eine freiwillige Entscheidung handelt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, Sie müssen eine Frage stellen.
Frau Wex, Sie kommen überhaupt nicht an dem Tatbestand vorbei, daß nach Ihrem Gesetzentwurf die Eltern nachweisen müssen, zu welchem Zeitpunkt und wieviel sie sich dem Kind widmen.
— Entschuldigen Sie, das steht darin. Ich habe zitiert. Darüber muß die Bundesregierung, weil es Ihnen peinlich war, die Einzelheiten ins Gesetz hineinzuschreiben, eine Rechtsverordnung erlassen,
11398 Deutscher Bundestag. — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Frau Matthäus-Maier
wahrscheinlich sogar noch Erlasse und Richtlinien und so weiter und so fort.
Zu der finanziellen Größenordnung Ihres Entwurfs brauche ich mich nur kurz zu äußern. Dazu haben andere Redner bereits Stellung genommen. 3,4 Milliarden DM sind das Minimum. Es ist ja kein Zufall, wenn z. B. der Abgeordnete Häfele an anderer Stelle sagt: Es ist unredlich von uns, von den Unionsparteien, wenn wir sagen, der Staat sei sehr hoch verschuldet, und gleichzeitig teure Anträge stellen. — Dieser Abgeordnete Häfele hat zusammen mit anderen Kollegen Ihren Antrag nicht unterschrieben. Es ist das erstemal in der Geschichte Ihrer Partei und Fraktion, daß die CSU überhaupt nicht mitmacht, weil Franz Josef Strauß dieselbe Position bezogen hat, und in diesem Falle hat er sogar recht.
Man kann nicht immer sagen, wir müßten von den hohen Schulden herunter, und gleichzeitig etwas beantragen, was teuer wird.
Herr Franke, es gibt einen Unterschied. Sie haben meine Kollegin Funcke kritisiert.
— Doch! Selbstverständlich haben Sie sie auch kritisiert.
Sie haben nicht beachtet, daß wir hier — wie auch Frau Funcke in ihrer Presseerklärung — sagen: Wir machen jetzt einen Einstieg mit der Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs. Wir möchten in der Zukunft auch das andere, wissen aber, daß es heute und morgen nicht finanzierbar ist. Deswegen stellen wir es im Moment zurück und setzen die Priorität bei der Doppelbelastung der Mütter. Das andere werden wir in absehbarer Zeit, wenn wieder finanzieller Spielraum da ist, aufgreifen, nicht vorher und nicht später.
- Frau Wex, es tut mir leid, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen, nur dauert es dann ein bißchen länger. Ich würde Ihnen raten, da ich gehört habe, daß nachher Herr Zeitel für Ihre Fraktion spricht, also der dritte Mann, der mit Familienpolitik nicht so sehr viel zu tun hat: Setzen Sie sich doch an seiner Stelle auf die Rednerliste, dann können Sie das hier alles sagen.
Ich glaube, daß unser Entwurf auch noch andere Schönheitsfehler hat das will ich wohl zugeben —, nämlich das Fehlen der Väter und der Adoptiveltern, d. h., daß der Vater an Stelle der Frau oder sonst die Adoptiveltern diesen Urlaub nicht in Anspruch nehmen können sollen. Wir sollten dies in der folgenden Diskussion sehr genau prüfen. Bisher ist mir nur ein ernsthafter Grund bekanntgeworden, warum das nicht schon im Gesetzentwurf steht. 'Es scheint mir so zu sein — vielleicht kann man mich von seiten der Opposition korrigieren -, daß sonst die Gefahr besteht, daß dieses Gesetz zustimmungsbedürftig würde und Sie dann Ihre Mehrheit im Bundesrat möglicherweise einsetzen, um diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Da es uns lieber ist, einen Einstieg zu bekommen, um die Doppelbelastung der berufstätigen Mutter zu vermindern, und wir dies nicht dadurch in Gefahr bringen wollen, daß Sie sagen: „Das lehnen wir ab", müssen wir leider zu Lasten der Adoptiveltern und zu Lasten der Väter diese Regelung zum jetzigen Zeitpunkt zurückstellen. Ich hoffe aber, daß wir das bald nachholen werden.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich möchte Sie wirklich dringlich warnen. Sie haben schon einmal das gleiche Spiel gespielt. Mit der gleichen Argumentation — die nicht erwerbstätige Mutter würde zu Unrecht benachteiligt — haben Sie schon einmal einen wichtigen sozialpolitischen Fortschritt für die . erwerbstätigen Frauen zunichte gemacht. Ich erinnere an den Entwurf zur Einführung des Baby-Jahres im Jahre 1972.
Diese sozialliberale Koalition hatte bei der versicherten Frau in der Rentenversicherung ein Jahr für die Erziehung eines Babys vorgesehen. Sie haben damals gesagt: In diese Regelung müssen alle Frauen einbezogen werden. — Ich gebe Ihnen recht: Wir müssen auf Dauer —das werden wir bei der 84er Lösung tun — sämtlichen Frauen ein beitragsfreies Jahr in der Rentenversicherung für die Erziehung eines Kindes gewähren. Aber auch das war nur als erster Schritt geplant. Sie haben mit der gleichen Begründung, daß Sie nicht alles kriegen konnten, das Wenige, den ersten Schritt, der für viele Frauen ein enormer Fortschritt gewesen wäre, verhindert. Machen Sie das heute nicht wieder!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hasinger?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, da Sie vorhin die Vermutung geäußert haben, der Bundesrat könne Ihr Anliegen, daß auch Väter und Adoptiveltern in 'den Genuß der Leistungen kommen sollten, behindern, frage ich: Haben Sie die Stellungnahme des Bundesrates in der Drucksache 8/2613 gelesen, in der es heißt: „Die Bundesregierung wird gebeten, ... darauf hinzuwirken, daß statt des Mutterschaftsurlaubes ein Elternteilurlaub geregelt wird Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob eine entsprechende Regelung für andere Personen ..., z. B. Adoptiveltern, vorgesehen werden
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11399
Hasingerkann" ? So heißt es in der Stellungnahme des Bundesrates ausdrücklich. Dann können Sie doch hier nicht so argumentieren, wie Sie es getan haben.
Das . habe ich selbstverständlich gelesen, und das begrüße ich auch. Aber der Bundesrat sagt gleichzeitig - das habe ich nämlich auch gelesen, und ,das wird durch Ihren Entwurf hier heute morgen unterstrichen —, daß diese Regelung auf sämtliche, auch nichterwerbstätige Frauen erweitert werden müßte. Sie wissen ganz genau, daß, wenn Sie das damit koppeln, diese ganze Frage eine finanzielle Dimension erreicht, die wir heute nicht bezahlen können. Deswegen kann diese Erweiterung heute nicht vorgenommen werden. Deswegen müssen wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Ich möchte weiter sagen — das wird draußen ebenfalls diskutiert —, daß es durchaus noch Probleme bei diesem Gesetzentwurf gibt. Es wird z. B. argumentiert, es bestehe die Gefahr, daß Frauen auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen hätten als zuvor, weil ja ein Arbeitgeber, wenn er eine junge Frau einstellt, Gefahr läuft, daß diese Frau einmal den sechsmonatigen Mutterschaftsurlaub in Anspruch nimmt und dann ausscheidet, und das gebe Probleme. Wir wollen gar nicht von der Hand weisen, daß ein solches Problem existiert. Jede sozialpolitische Schutzvorschrift kann auch das Risiko in sich bergen, daß die Geschützten an anderer Stelle benachteiligt werden. Das ist schon richtig. Allerdings sind wir ,der Ansicht, dieses wäre erstens besser zu unterbinden, wenn eine dem Mutterschaftsurlaub entsprechende Regelung auch für Väter vorgesehen würde. In diesem Fall weiß ja der Arbeitgeber nicht, ob der, der bei ihm eingestellt wird, möglicherweise Vater wird. Zweitens kann ich dieses Argument nicht akzeptieren, solange es in diesem Lande selbstverständlich ist und rechtlich abgesichert ist, daß junge Männer, die ihren Grundwehrdienst leisten, ohne weiteres dafür von ihrem Arbeitgeber völlig freigestellt werden. Ich meine, daß das Ableisten des Grundwehrdienstes nicht wichtiger ist als das Erziehen eines Kindes.
Ich möchte zum Schluß kommen. Die FDP-Fraktion begrüßt diesen Gesetzentwurf und hofft, daß er sehr schnell beraten wird, damit möglichst viele Frauen nach dem 1. Juli 1979 in den Genuß der vorgesehenen Regelungen kommen. Mir persönlich ist kein einziger Gesetzentwurf bekannt, bei dem es so viele Zuschriften von Frauen gegeben hat, die uns fragen, ob sie in den Genuß dieses Mutterschaftsurlaubes kommen.
Ich glaube, wir sollten diese Frauen nicht enttäuschen, und ich bitte Sie von der CDU/CSU, Ihren Standpunkt zu überdenken und diesem Entwurf als erstem Einstieg in einen verbesserten Familienlastenausgleich zuzustimmen.
Das Wort hat Frau Bundesminister Huber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erst zweieinhalb Monate her, daß wir das Kindergeld um 2,5 Milliarden. DM erhöht haben.
Sie wissen ganz genau, in welche Richtung 'diese Kindergelderhöhung hauptsächlich geht und wem sie dient. Sie dient den Müttern mit mehreren Kindern — und das sind meist die nic.htberufstätigen Mütter. Nun geht es heute um den Mutterschaftsurlaub. Er kostet auch fast 1 Milliarde DM. 'Die CDU bringt jetzt ihr Kontrastprogramm. Dieses Kontrastprogramm, so mögen Sie glauben, mag populärsein, aber es ist nicht seriös.
Denn es beinhaltet solche hohen Kosten mit schon verankerter steigender Tendenz, daß wir Sie allen Ernstes fragen, ob Sie wirklich sagen wollen, die Regierung solle sich ausdenken, woher das Geld kommt. Es macht sich natürlich immer gut, wenn Sie bei einer solchen Debatte sagen: Die CDU hat überhaupt immer alles „angeschoben", was hier geschehen ist, und die Regierung sowie die Koalitionsfraktionen überlassen der Familie alle Lasten, tun aber nichts für die Familie. 1975 haben wir das Kindergeld für alle eingeführt. Wir 'haben zu den Summen, die aus Steuermitteln zur Verfügung standen, noch 4,5 Milliarden DM zugeschlagen. Damals betrug das Kindergeld 13 Milliarden DM, heute beträgt es 17,3 Milliarden DM. Über 8 Milliarden DM mehr Kindergeld in vier Jahren, wann hat es das bei Ihnen früher je gegeben? Wenn Sie sagen, Sie hätten das „angeschoben", kann ich nur erwidern: Sie haben im Finanzausschuß vor 1975, als dies zur Debatte stand, so viel „angeschoben", daß Sie bis zuletzt auch noch darüber diskutiert haben, ob wir nicht die alten Steuerfreibeträge beibehalten sollten.Weil Sie sagen, es sei nichts für die Familie getan worden, will ich gern noch drei Zahlen aus der Zeit seit 1969 anführen. Kindergeld, Kinderzuschüsse, Unterhaltsleistungen, Mutterschaftsgeld und Waisenrenten zusammen betrugen damals rund 30 Milliarden DM. Sie betragen heute über 60 Milliarden DM. Sie haben sich verdoppelt. Das Wohngeld hat sich mehr als verdreifacht. Die Ausbildungsförderung 'hat sich mehr als verzehnfacht. Und da sagen Sie, für die Familie sei nichts geschehen.Ich kenne das. Schon vor der letzten Wahl wurde vom Erziehungsgeld geredet; es stand aber nicht in Ihrem Programm. Sie haben in der vorigen Wahlperiode einen Gesetzentwurf zum Erziehungsgeld eingebracht, aber wieder zurückgezogen. Heute nennen Sie dasselbe „Familiengeld" und haben nicht einmal Ihre eigene Fraktion hinter sich, wie wir aus Ihrer Strategiekommission wissen.
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11400 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Frau HuberWir lesen bei Ihnen, daß das „Familiengeld" aus Kürzungen an anderer Stelle finanziert werden solle. Seit fast zehn Jahren habe ich im Bundestag noch nie erlebt, daß Sie Kürzungen an irgendeiner Stelle vorgeschlagen hätten oder gegen Steuererleichterungen gewesen wären. Dazu ist anzumerken: Allein im Einkommensteuerbereich sind in diesem Jahr Steuererleichterungen von immerhin über 10 Milliarden DM eingetreten. Dagegen waren auch Sie nicht.Bei den Maßnahmen selbst geht es in der Politik nicht nur um den guten Willen, sondern auch um den guten Zweck. Der Mutterschaftsurlaub ist sinnvoll. Denn er bringt den erwerbstätigen Müttern eine große Erleichterung ohne einen Anreiz für Gutverdienende. Auch für mich ist das nur ein erster Schritt. Ich sage: Es ist e i n Schritt. Es ist nicht der letzte, jedoch dieser ist außerordentlich notwendig und wichtig. Weitere Schritte werden bestimmt nicht immer nur für berufstätige Mütter geplant.Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf davon aus, daß das angebotene Familiengeld genügend Anreiz gibt, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten. Ich will Ihnen aus unseren Umfragen berichten, daß selbst bei 500 DM nur 37 0/o der Mütter — wir haben ja einen steigenden Anteil von Müttern im Berufsleben — aus dem Erwerbsleben ausscheiden würden. Bei 400 DM wären es, glaube ich, keine 30 %. Ich glaube also nicht, ,daß Ihr Entwurf sehr viel Wirkung haben würde.Die Maßnahmen von der Größenordnung, wie Sie sie vorschlagen, lassen keinen Spielraum für andere, gezielte Maßnahmen. Das mag Ihnen populär erscheinen, aber es würde uns die Hände binden, gezieltere Maßnahmen anzugehen.Sie haben den Geburtenrückgang angeführt. Ich möchte die Frage stellen, woher der Geburtenrückgang kommt. Wo liegt denn eigentlich die wirkliche Ursache? Bei seit langem in etwa stagnierender Zahl von Kinderlosen und Einkinderfamilien und steigender Tendenz für Zweikinderfamilie ist es ganz klar, wo die größere Kinderzahl früher hergekommen ist und heute nicht mehr herkommt, nämlich von den Mehrkinderfamilien.Wenn Sie heute die Statistik der Mehrkinderfamilien sehen, können Sie feststellen, daß schon mehr als die Hälfte dieser Familien den Kreisen der gutsituierten Bürger angehören. Wenn Sie wollen, daß wir mehr Mehrkinderfamilien im Bereich der Normal- und Kleinverdiener haben, dann dürfen Sie nicht mit ungezielten Maßnahmen, wie Sie sie vorschlagen, in Milliardenhöhe allen etwas geben. Dadurch würden die Ungerechtigkeiten nicht kleiner gemacht, als sie jetzt sind.
Es geht doch um die 40 % Kleinverdiener, die nicht in Urlaub fahren, die die großen Wohnungsschwierigkeiten haben usw. Es muß doch erlaubt sein, darüber nachzudenken, wie man hier helfen kann. Das können Sie aber nicht, wenn Sie Milliardenbeträge in einem Jahr ungezielt für alle geben.Ich muß sagen: Ich finde es geradezu geschmacklos, Herr Franke, daß Sie hier die Frage der Abtreibung angeführt haben. Bei den sozialen Indikationen gibt es niemals nur ein finanzielles Argument. Aber wenn es dieses gäbe, dann müßten Sie hier Maßnahmen gezielt für jene verlangen, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind, und nicht Maßnahmen für alle; die würden überhaupt nichts nützen.
Sie haben mein dpa-Interview angesprochen. Die Frage, auf die ich rekurierte, war ganz schlicht die: Woran könnte man in der Zukunft denken? Dazu habe ich gesagt: Man könnte an eine ganze Reihe von Maßnahmen denken, z. B. an die, an die und an die. Das bedeutet keine Festlegung. Das bedeutet auch nicht, daß ich das eine oder das andere oder alles zusammen morgen vorschlagen werde. Aber eines sage ich Ihnen: Denken ist in der Familienpolitik nicht nur erlaubt, sondern geboten.
— Wenn, Sie die Frage und meine Antwort darauf lesen, werden Sie genau sehen, daß ich verantwortungsvoll geantwortet habe. — Wir müssen endlich dazu kommen, Benachteiligungen gezielt abzubauen. Dazu ist es erforderlich, alle Möglichkeiten zu erwägen und dann zu entscheiden; das braucht seine Zeit.Ihre Familienpolitik ist, finde ich, einfallslos.
Denn Familienpolitik ist bei Ihnen gleich Geld. Beim Geld zeigen Sie dann immer die große Gießkanne vor. Aber dort, wo Sie in der Verantwortung stehen, tröpfelt dann aus dieser Kanne nur wenig Wasser.
— Das heißt — das hat Frau Lepsius hier schon vorgetragen —, daß auch die kleinen Modelle in den Ländern, wenn man einmal dahinterguckt, immer nur ganz kleine Gruppen von Menschen betreffen. Dennoch wird mit diesen Mini-Programmen eine große Schau gemacht.
- Familiengründungsdarlehen werden in einigen Ländern erprobt
- auch in Berlin. Was soll das? 'Das können Sie mir also doch nicht vorhalten.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11401
Bundesminister Frau HuberAuf jeden Fall beobachten wir sehr sorgfältig — genau das habe ich in meinem Interview gesagt —, welche Maßnahmen in den Ländern welche Wirkungen haben. Dies gehört auch zu meinem verantwortungsvollen Amt.Wir halten eine Familienpolitik für sinnvoll, die Schritt für Schritt auf dem richtigen Wege geht, Benachteiligung abzubauen, dabei auch 'das finanziell Machbare berücksichtigt und auch noch dafür sorgt, daß wir uns nicht für alle Zeiten die Hände so binden, daß wir gezielte Maßnahmen überhaupt nicht mehr machen können.
— Die Hausfrau und Mutter wird hier zum großen Teil miterfaßt. Denn die Erst-Kinder sind, wie Sie wissen, fast alles Kinder berufstätiger Mütter, und wir haben eine große Gruppe von Erst-Kinder- oder Ein-Kinder-Familien.Ich sage nicht, daß dies der Schlußpunkt ist — darüber brauchen wir nicht zu streiten —, aber ich sage, daß wir für dieses Jahr — bei knapper Finanzlage — ein großes Programm mit dreieinhalb Milliarden DM gemacht haben, von dem im vorigen Jahr kein Mensch auch nur geträumt hätte. Sie dagegen legen immer dieselben Programme vor und sagen niemals, woher das Geld kommen soll.Familienpolitik ist wichtig, auch in finanzieller Hinsicht. Das dokumentieren wir auch hier und heute. Aber sie ist niemals nur eine Frage des Geldes. Es geht hier auch um den Freiheitsraum der Bürger, und da können Sie nicht alles mit Geld kaufen. Gerechtigkeit können Sie auch nicht mit Gießkannenmaßnahmen wie dem Familiengeld kaufen. Darüber muß man sich schon mehr Gedanken machen.
Das Wort hat Frau Dr. Wex.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU hält fest, daß alle Redner der Koalition festgestellt haben, daß dies Mutterschaftsurlaubsgeld nicht ausreichend ist und weitere Schritte folgen sollen. Es ist wohl nicht das richtige Verständnis von Mehrheit, daß Sie die Vorschläge der Opposition, die in die Richtung gehen, keine neuen Ungerechtigkeiten zu schaffen, von vornherein so diskriminieren, daß damit auch die Ansätze verschüttet werden, die im Sinne unserer Familienpolitik und nicht einer Politik des Gegeneinander gegeben sind.
Die CDU/CSU hält fest
— die CDU/CSU —, daß die Ministerin und die anderen Redner gesagt haben, Familienpolitik sei nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Klimas, das in einer Gesellschaft für die Familie geschaffen wird, das halten wir fest.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt ?
Ich lasse eine Zwischenfrage zwar gern zu, möchte aber erst einmal den Gedankengang zu Ende führen. — Ich bin der Meinung, daß hier eine dramatische Situation dadurch entsteht, daß man das Prinzipielle zwar akzeptiert, es aber nur deshalb ablehnt, weil es von der Opposition kommt.
Das ist ein Schaden für die ganze Gesellschaft und für unsere Politik.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Ja, gern.
Frau Kollegin Wex, darf ich Ihren Worten entnehmen, daß aus dem Pünktchen der Tagesordnung mit dem Abgeordnetenentwurf unter dem Namen Kohl und Genossen inzwischen ein Fraktionsentwurf der CDU/CSU geworden ist?
Ich glaube, Sie haben sehr genau verstanden, was ich hier festschreiben will, damit auch hier das geschieht, was wir bei anderen Gesetzen erreicht haben. So ist es doch z. B. bei der Beratung des Gesetzes über die elterliche Sorge auf Grund des ständigen Drängens der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und auf Grund der ständigen Hinweise auf die Konsequenzen gelungen, einen Teil des Mißtrauens gegen die Familie, das in diesem Gesetz zum Ausdruck kam, abzubauen. Immer dann, wenn es wahltaktisch notwendig erscheint, werden andere Dinge nachgeschoben.
Deswegen nagele ich diese Punkte hier fest, auf die wir später noch zurückkommen können.
— Doch. Uns ist gemeinsam: Wir wollen kein Mißtrauen gegen die Erziehungskraft der Familie und keinen neuen Graben zwischen berufstätigen und denjenigen Hausfrauen und Müttern, die im Hause berufstätig sind. Das ist doch unsere gemeinsame Grundlage auch für das Gesetzgebungsverf ahren.
— Sie werden sehen, daß dieser Antrag im ganzen unterstützt wird, gerade vom Grundsatz her.
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11402 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Frau Dr. WexHeimerziehung ist oftmals die Konsequenz, das Resultat der Nichtzuwendung der Mutter zu ihrem Kind in den ersten Jahren. Ein Heimplatz kostet 1 500 DM im Monat. Dieses Geld sollte besser dazu verwendet werden, Schäden vorzubeugen.Ich möchte nur noch zwei Punkte ansprechen. Ich beziehe mich nämlich nur auf die bisherige Debatte und will keine Grundsatzerklärung abgeben.
— Weil von Ihrer Seite keine grundsätzlichen Aussagen gekommen sind, Frau Timm. Die Rede von Frau Lepsius war reine Demagogie, aber keine grundsätzliche Darlegung,
Frau Abgeordnete, darf ich Sie bitten, das Wort „Demagogie" ,aus Ihrem Sprachgebrauch herauszulassen.
Es war mir schon klar, daß das kommen mußte, Frau Präsidentin.
In der Familienpolitik kommt es nicht allein darauf an, Geld. zur Verfügung zu stellen, sondern vor allem darauf, die Erziehungskraft der Familie zu stärken. Und hier muß ich doch auf eine ganz böse Formulierung — „böse", Frau Präsidentin, darf ich sagen — der Frau Lepsius eingehen. Sie meinte sagen zu können, es komme uns in der Familienpolitik nur darauf an, Kinder zu bekommen.
— Ich wußte, daß das kommt. Herr Franke hat diesen Begriff zurückgenommen. Die in der Gesellschaft und bei jungen Ehepaaren vorhandenen Kinderwünsche müssen doch auch tatsächlich verwirklicht werden können. Für uns ist Familienpolitik die Grundlage einer freien Gesellschaft. Wer die Familie zerstört, zerstört die Grundlage der freien Gesellschaft.
Noch eine Sekunde, und Ihre Redezeit ist zu Ende.
Bevölkerungspolitik dagegen muß sich darauf beschränken, Rah-. menbedingunen zu setzen und Hindernisse abzubauen. Das ist der Inhalt von Freiheit, den wir in dieser Entscheidung finden.
Es wurde gesagt, wir hätten in unserem Gesetzentwurf die Kindererziehung zu einer staatlich finanzierten Funktion gemacht. Nein! Das Familiengeld soll die Möglichkeit geben, auf Berufstätigkeit zu verzichten, um damit eine staatliche. Ersatzinstitution nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Das ist der grundsätzliche andere Ansatzpunkt.
In der Debatte ist so viel an Mißverständnissen und Unterstellungen gewesen, die aufgeklärt werden mußten. Entschuldigen Sie, daß es etwas länger geworden ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Zeitel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Matthäus, gestatten Sie mir eine mehr scherzhaft gemeinte Vorbemerkung. Wenn ich es richtig verstanden habe, gefiel es Ihnen nicht, daß wieder ein Herr von uns sprechen würde. Ich darf Sie immerhin darauf aufmerksam machen — wenn Sie sich nicht selbst einem bestimmten Leitbild verhaftet fühlen wollen —, daß ich Familienvater von vier Kindern 'bin, ich füge hinzu: ein glücklicher Familienvater. Ich teile auch Ihre Meinung, daß das, was wir hier zu diskutieren haben, nicht nur eine materielle Seite, nicht nur eine gesetzgeberische, sondern auch ein Bekenntnis zur Freude beinhaltet, die man als Mutter und Vater in der Familie haben kann.
Ich muß ganz offen sagen: es ist nicht sehr schön, was in bestimmten Diskussionsbereichen an Polemik hineingebracht wird. Wir stimmen völlig mit Ihnen darin überein, Frau Matthäus, daß die Familienpolitik in weiten Kreisen in unserem Lande viel zu sehr als ein materielles und ein finanzielles Problem gesehen wird. Nur — ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen —, wir haben in bezug auf denjenigen Teil der Familienpolitik, der nicht materiell orientiert ist, in wichtigen Teilbereichen grundlegend andere Vorstellungen als Sie. Wir sind in der Familienpolitik mit Entschiedenheit gegen eine Gesetzgebung und gegen Leitbilder, deren Hauptinhalt die Entfremdungstheorie ist. Wir meinen, daß in der gesamten Familienpolitik die gesunde Familie sehr viel stärker als das Kernelement der Sinngebung des Lebens in unserer Gesellschaft gesehen werden sollte.
Frau Matthäus, weil mir Ihr Beitrag gefallen hat, lassen Sie uns auch die Grundsatzpositionen deutlich machen, in der wir uns unterscheiden. Sie haben von einem bestimmten Leitbild gesprochen. Genau das tun wir nicht. Mit der gegenwärtig anstehenden Gesetzgebung sind wir an einer Wegscheide in der Familienpolitik. Es geht darum, deutlich zu machen, daß nicht weiter zwischen einzelnen Gruppen von Frauen unterschieden werden soll und daß nicht ein Teil diskriminiert werden darf. Vielmehr ist der zentrale Ansatz, der die höchste Priorität in unserer Politik hat, der Schutz der Gesamtfamilie, nicht nur eines Teiles.
Es geht nicht um irgendein Leitbild dieser oder jener Art, sondern um die Frau, die in freier Selbstentscheidung bestimmen können soll, ob sie die Rolle als Mutter wählt und ausfüllt, ob sie selbständig werden will oder ob sie Arbeitnehmerin werden will.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11403
Dr. ZeitelWir wollen kein Klassendenken mehr; das wäre ein Rückfall in die Vergangenheit. Die Zukunft sollte von einem solchen Denken nicht bestimmt sein.Für uns ist es unerträglich, in welchem Umfang erneut zwischen einzelnen Gruppen von Frauen unterschieden und ein Teil diskriminiert werden soll. Dabei geht es nicht nur — darauf will ich aufmerksam machen — um die Diskriminierung der von uns gleichrangig erachteten Nur-Hausfrau. Davon ist heute morgen schon gesprochen worden. Die Koalition diskriminiert auch die selbständig erwerbstätige Frau; denn sie soll im Gegensatz zur Arbeitnehmerin nichts bekommen.
Sie diskriminieren auch Millionen von mithelfenden Ehefrauen, die die am meisten belasteten Frauen in unserer Gesellschaft sind: Sie ziehen die Kinder groß, sie stehen ihrem Mann zur Seite, sie führen die Buchhaltung, bedienen das Telefon und machen die Organisation. Die mithelfenden Frauen in Millionen Betrieben interessieren Sie offensichtlich nicht.
Wir meinen deshalb, daß Ihr Weg die Fortsetzung eines Klassendenkens beinhaltet. Wir dagegen wollen einen ganz neuen Ansatz in der Familienpolitik.
Ich will hinzufügen, daß dieser neue Ansatz im Gesamtzusammenhang unseres sozialen Sicherungssystems gesehen werden muß und, wenn Sie so wollen, das letzte Stück in der Vollendung des Generationenvertrages ist, das bisher noch fehlt. Das ist heute morgen leider auch nicht deutlich gemacht worden. Das ist der Gesamtansatz einer anderen Politik.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier?
Ja. Vizepräsident Frau Renger: Bitte.
Herr Zeitel, sind Sie nicht mit mir darin der Meinung — ich wies eben darauf hin —, daß dieser Gesetzentwurf, der in der Tat nur für die berufstätigen Mütter ein Mutterschaftsurlaubsgeld vorsieht, nur ein erster Schritt ist und daß dann ein zweiter Schritt — wie wir von der FDP ihn sehen —, der ein erhöhtes Kindergeld an alle vorsieht, das wir „Betreuungszuschlag" nennen, die einzige Möglichkeit ist, finanzielle Unterstützung für die Familie vorzusehen, die nicht an ein Leitbild, entweder der berufstätigen Frau oder der nichtberufstätigen, anknüpft, und daß dieser Vorschlag als einziger das Problem der seib-ständig Tätigen und der Freiberufler löst?
Frau Matthäus, wir glauben, daß wir mit unserem Gesetzentwurf die Diskriminierung in dem möglichen Rahmen einengen und vermeiden. Das ist der Unterschied in der Betrachtung.
Ich will wenigstens zwei Sätze — wegen der Kürze der Zeit — darauf verwenden, deutlich zu machen, daß wir die Folgewirkung der Ausdehnung des Mutterschutzes ernster einschätzen, als das von Ihrer Seite geschehen ist.
Ich glaube, die Frage, ob dadurch ein zusätzlicher Zug zur Erwerbstätigkeit ausgelöst wird oder nicht, ist nicht ganz einfach zu beantworten, Frau Matthäus. Ich gebe aber doch zu bedenken, ob nicht über diesen Weg die auch von Ihnen gewollte Ausdehnung des Arbeitsschutzes — und darum handelt es sich im Grunde genommen — unter Umständen pervertiert werden könnte. Die Tragweite dessen, was hier beschlossen wird, ist für viele kleine Betriebe noch gar nicht voll abzusehen. Unter Umständen ist es eben z. B. nicht möglich, eine Ersatzkraft zu finden.Ich bin Ihnen, Frau Matthäus-Maier, dankbar, daß Sie darauf hingewiesen haben, daß bisher nur eine Finanzierungszusage der Regierung für die Mehrausgaben bis 1981 gegeben ist, was ich für unfair halte. Dabei bleibt eben leider offen, wie danach verfahren wird.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, daß wir diesen Mangel im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens beheben wollen.
Nun lassen Sie mich noch einige prinzipielle Bemerkungen zur Finanzierungsseite machen. Frau Huber, so, wie Sie argumentieren, ist es nicht seriös.
Man kann nicht der Opposition vorwerfen, sie mache einen zu teuren Gesetzentwurf, und zur gleichen Zeit ein Gesetzespaket ankündigen, das nicht billiger ist und das im übrigen dem Grundanliegen nicht gerecht wird.
Frau Matthäus, es ist ebenso nicht seriös, wenn Sie den Vorschlag machen, die Maßnahmen später auf andere Gruppen auszudehnen. Sicher ist von Ihnen beabsichtigt, das zwei Monate vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen im nächsten Jahr zu machen. Dieses Spielchen werden wir nicht mitspielen.
Wir machen nicht mit, wenn Sie Milliardenbeträge an Haushaltsüberschüssen ansammeln, um sie dann im Februar oder März unter die staunende Bevölkerung zu verteilen. Wir meinen, wer das will, wer
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11404 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Zeiteleine politische Priorität setzt, der kann heute seinen Worten auch Taten folgen lassen und einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen.
Ich will die finanzpolitische Problematik noch vertiefen: Hören Sie auf mit dieser Masche, unsere Vorschläge seien unseriös, Ihre aber seriös. Da sitzt der Finanzminister. Er hat im Juni des vergangenen Jahres erklärt, was wir vorschlagen, sei nicht finanzierbar. Während der Sommerpause hat dann aber unser Staatsschauspieler ein 13-Milliarden-Programm aufgelegt. Das war dann „seriös"!
Sollen wir hier wirklich einmal auf den Tisch legen, wie viele hundert Millionen Sie über Nacht herauszaubern, die dann auf einmal da sind — nur immer nicht für die Familie?! Dieses ist nicht unsere Linie in der Politik.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten: Ich halte das Wort „Staatsschauspieler" wirklich nicht für passend.
Gut.
Ich kann das auch, meine Herren.
Ich darf dann hinzufügen, daß ich in bezug auf die Finanzpolitik, wo es immer um ein Abwägen von Prioritäten geht, dem überragenden Bundeskanzler, als Macher gepriesen, eigentlich zutrauen möchte, daß er angesichts eines 200-Milliarden-Haushalts auch 2 Milliarden DM mehr für die Familie herausbringt.
Es muß noch immer die Fähigkeit der Finanzpolitik sein, bei einem derartigen Volumen die Prioritäten so zu setzen, wie sie gesetzt werden sollten. Offensichtlich aber wollen Sie diese Prioritäten nicht,
sonst könnten Sie einen solchen Betrag unterbringen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, natürlich.
Bitte, Herr Abgeordneter Jaunich.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie eben gesagt haben: 2 Milliarden mehr herausbringen?
Ja.
Steht das nicht im Widerspruch zu den Finanzierungsregelungen in Ihrem Entwurf?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie den Gesamtbetrag sehen, ja, aber da muß ja abgewogen werden, was auf der anderen Seite an Kosten entsteht.
In der fraglichen Größenordnung können Sie den gesamten Haushalt gestalten. Das ist jedenfalls immer noch die Vorstellung, von der man in der Finanzpolitik allgemein ausgeht.
Lassen Sie mich noch einen vorletzten Gedanken anfügen. Wir haben — das liegt in der Kontinuität der finanzpolitischen Linie der Union — immer gesagt, daß in der gegenwärtigen Situation der Investitionsförderung ein besonderes Gewicht zukommt.
Es ist ein bißchen einfach und simpel gesagt, wenn man dann meint, bei den Familienausgaben gehe es nur um Transferausgaben. Finanzpolitik kann sich nicht am Horizont eines oder zweier Jahre ausrichten, sondern muß die Gesamtbezüge auf mittlere und längere Sicht im Blickfeld behalten. Hier ist — auch finanzpolitisch — die entscheidende Frage für uns, ob es uns gelingt, in der Familiengestaltung und bei der Kinderzahl wieder eine andere Entwicklung herbeizuführen.
Dann werden sich diese Beträge höher verzinsen als jede andere, materielle Investition.
Man darf solches Vorhaben nicht — Frau Huber ist leider schon wieder weg, Herr Minister — mit der Elle der Haushaltspolitik eines Jahres messen. Wir müssen vielmehr erwarten können, daß eine Regierung auch in dieser Hinsicht die Kraft hat, nicht finanzpolitisch in den Tag hinein zu wursteln, wie das der Bundeskanzler macht, sondern einmal die Perspektiven auf drei, vier und zehn Jahre deutlich zu machen.
Wir halten jedenfalls — damit komme ich zum Schluß — die Bewältigung der hier gestellten finanzpolitischen Aufgaben - wenn man will — für machbar, und wir werden im Zweifel Ihre Vorschläge unterstützen. Erwarten Sie aber nicht von uns, daß Sie, wie es Herr Barzel hier einmal gesagt hat, mit Blaulicht fahren und wir den Rotstift führen. Die Familienpolitik muß in der Finanzpolitik mit der Priorität zum Ausdruck kommen, die wir ihr meinen geben zu müssen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11405
Vizepräsident Frau RengerDer Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/2613 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mit-beratend — sowie mitberatend und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Es ist empfohlen worden, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/2650 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mit-beratend — sowie mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Auch hier erhebt sich kein Widerspruch; es ist so beschlossen.Ferner ist vorgeschlagen worden, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/2667 an den Finanzausschuß — federführend —, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — sowie mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen. Ich danke Ihnen.Ich rufe jetzt Punkt 4 der Tagesordnung auf:Beratung des Agrarberichts 1979 der Bundesregierung— Drucksachen 8/2530, 8/2531 —Wir setzen die Beratungen zu diesem Punkt fort.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ritz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn dieser Aussprache zum Agrarbericht 1979 allen jenen ein Wort des Dankes sagen, die diesen Agrarbericht erstellt haben, sowohl den Inhabern der Testbetriebe als auch all den Beamten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die diese Zahlen ausgewertet haben. Wir stellen auch dankbar fest, daß dieser Agrarbericht 1979 an Transparenz und Übersichtlichkeit gewonnen hat.Bei der politischen Wertung ist dann allerdings der Dank nicht mehr angebracht; denn die Zahlen des Agrarberichts überdecken, daß die Probleme unserer Landwirtschaft, der deutschen und europäischen Agrarpolitik neue — ich sage: bedrohliche — Dimensionen annehmen. Insoweit ist dieser Agrarbericht 1979 eher eine Dokumentation der Verschleierung als der Offenheit gegenüber den anstehenden und sich abzeichnenden Problemen. Herr Minister Ertl, leider war auch Ihre Rede gestern hier im Plenum nicht dazu angetan, diesen Schleier stärker zu lüften.Es ist richtig, daß unsere Bauern im vergangenen Wirtschaftsjahr 1977/78 im Durchschnitt eine Steigerung ihrer Einkommen von 10,3 % erzielen konnten. Dennoch liegen die Einkommen heute um 5 % unter dem Einkommensstand des Jahres 1975/76. Die prognostizierte Einkommenssteigerung für das laufende Wirtschaftsjahr von 3 % wird man unseren Bauern zwar als Minimum wünschen, aber es besteht eher die Tendenz, daß sich diese Einkommenssteigerung nach Null bewegt.Angesichts der europäischen Malaise der gemeinschaftlichen Agrarpolitik, aber auch der übrigen europapolitischen Aktivitäten sind auch die kurz- und mittelfristigen Aussichten unserer Landwirtschaft nicht rosig einzuschätzen. Es gibt heute bereits Wissenschaftler und Publizisten, die von den düsteren Aussichten der Landwirtschaft in den 80er Jahren sprechen. Dabei wollen wir in dieser Debatte keineswegs der Gefahr erliegen, in Schwarzmalerei zu verfallen oder einen künstlichen Pessimismus zu schüren. Nur meine ich, daß wir eine nüchternere Analyse als diejenige vornehmen müssen, die dem Einbringungsbericht des Bundesministers zugrunde lag, um die notwendigen und richtigen agrarpolitischen Konsequenzen ziehen zu können.Die Ursachen der unbefriedigenden Einkommensentwicklung liegen — dies räumen wir gern ein — nicht ausschließlich im agrarpolitischen Bereich. Es ist gar kein Zweifel, daß nicht zuletzt der stark abgebremste Agrarstrukturwandel eine Folge der abgeschwächten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist, wie auch der Minister gestern zu Recht festgestellt hat. Es fehlen berufliche Alternativen im ländlichen Raum, sie stehen nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung, so daß viele Kleinlandwirte der Sicherheit einer auch als bescheiden eingeschätzten bäuerlichen Existenz den Vorzug vor der Unsicherheit einer außerlandwirtschaftlichen Erwerbsalternative geben. Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren und sind für den Agrarstrukturwandel nun einmal entscheidender als die Einkommenslage in der Landwirtschaft selbst. Damit entfällt aber nicht nur ein Faktor der Einkommenssteigerung durch Produktivitätssteigerung, sondern diese kleinen Landwirte gehen zu Recht dazu über, ihre Produktion auszuweiten, um die Grundlage ihrer Existenz zu verstärken.Auf der Verbrauchseite beobachten wir hingegen seit längerem eine weitgehende Stagnation in der Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Dies hängt einmal mit dem geringeren Anstieg der Masseneinkommen in den letzten zwei, drei Jahren zusammen, aber auch mit dem Rückgang der Bevölkerung.Diese Ursachenkette kann sicher nicht allein die Agrarpolitik durchbrechen. Wohl aber, Herr Minister Ertl, sollte und muß Agrarpolitik verstärkte Impulse in andere politische Aktivitäten geben, um mit diesem Problem leichter fertig zu werden. Nach unserer festen Überzeugung ist es notwendig, daß die regionale Strukturpolitik in Zukunft verstärkte Anreize für die mittelständische Wirtschaft schafft, weil gerade sie für die gesamte Entwicklung der ländlichen Räume von außerordentlicher Bedeutung ist.
Ich habe einmal für zwei ausgewählte Landkreise in der Bundesrepublik Deutschland die vorhan-
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11406 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Ritzdene Agrarstruktur und die Arbeitslosenquote miteinander verglichen. Im alten Landkreis Aschendorf-Hümmling in Niedersachsen gibt es 4 139 landwirtschaftliche Betriebe. Davon sind immerhin 87,4 °/o kleiner als 30 ha. — 30 ha ist ja diese magische Grenze, ab der angeblich der Vollerwerbsbetrieb tüchtig wirtschaften kann. In diesem Landkreis lag die Arbeitslosigkeit im Jahre 1978 bei 8,6 °/o, im Januar 1979 bei 16,1 °/o. Ich nehme zum Vergleich den Landkreis Freyung-Grafenau in Bayern. Hier gibt es ebenfalls rund 4 200 landwirtschaftliche Betriebe. Davon sind 98,7 °/o kleiner als 30 ha. Die Arbeitslosigkeit lag 1978 ebenfalls bei 6 °/o, im Januar 1978 bei 23,7 °/o.Wer in diesen und ähnlichen ländlichen Regionen künftig die Probleme ohne passive Sanierung lösen will, der muß sicherstellen, daß wir sowohl eine breitgestreute Agrarstruktur aus Voll-, Zu-und Nebenerwerbsbetrieben behalten als auch ausreichend alternative Arbeitsplätze im nichtlandwirtschaftlichen Bereich schaffen.
Wir haben dagegen in den letzten Jahren einen massiven Druck auf Kleinbetriebe erlebt, etwa im Rahmen der einzelbetrieblichen Förderung, ohne daß die Konsequenzen
für die gesamte regionale Strukturpolitik gezogen worden wären.Zum zweiten. Die Verkehrspolitik hat nach unserer Überzeugung bei Neubaumaßnahmen den strukturellen Erschließungseffekt deutlicher zu betonen und auch die Entscheidungen danach auszurichten.Aber auch die Raumordnungspolitik müßte sich bereits heute offensiv auf die Herausforderungen und Konflikte einstellen, die im nächsten Jahrzehnt sicher durch den Bevölkerungsrückgang in der Ausgewogenheit der Bevölkerungsverteilung von Stadt und Land entstehen. Niemand in diesem Hause, hoffe ich, will, daß die Bevölkerungsminderung und die damit zusammenhängenden Probleme der Ballungsräume durch passive Sanierung zu Lasten der ländlichen Räume gelöst werden. Dann aber müssen wir heute schon eine entsprechende Gegenstrategie entwickeln.Meine Damen und Herren, es sind aber auch agrarpolitische Fehlentwicklungen in nationaler und europäischer Zuständigkeit, die zu der bedrohlichen Verschlechterung der Lage der Landwirtschaft beigetragen haben und beitragen. Die einzelbetriebliche Förderung trägt weder. der Agrarstruktur in der Bundesrepublik Deutschland noch einer sozial gerechten und wirtschaftlich vernünftigen Förderung Rechnung. Sie haben, Herr Minister Ertl, in der Vergangenheit mit günstigen Konditionen vergleichsweise wirtschaftsstarke Betriebe zu Produktionsausweitungen animiert und viele kleine, tüchtige, passionierte Landwirte mit der mageren Zinsverbilligung abgespeist oder leer ausgehen lassen.Es war für uns nun sehr interessant, was Sie zur Frage der einzelbetrieblichen Förderung in ihrergestrigen Einbringungsrede gesagt haben. Dies war nichts anderes als das Einräumen des Scheiterns der einzelbetrieblichen Förderung in den letzten Jahren. Ich glaube, hier könnte sich eine Basis ergeben, daß wir in Zukunft gemeinschaftlich versuchen, die richtigen Wege zu finden. Wir müssen uns auch bei der einzelbetrieblichen Förderung von der Vorstellung frei machen — und das ist doch leider mit dieser sogenannten außerlandwirtschaftlichen Zielschwelle verbunden gewesen —, als könne man die Einkommen der Landwirte alle auf ein gleiches Niveau heben. Einkommensunterschiede unter den Bauern hat es immer gegeben, gibt es und wird es weiter geben. Es ist ja gottlob auch nicht so, daß Einkommen für die Bauern der ausschließliche Maßstab für persönliches Glück ist. Sonst hätten schon viele kleine Bauern ihrem Einkommensprotest auf andere Weise Ausdruck gegeben.
Ein bedeutendes politisches Ziel ist und bleibt also die breite Streuung bäuerlichen Eigentums. Diese allerdings setzt voraus, daß wir sicherstellen, daß die Veredelungswirtschaft im bäuerlichen Betrieb bleibt. In diesem Grundsatz waren wir uns in den letzten Jahren über die Grenzen aller Fraktionen einig und haben auch in den beginnenden 70er Jahren entsprechende Entscheidungen gemeinsam getroffen. Ich habe den Eindruck, daß sich zur Zeit, zumindest regional begrenzt, ähnliche Gefährdungen für die bäuerliche Veredelungsproduktion durch die Ausweitung bodenunabhängiger gewerblicher Produktion vollziehen. Ich will hier nur deutlich sagen: Ich hoffe, daß es auch mit dem neuen Pachtrecht gelingt, unerwünschten agrarstrukturellen Entwicklungen entgegenzuwirken.Ich will aber auch eines sagen: So wichtig es ist, hier Überlegungen anzustellen und auch alles zu tun, um mit dem Problem fertig zu werden, so sehr müssen wir dieses Problem auch im europäischen Rahmen sehen. Denn wie können wir einer solchen Entwicklung auf die Dauer glaubwürdig entgegensteuern, wenn sie in anderen Ländern der Gemeinschaft mit Rasanz zunimmt? Ich glaube, es bedarf der Aktivitäten der Bundesregierung auch und gerade in Brüssel, um hier Lösungen für die gesamte Europäische Gemeinschaft zu erzielen.
Fehlentwicklungen im Bereich der nationalen Agrarpolitik sehen wir allerdings in einer Reihe von Fragen, bei denen nicht mehr Sie, Herr Minister Ertl, wie ich meine, die erste agrarpolitische Geige spielen, sondern zum Teil Ihre Kabinettskollegen. Ich will nur einige wenige dieser Beispiele aufführen. Da ist die Novelle zum Branntweinmonopolgesetz.
In einer Zeit, in der Sie im Rahmen der europäischen Agraralkoholmarktordnung in harten Verhandlungen stehen, war das nun eine taktische Fehlleistung, wie sie schlimmer nicht vorkommen kann.
Dr. RitzDazu ist diese Novelle noch landwirtschafts- und mittelstandsfeindlich; auch das muß gesagt werden.
Wir waren uns über die Fraktionen dieses Hauses mit Ihnen einig — mit Ihnen und den Ländern, im Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe —, im Bereich der forstlichen Förderung die Bestandspflege als neue Maßnahme einzuführen. Nach wie vor scheitert diese Maßnahme am Einspruch des Bundesfinanzministers.Wir haben auch den Eindruck, daß sich bei der Witwenregelung nicht Sie, sondern der Herr Bundesarbeitsminister durchgesetzt hat; zumindest bei der Frage der Witwenregelung in Verbindung mit der Hofabgabe.In der Frage der Einkommenbesteuerung der Landwirtschaft hören wir in den letzten Monaten und Wochen immer nur die Stimme des Bundesfinanzministers und der SPD. Ihre Stimme zu diesem Thema war auch gestern sehr leise. Wir wollen in aller Deutlichkeit klarmachen, daß nach unserer Überzeugung eine Regelung im Rahmen der bestehenden Einkommensteuergesetzgebung möglich ist und auch durchgeführt werden sollte.Ich denke an den Verordnungsentwurf über die Käfighaltung für Legehennen, ein Entwurf, der nun nicht gerade für die Führungskraft des Ministers spricht, wenn er unabgestimmt in seinem eigenen Haus veröffentlich werden kann. Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir sind bereit, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Tierschutzes konsequent in Verordnungen und Gesetze umzusetzen. Allerdings meine ich, daß dann auch sichergestellt sein muß, daß sie auch in europäische Regelungen und Verordnungen umgesetzt werden; denn was der deutschen Legehenne unter tierschützerischen Gesichtspunkten recht ist, muß der holländischen und belgischen natürlich billig sein. Es muß möglich sein, diese Dinge gemeinsam zu regeln, gerade wenn diese Regelung unter tierschützerischen Gesichtspunkten so notwendig ist.
Ich will nur das Stichwort Unterglasgartenbau nennen. Hier haben wir es mit einer Situation zu tun, die die Frage aufwirft: wollen wir überhaupt noch einen eigenen Unterglasgartenbau unter dem derzeitigen Kostendruck, im Vergleich etwa auch zu den Niederlanden? Man müßte diese Frage mit Nein beantworten, wenn wir nicht konkret etwas tun wollen.Die negativen Perspektiven für die deutsche Landwirtschaft ergeben sich allerdings aus den Aspekten der europäischen Agrarpolitik und der übrigen europäischen Aktivitäten. Lassen Sie mich zunächst einige Worte zum Europäischen Währungssystem und zum Grenzausgleich sagen.Die CDU/CSU hat der Einführung des EWS — allerdings unter skeptischem Hinweis auf die stabilitätspolitischen Risiken — als einem Schritt zu mehr währungs- und wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit zugestimmt. Wenn wochenlang, nämlich vom 1. Januar dieses Jahres bis vorgestern, dieses EWS nicht eingeführt wurde, so liegt dies nicht zuletzt, wie wir inzwischen wissen, an der schludrigen und oberflächlichen Beratung durch die deutsche Delegation, und zwar vor allem in den Fragen des Währungsausgleichs.Der französische Wirtschaftsminister hat am 3. Januar ein, wie ich finde, sehr bemerkenswertes Interview dem französischen Rundfunk gegeben. Ich entnehme einen Ausschnitt dem Nachrichtendienst des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung. Er sagte dort:Der Präsident der Republik erhielt auf der europäischen Ratstagung Anfang Dezember eine Reihe von Zusagen hinsichtlich der Grenzausgleichsabgaben, die unsere Landwirtschaft belasten. Heute hat es den Anschein, als sei insbesondere unser deutscher Partner etwas zögernder — oder sagen wir: eher etwas weniger aktiv — in bezug auf die Zusagen, die er Anfang Dezember gemacht hat.Es kann doch überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß es das Verhandlungsungeschick der deutschen Delegation war, das diese Probleme, gerade auch in Verbindung mit dem Grenzausgleich, ausgelöst hat.Lassen Sie mich einige grundsätzliche Bemerkungen zu diesen Währungsausgleichsbeträgen machen. Es ist in den vergangenen Wochen oft der Eindruck erweckt worden, als seien diese Grenzausgleichsabgaben gewissermaßen ein Privileg für die deutsche Landwirtschaft. In Wirklichkeit sind sie nichts anderes als das unverzichtbare Hilfsinstrument, um dén Mechanismus der gemeinschaftlichen Preisfestsetzung in einer Zeit aufrechtzuerhalten, in der ständig Paritätsänderungen zu einer Veränderung der nationalen Preise im Verhältnis zu den Rechnungseinheiten, in denen die gemeinschaftlichen Preise ausgedrückt werden, führen. Wir haben auch in der Vergangenheit diesen Grenzausgleich sehr pragmatisch angepaßt. Die D-Mark ist seit 1969 um 30 % aufgewertet worden; der Grenzausgleich beträgt 10,8 %.Meine Damen und Herren, nun könnte man natürlich die Wirkung einer Politik, die den Abwertungsländern durch den Mechanismus des Grenzausgleichs höhere Preise als den deutschen Landwirten gewährt, als einen Schritt zur gemeinschaftlichen Einkommensbildung der Landwirtschaft begrüßen. Nur: Ist eine Einebnung der Einkommen angesichts der sehr stark unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern der EG überhaupt zumutbar? Eines ist nämlich nicht zu bestreiten: In den letzten zwei Jahren sind die Einkommenszuwächse der Bauern in den Abwertungsländern zum Teil höher gewesen als in der Bundesrepublik Deutschland.
— Ich sage: die Einkommenszuwächse, Herr Kollege Löffler. Normalerweise sind die Preissteige-
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11408 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Ritzrungsraten dabei berücksichtigt. Das wissen Sie doch als alter Agrarpolitiker.Meine Damen und Herren, ich will einmal deutlich sagen: Der Bauer im Allgäu, in der Wetterau oder in der Hildesheimer Börde vergleicht sein Einkommen und seine Einkommenserwartung natürlich nicht mit den Bauern in der Bretagne oder der Lombardei, sondern er vergleicht sie natürlich mit dem gesellschaftlichen Umfeld, mit der Umwelt, in der er lebt. Dies ist richtig und vernünftig. Darum ist dieser Grenzausgleich so unverzichtbar. Darin waren wir uns auch einig.Ich kann nur sagen: Wer an der gemeinschaftlichen Preispolitik als einem unverzichtbaren Bestandteil der europäischen Agrarpolitik festhalten will, muß auch am Mechanismus des Grenzausgleichs festhalten, oder er muß auf eine gemeinsame Preisfestsetzung überhaupt verzichten.Meine Damen und Herren, diese Grundsätze hat nun der Herr Bundeslandwirtschaftsminister in der vergangenen Woche am 6. März aufgegeben. Er hat diese Position gestern noch beschrieben, als er meinte, daß sich aus diesen Beschlüssen, aus dieser Einigung — niemand weiß genau, was da eigentlich passiert ist — durchaus positive Aspekte ergeben. Ich vermag dies nicht zu verstehen. Ich will versuchen, diese Einigungsformel zu rekapitulieren.Es ist richtig, daß nach künftigen Aufwertungen und Abwertungen automatisch der Grenzausgleich eingesetzt wird, allerdings — wenn unsere Informationen zutreffend sind, sonst muß man sie richtigstellen — bei Berücksichtigung eines Abzuges von einem Prozent. Das heißt, bei einer Aufwertung, sagen wir, um drei Prozent würde der Grenzausgleich nur mit zwei Prozent erhoben. Es gibt aber keine Meinungsverschiedenheiten in diesem Hause, daß ein Prozent beim Grenzausgleich 350 Millionen DM Einkommen für unsere Bauern beinhaltet, worauf man von vornherein verzichtet.
Zweitens. Innerhalb von zwei Jahren soll dieser neue Grenzausgleich abgebaut werden. Nun sind mir durch Sprecher Ihres Hauses, Herr Ertl, Vorwürfe gemacht worden, daß ich übrige Teile dieser Vereinbarung nicht entsprechend berücksichtigt hätte. Ich will über die Informationspolitik von Brüssel an diesem 6./7. März nichts sagen. Das war geradezu horrende, was sich dort abgespielt hat. Dies alles ist doch aber im Grunde ein plumpes Täuschungsmanöver, meine Damen und Herren; denn wenn man sagt, es solle keine Preissenkungen geben, dann schließt das doch ein, daß wir unter Berücksichtigung ,des derzeit noch bestehenden Grenzausgleichs von 10,8 °/o möglicherweise auf viele Jahre der deutschen Landwirtschaft eine Nulllinie zumuten. Das bedeutet natürlich entscheidende reale Rückschläge; da gibt es doch überhaupt keinen Zweifel.
Daß auch die französische Seite diese Fragen durchaus anders beurteilt, wird in einem Statement des französischen Landwirtschaftsministers im französischen Rundfunk in der Nacht vom 6. auf den 7. März sichtbar, wo er nämlich von einem großen regelrechten Erfolg spricht und wörtlich fortfährt:Ich möchte dazu nur sagen, — zu dieser Einigung —daß, wenn wir diesen Mechanismmus bereits vor acht Jahren gehabt hätten, es heute gar keine Grenzausgleichszahlungen mehr gäbe.In der Tat, ich fürchte, er hat recht. Das hätte dann aber geheißen: 4 Milliarden DM Einkommen weniger für die deutsche Landwirtschaft.Nein, Herr Minister; nehmen Sie zur Kenntnis: Die CDU/CSU kann und wird diese Regelung, die Sie dort getroffen haben, nicht mitverantworten, weil hiermit Hypotheken auf die deutsche Landwirtschaft abgeladen werden, von denen heute niemand weiß, wie schwer sie sich nachträglich auswirken werden.
Die Probleme des Grenzausgleichs führen vollends in die Sackgasse unter Berücksichtigung der aktuellen Preisvorschläge der Kommission. Die von der Kommission vorgeschlagene Nullpreislinie mit erheblich verstärkten Erzeugerabgaben für die Milcherzeuger ist weder für die Bauern zumutbar noch geeignet, mit dem Problem der Überschüsse auch nur annähernd fertig zu werden.Ich möchte nur einige wenige Anmerkungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Politik der administrierten Preise machen, wobei wir sehr wohl I wissen, daß die Marktlage natürlich eine entscheidende Einwirkung auf die Preispolitik hat.
— Natürlich ist das so. Es ist aber genauso sicher, daß die administrierten Preise eben auch ihre große Bedeutung zur Abstützung der Einkommen unserer Bauern haben.
Erstens. Wir sind der Überzeugung, daß es preispolitischen Spielraum bei Getreide gibt. Wenn aber— und dies will ich deutlich sagen — der Getreidepreis als Eckpreis hoch sein soll, dann muß dies auch dann gelten, wenn Getreide als Kostenfaktor in der tierischen Veredlung erscheint. Das heißt, wir sollten national und europäisch sicherstellen, daß Getreide wieder in ausreichendem Maße auch ins Futter gelangt.Zweitens. Ich bin der Meinung, wir haben auch bei Zucker durchaus preispolitische Spielräume, wobei wir natürlich über eine vorsichtige Korrektur der Quoten in kleinen Schritten nachdenken müssen.. Aber auch das gehört dazu: Die Zuckerregelungen im Rahmen des Lomé-Abkommens sind — und dies sollen sie auch sein — entwicklungspolitische Leistungen, zu denen wir uns bekennen, von denen wir allerdings wollen und wünschen, daß die Vorteile in größerem Maße den Zuckerrohr bauenden Landwirten direkt zugute kommen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11409
Dr. RitzDrittens. Niemand von uns verkennt die Probleme des Milchmarktes. Nein, auch wir sehen, daß steigende Haushaltsbelastungen in diesem Bereich zu einer Bedrohung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik insgesamt führen können. Nur, Herr Minister Ertl, um so erschreckender ist es für uns, daß der Kommissionsvorschlag nicht einmal im Ansatz die Diskrepanz zwischen den gemeinschaftlichen Zielen der Milchmarktpolitik und den unterschiedlichen nationalen Zielen sichtbar macht. Ich weiß, daß wir beide uns einig sind, wenn ich jetzt sage, solange die Niederländer — als Beispiel — wie im vorigen Jahr um 17,5 °/o zum Ausgleich der Handelsbilanz, Großbritannien im vorigen Jahr um 7,5 °/o die Milchproduktion steigern, um Devisen einzusparen, werden alle gemeinschaftlichen Entscheidungen bestenfalls zu Lasten anderer Länder die Probleme der Überschüsse mildern. Lösen aber werden sie sie nicht. Herr Kollege Kiechle wird dazu noch deutlicher etwas sagen.Nun ist oft von der großen Alternative in der Agrarpolitik die Rede. Wir hören davon, wir lesen darüber. Diese große Alternative heißt Einkommensübertragung statt Preispolitik. Ich will dies nur sagen, nicht, weil ich der Meinung bin, daß hier ein Dissens besteht. Ich will aber hier ganz deutlich auch für die Offentlichkeit sagen: wer Einkommensübertragung sagt und unterstellt, daß die Landwirtschaft auch dann gleichberechtigt an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung teilhat, der sollte deutlich sagen, daß dies auch teuer wird. Wer Einkommensübertragung sagt und degressive Einkommensübertragung meint, sollte ehrlicherweise auch sagen, daß er damit einen ungeheuren Abwanderungsdruck auf die Landwirtschaft ausübt, ohne eine Gewähr zu haben, daß damit die Probleme der Mengenproduktion in den Griff zu kriegen sind.
Wir erwarten von der Bundesregierung und von Ihnen, Herr Minister Ertl, verstärkte Anstrengungen zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen. Wie eigentlich, Herr Kollege Gallus, wollen Sie Ihre Maßhalte-Appelle rechtfertigen, die Sie ja ständig den deutschen Bauern nahelegen, angesichts der niederländischen Investitionshilfen, Investitionshilfen bis zu 47 °/o für sämtliche baulichen Investitionen und für sämtliche Viehaufstockungen? Wie eigentlich soll ich in meiner Grenzregion zu den Niederlanden Bauern ermuntern, sich auch mit bescheideneren Viehaufstockungen zufriedenzugeben, wenn sie mir sagen, daß in der Nachbarschaft, nämlich den Niederlanden, kleine und kleinste Betriebe nur noch Boxenlaufställe für 60 und mehr Kühe bauen? Hier liegt durch dieses WIR-Gesetz der Niederländer, seit Mai 1978 unbefristet in Kraft, eine so eklatante Wettbewerbsverzerrung vor, daß man sich fragt, was eigentlich die Bundesregierung getan hat, um sie aus der Welt zu schaffen. Außer einigen unbefriedigenden Antworten hier in der Fragestunde habe ich nichts davon und dazu gehört.
Hören wir auf mit einem bürokratischen Perfektionismus, der eigene Initiativen lähmt und gleichzeitig für die Wettbewerber in Nachbarländern Vorteile schafft, auch eine Politik, die durchaus nicht neu ist. Im Jahr der ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament sollte sich gerade die Regierung den Vorsatz zu Herzen nehmen: Harmonisierung statt Wettbewerbsverzerrung. Wir wollten und wollen dieses Europa, weil wir überzeugt sind, daß es die einzige Zukunftsperspektive für unseren Kontinent überhaupt darstellt. Die Landwirtschaft hat diesen Integrationsprozeß mitgetragen und trägt ihn weiter mit, auch unter beachtlichen Erfordernissen und Opfern. Allerdings hat dieser Gemeinsame Markt auch Chancen gebracht. Ich meine schon, daß auch die deutsche Landwirtschaft diese Chancen genutzt hat. Nur, derzeitig stehen die Zeichen für die deutsche Landwirtschaft im Rahmen dieser gemeinschaftlichen Politik nicht gut. Wir sollten deshalb schon etwas mehr tun als gestern in Ihrer Rede, damit am 10. Juni die Bauern zur Wahlurne gehen können in dem Bewußtsein, nicht unter den Schlitten des Einigungsprozesses zu geraten.Meine Damen und Herren, diese nicht optimistische Lagebeschreibung sollte keineswegs Bauern entmutigen. Nur meine ich, die Bauern brauchen auch die Gewißheit, daß sie in einem schweren Anpassungsprozeß nicht alleingelassen werden. Wir brauchen eine Verstärkung der Aktivitäten in der Gesellschafts-, der Wirtschafts- und der Finanzpolitik sowie in der nationalen und europäischen Agrarpolitik, um die anstehenden Probleme zu meistern.Diese Politik hat auch in Zukunft ihren Preis, und sie bedarf der Zustimmung der Gesellschaft. Diese werden wir um so eher erreichen, als es uns gelingt, deutlich zu machen, welche Bedeutung die Landwirtschaft nicht nur für die Nahrungsmittelerzeugung, sondern auch für die Lebensfähigkeit der ländlichen Räume und für die Erhaltung einer erholungswerten Kulturlandschaft hat.
Viele Bauern fühlen sich in ,der jüngsten Vergangenheit irritiert und von marktschreierischen Artikeln diffamiert, die die Landwirtschaft recht pauschal in die Ecke der Umweltzerstörer rücken. Auch ich will Ihnen, Herr Minister Ertl, ausdrücklich danken, daß Sie das gestern zurückgewiesen haben. Ich glaube, es ist gut, wenn wir das in diesem Hause alle gemeinsam tun.
Denn, meine Damen und Herren, wir haben klarzumachen, daß die ordnungsgemäße land- und forstwirtschaftliche Bodennutzung ein Beitrag zur Erhaltung einer gesunden und lebens- und liebenswerten Umwelt ist.Wir haben eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen, die dafür Sorge tragen, daß Beeinträchtigungen sowohl bei Nahrungsmitteln wie beim Naturhaushalt und an der Landschaft vermieden werden. Oft hat man den Eindruck, wir haben eher zu- viel als zuwenig an Gesetzen. Diese Verordnungen und Gesetze sind in vielen Bereichen auch mit Auflagen für die Bauern verbunden, die ihren Entscheidungsspielraum einengen. Sie akzeptieren diese Belastung. Ich meine, sie haben es nicht verdient, nun
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11410 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Ritzobendrein hier verbal als Umweltzerstörer oder Umweltschädlinge beschimpft zu werden.Meine Damen und Herren, die Bäuerinnen und Bauern haben trotz beachtlicher Leistung für die ganze Gesellschaft — und dies unter Inkaufnahme langer Arbeitszeiten, des Verzichts auf Freizeit, des Verzichts auf freies Wochenende und Urlaub — in den letzten fünf Jahren einen relativ bescheidenen Anteil an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung gehabt. Um so wichtiger wird es sein, ihnen die Zuversicht zu geben, daß die Politik auch in Zukunft alle Anstrengungen unternimmt, um ihnen einen angemessenen Platz in unserer Gesellschaft zu sichern. Dafür wird die CDU/CSU auch in Zukunft arbeiten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schmidt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Agrarbericht 1979 ist ein optimal ausgestalteter Bericht. Er ist im .Aufbau umfassend und in der Diktion klar und kurz gefaßt.Mit Befriedigung habe ich vermerkt, daß auch Anregungen aus diesem Hause aufgenommen worden sind. Hierfür und für die pünktliche Erstellung danken wir den Mitarbeitern des BML und anderen.
Ich danke aber auch dafür, daß die Behandlung des Berichts vor der Presse erst nach seiner Übergabe an den Bundestag erfolgt ist. Andere Ressorts sollten sich daran ein Beispiel nehmen.
In den sachlichen und politischen Aussagen findet der Bericht als Ganzes unsere generelle Zustimmung. Es wäre aber ein Novum, wenn kritische Anmerkungen zu Detailfragen in der Verbandspresse nicht gekommen wären. Jeder von uns hätte doch die • eine oder andere Entwicklung anders oder besser gesehen und gewünscht. Im großen und ganzen zeichnet sich aber für die Landwirtschaft ein zufriedenstellendes Bild ab.Die gestrige Einbringungsrede des Bundesministers Ertl war ein Höchstmaß an Sachlichkeit. Davon war sie gekennzeichnet. Das tut, so meine ich, den Anliegen der Agrarpolitik gut. Dafür wollen wir ihm recht herzlich danken.
Bei einer Gesamtwürdigung der Lage der Landwirtschaft darf ich feststellen:Erstens. Der in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands einmalige Anpassungsprozeß in den letzten 20 Jahren ist ohne tragische Begleiterscheinungen erfolgt.Zweitens. Das Miteinander mit anderen gesellschaftlichen Gruppen in unserem Lande ist trotz mancher und immer wiederkehrender• hetzerischer Artikel so gut wie selten zuvor.
Drittens. Die Stabilitätspolitik, meine Damen und Herren von der Opposition, hat auch und gerade für die deutsche Landwirtschaft günstige Auswirkungen gezeigt.
Dies ist ein Beweis für die Integrationskraft der ganzen Wirtschaft.Präsident Dobler, Präsident des Bauernverbandes Baden-Württemberg, schreibt in einem neulich erschienenen Artikel unter der Überschrift „Die Landwirtschaft in einer veränderten Umwelt" folgendes — ich darf zitieren —:Die deutsche Landwirtschaft hat in den letzten Jahren ihre wirtschaftliche und soziale Stellung kontinuierlich verbessern und festigen können. Die technische Ausrüstung der meisten Betriebe entspricht dem allgemeinen Stand der Entwicklung. Zwei Drittel der jüngeren Betriebsleiter haben eine fachliche Vorbildung. Der Bildungsrückstand in den ländlichen Gebieten ist spürbar kleiner geworden. In der jüngeren bäuerlichen Generation ist wieder ein gesundes Selbstbewußtsein vorhanden. Außenstehende anerkennen den Leistungswillen, die Weiterbildungsbereitschaft und eine fortschrittliche Einstellung bei einem Großteil der Bauernfamilien. Im äußeren Bild der Höfe und Dörfer spiegelt sich eine insgesamt positive Entwicklung der deutschen Landwirtschaft wider.Er sagt zum Schluß:Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß die deutsche Landwirtschaft in ihre Umwelt paßt. Sie hat alle wesentlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit mitvollzogen.Dem, meine Damen und Herren, kann man nichts mehr hinzufügen.
An diesem Bild, glaube ich, haben wir in dieser Koalition einen redlichen Anteil.
Ein Wort zur Vorschätzung im Agrarbericht. Sie sagt für das laufende Wirtschaftsjahr nur einen geringen Einkommensanstieg voraus. Die Preisentwicklung auf den Viehmärkten wird zu Einnahmeminderungen führen. Ich möchte hinzufügen, daß möglicherweise auch die Winterschäden in Norddeutschland noch nicht abzuschätzen sind. Insgesamt gesehen wird das diesjährige Wirtschaftsergebnis angesichts der langjährigen durchschnittlichen Einkommensentwicklung aber zu verkraften sein.Ich möchte an dieser Stelle einblenden, daß uns die Entwicklung in einem Teilbereich der Landwirtschaft, im Gartenbau, große Sorgen bereitet. Ich meine den vom Heizöl abhängigen Unterglasbau. Die Preisentwicklung für das Heizöl ist existenzbedrohend. Die Gefahr liegt darin, daß der Hauptkonkurrent, die Niederlande, auf Grund der wesentlich niedrigeren Kosten für das im Preis unveränderte
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11411
Dr. Schmidt
Erdgas eine bessere Ausgangslage hat. Ich weiß, daß sich unser Bundesernährungsminister Ertl und sein Haus diesen Fragen bereits angenommen haben. Verschiedene Maßnahmen, Herr Kollege Ritz, sind bereits ergriffen, andere werden noch geprüft.
Sollte sich bei den Heizölpreisen kein Wandel abzeichnen und sollte es mit den Niederländern nicht zu einem Agreement kommen, dann werden wir nicht umhin können, weitere Hilfen anzubieten. Wir werden, meine Damen und Herren, die vielen kleinen und mittleren Existenzen im Gartenbau nicht im Stich lassen.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich nun den Fragen der künftigen Politik zuwenden. Über die Zielsetzungen der Bundesregierung werden der Deutsche Bundestag und die Offentlichkeit durch den Agrarbericht 1979 unter der Teilüberschrift „Ziele und Programme der Agrar- und Ernährungspolitik" so umfassend informiert, daß für mich keine Veranlassung besteht, diese zu erläutern oder zu ergänzen. Was ich hier in dieser Stunde herausarbeiten möchte, geht über den Tag hinaus und reicht in das nächste Jahrzehnt hinein.Wenn man in den 21 Jahren des Bestehens der EG die europäische Agrarpolitik in ihren Auseinandersetzungen und in ihren Beschlüssen verfolgt hat, wenn man mit den Auswirkungen gelebt hat, mit ihnen konfrontiert war, muß man zugestehen, daß es eine Problematik der europäischen Agrarpolitik gibt, die man auf die Dauer nicht übersehen kann.Wie ist ihre Rolle zu beurteilen? Unter der kurzfristigen Perspektive muß man zu einer positiven Beurteilung der agrarpolitischen Bilanz gelangen. Denn der Agrarministerrat — dieses Kompliment wird man ihm sicher machen müssen — ist geübt, kurzfristig auftretende Probleme zu lösen. In diese Bilanz, Kollege Ritz, würde ich den Beschluß des Agrarrates vom 5. und 6. März über den Grenzausgleich einbeziehen.. Die Begleitumstände dieser kurzfristigen Probleme werden am zutreffendsten mit dem Wort „Krise" gekennzeichnet. Und wenn der Agrarministerrat bisher durchaus erfolgreich gewesen ist, so deshalb, weil er sich in Wirklichkeit fast nur noch als „Krisenstab" auf hoher europäischer Ebene versteht.Weil dem so ist, verfalle ich auch nicht gleich in tiefen Pessimismus, wenn ich an die Rolle der Agrarpolitik auf drei weiteren Bühnen denke: erstens die noch immer nicht abgeschlossenen GATT-Verhandlungen, zweitens die Erweiterung der EG um Griechenland, Spanien und Portugal sowie drittens - ein sehr wichtiger Punkt — die ins Haus stehende Diskussion über die nicht mehr ausreichenden eigenen Einnahmen der Gemeinschaft. Es gehört keine Prophetie dazu, zu sagen, daß die Kulisse auch dieser drei Schauplätze wiederum die agrarpolitische Krise sein wird, mag sie in ihrem Ursprung nun von den bisherigen neun oder von den künftigen zwölf Mitgliedstaaten herrühren.Ich halte es für gefährlich, sich in dieser Situation allzusehr auf das Krisenmanagement des Agrarministerrates zu verlassen.
Denn Krisen bedeuten Bedrohung, und Bedrohungen führen zu Abwehrreaktionen, die sich dann gegen die Agrarpolitik insgesamt richten und aus de-den neue Krisen entstehen. Nicht zuletzt deshalb ist die Agrarpolitik der EG für weite Teile der europäischen Bevölkerung ein ungeliebtes Kind geblieben.Wir haben schon oft auch hier im Bundestag über die Ursachen der agrarpolitischen Krisen in Europa gesprochen, erfreulicherweise meist nüchtern und in sachlicher Atmosphäre. Sehr vereinfacht lassen sich die Ursachen mit nationalen Interessengegensätzen beschreiben. Schaut man etwas genauer in den Korb dieser Interessengegensätze hinein, findet man vieles, was im Hinblick auf eine wirkliche Gemeinschaft bedenklich ist. Dazu einige wenige Beispiele:Die britische Regierung ruft in ihrem jüngsten Weißbuch, wenige Wochen alt, ihre Landwirte zu einer Erzeugungsschlacht auf,
hält eine solche aber für den Rest der Gemeinschaft aus Kostengründen für schädlich. Frankreich ist in diesem Punkt kaum zimperlicher als Großbritannien, hat aber kaum Probleme mit den steigenden Kosten des Agrarfonds, der Frankreich einen positiven Nettotransfer beschert. Die Bundesrepublik strebt demgegenüber — und das ist gut — eine Anpassung der Agrarproduktion an die Absatzmöglichkeiten und zumindest eine Verlangsamung des Anstiegs der Kosten an.
— Ist das nicht europäisch, Kollege Ritz? — Italien schließlich — und damit will ich den Katalog beenden — fordert eine Plafondierung der EG-Ausgaben für die Marktpolitik, wenn die übrigen Mitgliedstaaten weiterhin auf einem Plafond der Ausgaben für agrarstrukturelle Maßnahmen bestehen.Sie finden also eine Vielfalt von häufig entgegengesetzten nationalen Zielen und zum anderen auch von politischen Prioritäten vor. Diese Vielfalt wird wachsen, wenn sich die künftige Gemeinschaft von den Dardanellen bis zu den Kanarischen Inseln und von Sizilien bis zur den Färöern erstreckt. Bei der Erweiterung — das möchte ich doppelt unterstreichen — handelt es sich keineswegs nur um einen quantitativen, sondern mehr noch um einen qualitativen Vorgang.
Weil sich die Agrarpolitik nicht in Krisenmanagement erschöpfen darf, bedarf es dringend der Besinnung. Die für sie Verantwortlichen müssen sich darauf besinnen, erstens welche Probleme gemeinschaftlich gelöst werden sollen und welche den Nationalstaaten überlassen bleiben, zweitens welche Prioritäten den Zielen, Aufgaben und dem Einsatz von Haushaltsmitteln zugemessen werden.
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11412 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Schmidt
Meine Damen und Herren, es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich zur Besinnung und zum zielbewußten Nachdenken auffordere. Wer die Augen und Ohren offenhält, erkennt Ansätze neuer Überlegungen für eine Agrarpolitik. Wahr ist: In drei Jahrzehnten Bundesrepublik und in zwei Jahrzehnten Europäische Gemeinschaft haben sich die Rahmenbedingungen der landwirtschaftlichen Erzeugung verändert, ja zum Teil grundlegend gewandelt. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland und in einigen anderen Ländern der Gemeinschaft eine Bevölkerungsabnahme haben werden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß das Versorgungsdefizit in der Gemeinschaft abgebaut ist. In einigen Produktionsbereichen sind Überschüsse zur Norm geworden. Die Produktion wird auf vielen Gebieten weiter steigen, wie gestern auch Minister Ertl bestätigt hat. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß Sättigungserscheinungen zu Verbrauchsrückgängen führen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Strukturveränderungen schwächer geworden sind. Der Arbeitskräfterückgang ist bei uns fast auf den Generationswechsel beschränkt. Das Ausmaß, das der Strukturwandel in früheren Jahren hatte, dürfte nach meiner Überzeugung kaum wieder zu erreichen sein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Umweltprobleme und das Umweltbewußtsein inzwischen einen bedeutenden Rang eingenommen haben. Fragen der Verwendung von Hilfstoffen in der tierischen und pflanzlichen Erzeugung werden zunehmend gestellt usw. usf. Das sind einige — in Gänsefüßchen gesetzt — „negative Akzente".Aber es gibt auch hoffnungsvolle Gesichtspunkte. So können wir feststellen, daß sich für den Landbau völlig neue Perspektiven eröffnen könnten, neue Perspektiven der Lieferung von Rohstoffen für die gewerbliche Industrie. Die Forschung steht hier am Anfang; zum Teil ist sie schon fündig geworden. Ich kann nur feststellen, daß dieser Themenkreis erhöhte Aufmerksamkeit erfordert, auch und gerade durch den Bundesforschungsminister.
Ich möchte die Liste dessen, was künftig zur Erwägung ansteht, nicht fortsetzen. Das Nachdenken darüber müssen wir zu einem anderen Zeitpunkt vertiefen. Für mich besteht kein Zweifel daran, daß daraus Konsequenzen entstehen werden, die bis ins letzte Bauernhaus spürbar sein werden. Es bleibt daher nicht aus, daß heute schon Ratschläge und Rezepte aus vielen Ecken auf den Tisch flattern. Ich finde es z. B. gut, daß die junge Generation des Landvolks darüber nachdenkt und debattiert. So habe ich mit Respekt die Stellungnahme der Katholischen Landjugend Bayerns unter dem Stichwort „Landwirtschaft am Scheidewege" zur Kenntnis genommen. Ich finde es gut, daß sich die OECD mit den künftigen Markt- und Einkommensfragen und -formen auseinandersetzt, wie in ihrem letzten Bericht nachzulesen ist. Ich finde es auch gut, daß sich Wissenschaftler mit der von mir skizzierten Problematik intensiv befassen. Ich denke hier z. B. an die aufschlußreichen Ausführungen, die Professor Henrichsmeyer auf der 32. Hochschultagung in Bonn gemacht hat.Natürlich gibt es nirgends Patentrezepte; die sind nicht in Sicht. Aber weil man das alles nicht der Wirtschaft und nicht den Verbänden der Landwirtschaft allein überlassen kann, weil es keine Angelegenheit der Landwirtschaft alleine ist, weil es kein nationaldeutsches Problem, sondern eines der gesamten EG ist, weil es keine Sache von heute auf morgen ist, aber weil die anstehenden Probleme auch nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen, deshalb ist die Politik aufgerufen, die ersten Startzeichen zu setzen.
Meine Damen und Herren, es geht darum — nicht mehr und nicht weniger —, das ordnungspolitische Gleichgewicht in Europa zu suchen, es wiederherzustellen. Aber wer ist dazu berufen, Vorstellungen zu entwickeln, Alternativen zu untersuchen, den Rahmen abzustecken, damit die Diskussion nicht ins Uferlose abgeleitet?An sich wäre die EG-Kommission in Brüssel die richtige Adresse. Aber gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung in aller Offenheit: Von dort sind keine Initiativen zu erwarten.
Präsident Jenkins hat in seiner Rede am 13. Februar 1979 vor dem Europäischen Parlament eine Reihe von sehr wichtigen Gedanken für die Zukunft der Gemeinschaft, auch für die Zukunft der Landwirtschaft in der Gemeinschaft, geäußert. Sieht man sich aber daraufhin das Arbeitsprogramm der EG-Kommission für 1979 an, so zeigt sich, daß diese Gedanken darin keinen Niederschlag gefunden haben.
Mein Vorschlag ist folgender. Erinnern wir uns an 1958. Damals hat die Konferenz von Stresa stattgefunden. Dort wurde die Konzeption für die gemeinsame Agrarpolitik der damaligen sechs Mitgliedsländer der Gemeinschaft erarbeitet. Ein ähnlicher Weg, meine Damen und Herren, sollte auch jetzt beschritten werden. Ich sage: ein ähnlicher Weg. Die Initiative zu einer Konferenz Stresa II kann nur vom Rat ausgehen.
Ich appelliere daher an die Bundesregierung, diesen im Interesse der Weiterentwicklung der europäischen Agrarpolitik liegenden Vorschlag zu prüfen.
Nun zu einem anderen Thema: Der letzte Dienstag, Kollege Ritz — und da bin ich anderer Meinung als Sie —, War ein ganz wichtiger Tag in der Europäischen Gemeinschaft.
Das Europäische Währungssystem wurde in Kraft gesetzt. Dies kann — ich unterstreiche: kann — ein Meilenstein der Integration Europas werden. Für jeden Agrarpolitiker ist es eine Genugtuung, daß der Einstieg in die gewünschte Währungs- und Wirtschaftsunion damit geschaffen ist.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11413
Dr. Schmidt
Ich will die Ereignisse seit Dezember 1978 im einzelnen nicht nachzeichnen, obwohl das sehr interessant wäre. Es war doch schlimm, was es an Falschmeldungen,
an tollen Interpretationen und Spekulationen gegeben hat. Hinzu kommt, daß in diesen Wochen ein Mißtrauen gegenüber der Regierung geschürt worden ist.In der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht wurden Zweifel an der Auslegung der Ratsempfehlung, Kollege Sprung, vom 5. Dezember 1978 durch den Kanzler und die Bundesregierung laut, obwohl die meisten sicher wußten, auf Grund welcher Positionen die französische Regierung Mitte Dezember den Vorbehalt angebracht hatte.
— Das ist doch inzwischen bekannt.Mit den Ereignissen seit dem 6. März dieses Jahres muß doch den letzten Kritikern klargeworden sein, daß die Aussagen der Bundesregierung hier in diesem Hause richtig und daß auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Opposition vom i. März dieses Jahres völlig korrekt abgefaßt worden war.
— Miesmachen, jawohl.Alle Befürchtungen, Kollege Sprung, sind doch in sich zusammengebrochen.
An dieser Stelle — und das lassen Sie mich noch einmal laut sagen — möchte ich Bundesminister Ertl dafür Dank sagen, daß er die europäische Sache in den Wochen des neuen Jahres und insbesondere in der Ratssitzung am 5./6. März mannhaft vertreten hat.
Ihnen, Herr Minister Ertl, ist es zu verdanken, daß die Kopplung von Änderungen der Leitkurse im europäischen Währungskorb an automatische Abbauschritte beim Grenzausgleich vom Tisch ist. Das war eines der Grundanliegen.
Dies ist zugleich ein Sieg der Vernunft. Das Europäische Währungssystem ist nunmehr von unerträglichen agrarpolitischen Bürden befreit. Natürlich wissen wir, daß damit die Probleme und die Differenzen in der Agrarpolitik keineswegs aus dem Wege geräumt worden sind. Ich denke hier insbesondere an die nach wie vor wenig kooperative Haltung Großbritanniens, die auf ein langfristiges Einfrieren der Agrarpreise für Uberschußprodukte in den Aufwertungsländern hinausläuft, es den Abwertungsländern aber gestattet, sich im Hinblick auf die Einkommensentwicklung der eigenen Landwirtschaft durch Anhebung der nationalen Agrarpreise zu bedienen.Ich habe in der jüngsten Vergangenheit mehrfach betont, daß ich eine solche Politik für absolut unvertretbar halte. Sie beinhaltet, daß die Landwirte der Gemeinschaft in zwei Gruppen eingeteilt werden: Für die Landwirte in den Abwertungsländern Großbritannien, Irland, Frankreich und Italien kann mit Hilfe der Abwertung der grünen Paritäten nach wie vor eine aktive Preispolitik durchgeführt werden,
wohingegen sich die Landwirte in den Aufwertungsländern Niederlande, Belgien, Luxemburg und Bundesrepublik Deutschland langfristig auf einen Preisstopp einrichten sollen.Ich kann nur hoffen, daß, nachdem die französi"sche Regierung ihre Position aufgegeben hat, nun auch Großbritannien von der Unmöglichkeit seiner Haltung überzeugt werden kann.
Möglicherweise gibt es aber auch dort das Problem innenpolitischer Gesichtsverluste.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der so schwierigen, komplizierten, für den Bürger kaum verständlichen und sehr viel Geduld erheischenden Agrarpolitik dem Wunsch Ausdruck geben, daß die Ziele der Stabilität möglichst von allen Partnern mit Ernst und Wahrhaftigkeit verfolgt werden, so daß negative Veränderungen der Paritäten nicht nötig werden.
Eine derartige Entwicklung würde nicht nur der Agrarpolitik zugute kommen; das Europäische Währungssystem kann auch zum Motor der Integration werden — so wie es die gemeinsame Agrarpolitik in den 60er Jahren war, durch die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten zehn Jahre aber nicht mehr sein konnte.Noch ein Wort zum Grenzausgleich. Seit zehn Jahren haben wir uns mit diesem Vehikel herumschlagen müssen. Der Grenzausgleich war aber — und das muß man wissen —, als er geschaffen wurde, die einzige Möglichkeit, den weit auseinanderklaffenden Inflationsraten durch Veränderung der grünen Leitkurse gerecht zu werden. Die Währungsausgleichsbeträge haben das System gemeinsamer Preise und den freien Warenverkehr erhalten, möglicherweise sogar den Zusammenbruch der gemeinsamen Agrarpolitik verhindert.Der Grenzausgleich ist keine Dauereinrichtung. In einer Währungs- und Wirtschaftsunion hat dieses System natürlich keinen Platz. Darüber besteht, glaube ich, hier im Hause auch volles Einverständnis.
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11414 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Schmidt
Die nun von den acht Ländern getragene Regelung der Behandlung neuer Grenzausgleiche — die es, Kollege Ritz, hoffentlich nicht geben wird — und die bestehenden Ausgleichsbeträge wirken einer Spaltung der EG-Landwirtschaft in die erwähnten verschiedenen Gruppen entgegen. Es erfüllt mich mit Genugtuung, daß die unglaublich naiven Vorstellungen der Kommission über den Abbau des Grenzausgleichs vom Tisch sind.Meine Damen und Herren, in diesen Tagen stehen die Preisverhandlungen wieder vor der Tür. Der zeitliche Spielraum ist sehr, sehr eng: zwei Wochen. Es wird nicht einfach sein, zu einem Ergebnis zu kommen. Wünschen wir Bundesminister Ertl eine glückliche Hand!
Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß dabei in jeder Richtung hart gepokert wird, und will mich deshalb auch nicht in Spekulationen oder sonstigen Vorstellungen verlieren. Ratschläge gibt es draußen genug. Es ist in dieser Situation gut, wenn die Regierung ihre Karten verdeckt hält.Die besonderen Schwierigkeiten liegen in den Bereichen der Überschußprodukte Getreide, Zucker und Milch. Die Probleme von Getreide und Zucker sind leichter als die des Milchmarktes zu lösen. Schon Mansholt hat geahnt, daß die Milch zum Kernproblem der EG würde. Er sah die Kühe nicht am La Plata, sondern auf den Sojabohnenfeldern der USA weiden. Es ist so gekommen. Niemand hier im Hause wird bestreiten, daß die Lage auf dem EG-Milchmarkt endlich nach wirklich durchgreifenden Maßnahmen zur Verhinderung eines weiteren Anstiegs verlangt. Kosten von 10 Milliarden DM zur Unterbringung von Überschüssen von Butter und Magermilchpulver sind einfach zu viel. Das ist unerträglich.
Wir kennen die von der Kommission vorgelegten Vorschläge für das Wirtschaftsjahr 1979/80. Die Kommission sieht vor, daß die Interventionspreise für das laufende Wirtschaftsjahr festgehalten werden. Wir sind damit einverstanden. Ich will hinzufügen: Es ist erforderlich, der europäischen Milchwirtschaft tatsächlich deutlich zu machen, daß sie bei wachsenden Überschüssen nicht auch noch mit steigenden Interventionspreisen rechnen kann. Schon in der Vergangenheit hat diese Preispolitik für diejenigen Molkereien, die ihren Absatz auf den Märkten für Milch und Milcherzeugnisse und nicht in den staatlichen Interventionsstellen suchten, zu erheblichen Problemen geführt.Mit allergrößter Skepsis beurteile ich die von der Kommission vorgeschlagene Ausgestaltung der Mitverantwortungsabgabe, z. B. die automatische Kopplung der Höhe dieser Abgabe an die künftige Entwicklung der Milchanlieferung im laufenden Wirtschaftsjahr. Es gibt eine Reihe von Gründen, die gegen einen solchen Vorschlag sprechen. Ich will nur zwei nennen. Erstens. Es ist unvorstellbar, daß der für die Preispolitik zuständige Agrarministerrat seine Verantwortung auf einen allenfalls noch von den Beamten der Kommission beeinflußbaren Automatismus delegiert. Zweitens würden die Milcherzeuger total verunsichert. Wir halten auch nichts von den vorgeschlagenen und sonst diskutierten Regelungen über Ausnahmen von der Mitverantwortungsabgabe, wobei ich die Ausnahmen für die bereits befreiten wirklichen Berggebiete einmal beiseite lasse. Gegen die Höhe der Mitverantwortungsabgabe von 2 % erheben wir keinen Einwand.Das schließt nicht aus, daß man Milchviehhaltungsbetriebe mit einer sehr hohen Erzeugung gegebenenfalls etwas stärker belastet, weil hier in der Regel zwei Faktoren zusammentreffen: Erstens ist bei ihnen eine überdurchschnittliche Produktivität zu vermuten, die auf einen agrarpolitisch nicht erwünschten besonders hohen Einsatz von importierten Eiweißfuttermitteln zurückgeht, und zweitens ist anzunehmen, daß vor allem in diesen Betriebsgruppen jene Kapazitätsaufstockungen vorgenommen worden sind, die uns die heute so schwer lösbaren Probleme auf dem Milchmarkt bereiten. Ich weiß, daß die stärkere Belastung der großen Milchviehhaltungsbetriebe nicht unproblematisch ist. Es ist eine Maßnahme, über die man noch reden kann und die man zu erwägen hat. Die Aussagen, wie sie hier gemacht werden, entsprechen Überlegungen meiner Freunde in der Partei; sie werden sicher demnächst veröffentlicht werden.Kehren wir noch einmal zu den Preisverhandlungen zurück! Es ist nicht abzusehen, wie die Fronten in Brüssel verlaufen werden. Bisher hat nur England angekündigt, daß es gegen jede Preisveränderung ist. Premierminister Callaghan hat sowohl in Paris auf einer Pressekonferenz als auch gestern im Unterhaus in London diese Haltung noch einmal wiederholt und bestätigt. Die Agrarpreise sollen nach Ansicht der britischen Regierung für Jahre eingefroren werden. In ihrer insularen Lage heben die Briten scheinbar vergessen, daß sie ihre Agrarstruktur, die sich unterschiedlich zu der im übrigen Europa herausgebildet .hat, nicht zum Maßstab für die Politik der Gemeinschaft machen können.
Vielleicht gibt es aber noch einen anderen Hintergrund für ihre Ankündigung, eine unmißverständlich harte, sehr harte Haltung einnehmen zu wollen. Der englische Premier hat auf dem Bankett des Londoner Bürgermeisters am 13. November 1978 eine Rede gehalten, die einige auch für die Agrarpolitik in der Gemeinschaft interessante Bemerkungen enthielt. Der Premierminister hat in dieser Rede die Sechsergemeinschaft an zwei Versprechen erinnert, die Großbritannien gegeben worden sein sollen. Das betrifft erstens die Einführung einer anderen Budgetpolitik, sprich die Verminderung der britischen Zahlungen an den Haushalt der EG, zweitens eine Revision der Agrarpolitik, sprich eine Änderung der Preispolitik und der Importpolitik. Der englische Premier hat in seiner Rede bedauert, daß die Gemeinschaft diese Zusage bisher nicht eingehalten habe und dadurch der von Großbritannien gewünschte Wandel noch nicht eingetreten sei.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11415
Dr. Schmidt
Ich kann nicht beurteilen, ob diese Versprechen wirklich gegeben worden sind oder ob es sich nur um Mißverständnisse handelt. Es ist in der Vergangenheit immer schwierig gewesen, die Haltung Großbritanniens in der Agrarpolitik einzuschätzen. Ich will nur das Beispiel der Fischereiverhandlungen anführen. Bundesminister Ertl hat gestern auch davon gesprochen. Wir müssen abwarten, ob und wie die britische Regierung mit der Ankündigung Ernst macht, eine Änderung der Agrarpolitik um jeden Preis herbeiführen zu wollen. Es könnte eine Lage entstehen, die es bisher in der ganzen Gemeinschaft noch nicht gegeben hat. Eine harte Zerreißprobe ist nach der Äußerung, die auch der zuständige Fachminister am 21. Februar in London gemacht hat, möglich. Lassen Sie mich aber am Rande hinzufügen, es wäre das erste Mal, daß die Briten nicht wüßten, wie und wo sie besser fahren. Ich glaube — und das wissen sie —, daß sie mit der gegenwärtigen Agrarpolitik und insbesondere auch mit dem System des Grenzausgleichs außerordentlich gut fahren. Durch Vorabregelungen und Zugeständnisse, die die anderen Acht den nationalen Anliegen Großbritanniens entgegenbrachten, haben sie Vorteile erlangt, die man früher nur den Italienern zugestanden hätte.Hochverehrter Herr Bundesminister, Sie gehen einen schweren Weg in sehr ernste Verhandlungen. Unsere guten Wünsche begleiten Sie.
Lassen Sie mich noch ganz schnell eine Berner-kung zur Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft von Neun auf Zwölf machen. Es kann kein Zweifel über die Notwendigkeit der Aufnahme der Drei in die EG bestehen. Die Grundentscheidung ist gefallen, und sie ist richtig. Wer sich ein Bild von den Volkswirtschaften dieser Länder machen konnte, wird wissen, daß der Gemeinschaft Aufgaben erwachsen, die wir in ihrem Ausmaß noch nicht gekannt haben. Wenn auch aus handfesten wirtschaftlichen Gründen dieser Drei die Entwicklung der Landwirtschaft dort vorangetrieben werden muß, damit man die ländlichen Regionen nicht der Verelendung überläßt oder aussetzt, so sollten doch alle Politiker wissen, daß allein mit agrarpolitischen Mitteln den Problemen dieser Länder nicht beizukommen ist.
Hier werden wirtschafts- und regionalpolitische Überlegungen dominieren müssen. Wir müssen das Ganze ernst nehmen, wenn uns Europa am Herzen liegt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Sätze, gerichtet an die Opposition, sagen. Sie haben zwei Entschließungen eingebracht, eine zur Fischerei. Dazu wird noch ein Kollege Stellung nehmen. Ich möchte mich in zwei, drei Sätzen mit der allgemeinen Entschließung befassen. Ich bin im Grunde tief enttäuscht. In den meisten Punkten ist Ihr Wissensstand und derStand Ihrer Erkenntnisse hier einfach nicht zum Tragen gekommen.
Mit solchen Entschließungen können Sie in die Versammlungen gehen,
können Propaganda machen; aber für einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik reicht diese Entschließung nicht aus.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Peters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Agrarbericht 1979 für das Wirtschaftsjahr 1977/78 mit einem Einkommenszuwachs von 10 °/o .ist ein guter Abschluß. So ergibt sich im zehnjährigen Durchschnitt ein Plus von 8 °/o. Beachtlich ist die Steigerung der Bruttoinvestitionen um 12 °/o auf 9,5 Milliarden DM und der Nettoinvestitionen um 2 Milliarden DM. Das zeugt von einer gesunden Lage der deutschen Landwirtschaft.Die Vorausschau für das Wirtschaftsjahr 1978/79 mit einem Einkommenszuwachs von vermutlich nur 3 °/o ist bescheiden. Allerdings verzeichnen die Marktfruchtbetriebe und die Futterbaubetriebe einen. Zuwachs von 6,5 °/o. Die Negativkomponente bringen die Veredlungs- und Gemischtbetriebe.Eine genaue Vorausschau um weitere Jahre ist nicht möglich. Aber die Tendenz läßt sich erkennen. Sie drückt sich in einer erheblich stärkeren Zunahme der landwirtschaftlichen Erzeugung gegenüber dem Nahrungsmittelverbrauch aus. Daraus ergeben sich für den EG-Markt Überschüsse mit zunehmender Tendenz, vor allem bei Milch, Schweinen, Getreide, Zucker und Wein. Auch wenn man noch nicht der Prognose von Dr. Thiede, dem Leiter des Statistischen Amtes der EG, folgt, sondern nur die Zahlen des Ifo-Instituts zugrunde legt, gebietet die Lage auf dem EG-Markt zügige Gegenmaßnahmen. Je länger man wartet, desto schwieriger wird es.Auf dem Fleischmarkt, bei Rindern und bei Schweinen, greift die Intervention kaum noch. Auf dem Sektor Milch hält die Intervention wie beim Getreide die Preise. Aber hier wird es mit der Finanzierung und mit dem Absatz in Zukunft schwieriger werden, als sich das heute darstellt.Die Entscheidung über die EG-Marktpolitik liegt vor allem bei der Kommission und dem Ministerrat. Besonders im Ministerrat kommen unterschiedliche oder gar gegensätzliche Interessen zum Austrag. Einig sollte man sich jedoch darin sein, daß die Milcherzeugung nicht noch weiter forciert wird, sondern in tragbarem Maße zurückgefahren werden muß. Da eine Beschränkung oder Belastung der Einfuhren von Eiweißfuttermitteln und Getreidesubstituten wegen der Verpflichtung aus dem internationalen GATT-Abkommen nicht möglich ist, bleiben
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Peters
nur die Mitverantwortung der Erzeuger und der Mehrabsatz von Milchprodukten.Bei der Mitverantwortung sollte auf diejenigen Betriebe Rücksicht genommen werden, die nicht auf andere Produktionen ausweichen können. Der Kommissionsvorschlag ist zu weitgehend und zu undifferenziert. Bergbauerngebiete, die Kerngebiete der benachteiligten Agrarzonen, müssen, wie das eben auch schon gesagt worden ist, von der Abgabe ausgenommen werden. Die übrigen benachteilig- ten Gebiete — das wären zusammen 30 % der gesamten Fläche — hätten schon an der halben Abgabe schwer zu tragen. Hier handelt es sich in der Regel um Grünlandbetriebe, die nicht auf andere Produktionen ausweichen können.Es wäre gerecht, wenn für größere und große Viehbestände auf Grund des nicht unerheblichen Rationalisierungsvorteils dieser Betriebe eine progressive Staffelung der Abgabe eingeführt würde. Der Referenzzeitraum für die Berechnung der Mehrerzeugung von Milch sollte nicht vier Monate, sondern ein Jahr betragen, und die Abgabe sollte von der Kommission bedeutend geringer bemessen werden.Um eine weitere Verwertung von EG-Futtergetreide zu erreichen, wird im Futterinittelrecht der EG die offene Deklaration der Gemengteile im Mischfutter zu bestimmen sein.
Führt das nicht zum Erfolg, wird die EG kaum um einen Beimischungszwang für Futtergetreide im Mischfutter wie von Magermilchpulver im Kälberfutter herumkommen. Darüber hinaus sollte die Verfütterung von nasser Magermilch an Schweine und Kälber gefördert werden. Werden im Bereich Getreide nicht durchgreifende Maßnahmen eingeleitet, steht die EG 'hier in kurzer Frist vor der gleichen schwierigen Lage wie heute bei der Milch.Die vorgetragenen Maßnahmen bei den Produkten Milch und Getreide könnten um solche anderer Bereiche erweitert werden. Sinn dieser Darstellung ist es, im Prinzip das Marktordnungssystem der EG zu erhalten, das durch Überschußproduktion in Gefahr gebracht werden kann und wird, wenn nicht erforderliche ordnungspolitische Maßnahmen ergriffen werden.Über den Markt hinaus muß auch bei der Struktur angesetzt werden. Seit Jahren stellen wir in vielen Landstrichen fest, daß sich über Zupachten große Betriebseinheiten bilden. Das wäre nicht schlimm, wenn nicht mittlere, bisher leistungsfähige Unternehmer dadurch ihr Pachtland verlören und dann ihre Betriebe aufgeben müßten. Erfreulicherweise sind wir im Ernährungsausschuß und in Beratungen mit den Ländervertretern über ein Landpachtschutzgesetz einig geworden. Der Gesetzentwurf bestimmt, daß Landpachtverträge anzeigepflichtig und ab einer von den Bundesländern zu bestimmenden Fläche genehmigungspflichtig werden. Damit wird erreicht, daß der Zusammenballung von Land in der Hand weniger Landwirte, dem Verlust von Pachtland für mittlere und kleinere Betriebe und einem nicht vertretbaren Ansteigender Landpachten entgegengewirkt wird. Unterhalb der oberen Pachtbetriebsgröße gelten selbstverständlich freier Wettbewerb, keine Pachtzuteilung durch ,die Behörden und keine Pachtpreisgrenze. Auf Grund der vielen Vorgespräche erwarten wir, daß die Beratungen im Bundesrat und bei uns in den Ausschüssen den Gesetzentwurf aller drei Fraktionen zügig zum Abschluß bringen.Ein weiteres Problem stellt sich in der betrieblichen Förderung. Hier geht es um die Frage: Wollen wir als Leitbild den mittleren oder den Großbetrieb? Soll es der mittlere Betrieb sein, dann muß die Förderung der öffentlichen Hand eine obere Grenze kennen. Vorschlag: Die öffentliche Hand fördert nur noch Kuhställe bis höchstens 50 Kühen, Schweineställe mit 100 Liegeplätzen. Ich habe das bei der Debatte im vorigen Jahr schon einmal angeregt. Bundesminister Ertl hat sich im Planungsausschuß von Bund und Ländern darum bemüht, aber einem Teil der Länder fehlte die Einsicht. Betriebswirte in den Ländern halten Kuhbestände von 70 bis 100 Kühen und Schweineställe mit 600 Liegeplätzen wegen der Futterautomatik für das Optimale und planen und planen, und die EG beseitigt dann die Überschüsse. So geht das nicht weiter, meine Damen und Herren.Noch ein Punkt ist erwähnenswert. Wer heute stark in die Veredlung geht, bemüht sich, das nach der Abgabenordnung vorgeschriebene Verhältnis von Vieheinheit zu Hektar zu halten, um steuerlich als Landwirt und nicht als gewerblicher Viehhalter zu gelten. Deshalb werden Landflächen gepachtet, koste es, was es wolle. Wir müssen sowohl das Verhältnis von Vieheinheit zu Hektar überprüfen als auch generell eine Grenze einbauen, bei der unabhängig von der Fläche — bei bestimmten absoluten Größen — die gewerbliche Viehhaltung beginnt.Manche Zuhörer mögen verwundert sein und das, was ich vorgetragen habe, nicht für liberal halten. Ich behaupte: Es ist liberal, einer breiten Masse von Landwirten in betriebswirtschaftlich gesunden Betrieben die Existenz zu erhalten. Nicht der 100Hektar-Ackerbetrieb und nicht der Viehhof mit 100 Kühen ist das Leitbild, sondern eine gemischte Struktur von Vollerwerbsbetrieben, Zuerwerbs- und Nebenerwerbsbetrieben, die zusammen die Hauptaufgabe des Landschaftsschutzes getragen haben.
Meine Damen und Herren, ich will hier keine Ausführungen über die Einkommensteuer in der Landwirtschaft machen, muß allerdings betonen, es befremdet mich, daß Finanzminister Matthöfer nach einer Pressemeldung in Kiel gestern trotz der Geheimhaltungsklauseln — wir haben ja noch keinen Entwurf — wieder ausführliche Äußerungen über seinen Entwurf gemacht hat. Statt dessen sollten wir möglichst bald zu Verhandlungen kommen. Dazu müssen aber alle orientiert sein. Ich darf nur betonen, wir wünschen nach wie vor eine zweigliederige Regelung: bis 24 000 DM § 13 a, dann Buchführungspflicht. Wir sind bereit, beachtlich mehr Betriebe in die Buchführungspflicht zu bringen,
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Peters
aber in die wirkliche Buchführungspflicht, nicht in eine Schuhkarton-Buchführung.Nun einige Bemerkungen zu den Entschließungsanträgen der Union. Herr Kollege Schmidt hat darüber schon gesprochen. Meine Damen und Herren, von der Union, Sie ersuchen die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß das deutsche nationale Preisniveau zumindest um die Höhe der Inflationsrate verbessert wird.
— Herr Kiechle, passen Sie einmal auf: Soll das heißen, daß in jedem Partnerland die Agrarpreise um die jeweilige Inflationsrate in der EG angehoben werden, oder soll das heißen, daß die Anhebung in der EG generell nach der Preissteigerungsrate der Bundesrepublik erfolgt? Das muß man sich zunächst einmal fragen. Weder das eine noch das andere Verfahren ist möglich. Ist Ihnen nicht bewußt, daß ein Anheben ,der EG-Richt- und -Interventionspreise um die Höhe der Inflationsrate, beispielsweise 2 °/o, nicht automatisch das nominelle Agrarpreisniveau um den gleichen Prozentsatz verbessert?
Ich darf Ihnen dafür zwei Beispiele geben. Nach den letzten Preisverhandlungen wurden die Preise im Durchschnitt um 2 °/o für uns erhöht. Die Preise im Markt für Rinder sind in der Folgezeit, also fast ein Jahr lang, um 6 °/o gefallen, nicht gestiegen, und die Schweinepreise um 18 % gefallen und nicht gestiegen. Dies beweist doch, daß im Grunde bei vielen Produkten die Interventions- und Richtpreise gar keine Wirkung mehr haben, nämlich dann nicht, wenn der Markt es nicht erlaubt.
— Bei diesen Produkten ist es egal, ,das werden Sie ja zugestehen.
Die Einigung sieht konkret folgendes vor:1. Bei künftigen Leitkursänderungen wird wie bisher ,der Währungsausgleich automatisch erhöht, d. h., das nationale Agrarpreisniveau bleibt unverändert.2. Für ,den Abbau solcher neu entstehender Währungsausgleichsbeträge haben sich die Mitgliedstaaten das Ziel gesetzt, diese in zwei Raten innerhalb von zwei Jahren zu beseitigen.3. Bei diesem Abbau — und dies ist aus der Sicht der deutschen Landwirtschaft die entscheidende Frage — muß die Einkommensentwicklung berücksichtigt werden; auf keinen Fall darf der Abbau zu einer Preissenkung in nationaler Währung führen.Meine Damen und Herren, da können Sie sagen, was Sie wollen, dies zu erreichen war nicht leicht, es ist beachtlich.
Dann fordert ,die Union,
daß einige Mitgliedstaaten der EG ihre Agrarproduktion nicht weiterhin stark ausdehnen, während gleichzeitig auf andere Mitgliedstaaten ständig Druck ausgeübt wird, ihre Produktion zu beschränken.Ich möchte einmal wissen, auf wen schon Druck ausgeübt worden ist.Ein Weiteres dazu: Im Gemeinsamen Markt muß jedes Partnerland seine Chancen, die deutsche Landwirtschaft nicht weniger als ihre Konkurrenten, nutzen. So ist ,der deutsche Agrarexport in wenigen Jahren von 2 Milliarden DM auf über 13 Milliarden DM gestiegen.
— Die Importe, die dann kamen, waren zum Teil Rohstoffe für diese Produktion, Herr Kiechle. Davon haben wir wie die anderen Länder Gebrauch gemacht.
Ich empfehle der Union, im Materialband auf Seite 77 den Selbstversorgungsgrad nachzulesen. Ich will nur mal die Hauptdaten sagen. Bei Weichweizen war unser Selbstversorgungsgrad 94 °/o, bei Gerste 74 °/o, bei Zucker 114 °/o, bei Rindfleisch 95 °/o, bei Schweinefleisch 88 °/o, bei Butter 132 °/o, bei Magermilchpulver 113 °/o, bei Käse 112 °/o, bei Eiern 78 °/o. Diese Zahlen stimmen mit den jetzigen Verhältnissen schon nicht mehr völlig überein; denn unser Versorgungsgrad ist laufend gestiegen. Schlechte Argumente schaden nur unserem Interesse, dem Interesse der Landwirtschaft. Das sollten Sie beherzigen.
Wir werden über diese Anträge im Ausschuß ausführlich beraten. Hier sind nur die Hauptpunkte erwähnt. Ich finde auch, sie sind wenig seriös, Herr Ritz.
Dem Bundesminister gebührt besonderer Dank für seine Verhandlungen im Ministerrat bei den schwierigen Fragen ides Grenzausgleichs in Verbindung mit dem Europäischen Währungssystem. Die Verhandlungsposition war nicht so einfach, wie mancher denken mag. Schließlich ist den Franzosen nicht verborgen geblieben, was es für die Bundesrepublik und für Benelux bedeutet, Eiweißfuttermittel und Getreidesubstitute auf idem Weltmark weit günstiger einkaufen zu können als Frankreich selbst, und zwar auf Grund der Währungsverhältnisse um etwa 40 °/o billiger. Dazu kommt noch der Vorteil für die Bundesrepublik und für Benelux
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Peters
durch die geringeren Preissteigerungsraten für industriell-gewerbliche Erzeugnisse, also geringere Preise für alle die Vorleistungen, die die Landwirtschaft aus der heimischen Erzeugung kauft. Wir begrüßen es, daß Frankreich die Vorbehalte zum Inkrafttreten des EWS zurückgenommen hat. Wir halten die getroffene Vereinbarung über den Grenzausgleich für die deutsche Landwirtschaft für tragbar auf Grund der volkswirtschaftlichen Daten, die ich soeben angeführt habe und die sich auf die Währungsverhältnisse beim Kauf von Futtermitteln auf dem internationalen Markt sowie auf die billigeren Vorleistungen unserer Landwirtschaft im Verhältnis zu der konkurrierenden Landwirtschaft beziehen.Am Schluß meiner Ausführungen, die auch kritische Elemente über die EWG-Agrarpolitik und die von den Ländern mitbestimmte Strukturpolitik enthalten, möchte ich zwei politische Fakten herausstellen, die für die Landwirtschaft von großer Bedeutung sind. In der sozialen Sicherung für die Landwirtschaft hat die sozialliberale Koalition denDurchbruch für alle Teilbereiche vollzogen.
Die jährlich zur Verfügung gestellten Bundesmittel sind von 1969 bis heute von 900 Millionen auf 3,3 Milliarden DM erhöht worden. Aber die bedeutendste Hilfe für die Landwirtschaft war vielleicht die von der Koalition 'konsequent betriebene Stabilitätspolitik. Damit wurde erreicht, daß die Kosten für die Landwirtschaft über weite Zeiträume bei uns geringer waren als bei den Partnerländern.
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen jetzt die Sitzung bis 14 Uhr und fahren 'dann mit der Fragestunde fort.
Die un-
terbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf. Fragestunde
— Drucksache 8/2637 —
Zunächst kommen wir zu zwei Dringlichkeitsfragen des Abgeordneten Jäger aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Kreutzmann zur Verfügung. Herr Staatssekretär, möchten Sie die beiden Fragen gemeinsam beantworten?
Wenn der Fragesteller einverstanden ist, ja.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich hiermit die
Dringlichkeitsfragen 1 find 2 des Abgeordneten Jäger auf:
Welche Erklärungen der DDR-Regierung im Hinblick auf die Rückgängigmachung von Einreiseverweigerungen zur Leipziger Frühjahrsmesse gegenüber 49 Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland wurden Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff bei seinen Gesprächen mit Vertretern der DDR-Regierung gegeben, und besteht die Aussieht, daß die Einreiseverbote noch während der Messe rückgängig gemacht werden?
Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung gegebenenfalls über die Gespräche des Bundeswirtschaftsministers in Leipzig hinaus zu ergreifen, um zu erreichen, daß die von der DDR zurüdcgewiesenen Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland noch während des Verlaufs der Messe zu deren Besuch zugelassen werden?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, der Bundesminister für Wirtschaft hat in seinen Gesprächen mit dem SED-Politbüromitglied Dr. Günter Mittag und dem Außenhandelsminister Horst Sölle die Bedeutung des allgemeinen politischen Klimas für die Entwicklung des innerdeutschen Handels zur Sprache gebracht. Minister Graf Lambsdorff hat die Einreiseverbote gegenüber Minister Sölle ausdrücklich mißbilligt und dazu aufgefordert, diese Maßnahmen unverzüglich zu überprüfen. Minister Sölle erklärte dazu, die Zurückweisung sei nach den Gesetzen der DDR Rechtens. Die Bundesregierung muß daher davon ausgehen, daß die Einreiseverbote während der bis zum 18. März geöffneten Messe nichtmehr rückgängig gemacht werden.
Ich darf weiterhin darauf hinweisen, daß Minister Graf Lambsdorff bei einem Empfang von Staatssekretär Gaus, dem Leiter der Ständigen Vertretung, in Anwesenheit von stellvertretenden Ministerpräsidenten, Ministern der DDR-Regierung und Mitgliedern des Politbüros darauf hingewiesen hat, daß diese Zurückweisung den gegenseitigen Beziehungen, vor allen Dingen auch der weiteren Entwicklung des innerdeutschen Handels, in keiner Weise zuträglich sei.
Im übrigen ist Ihnen, Herr Kollege, bekannt, daß am morgigen Freitag Minister Graf Lambsdorff um 10 Uhr . im Innerdeutschen Ausschuß einen Bericht über seine Reise gibt. Ich frage mich, warum sie diese Chance nicht nutzen wollen.
Zusatzfrage.
Herr Kollege Kreutzmann, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß es außerordentlich unbefriedigend ist, jetzt schon im dritten oder vierten Jahr nacheinander immer wieder die gleiche Problematik zu erleben, daß Deutsche zurückgewiesen werden, die zur Leipziger Messe reisen wollen, was dann zwar gerügt wird, wodurch aber für die Menschen selber de facto nichts erreicht wird, so daß sie von der Messe ausgeschlossen bleiben?
Herr Kollege, ich glaube, dazu ist folgendes zu sagen. Die Bundesregierung hat bei früheren Messen keine Gelegenheit ausgelassen, auf diese Tatsache hinzuweisen. Im übrigen ist ein ständiger Rückgang der Zahl der Zurückweisungen zu verzeichnen. Außerdem nimmt jeder Staat das Recht für sich in Anspruch, darüber zu entscheiden, wen er einreisen
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Parl. Staatssekretär Dr. Kreutzmannlassen will und wen nicht. Die DDR nimmt diesesRecht für sich in Anspruch. Wir haben wenig Möglichkeiten, dagegen etwas zu unternehmen, außer mit gezielten Protesten.
Eine
weitere Zusatzfrage.
er Wangen) (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,
darf ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung mit dem Protest, den Minister Graf Lambsdorff erhoben hat, zum Ausdruck gebracht hat, daß sie selber — also die Bundesregierung — diese Zurückweisungen für ungerechtfertigt und die Einreiseanträge dieser Bürger für begründet hält?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat die Ständige Vertretung angewiesen, bei ihren laufenden Gesprächen dieses Thema erneut aufzugreifen. Gleichzeitig unternimmt sie den Versuch, jeden dieser einzelnen Fälle im Einverständnis mit den Betroffenen — dies ist natürlich Voraussetzung — dort noch einmal zur Sprache zu bringen und die DDR darauf aufmerksam zu machen, daß Zurückweisungen nicht dem Sinn und Geist der Verträge entsprechen.
Noch
eine Zusatzfrage.
Herr Kollege Kreutzmann, da ich auch nach weiteren Maßnahmen gefragt habe, möchte ich wissen: Wird die Bundesregierung auf Grund der gemachten Erfahrungen den Versuch unternehmen, mit der DDR eine Vereinbarung zu treffen, die auch zu einer gewissen Begründungspflicht bei Zurückweisungen führt, so daß die Bundesregierung ihrerseits in der Lage ist, nachzuprüfen, ob eine solche Zurückweisung zu Recht besteht oder nicht?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, Minister Sölle hat in Beantwortung des Vorstoßes von Graf Lambsdorff erklärt, daß die DDR diese Maßnahmen als Rechtens betrachte. Ich sehe bei dieser Einstellung der DDR-Regierung kaum eine Möglichkeit, eine Änderung des Standpunkts zu erreichen.
Letzte
Zusatzfrage.
Herr Kollege Kreutzmann, auch wenn es so ist, daß Sie die Chancen nicht für übermäßig groß erachten: Wird die Bundesregierung einen Versuch in dieser Richtung unternehmen, um den Unzuträglichkeiten, die sich in den letzten Jahren ergeben haben, endlich ein Ende zu bereiten?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, die Bundesregierung hat jede Möglichkeit zu Gesprächen über solche Themen genutzt, um die Unzuträglichkeit solcher Maßnahmen deutlich zu
machen. Nur haben wir keine Machtmittel irgendwelcher Art, die DDR daran zu hindern, von Rechten Gebrauch zu machen, die auch andere Staaten, z. B. auch in der westlichen Welt, für sich in Anspruch nehmen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kunz.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, in ernsthafte Überlegungen über geeignete weitere Maßnahmen, die über einen Protest hinausgehen, einzutreten, zumal davon auszugehen ist, daß bei dem Kreis der Zurückgewiesenen häufig Personen betroffen sind, die sich entweder um Familienzusammenführung bemühen oder die DDR einmal legal verlassen haben?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kunz, daß muß im Zusammenhang mit Gesprächen über Familienzusammenführung geklärt werden. Ich sehe Verhandlungen auf rein theoretischer Basis als wenig aussichtsreich an.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie insbesondere bereit, Ihren Überlegungen, hier schützend tätig zu werden, mehr Ernsthaftigkeit zuteil werden zu lassen, wenn Sie bedenken, welch großes Interesse die DDR gerade im Zusammenhang mit der Abhaltung von Leipziger Messen und ähnlichen, handelspolitisch wichtigen Foren hat, so daß Sie Ihrerseits doch Möglichkeiten haben müssen, auf gewisse Interessenverknüpfungen hinzuarbeiten?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kunz, die Bundesregierung hat auch früher bei dem Besuch von Leipziger Messen durch Vertreter der Bundesregierung — durch Regierungsmitglieder, durch Staatssekretäre der Bundesregierung — und durch führende Politiker jede Gelegenheit genutzt, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Zurückweisungen dem Gedanken der Leipziger Messe, hier besondere Möglichkeiten der Begegnung und der Freizügigkeit zu schaffen, keineswegs besonders nützlich sind.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ey.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Befürchtungen oder Vermutungen, daß sich hinter dieser Verhaltensweise der DDR materielle oder politische Forderungen besonderer Art an die Bundesrepublik verbergen?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ey, solche Vermutungen finden keinerlei begründete Bestätigung.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
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Kann man dann, Herr Staatssekretär, davon ausgehen, daß diese Verhaltensweise der DDR in einem besonders eklatanten Widerspruch zu den Abmachungen der Konferenz von Helsinki steht?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Das hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu den Zurückweisungen deutlich erklärt.
Ich lasse noch eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Graf Huyn zu. Dann gehen wir weiter, weil die Angelegenheit morgen ohnehin im Ausschuß behandelt wird.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade erklärt, daß die Bundesregierung keine Gelegenheit ausnutze
— auslasse; ich bitte um Verzeihung —, um diese Fragen zur Sprache zu bringen. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, ob auch der Bundesminister für Wirtschaft diese Fragen bei seinen Gesprächen in Leipzig angeschnitten hat?
Dr. Kreutzmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Graf Huyn, Sie waren noch nicht im Saal, als ich darauf hingewiesen habe — —
Einen Augenblick, Herr Staatssekretär. — Ich fürchte, Graf Huyn, Sie haben die Antworten des Herrn Staatssekretärs gar nicht gehört. Sonst hätten Sie diese Zusatzfrage nicht mehr gestellt.
Wir fahren mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie fort. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Stahl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 30 des Herrn Abgeordneten Dr. Laufs auf :
Trifft es zu, daß die Bundesregierung Abgeordneten der SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg Detailinformationen über die Lage bei der Entsorgung von Kernkraftwerken gegeben hat, die von der amtlichen Entsorgungskonzeption des Bundes und im Einvernehmen damit des Landes Baden-Württemberg hinsichtlich ihrer Auswirkung auf den Betrieb bestehender und den Bau neuer Kernkraftwerke sehr verschieden sind, und falls ja, worin bestehen die wesentlichen Unterschiede?
Herr Kollege Dr. Laufs, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Das trifft nicht zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie haben jetzt zwei Zusatzfragen. Bitte.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob und gegebenenfalls worin die Landesregierung Baden-Württembergs bei ihrer energiepolitischen Planung von den Entsorgungsrichtlinien der Bundesregierung, wie sie im Entsorgungsbericht vom 30. November 1977 festgelegt sind, abweicht?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Laufs, das Bundeskabinett hat gestern eine Erklärung der Bundesregierung zum Entsorgungszentrum, zur Entsorgung abgegeben. Dem brauche ich nichts hinzuzufügen. Übrigens ist in der Zweiten Fortschreibung des Energieprogramms auch dieses Thema unmißverständlich darstellt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich dann die Äußerung des Oppositionsführers Dr. Eppler im baden-württembergischen Landtag vom 1. März 1979 bei der Einbringung eines Dringlichkeitsantrags zur Frage der Entsorgung der Kernkraftwerke, daß in dieser schwierigen und wichtigen Frage — ich zitiere — „Parlamentarier von zwei zuständigen Ministerien des Bundes und des Landes verschiedene, sehr verschiedene Auskünfte bekommen"?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Laufs, ich habe soeben die Position der Bundesregierung dargestellt. Es ist den Politikern in Landtagen und auch im Bundestag unbenommen, in der einen oder anderen Frage der Entsorgung eine andere Stellungnahme abzugeben. Der Standpunkt der Bundesregierung ist hier unmißverständlich.
Herr Kollege, Sie haben jetzt eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, kann ich Ihren Antworten entnehmen, daß die Bundesregierung nach wie vor zu ihren Aussagen im Entsorgungsbericht vom 30. November 1977 steht, nach denen ein weiterer Ausbau von Kernkraftwerken möglich ist?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich verweise nochmals auf die Zweite Fortschreibung des Energieprogramms. Dort ist der ganze Energiebereich sehr eingehend dargestellt. Ich verweise auch darauf, daß der Deutsche Bundestag bei der Debatte über diese Zweite Fortschreibung einen Beschluß gefaßt hat, den wohl auch Sie, wenn ich es richtig interpretiere, mitgetragen haben, jedenfalls in wesentlichen Punkten.
Herr Abgeordneter Ey.Ey CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung alle Anstrengungen der niedersächsischen Regierung, Entsorgungsmöglichkeiten zu schaffen, vorbehaltlos unterstützt?
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Herr
Kollege Ey, ich muß Ihnen erneut sagen, daß Herr Kollege Laufs eine ganz konkrete Frage eingereicht hat und daß nach den Richtlinien Ihre Zusatzfrage so nicht zugelassen werden kann. Wenn aber der Herr Staatssekretär im Hinblick auf die Aktualität als Hintergrundinformation dazu etwas sagen will, bleibt ihm das unbenommen. Ich muß das nur ausdrücklich feststellen.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ey, ich möchte die erste Passage der Erklärung der Bundesregierung zum Entsorgungszentrum zitieren — damit ist Ihre Zusatzfrage dann beantwortet —:
Zur Sicherung unserer Energieversorgung ist ein Beitrag der Kernenergie unverzichtbar. In dieser Auffassung sind sich Bundesregierung und Bundestag ebenso einig wie in der Folgerung, daß die Nutzung der Kernenergie eine gesicherte Entsorgung voraussetzt. Die Entsorgung hat zum Ziel, die radioaktiven Rückstände sowohl aus Kernkraftwerken als auch aus Forschungseinrichtungen und Krankenhäusern sicher zu beseitigen. Entsorgung ist eine Aufgabe im gesamtstaatlichen Interesse.
Frau Abgeordnete Schuchardt ist nicht im Saal; die Fragen 31 und 32 werden daher schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 33 der Frau Abgeordneten Hartenstein auf:
Was hat das Bundesministerium für Forschung und Technologie in den letzten Jahren unternommen, um die Konstruktion lärmarmer Kraftfahrzeuge zu fördern?
Herr Staatssekretär.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Dr. Hartenstein, Ihre Anfrage beantworte ich wie folgt. Im Rahmen der Förderungsmaßnahmen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie im Gebiet Kraftfahrzeuge und Straßenverkehr ist ein Maßnahmenschwerpunkt auf die Entwicklung und Erprobung lärmarmer Kraftfahrzeuge ausgerichtet. Wesentliche neue Erkenntnisse wurden bei der Verringerung von Motorgeräuschen von Kraftfahrzeugen mit Otto- und Dieselmotoren gewonnen. Über die bisherigen Ergebnisse wurde in den jährlich erscheinenden Statusberichten, insbesondere der Jahre 1976/77 und 1978, zusammenfassend berichtet.
Mit dem in den Jahren 1979 bis 1982 bearbeiteten Projekt „Demonstration automobiltechnischer Forschungsergebnisse in integrierten Gesamtkonzepten von Pkw-Versuchsmodellen" soll zum Nachweis der Verträglichkeit der teilweise widersprüchlichen Forderungen nach erhöhter Sicherheit, geringerem Kraftstoffverbrauch und reduzierter Emission auch eine Verringerung der Lärmemissionen auf einen vorgegebenen Wert, mindestens 73 dB , nachgewiesen werden. Die Erfüllung der Lastenhefte wird Mitte dieses Jahres abgeschlossen. Die mit Prototypfahrzeugen nachweisbaren Ergebnisse sollen 1981 vorliegen. Da ab ca. 70 dB (A) .das Reifengeräusch eine entscheidende Rolle spielt, wird in diesem Jahr ein Vorhaben begonnen, mit dem Technologien zur Verringerung des Reifengeräusches erarbeitet werden sollen.
Darüber hinaus wird durch Weiterentwicklung des Obussystems zum Duo-Bus ein Verkehrsmittel bereitgestellt, das geeignet ist, in den Innenstädten eine wesentliche Lärmminderung herbeizuführen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, welche Beträge in den letzten Jahren von der Bundesregierung aufgewandt worden sind, um diese Forschungen voranzutreiben, wenn möglich und wenn Sie die Zahlen zur Hand haben sollten, getrennt für die Bereiche Lkw, Pkw, Busse und Zweiräder?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann Ihnen die Gesamtzahl einmal nennen. In den Jahren 1976 bis 1978 wurden rund 45 Millionen DM für Forschungszwecke im Bereich der Kraftfahrzeug- und Straßenverkehrstechnik ausgegeben, und zwar bei etwa 30 Projekten, die sich u. a. auf die Antriebstechnik, lärm- und abgasarme Motoren und die Sicherheit bezogen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie einen Grenzwert von mindestens 73 dB genannt haben, darf ich noch einmal rückfragen, auf welche Fahrzeugart sich dieser angestrebte Grenzwert bezieht.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, er wird sich auf den Pkw-Bereich beziehen. Ich darf hinzufügen, daß die Bundesregierung ein gesondertes Programm mit einem besonderen Schwerpunkt bei der Verminderung des Verkehrslärms in Städten und Gemeinden mit der 'Demonstration lärmarmer Kraftfahrzeuge, Straßenbahnen und Stadtschnellbahnen bezuschußt. Wir hoffen, daß wir nach Abschluß .dieses Projekts im Jahre 1982 gut fundierte Unterlagen haben, um dem Problem, das Sie hier angesprochen haben, weitgehend Rechnung tragen zu können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hammans.
Herr Staatssekretär, können Sie uns im Hinblick darauf, daß die Fragen der Frau Kollegin Dr. Hartenstein sich auf die Geräusche der Motoren beziehen, sagen, wann — bei welcher Geschwindigkeit — das Reifengeräusch größer als das des Motors ist?
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Stahl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hammans, wenn Sie eben genau auf meine Antwort geachtet haben, werden Sie sich erinnern, daß ich mich auf das Gesamtgeräusch bezogen habe: etwa 70 dB .
Herr Kollege, es ist Sache des Herrn Staatssekretärs, wie er die Antwort gibt.
Ich rufe die nächste Frage — Frage 34 — der Frau Kollegin Dr. Hartenstein auf:
Gibt es in der Bundesrepublik Deutschland oder in anderen Ländern Kraftfahrzeuge mit lärmgedämmten Motoren in Serienfertigung, und wenn ja, wie groß ist die erreichte Lärmreduzierung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Stahl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Ihre nächste Frage beantworte ich wie folgt. Mit spezieller Lärmdämmung werden heute nur Busse des öffentlichen Personennahverkehrs serienmäßig auf dem Markt angeboten. Die erreichbare Lärmminderúng beträgt etwa 10 dB .
Grundsätzlich kann man Lärmemissionen des Antriebs durch direkte Maßnahmen am Motor, z. B. Verrippung, Hubraumvergrößerung, Drehzahlreduzierung, durch indirekte Maßnahmen, z. B. durch Kapselung, sowie durch Kombination direkter und indirekter Maßnahmen erreichen. •
Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen führt eine Verkapselung zu einer Verringerung der Außengeräusche um 7 bis 10 db . Die serienmäßige Einführung wird z. Z. maßgebend von dem im marktwirtschaftlichen Wettbewerb durchsetzbaren Mehraufwand bestimmt. .
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da ich den Eindruck habe, daß meine Frage nicht ganz so beantwortet ist, wie ich sie eigentlich gestellt habe, möchte ich noch einmal rückfragen: Können Sie mir sagen, ob die Serienfertigung der Kraftfahrzeuge, die Sie genannt haben, in der Bundesrepublik Deutschland oder in anderen Ländern bereits läuft, und können Sie mir diese Länder eventuell nennen?
Frau Kollegin, ich bitte Sie, zunächst nur eine Zusatzfrage zu stellen.
Stahl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, eine Serienfertigung bei Personenwagen in diesem Bereich findet, wie ich eben dargestellt habe, in der Bundesrepublik nicht statt. Vielmehr habe ich ausdrücklich erklärt, daß dies für Busse gilt, die im öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt sind. Wir haben von seiten des Bundesforschungsministeriums bei einer Automobilfirma ein Projekt sehr eingehend gefördert, und zwar mit Vollkapselung, und
haben die Erkenntnis gewonnen, daß dabei der Lärm um 7 bis 10 dB vermindert wird. Es werden weiterhin Anstrengungen notwendig sein, um die Erkenntnisse auch im Bereich der Automobilindustrie zum Tragen zu bringen. Ich darf noch einmal auf das hinweisen, was ich im letzten Absatz meiner Antwort gesagt habe: Die serienmäßige Einführung wird zum Teil maßgebend von dem im marktwirtschaftlichen Wettbewerb durchsetzbaren Mehraufwand bestimmt.
Herr Staatssekretär, bestehen eventuell im Bundesministerium für Forschung und Technologie bereits Überlegungen, Absichten oder konkrete Pläne, die Entwicklug der Serienfertigung bei verschiedenen Kraftfahrzeugarten durch ein Anschlußprogramm finanziell zu unterstützen und damit zu forcieren?
Stahl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe darauf hingewiesen, daß wir einen Stufenplan Lärm haben, nach dem ab 1979 Forschungsvorhaben gefördert werden sollen. Wir werden alle die Probleme, die Sie hier aufgeführt haben, sehr sorgfältig untersuchen. Das hängt aber davon ab — ich darf das hier nochmals erklären —, daß die Serienproduktion maßgebend von dem im marktwirtschaftlichen Wettbewerb durchsetzbaren Mehraufwand bestimmt wird und in welchem Umfang dann auch das Ausland derartige Wagen auf dem deutschen Markt anbieten wird. Wir verfolgen das sehr eingehend.
Ich kann Ihnen erklären, daß die Bundesregierung gerade für diesen Bereich für die Jahre 1979 bis 1982 etwa 80 Millionen DM aufwenden wird.
Herr ,Staatssekretär, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie beantwortet. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der beiden von dem Herrn Abgeordneten Jenninger eingereichten Fragen steht der Herr Staatssekretär Dr. Schüler zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, denken Sie an eine gemeinsame Beantwortung der beiden Fragen wegen des Sachzusammenhangs?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn der Fragesteller einverstanden ist, kann ich das sehr gerne tun, Herr Präsident.
Herr Kollege?
Ich bitte um getrennte Beantwortung.
Dann rufe ich zunächst die Frage 101 des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger auf:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11423
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenWelche Maßnahmen im einzelnen hat die Bundesregierung unternommen, um die Weitergabe geheimer Dokumente aus dem Kanzleramt an die Presseorgane „Stern" und „Spiegel" aufzuklären?Bitte, Herr Staatssekretär:Dr. Schüler, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:. Eingehende Untersuchungen ergaben keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Angaben über die von Ihnen genannten Dokumente aus dem Bundeskanzleramt stammen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie vereinbaren Sie diese Ihre Auskunft jetzt eben mit der Erklärung des Regierungssprechers unmittelbar nach der Veröffentlichung des „Stern", daß die Bundesregierung darauf verzichten wolle, eine Untersuchung vorzunehmen?
Dr. Schüler, Staatssekretär: Ich sehe darin keinen Widerspruch, Herr Abgeordneter. Die Bundesregierung hat sehr sorgfältige Untersuchungen angestellt. Das Ergebnis habe ich hier vorgetragen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 102 des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger auf:
Welche Maßnahmen hat oder wird die Bundesregierung einleiten, um eine solche Weitergabe geheimer Dokumente in Zukunft zu unterbinden?
Herr Staatssekretär.
Dr. Schüler, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich habe zu Ihrer vorhergehenden Frage ausgeführt, daß die Angaben nicht aus dem Bundeskanzleramt stammen. Insofern entfällt eine Antwort auf Ihre Frage.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung das Oberlandesgericht Köln über die Behandlung dieser Dokumente befragt, und, wenn ja, welche Antwort hat sie erhalten?
Dr. Schüler, Staatssekretär: Nein, es entspricht auch nicht der Praxis, Herr Abgeordneter, Gerichten Belehrungen zu erteilen.
Wir. haben diese Dokumente mit den einschlägigen Maßgaben überstellt und um entsprechende Beachtung gebeten.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, mir die im einzelnen eingeleiteten
Maßnahmen zur Aufklärung dieser Amtspflichtverletzungen schriftlich mitzuteilen?
Dr. Schüler, Staatssekretär: Das bin ich. Ich kann es aber auch hier ausführen.
Die Bediensteten, die im Besitze dieser Unterlagen gewesen sind, sind befragt worden und haben schriftliche Antworten gegeben. Das Ergebnis ist, daß keine Anhaltspunkte dafür sichtbar sind, daß diese Angaben aus dem Bereich der Bundesregierung stammen,
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes beantwortet. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Staatsminister Dr. von Dohnanyi zur Verfügung.
Der Herr Abgeordnete Dr. Wittmann hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Fragen 50 und 51 gebeten. Dieser Bitte wird entsprochen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 103 der Frau Abgeordneten Krone-Appuhn auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung gegebenenfalls aus der Tatsache, daß einseitige Vorausleistungen gegenüber der UdSSR bei den SALT-II-Verhandlungen nicht honoriert, sondern im Gegenteil mit einer Verstärkung des strategischen Potentials beantwortet werden, für die MBFR-Verhandlungen in Wien?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung, daß es bei den SALT-II-Verhandlungen einseitige Vorleistungen der Vereinigten Staaten gegeben hat. Damit entfällt eine Beantwortung des zweiten Teils Ihrer Frage.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, daß im Jahre 1977 der Präsident der Vereinigten Staaten auf die Produktion des B-1-Bombers verzichtet hat, um seinerseits gegenüber den Sowjets ein Entgegenkommen zu zeigen, die Sowjets aber gemäß einer Meldung der „International Herald Tribune" vom 20. Februar 1979 trotzdem strategische Waffen größerer Art, die dem B-1-Bomber ähnlich sind, konstruiert haben?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Frau Kollegin, mir ist selbstverständlich bekannt, daß der amerikanische Präsident die von Ihnen zitierte Erklärung abgegeben hat.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
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11424 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Angesichts der Tatsache, daß Ihnen, Herr Staatssekretär, dieses Faktum bekannt ist, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung bezüglich der MBFR-Verhandlungen in Wien dann ihrerseits bereit ist, angesichts der Erfahrungen, die die USA bei den Verhandlungen zu SALT II gemacht haben, äußerste Vorsicht walten zu lassen.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Frau Kollegin, wie die Vereinigten Staaten, so ist auch die Bundesregierung selbstverständlich bei Abrüstungsverhandlungen bemüht, die Gleichgewichtigkeit der Vorschläge und der Lösungen herbeizuführen.
Der Herr Abgeordnete Dr. Langguth hat um schriftliche Beantwortung der Frage 104 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 105 des Herrn Abgeordneten Broll auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Aufnahme von sogenannten offiziellen Namibia-Delegationen, die nur aus nichtgewählten Mitgliedern der SWAPO bestehen, in die Unterorganisationen der Vereinten Nationen in unzulässiger Weise einen Alleinvertretungsanspruch der SWAPO dokumentiert, und wenn ja, welche Folgerungen zieht sie daraus?
.Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, Namibia ist in den letzten Jahren durch Beschlüsse sehr großer Mehrheiten entweder Vollmitglied oder assoziiertes Mitglied in einigen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen geworden. Antragsteller und Vertreter Namibias in den Organisationen ist der Rat der Vereinten Nationen für Namibia. Dieser Rat wurde 1967 von der Generalversammlung zur Ausübung der Verantwortung der Vereinten Nationen für Namibia eingesetzt.
Die Mitgliedschaft Namibias, vertreten durch den Rat, bedeutet keineswegs die Aufnahme der SWAPO in die Sonderorganisationen; SWAPO und Rat für Namibia sind nicht identisch. Die SWAPO hat im Gegensatz zum Rat in den meisten Sonderorganisationen der Vereinten Nationen nur Beobachterstatus in ihrer Eigenschaft als eine der von der Organisation für Afrikanische Einheit anerkannten nationalen Befreiungsbewegungen.
Eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, könnten zumindest nach den Wahlen vom Dezember auch andere Parteien und Gruppierungen in dieser Weise zu den UNO-Organisationen zugelassen werden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Dies wird jeweils eine Entscheidung der zuständigen Gremien sein. Ich bezog mich eben auf das Votum der Generalversammlung.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, welche Stellungnahme gibt in diesen Gremien die Bundesregierung ab?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Bei den Entscheidungen über die Zulassung des Rates zu bestimmten Sonderorganisationen hat sich die Bundesrpublik Deutschland in der Regel der Stimme enthalten.
Herr Abgeordneter Dr. Hammans, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da ich nicht annehme, daß Sie davon ausgehen, daß die SWAPO die alleinige Vertreterin Namibias ist, darf ich Sie fragen, was die Bundesregierung. zu tun gedenkt, um dafür zu sorgen, daß in Zukunft auch Vertreter anderer Strukturen — ich sage ausdrücklich nicht „Bevölkerungsgruppen" — aus Namibia in den Vereinten Nationen berücksichtigt werden.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wir werden wie bisher unermüdlich dafür sorgen, daß die Vorschläge der Fünf und die Vorschläge der Vereinten Nationen zur Abhaltung wirklicher Wahlen in Namibia durchgesetzt werden.
Herr Kollege, Sie wissen, wenn das erreicht ist, wird auch die Möglichkeit bestehen, auf dieser Grundlage eine breite Vertretung in den jeweiligen Gremien sicherzustellen.
Eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Corterier.
Herr Staatsminister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß die von Südafrika veranstalteten und massiv beeinflußten sogenannten Wahlen vom vergangenen Jahr überhaupt keine Grundlage dafür sein können, aus diesen Wahlen hervorgegangene Persönlichkeiten in internationale Gremien zu berufen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Graf Huyn.
Herr Staatsminister, wird die Bundesregierung nach dem, was Sie gerade erwähnten, nach ihren unermüdlichen Bemühungen, für eine Abhaltung der Wahlen zu sorgen, im Rahmen dieser unermüdlichen Bemühungen auch darauf hinwirken, daß die Vereinbarungen, die mit
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11425
Graf HuynSüdafrika getroffen worden sind, nicht von den Vereinten Nationen einseitig abgeändert werden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung wird sich bemühen, die Vorschläge durchzusetzen. Zur Durchsetzung von Vorschlägen gehört, daß beide Seiten zu einer Vereinbarung kommen. Um diese Vereinbarung ist man gegenwärtig bemüht. Die Bundesregierung unterstützt diese Bemühungen.
Ich rufe die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Broil, die Frage 106 auf:
Wie haben sich die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
bei den Abstimmungen über die Aufnahme dieser sogenannten offiziellen Namibia-Delegationen in die VN-Unterorganisationen verhalten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich ebenso wie die Mehrheit ihrer westlichen Partner zu allen Resolutionen, mit denen die Aufnahme Namibias als Vollmitglied in eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen beschlossen wurde, der Stimme enthalten. Dabei hat sie in Erklärungen zur Stimmabgabe ausgeführt, daß der Namibia-Rat zwar nach den entsprechenden Beschlüssen der Vereinten Nationen die Aufgabe habe, die politischen Interessen der Bevölkerung im Rahmen der Vereinten Nationen wahrzunehmen, jedoch nicht das Recht beanspruchen könne, das allein der Regierung eines künftigen unabhängigen Namibias vorbehalten bleiben müsse.
Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, trifft zu, was gestern in der „Welt" zu lesen war, daß zu der Konferenz der fünf Staaten in New York auch der SWAPO-Chef Nujoma geladen worden ist, und wie hat sich die Bundesregierung in diesem Fall verhalten? Hat sie sich hier auch der Stimme enthalten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich sage Ihnen offen: Ich bin im Augenblick nicht informiert, ob diese Information zutrifft. Aber Sie wissen, daß in den vergangenen Monaten eine intensive Beratung aller anstehenden Fragen jeweils auch mit Vertretern der SWAPO stattgefunden hat und daß die fünf gemeinsam oder einzeln auch in der Vergangenheit mit Herrn Nujoma beraten haben. Mich würde also ein solcher Vorgang nicht überraschen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, sind nicht auch Sie der Meinung, daß eine solche Bevorzugung des Führers einer der Parteien oder Bewegungen ein Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines Landes ist und diese Gruppe bei kommenden Wahlen speziell bevorzugt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, daß auf Grund der Anerkennung der SWAPO durch die Organisation der Einheit afrikanischer Staaten — die OAU — die SWAPO einen Beobachterstatus in den Vereinten Nationen erlangt hat, der ihr eine besondere Rolle gibt. Aus diesem Grund sind Gespräche, wie sie offenbar beabsichtigt sind, sicher zweckmäßig.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hammans.
Herr Staatsminister, sind Ihnen die Recherchen bekannt, die die „Sunday Times" bezüglich der Hintergründe und der Informationen angestellt hat, die es bei den Vereinten Nationen, auch bei Herrn Waldheim, gegeben hat und die schließlich zu den jetzt vorliegenden Beschlüssen geführt haben?
Herr Kollege Dr. Hammans, ich kann den erforderlichen Zusammenhang mit der von dem Herrn Kollegen Broll eingereichten Frage leider nicht sehen. Da Sie zwei Fragen zu dem gleichen Komplex eingereicht haben, empfehle ich Ihnen, nachher eine solche Zusatzfrage zu stellen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Der Herr Abgeordnete Petersen hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 107 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frau Abgeordnete von Bothmer, die die Fragen 108 und 109 gestellt hat, ist nicht im Saal.
Ihre Frage 108 wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 109 wurde von der Fragestellerin zurückgezogen.
Ich rufe nunmehr die Frage 110 des Herrn Abgeordneten Dr. Hammans auf, bei der er sicher den Problemkreis einbeziehen kann, den er soeben in seiner Zusatzfrage zur Sprache gebracht hat:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob auf der Gipfelkonferenz der afrikanischen Frontstaaten in Luanda zur Zusammensetzung der UN-Friedensstreitmacht für SWA/Namibia beschlossen wurde, „daß sich diese aus Streitkräften aus Ländern zusammensetzen sollten, die zu keinem Militärbündnis gehören. Die logistischen Bestandteile können jedoch aus verschiedenen Ländern kommen, auch aus solchen, die einem Militärbündnis angehören, vorausgesetzt, sie sind gerecht und gleichmäßig verteilt."?
Bitte, Herr Staatsminister.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundesregierung ist die nach dem Gipfel der Frontlinienstaaten in Luanda am 3. und 4. März 1979 veröffentlichte Presseerklärung bekannt, in der auch zur Frage der Zusammensetzung der Friedenstruppe der Vereinten Nationen für Namibia in der zitierten Weise Stellung genommen wird.
11426 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 15. März 1979
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, welche Schlußfolgerungen zieht denn die Bundesregierung daraus?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung geht davon aus, daß diese Vorschläge in den entsprechenden Gremien beraten werden und darüber entschieden wird.
Zu diesem Komplex gibt es keine Zusatzfrage mehr.
Ich rufe die Frage 111 des Herrn Abgeordneten Dr. Hammans auf:
Welche Haltung nimmt gegebenenfalls die Bundesregierung angesichts dieses Beschlusses zu dem Vorschlag des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zur Zusammensetzung der UN-Friedensstreitmacht für SWA/Namibia ein, in dem für die Infanteriestreitkräfte auch ein Kontingent eines Staats des Warschauer Pakts vorgesehen ist?
Herr Staatsminister.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, der Generalsekretär hat für die UNTAG als afrikanisches Kontingent Ghana, als asiatisches Kontingent Bangladesch, als osteuropäisches Kontingent Rumänien, als westeuropäisches Kontingent Finnland und als lateinamerikanisches Kontingent Panama vorgeschlagen. Er geht dabei von den etablierten Grundsätzen der Vereinten Nationen aus, daß die Kontingente unter Berücksichtigung der Auffassung .der Beteiligten, aus den Angeboten der Mitgliedstaaten und nach dem Prinzip der ausgewogenen geographischen Verteilung zusammenzustellen sind. Die Verhandlungen mit den Beteiligten, zu denen auch die Frontstaaten gehören, sind noch im Gange. Die Bundesregierung wird gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten für eine ausgewogene, dem Auftrag von UNTAG und der 'Situation in Namibia angemessene Zusammensetzung der Friedenstruppen eintreten.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatsminister, glauben Sie nicht, daß es für den Frieden in diesem Lande von großer Bedeutung ist, daß die UNTAG-Truppen, die dort hingeschickt werden, in der Tat blockfreien Ländern angehören?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte noch einmal unterstreichen: Wir sind in dieser Frage in der Beratung. Die Bundesregierung hat eben hier noch einmal erklärt, daß sie es für notwendig hält, daß eine ausgewogene Vertretung zustande kommt. Ich glaube nicht, daß es zweckmäßig ist, jetzt an dieser Stelle zu einzelnen Vertretungen oder zu einzelnen Kontingenten Stellung zu nehmen.
Herr
Kollege, Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wenn die Beratungen einerseits noch laufen, andererseits aber doch mit dem heutigen Tag die Truppen in Namibia in Aktion treten sollten: Wann sehen Sie denn einen Zusammenhang hergestellt zwischen dem vorgesehenen Termin des 15. März und dem Abschluß der Beratungen darüber, welche Truppen dort hingehen, und wann, glauben Sie, werden die Truppen endlich in Namibia eintreffen können? -
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte meine Antwort wiederholen, weil es mir nicht zweckmäßig erscheint, von dieser Stelle aus und zu diesem Zeitpunkt Zusätzliches zu sagen. Wir sind um die Ausgewogenheit der Kontingente bemüht. Sie können sich darauf verlassen, daß die Bundesregierung diese Bemühungen so energisch betreiben wird, wie sie auch alle unsere Interessen in den Vereinten Nationen vertritt.
Herr
Abgeordneter Broll zu einer Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, glauben Sie, daß, abgesehen vom rein geographischen Gesichtspunkt, die Auswahl Finnland für den westeuropäischen und Rumänien für den osteuropäischen Teil aus der Interessenlage Südafrikas heraus eine wirkliche Ausgewogenheit bedeutet?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich halte es nicht für zweckmäßig, durch das Herausnehmen einzelner Länder in diesem Zusammenhang ein Urteil über Zuordnungen zu treffen. Ich wiederhole, die Bundesregierung wird sich um eine Ausgewogenheit der Vertretung weiterhin bemühen. Dies ist das Ziel. Wir verfolgen diese Bemühungen energisch, wie ich eben unterstrichen habe.
Herr
Abgeordneter Jäger .
Herr Staatsminister, bedeutet, da Sie selber die von Kollegen Broll eben noch einmal genannten Länder hier genannt haben, Ihre dem Kollegen Broll gegebene Antwort, daß die Bundesregierung die Zusammensetzung, die Sie hier erwähnt haben, noch nicht als befriedigend ansieht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Es bedeutet dies, Herr Kollege Jäger, natürlich nicht. Ich habe ja ausdrücklich gesagt, daß ich an dieser Stelle kein Urteil abgeben möchte.
Herr
Abgeordneter Corterier.
Herr Staatsminister, könnten Sie sich vorstellen, daß es die Interessenlage Südafrikas erfordert, möglicherweise Vertreter eines
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11427
Dr. Corterierfaschistischen Regimes wie des chilenischen nach Namibia zu entsenden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Antwort ist sicherlich nein; aber ich möchte auch hier nicht von dem abgehen, was ich zunächst festgestellt habe.
Der
Herr Abgeordnete Spranger hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 112 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nunmehr die Frage 113 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
In welchem Umfang werden in der auswärtigen Kulturpolitik, insbesondere der Deutschlandkunde, Fragen der Deutschland-und Berlinpolitik auf der Grundlage des Wahrungs- und Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes und der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 und 7. Juli 1975 behandelt, und entsprechen die verwendeten Atlanten und Karten den verfassungsrechtlichen (auch bezüglich der gesetzesmäßigen Information) und völkerrechtlichen Forderungen, die sich aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen auch des Deutschlandvertrags ergeben (vgl. Antworten auf Frage 116 am 18. Januar 1979)?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich verweise auf die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Enquete-Kommission Auswärtige Kulturpolitik des Deutschen Bundestages, in der gesagt wird:
Trotz der staatlichen Teilung des deutschen Volkes geht die Bundesregierung weiterhin von der Einheit der deutschen Kultur aus; die auswärtige Kulturpolitik soll dazu beitragen, das Bewußtsein dieser Einheit wachzuhalten und zu festigen.
Von diesem Grundsatz läßt sich die Bundesregierung auch bei ihrer Förderung der Deutschlandkunde im Ausland leiten. Dieser Grundsatz gilt auch für die dabei verwendeten Karten und Atlanten.
Zusatzfrage.
Kann ich Ihrer Antwort, Herr Staatsminister, entnehmen, daß die verwendeten Hilfs- und Informationsmittel durchgehend der Verbreitung der Kenntnisse und der Festigung des Bewußtseins des Wiedervereinigungsgebots der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verbündeten zugunsten ganz Deutschlands dienen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung, soweit sie auf diese Zusammenhänge Einfluß hat, selbstverständlich an das Grundgesetz hält.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da Ihnen nach dem Organisationsplan Ihres Hauses das Referat Deutschlandkunde untersteht: Könnten Sie nicht durch Ihr Haus darlegen, wie dieser ganz gewichtige grundgesetzliche Auftrag erfüllt wird, bei der Kunde von Deutschland die Rechte ganz Deutschlands beharrlich zu vertreten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube nicht, daß Sie das von mir erwarten, ich könnte diese Zusatzfrage aus dem Stegreif beantworten. Aber ich bin sicher, daß das Auswärtige Amt jederzeit bereit ist, Ihnen dazu, wenn Sie die Frage noch einmal schriftlich an uns richten, eine Schriftliche Auskunft zu geben.
Ich
rufe die Frage 114 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Wie sind nach Auffassung des Auswärtigen Amts und insbesondere von Staatsminister Dr. von Dohnanyi die zu Deutschland gehörenden Gebiete östlich von Oder und Neiße in amtlichen Informationen und dazu bestimmten Karten darzustellen, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Einklang mit Artikel IV des Warschauer Vertrags und den Aussagen der Bundesregierung festgestellt hat, daß diese Gebiete aus der Zugehörigkeit zu Deutschland nicht entlassen und nicht fremder Souveränität unterstellt sind (7. Juli 1975), andererseits Rechtspositionen ganz Deutschlands durch kein Handeln einer deutschen Behörde gemindert oder verschleiert werden dürfen (31. Juli 1973)?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, meine Bemerkungen in Osthofen sollten darauf hinweisen, daß die dortige Karte der politischen und rechtlichen Situation nach Abschluß des Warschauer Vertrages nicht mehr gerecht wird. Diese Karte zeigte Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie schraffiert und bezeichnete sie als deutsches Gebiet unter polnischer Verwaltung. Mein Hinweis steht deswegen nicht im Widerspruch zu der Auffassung der Bundesregierung, wie sie zuletzt auch von meinem Kollegen Herrn von Schoeler in der Bundestagssitzung am 16. Februar 1979 vorgetragen worden ist.
Meine Bemerkungen standen auch im Einklang mit den von Ihnen zitierten Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die bekanntlich keine Aussagen zur Darstellung der Grenzen von 1937 enthalten, und auch mit Art. I des Warschauer Vertrages vom 7. Dezember, 1970, der besagt, daß die Bundesrepublik Deutschland die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens nicht mehr in Frage stellt.
Eine
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Staatsminister, könnten Sie freundlicherweise meine Frage beantworten, die ich tatsächlich gestellt habe, nämlich wie nach Ihrer Einlassung in Osthofen diese Grenze nach Auffassung der Bundesregierung und vor allem des Auswärtigen Amtes nun bezeichnet werden soll — unter dem Gesichtspunkt, daß Sie das gesamtdeutsche Verfassungsgebot des frei reorganisierten Teiles Deutschlands beharrlich vertreten wollen?
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11428 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, es gibt auch hierzu wiederholte Erklärungen der Bundesregierung. Ich kann mich wirklich darauf beziehen, was meine Kollegen hierzu wiederholt gesagt haben. Meine Bemerkungen in Osthofen bezogen sich lediglich auf den von mir festgestellten Tatbestand.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich davon ausgehen, daß Sie wissen, wie sie nicht bezeichnet werden sollen, aber nicht wissen, wie sie bezeichnet werden sollen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Nein, Herr Kollege. Ich habe ja eben darauf Bezug genommen. Eine ausdrückliche Bezeichnung muß ja nicht erfolgen. Es geht um die Darstellung der Ergebnisse u. a. des Warschauer Vertrages. Ich habe darauf eben Bezug genommen. Ich möchte meinen Feststellungen weiter nichts hinzufügen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, können Sie mir darin zustimmen, daß auch auf Landkarten jeder Eindruck vermieden werden muß, daß Ostdeutschland jenseits von Oder und Neiße nunmehr Ausland sei?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ein solcher Hinweis ist ja auch nicht erfolgt. Erfolgt ist der Hinweis darauf, daß die Bemerkung auf einer Landkarte „Deutsche Gebiete unter polnischer Verwaltung" nach dem Warschauer Vertrag nicht mehr den Tatbeständen entspricht.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, da ich Ihrer Antwort an den Kollegen Czaja entnehmen konnte, daß Sie — das gilt für Ihre Rede in Osthofen und auch für Ihre Bemerkungen hier — großen Wert darauf legen, daß die Bezeichnungen in amtlichen Karten korrekt sind, möchte ich Sie fragen: Sind Sie der Auffassung, daß dementsprechend eine Karte, die diese Gebiete korrekt bezeichnet, einen Hinweis darauf enthalten muß, daß diese Gebiete östlich von Oder und Neiße, aber innerhalb der Grenzen von 1937 bis zum Abschluß eines Friedensvertrages noch Bestandteil des Deutschen Reiches sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe erstens in Osthofen keine Rede gehalten; wir werden darauf ja noch eingehen. Insofern gehen Sie von einer falschen Voraussetzung aus. Zweitens habe ich auch nicht die Aufgabe, Landkarten zu beschriften oder zu entwerfen.
Ich bin hier von Herrn Kollegen Czaja nach einem ganz bestimmten Tatbestand gefragt worden, und den habe ich beschrieben. Ich glaube, ich habe darauf auch eine ausreichende Antwort gegeben. Ich sehe das auf jeden Fall an dem freundlichen Gesicht des Kollegen Czaja.
Die letzte Zusatzfrage stellt Herr Abgeordneter Hennig. Dann gehen wir weiter.
Herr Staatsminister, als zu welchem Land gehörig ist nach Ansicht der Bundesregierung das nördliche Ostpreußen, auf das sich der Warschauer Vertrag wohl nicht beziehen kann, kartographisch darzustellen?
Herr Kollege, ich bedaure, daß ich hier den Zusammenhang mit der Frage des Herrn Abgeordneten Czaja nicht sehen kann.
— Herr Kollege, dann lesen Sie die Frage noch einmal in Ruhe durch.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, ich stimme Ihnen in dieser Hinsicht zu.
Meine Damen und Herren, hier geht es um den Warschauer Vertrag und um jene Teile, die, wenn ich das richtig sehe, östlich der Oder-Neiße-Linie liegen und durch diesen Vertrag berührt sind. Daran halte ich mich.
Ich rufe die Frage 115 des Herrn Abgeordneten Sauer auf:
Sieht die Bundesregierung sich veranlaßt, den deutschen Episkopat gegen die Angriffe auf die deutschen katholischen Bischöfe durch das polnische KP-Organ „Tribuna Ludu" vom 6. März 1979 öffentlich in Schutz zu nehmen und gegenüber dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Edward Gierek, die Angriffe zurückzuweisen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Antwort lautet nein. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, zu Äußerungen ausländischer Presseorgane Stellung zu nehmen. Wir haben das in der Vergangenheit hier so gehalten, - und ich möchte das auch heute tun.
Keine Zusatzfragen?
— Auch bei solchen Antworten habe ich schon Zusatzfragen in diesem Hause erlebt.Ich rufe die Frage 116 des Herrn Abgeordneten Sauer auf:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11429
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenIst die Bundesregierung angesichts der Einmischungsversucheauf unsere interne Diskussion über die Verjährung von Mord durch den Leiter der staatlichen „Zentralkommission für die Untersuchung von Nazi-Verbrechen in Polen", Professor Czeslaw Pilichowski, Warschau, bereit, gegenüber der Regierung der Volksrepublik Polen gegen diese Tätigkeit ihrer Dienststelle Verwahrung einzulegen und darauf hinzuweisen, wie sich die polnischen Justizbehörden verhalten gegenüber dem polnischen Kommandanten des Vernichtungslagers Lamsdorf , Ceslwa Gimborski, und dessen Lagerführer, Jan Fuhrmann, die sich wegen Mordes und Beihilfe zum Mord an Säuglingen, Frauen und Greisen zu verantworten hätten?Bitte, Herr Staatsminister.Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Auch diese Frage, Herr Kollege, beantworte ich mit Nein. Stellungnahmen zu Fragen der Aufhebung der Verjährunsfrist für Mord im deutschen Strafrecht hat es nicht nur in Polen, sondern auch in Israel und in vielen westlichen Ländern — übrigens auch von Regierungsmitgliedern — gegeben. Dies gilt besonders in solchen Ländern, in denen während der deutschen Besetzung im letzten Weltkrieg Verbrechen an den dort lebenden Menschen verübt worden sind. Die Bundesregierung hält es nicht für angebracht, gegen derartige Meinungsäußerungen Verwahrung einzulegen.
Herr Abgeordneter Czaja zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist es eigentlich nicht so, daß hier überhaupt keine Verwahrung eingelegt werden muß, nachdem sich das Außer-Verfolgung-Setzen von Mordtaten nicht auf Mordtaten an Frauen und Kindern nach Abschluß der Kampfhandlungen bezieht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin an sich an Ihre Fragen gewöhnt und im allgemeinen auch in der Lage, sie zu beantworten. Diese Frage habe ich im Ernst nicht verstanden.
Herr Kollege, Sie haben hier nur die Möglichkeit, Zusatzfragen zu stellen oder Zwischenrufe zu machen, letztere aber ohne das Mikrofon.
Ich rufe die Frage 117 des Herrn Abgeordneten Niegel auf :
Welcher Art waren die technischen Hilfen, die die deutsche Botschaft in Den Haag bei Vorbereitung der ZDF-Sendung vom 22. Februar 1979 in Holland geleistet hat, und wie gestalteten sich insbesondere die Kontakte zwischen dem Pressereferenten der Botschaft und den in Aussicht genommenen Teilnehmern?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die technische Hilfestellung der Botschaft bestand aus folgenden Maßnahmen: Auf Wunsch des ZDF erkundigte sich die Botschaft, ob es in Den Haag eine der deutschen Volkshochschule ähnliche Bildungseinrichtung gebe, an die man sich wegen der Durchführung der Sendung wenden könne.
Die Botschaft wandte sich an den bei der Stadt Den Haag für Erwachsenenbildung zuständigen Beigeordneten, der seinerseits ein Mitglied der Stadtverwaltung einschaltete, das dem Stadtkomitee zur Vorbereitung der Europadirektwahl angehört. Das Mitglied der Stadtverwaltung hat sich sodann mit der Volksuniversität in Den Haag in Verbindung gesetzt und den Kontakt zum ZDF hergestellt.
Auf Bitten des ZDF hat der Pressereferent der Botschaft sodann am 7. Februar 1979 an einer Zusammenkunft teilgenommen, bei der die Fragerunde über die Spielregeln und den technischen Ablauf der Sendung unterrichtet wurde. Dabei ergaben sich keine Gründe, die den Pressereferenten hätten veranlassen müssen, gegen die Zusammenstellung der Fragerunde Einwände zu erheben, wenn dies überhaupt seine Sache gewesen wäre. Die Fragerunde schien vielmehr den Wünschen des ZDF nach einer kritischen alters- und berufsmäßig gemischten Fragerunde zu entsprechen. Bei der Zusammenkunft ging es nicht um das Formulieren von Fragen. Hierfür haben sich die Fragesteller offenbar intern getroffen.
Schließlich hat der Pressereferent der Botschaft auf Wunsch des ZDF ein zweites Mal an einem Treffen mit der Fragegruppe teilgenommen, und zwar am 13. Februar 1979, als Filmaufnahmen für einen einminütigen Programmhinweis aufgenommen wurden, der am Vorabend der Sendung ausgestrahlt wurde. Der Pressereferent war bei dieser Gelegenheit nur kurz anwesend.
Herr Kollege Niegel zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie ausschließen, daß der Pressereferent Feeke Meents eindeutig Hilfestellung und Stichworte gab?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, ich beantworte damit die Frage 118.
Ich wollte gerade dem Fragesteller sagen: Vielleicht sollte er erst noch die Beantwortung der nächsten Fragen abwarten. Er kann dann alle vier Zusatzfragen stellen. Er verkürzt sich sonst selbst seine Fragemöglichkeit.
Ich rufe Frage 118 des Abgeordneten Niegel auf:
Ist auszuschließen, daß der Pressereferent der Botschaft den in Aussicht genommenen Teilnehmern thematische Hinweise gegeben hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Antwort auf Ihre Frage lautet nein, oder, um Ihre Frage von eben zu beantworten, ich kann ausschließen, daß von seiten des Pressereferenten Hinweise auf materielle Fragestellungen gegeben wurden.
Jetzt die erste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat das Auswärtige Amt den Pressereferenten Feeke Meents als Fachmann vom Bundespresse- und In-
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Niegelformationsamt angesichts seiner dort bekannten politischen Aktivitäten, die zu Schwierigkeiten mit der Amtsleitung führten, angefordert, und hält es Feeke Meents für die geeignete Persönlichkeit zur Vertretung deutscher Interessen zum Abbau von Ressentiments gegen die Deutschen in der Öffentlichkeit in den Niederlanden?Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich sehe nicht ganz den Zusammenhang mit der hier gestellten Frage, Herr Präsident.
Herr
Staatsminister, bei den ersten Zusatzfragen versuchen wir immer, eine gewisse Großzügigkeit zu wahren.
Dr. von Dohnanyi,' Staatsminister: Herr Kollege, es bestand auf jeden Fall nicht die Absicht, jemanden zu berufen, der eventuell Schwierigkeiten in dem Sinne machen könnte, wie Sie es vermuten.
Sie haben die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen die politische Einstellung des Pressereferenten bekannt, die sich weitgehend mit der Einstellung deckt, die die Fragesteller in Holland zum Ausdruck gebracht, haben?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die politische Einstellung der Pressereferenten ist mir nicht bekannt, und ich bin stolz darauf, daß ich sie nicht kenne.
Herr
Staatsminister, ich bedaure die Bewertung, die in dieser Frage liegt. Ich hätte die Frage in der Form nicht zugelassen.
Nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen von der Amtsleitung des Auswärtigen Amtes bekannt gewesen, daß Herr Feeke Meents vorher im Bundespresseamt Schwierigkeiten mit der Amtsleitung hatte, daß er dort Aktionen zum § 218 gestartet hat und daß er geäußert hat, ihm sei die SPD zuwenig links?
Herr
Kollege, ich halte den Zwischenruf nicht für gut.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Darf ich die Frage beantworten, Herr Präsident? — Das Auswärtige Amt, Herr Kollege Niegel, pflegt sich bei der Einstellung von Mitarbeitern um die fachliche Kompetenz zu bemühen. Maßstäbe, wie die politische Einstellung oder eine Initiative nach § 218, die ein Beamter im Rahmen der Gesetze unternimmt, können keine Einstellungskriterien sein, solange sie sich im Rahmen des demokratischen Spektrums bewegen.
Sie haben eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie infolgedessen sagen, daß das Auswärtige Amt Herrn Feeke Meents als eindeutigen Fachmann für die Botschaft in Holland vom Bundespresseamt angefordert hat?
Dr. von .Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, bei der Berufung von Pressereferenten geht es auch häufig um Austausch und um das Sammeln von Erfahrungen. Ich bin im Augenblick überfragt, wenn ich sagen sollte, ob der Pressereferent für seinen Posten in den Niederlanden ausdrücklich zusätzliche Qualifikationen hat nachweisen können oder müssen. Ich bin sicher, daß das Auswärtige Amt bei seiner Berufung davon ausging, daß diese für die Bundesrepublik Deutschland und für die Vertretung unserer Interessen richtig ist.
Herr
Abgeordneter Schäfer .
Herr Staatsminister, nachdem feststeht, daß der Pressereferent keine Hinweise für Fragen gegeben hat: Wäre es nach Auffassung der Bundesregierung insgesamt hilfreich gewesen, wenn er Hinweise für die Antworten gegeben hätte?
Herr
Kollege, die Frage wird nicht zugelassen. — Herr Kollege Mattick.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, soll ich die Frage beantworten?
Nein, die Frage ist nicht zugelassen.
Herr Kollege Mattick, nächste Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie die Nachricht bestätigen, die durch mehrere Zeitungen veröffentlicht' wurde, daß der Oppositionsführer Kohl sich selbst den Ort Holland für diese Auseinandersetzung ausgesucht hat; und sieht sich die Bundesregierung in der Lage, in Zukunft für den Oppositionsführer im Ausland als Moderator aufzutreten?
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Herr
Kollege, der .Herr Kollege Niegel hat konkrete Fragen gestellt. Ich bedaure, daß ich darüber nicht hinausgehen kann.
Die letzte Zusatzfrage stellt der Herr Abgeordnete Jäger.
Herr Staatsminister, bedeutet Ihre Antwort an den Kollegen Niegel, daß der Pressereferent der deutschen Botschaft auf Grund seiner Beobachtungen bei dieser Besprechung, an der er teilgenommen hat, der Bundesregierung keinerlei Hinweise darauf geben konnte, daß dieser Kreis eine einseitige Zusammensetzung hat und daß für die Objektivität der Sendung Gefahr droht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe ja auf den Zusammenhang bereits hingewiesen und schon gesagt, daß es solche Anhaltspunkte nicht gab. Ich möchte allerdings, Herr Präsident, in meine Antwort auch einschließen, daß wir es nicht für zweckmäßig halten, daß' unter den gegebenen Umständen eventuell nun nach den Namen der beteiligten Frager geforscht wird.
Der Herr Abgeordnete Dr. Marx hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 119 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Der Abgeordnete Mertes ist nicht im Saal. Die von ihm eingereichte Frage 120 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage . abgedruckt.
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Ministers des Auswärtigen beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär von Schoeler zur Verfügung. Frage 35 ist von der Frau Abgeordneten Steinhauer eingebracht:
Welche Ziele verfolgt die Bundesregierung mit der Förderung der Errichtung und Unterhaltung von Teil- oder Vollinternaten im Bereich des Leistungssports, und welche Förderungsmittel stellt die Bundesregierung für diese Zwecke zur Verfügung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag in ihrem Vierten Sportbericht vom 3. August 1978 über die Förderung von Sportinternaten berichtet. Mit der Förderung der Errichtung von Teil- und Vollinternaten im Bereich des Leistungssports verfolgt die Bundesregierung das Ziel, Spitzenathleten und talentierten Nachwuchssportlern optimale Trainingsmöglichkeiten und eine umfassende pädagogische, gegebenenfalls auch schulische Betreuung zu gewähren. Für diese sportliche, soziale und schulische Betreuung der Athleten sind Internate, die regelmäßig Leistungszentren oder -schulen angegliedert sind, in hervorragender Weise geeignet, und . zwar vor allem für Sportarten, in denen schon in einem verhältnismäßig frühen Alter ein sehr hoher
Trainingsaufwand zu erbringen ist, sowie für Sportler, die ah ihrem Heimatort keine ausreichenden Trainingsmöglichkeiten haben. Im Jahre 1979 stellt die Bundesregierung für die genannten Zwekke neben den beteiligten Bundesländern und anderen Kostenträgern Baumittel in Höhe von rund 3 Millionen DM sowie andere Mittel — vor allem für die Finanzierung von Betriebskosten und die Vergütung von Trainern und Betreuern — von rund 800 000 DM zur Verfügung.
Eine
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, trifft es trotz Ihrer so positiven Antwort zu, daß z. B. in der Deutschen Turnschule eine rückläufige Tendenz festzustellen ist und daß diese rückläufige Tendenz u. a. ihre Ursache in der Fragwürdigkeit der vollständigen Loslösung der Kinder von der Familie hat?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, was die Entwicklung der Besuchszahlen an der von Ihnen angesprochenen Schule betrifft, so habe ich im Augenblick keine genauen Informationen. Der Frage, die Sie aufgeworfen haben, müßte ich nachgehen. Ansonsten scheint mir, Frau Kollegin, das Problem der Trennung der Kinder von der Familie bei den Sportinternaten grundsätzlich kein anderes zu sein als bei den Internaten allgemein.
Möchten Sie noch eine Zusatzfrage stellen? — Bitte, Frau Kollegin!
Herr Staatssekretär, wie unterscheidet sich nach Ihrer Auffassung die Zielsetzung der Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR von jener der Teil- und Vollinternate für den Leistungssport im Bereich der Bundesrepublik Deutschland?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich sehe keinerlei Vergleichsmöglichkeiten, die eine solche Frage rechtfertigen würden.
Ich rufe die Frage 36 der Frau Abgeordneten Steinhauer auf:Welche pädagogischen und jugendpflegerischen Voraussetzungen stellt die Bundesregierung an den Schul- und Sportbetrieb von Teil- und Vollinternaten, und auf welche Weise ist sichergestellt, daß die Bedingungen des „humanen Leistungssports" und die Jugendschutzbestimmungen in diesen Einrichtungen eingehalten werden?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Die Festlegung der pädagogischen und jugendpflegerischen Voraussetzungen für den Schul- und Sportbetrieb an Teil- und Vollinternaten ist Angelegenheit der Länder, die auch die Aufsicht über die Internate führen und das Nähere zur Durchführung des § 78 des Jugendwohlfahrtsgesetzes bestimmen, nach dessen Absätzen 2 und 3 das leibliche, geistige und seelische Wohl der Minderjährigen gewährleistet
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Parl. Staatssekretär von Schoelerund ihre Betreuung durch geeignete Kräfte sichergestellt sein muß.Bei der Förderung von Sportinternaten stimmt sich die Bundesregierung deshalb vor allem mit den Ländern und den Bundessportfachverbänden ab. Letztere sind in aller Regel die Träger der Sportinternate. Diese Abstimmung erstreckt sich insbesondere auch auf die Bereitstellung und die sportliche und pädagogische Eignung von Trainern und Betreuern.Die Einhaltung der zum Schutz der Jugend getroffenen Bestimmungen sowie der Bedingungen des humanen Leistungssports, für die in erster Linie die Träger der Sportinternate verantwortlich sind, wird, von der schon angesprochenen Länderaufsicht abgesehen, auch durch die Kuratorien der Sportinternate sichergestellt, in denen der Bund den Vorsitz führt.
Zusatzfrage.
Frau Steinhauer Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung z. B. Bedenken von Sportmedizinern und des Kinderschutzbundes sowohl hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Überforderung als auch hinsichtlich einer Beeinträchtigung der individuellen Entfaltung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, entsprechende Meldungen sind der Bundesregierung bekannt. Wir nehmen das auch ernst. Die Bundesregierung sieht ihre Hauptaufgabe auf diesem Gebiet darin, die entsprechende medizinische Vorsorge und Betreuung zur Verfügung zu stellen.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, Angaben darüber zu machen, ob sichergestellt ist, daß die fachliche Qualifikation der Lehrkräfte in den Teil- und Vollinternaten im Bereich des Leistungssports ausreicht, um den dortigen erhöhten Anforderungen an die Lehrpersonen gerecht zu werden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann das aus unmittelbarem Eindruck nur von einem solchen Sportinternat beurteilen, das ich mir einmal angesehen habe. Dort habe ich den Eindruck gewonnen, daß daran kein Zweifel besteht. Im übrigen wissen Sie, daß das in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt.
Die Fragen 37 des Abgeordneten Reichold und 38 und 39 des Abgeordneten Ueberhorst werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich schlage vor, daß die nächsten beiden Fragen, die Fragen 40 und 41 des Abgeordneten Dr. Diederich , gemeinsam beantwortet werden, da sie in einem gewissen Zusammenhang stehen und damit auch. die Zusatzfragen im Gesamtzusammenhang gestellt werden können. Ich rufe diese beiden Fragen hiermit auf:
Trifft die Behauptung, daß die Zahl der alkoholbedingten Dienstvergehen in der öffentlichen Verwaltung in den letzten Jahren zugenommen hat, auch für die Bundesverwaltungen insgesamt oder in einzelnen Teilen zu, und was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um Alkoholmißbrauch in der Verwaltung zu bekämpfen?
Teilt die Bundesregierung die Meinung von Bundesdisziplinaranwalt Claussen, daß die Bekämpfung von Alkoholverfehlungen eine stärkere Personalführung erfordert, und was gedenkt die Bundesregierung gegebenenfalls in dieser Richtung zu unternehmen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Der Bundesdisziplinaranwalt hat in seinem Bericht über die Handhabung der Disziplinargewalt in den Jahren 1977/78 vom 6 . Februar 1979 u. a. eine steigende Tendenz bei den Alkoholverfehlungen festgestellt. In den in seinem Bericht genannten Fällen sind sowohl Fälle von Alkoholabhängigkeit als auch solche von Alkoholmißbrauch enthalten. Der Bundesdisziplinaranwalt hat insoweit festgestellt, daß es sich bei diesen Verfahren zum großen Teil um Fälle der Trunkenheit am Steuer handelte, die deswegen zur disziplinarrechtlichen Entscheidung gelangt sind, weil sie entweder im Wiederholungsfall oder von dienstlich mit der Führung eines Kraftfahrzeugs betrauten Beamten oder in engem Zusammenhang mit dem Dienst begangen worden waren.
In seinem Bericht hat der Bundesdisziplinaranwalt auf mögliche Ursachen der Alkoholgefährdung hingewiesen und in den Fällen einer erkennbaren Alkoholneigung von Beamten das Erfordernis einer verbesserten Personalführung betont.
Die obersten Dienstbehörden, denen der Bericht des Bundesdisziplinaranwalts ebenfalls vorliegt, sind mit diesen Problemen vertraut. Bei erkannter Alkoholgefährdung eines Beschäftigten oder in Fällen des Alkoholmißbrauchs werden, soweit erforderlich, in Zusammenarbeit mit dem ärztlichen und sozialen Dienst der obersten Bundesbehörden bzw. mit ärztlichen Diensten der Betriebsverwaltungen auch und gerade unter. dem Gesichtspunkt .der dienstlichen Fürsorge die notwendigen Maßnahmen eingeleitet.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß die Fragen des Alkoholmißbrauchs in ihren Auswirkungen nicht nur den öffentlichen Dienst betreffen, sondern ein allgemeines Problem darstellen, dessen sich alle für die Personalbetreuung Verantwortlichen besonders annehmen müssen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, inwieweit können Sie einen Zusammenhang zwischen der ausgeübten Berufstätigkeit bzw. dem ausgeübten Dienst und dem Alkoholgebrauch bzw. -mißbrauch erkennen?
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von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe schon darauf hingewiesen, daß die vom Bundesdisziplinaranwalt erwähnten Fälle nicht weiter aufgeschlüsselt sind. Eine Aufschlüsselung unter den von Ihnen jetzt zusätzlich erfragten Kriterien liegt mir auch nicht vor. Ich werde noch einmal nachprüfen, ob das an Hand des Berichts aufschlüsselbar ist, und werde Ihnen das Ergebnis der Nachprüfung gern mitteilen.
Noch eine Zusatzfrage.
Inwieweit würden Sie es als eine wichtige Aufgabe betrachten, daß solche Untersuchungen angesichts des ja auch von Ihnen durchaus festgestellten hohen Maßes an Alkoholmißbrauch angestellt werden mit dem Ziel, hier zu einer Eindämmung zu kommen?
von Schoeler, Parl. Staatsekretär: Herr Kollege, ein „hohes Maß" habe ich nicht festgestellt. Ein steigendes Maß hat der Bundesdisziplinaranwalt festgestellt. Ich muß darauf hinweisen, daß die jeweiligen Ressorts in ihrem Bereich — was den Bundesdienst betrifft — für die erforderlichen Maßnahmen zuständig sind. Ich meine, wir müssen uns auch der Tatsache bewußt sein — ich habe darauf schon hingewiesen —, daß Alkoholabhängigkeit oder -neigung oder -mißbrauch kein speziell den öffentlichen Dienst betreffendes Phänomen unserer Zeit ist.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht trotzdem die Notwendigkeit, daß auch der Arbeitgeber — möglicherweise im Rahmen seiner Fürsorgepflicht — Anstrengungen unternimmt, um von sich aus vielleicht sogar therapeutische Maßnahmen einzuleiten?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Diederich, das trifft in Fällen erkannter Alkoholabhängigkeit oder Alkoholneigung sicherlich zu; da sind solche Maßnahmen notwendig. Darauf habe ich in meiner Antwort schon hingewiesen. Nur lassen die vom Bundesdisziplinaranwalt mitgeteilten Zahlen keine Aufschlüsselung nach Fällen zu, in denen es um Alkoholabhängigkeit oder -neigung geht, bei denen soziale, fürsorgerische Maßnahmen wie auch Maßnahmen ärztlicher Betreuung für erforderlich gehalten werden müßten, und solchen Fällen, bei denen solche Maßnahmen gar nicht das eigentliche Problem sind, weil es beispielsweise um Alkoholmißbrauch in einem Einzelfall geht. Solange diese Aufschlüsselung nicht vorhanden ist — und sie ist in dem Bericht nicht enthalten -, läßt sich auch keine Aussage über das Ausmaß dieses Problems machen, nach dem Sie jetzt fragen, nämlich der Zahl der Fälle, in denen fürsorgerische Maßnahmen der von Ihnen erwähnten Art notwendig wären.
Letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Chance würden Sie der Forderung geben, den Alkoholgebrauch und den Alkoholausschank im Bereich von öffentlichen Gebäuden und Behörden grundsätzlich zu untersagen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist eine reizvolle Frage. Trotz ihres Reizes möchte ich sie mit dem Hinweis auf die Zuständigkeiten der jeweiligen Ressorts behandeln. Ich würde auf eine klare Antwort auf Ihre Frage nach der Fragestunde mit Sicherheit entsprechende Reaktionen bekommen.
Beinahe war ich in Versuchung, zu sagen:. bei einem Glas Bier.
Der Abgeordnete Dr. Kunz hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage, der Frage 42, gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Auch der Herr Abgeordnete Gerster bittet um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Fragen, der Fragen 43 und 44. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Dr. Laufs auf:
Trifft es zu, daß der Betrieb einiger deutscher Atomkraftwerke möglicherweise wegen mangelnder Entsorgungsmöglichkeiten noch in diesem oder im nächsten Jahr eingeschränkt oder ganz gestoppt werden muß ?
Herr Staatssekretär.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, für die Entsorgung der Kernkraftwerke in nächster Zukunft sind die Zwischenlagerung und Kompaktlagerung von Brennelementen in kraftwerkseigenen Lagerbecken sowie die Lagerung im Ausland vorgesehen. Die Inanspruchnahme dieser Lagermöglichkeiten ist, soweit die Regelungen im Inland betroffen sind, zum Teil noch davon abhängig, daß Genehmigungen beantragt und erteilt werden.
In der französischen Anlage La Hague kann zur Zeit im Rahmen vertraglich vereinbarter Dienstleistungen eine Einlagerung von Brennelementen nur in eingeschränktem Maße erfolgen, das wesentlich dadurch bestimmt wird, wie viele Brennelemente gleichzeitig durch Wiederaufarbeitung abfließen. Für einige deutsche Kernkraftwerke könnte daher für die Entsorgung ihrer in den Jahren 1979 und 1980 abzutransportierenden Brennelemente eine Engpaßsituation dann eintreten, wenn die vorgesehenen Zwischenlagermöglichkeiten noch nicht zur Verfügung stehen. Dann wäre nicht auszuschließen, daß Betriebseinschränkungen durch die Genehmigungsbehörden verfügt werden müßten.
Zusatzfrage.
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11434 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung konkrete Hinweise darauf, daß die französische Firma Cogema ihren Verpflichtungen im Rahmen der bestehenden Entsorgungsverträge nicht nachkommen kann und daß deshalb die Stillegung von Kernkraftwerken in Deutschland droht?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Laufs, zur Zeit liegen mir solche konkreten Hinweise nicht vor. Ich habe deswegen auf Ihre Frage hin auch nur auf die Möglichkeit hingewiesen und gesagt, daß eine solche Entwicklung nicht ausschließbar ist. Sie hängt von Faktoren ab, die ich in meiner Antwort auf Ihre erste Frage auch angegeben habe.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Zwischenlösungen prüft die Bundesregierung konkret für den Fall, daß die von Ihnen dargestellte denkbare Engpaßsituation im Rahmen der deutschfranzösischen Entsorgungsverträge eintritt?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Laufs, in erster Linie ist die Sicherstellung der Entsorgung eine Aufgabe der Betreiber, die dafür die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen treffen müssen. Dies ist ihnen auch seit langer Zeit bekannt.
Eine
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung bestätigen, daß nach den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Betreibern deutscher Kernkraftwerke und der Cogema im Falle höherer Gewalt — dazu gehört nach den Vertragsbestimmungen beispielsweise auch ein Streik — keind Verpflichtung der französischen Seite zur Übernahme abgebrannter deutscher Brennelemente zu einem bestimmten Zeitpunkt besteht?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schäfer, wie Sie wissen, kann ich zum Inhalt der Verträge aus den Ihnen genauestens bekannten Gründen im einzelnen nichts sagen. Ich habe auf einen Faktor hingewiesen, der theoretisch denkbar ist und zu einer Verzögerung der Abnahme führen könnte, nämlich den, daß abgebrannte Brennelemente aus der Zwischenlagerung nicht in dem vorgesehenen Umfang zur Wiederaufarbeitung abfließen. Es sind selbstverständlich auch andere Faktoren, beispielsweise höhere Gewalt, denkbar. Derzeit liegen dafür keine Anzeichen vor. Wenn sie vorlägen, würden sich keine sicherheitstechnischen Probleme für die Bundesrepublik Deutschland ergeben. Allenfalls könnten wirtschaftliche Interessen beeinträchtigt sein. Ich sage noch einmal, daß es Aufgabe der Betreiber ist, die notwendige Vorsorge für die Gewährleistung der Entsorgung zu treffen.
Herr
Abgeordneter Pfeifer hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 46 gebeten. Dem wird entsprochen. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 47 ist von dem Abgeordneten Dr. Jentsch eingereicht:
Welches ist der Stand der Überlegungen der Bundesregierung zur Neuabgrenzung des Empfängerkreises für die sogenannte Polizeizulage, und ist insbesondere die Einbeziehung der Verwaltungsbeamten im Bundesgrenzschutz und der Beamten des Zollfahndungsdienstes vorgesehen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die derzeitige Regelung der sogennanten Polizeizulage, die neben Polizeivollzugsbeamten auch Verwaltungsbeamte bestimmter Verwaltungsbereiche mit polizeilichen Aufgabenstellungen in die Zulage einbezieht, hat zu Abgrenzungsschwierigkeiten und Anschlußforderungen geführt.
Der Bundesminister des Innern hat deshalb mit Bericht vom 26. April 1976 an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages, fortgeschrieben durch Bericht vom 30. Dezember 1978, eine Neuabgrenzung des Empfängerkreises angeregt. Er hat dabei vorgeschlagen, die Zulage neben Polizeivollzugsbeamten anderen Beamten und Soldaten dann zu gewähren, wenn sie überwiegend Aufgaben wahrnehmen, die den Aufgaben der Polizeivollzugsbeamten entsprechen, und wenn sie dabei zur Anwendung unmittelbaren Zwangs einschließlich des Schußwaffengebrauchs befugt sind. Diese Voraussetzungen wären bei den Beamten des Zollfahndungsdienstes gegeben, nicht jedoch bei den Verwaltungsbeamten des Bundesgrenzschutzes.
Die Möglichkeit einer Verwirklichung des erwähnten Vorschlages im Rahmen der Erarbeitung eines Besoldungsänderungsgesetzes mit strukturellen Besoldungsmaßnahmen wird zur Zeit geprüft.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, beabsichtigen Sie, das Problem bezüglich der Verwaltungsbeamten im BGS so zu lösen, daß sie entsprechend dem Votum der von Ihrem Hause eingesetzten Kommission, das ja seit April 1976 vorliegt, diese Verwaltungsbeamten von Polizeivollzugsaufgaben, die sie ja haben, völlig befreien, oder ist dieser Vorschlag inzwischen aus der Diskussion?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jentsch, eine aktuelle Überlegung im Zusammenhang mit der Zulagenfrage gibt es bei uns nicht.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gibt es Überlegungen, das Problem hinsichtlich der Verwaltungsbeamten im BGS dann vielleicht so zu lösen, daß man keine Zulage ge-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11435
Dr. Jentsch
währt, sondern eine Sonderaufwandsentschädigung, wie das beispeilsweise auch im Bereich des Bundeskriminalamts geschieht, oder gibt es auch da keine Überlegungen in dieser Richtung?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jentsch, die Frage ist für mich deshalb schwierig zu beantworten, weil ich Sie meinerseits fragen müßte, aus welchem Grunde Sie diese Zulage oder ähnliche Leistungen für wünschenswert halten. Aber ich nehme an, wir haben im Innenausschuß noch Gelegenheit, über diese Frage ausführlich zu debattieren.
Der Abgeordnete Thüsing ist nicht im Saal; die Frage 48 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 49 ist von dem Abgeordneten Horstmeier gestellt:
Sieht die Bundesregierung die Nachteile, die den Beamten durch § 5 Abs. 3 des Beamtenversorgungsgesetzes in der Fassung des Haushaltsstrukturgesetzes entstehen, die auf Grund von Lehrgängen kurz vor ihrer Pensionierung noch befördert worden sind und dann keine zwei Jahre mehr die höheren Dienstbezüge erhalten, und zu welchen Änderungen wäre die Bundesregierung gegebenenfalls bereit?
Bitte, Herr Staatssekretär.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Bundesregierung liegen aus dem Bundesbereich keine Erkenntnisse darüber vor, daß Beamte auf Grund von Lehrgängen kurz vor ihrer Pensionierung noch befördert werden.
Ganz allgemein ist zu sagen, daß die Regelung des § 5 Abs. 3 des Beamtenversorgungsgesetzes, mit der der Gesetzgeber die durch das Haushaltsstrukturgesetz verstärkte Regelung des § 109 des Bundesbeamtengesetzes in das Beamtenversorgungsgesetz übernommen hat, Gegenstand je eines Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts Köln und des Verwaltungsgerichts Hannover vom 8. November 1978 ist. Die Bundesregierung beabsichtigt, gegenüber dem Bundesverfassungsgericht dahin Stellung zu nehmen, daß § 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 Beamtenversorgungsgesetz mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist.
Änderungen des § 5 Abs. 3 des Beamtenversorgungsgesetzes müßte der Gesetzgeber vornehmen.
§ 5 Abs. 3 des Beamtenversorgungsgesetzes ist im übrigen am 2. März 1979 auch Gegenstand von Besprechungen der Innenminister gewesen. Sollten die weiteren Erörterungen der Innenminister zu einer Initiative führen, die auf eine Abmilderung des § 5 Abs. 3 'des Beamtenversorgungsgesetzes zielt, würden wir mit den beteiligten Kreisen in eine Erörterung eintreten. Die Bundesregierung hatte bisher jedoch noch keinen Anlaß, sich in dieser Frage eine abschließende Meinung zu bilden. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Herr Kollege, Sie haben, Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, müßte man nicht einen Unterschied zwischen automatischer Beförderung oder Regelbeförderung und der Beförderung im fortgeschrittenen Alter auf Grund von Lehrgängen machen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, man müßte da sicherlich eine Unterscheidung machen. Dabei muß ich aber noch einmal sagen, daß mir solche Fälle aus dem Bundesbereich nicht bekanntgeworden sind. Wenn Ihnen solche Fälle bekannt sind, wäre ich Ihnen dankbar, wenn wir uns mal außerhalb der Fragestunde darüber unterhalten könnten; ich werde das dann gern nachprüfen lassen.
Herr Staatssekretär, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern beantwortet.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Gallus zur Verfügung.Die Frau Abgeordnete Dr. Martiny-Glotz hat um schriftliche Beantwortung der eingereichten Frage gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Der Abgeordnete Milz ist nicht im Saal. Seine beiden eingereichten Fragen werden also schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für Ihre Anwesenheit.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf.Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Buschfort zur Verfügung.Jetzt kann ich gleich die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Horstmeier aufrufen:Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, Patienten, die in die neu eingerichteten Altenkrankenheime aufgenommen werden und als behandlungsbedürftige Pflegefälle anzusehen sind, in den Leistungsanspruch der gesetzlichen Krankenversicherung zu übernehmen, und wenn ja, welche Regelung kann die Bundesregierung im Rahmen ihres Verantwortungsbereichs vorschlagen?Bitte, Herr Staatssekretär.Buschfort, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für •Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege Horstmeier, soweit es sich um die Behandlung von Krankheiten handelt, werden die Kosten für Versicherte von den Krankenkassen getragen. Zu den Kosten der Kranheitsbehandlung zählen nicht die Aufwendungen für die Unterbringung in Wohn-, Alten- oder Pflegeheimen. Soweit in einer Einrichtung Krankenhauspflege im Sinne der Vorschriften der Reichsversicherungsordnung gewährt wird, übernimmt die Krankenkasse diese Kosten. Auf die Bezeichnung der Einrichtung, ob z. B. „Altenkran-
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11436 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Parl. Staatssekretär Buschfortkenheim" oder „Altenkrankenhaus", kommt es nicht an. Entscheidend sind vielmehr die Verhältnisse im Einzelfall.Es ist somit zu unterscheiden zwischen den FM' len, in denen die Krankheit nur mit den Möglichkeiten des Krankenhauses behandelt werden kann, und den Fällen, in denen die Krankheit auch ambulant behandelt werden könnte, aber allein zur Sicherstellung einer pflegerischen Versorgung und Betreuung die Aufnahme in eine dazu geeignete Einrichtung geschieht. Die Übernahme derartiger Unterbringungskosten gehört ebenso wie die Übernahme der Aufwendungen für Wohnraum und Nahrung nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.Mit der Frage, wie das Problem der Finanzierung der Pflegefälle gelöst werden könnte, beschäftigt sich zur Zeit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Sie wird im Laufe dieses Jahres ihren Bericht vorlegen. Ich möchte diesem Bericht nicht vorgreifen, aber darauf hinweisen, daß es nach meiner Auffassung vorrangige Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben sollte, die Kosten der Heilung und Linderung von Krankheiten zu übernehmen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß es oft auch kostensparend wirken könnte, wenn in bestimmten behandlungsbedürftigen Pflegefällen die betreffenden Personen aus dem Krankenhaus entlassen und dann in ein Altenkrankenheim überwiesen werden?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, genau das wollte ich vorhin sagen. Es ist natürlich denkbar, daß auch ein Altenkrankenheim der geeignete Platz sein könnte, um eine notwendige Behandlung fortzusetzen. Ich glaube sogar, daß sich diese Tendenz in einzelnen Bundesländern mehr und mehr fortsetzt.
Ich danke Ihnen.
Der Herr Abgeordnete Dr. Becker hat um schriftliche Beantwortung der eingereichten Frage gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die erste Frage des Herrn Abgeordneten Hasinger — Frage 59 — auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung eine Änderung des Einzugsverfahrens für die Beiträge zur Sozialversicherung, die eine selbstschuldnerische Abführung vom Arbeitgeber an die Ersatzkassen beinhaltet?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Buschtort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hasinger, wenn .es gestattet ist, würde ich die beiden Fragen gerne im Zusammenhang beantworten.
Es sind doch zwei verschiedene Sachverhalte. Wenn es Ihnen möglich wäre, wäre mir eine getrennte Beantwortung lieb.
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich hierzu bereits in den Fragestunden am 11. September 1975, am 10. März 1978, am 7. Juni 1978, zuletzt am 15. Dezember 1978 auf eine entsprechende Frage des Kollegen Dr. Stavenhagen geäußert. Sie hat ihre Absicht mitgeteilt, diesen Fragenkomplex im Rahmen der Vorbereitungen der nach dem 21. Rentenanpassungsgesetz erforderlichen Änderungen im Beitragsrecht der Krankenversicherung der Rentner zu erörtern. Die Spitzenverbände der Träger der Krankenversicherung werden daran beteiligt.
Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wäre es nicht auch deshalb sinnvoll, den Arbeitgeber gesetzlich zu verpflichten, den Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag an die Ersatzkassen abzuführen, weil die Arbeitgeber die den RVO-Kassen zu erteilenden Meldungen, etwa nach der DEVO oder nach DÜFO, auch den Ersatzkassen zu erstatten haben?
Buschfort, Parlamentarischer Staatssekretär: Herr Kollege Hasinger, ich habe vorhin versucht, deutlich zu machen, daß wir im Zusammenhang mit dem Einundzwanzigsten Rentenanpassungsgesetz diese Fragen überprüfen und dazu die Spitzenverb.ände hören werden. Natürlich werden da alle bisherigen Erkenntnisse einbezogen.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß sich zu den vielen Arbeitgebern, die die Beiträge bereits an die Exsatzkassen abführen, vor kurzem auch der Bundesfinanzminister als Arbeitgeber gesellt hat?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich weiß, daß es unterschiedliche Auffassungen zu diesem Fragenkomplex gibt. Es muß aber dabei bleiben, daß wir diese Fragen im Zusammenhang überprüfen werden, um dann zu einer angemessenen Regelung zu kommen.
Ich rufe die Frage 60 des Herrn Abgeordneten Hasinger auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, eine Gesetzesänderung herbeizuführen, die die Ersatzkassen ermächtigt, bei ihren freiwillig Versicherten die Beiträge zur Angestellten- und Arbeitslosenversicherung einzuziehen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hasinger, ich halte es zum gegenwärtigen Zeitpunkt für verfrüht, den vorgesehenen Erörterungen vorzugreifen.
Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11437
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wären Sie bereit, in die von Ihnen angekündigten Erörterungen auch den Gesichtspunkt des Datenschutzes aufzunehmen, weil heute unnötigerweise, nur zum Zweck des Einzugs von Fremdbeiträgen, andere Stellen neben den Ersatzkassen, bei denen das ohnehin schon geschieht, Daten erfassen und speichern müssen?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hasinger, natürlich werden in einem Ministerium auch die Fragestunden sorgfältig beobachtet. Diese heutige Fragestunde wird dazu beitragen, auch diesen Gesichtspunkt mit zu berücksichtigen.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die hier angesprochenen Änderungen auch von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte für wünschenswert gehalten werden?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Mir sind solche Äußerungen gegenwärtig nicht bekannt. Ich will nicht ausschließen, daß sie gemacht worden sind.
Ich rufe die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Biechele auf. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Heyenn auf :
Wie beurteilt die Bundesregierung die rechtliche Situation für die Arbeitnehmer, die infolge von Schneeverwehungen und Fahrverboten nicht am Arbeitsplatz erscheinen konnten oder deren Arbeitskraft aus den genannten Gründen vom Arbeitgeber nicht angenommen wurde, und welche Folgerungen zieht sie daraus z. B. für die gesetzliche Schlechtwettergeld-Regelung?
Herr Staatssekretär, beabsichtigen Sie eventuell, die beiden Fragen gemeinsam zu beantworten?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich mache den Vorschlag, die Fragen 62 und 63 des Herrn Abgeordneten Heyenn und die Fragen 64 und 65 des Herrn Abgeordneten Stutzer zusammen zu beantworten, da die Antworten textgleich sind.
Herr Staatssekretär, ich stimme dem zu, weil auf diese Weise alle vier Fragen noch vor Ablauf der Fragestunde beantwortet werden können.
— Herr Kollege, das bedeutet möglicherweise, daß die Fragen von Herrn Stutzer am Schluß nicht mehr aufgerufen werden können.
Herr Staatssekretär, ich bitte also um die Beantwortung nur der Fragen des Herrn Abgeordneten Heyenn. Dazu rufe ich auch dessen Frage 63 auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung generell und bezüglich des „Schnee-Lohnausfalls" in Norddeutschland, zu einer auch die Interessen der Arbeitnehmer berücksichtigenden Regelung zu gelangen, und welche Maßnahmen sind gegebenenfalls dazu erforderlich?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß durch gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten versucht werden sollte, die Folgen des schneebedingten Arbeitsausfälle zu mindern. Hier sind zunächst einmal die Küstenländer aufgerufen, mit unbürokratischen und schnellen Hilfen einzuspringen. Dies ist auch in der Vergangenheit, z. B. bei Flutkatastrophen, mehrfach geschehen. Solche Hilfen dürften allerdings nicht nur Landwirten, Eigentümern und Unternehmern, sondern auch den Arbeitnehmern zugute kommen.
Zu begrüßen sind auch Betriebsvereinbarungen, die einen Ausgleich für die Arbeitnehmer . vorsehen. Bekanntlich sind in einigen größeren Betrieben vernünftige Lösungen gefunden worden. Aus der Sicht der Bundesregierung bietet sich das Kurzarbeitergeld am besten für eine Lösung an.
Die Bundesregierung weiß sich mit der Bundesanstalt für Arbeit darin einig, daß schon auf der Grundlage des geltenden Rechts so großzügig wie möglich geholfen wird und formelle Hindernisse unbürokratisch bewältigt werden sollten.
Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob es im Rahmen der fünften Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz eine Möglichkeit gibt, eine generelle Regelung für derartige Fälle vorzusehen.
Schließlich ist noch auf die Fälle hinzuweisen, in denen die Betriebe wegen höherer Gewalt nicht arbeiten konnten, wozu z. B. auch ein behördliches Fahrverbot gehört. Hier spricht man vom Betriebsrisiko des Arbeitgebers, der auch in diesen Fällen zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist.
Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, darf ich Ihre Antwort dahin gehend verstehen, daß Sie meine Meinung teilen, daß die betroffenen Landesregierungen eine schnelle und unbürokratische Hilfe, wie sie bisher z. B. Landwirten und Unternehmern gegeben worden ist, auch Arbeitnehmern zuteil werden lassen sollten?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege. Wir würden das sehr begrüßen, wenn eine solche Hilfe zustande käme, zumal auch bei anderen Katastrophen immer wieder Hilfen, wie z. B. durch Vergünstigungen oder die Erstattung von Ansprüchen, eingeräumt wurden. Würden hier nun auch die Arbeitnehmer in solche Hilfsmaßnahmen einbezogen, würde sicherlich ein wesentlicher Teil der Schäden, die bei Arbeitnehmern eingetreten sind, ausgeglichen werden können.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
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11438 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, es könnten natürlich bei dem von Ihnen vorgetragenen Vorschlag, hier über ein Kurzarbeitergeld eine. zufriedenstellende Regelung zu finden, rechtliche Schwierigkeiten in Fragen der Auslegung des bestehenden Rechts eintreten; die Bundesregierung hat ja keinen unmittelbaren Einfluß auf die Rechtsauffassung der Bundesanstalt für Arbeit. Ist die Bundesregierung gegebenenfalls bereit; über ihre Vertreter in den Gremien oder über eine Klarstellung des geltenden Rechts dafür zu sorgen, daß für künftige Fälle ähnlichen Ausmaßes bei der Bundesanstalt für Arbeit eine eindeutige Rechtsgrundlage besteht?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, ich habe versucht, genau auf diesen Punkt vorhin mit der Formulierung „Die Bundesregierung weiß sich mit der Bundesanstalt für Arbeit darin einig, daß schon auf der Grundlage des geltenden Rechts so großzügig wie möglich geholfen wird" hinzuweisen.
Ich möchte hier hinzufügen: Es mag sein, daß dieser hoffentlich einmalige Vorgang auch viele Arbeitgeber überrascht hat, daß die Unkenntnis über die rechtlichen Möglichkeiten recht groß gewesen ist und daß z. B. deshalb Anträge auf Kurzarbeit nicht immer sofort gestellt worden sind.
Wir müssen gerade auf Grund dieser Erkenntnis und der Erfahrungen des vergangenen Winters überprüfen, ob eine Regelung in die fünfte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz aufgenommen werden sollte oder ob ein Erlaß und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit dazu beitragen können, daß zukünftig sowohl die Arbeitnehmer — insbesondere auch die Betriebsratsmitglieder — als auch die Arbeitgeber besser informiert sind.
Ob es nun im Einzelfall zu Schwierigkeiten kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Denn z. B. die Auslegung, • was „unverzügliche Anmeldung der Kurzarbeit" bedeutet, vermag ich seitens der Bundesregierung nicht verbindlich für den Einzelfall vorzunehmen. Das ist eine Aufgabe, die dem jeweiligen Arbeitsamt obliegt.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ich darf Ihre Ausführungen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, also dahin gehend verstehen, daß bei auftretenden rechtlichen Schwierigkeiten eine gewisse Ausfallerstattung in der Frage des sogenannten Schneelohns in zeitlichem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Ausfall nur durch ein Eingreifen der zuständigen Landesregierung vorgenommen werden kann?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Ja, es wäre die unbürokratischste und einfachste Regelung, wenn man mit der Bewilligung von Geldern für die betroffenen Gruppen helfen würde. Natürlich werden in beachtlichem Umfange auch die abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen helfen. Sie wissen, daß
man sich in einigen großen Werken in diesem Sinne verständigt hat; d. h., die jeweilige Betriebsleitung hat sich mit dem Betriebsrat als dem Vertreter der Belegschaft über Hilfen geeinigt. Ich gehe davon aus, daß in Anbetracht dieser Regelungen auch in anderen Betrieben entsprechende Betriebsvereinbarungen möglich sein werden.
Dies ändert nichts daran, daß in einer Reihe von Fällen auch ein Rechtsanspruch auf Lohnfortzahlung gegenüber dem Arbeitgeber besteht. Man spricht in diesem Zusammenhang von dem bestehenden Betriebsrisiko. Hier gibt es, glaube ich, eine eindeutige Rechtslage nach dem Arbeitsrecht, und ich gehe davon aus, daß die rechtliche Unterstützung gewährenden Gewerkschaften schon dazu beitragen, daß die Arbeitnehmer zu ihrem Recht kommen.
Eine
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schäfer.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie recht verstanden, daß nach Auffassung der Bundesregierung schon nach gelten- dem Recht geholfen werden kann? Wird danach jetzt verfahren, und wird nur dann, wenn Zweifel an der Rechtsgrundlage aufkommen, durch die Fünfte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes noch nachträglich die Rechtsgrundlage geschaffen?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege Schäfer., das ist richtig. Schon nach geltendem Recht, d. h. nach dem derzeit geltenden AFG, kann geholfen werden. Die Schwierigkeit, die aufgetaucht ist, besteht darin, daß entsprechende Anträge nicht oder relativ spät gestellt worden sind. Das ist eine Frage, die das zuständige Arbeitsamt vor Ort klären muß. Sollten im übrigen Schwierigkeiten bleiben, müßten wir sie in der Fünften Novelle zum AFG regeln.
Die
übrigen Fragen, soweit sie nicht wie die Fragen 73 bis 81 ausdrücklich zurückgezogen worden sind, werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Wir setzen die Behandlung des Punktes 4 der Tagesordnung fort: Beratung des Agrarberichts 1979 der Bundesregierung.
Das Wort in der Aussprache hat der Herr Abgeordnete Kiechle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute früh erschien in einer Tageszeitung eine Kurzmitteilung. Ich möchte sie Ihnen vorlesen. Die Überschrift lautet: „Kinder verhungern". Die Nachricht lautet:In Kolumbien sind 2 1/2 Millionen Kinder unterernährt, jährlich sterben 110 000 Kinder vor dem fünften Lebensjahr.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11439
KiechleDas ist eine Nachricht zum Nachdenken anläßlich einer Debatte, bei der die Themen Überfluß und Überschuß wohl im Vordergrund aller Diskussionsbeiträge stehen. Auch ich muß mich mit diesen Themen beschäftigen. Ich möchte aber hinzufügen: Daß wir in Europa uns nur mit Überfluß und nicht mit Mangel zu beschäftigen haben, dafür sorgen tüchtige Bauern, dafür sorgen eine moderne Technik, ein wirksamer Pflanzenschutz und die neuesten Möglichkeiten bei der Mineraldüngung. Bei der Tatsache, daß jeder in unserem Land satt ist und sogar übersatt werden kann, sollten wir, wenn wir eine ausgewogene Debatte führen, vielleicht auch an eine Nachricht wie die eben erwähnte denken.
Wir haben, glaube ich, auch einigen Grund, denen, die dafür sorgen, daß unser Kontinent solche Probleme nicht kennt, ein wenig zu danken und etwas Anerkennung zukommen zu lassen, statt sie öffentlich zu sehr unter nur einem einzigen Aspekt, nämlich dem des Überflusses, zu kritisieren.
Einer der Gegenstände, denen ich mich in meinen Ausführungen zuwenden möchte, ist ein ganz aktuelles Thema: das Milchproblem. — Aber erlauben Sie mir erst ein paar Vorbemerkungen.Der Herr Vorsitzende des Ernährungsausschusses hat heute hier eine, wie ich meine, gute Rede gehalten. Allerdings hat er zu der Entschließung der Opposition eine Aussage gemacht, die nicht unwidersprochen stehenbleiben kann. Er sagte nämlich, diese Entschließung trage nicht dem Wissensstand der Opposition Rechnung. Herr Dr. Schmidt, ich glaube, dies stimmt nicht. Sie haben zwar eine gute Rede gehalten; aber es war eine Rede für überübermorgen.
Es war eine Rede, die der Vision gegolten hat. Es war ein Stück Höhenflug — wenn auch gekonnter — in ihr enthalten. Sie haben über allgemeine Zielsetzungen geredet. Sie .wissen so gut wie ich, daß grundsätzliche Ausführungen, verbunden mit Appellen an jedermann, gut klingen, aber verhältnismäßig einfach sind. Auch der Konsens ist dabei leicht zu finden.
Ich muß mich in meiner Rede einem Detail zuwenden. Im Detail steckt bekanntlich der Teufel. Vom Detail aber wird auch der einzelne Bauer betroffen, und zwar heute,
nicht erst übermorgen, und er wird möglicherweise sogar bis hin zu seiner Existenz betroffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Erzeugerpreise sind, gemessen am Index 1970 = 100, von 141 auf 135 Punkte zurückgegangen. Die andere Zahl: Im gleichen Zeitraum ist der Index der Betriebsmittelpreise von 143 auf 151 Punkte gestiegen. — Diese beidenZahlen sagen aus, daß noch vor drei Jahren mit den Punktzahlen 141 und 143 ein fast ausgewogenes Verhältnis da war. Jetzt hat sich die Relation auf 135 : 151 Punkte verschoben.Um 10,8 %, sagt der Bericht, habe das Einkommen der Bauern zugenommen. Das ist statistisch auch gar nicht zu bezweifeln. Allerdings entstand dadurch im Berichtsjahr ein Durchschnittseinkommen von 24 084 DM. Dieses Einkommen lag genau noch 1 400 DM unter dem Einkommen, das 1975/76 von der deutschen Landwirtschaft als Durchschnittseinkommen erzielt wurde.
Es gibt wahrscheinlich wenige Berufsgruppen, die solche Relationen einfach akzeptieren müssen; es kann höchstens ab und zu mal im Bereich der Selbständigen so sein. Ich möchte natürlich hinzufügen: wenn die Statistik, die ich gar nicht bezweifle, aussagt, daß trotzdem die Einkommen der Landwirte gestiegen seien, dies bei Preisen, die rund 5 °/o unter denen des Vorjahres lagen, dann liegt das natürlich nicht an irgendwelchen politischen Leistungen, sondern das beruht auf der eigenen Leistung der Landwirtschaft und ist durch Mehrarbeit und bessere Ernten erbracht.Ich wollte das nur zur Klarstellung sagen; denn das kann nicht oft genug gesagt werden. Der Bürger draußen versteht nämlich meistens unter dem Wort Einkommen — hier ist das Reineinkommen gemeint — das, was er als Nettoneinkommen kennt. Aber in Wirklichkeit ist es immer noch das Bruttoeinkommen.Lassen Sie mich eine weitere Vorbemerkung machen. Nicht nur die EG mit all ihren Problemen, wie das heute doch sehr stark hervorgehoben worden ist, macht der Agrarpolitik Schwierigkeiten oder beeinträchtigt sie manchmal negativ, sondern das tut auch eine gewisse Verordnungswut unserer Bundesregierung. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß in Deutschland die Bestimmungen zum Schutz des Verbrauchers vor schädlichen Stoffen verschärft worden sind und daß unsere Landwirtschaft in ihrem Bemühen um die Erzeugung qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel eine Spitzenstellung erreicht hat. Allerdings hat es die deutsche Landwirtschaft auch hinnehmen müssen, daß es eine neue Verordnung, die sogenannte Höchstmengenverordnung gibt, bei der über die Hintertür ausländische Produkte herein dürfen, die chemisch stärker belastet sind, als dies im eigenen Land sein darf. Dies ist ein Stück Politik, für das wir kein Verständnis haben: Strenge gegenüber deutschen Erzeugnissen, Nachsicht gegenüber ausländischen Produkten. Hier hat auch die sonst so laut und meistens antibäuerlich tönende Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände ganz schamhaft geschwiegen.Es gibt eine weitere Verordnung — die ist noch nicht in Kraft, an ihr kann noch etwas gerettet werden —, das ist die Verordnung, die sich Milchhygiene-Verordnung nennt. Sie ist eine Verordnung, die den Bauern das vernünftige Wirtschaften erschweren, dafür aber die Bürokratie fördern würde. Sie ist mit einer Hartnäckigkeit in verschieden-
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Kiechlesten Formen vorgelegt worden, die einer besseren Sache wert wäre, zuletzt als EG-Richtlinie. Ich will Ihnen aus dieser Verordnung nur einen Satz zitieren, weil er so schön klassisch ist:Das Euter der Kuh, die Zitzen und die es umgebenden Teile sind vor dem Melken gründlich zu reinigen. Geschieht dies mit Wasser, muß es sich um hygienisch einwandfreies Wasser handeln.
Meine Damen und Herren, ich glaube, das genügt. Es sollte endlich auch der Bürokratie genügen, um einmal darüber nachzudenken, wieviel sie denn an perfektionistischem Unsinn noch auf Papier niederschreiben will.
Sollte so etwas Gesetz werden, empfehle ich den Bauern, diesen Text ihren Kühen im Stall vorzulesen; vielleicht lachen sie sich dann tot; dann sind sie aus der Milchproduktion ausgeschieden.
Aus Brüssel haben wir sogenannte Nullpreisvorschläge auf dem Tisch des Hauses liegen. Herr Staatssekretär Gallus und der Vorsitzende des Ernährungsausschusses meinten, sie seien den deutschen Bauern in etwa zumutbar. Es liegt aber neben diesen Nullpreisvorschlägen — ich komme darauf später noch zurück — eine Art Nebenpapier vor, und zwar mit Vorschlägen zum Abbau der Milchüberschüsse. In diesem Papier steht: erstens, die Milchpreise einfrieren, zweitens, alle Förderungsmaßnahmen im Bereich der Milchproduktion streichen, drittens eine sogenannte Mitverantwortungsabgabe ausbauen und erhöhen, und zwar mit einer Mindesthöhe — vorgeschlagen sind 1,2 Pennig je Liter abgelieferter Milch —, und eine variable Anpassung an die prozentuale Steigerungsrate der Milchablieferung in Europa in folgendem Verhältnis: 1 °/o höhere Ablieferung ist 2 °/o Milchpreisabzug. Ich glaube, diese Vorschläge sollte' man kritisch würdigen. Sie sind aus unserer Sicht völlig indiskutabel.Wenn man die Situation objektiv beurteilen will, muß man sich ein paar Fakten vor Augen halten. Die Produktion von Milch betrug 1978 in Europa rund 100 Millionen Tonnen. Davon wurden rund 91 Millionen Tonnen an die Molkereien verkauft. Zirka 80 Millionen Tonnen davon wiederum konnten in etwa normal abgesetzt werden.Die Steigerungsrate der Milchproduktion betrug von 1977 auf 1978 EG-weit rund 5 °/o. Die Butterproduktion stieg um 8,5 °/o und die Käseproduktion um 3,2 °/o sowie die Milchpulverproduktion um über 9 °/o. Der Butterabsatz stagnierte in etwa. Trotz Sonderaktionen bei Milchpulver konnten nur Verfütterungsbeihilfen die Vorratsmengen verringern. Käse fand seinen Absatz ohne Interventionsschutz. Allerdings bestehen hier gewisse innere Zusammenhänge im Absatzgeschehen.Übrigens sollte man, wenn man das Problem als Ganzes betrachtet, vielleicht auch darauf hinweisen, daß die deutschen Verbraucher — im Gegensatz zu der Zeit vor zehn Jahren, als der Verbrauch noch rund 9,5 kg betrug — jetzt nur noch 6,4 kg Butter pro Kopf und Jahr essen, dafür allerdings 13 kg Käse, aber auch 6,6 kg Schokolade. Sie essen mittlerweile also mehr Schokolade als Butter.Die Mehrproduktion von Milch in der EG hat verschiedene Ursachen. Neben der Tatsache, daß die züchterische Leistung der Kühe verbessert worden ist, ist vor allem eine ständig steigende Verfütterung von Kraftfutter je Tier die Ursache. Seit der Dollar auf dem Weltmarkt nicht mehr wie früher 3,50 DM, sondern nur noch 1,90 DM wert ist, ist der Import von Futtermitteln wesentlich gesteigert worden. Allein 1978 hat die EG fast 50 Millionen Tonnen Getreideeinheiten an Futtermitteln eingeführt, davon über 10 Millionen Tonnen Substitute wie Maniok, Maisglutenfeed und ähnliches.Würde man auf der gesamte Fläche der Bundesrepublik Deutschland, von den Halligen bis ins Allgäu, auf jedem verfügbaren landwirtschaftlich nutzbaren Fleckchen Futtergetreide anbauen, könnte man gerade etwa diese 50 Millionen Tonnen ernten, die in einem Jahr eingeführt werden. Nur um einmal ein Bild zu geben, was diese Einfuhr bedeutet. Was da von außen in die EG eingeführt wird, entspräche also der Ernte unseres gesamten Landes. Selbstverständlich haben die Bauern und die gewerblichen Veredler aus diesen Einfuhren in die EG Fleisch, Eier und Milch gemacht. Aber diese Mengen kamen in die EG hinein, obwohl die Märkte auf dem Rindfleisch-, Schweine-, Eier-, Geflügel- und Milchsektor schon voll sind.In dem Zusammenhang ist auch ein Blick auf die Getreideproduktion der EG zu werfen. Sie hat den Selbstversorgungsgrad bereits im letzten Jahr überschritten. Schon in absehbarer Zeit, fürchte ich, steht ein Getreideberg bevor.Trotzdem strömen in zunehmendem Maß billige Substitute in die EG. Sie drängen den Anteil des Futtergetreides in den Zukauffuttermitteln zurück und verschärfen damit die Überschußprobleme der EG-Landwirtschaft. Ich fürchte, das wirkt mittelfristig wie eine Zeitbombe.Als Vorbeugung — so möchte ich es einmal nennen — gegen einen eventuell erforderlich werdenden, aber keineswegs zu fordernden Beimischungszwang von Futtergetreide in die Mischfuttermittel sollte die Angabe des Getreideanteils im Rahmen einer Deklaration in Futtermischungen wenigstens bei Milchviehfutter vorgeschrieben werden. Sie dient ja nicht nur der zusätzlichen Verbraucherinformation, sondern sie ist auch eine ständige Aufforderung, sich der Situation auf dem Getreidesektor bewußt zu sein. Heute ist es schließlich so, daß die Bauern nicht einmal wissen, was sie ihren Kühen füttern, da solche Angaben ja auf den Sackanhängern fehlen.Man muß auch wissen, daß Getreidesubstitute und ausländische Eiweißfuttermittel bevorzugt — wenn auch nicht ausschließlich — in den küstennahen EG-Regionen eingesetzt werden. Auf Grund der vorhandenen Standortvorteile wurde dort die
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KiechleMilcherzeugung auch am stärksten ausgeweitet, und es besteht eine gewisse Gefahr, daß sich die Milchproduktion in diesen Regionen zunehmend von der Fläche löst und industrielle Formen annimmt.Ein Wort möchte ich auch verlieren zu der Tatsache, daß reiche Länder solche Futtermittel einführen, die in den Ländern, wo sie produziert werden, nämlich in den armen Ländern, zum Teil auch Lebensmittel sind. Reiche kaufen also bei den dortigen Landarbeiter- und Bauern-Kulilöhnen billige Lebensmittel, um sie im eigenen Land an Tiere zu verfüttern und damit zu veredeln, obwohl sie, wie im Fall der EG, daran gar keinen Bedarf haben. Dies ist ein Faktum. Es hätte gar keinen Wert, sich um die Wahrheit herumzudrücken. Mit schönen Reden werden wir diesem Problem, das sich, wenn nichts geschieht. von Jahr zu Jahr verschärfen muß und auch wird, nicht beikommen.
Ich bin auch überzeugt, daß diese Situation eines Wandels bedarf. Allerdings frage ich dann angesichts dieser Sachlage auf dem Milchmarkt der EG nach der Konzeption der Bundesregierung zu den jetzt vorgelegten EG-Plänen. Ich muß feststellen — das hat sich auch in der Einbringungsrede des Bundesministers erwiesen —: Sie hat keine solche Konzeption. Sie ist auch nicht in der Lage, Auskunft über ihre Marschrichtung bei den kommenden Verhandlungen zu geben.Im übrigen darf man wohl feststellen, daß wir zwar in Deutschland diese Überschußdiskussion führen, aber bei den EG-Marktpartnern solche Erkenntnisse noch nicht in dem Umfang wie bei uns vorhanden sind. Ich nenne nur ein paar Beispiele: Frankreich hat ein Stützungsprogramm für Fleisch, Holland hat das große WIR-Förderungsgesetz, das auch im Milchsektor voll greift, Irland hat ein Programm zur Steigerung der Milch- und Rindfleischproduktion, Großbritannien hat ein Programm zur Steigerung der Milchproduktion, Italien ein Programm zur Steigerung der Milch- und Rindfleischproduktion. Auch unser Ertl-Programm erzwingt und erzwang im eigenen Land mit seiner außerlandwirtschaftlichen Zielschwelle oft höhere Milchkuhbestände bei den Förderfällen, als dies von den Betriebsleitern selbst gewollt und vorgesehen gewesen ist.Wir haben zur Zeit nur eine Spitzenstellung: Wir liegen nämlich an der Spitze bei der Inanspruchnahme der Nichtvermarktungs- und Umstellungsprämie, die doch eigentlich die EG-Kuhbestände verringern soll. Alle diese Dinge in der EG passen seit langem nicht mehr zusammen, obwohl man doch diese Milchschwemme schon seit Jahren vorhersehen konnte.Bei einem solchen Durcheinander von sich gegenseitig widersprechenden Maßnahmen mutet der EG-Vorschlag zum Milchmarkt reichlich verworren an. Allerdings darf man bei dieser Tatsache nicht vergessen, daß die Bundesregierung letztendlich seit zehn Jahren die Verantwortung für die nationale und die Mitverantwortung in der EG-Agrarpolitik nun einmal hat.Übrigens stelle ich fest, daß sich nicht so sehr das Landwirtschaftsministerium, aber die übrige Bundesregierung international kaum irgendwie um den Export von Agrargütern je kümmert. Außen- und Wirtschaftsminister nehmen zwar auf ihren Reisen die Experten für Industriegüter mit, niemals aber solche für Agrargüter.
Die USA, die gewiß auch ein Industrieland sind, handeln hier völlig anders. Man könnte sich vielleicht auch einmal daran ein Beispiel nehmen. In welcher Form wir übrigens Industrieexporte subventionieren und fördern, über Kredite und Bürgschaften, sei bei der ewigen Kritisiererei des Agrarmarkts durch den Verband des Groß- und Außenhandels nur einmal angedeutet.Zu den direkten Vorschlägen der EG-Kommission betreffend den Milchmarkt möchte ich folgendes sagen.Der Vorschlag 1, nämlich die Milchpreise einzufrieren, ergibt reale Preisrückgänge und damit in alternativlosen Grünlandgebieten eine besondere Härte mit unsozialen Folgen.
Der Vorschlag 2, nämlich keinerlei Förderung mehr im Bereich der Milchproduktion, ist für die Dauergrünlandgebiete ganz besonders unannehmbar. Sie können schließlich nichts anderes tun, als Milch zu produzieren. Hier bedürfte es zumindest Ausnahmeregelungen, statt das Kind mit dem Bad auszuschütten.Der Vorschlag 3 beinhaltet — das ist das Brisanteste — eine variable Zwangsabgabe der Milcherzeuger zur Mitfinanzierung des Interventionssystems nach dem vorgeschlagenen Muster. Dieser Vorschlag wirkt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie ein Einheitsstrafsystem. Es enthält einen Abgabezwang, den wir — jedenfalls so — für völlig undiskutabel halten.
Egal, welche Betriebsarten, Regionen oder Begünstigte die Milchübermengen in Europa produzieren, nach diesem Vorschlag sollen alle Bauern von Rotterdam bis Passau gleichermaßen haftbar gemacht werden. Ohne Rücksicht auf ihren Anteil am Geschehen, ob nun der Kraftfuttereinsatz oder die wirtschaftseigene Futtergrundlage der Milchproduktion zugrunde liegen, soll ein Kollektivhaftungssystem alle gleich treffen. Ich finde, daß bei solchen Überlegungen schließlich der Spaß aufhört.Eine solche Absicht entspricht einem Existenzvernichtungsprogramm für kleine und mittlere milcherzeugende Betriebe in den extremen Grünlandgebieten.
Man braucht nur einmal ein praktisches Beispiel zu errechnen: Nehmen wir an, ein Betrieb mit 25 Kühen verkauft 100 000 1 Milch. Daraus erzielt er ca. 60 000 DM Roheinnahme. Nach den EG-Plänen hätte dieser Betrieb, wenn die EG-Produktion wie beispielsweise im vergangenen Jahr um 5 °/o steigt, 10 °/o des Richtpreises je Liter Milch an Zwangsabgabe zu bezahlen. Das sind 6 Pfennig je Liter oder
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Kiechle6 000 DM. Wir wissen, daß ungefähr 50 °/o des oben genannten Roherlöses auf reine Produktionskosten entfallen. Der Mann verliert also 20.0/o seines Beineinkommens. Möglicherweise können die Steigerungsraten, die dann verursacht werden, in günstigen Produktionsstandorten der EG bei hohem Importkraftfuttereinsatz jahrelang anhalten. Die Steigerungsraten Dritter vernichten also in diesem Falle die Existenz Unbeteiligter.Allein diese einfache Rechnung zeigt den sozialen Skandal, der diesen Plänen innewohnt. Dabei besteht an der Produktion aus wirtschaftseigenem Futter wegen ihrer wichtigen Nebenwirkungen bei der Pflege der Kulturlandschaft, beim Natur- und Umweltschutz und bei der Besiedelung strukturschwacher Regionen ein öffentliches Interesse, zumal diese Regionen, in der Regel auch Erholungsfunktionen haben. An der bodenunabhängigen, aber von der Zufuhr von Importkraftfuttermitteln um so abhängigeren Milchproduktion besteht ein solches öffentliches Interesse keineswegs. Höchstens gegenüber den Entwicklungsländern läßt sich ein ähnliches Interesse geltend machen. Das gilt aber dann für die Einfuhr von Rohstoffen oder Nahrungsmitteln wie für deren Ausfuhr. Die finanziellen Konsequenzen sind dann aber von allen zu akzeptieren und nicht nur den Agrarmarktkosten zuzurechnen, genauso wie die politisch zugestandene Einfuhr von 120 000 t Neuseelandbutter pro Jahr ein politisches Problem darstellt und kein Überschußergebnis der europäischen Bauern ist. Europa brauchte schließlich die 120 000 t Butter nicht; es hätte selbst mehr als genug.
Herr
Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus? — Bitte!
Herr Kollege Kiechle, nachdem Sie hier die Mitverantwortungsabgabe der EG-Kommission kritisiert haben, andererseits hier die Herren Kollegen Dr. Schmidt und Peters ihren Standpunkt dargelegt haben, welche Vorschläge sie machen, auch der Deutsche Bauernverband ein Konzept vorgelegt hat, frage ich: Welches Konzept im Zusammenhang mit der Mitverantwortungsabgabe, um die Überschüsse bei der Milch zu beseitigen, hat die Opposition?
Herr Staatssekretär, Ihre Frage hat mich fast eine Minute gekostet. Ich trage Ihnen das jetzt gleich vor.
Wir sind der Meinung, daß an Stelle einer solchen Kollektivhaftung aller Milcherzeuger das Verursacherprinzip treten muß. Wir treten dafür ein, daß die Milcherzeugung auf der eigenen Futtergrundlage wieder Priorität erlangt. Wir schlagen deshalb vor, die Mitverantwortungsabgabe vor allem dort anzusetzen, wo die Überschüsse auf der Basis importierter Futtermittel wie z. B. in Holland oder anderswo entstehen. Nur so ist es möglich, den vielen Grünlandbauern in den vom Standort benachteiligten Räumen der EG ihre Existenz zu erhalten und das ungezügelte Wachstum wahrer Milchfabriken einzuschränken.Wir fordern daher auch für die deutschen Milcherzeuger:Erstens: Grundsätzlich eine Preispolitik, die wenigstens die Inflationsraten abdeckt.Zweitens: Die verbesserte Weiterführung der Umstellungs- und Nichtvermarktungsprämien mit einer nationalen Beteiligungskontrolle einschließlich eventueller finanzieller Konsequenzen.Drittens: Ausnahmen für absolute und extreme Grünlandstandorte und die Berg- und Kerngebiete bei der Reduzierung oder Einstellung der Förderung im Bereich der Milchproduktion.Viertens: Bei der Einführung einer sogenannten variablen Milcherzeugerabgabe ein Splittingverfahren in einen Grundbeitrag von maximal 2 °/o des Richtpreises, wobei Berg-, Kern- und extreme Grünlandgebiete auszunehmen sind, und einen Überschußbeitrag, der die bodenabhängige Produktion entlastet und die Milchproduktion aus Zukauffuttermitteln stärker belastet. Das könnte eventuell auch über eine Freimenge an Milch je Betrieb geschehen.Fünftens: Verbesserte Nahrungsmittelhilfsprogramme für Drittländer.Sechstens: Mehr Absatzbemühungen durch Schulmilchförderung, eine wesentlich verstärkte Werbung und permanent das Angebot einer zweiten Buttersorte.Siebtens: Verbot der fragwürdigen gesundheitsbezogenen Werbung für Konkurrenzprodukte der Butter.Achtens: Langfristig angelegte, möglichst unbürokratische Regelungen zur Verbesserung der Möglichkeiten bei der Verfütterung von Magermilch.Neuntens: Ein gesichertes Mitspracherecht der Produzenten bei der Verwendung der geplanten Milcherzeugerabgabe.Zehntens: EG-einheitliche Maßnahme für alle EG-Partner.Wenn die Kommission in Brüssel und der Ministerrat eine variable „Überschußbeseitigungszwangsabgabe" als Bestandteil des Interventionssystems einführen wollen, dann müssen mindestens die genannten Punkte berücksichtigt werden, um soziale Ungerechtigkeiten zu vermeiden und die wesentliche Ursache der Überproduktion zu vermindern. Jedenfalls die Globalstrafmaßnahme einer Einheitsabgabe für groß und klein, arm und reich, von der Natur und dem Standort Begünstigten und Benachteiligten gleichermaßen darf niemals Wirklichkeit werden.
— Herr Präsident, würden Sie mir noch eineinhalb Minuten schenken.Zu diesen wichtigen Problemen fehlt eine klare Aussage der Bundesregierung. Sie hat weder ein
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KiechleKonzept noch ein Programm. Sie gibt unseren verunsicherten Bauern keine Leitlinie, noch hat sie den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Das überläßt sie der Opposition, wahrlich kein Ausweis für Führungsqualität und Verantwortungsbewußtsein. Die Bundesregierung hat in diesem Punkt — das hat die Einführungsrede des Herrn Ministers gestern leider gezeigt — versagt. Wollte man den Herrn Minister Ertl an seinen eigenen Worten von Anfang 1970 messen, hier im Plenum des Deutschen Bundestages gesprochen, der da gesagt hat: „Der Herr Höcherl hat mir nur Butter- und Magermilchpulverberge hinterlassen, und ich darf diese Suppe jetzt auslöffeln", dann fiele das Urteil, Herr Minister, noch ein bißchen schärfer aus. Damals waren die von Herrn Ertl beklagten „Berge" nicht einmal ein Drittel so hoch wie nach zehn Jahren sozialJiberaler Agrarpolitik. Leider löffeln nunmehr rund 400 000 fleißige Bauern in Deutschland die übergelaufene Milchsuppe sozialliberaler Kochkunst aus. Herr Minister Ertl, sorgen Sie dafür, daß Ihre Milchsuppe nicht auch noch anbrennt.
Herr Kollege, jetzt wollen wir aber mit der Suppe Schluß machen.
Herr Präsident, ich darf mich sehr herzlich bedanken, daß Sie mir noch den allerletzten Satz gestatten.
Es ist schließlich Ihre Regierung, Herr Minister, die angesichts der Aussicht auf eine Nullpreisrate und damit Senkung der realen Preise, möglicherweise über mehrere Jahre hinweg, einer künftig offensichtlich verkorksten Grenzausgleichsregelung und einer beabsichtigten Kollektivzwangsabgabe bei Milch unserer Landwirtschaft seit Monaten auch noch Steuererhöhungen androht.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll in der nächsten Tagungswoche nur eine Fragestunde von 60 Minuten stattfinden. Da" hiermit von der Geschäftsordnung abgewichen wird, muß dies vom Bundestag gemäß § 127 der Geschäftsordnung mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder beschlossen werden. Ich frage, ob das Haus damit einverstanden ist, daß in der Woche vom 26. März 1979 nur eine Fragestunde von 60 Minuten stattfindet. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Der Ältestenrat hat ferner in seiner heutigen Sitzung vereinbart — meine Damen und Herren, das lese ich mit Absicht erst jetzt vor —, daß die Fragestunde am Freitag, dem 30. März 1979 von 8 bis 9 Uhr durchgeführt wird.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute schon viel über die Einkommenssteigerung gesprochen worden. Der Herr Kollege Ritz und jetzt auch der Herr Kollege Kiechle haben es erwähnt. Ich meine, bei einer Einkommenssteigerung von 10,3 °/o kann man wohl zufrieden sein. Dieses Ergebnis kann sich sicher sehen lassen, noch dazu, wenn man bedenkt, daß nur 8 % vorausgeschätzt waren, 8 %, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht müde wurden in Frage zu stellen und madig zu machen. Die Vorausschätzung wurde sogar um 30 % übertroffen. Deswegen kommt jetzt von Ihnen das Wenn und das Aber. Von Ihnen wurde gesagt, das Testbetriebsnetz sei nicht repräsentativ, oder es wird von der Sonn- und Feiertagsarbeit, von der Schwere der Arbeit, von den Problemen beim Urlaub usw. gesprochen.Wir stimmen hier in vielen Dingen zu. Aber sicher gibt es da nach Art der Betriebe sehr verschiedene Verhältnisse. Im Veredelungsbetrieb sieht es anders aus als im Getreidebaubetrieb. Wir wissen natürlich auch, daß das Selbständigsein nicht nur Vorteile hat, sondern auch Belastungen bringt. Aber wir wissen auch, daß die Landwirte diese Belastungen gern auf sich nehmen. Wir wissen, daß sie gern Landwirt sind, und die Landwirte wissen, daß es sich wieder lohnt, Landwirt zu sein.Aber ich meine auch, es würde Ihnen keine Perle aus der Krone fallen, wenn Sie einmal anerkennten und sich freuten, daß die Landwirtschaft ein so gutes Ergebnis erzielt hat. Auch wir geben doch zu, daß dieses Ergebnis durch Faktoren zustande kommt, die die Regierung nicht zu vertreten hat.
Der Wind, das Wetter und die Preise spielen hier mit. Man muß eben auch ein bißchen Glück dabei haben; das gehört dazu. Aber auf Dauer hat nur der Tüchtige Glück; auch das ist zu bedenken.Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, nachzulesen, was Sie von der Opposition in den Agrardebatten der letzten Jahre so alles gesagt haben. Das ist eine ganz interessante Lektüre. Ich kann sie nur empfehlen. Bewundernswert sind die sprachlichen Klimmzüge, die Sie gemacht haben; denn gleichgültig, ob die Einkommensentwicklung -positiv oder negativ war, selbst bei einem Plus von 20 °/o wie in den Jahren 1975/76, das Sie heute erwähnt haben und das ein absolutes Spitzenergebnis war, mußte nach Ihrer Argumentation die Landwirtschaft im Endeffekt schlecht aussehen.Das ist Ihr Problem. Sie können sich leider nicht dazu durchringen, auch einmal zu sagen, daß die Landwirtschaft mit diesem Ergebnis zufrieden sein könnte. Deswegen haben wir immer wieder, jedes Jahr, das gleiche Hickhack über das Einkommen. In Wirklichkeit ist es ein Streit um des Kaisers Bart; denn aus dem Ergebnis eines Jahres läßt sich so
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11444 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Müller
oder so auf die allgemeine Einkommensentwicklung nicht schließen.
Aber betrachten wir es einmal längerfristig und gehen zurück auf den Zeitraum von 1968/69 bis 1977/78. Im Durchschnitt dieser Jahre gab es ein Ergebnis, mit dem man wohl auch zufrieden sein kann; denn auch da gibt es eine Einkommenssteigerung von rund 8 °/o.
Die Landwirtschaft ist mit diesem Ergebnis ja auch zufrieden, Sie aber leider nicht.
— Ach, Herr Niegel, gehen Sie doch einmal hinaus! Sie wissen es doch genauso gut wie ich. Auch Sie geben es zu, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Das kennen wir doch alles.Aber wir müssen hinzufügen: In der Landwirtschaft ist jedes Jahr anders. Wir haben es alle miterlebt. Wir hatten schon ein Plus von 40 0/0; das war 1971/72. Und wir hatten schon ein Minus von 13 °/o; das war damals die Folge der Trockenheit von 1976/77. Wir haben schon gute Ernten und schlechte Ernten, niedrige Preise und hohe Preise gehabt.Im Augenblick sind wieder einmal die Schweinepreise im Gespräch. Sie sind erheblich niedriger als vor Jahresfrist. Leider wurden, wie man hinzufügen muß, diese Preissenkungen, an die Verbraucher nicht weitergegeben. Die Verbraucher haben davon am wenigsten profitiert. Auch die Appelle, die hier ausgesprochen worden sind, haben nicht genutzt.Die Handelspannen wurden ausgedehnt. Der Handel hat sich nicht gerade zum Helfer der Schweinemäster emporgehoben. Denn sicher hätten niedrigere Preise noch zu einer Steigerung des Verbrauchs und damit zu einer Entlastung des Marktes geführt. Andererseits hörten wir aber sofort wieder den Ruf nach staatlicher Hilfe, den Ruf nach Intervention. Es wurden ja auch Hilfen gewährt: private Lagerhaltung, Anhebung der Ausfuhrerstattung usw. Eines aber sollten wir bitte nicht vergessen. Saisonale, zyklische und erntebedingte Mengen und Preisschwankungen sind nun einmal typisch für die Landwirtschaft.Auch der Schweinezyklus ist seit Jahrzehnten bekannt. Dagegen gibt es noch kein Patentrezept. Deshalb muß sich der Landwirt darauf einstellen. Er ist ein freier Unternehmer, er will und er soll es ja auch bleiben. Dazu gehört aber auch, daß er solche Risiken trägt. Im übrigen gehört die Gruppe, die sich auf Veredelungen spezialisiert hat, zur der Gruppe mit dem höchsten Einkommen überhaupt. Vor zwei Jahren waren die Schweinepreise hoch, das Angebot war damals gering. Heute ist das Angebot groß, und die Preise sind niedrig. Hier funktioniert eben noch die Marktwirtschaft so, wie es in den Lehrbüchern steht. Herr Biedenkopf, der heute leider nicht da ist, müßte entzückt sein, daß seine ordnungspolitischen Vorstellungen hier zum Tragen kommen.
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter — ich hoffe auf Ihre Zustimmung —: Auch in anderen Bereichen der Landwirtschaft würden ein bißchen mehr Markt und ein bißchen weniger Staat sicher nicht schaden.Vielleicht sollte ich Sie einmal daran erinnern, was der bayerische Ministerpräsident, Herr Strauß, auf dem Bayerischen Bauerntag gesagt hat.
— Ich bestreite es ja gar nicht. Ich hoffe nur, Sie erkennen auch sein Streben nach Höherem an und unterstützen ihn dabei. — Er hat dort ein uneingeschränktes Bekenntnis zum freien Wettbewerb in der Landwirtschaft abgegeben. Er hat weiter gesagt, Produktion für Intervention lehne er ab. Wenn man das zur Kenntnis nimmt, muß man doch, so meine ich, feststellen, daß hier manches nicht in Ordnung ist, selbst auf dem Milchsektor. Es kann nicht in Ordnung sein, daß die Molkereien, die für die Intervention produzieren, höhere Auszahlungen gewähren als die, die sich um den Markt kümmern.Wir wissen natürlich auch, daß sich gerade in der Landwirtschaft die Grenzen der Marktwirtschaft zeigen. In manchen Regionen würde die Marktwirtschaft zu einem Verdrängungswettbewerb und zu weiterer Entleerung des ländlichen Raumes auf Grund der Marktferne und auf Grund der langen Verkehrswege führen. Weil wir das nicht wollen, mußten andere Wege gesucht, sprich: staatliche Hilfen angeboten und geleistet werden. Das ist bisher auch geschehen, aber trotzdem gibt es natürlich Probleme, z. B. die großen innerlandwirtschaftlichen Einkommensunterschiede. Weil das so ist, muß sich die staatliche Förderung noch stärker als bisher an der Bedürftigkeit der Betriebe orientieren. Wir unterstützen deshalb die Verschärfung der Prosperitätsklausel in vollem Umfang, die Sie, Herr Minister, gestern auch angesprochen haben.Im Hinblick auf die Milchüberschüsse halten wir auch .die Begrenzung der Förderung bei Milchviehinvestitionen auf 60 Kühe für richtig. Ihr Vorschlag, Herr Minister, auf 50 Kühe zu gehen, wäre sicher noch besser. .
Zu prüfen wäre auch, ob die besonderen Vergünstigungen für Grönlandbetriebe nicht an einen höheren Grünlandanteil als bisher geknüpft werden sollten. Für Betriebe, die keine Alternativen haben, wären Sonderregelungen anzustreben und sicher auch denkbar. Wir halten diese Überlegungen für notwendig, wenn man bedenkt, daß die Produktivität je Kuh von Jahr zu Jahr um rund 100 Kilogramm zunimmt. Um diesen Produktivitätszuwachs auszugleichen, müßten jährlich 100 000 Milchkühe geschlachtet werden — besser gesagt: der Milchkuhbestand müßte um 100 000 vermindert werden —, ohne daß sich an der Produktipnsmenge auch nur etwas ändert. In der EG wären es sogar 500 000 Stück.Jetzt wird auch verständlich, daß trotz der Abschlacht-, Nichtvermarktungs- und Umstellungsak-Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März. 1979 11445Müller
tion die Milchproduktion weiter steigt. Daß wir die Produktivitätsgrenze noch lange nicht erreicht haben, zeigen uns die Leistungen — Herr Kiechle, Sie wissen es — z. B. im Allgäu oder auch in ausländischen Staaten. Deshalb sind auch weitere Maßnahmen erforderlich. Und wenn Herr Kiechle meint, die Bundesregierung habe hier versagt, so muß ich ihn doch fragen, ob er hier eine nationale Lösung anstrebt. Wir sind der Meinung, das Überschußproblem ist ein Gemeinschaftsproblem und ist nur auf Gemeinschaftsebene zu lösen.
Radikalkuren, die zwar diese Überschüsse beseitigen könnten, dabei aber den Landwirten, besonders denen ohne Alternative, die Existenzgrundlage entziehen würden, lehnen wir ab und wird auch die Bundesregierung nicht zustimmen.Hilfen könnte man sich auch im Export vorstellen, obwohl das sehr, sehr schwierig ist. Das wissen Sie. Aber ich bin der Meinung, Brüssel muß sich weiterhin um einen günstigeren Agraraustausch mit den USA, z. B. im Rahmen des GATT, bemühen. Es ist heute schon erwähnt worden, daß die Futtermittel, die abgabenfrei aus den USA importiert werden, mit zu den Überschüssen beitragen. Da ist es nur recht und billig, von den Amerikanern zu verlangen, daß sie ihre Importbeschränkungen für Milchprodukte abbauen.Der Vorwurf des Agrarprotektionismus ist schon angesichts der Zahlen nicht haltbar. So exportierten die Amerikaner im Jahre 1977 Agrarprodukte für rund 7 Milliarden Dollar in die EG, importierten aber nur für 1,4 Milliarden Dollar. Ich bin der Meinung, mit beiderseitigem gutem Willen und mit viel Geduld müßte doch eine bessere Lösung zu erzielen sein — ich sage: mit viel Geduld.Sorgen bereitet uns darüber hinaus natürlich auch noch das Nord-Süd-Gefälle. Es ist nicht nur ein Betriebsgrößen-, sondern auch ein Einkommensgefälle. Die Agrarstrukturpolitik hat zwar durch den Strukturwandel einen erheblichen Beitrag zur Einkommenssteigerung in der Landwirtschaft geleistet, aber weder der Agrarbericht noch der Agrarstrukturbericht läßt erkennen, daß dieses Gefälle bisher hätte vermindert werden können. Deshalb ist die leichte Mittelverschiebung in der Gemeinschaftsaufgabe zugunsten der schwächer strukturierten süddeutschen Staaten — bei allem Verständnis für die Kritik — nicht nur vertretbar, sondern auch wünschenswert.Die Agrarpolitik muß von der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik fordern, daß sie Ungleichgewichte in der Infrastrukturversorgung der ländlichen Gebiete weiter abbaut. Die Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes hat dazu schon einen großen Beitrag geleistet.Die im Rahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe bereitgestellten Mittel sind nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Investitionstätigkeit in ländlichen Gebieten, sondern sie stärken auch die allgemeine Wirtschaftskraft. Deshalb ist es eine Irreführung der Öffentlichkeit, wenn staatliche Aufwendungen fürAgrarstrukturverbesserungen allein als Subventionen für Landwirte hingestellt werden.
Denn diese Maßnahmen helfen, die Investitionstätigkeit, die Beschäftigung und das Einkommen in ländliche Gebieten zu sichern. Sie verbessern auch die Wohnsituation dieser Gemeinden und erhöhen den Freizeitwert dieser Regionen. Wir unterstützen deshalb die Initiative der Bundesregierung, im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe die überbetrieblichen Maßnahmen stärker zu betonen. Damit wird den Gegebenheiten der strukturschwachen Regionen besser Rechnung getragen.Wir fordern die Bundesregierung auf, bei den Ländern darauf hinzuwirken, daß Naturschutz und Landschaftspflege deutlicher als bisher besonders berücksichtigt werden. So steht es in der Entschließung zum letzten Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe. Sicher werden auch in Zukunft wasserwirtschaftliche Maßnahmen und die Flurbereinigung notwendig sein. Aber wir bitten die Landwirte um Verständnis, wenn nicht jeder Tümpel trockengelegt, nicht jede Hecke aus Wirtschaftlichkeitserwägungen gerodet und nicht jeder Baum in der freien Landschaft gefällt werden kann.
Rationalisierung, arbeitssparende Zusammenlegung für den Einsatz großer Maschinen sind berechtigte Forderungen. Aber im Einzelfall muß die Erhaltung einer gesunden Umwelt, müssen Natur-, Pflanzen- und Tierschutz Vorrang haben, muß die Erhaltung der natürlichen Beziehungen im Gesamthaushalt der Natur noch stärker als in der Vergangenheit berücksichtigt werden.Vor nicht zu langer Zeit galt uns die Natur als unerschöpflich und unzerstörbar. Heute wissen wir — und Beispiele zeigen uns —, wie verletzlich die Natur ist. Deshalb dürfen wir nicht alles tun, wozu wir technisch in der Lage sind oder was die Ökonomie fordert.Auch der Planungsausschuß hat festgestellt — ich darf zitieren —:Maßnahmen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe sollen die Erfordernisse von Umweltschutz, Naturschutz und Landschaftspflege berücksichtigen. Bei allen wasserwirtschaftlichen Maßnahmen sollen die landschaftsökologischen Werte eines Raumes grundsätzlich erhalten oder verbessert werden.Wir wissen auch — vorhin ist es schon erwähnt worden —, daß ordnungsgemäße Landbewirtschaftung — die Betonung liegt hier auf „ordnungsgemäße" — und Naturschutz sich nicht widersprechen. Zu einem zufriedenstellenden Ergebnis wird man aber nur kommen, wenn die Betroffenen — Gesetzgeber, Naturschützer, Landwirte — aufeinander zugehen, die Probleme erörtern und gemeinsam nach Lösungen suchen. Vieles ist schon besser geworden, aber es bleibt noch manches zu tun, um auch künftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt zu erhalten.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paintner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn .man auf Grund der nun hier verlaufenen Debatte der Meinung sein kann, daß so eine Debatte mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung unserer Bürger und Landwirte dient, dann bin ich froh, daß ich hier noch einiges dazu sagen darf.„Verwirrung" sage ich deshalb, weil unser Kollege Schmidt und auch der Kollege Dr. Ritz einiges ausgeführt haben, was sicherlich grundsätzlich zu unterstreichen ist. Aber dann ist von „Täuschungsmanövern" und von der „mangelnden Führungskraft" — gerade im Tierschutzbereich — bezüglich Josef Ertl die Rede. Da bin ich der Meinung, daß man einiges richtigstellen muß.Unser Kollege Ignaz Kiechle meint, daß die Milchsuppe am Anbrennen sei. Dazu möchte ich ihm nur sagen, daß er sich hier überhaupt keine Sorge zu machen braucht.
Hier werden wir Feuerwehr spielen, damit sie nicht anbrennt, und unser Bundesminister Josef Ertl wird den Hauptmann machen.
Diese Sorgen können Sie sich sparen. Die Bauern wissen, was los ist.Ignaz Kiechle verwies auf die Nullpreisanhebung auf EG-Ebene und auf das, was Schorsch Gallus irgendwo dazu gesagt haben soll. Ich sage Ihnen nur: Sicherlich ist es so, daß sich Georg Gallus als Staatssekretär- Sorgen macht, weil der Preis nur über den Markt gehalten werden kann und sonst über gar nichts. Da können Sie die Preise zwanzigmal anheben, wenn es der Markt nicht hergibt, dann gibt es eben keinen besseren Preis.
Man könnte über diese Frage eine Stunde lang reden, aber das will ich nicht. Auch ich bin natürlich wie mancher meiner Vorredner erfreut. Und wir sollten nicht von morgen und übermorgen reden, sondern vielmehr von gestern; denn der Agrarbericht ist nicht ein Bericht für morgen, sondern für heute oder, wenn Sie so wollen, für gestern.
Deshalb sollten wir heute nicht schwerpunktmäßig über das Morgen diskutieren, wo wir sicherlich auch unsere Sorgen haben werden. Das tun wir dann nächstes Jahr.
Ich bin mit dem Ergebnis .von 1977/78 sehr zufrieden. Wir hatten einen Anstieg des Reineinkommens je Familienarbeitskraft im Durchschnitt der Vollerwerbsbetriebe um 10,3 % auf 24 084 DM. Das kann sich sehen lassen. Auch das Gesamteinkommen je Familienarbeitskraft, bezogen auf alle sozialökonomischen Betriebsgruppen, ist angestiegen. Die Vollerwerbsbetriebe erreichten ein Gesamteinkommen je Familie von durchschnittlich 31 856 DM. In den Zuerwerbsbetrieben wurde ein Gesamteinkommen von 21 689 DM je Familie erzielt. Aus dem landwirtschaftlichen und außerlandwirtschaftlichen Erwerbsbereich resultierte eine Steigerung von 15,6 °/o gegenüber dem Vorjahr. Trotz dieser Steigerung blieb aber das Gesamteinkommen der . Zuerwerbsbetriebe wesentlich hinter dem der Vollerwerbsbetriebe zurück. Die größeren Nebenerwerbsbetriebe konnten eine Zunahme des durchschnittlichen Gesamteinkommens um 7,4 °/o auf 35 192 DM erzielen. Das Gesamteinkommen der kleineren Nebenerwerbsbetriebe betrug 1977/78 durchschnittlich etwa 27 284 DM je Familie.Auch die Einkommensentwicklung im Weinbau — ich sage gleich von vorherein, daß ich hiervon überhaupt nichts verstehe —
braucht man nicht zu verstecken. Mit 10,4 Millionen Hektolitern übertraf die Weinmosternte 1977 die des Jahrgangs 1976 um 20 °/o, allerdings bei insgesamt schlechterer Qualität.
Nur etwa 15 °/o — 1976 waren es noch 66 % — der eingebrachten Weinmostmenge eignete sich für die Herstellung von Prädikatsweinen.Ich meine, daß diese Ergebnisse sicherlich nicht bejubelt werden sollten.
Es kommt einem Landwirt nicht zu, hier hochzustapeln, ganz im Gegenteil.
Aber den Landwirten, die meinen, daß es ihnen besonders schlecht geht und denen das auch manchmal von der Opposition einzureden versucht wird, möchte ich sagen, daß das Einkommen je Fämilienarbeitskraft 1968/69 bei 12 050 DM lag, während es heute 24 084 DM beträgt.
— Darüber können wir lange reden.
Die Zahl der Vollarbeitskräfte in der Landwirtschaft verringerte sich um 1,9 °/o. Auch dies muß, so meine ich, in eine Wertung der Einkommensverbesserungen mit einbezogen werden, nachdem in der früheren Jahren 50 % der Einkommensverbesserungen aus dem Strukturwandel resultierten.Auch die Investitionen der Landwirte nahmen 1977/78 nochmals kräftig zu. Das gesamte Bruttoanlagevermögen — einschließlich der Viehbestände — belief sich auf 9,24 Milliarden DM. Das waren 12,1 °/o mehr als im Vorjahr. Uns allen ist bekannt,
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Paintner daß in keinem Bereich so schnell investiert wird wie in der Landwirtschaft, wenn etwas verdient wird.
Diese Investitionstätigkeit ist sicherlich ein Maßstab für die gute Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft.
Für den agrarsozialen Bereich stellte der Bund 3,15 Milliarden DM zur Verfügung, fürwahr eine Leistung, die immer wieder hervorgehoben werden muß. Denn wissen Sie, Gutes wird immmer zu schnell vergessen.
Erlauben sie mir bitte, noch einige Punkte herauszustellen, um das Bild der Leistungen abzurunden. Im Haushaltsplan sind für 1979 im Einzelplan 10 Ausgaben von 6,23 Milliarden DM vorgesehen. Das entspricht einer Steigerung von 2,3 °/o gegenüber dem Vorjahr. Einschließlich der in der Bundesrepublik Deutschland anfallenden EG-Marktordnungsausgaben, die seit 1972 unmittelbar aus dem EG-Haushalt finanziert werden und der deutschen Landwirtschaft in Form einer Preis- und Absatzgarantie zugute kommen, ergibt sich eine Steigerungsrate von 19,7 °/o. Wie spärlich sind dagegen im Vergleich die Agrarhaushaltsansätze in den Ländern,
etwa in Bayern. Um meine Landsleute hier nicht zublamieren, nenne ich nicht einmal die Zahlen; soanständig bin ich.
Wenn mein Kollege Peters mit Recht auf die Sorgen bezüglich der Beseitigung von Überschüssen hingewiesen hat, so muß, glaube ich, gerade in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen werden: Agrarpolitik ist Politik für alle, Agrarpolitik ist Politik für den Verbraucher,
zur Ernährungssicherung, zur Erhaltung der Kulturlandschaft, und Agrarpolitik ist Politik für alle Bürger im ländlichen Raum, für die Land- und Forstwirtschaft sowie für die Fischerei und die Imkerei.
Ich sage Ihnen, die Agrarpolitik unter Minister Josef Ertl hat nicht nur die Landwirtschaft an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilnehmen lassen
— es sind doch nur Neidkomplexe, was Sie da haben! —,
sie hat auch den Verbraucher mit guten, ausreichenden und preiswerten Nahrungsmitteln versorgt.
Sie hat die Umwelt verbessert und die Kulturlandschaft erhalten.
Der Preis für die Ernährungssicherung und die Erhaltung der Kulturlandschaft war der Schweiß unserer Bäuerinnen und Bauern und aller Beschäftigten, die mit der landwirtschaftlichen Produktion zusammenhängen. Da sind z. B. allein im Bereich der Milch rund 800 000 Beschäftigte, und auch das sollte man einmal sehen, auch das ist eine volkswirtschaftliche Zahl, und die ist bei unseren Verbrauchern sicherlich gut zu verkaufen, wenn man weiß, was 800 000 Arbeitsplätze in dieser Bundesrepublik Deutschland wert sind.Es wurden 6 Milliarden DM für nationale Maßnahmen und 5,823 Milliarden DM 'für EG-Marktordnungen ausgegeben. Bei etwa 60 Millionen Einwohnern in der Bundesrepublik Deutschland — ich weiß, daß es heute 58 Millionen sind — bedeutet das — das möchte ich ganz besonders auch einmal den Verbrauchern sagen — pro Tag ca. 60 Pfennige pro Kopf der Bevölkerung für die Ernährungssicherung und für die Erhaltung der Kulturlandschaft. Dies ist der Preis, den der Bürger, den der Steuerzahler zu zahlen hat. Die Überschüsse sind sicher ernst zu nehmen, und darüber muß geredet werden, aber die Diskussion muß mit dem Bürger, mit dem Steuerzahler auch darüber geführt werden, was ihm die wichtigsten Grundbedürfnisse seines Lebens wert sind.
Die Probleme müssen kurz- und mittelfristig miteinander und nicht gegeneinander gelöst werden, und ich glaube, gerade die Landwirte müssen daran interessiert sein, daß sie ins Gespräch mit dem Verbraucher kommen und daß sie dabei verständlich werden. .500 Millionen der 4 Milliarden Menschen auf dieser Erde leiden unter akutem Hunger. Den Bundesminister Josef Ertl, die FDP-Fraktion und somit auch mich quält diese Sorge. Helfen auch Sie mit, langfristig Wege zu finden, um mit unseren Überschüssen den Hunger auf der Welt zu bekämpfen.Kurzfristig ist unsere größte Sorge, wie mein Kollege Peters angeführt hat, daß die Überschüsse uferlos werden und dadurch die Finanzierung in Frage gestellt wird. Hier muß gehandelt werden, und zwar schnell und richtig. Hier muß bei allem Verständnis für Europa — und wir sind sicher alle überzeugte Europäer — aber auch die nationale Lage einbezogen werden. Als Beispiel verweise ich nur auf die Überschußsituation bei Butter und Magermilch. Die Steigerung in der Butterherstellung betrug gegenüber dem Vorjahr auf der EG-Ebene im Durchschnitt 7 °/o, im Vereinigten Königreich 58 °/o, in Irland 17,5 °/o, in Belgien 7,8 °/o, in Italien 6,2 °/o und in Deutschland 2,6 °/o. Bei Magermilch beläuft sich die Steigerung im EG-Durchschnitt auf 8,9 °/o, im Vereinigten Königreich auf 53,3 °/o, in den Niederlanden auf 18,4 °/o, in Belgien auf 12 °/o, in Irland auf 11,6 °/o und in Deutschland auf 5,7 °/o. Hier muß mit unseren Partnern eine klare Sprache gesprochen werden. Dazu braucht man aber das
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Paintnernötige Fingerspitzengefühl, weil es auch hier einiges gibt, wo uns die Partner den Ball zurückspielen können.Hier wäre ein fruchtbares und sinnvolles Betätigungsfeld für Berufsverbände. Wie nützlich wäre ein Wirken der von mir so sehr geschätzten Präsidenten der Bauernverbände, auf COPA-Ebene die Landwirte durch sinnvolle Aufklärung zu bewegen,
z. B. auf dem Schweinesektor lieber 6 °/o weniger als 5 % mehr zu erzeugen. Allen wäre geholfen. Der Landwirt bekäme mehr Geld. Die Präsidenten und die Funktionäre bräuchten nicht in unzähligen Versammlungen und Kundgebungen die schlechte Lage und den zuständigen Minister innerhalb der verantwortlichen Regierung anzuklagen.
Im vorliegenden Fall bräuchten sie sich ehrlich einmal nicht mit fremden Federn zu schmücken und sie könnten in aller Öffentlichkeit sagen: Wir, die Präsidenten, und wir, die Verbände, waren es, die der deutschen Landwirtschaft geholfen haben. Unserem Minister und dieser Regierung wäre ebenfalls viel Ärger erspart.
— Ich muß jetzt zum Schluß kommen. Ich hätte noch ein Wort zur Jugend zu sagen. Ich möchte es aber
ungesprochen lassen, weil das nicht mehr möglich ist.Zum Schluß möchte ich hervorheben: Wir sind stolz auf die Leistungen unserer Landwirte und auf die Leistungen unserer Bundesregierung mit Minister Josef Ertl.
Auch der vorliegende Agrarbericht beweist wieder, daß wir mit unserer Agrarpolitik auf dem richtigen Weg sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schartz.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Der Herr Kollege Paintner hat die Präsidenten der Bauernverbände angesprochen. Ich bin einer. Herr Kollege Paintner, ich würde es begrüßen, wenn es möglich wäre, die Meinungen der Präsidenten der deutschen Bauernverbände in die praktische Politik umzusetzen. Nur, Herr Kollege Paintner, es kann nicht so sein, daß der Deutsche Bauernverband herhalten muß, wenn die Regierung nicht in der Lage ist, Fakten einzusehen und zu entscheiden. Es kann nicht so sein, daß man nur in schwierigen Situationen die Berufsverbände sucht und in weniger schwierigen Situationen nicht.Ich meine, meine Damen und meine Herren, ich sollte, ehe ich zu der aktuellen deutschen Agrarpolitik komme, etwas über die Europäische Gemeinschaft sagen; denn sie ist ein Faktum. Die Europäische Gemeinschaft ist aus einer großen Idee entstanden. Die Politik hat diese Idee in die Tat umgesetzt. Ich habe — lassen Sie mich das als Bauer einmal sagen — manchmal den Eindruck, als ob die Politik nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft abgetreten sei und ihr Feld der Administration in Agrareuropa überlassen habe. Die Politik hat sich entschieden, Europa nur in einem Teilbereich der Wirtschaft, nämlich dem Gemeinsamen Agrarmarkt, bestehen zu lassen. Die Politik hat bis zum heutigen Tage nicht die Kraft gehabt, Europa auf andere Bereiche der gesamten Wirtschaft weiterzuentwickeln. Die Politik überläßt den Bauern die Last des gemeinsamen Europa und überläßt im übrigen auch den Bauern die Last der öffentlichen Diskussion über Marktordnungsausgaben und ähnliche Dinge.Ich meine, es ist ein Symptom für das heutige Agrareuropa, daß in vielen Fällen die Vorschläge der EG-Kommission erst dann im zuständigen Fachausschuß des Deutschen Bundestages auftauchen, wenn sie durch Beschluß des Ministerrates längst geltendes Recht geworden sind. Die Vertretung des Deutschen Volkes, der Deutsche Bundestag, hat also gar nicht die Möglichkeit, seine Meinung zur Gestaltung der Politik vorzutragen. Die Politik bedient sich, weil sie in weiten Bereichen der schwierigen Agrarpolitik nicht den Mut hat, Entscheidungen zu fällen, der Administration, um diese Entscheidungen vorzubereiten. Aber, meine Damen und Herren, Administration kann nie Gestaltung bringen. Administration kann nie Originalität und Fortbewegung bringen. Administration neigt immer zum Schematisieren und setzt Gleichheit vor die Individualität. Die Individualität ist jetzt gefordert, um Europa fortzuentwickeln.
Der Agrarpolitik in Europa fehlen, meine ich, die Impulse, ,die die Politik zu geben hat. Gerade das, was der Bundesernährungsminister gestern hier vorgetragen hat, war für mich eine tabellarische Aufzeilung der Probleme; das waren nicht die Impulse, Herr Minister Ertl. Ich frage Sie: Wo ist die Lösung, wo sind die Vorstellungen der Regierung für die Lösung des Problemes Milch? Es war ja bezeichnend, daß der amtierende Staatssekretär dieser Regierung eben danach gefragt hat, wo denn die Vorschläge der Opposition seien. Die hat mein Kollege Kiechle vorgetragen. Ich frage: Wo sind die Vorstellungen der Regierung? Denn sie hat zu regieren.
Es kann nicht so sein, daß die Regierung nur von Problemen spricht und keine Lösungsvorschläge für diese Probleme vorträgt. Wo sind ihre Lösungsvorschläge für Milch, für Wein, für Fleisch, für Getreide und für ähnliche Dinge?
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Schartz
Ich meine, es ist eine böse Entwicklung, daß wir in Europa so weit gekommen sind, daß die wirklich politischen Entscheidungen in Europa in den ominösen Nachtsitzungen des Ministerrates getroffen werden, wo es weniger um ,die Sachbezogenheit der Entscheidung geht und mehr um das Sitzfleisch der Teilnehmenden, wo es um ihre physische und psychische Leistungsfähigkeit geht, wo es darum geht, in einer Art Feilschen um Viertelprozente Vorteile für den einen oder den anderen herauszuhandeln, wo es darum geht, daß der eine — je nachdem, ob in seinem Lande eine Wahl ansteht oder wie die Macht der Landwirtschaft in seinem Lande ist — für sich ein Tauschgeschäft um Rinder, um Schweine, um Wein einbringt oder der andere eines um Maschinen und um Getreidesubstitute.Ich meine — und ich sage dies gar nicht in die Richtung einer bestimmten politischen Gruppierung —, Europa fehlen die Impulse. Und den Bauern in Europa fehlt die erkennbare Linie der Politik, nach der sie ihre eigene Zukunft ausrichten sollen.
— Ich bin fest überzeugt, Herr Kollege Schäfer, daß es wirklich so ist. Fragen Sie die Bauern in Europa, wo denn eigentlich das Ziel ist, das sie erreichen sollen. Dieses Ziel setzt man ihnen zwar immer wieder neu vor;
aber Tatsache ist, Herr Kollege Schäfer, daß es ein Ziel ist, das sich von den Bauern fortbewegt. Die Bauern versuchen, es zu erreichen; aber das einzige, was sie erreichen können, ist, ,daß die Distanz nicht wesentlich größer wird. Aber erreichen haben sie es bisher noch nicht können.Ich möchte etwas zur Strukturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland sagen. Ich bin ganz sicher der letzte, der dem amtierenden Bundesminister vorhalten würde, er habe nur falsche agrarpolitische Entscheidungen getroffen. Das wäre auch keine rechte und gerechte Beurteilung Ihrer Arbeit, Herr Bundesminister Ertl. Ich meine aber, daß Sie einen entschedenden Fehler in die deutsche Agrarpolitik sich haben einschleichen lassen, als Sie die Zuständigkeit für die Agrarstrukturpolitik von der nationalen auf die Ebene der EG übertrugen.
Das BML selbst hat erklärt, daß diese Abgabe der Zuständigkeit den Entscheidungsspielraum der nationalen Regierungen einenge. Das bedeutet doch wohl, daß wir im nationalen Bereich nicht mehr das tun können, was richtig und was geboten wäre.Ich meine, daß uns diese Abgabe der Zuständigkeit dazu gezwungen hat, unsere Agrarpolitik nach einer gemeinsamen Strukturrichtlinie auszurichten. Es ist eh schwer genug, eine gemeinsame Strukturpolitik von Sizilien bis nach Dänemark durchzuführen. Es ist aber letztlich unmöglich — das hat mein Kollege. Ritz für meine Begriffe heute morgen ganz richtig dargestellt —, eine gemeinsame Strukturpolitik durchzuziehen, wenn es uns nicht gelingt, daßalle Beteiligten in dem vereinigten Europa diese Strukturrichtlinie auch wirklich anwenden.Diese Strukturrichtlinie ist 1972 beschlossen worden. Wenn ich richtig informiert bin, haben die Franzosen sie erst 1976 in Kraft gesetzt. Wenn ich es richtig weiß, sind die Italiener heute noch nicht dabei, alle Teile dieser Richtlinie anzuwenden. Burkhard Ritz hat richtig zitiert: Die Holländer scheren sich keinen Deut darum, was dort steht; sonst könnte es ja wohl nicht sein, daß dort rund 50 % an Zuschuß für landwirtschaftliche Betriebsgebäude gegeben werden.Ich meine, wir sollten erkennen, daß wir uns in Europa von der Schwierigkeit der Produktion in die Schwierigkeiten des Marktes bewegen. Das, was wir heute an der deutsch-französischen Grenze um den Grenzausgleich erleben, ist in ,der letzten Konsequenz ein Kampf um den Markt, um den Agrarmarkt in Europa.Ich will noch auf etwas hinweisen. Ich habe eben gesagt, die Holländer zahlen 50 % Zuschuß für ihre Landwirtschaft. Wir haben dagegen ein einzelbetriebliches Förderungsprogramm, das unsere Bauern nicht erreicht. Ich will das erhärten an Zahlen, die ich aus offiziellen Mitteilungen der Bundesregierung und meines Landes Rheinland-Pfalz habe. Noch im Jahre 1969, also vor der Abgabe der Zuständigkeit, wurden in der Bundesrepublik Deutschland 31 535 Betriebe gefördert. 1976 waren es nur noch 6 237. In meinem Heimatland, im Lande Rheinland-Pfalz, wurden bei einer Gesamtzahl von 79 000 landwirtschaftlichen Betrieben, von denen 37 000 hauptberuflich bewirtschaftet werden, im Jahre 1976 — das ist die letzte Zahl, die mir zur Verfügung steht — ganze 312 Betriebe nach dem einzelbetrieblichen Förderungsprogramm gefördert.Wir sehen, daß hier eine Wettbewerbsverzerrung existentieller Art in der Landwirtschaft Europas besteht. Wir müssen in der Politik dafür sorgen — das ist mein Appell an die Bundesregierung —, daß wir ein Programm entwickeln, das alle Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland erreicht. Das ist nicht das Problem der Prosperitätsklausel, das der Landwirtschaftsminister heute morgen angesprochen hat. Es ist das Problem der kleinen Betriebe, die wir mit unserem jetzigen Programm nicht erreichen. Nur weil sie klein sind, erhalten sie keine Förderung.Die Bundesregierung muß zur Kenntnis nehmen, daß der Hauptansatzpunkt ihres einzelbetrieblichen Förderungsprogramms, nämlich die Annahme, es gebe eine außerlandwirtschaftliche Alternative, in einer Zeit, in der wir 1 Million an arbeitslosen Mitbürgern haben, heute so nicht mehr stimmt. Wir können doch die Landwirtschaft nicht ihrem Schicksal überlassen und ihr keine außerlandwirtschaftliche Alternative bieten, ihr aber auch keine Hilfe für die weitere Existenz geben.Ich meine, es ist notwendig, daß wir für die Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ein Agrarkreditprogramm einführen, das allen Bauern, die Bauern sind und die wir aus einer Reihe von
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Schartz
Gründen auch als Bauern halten wollen, die Möglichkeit einer Hilfe gibt. Ich sage in der gebotenen Ehrlichkeit dazu: Herr Bundesminister Ertl, Sie haben gestern auf die Prosperitätsklausel und auf die Überproduktion in einigen Bereichen abgehoben. Ich sage für meine Person, daß ich ausdrücklich unterstütze, daß eine Obergrenze bei der offiziellen Förderung eingeführt wird.Nur darf ich den Hinweis hinzufügen: Wenn die Bundesregierung der Meinung ist, es muß ein Zielbetrieb von 60 Kühen erstellt werden — das Ziel sind die 60 Kühe —, dann ist die Bundesregierung, dann ist die Politik schlechthin auch dazu verurteilt, um der korrekten Behandlung dieses Bauern willen dafür zu sorgen, daß über die Agrarpolitik und über die Agrarpreispolitik die Wirtschaftlichkeit dieses Zielbetriebs erreicht und erhalten wird. Daran führt dann kein Weg vorbei.Lassen Sie mich in den wenigen Minuten Redezeit, die ich noch habe, einige Worte zum Bereich der Agrarsozialpolitik sagen. Ich will gern anerkennen, daß alle Fraktionen dieses Hauses sich seit langer Zeit darum bemüht haben, die agrarsoziale Lage der deutschen Bauern wesentlich zu verbessern. Es ist nicht so, wie der Bundeskanzler sagt — aber der versteht ja auch nichts von diesen Dingen —, daß die Agrarsozialpolitik erst mit der sozialliberalen Koalition ins Leben gerufen worden wäre. 1957 ist das grundlegende Gesetz für die Sicherung der Bauern geschaffen worden. Alle Fraktionen dieses Hauses haben die Agrarsozialpolitik weiterentwikkelt. Es ist, wohl anzuerkennen, daß viele öffentliche Mittel in diesen Bereich fließen.Ich darf mir aber erlauben, darauf hinzuweisen, daß jetzt noch keinesfalls der Wohlstand bei den Bauern ausgebrochen ist. Das bäuerliche Ehepaar erhält nach Vollendung des 65. Lebensjahres zur Zeit eine Rente von 416 DM. Der alleinstehende ehemalige Bauer erhält 277 DM im Monat. Es ist also nicht so, als ob der Wohlstand ausgebrochen wäre.. Wir sind alle aufgerufen, die Agrarsozialpolitik weiterzuentwickeln.Nur meine ich: Das Problem Nummer eins der modernen Agrarsozialpolitik muß die Einführung einer Witwenrente für die bäuerliche Witwe sein.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion dieses Hauses hat im November 1977 den Entwurf für ein Witwengeld in diesem Hause vorgelegt. Die Bundesregierung hat vor wenigen Wochen den Entwurf für ein zweites agrarsoziales Ergänzungsgesetz ebenfalls dem Parlament vorgelegt. Ich habe nicht die Zeit, die beiden Gesetzentwürfe zu bewerten. Ich will nur die grundlegenden Unterschiede herausstellen.Die CDU/CSU ist der Meinung, daß an die Witwe eine monatliche Rente in Höhe von zur Zeit 277 DM bei gleichzeitiger Weiterbewirtschaftung des Betriebs gezahlt werden sollte. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß diese 277 DM nur gewährt werden sollten, wenn die Witwe ihren Betrieb entweder verkauft oder verpachtet, und zwar mindestens auf einen Zeitraum von neun Jahren verpachtet.Die CDU/CSU, ist der Meinung, daß man diese Rente bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres eines versorgungsberechtigten Kindes gewähren sollte. Die Bundesregierung greift willkürlich in die Alterstatbestände ein und sagt: 15 Jahre. Es gibt kein ernstzunehmendes deutsches Agrargesetz, bei dem man willkürlich diese Zahl von 15 Jahren genommen hat.Meine Damen und Herren, ich erkläre hier: Sie werden in der Diskussion um dieses Gesetz eine große Bereitschaft der CDU/CSU finden, eine Lösung zu erreichen, die für alle tragbar ist. Aber ich darf hinzufügen: Täuschen Sie sich nicht über den Widerstand, den die CDU/CSU leisten wird, wenn es darum geht, als Voraussetzung für 277 DM im Monat die Aufgabe der wirtschaftlichen Existenz zu verlangen. Dort werden wir widerstehen. Wir werden dort nicht mitmachen.
— Bitte geben Sie mir noch zwei Minuten; ich will zum Schluß kommen.In der Landwirtschaft herrschen Unruhe und Depression, weil die Bauern immer wieder von Überproduktion, von Kosten des Agrarmarkts hören müssen. Ich meine, wir sollten sehen, daß die Bauern sich letzten Endes durch die Konzeptionslosigkeit der Politik schlechthin verunsichert fühlen. Ich meine, wir wären alle aufgerufen, eine neue Konzeption mit Mut und mit Weitsicht für die Agrarpolitik und die Bauern zu entwickeln.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wimmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Agrarsozialpolitik der letzten Jahrzehnte verfolgt, dann ist sicherlich festzustellen, daß gerade seit 1969 ein wesentlicher Fortschritt in der Agrarsozialpolitik erreicht worden ist.
Auch im jetzigen Bericht kommt zum Ausdruck, daß im letzten Jahr mit einem Ansatz mit 3,15 Milliarden DM auch wieder ein ganz großer Teil in dieser Agrarsozialpolitik angelegt wurde. Die Entwicklung der Mittelansätze für die Agrarsozialpolitik läßt die außerordentliche Bedeutung dieses Bereiches in der Agrarpolitik erkennen. Die Zuschüsse für die Krankenversicherung, die Altershilfe für Landwirte, die Landabgaberente erhöhen sich auch 1979 beträchtlich allein auf Grund der gesetzlichen Verpflichtungen. An die Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung wird auch 1979 genauso wie im letzten Jahr, ohne daß dafür eine gesetzliche Grundlage besteht, ein Bundeszuschuß von 400 Millionen DM gewährt.Noch in diesem Jahr wird mit dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Verbesserung und Ergänzung sozialer Maßnahmen in der Landwirtschaft eine
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Wimmer
Lücke• im agrarsozialen Sicherungssystem geschlossen. Wir lösen also auch in diesem Jahr die Zusage, die wir gegeben haben, auf jeden Fall ein. Ich möchte zu dem Gesetzentwurf, der dieses Problem neben anderen einer Lösung zuführt, einige Bernerkungen machen.Mit der vorgesehenen Regelung der Hinterbliebenenversorgung für jüngere Witwen und Witwer, d. h. der Ehegatten von landwirtschaftlichen Unternehmern, die das 60. bzw. 65. Lebensjahr noch nicht erreicht und damit noch keinen Altersgeldanspruch nach dem Gesetz über die landwirtschaftliche Altershilfe haben, wird in dem zweiten agrarsozialen Ergänzungsgesetz ein pragmatischer Weg beschritten. Die Ausgestaltung der Hinterbliebenenversorgung orientiert sich an der Höhe des Hinterbliebenengeldes mit der Einbeziehung der Frage der Hofabgabe sowie der Finanzierung der entsprechenden Aufwendungen und Regelungen, die auch für die landwirtschaftliche Altershilfe, zu der die neue Maßnahme in einem engen Zusammenhang steht, tatsächlich kennzeichnend sind. Besonders aus diesen Gründen hat der Gesetzentwurf auch Kritik von wissenschaftlicher Seite erfahren.Ich meine aber auch, daß der neue Gesetzentwurf eine Reihe von Elementen enthält. Ich denke hierbei an die vorgesehene Regelung, daß der hinterbliebene Ehegatte eine Hinterbliebenenrente erhalten soll, wenn ein Kind unter 15 Jahren zu erziehen ist. Ebenso soll diese Hinterbliebenenrente gewährt werden, wenn der Berechtigte mindestens 45 Jahre alt ist und eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, mit der ein bestimmtes Arbeitseinkommen erreicht wird, auf Grund des Alters oder der beruflichen Fähigkeiten nicht mehr zugemutet oder nicht mehr erwartet werden kann.In der Begründung zu dem Gesetzentwurf wird auch darauf hingewiesen, daß die vorgeschlagenen Regelungen keine Präjudizierungen der für 1984 vorgesehenen Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung und des darüber hinausgreifenden Problems der Ausgestaltung der sozialen Sicherung der Frau enthalten. Die Schließung einer Lücke in dem vorhandenen sozialen Sicherungssystem für die Landwirtschaft wird in einer Form angestrebt, die eine Weiterentwicklung offenläßt. Die Frage der Weiterentwicklung stellt sich generell auch für die Altersversorgung in der Landwirtschaft. Wir haben in der Vergangenheit schon mehrfach darauf hingewiesen. Die Agrarsozialpolitik ist insbesondere, auch soweit sie die Alters- und Hinterbliebenenversorgung der in der Landwirtschaft tätigen Menschen betrifft, ein fester Bestandteil der Agrarpolitik und dient dazu, unzumutbare Härten auszugleichen, die sich aus dem Strukturwandel ergeben. Die strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft führen jedoch zu einem Verhältnis von aktiver Erwerbsbevölkerung, die für die soziale Sicherung Rücklagen bilden kann, und Leistungsempfängern, welches einen Ausgleich von Beiträgen und Leistungen im Sinne eines Generationenvertrages, wie es in der übrigen Sozialversicherung der Fall ist, nicht ermöglicht.Ich meine auch, daß die beiden letzten Punkte im Entschließungsantrag, die die Wahlfreiheit eröffnen sollten, wo sich jemand versichert, die Solidargemeinschaft noch mehr zusammenschrumpfen lassen. Deshalb sind diese beiden Punkte auch nicht geeignet.
Auch in der Zukunft werden deshalb Bundeszuschüsse zu den Kosten der Agrarsozialpolitik erforderlich sein. Ich glaube aber, wir müssen auch der landwirtschaftlichen Bevölkerung stärker bewußt machen, daß sie von der Gesellschaft nur in dem Maße Solidarität und Unterstützung erwarten kann und erhält, wie sie selbst dem Prinzip der Solidargemeinschaft durch eigene Anstrengungen Geltung verschafft .und dabei insbesondere auch die Situation der Familien mit geringeren landwirtschaftlichen Einkommen berücksichtigt.Zur landwirtschaftlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung und auch zu anderen Bereichen der Agrarsozialpolitik will ich an dieser Stelle nicht mehr sagen. Wir werden ja sicherlich in absehbarer Zeit sehr intensiv darüber diskutieren müssen, wie die Leitlinien für eine Weiterentwicklung in der Agrarsozialpolitik aussehen werden. Ich bin der Auffassung, daß dabei das Prinzip der Selbstverwaltung nicht angetastet zu werden braucht. Es muß dabei aber auch der Blick über den Zaun auf die Entwicklung bei der sozialen Sicherung der übrigen Arbeitnehmer, ihrer Hinterbliebenen und insbesondere auch auf die Bemühungen um eine bessere Sicherung der Frauen verstärkt werden. Es wäre zum Schaden der in der Landwirtschaft tätigen Menschen, wenn sich die Formen ihrer sozialen Sicherung immer weiter von denen, wie sie in der übrigen Gesellschaft maßgeblich sind, entfernen. Wir dürfen nicht dazu beitragen, daß ein Sozialwerk für die Landwirtschaft entsteht, das mit den sozialrechtlichen Regelungen, wie sie für die übrige Bevölkerung gelten, nur noch lose Berührungspunkte hat. Die Regelung der Hinterbliebenenversorgung für die jüngeren Witwen und Witwer in der Landwirtschaft war ebenso wie die Einbeziehung der Unternehmer der Fischerei und der Imker in das System der sozialen Sicherung erforderlich. Ich begrüße es außerordentlich, daß die Bundesminister für Arbeit und für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten jetzt einen gangbaren Weg gefunden haben.Ich möchte noch einige Bemerkungen zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung machen. Im Jahre 1977 haben wir zusammen mit der FDP im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten einen Entschließungsantrag eingebracht, mit dem die Bundesregierung ersucht wurde, in der landwirtschaftlichen Sozialpolitik dafür einzutreten, daß die Möglichkeiten der innerlandwirtschaftlichen Solidarität mehr als bisher ausgeschöpft werden. Sie wurde insbesondere aufgefordert, darüber zu berichten, welche Beitragsbelastungen sich aus der Unfallversicherung für die Betriebe ergeben und wie eine sozial gerechtere Verteilung der Bundesmittel vorgenommen werden könnte. Inzwischen hat die Bundesregierung im November 1978 einen Bericht zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung vorgelegt. Wir meinen, daß es in erster Linie die Aufgabe der Träger der Unfallversicherung sowie
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Wimmer
des Bundesverbandes der Berufsgenossenschaften gewesen wäre, Überlegungen anzustellen, wie der Aufforderung der Parlamentarier in der Praxis entsprochen werden kann. Ansätze, die es hier und da gegeben hat, sind anscheinend nicht sonderlich gepflegt worden. In der Stichprobenuntersuchung der Agrarsozialen Gesellschaft hatten die Betriebe mit einer Standardbetriebsgröße von bis zu 12 000 DM im Durchschnitt eine Beitragsbelastung von 3,2 %. Sie nimmt nach der ASG-Untersuchung mit zunehmender wirtschaftlilicher Größe und Einkommenkapazität der Betriebe ständig ab und erreicht in den Betrieben mit einem Standardbetriebseinkommen von mehr als 50 000 DM nur mehr 1,5 %. Jeder kann auf den ersten Blick erkennen, daß kleine Vollerwerbsbetriebe in den Gebieten mit ungünstiger Agrarstruktur, die eine Hilfeleistung dringend benötigen würden, von der Verwendung der Bundesmittel wenig spüren, während die Beitragssenkung für die großen Betriebe sicherlich interessant ist. Ich meine, daß wir diesen Tatbestand nicht länger stillschweigend hinnehmen sollten. Wenn sich der Bundesverband der Berufsgenossenschaften nicht wirklich bequemt, in eine ernsthafte Diskussion über dieses Problem einzutreten, und konkreten Vorschläge für eine in sozialer Hinsicht gerechtere Verteilung der Bundesmittel zu machen, erscheinen sicherlich Konsequenzen bei der Bewilligung dieser Haushaltsmittel unvermeidlich.Ich möchte nochmals klarstellen, daß wir Hilfen für die Landwirtschaft unterstützen. Sie müssen jedoch denjenigen zufließen, die sie wirklich benötigen, und sie müssen auch gegenüber der Offentlichkeit politisch vertretbar sein. Wir werden auch in der kommenden Zeit die aktive Agrarsozialpolitik der letzten Jahre fortsetzen. Die Landwirtschaft weiß, daß sie sich hier auf die sozialliberale Koalition verlassen kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Susset.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Schmidt, unser Ausschußvorsitzender, hat heute früh in etwa festgestellt, daß die Vielfalt der nationalen Vorstellungen in der Agrarpolitik sehr schwer in europäischen Einklang zu bringen sei und daß von der Kommission nichts zu erwarten sei. Ich habe mich gewundert, daß der Kollege Schmidt, der doch sonst immer bereit ist, hier offen zu reden, nicht die Frage gestellt hat, was von der Bundesregierung zu erwarten ist. Hier können wir zwar das eine oder andere Mal etwas von Ertl hören, dann wieder etwas von Maihofer, und Offergeld sagt auch mal wieder etwas anderes; Entwicklungspolitiker äußern sich ja auch zur Agrarpolitik. Aber hier wäre es sicher wichtig, daß derjenige, der nach unserer Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmt, einmal ein Wort dazu sagt.Heute war des öfteren von Überschüssen die Rede. Es wurde auch zu Recht an den Hunger in derWelt erinnert. Ich habe dieser Tage eine Information der Deutschen Welthungerhilfe in die Hand bekommen, wo die Frage gestellt wird: Wie gut ist die Welternährungslage? Verzeichnet die Welternährungslage zur Zeit wirklich ein Hoch? Man kommt trotz allem zu dem Ergebnis, daß immerhin 500 Millionen Menschen in der Welt hungern müssen. Deshalb würde ich allen jenen empfehlen, die immer wieder dazu raten, daß Industrieländer wie die Bundesrepublik Deutschland ihre Agrarproduktion reduzieren, sich diese Studie einmal zu Gemüte zu führen. Diese Studie sollte auch von jenen zur Kenntnis genommen werden, die da behaupten, es sei unsinnig, für einen schrumpfenden Sektor, wie es nun die Landwirtschaft sei, öffentliche Mittel aufzuwenden, in der Annahme, irgendwo in der Welt werde es schon noch genügend Dumme geben, die bereit sind, billige Nahrungsmittel für die Industrienationen zu produzieren.Es ist richtig, daß die Landwirtschaft in allen Industriestaaten — auch in der Bundesrepublik -stark abgenommen hat. Aber trotz eines starken Rückgangs der Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft auch hier in der Bundesrepublik wird der Nahrungsmittelbedarf unserer Bevölkerung zur Zeit zu über 70 % von der inländischen Agrarproduktion gedeckt. Diese erstaunliche Produktionssteigerung wäre — und das müssen wir hier feststellen — ohne die Förderung des tiefgreifenden Umstellungsprozesses durch die Wirtschafts- und durch die Agrarpolitik in den vergangenen Jahrzehnten nicht denkbar gewesen. Aber ohne diesen hohen Selbstversorgungsgrad, den wir haben, wäre es im vergangenen Jahr auch nicht möglich gewesen, daß die Preissteigerungsrate bei Nahrungsmitteln mit nur einem Prozent als Inflationsbremse diente.Wer die Landwirtschaft als isolierten Wirtschaftsbereich betrachtet, der verkennt die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge. Dietrich Wilhelm von Menges, ein Mann der Wirtschaft, hat am 15. Dezember 1978 in der „Deutschen Zeitung" in einem Artikel „Gemeinsam in einem Boot — Was Industrie und Landwirtschaft trennt, aber auch verbindet" festgestellt, daß, insgesamt gesehen, ca. 10 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik Deutschland direkt oder indirekt vom Agrarsektor abhängen.
Von den 2,6 Millionen selbständigen Bundesbürgern müssen rund 800 000 dem Agrarbereich zugerechnet werden. Sie stellen damit einen wichtigen Stabilisierungsfaktor unserer bundesdeutschen Gesellschaftsordnung dar. Dies sagte ein Mann, der wahrlich nicht der ach so oft verteufelten Agrar-Lobby zuzurechnen ist, denn er ist ein Mann der Wirtschaft, der früher Vorstandsvorsitzender und heute Aufsichtsratsmitglied der Gutehoffnungshütte ist.Für eine volkswirtschaftlich seriöse Beurteilung müssen also die wichtigsten Strukturdaten des gesamten Agrarbereichs herangezogen werden, neben der eigentlichen landwirtschaftlichen Produktion also auch die von ihr abhängige Ernährungsindu-
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Sussetstrie, das Ernährungshandwerk, die Zulieferbereiche für landwirtschaftliche Produktionsmittel sowie der Handel mit Nahrungs-, Futter- und Düngemitteln, Bauwirtschaft, Landmaschinenindustrie und viele andere Wirtschaftszweige. Dabei sollten auch die mittelbaren Wirkungen nicht übersehen werden, die durch die Vorleistungen für die Zulieferbetriebe anderer Wirtschaftsbereiche ausgelöst werden.Im engeren Ernährungsbereich sind 3 Millionen Erwerbstätige beschäftigt, in der Landwirtschaft selbst davon nur noch etwa 1,4 Millionen voll beschäftigt.Diese Fakten, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten von all jenen zur Kenntnis genommen werden, die glauben, der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttosozialprodukt sei eine leicht zu vernachlässigende Größe. Den Kritikern an der Agrarpolitik — gerade auf dem Milchsektor — möchte ich an Hand der Zahlen, die der Herr Paintner genannt hat, entgegenhalten, daß hier auch fast eine Million Arbeitsplätze in der Verabeitung, in der Produktion und im Vertrieb zu Verzeichnen sind. Zum Vergleich: Im gesamten Gesundheitswesen haben wir in der Bundesrepublik zirka 870 000 Erwerbstätige. Es gibt in der Bundesrepublik 640 000 Lehrer und 152 000 Drucker.Wie mächtig ist der Herr Frister und wie mächtig ist der Herr Mahlein, und wie ohnmächtig sind unsere Milchproduzenten! Wenn wir hier vielleicht einmal fragen, wie die Vertretung gerade der Klientel des Herrn Frister in den Parlamenten, ob in den Landtagen oder im Bundestag, im Vergleich zu jenen aussieht, die in der Agrarwirtschaft tätig sind, kommen wir sicherlich auch zu einem sehr negativen Ergebnis zu Lasten der Agrarwirtschaft und zugunsten derer, die den Herrn Frister zum Vorsitzenden haben.Wenn Nichtfachleute von Agrarpolitik sprechen, fällt in der Regel — —
— Sie gehören dazu, aber Sie wollen ja aufhören, deshalb werden Sie bei der nächsten Periode nicht mehr mitgezählt.Um eine gerechte Beurteilung der Landwirtschaft im Rahmen der gesamten Volkswirtschaft, insbesondere hinsichtlich der vom Steuerzahler zu tragenden Subventionen sicherzustellen, möchte ich den Blick einmal kurz auf andere Bereiche der Volkswirtschaft der Bundesrepublik lenken.Da ist zunächst der für uns alle wichtige Bereich der Steinkohlenförderung. Bund und Länder zahlen — zu Recht, möchte ich feststellen — etwa 24 000 DM je Arbeitsplatz an öffentlichen Fördermitteln im Jahr für die Erhaltung unserer Steinkohlenförderung, nicht nur zur Erhaltung der Arbeitsplätze im Kohlenbergbau, sondern vornehmlich auch für die Erhaltung dieser Rohstoffquelle für die Zukunft. Dies ist angesichts der Lage auf dem Ölmarkt dringend notwendig. Dieses Haushaltsmittel werden für einen Wirtschaftszweig mit 114 Betrieben, etwa 260 000 Beschäftigten und einem Umsatzvolumen von 21,6 Milliarden ausgegeben. Die dafür aufzubringenden Haushaltsmittel scheinen nach Auffassung der Kritiker der Agrarausgaben den Steuerzahler belasten zu dürfen. Wir sagen ja zu dieser Förderung, weil wir auf dem Energiesektor nicht erpreßbar sein wollen. Das gleiche gilt natürlich für den Agrarsektor.Für die unterschiedliche Beurteilung dieser Wirtschaftszweige haben die Kritiker der Agrarpolitik noch keine Begründung geliefert. Finanzielle Hilfen des Staates für die Werften und die Stahlindustrie, Subventionen für die Bundesbahn sind selbstverständlich. Ich will sie nicht kritisieren, weil es sich um Wirtschaftszweige handelt, die ohne staatliche Hilfe nicht überleben können, die wir aber auch in der Zukunft noch brauchen. Wir müssen sie erhalten, weil wir sie brauchen. Das gleiche muß jedoch auch für die Landwirtschaft gelten, weil wir sie in der Zukunft genauso dringend brauchen.Die Kritiker der Agrarpolitik tun so, als ob alle Mittel, die im Agrarhaushalt ausgewiesen sind, direkt in die Taschen der Landwirte flössen. Herr Kollege Paintner hat hier Zahlen genannt. Aber Tatsache ist doch, Herr Kollege Paintner, daß diese Mittel nicht nur Mittel für die Landwirtschaft sind. Sehen wir uns doch einmal den Haushaltsplan an: Hier gibt es Mittel für die Meeresforschung, Haltung von Fischereischutzbooten, Fischereiforschungsschiffen, Erkundungen neuer Fischfanggebiete, Abwrackprämien für Fischereiboote, Errichtung zentraler Wasserversorgungs- und Abwasseranlagen in ländlichen Gemeinden, Küstenschutz und andere Maßnahmen, die auch bei großzügiger Abgrenzung kaum etwas mit Hilfen allein für die Landwirtschaft zu tun haben. Dies sind Finanzhilfen des Bundes, die im Interesse der Gesamtwirtschaft gegeben werden. Wir stehen zu diesen Hilfen, weil wir an die gesamte Volkswirtschaft denken. Das ist unsere Politik, die Politik der CDU/CSU, die wir seit Bestehen dieser Bundesrepublik oft gegen erheblichen Widerstand von SPD und FDP durchsetzen mußten. Wir stehen nach wie vor zu dieser Politik, weil wir auch in Zukunft haben wollen, daß es auf Dauer kein Nachteil ist, im ländlichen Raum zu leben.Was hier nun unserer Meinung nach für die Zukunft notwendig ist, haben wir in dem Entschließungsantrag Drucksache 8/2654 zum Ausdruck gebracht. Kollege Schmidt hat zum Schluß einen Satz gebraucht, der gerade die ersten drei Punkte hier anspricht. Auch der Kollege Peters hat die Frage gestellt: Was meint die Opposition mit dem Punkt 1, daß die Agrarpreise in Höhe der Inflationsrate angehoben werden sollten? Wir meinen damit, daß es nicht sein kann, daß in diesem Jahr in allen Bereichen, ob in der Energiewirtschaft, ob im Bausektor, bei den Löhnen in den Vorleistungsbereichen der Landwirtschaft Erhöhungen stattfinden, während die Landwirtschaft nicht einmal im Rahmen des Inflationsausgleichs entsprechende Einkommensverbesserungen bekommen soll.
Dies kann nicht sein.
Wir haben in dem zweiten Punkt die Bundesregierung ersucht — hier wurde schon einige Male
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Sussetdazu Stellung genommen —, daß bei den Agrarwährungsausgleichsregelungen, Herr Minister Ertl, keinem Ergebnis zugestimmt werden darf, das direkt oder indirekt eine Senkung der Agrarpreise mit sich bringt.Ein dritter Punkt! Herr Peters hat gefragt: Was wollt Ihr? Auf wen wird ständig Druck ausgeübt, die Agrarproduktion einzuschränken? Nun, die Tatsache, daß bei der Abschlachtaktion in der gesamten EG, im Europa der Neun, hier in der Bundesrepublik über 50 °/o der Kühe aus der' Produktion genommen wurden, ist doch Ergebnis dieses Drucks, den es in anderen Ländern — hierzu wurde auch schon einiges gesagt — in dem Maße nicht gibt. Das Gegenteil ist der Fall.
Deshalb möchten wir auch eines, nämlich die Bundesregierung ersuchen, in Prüfungen einzutreten, inwieweit . es Möglichkeiten gibt, der Verfütterung von EG-Getreide in der Milchproduktion, aber auch — Herr Minister Ertl, Sie haben es gestern angesprochen; ich möchte es erweitern — in anderen Veredelungsbereichen den Vorrang vor anderen Futtermitteln einzuräumen. Ich stimme Ihnen, Herr Minister, vollinhaltlich zu, was Sie gestern sagten, und meine, daß es eine ungute Sache ist, wenn allein im Jahre 1978 8 °/o der Betriebe mit Schweinehaltung 54 °/o aller Schweine produzieren, wenn 558 Betriebe der Mastgeflügelhaltung 90 °/o des in der Bundesrepublik erzeugten Mastgeflügels produzieren. Das ist nicht die Politik, die wir auf Dauer tolerieren können, wenn wir die Landwirtschaft und besonders die Veredelungswirtschaft als einen Bereich des Mittelstandes in der Landwirtschaft erhalten wollen.Wir bitten die Bundesregierung weiter, in Brüssel ernstlich dafür vorstellig zu werden, daß endlich einmal die Förderung für holländische Veredelungsprodukte in einer Zeit, wo man übervolle Märkte kritisiert, eingestellt wird.Wir ersuchen die Bundesregierung weiter, auf die existenziellen Schwierigkeiten des Unter-Glas-Gartenbaus ihr Augenmerk zu richten; denn der Anstieg der Heizölpreise — im Vergleich zu dem mit Sonderkonditionen gelieferten Erdgas an den niederländischen Gartenbau — kann auf die Dauer vom Unter-Glas-Gartenbau in der Bundesrepublik nicht getragen werden. Der Herr Kollege Schmidt hat dies heute früh auch angesprochen. Wenn der Herr Minister Ertl hier allein nicht weiterkommt, könnten wir alle drei Fraktionen ihn unterstützen, die Hürde des Finanzministers leichter zu nehmen.Wir haben in einem weiteren Punkt unseres Entschließungsantrages das Problem der Jungbestandpflege angesprochen. Auch hier haben Sie, Herr Minister, unsere volle Unterstützung.In zwei weiteren Punkten wollen wir auf agrarsoziale Fragen eingehen. Wir bitten die Bundesregierung, die gesetzlichen Voraussetzungen zu prüfen und uns zu berichten, inwieweit mit den dort vorgeschlagenen Möglichkeiten entsprechende Abhilfe geschaffen werden kann. Wir werden die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bei der weiteren Beratung unseres Antrags in den Ausschüssen an ihren eigenen Taten messen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Oostergetelo.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Agrarbericht 1979 weist aus, daß sich der strukturelle Anpassungsprozeß in der Landwirtschaft zwar deutlich verlangsamt hat, aber fortsetzt. Mit dem bisher Erreichten sind die Landwirte zufrieden, aber auch die Verbraucher, weil sie, bezogen auf die Höhe ihres Einkommens, kontinuierlich weniger für die Grundnahrungsmittel haben ausgeben müssen. Beides ist gewolltermaßen so eingetreten. Der Bundesminister hat das gestern hier so dargelegt.Aber ich habe den Eindruck, daß wir in der Agrarpolitik an einem Wendepunkt stehen. Martin Schmidt hat das heute vormittag eindrucksvoll vorgetragen.Erstens. Die zu hohen Marktordnungskosten, die sich alle vier Jahre verdoppelt haben, haben bewirkt, daß diejenigen, die die meisten Überproduktionen gehabt haben, auch das meiste Geld bezogen haben. Auf den Betrieb, auf die Region und auf die Länder trifft das gleichermaßen zu.Zweitens kann die Zusammenballung von immer mehr Kapital in immer weniger Händen das Agrargebäude gefährlich belasten. Ich erwähne kapitalkräftige Unternehmen bei der gewerblichen Tierhaltung, oder es sind Betriebe durch starke Konzentration in der Lage, Flächen zu Preisen zu pachten, die normalerweise nicht gezahlt werden können. Sie gefährden die bäuerlichen Strukturen. Durch zusätzliche Pachtflächen werden oft genug Steuervergünstigungen erzielt.In diesem Zusammenhang ein Wort zur landwirtschaftlichen Besteuerung. Wer auch in Zukunft eine leistungsfähige Landwirtschaft will und dafür von unserer Gesellschaft Verständnis fordert, kann sich in diesem Punkt ,der Verantwortung gegenüber unserem Gemeinwesen nicht entziehen. Das bisherige System führt zu Wettbewerbsverzerrungen in der Landwirtschaft.Der Verbrauch an Nahrungsmitteln ist kaum noch steigerungsfähig. Das heißt, .daß Massentierhaltungen aus dem gewerblichen Sektor stets in scharfer Konkurrenz mit den Tierhaltungen der bäuerlichen Betriebe stehen und um Marktanteile kämpfen. Großmastställe sind in der Regel in der Hand von sogenannten juristischen Personen, also Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung usw., die ausschließlich mit dem Ziel gegründet werden, für ein eingebrachtes Kapital eine. ausreichende Rendite zu bekommen. Zwar ist von einer bestimmten Bestandsgröße an die Degression der Kosten zu Ende und schlägt in eine progressive Kostenentwicklung über. Dennoch ist an 10 000 Mastschweinen mehr als an 1 000 zu verdienen und an einer halben Million Hähnchen in der Summe
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Oostergetelomehr als an 50 000. Würden die großen Farmen aus marktwirtschaftlichen Gründen entstehen, wäre dagegen nicht viel einzuwenden. Dem ist aber nicht so, sondern sie nutzen die Preise und Absatzgarantien der EG-Agrarpolitik aus, die doch zur Absicherung der landwirtschaftlichen Mindesteinkommen geschaffen wurden.Immer mehr Großformen mit immer größeren Einheiten drohen die langsam sich entwickelnden vernünftigen .Größenordnungen zu unterlaufen, die auch durch gezielte Förderung entstanden sind. Allein in den Jahren 1975 bis 1977 — und die Entwicklung ist so weitergegangen —
hat in der Bundesrepublik die Zahl der Betriebe mit 50 und mehr Kühen um 50 °/o zugenommen, ebenfalls die Zahl ,der Tiere.
In der EG ist die Entwicklung gleich.Bei der Schweinemast ist es genauso verlaufen.Ganz deutlich wird es beim Mastgeflügel. Hier gibt es in der Bundesrepublik 103 Betriebe mit mehr als 50 000 Tieren. Die Tierzahl hat in diesen Betrieben in zwei Jahren ebenfalls um 50 °/o zugenommen und beträgt nunmehr 13 Millionen. Das ergibt bei fünfeinhalb Durchgängen eine Jahreskapazität von etwa 75 Millionen Tieren. Alle landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik erzeugen zusammen dieselben Einheiten. 103 Großbetriebe erzeugen also dasselbe wie 120 000 bäuerliche Betriebe. Dies ist ein deutliches Alarmzeichen für die Landwirtschaft selbst
und besonders für die Verbraucher, die letztlich die Leidtragenden sind, weil die landwirtschaftlichen Betriebe eindeutig kostenungünstiger produzieren.Meine Damen und Herren, wir wollen eine bäuerlich strukturierte Landwirtschaft, weil durch sie die Probleme des Umweltschutzes besser zu lösen sind und weil sie in sehr viel höherem Maße als die Großbetriebe dem Verbraucher eine kontinuierliche Belieferung mit hochwertigen Nahrungsmitteln garantiert. Der Ausfall eines Mammutbetriebes hat z. B. große Folgen auf die verarbeitende und auf die zuliefernde Industrie sowie auf den Verbraucher.Meine Damen und Herren, es wäre nicht zu verantworten, wenn es bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln zu einer monopolähnlichen Konzentration käme. Hier würde ich mir die volle Unterstützung der landwirtschaftlichen Genossenschaften wünschen. Der alte Raiffeisen würde den bäuerlichen Berufsstand fragen, wohin die Reise geht, z. B. auch im Futtermittelrecht.
Einige Bemerkungen im Hinblick auf die Verbraucher: Niemand wird ernsthaft bestreiten, daßsich die Möglichkeiten für eine vielseitige und gesündere Ernährung in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich verbessert haben. In der Produktion haben sich die Qualitätsstandards ständig erhöht. Forschungsmethoden und gesetzliche Regelungen für die Überprüfung der Nahrungsmittel auf ihren gesundheitlichen Wert sind laufend verbessert worden. Agrarerzeugnisse kommen heute frisch auf den Markt.Ich will auf der anderen Seite nicht über die Tatsache hinwegsehen, daß in den vergangenen Jahren • in der Agrarproduktion neue Gefahren auf uns zugekommen sind. Gefahren für die Nahrungsmittelerzeugung ergeben sich aus der allgemeinen Umweltbelastung und durch Eingriffe der modernen Agrartechnik, insbesondere des Pflanzenschutzes. Wir als Agrarpolitiker müssen entschlossen sein — und wir sind es —, keine derartigen Risiken entstehen zu lassen. Sie können sich darauf verlassen, daß wir die Verantwortung gegenüber dem Verbraucher von Nahrungsmitteln, die wir auch selber sind, ernst nehmen.Ich möchte zum Ausdruck bringen, daß wir als Agrarpolitiker verpflichtet sind, den Einsatz der modernen Agrartechnik kritisch und wachsam zu beobachten. Ebenso deutlich müssen wir uns aber auch gegen jene Leute wenden,
die mit den vorhandenen Ängsten ihre Ideologie stützen oder ein egozentrisches Geltungsbedürfnis befriedigen wollen.
Meine Damen und Herren, diese Regierung —und das wissen Sie genau; das wird überall bestätigt — und dieser Minister haben viel geleistet. Das wird allseits anerkannt.
Sie hat eine Strukturentwicklung mit sozialer Absicherung möglich gemacht und so geholfen, daß sich der Strukturwandel in der Landwirtschaft menschlich und sozial verantwortbar vollzog und ein Einkommen erreicht wurde, das an das vergleichbarer Gruppen heranreicht.
Meine Damen und Herren von der Union,- ich habe den Eindruck, daß jene, die früher immer geschrien haben „Wer Bauer ist, kann Bauer bleiben", heute in der Strukturhilfe keine Obergrenze wollen und nicht nach Bedürftigkeit fragen. Das bedeutet aber, daß sich die Großen auf Kosten der Kleinen sanieren. Die Regierungsparteien haben sich — und sie werden es weiterhin tun — für eine bäuerlich strukturierte Landwirtschaft eingesetzt,
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Oostergetelozum Nutzen des Verbrauchers, der Umwelt und des gesamten ländlichen Raumes.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kunz .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor genau fünf Jahren habe ich von dieser Stelle aus auf die Konsquenzen des einzelbetrieblichen Förderungsprogramms hingewiesen und festgestellt, daß diese Politik für die Landwirtschaft in den marktfernen und von der Natur benachteiligten Regionen in besonderem Maße falsch ist. Herr Minister, Sie haben mir damals sehr heftig widersprochen. Aber die von Ihnen in der Bundesrepublik geschaffene und in Brüssel durchgesetzte Förderschwelle ist ein Relikt des Mansholt-Plans. Sie wirkt sich für die Familienbetriebe in den Gebieten ohne außerlandwirtschaftliche Alternativen in der Tat besonders nachteilig aus.Worum geht es hier? Die Grundkonzeption der Agrarpolitik dieser Regierung läuft darauf hinaus, daß ein Landwirt, der nicht jährlich 26 000 DM erwirtschaftet, keine staatlichen Investitionszuschüsse erhalten kann. Da angesichts dessen unter ungünstigen Produktionsvoraussetzungen fast überhaupt kein Betrieb mehr gefördert werden könnte, haben Sie, Herr Minister, die Förderschwelle teilweise niedriger angesetzt, d. h. regionalisiert.Trotz dieser Herabsetzung der Schwelle können aber z. B. in der. Oberpfalz nach dem einzelbetrieblichen Förderungsprogramm rein rechnerisch nicht einmal mehr 10 % der Betriebe gefördert werden. 90 % der Betriebe bleiben auf jeden Fall ausgesperrt, selbst wenn sie noch so tüchtig wirtschaften. Sie werden, wenn sie überhaupt noch gefördert werden, auf die sogenannten Ergänzungsprogramme verwiesen, die die Bauern fast als Sterbehilfe empfinden und deshalb kaum in Anspruch nehmen.Am Beispiel der Oberpfalz will ich aufzeigen, wie sich diese Politik in der Praxis tatsächlich auswirkt. In diesem Regierungsbezirk gibt es ca. 29 000 landwirtschaftliche Betriebe. Seit 1973 konnten dort nach dem einzelbetrieblichen Förderungsprogramm nur 861 Betriebe gefördert werden. Aber auch für diese — in der Regel größeren — Betriebe wird es beim gegenwärtigen Tempo noch fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis der letzte aus dieser Gruppe berücksichtigt ist. Von den übrigen 28 000 Betrieben wurde im gleichen Zeitraum nur jeder 100. Betrieb über die sogenannten Ergänzungsprogramme gefördert, d. h. von 28 000 Betrieben insgesamt nur 280 — ein wahrlich bescheidenes Ergebnis.Es ist doch aufschlußreich, daß in derselben Region über das bayerische Agrarkreditprogramm schon in den ersten zehn Monaten allein 1 136 Betriebe gefördert wurden. Seitdem interessiert sich in diesem Regierungsbezirk kein Landwirt mehr für diese Ergänzungsprogramme des Bundes.
Herr Minister, ich frage Sie: Was soll denn ein 35jähriger Bauer machen, um seine Familie zu ernähren, wenn er von der Förderung ausgesperrt ist? Einen außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplatz bekommt er nicht. Wegen der schlechten Wirtschafts- und Regionalpolitik der Bundesregierung ist dort die jährliche Zahl der verlorenengegangenen Arbeitsplätze größer als die der mit öffentlichen Mitteln geförderten. Was also soll dieser Landwirt machen? Er muß investieren, er muß intensivieren, d. h. mehr produzieren, um seine Familie überhaupt ernähren zu können. Weil er aber klein ist, wird er von der Förderung praktisch ausgesperrt oder zumindest entscheidend schlechtergestellt, also schwer benachteiligt.Und wie ergeht es den förderungsfähigen Landwirten in diesem schwierigen Gebiet? Sie werden nur gefördert, wen n ihr Einkommen jährlich wächst, und zwar parallel zum außerlandwirtschaftlichen Einkommen, und das Jahr für Jahr! Seit 1973 stieg nämlich die Förderschwelle für diese Landwirte jährlich um 1000 DM an .und liegt nun bei 21 300 DM. Nach den bisherigen Erfahrungen bedeutet dies, daß ein Landwirt gezwungen ist, seine agrarische Produktion jährlich um ca. 3 °/o auszudehnen, um überhaupt die Voraussetzungen für die Förderung zu erfüllen.In der Praxis sieht das dann so aus, daß er seinen Viehbestand laufend vergrößern muß, bei einem Milchviehbetrieb jährlich um eine Kuh, beim Ferkelerzeuger jährlich um zwei Zuchtsauen; ein Bullenmäster muß jährlich zwei Bullen mehr verkaufen, und der Mäster im Mastschweinebetrieb muß jährlich 30 Schweine mehr verkaufen, und das alles nur, um mit dem außerlandwirtschaftlichen Einkommen Schritt zu halten.Herr Minister, haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, daß der Zwang zur Produktionssteigerung auch bedeutet, daß die bäuerliche Arbeitskraft im geförderten Betrieb Jahr für Jahr 1,2 Wochenstunden mehr arbeiten muß? Dadurch steigt in den Veredelungsbetrieben die Arbeitszeit vielfach auf 60 bis 70 Wochenstunden an, und das meist ohne Urlaub.
Während man außerhalb der Landwirtschaft künftig nur noch 35 Wochenstunden arbeiten will und dazu sechs Wochen Urlaub verlangt, muten Sie den Bauern eine immer längere Arbeitszeit zu.Sie werden mir natürlich entgegenhalten, daß dieses Ziel der Förderung mit 2 300 Stunden erreicht werden müßte. Aber das steht auf dem Papier, Herr Minister. In der Praxis sieht es halt doch anders aus.Dazu kommt das finanzielle Risiko. Eine angesichts der Überproduktion künftig nicht mehr auszuschließende Preissenkung und die mit hohem Aufwand bis zum äußersten ausgereizte Produktionstechnik werden gerade die geförderten Betrie-
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Dr. Kunz
be auf den ungünstigeren Standorten leichter als anderswo zum Kippen bringen. So werden die sogenannten förderungsfähigen Betriebe über die Förderschwelle zu einer enormen Ausweitung ihrer Produktion gezwungen, und den von der Förderung ausgesperrten Betrieben bleibt mangels außerlandwirtschaftlichen Alternativen keine andere Wahl, als die agrarische Produktion ebenfalls auszudehnen, um überleben zu können.Bei dem nun einsetzenden Verdrängungswettbewerb, der dank dieser Politik noch verschärft wurde, werden mit großer Wahrscheinlichkeit zuerst die Betriebe auf der Strecke bleiben, die auf ungünstigen Standorten einen hohen Kapitaldienst aufzubringen haben. So wirkt sich diese Agrarpolitik für die meisten landwirtschaftlichen Betriebe auf ungünstigen Standorten unsozial, wahrscheinlich sogar verhängnisvoll aus.Was muß geschehen? Eine erfolgreiche Agrarpolitik setzt eine Ergänzung durch weitschauende und umfassende regionale Wirtschaftspolitik voraus. Das haben auch Sie, Herr Minister, in Ihrer Einbringungsrede sinngemäß gesagt. Die Schaffung und Sicherung außerlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze müßte dann in diesen Regionen erste politische Priorität besitzen.Wenn aber die Bundesregierung zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik zum Fördergebiet erklärt und Ballungsräume in zentraler Lage dem Zonenrandgebiet fast gleichstellt, wenn Milliardenprogramme für vorübergehend in Schwierigkeiten geratene Wirtschaftszweige in Ballungsräumen die staatlichen Mittel verbrauchen, die primär zur Sanierung strukturschwacher Räume benötigt würden, so ist dies genau das Gegenteil von dem, was Sie, Herr Minister, in Ihrer Einbringungsrede richtigerweise gesagt haben.Die Kombination von landwirtschaftlichem und nichtlandwirtschaftlichem Einkommen ist in diesen Regierungsbezirken — vielleicht auch in anderen — von jeher ein fester Bestandteil der Einkommenssicherung vieler Betriebe gewesen. Deshalb sollte sich die Bundesförderung nicht auf die 10 °/o sogenannter förderungsfähiger Betriebe beschränken, sondern die dort langfristig notwendige Einkommenskombination der übrigen Betriebe als Dauerlösung förderungsmäßig akzeptieren. Sonst wird die schon bestehende Abwanderung sich noch verstärken und dadurch einen Zustand herbeiführen, in dem die dann noch vorhandene Bevölkerungsdichte nicht mehr ausreicht, um die Kosten einer befriedigenden Infrastruktur zu tragen.Dazu darf es nicht kommen. Auch Sie, Herr Minister, sollten dieser Gefahr von Ihrem Ressort her nachhaltig entgegentreten.
Zum Schluß möchte ich noch ganz kurz auf ein besonderes Problem dieser Region hinweisen. Die jüngst verabschiedete Änderung des Branntweinmonopolgesetzes wird die von Ihnen, Herr Minister, gerade auf schwierigen Standorten angesiedelten Kartoffelgemeinschaftsbrennereien durch die drastisch herabgesetzten Übernahmepreise für Alkohol in ihrer Existenz bedrohen, weil die Gemeinschaftsbrennereien in diesem dünn besiedelten Gebiet wegen der teilweise sehr weiten Transportwege für die Kartoffeln und die Schlempe wesentlich höhere Kosten als anderswo haben. In diesen Härtefällen sollten Sie, Herr Minister, dafür sorgen, daß eine gerechte Regelung für diese schwierigen Standorte Platz greift und der Verlust der mit großen finanziellen Opfern geschaffenen Investitionen vermieden werden kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. von Geldern.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat zur heutigen Beratung des Agrarberichts 1979 der Bundesregierung einen Entschließungsantrag eingebracht, der das Ziel verfolgt, die Lage der deutschen Fischwirtschaft deutlich zu machen und zur Verbesserung der Situation insbesondere der Kutterfischerei beizutragen.Als Vertreter des Küstenwahlkreises Cuxhaven im Deutschen Bundestag und damit des größten deutschen Fischereihafens, vor allem aber als Sprecher für die vielen Menschen in der gesamten norddeutschen Küstenregion, um deren Arbeitsplätze es geht, möchte ich Ihnen mit einigen Worten unseren Antrag vorstellen und erläutern und Sie herzlich um Ihre Unterstützung bitten. Ihre Unterstützung ist mein ganz persönliches Anliegen; denn ich kenne die Sorgen einer ganzen Reihe von betroffenen Familien, sei es der Kutterkapitäne und ihrer Besatzungen, die verzweifelt sind über die nicht ausreichenden Fangquoten, die ihnen für das Jahr 1979 in den Gewässern der Europäischen Gemeinschaft eingeräumt wurden, und denen es wie einem Landwirt geht, dessen Hof mit einem engen Zaun umgeben worden ist und dem man verbietet, seine Äcker weiterhin zu pflügen und sein Vieh aufzuziehen.Ich weiß mich auch in Übereinstimmung mit den Vertretern der Arbeitnehmerschaft der fischverarbeitenden Betriebe, der Instandsetzungswerften und mit unseren Fischern der Hochseefischerei, die bei Wind und Wettereine harte Arbeit an Bord leisten und erleben müssen, daß ihre Arbeitsplätze in Gefahr geraten sind.Die Betriebsräte der in den Fischereihäfen ansässigen Betriebe und die Seebetriebsräte der deutschen Hochseefischerei haben in einem Appell an alle politisch Verantwortlichen — und ich mache mir diesen Appell zu eigen und trage ihn hier vor dem Deutschen Bundestag vor — festgestellt, daß schon fast die Hälfte der gesamten deutschen Frischfischflotte aufgelegt, verkauft oder abgewrackt wurde oder daß dies in absehbarer Zeit der Fall sein wird, daß ein großer Teil der Fangfabrikschiffe in der Fernfischerei unter Argentinien und Neuseeland eingesetzt wird und daß dadurch die Besatzungsmitglieder der Hochseefischerei fast die Hälfte der Arbeitsplätze verloren haben, daß die
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Dr. von GeldernFangmöglichkeiten im EG-Meer und unter Norwegen erheblich eingeschränkt wurden und daß durch die erwähnte Fernfischerei weder die Arbeitsplätze der Besatzungsmitglieder noch die der Arbeitnehmer der Seefischmärkte, der Reparaturbetriebe und der fischverarbeitenden Industrie gesichert sind, daß schließlich nach wie vor Tausende von Tonnen qualitativ hochwertigen Fisches in verschiedenen Ländern zu Fischmehl verarbeitet werden.Die Betriebsräte leiten daraus die Forderung ab, daß alles getan werde, die Fangmöglichkeiten für die deutsche Hochseefischerei auf den herkömmlichen Fangplätzen wiederherzustellen, die Arbeitsplätze auf den in der Fernfischerei eingesetzten Fangfabrikschiffen für den Arbeitsmarkt der deutschen Küstenregion zu erhalten, die in der Fernfischerei ,eingesetzten Fangfabrikschiffe unter deutscher Flagge fahren zu lassen und die umfangreiche Industriefischerei verschiedener Länder, d. h. den Fischfang zur ausschließlichen Belieferung von. Fischmehlfabriken insoweit zu verbieten, als es sich um Fisch handelt, der für den menschlichen Verzehr geeignet ist.Leider klingen diese Sorgen der Arbeitnehmervertreter der deutschen Fischwirtschaft weder im Agrarbericht 1979 an noch wurden sie in der gestrigen Einbringungsrede von Herrn Minister Ertl aufgegriffen. Dabei läßt sich mit diesen wenigen Sätzen die Krise bereits beschreiben. Ich kann mich in der Bewertung der Fehler und Versäumnisse der deutschen Fischereipolitik, die ich in den vergangenen Jahren immer wieder mit dem Bemühen um konstruktive Vorschläge begleitet habe, heute sehr kurz fassen, weil inzwischen aus den Reihen der Koalition selbst massive Kritik auf diesem Gebiet an der Bundesregierung öffentlich geübt wird.Als eine kleine Kostprobe möchte ich nur das zitieren, was der Kollege Grunenberg gesagt hat, der die EG-Fischereipolitik als „rührend hilflos", die Schonmaßnahmen als „mehr als dürftig" und die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung als „ungenügend" bezeichnet und feststellt, daß die Probleme so in keiner Weise gelöst würden, und der Ihnen, Herr Minister Ertl, schließlich bescheinigt, „keine ausreichende, zukunftsorientierte Fischereipolitik" zu betreiben.In Ihrer Rede gestern an dieser Stelle haben Sie, Herr Minister, nicht eine Antwort auf die vielen offenen Fragen gegeben. Sie haben lediglich die Existenzgefährdung der Ostseefischerei eingeräumt, die ungenügende Quotenregelung für 1979 bei den EG-Ressourcen aber schamhaft verschwiegen. Auch Ihre verbale Kritik an Großbritannien führt nicht weiter.Lassen Sie mich darum, meine Damen und Herren, bitte auf der Grundlage unseres Entschließungsantrages einige konkrete Vorschläge an die Adresse der Bundesregierung machen, um ihr zu helfen, nun endlich das Notwendige zu tun. Dabei gehe ich davon aus, daß die Kutterfischerei angesichts der gegenwärtig stark eingeschränkten Möglichkeiten der Hochseefischerei, um deren Lage wir uns nach wie vor im Sinne der eingangs zitiertenResolution der Betriebsräte intensiv kümmern müssen, für die Versorgung des deutschen Marktes mit Frischfisch eine weit größere Bedeutung erlangt als bisher. Von der Versorgung sind aber die Einrichtungen an der Küste entscheidend abhängig, also die Seefischmärkte, die verarbeitenden Betriebe, der Großhandel und der stationäre wie der mobile Facheinzelhandel. Es gilt daher, die Kutterfischerei jetzt in die Lage zu versetzen, die drohende Versorgungslücke, die auch den Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland durch höhere Preise spürbar träfe, abzuwenden.Es müssen neue wissenschaftliche Untersuchungen vorgenommen werden, mit deren Hilfe die Quotenfestsetzungen im EG-Meer überprüft werden. Der offene Widerspruch zwischen den bisherigen wissenschaftlichen Daten und den Beobachtungen und Erfahrungen unserer Fischer draußen darf so nicht bestehenbleiben.In diesen Zusammenhang von Schonmaßnahmen und Quotenfestsetzungen gehört auch die Forderung, den Abbau der dänischen Industriefischerei für Fischmehlzwecke entschiedener als bisher durchzusetzen. Wir haben den Eindruck, daß eine bessere deutsche Vertretung in der zuständigen Brüsseler Generaldirektion dabei von Nutzen wäre. Es kann auch nicht länger hingenommen werden, daß die entsprechenden Kontrollen auf nationaler Ebene durchgeführt werden.Was die Quoten betrifft, so fordern wir die Rückkehr von der Verechnungsgrundlage Fanggewicht zu der bisher üblichen Berechnungsgrundlage Anlandungsgewicht. Hier ist durch die Hintertür eine beträchtliche Verringerung der Quoten von 1978 auf 1979 eingetreten.Die Kutterfischer und ihre Erzeugergemeinschaften bedürfen der Beratung und Unterstützung auch bei der Durchführung des beschlossenen Hilfsprogramms, das zu Recht als ungenügend bezeichnet worden ist. Wenn wir erreichen wollen, daß größere Fangeinheiten entstehen, so müssen wesentlich größere Hilfen gewährt werden als bisher. Dieses Ziel ist lohnenswert.Was die Lage in der Ostsee betrifft, so fällt es schwer, die bitteren Worte der Betroffenen hier nicht zu wiederholen. Wir sind durch die Unfähigkeit, eine wirkliche Einigung in der EG herbeizuführen, gleichzeitig durch allzulanges Warten und Unterschätzen der Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen in der Ostsee in eine Situation geraten, die den vielen aus Pornmern und Ostpreußen stammenden und heute in Schleswig-Holstein ansässigen Ostseefischern wie eine zweite Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat vorkommt.
Täuschen wir uns nicht: Der Rückzug aus der Ostsee hätte außer den menschlichen und wirschaftlichen Aspekten auch schwerwiegende politische und militärische Bedeutung. Deshalb müssen alle Anstrengungen unternommen werden — auch in zweiseitigen Verhandlungen —, deshalb müssen alle wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten
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Dr. von Geldernmit Entschlossenheit und Phantasie eingesetzt werden, um die dort doch erst mit deutlicher Verzögerung eingetretene Verschärfung der Lage nach der weltweiten Einführung der 200-Seemeilen-Fischerei- und -wirtschaftszonen wieder abzubauen und zu einem vernünftigen Miteinander in diesem überschaubaren Bereich zu gelangen, der für Schleswig-Holstein und seine Ostseeküste eine so entscheidende Bedeutung hat.Wir haben einen Anspruch darauf, daß die Bundesregierung das nicht nur erkennt, sondern die Interessen der deutschen Küsten ohne Wenn und Aber nach außen vertritt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eickmeyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir bleiben nur noch drei Minuten. Das ist weniger Zeit, als nötig ist, um einen Hering verzehren zu können. Ich kann deshalb aus Zeitgründen nur noch eine Zusammenfassung meiner Ausführungen bringen. Aus Zeitgründen kann ich auch nicht mehr zum BlitzEntschließungsantrag der CDU/CSU Stellung nehmen. Kritisch anmerken möchte ich zu diesem Antrag jedoch, daß er' eigentlich nur Bekanntes und von uns schon Veröffentlichtes enthält.
Lassen Sie mich abschließend folgendes sagen. Die deutsche Fischwirtschaft war und ist einem erbarmungslosen Anpassungsprozeß ausgesetzt. Allerdings steht die Fischwirtschaft nicht allein. Vielmehr leistet die Bundesregierung im Rahmen eines zunächst auf drei Jahre ausgelegten Sofortprogrammes wertvolle Hilfe.
Diese Hilfe wird auch weiterhin notwendig sein, um die deutsche Fischwirtschaft über die schwierige Situation der nächsten Jahre hinwegzubringen und dadurch ihre Existenz im Interesse der Arbeitsplätze an der strukturschwachen Küste, im Interesse der Betriebe und der regionalen Wirtschaft und im Interesse der Verbraucher in der gesamten Bundesrepublik auf Dauer zu sichern.
Die Maßnahmen der Bundesregierung sind jedoch nur als flankierende Maßnahmen zu werten. Zu einer entscheidenden Änderung der Gesamtsituation kommt es nur, wenn erstens im Rahmen der EG-Fischereipolitik England seine starre Haltung aufgibt; zweitens die dänische Gammelfischerei aufhört; drittens die pflügenden und baggernden Froster aus dem EG-Meer verschwinden und dort nur noch Frischfisch fangende Einheiten fischen dürfen; viertens ausgehend von einem vernünftigen Bestandsschutz Quoten extern wie intern rechtzeitig und in einer realistischen Höhe zum vorhandenen Bestand großzügig festgelegt werden.
Unter dieser Perspektive hat ,die deutsche Fischerei noch eine große Zukunft und wird dann auch wieder bereit sein, Investitionen zu tätigen.
Ein letztes Wort zum vorliegenden Entschließungsantrag der CDU/CSU.
Vom Ausschußvorsitzenden Dr. Schmidt haben wir seit längerem die Zusage, daß das gesamte Problem noch einmal vor .den Ausschuß kommen soll. Dazu ist auch eine erneute Anhörung geplant. Das gesamte Problem soll und muß noch einmal gründlichst beraten werden. Wir schlagen deshalb die Überweisung des vorliegenden Antrags an den zuständigen Ausschuß vor.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauter.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Agrardebatte ist es, glaube ich, notwendig, auch ein Wort zur Verbraucherpolitik zu sagen. Ich glaube, ,daß diese im Verlauf der Diskussion etwas zu kurz gekommen ist. Die „FAZ" vom heutigen Tage und Herr Krause, der die Agrarpolitik seit Jahrzehnten kritisch begleitet, weisen darauf hin, daß die Verbraucher in diesem Agrarbericht auch einen Rechenschaftsbericht für sich sehen sollten.Die Bundesregierung hat dieses Thema in ihrem Agrarbericht angesprochen. Ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion diesem Teil des Agrarberichts und auch dem Teil der Rede des Ministers, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, inhaltlich im wesentlichen zustimmen. Herr Minister, in den letzten Wochen und Monaten wäre es allerdings notwendig gewesen, mit größerer Entschiedenheit, Klarheit und Deutlichkeit unsachlichen und polemischen Äußerungen auf diesem Gebiet entgegenzutreten.Niemand erwartet von der Bundesregierung, daß sie auch nur den Versuch unternehmen wolle, auf Verbände Einfluß zu nehmen. Wenn jedoch ein Berufsstand ständig ins Unrecht gesetzt wird, ist es die Pflicht der Bundesregierung, diesen Berufsstand und die Agrarpolitik klar und entschieden zu verteidigen.
Das Ziel unserer Verbraucherpolitik ist im Ernährungsbereich eindeutig und unmißverständlich eine gesicherte Versorgung mit gesunden, preiswerten Nahrungsmitteln. Aber dies alles geht nicht zum Nulltarif. Die öffentliche Diskussion entzündet sich immer wieder an den Kosten der Agrarpolitik.
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11460 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Sauter
Die Verbraucher werden mit den Zahlen ständig konfrontiert.Aber es gibt in der EG nur einen Bereich, nämlich die Agrarpolitik, der harmonisiert ist. Es fehlt deshalb jedweder Vergleichsmaßstab. Niemand in diesem Hause hat die Phantasie, sich vorzustellen, welche Kosten entstünden, wenn wir versuchten, etwa die Sozial- oder Wirtschaftspolitik zu harmonisieren oder zu integrieren.Schließlich werden die Mittel der Agrarpolitik nicht nur für Preisgarantien verwendet, sondern sie gelten in beachtlichem Umfang auch der Verbesserung der Agrarstruktur. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Verbraucher ernsthafte Einwände etwa gegen die Ausgleichszulage haben. Die Landwirte in den benachteiligten Gebieten haben auch bei guter Betriebsführung keine Chance, ein angemessenes Einkommen zu erzielen. Wenn wir diese Räume für die Erholung und für den Erhalt unseres ökologischen Systems sichern wollen, brauchen wir die Bewirtschaftung durch die Landwirte. Verödung und Versteppung wären sonst die Zwangsfolge.Ohne Mindestpreise wären viele Landwirte gerade in schwach strukturierten Regionen der Gemeinschaft der Armut preisgegeben. Außerlandwirtschaftliche Alternativen gibt es nicht. Der Beitritt Spaniens, Portugals und Griechenlands wird hier noch erhebliche Probleme — oder deutlicher gesagt: hohe zusätzliche Kosten — verursachen.Aber dies ist kein agrarpolitisches, sondern ein gesamtpolitisches Problem.
Elend und Armut sind vielfach Brutstätten des politischen Radikalismus.Meine Damen und Herren, niemand will die Kosten der Agrarpolitik verniedlichen. Wenn wir diese jedoch in Relation zum Bruttosozialprodukt setzen, ergibt sich, wie ich meine, ein anderes Bild. Für 0,4% des Bruttosozialprodukts haben wir eine gesicherte Versorgung mit Nahrungsmitteln. Wir haben sicher alle Verständnis dafür, wenn Verbraucher Kritik an den Überschüssen der Gemeinschaft üben. Dies ist uns gemeinsames Anliegen. Die Kosten für die Beseitigung sind enorm. Wir alle sind in die Pflicht genommen, das Mögliche zu tun, um Lösungen zu finden. Wir alle wissen aber auch, daß es nie möglich sein wird, Angebot und Nachfrage im Nahrungsmittelbereich voll in Einklang zu bringen. Nur eines wissen wir auch aus der Erfahrung: Sobald wir eine Mangelsituation haben, steigen die Preise. Ich erinnere Sie an die Situation auf dem Kartoffelmarkt. Wir erhalten ja auch zur Zeit Anschauungsunterricht bei den Heizölpreisen.Wir haben uns in den letzten Jahren daran gewöhnt, daß alles machbar sei. Die Anfälligkeit unserer hochtechnisierten Welt wird uns aber ständig vor Augen geführt. Regionale Naturkatastrophen, Stromausfälle, Streiks von Hafenarbeitern sind sehr schnell mit ernsthaften Engpässen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln verbunden. Wer einer weltweiten Arbeitsteilung im Nahrungsmittelbereich das Wort redet, wie das heute manche tun, muß auch bedenken, wie riskant eine Versorgung per Schiff ist. Unsere Meere sind in den letzten Jahren wesentlich unsicherer geworden. In Krisen-und Konfliktsituationen stehen die Weltmärkte gar nicht oder nur zu exorbitanten Preisen zur Verfügung. Die Aufforderung der Bundesregierung zur Anschaffung privater Vorräte erfolgt immer dann, wenn es irgendeinen aktuellen Anlaß gibt. Private Vorratshaltung enthebt die Bundesregierung jedoch nicht der Verpflichtung, in eigener Verantwortung zu handeln. Das Ernährungssicherstellungsgesetz, vor anderthalb Jahrzehnten in diesem Parlament verabschiedet, ist immer noch nicht verwirklicht. Die Interventionsbestände sind zu vielen Schwankungen unterworfen, als daß sie hier herangezogen werden könnten.Seit es Marktordnungen gibt, ist die Agrarpolitik — und dies ist heute in der Debatte schon angeklungen — immer wieder dem Vorwurf des Protektionismus ausgesetzt. Die AGV hat sich in einem Sonderdruck „Zwischen Hunger und Überfluß" damit besonders beschäftigt. Wir finden in diesem Agrarbericht 1979 eine eindrucksvolle Darstellung über den Handel der Bundesrepublik Deutschland mit Gütern der Ernährungsindustrie. Ich will darauf im einzelnen nicht mehr eingehen. Nur eine Zahl sei noch einmal ins Gedächtnis zurückgerufen: 1978 wurden für 39 Milliarden DM Agrargüter eingeführt. Damit liegt Deutschland an der Spitze der Agrarimporte insgesamt.Die gute gesundheitliche Qualität deutscher Agrarprodukte ist bekannt, und darüber sollten unsere Verbraucher, so meine ich, eigentlich mehr erfahren. Wir wissen, daß diese zutreffende Feststellung nicht immer in gleichem Umfang für importierte Produkte gilt. Im Interesse der Verbraucher wäre es geboten, auch bei Einfuhren den gleichen Maßstab anzulegen. Die Bundesregierung ist zu kritisieren, wenn sie bei Verordnungen für einheimische Produkte einen strengeren Maßstab anlegt als bei Importwaren.Diese Bundesregierung wird auch nicht müde, die relative Preisstabilität in unserem Lande zu rühmen. Die verhältnismäßig niedrige Inflationsrate der letzten Jahre wäre undenkbar ohne den entscheidenden Beitrag der Landwirtschaft. Preisstabilität ist aber eine der wichtigsten Aufgaben der Verbraucherpolitik, und sie hilft insbesondere den sozial Schwachen in unserem Lande. Ein deutlicher Beweis für den Beitrag der Landwirtschaft zur Stabilisierung ist die Entwicklung der Lebenshaltungskosten, die, wenn wir es uns genau ansehen, sich in den letzten zehn Jahren so entwickelt haben, daß heute nur noch 22°/o davon für die Lebensmittelversorgung ausgegeben werden. Dadurch haben die Verbraucher wesentlich mehr Spielraum für andere konsumtive und investive Ausgaben erhalten. Dies scheint mir ein gewichtigerer Beitrag zu einer nachhaltigen Belebung der Konjunktur zu sein als manches fragwürdige Investitionsprogramm früherer Zeiten.Für den Umweltschutz ist zwar, Herr Bundesminister, Ihr Haus nicht federführend verantwortlich;
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Sauter
dennoch meine ich, daß wir uns auch im Ausschuß und Sie in Ihrem Hause in Zukunft noch stärker als in der Vergangenheit mit dieser Frage beschäftigen müssen. Letzte Umfragen haben ergeben, daß 97 % unserer Bürger den Umweltschutz für eine wichtige oder sehr wichtige Aufgabe halten. Wer mit jungen Menschen in unserem Lande diskutiert und gerade auch mit jungen Landwirten spricht, verspürt, wie sehr eben diese Probleme junge Menschen zu Recht umtreiben. Wir müssen uns diesen teilweise unbequemen Fragen, auf die wir vielfach keine Antworten wissen, stellen und dürfen ihnen nicht ausweichen.
— Ja, Herr Gallus, Ihre Partei hat erst seit den Wahlen in Hamburg oder in Niedersachsen das Problem richtig erkannt. Das muß ich sagen, wenn Sie hier schon Zwischenrufe machen.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Anregung geben, Herr Minister. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn von Ihrem Haus einmal eine detaillierte Aufstellung über den Landverbrauch in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung gestellt würde. Diese Daten müßten laufend fortgeschrieben werden und könnten vielleicht auch Eingang in die Agrarberichte finden.Schließlich möchte ich schon heute darum bitten, daß Sie im Gespräch mit dem Bundesverkehrsminister dafür Sorge tragen, daß wir sparsamer als in der Vergangenheit mit unserer Landschaft umgehen. Es ist müßig, hier und heute nach Schuldigen zu suchen. Es geht einfach darum, die Konsequenzen aus der Entwicklung der letzten Jahre zu ziehen. Denn, meine Damen und Herren — lassen Sie mich zum Schluß kommen —, wer der Natur ständig Schaden zufügt oder gar Raubbau an ihr treibt, handelt letzten Endes verantwortungslos. Politik darf sich nicht nur am nächsten Wahltermin orientieren.. Sie muß sich gerade im Bereich der Ökologie am Schicksal künftiger Generationen messen lassen.
Das Wort hat Herr Bundesminister Ertl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst sehr herzlich bei allen Diskussionsrednern bedanken. Manches war widersprüchlich, manches war kontrovers. Aber in vielem gab es auch Übereinstimmung. Ich glaube, wenn ich ein Resümee ziehe, kann ich sagen: Viele Alternativen zur Agrarpolitik dieser Bundesregierung habe ich auch von der Opposition nicht gehört, und das freut mich sehr.
Ich nehme diesen Konsens auch gern auf. Denn mir liegt sehr daran, in wesentlichen Fragen — und mir scheint auch die Agrarpolitik eine wesentliche Frage für unser Volk zu sein — einen Konsens auch mit der Opposition zu haben. Daß dabei einige Scharmützel ausgetragen werden, ist für mich selbstverständlich. Ich möchte deshalb auch nicht auf alle Scharmützel eingehen. Ich sehe den Kollegen Kiechle gerade fröhlich lachen. Ich nehme an, er wird sein ganzes, starkes Gewicht in Bayern dafür einsetzen, daß dort die Schulmilchspeisung endlich verbessert wird. Das wäre ein Beitrag zum Milchabsatz. Dafür gibt es nämlich EG-Mittel, die von Bayern bisher nicht in Anspruch genommen worden sind. Bayern läßt hier EG-Mittel verfallen. Das machen andere Länder besser, z. B. die Hessen; das muß ich einmal sagen. Aber ich will mich da gar nicht einmischen.
— Baden-Württemberg kommt nach; jawohl, das stimmt.Einige Dinge möchte ich generell feststellen. Im übrigen stehe ich gern auch im Ausschuß zur Verfügung. Verehrter Kollege Ritz, Sie sagten, der Agrarbericht sei ein Dokument der Verschleierung. Damit treffen Sie nicht den Minister, damit treffen Sie die Mitarbeiter von Land und Bund. Die Mitarbeiter aus den Ländern und beim Bund stellen ohne jeglichen politischen Einfluß diesen Agrarbericht zusammen. Ich unterstelle keinem deutschen Beamten, daß er irgend etwas verschleiert. Wer das meint, muß auch die Beweise dafür liefern und sagen, wo etwas verschleiert worden ist.
— Ziele und Programme, die Sie verlangt haben —ich bin sehr dankbar für diesen Hinweis —, haben Sie sehr wohl im Agrarbericht nachlesen können. Damit ist auch der klare Beweis gegeben: Wer den Agrarbericht gelesen hat, hätte hier nicht sagen können, diese Bundesregierung habe weder Ziele noch Programme. Sie sind alle abgedruckt.Wir sind uns in der Analyse einig. Daß der Landwirtschaft sicherlich schwierige Situationen bevorstehen, habe ich gestern schon in meiner Rede gesagt. Ich möchte aber auch eines richtigstellen, obwohl ich das nicht gern tue. Wer mich kennt, weiß, daß es nicht meine Art ist, jemanden zu täuschen. Wenn es jemanden gibt, der es zutiefst verabscheut, mit unredlichen Argumenten zu operieren, dann darf ich das für mich beanspruchen. Ich habe mich lieber auspfeifen lassen; aber die Wahrheit habe ich gesagt.
Das konnten viele feststellen.Insoweit haben wir auch in Sachen EWS nicht getäuscht. Ich will dieses Kapitel „Europa und EWS" gleich abhandeln, weil dies ein wesentlicher Gesichtspunkt ist. Vorher darf ich aber noch etwas zur Einkommenslage sagen, weil ich gerade die Fülle des Materials, das ich gesammelt habe, hier habe.
— Lieber Kollege Kiechle, ich komme gerade zu Bayern. Ich habe einen interessanten Artikel aus dem Bayerischen Staatsanzeiger da. Den sollten Sie einmal nachlesen. Da heißt es zum Agrarbericht
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11462 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Ertl1979: „Die Fragezeichen werden größer." Dann heißt es u. a:Ein anderer Punkt ist die immer mehr verschobene Bewertung der Einkommensteile der Landwirtschaft, die nicht in Geld erfolgen, vor allem die immer mehr zunehmende groteske Unterbewertung der Mietwerte der landwirtschaftlichen Wohnhäuser bei der Berechnung der bäuerlichen Betriebs- und Familieneinkommen.
— Ich zitiere doch wohl die Auffassung der bayerischen Staatsregierung, denn nach meiner Ansicht ist sie der Herausgeber des Bayerischen Staatsanzeigers, wenn ich nicht falsch informiert bin.
— Nein, das habe ich auch nicht gesagt.Im übrigen: Soweit ich die Rede von Franz Josef Strauß zur EG-Agrarpolitik auf dem Bauerntag in München gelesen habe, kann ich sie weitgehend teilen.
Nur muß ich sagen: Sie haben ihm heute in vielen Dingen widersprochen. Soweit ich die Rede bisher gelesen habe — ich muß mich mit dem Text noch genau befassen —, erwarte ich eine interessante Diskussion mit ihrem Herrn Vorsitzenden, Herr Kollege Kiechle.Zurück zum EWS. Zunächst will ich Ihnen einen Text vortragen, wenn es der Präsident gestattet. Ich versuche, es wirklich kurz zu machen.
— Na, Sie werden doch so viel Geduld aufbringen können, daß ich hier ein klein wenig antworten darf. So viel Fairneß darf man in einem Parlament doch erwarten.Herr Präsident, ich darf aus der Entschließung des Europäischen Rats vom 5. Dezember 1978 zitieren:Der Europäische Rat ersucht den Rat im Hinblick auf die Durchführung der unter Buchstabe A gefaßten Beschlüsse, am 18. Dezember 1978 über 'die folgenden Vorschläge der Kommission zu beraten und zu beschließen:Dann kommen die ganzen währungspolitischen Beschlüsse, die bei Einführung des EWS notwendig sind. Weiter heißt es unter Buchstabe c:Verordnung des Rates über die Auswirkungen des Europäischen Währungssystems auf die Gemeinsame Agrarpolitik.Der Europäische Rat ist der Auffassung, daß die Einführung des EWS als solche nicht zu Änderungen der vor dem 1. Januar 1979 bestehenden Situation führen muß, bei der Agrarpreise, Währungsausgleichsbeträge und alle anderen für die Zwecke der gemeinsamen Agrarpolitik festgesetzten Beträge in Landeswährungen ausgedrückt sind.Dies ist ein klarer Beschluß des Europäischen Rats. Wenn das eine andere Regierung möglicherweise anders interpretiert, dann ist das kein Täuschungsversuch der Bundesregierung.Weiter heißt es:Der Europäische Rat betont, daß es im Interesse einer Wiederherstellung der Preiseinheit in der gemeinsamen Agrarpolitik, unter gebührender Berücksichtigung der Preispolitik, wichtig ist, daß die Schaffung dauerhafter Währungsausgleichsbeträge künftig verhindert wird ufid die bestehenden Währungsausgleichsbeträge schrittweise verringert werden.Das ist exakt die Festschreibung der Agrarpolitik dieser Bundesregierung, seit sie die Verantwortung trägt. An diesem Beschluß haben wir uns orientiert. Hier gibt es also nichts zu täuschen.Ich könnte Ihnen auch die weiteren Papiere vorlegen. Aber, wie gesagt, dies kann ich so nicht hinnehmen. Ich will auch gar keinen Vergleich zwischen dem anstellen, was ursprünglich gefordert, und dem, was erreicht wurde.Fest steht, daß es sich hier erstens darum handelt, ob überhaupt neue Grenzausgleichsbeträge infolge Währungsveränderungen notwendig werden. Zweitens soll, wenn sie notwendig werden, ein Abbau in zwei Raten versucht werden, und zwar unter der Auflage, daß es in den Aufwertungsländern nicht zu nominellen Preissenkungen kommen darf und die Einkommenslage der Landwirtschaft berücksichtigt wird.
Zudem wird nach zwei Jahren, wie auch beim EWS, eine Überprüfung durchgeführt. Selbstverständlich steht und fällt die jetzige Abmachung mit der Frage, ob das EWS endgültig wird oder nicht.Dies wollte ich hier sagen, weil es mir fernliegt, in irgendeiner Form nach dem Motto zu operieren, irgend jemanden täuschen. Nein, wir können die Karten auf den Tisch legen.Weil wir schon dabei sind, noch folgendes — das beruhigt mich ein klein wenig —: Ich habe hier ein Flugblatt, das die französischen Bauern jüngst in Paris beim französischen Agrarsalon verteilt haben.
In ihm heißt es:
Der Grenzausgleich ruiniert die französischen Bauern.Weiter heißt es da — ich will zu den Zahlen nichts sagen; ich habe die noch gar nicht untersuchen lassen —:In Deutschland braucht man 85 700 Liter Milch für einen Schlepper, in den Niederlanden 92 000 und in Frankreich 11.0 000 Liter.So schaut die Medaille des angeblich so „bevorzugten" Frankreich aus der Sicht der Franzosen aus. Ich könnte Ihnen dazu Beispiele in Hülle und Fülle nennen. Das sind die berühmten Wettbewerbsnachteile — Herr Kollege Schartz, Sie schauen gerade so
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Bundesminister Ertlfröhlich drein —, die wir haben: daß die deutschen Bauern einen um ungefähr 20 °/o höheren Milchpreis haben als die Franzosen, und zwar wegen einer schlechteren Molkereistruktur, aber auch wegen des Grenzausgleichs. Aber ich möchte auf dieses Thema gar nicht weiter eingehen, weil ich damit vielleicht der Sache nicht nutzen würde. Denn für mich ist es oft notwendig, im Interesse der Sache und zum Nutzen der Landwirte zu manchen Dingen zu schweigen.Zum Franchise in Höhe von 1 v. H. muß ich erläuternd noch folgendes sagen: Hinsichtlich dieses Punktes haben Sie, Herr Kollege Ritz, gesagt, daß dies Einkommensverluste in Höhe von 370 Millionen DM bedeuten würde. Ich will es an einem Beispiel erklären: Die Bundesrepublik Deutschland hat einen positiven Grenzausgleich -- nur damit Sie sehen, in welche Dimensionen Sie kommen — von 10,8 °/o, Großbritannien von 26 °/o, wobei wir uns über 1 °/o nicht zu streiten brauchen, weil das von Tag zu Tag schwanken kann. Das bedeutet im Warenverkehr - ganz gleich welcher Art —, wenn Grenzausgleichsbeträge anfallen, eine Berechnung von rd. 37 °/o auf den Warenwert. Wenn ein Punkt Franchise herausgenommen wird, sind es rd. 36 °/o. Wenn Sie mir sagen, dies sei eine Benachteiligung der deutschen Landwirtschaft, dann bitte ich um den Beweis. Aber ich glaube, wenn ich über diese Dinge weiter spreche, wecke ich nur schlafende Hunde und schwäche meine Verhandlungsposition in Brüssel. Allerdings bin ich der Opposition, wenn sie Fragen anschneidet, Aufklärung schuldig.Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Es ist hier von der Mittelstandsfeindlichkeit des Entwurfs zum Branntweinmonopolgesetz die Rede gewesen. Ich weiß nicht, woher das kommt. Denn Betriebe unter 600 Hektoliter Alkoholausstoß sind überhaupt nicht betroffen. Das ganze. Gesetz baut auf der Basis der Kostendeckung auf und insgesamt 300 Millionen DM staatlicher Gelder werden zusätzlich aufgewandt. Sie wissen selbst, daß wir hier — auch im Zusammenhang mit der Alkoholmarktordnung — vor einer ganz schwierigen Frage stehen. Natürlich ist aufgenommen worden, daß die Möglichkeit zum freiwilligen Zusammenschluß besteht! Niemand wird gezwungen werden. Dafür sorgt schon ein liberaler Politiker.
Freiwillig, wie gesagt, sollten sich die Brennereien zusammenschließen, weil sie in der EG mit ganz leistungsfähigen Brennereien in Großbritânnien, Italien, Frankreich usw. konkurrieren müssen. Da muß man doch ein Angebot zur Kooperation machen! Das ist doch geradezu ein Gebot der Vorsorge und hat nichts damit zu tun, daß man Menschen die Existenzgrundlage nehmen will.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt anschneiden, der immer wieder hochkommt, nämlich die einzelbetriebliche Förderung. Ich weiß wirklich nicht, was man noch alles tun soll. Wir drucken z. B. so schöne Broschüren wie nun diese hier. Nur, ich habe das Gefühl, daß auch Mitglieder dieses Hausses die nicht lesen. Denn ein Großteil der Bemerkungen — sei es vom Kollegen Schartz, sei es vom Kollegen Dr. Kunz — ist schlichtweg durch Tatsachen zu widerlegen. Nehmen wir einmal die Aufstiegshilfe. An Aufstiegshilfe können zweimal 60 000 DM beansprucht werden. Ich nenne weiter den Uberbrükkungskredit und das gezielte Nebenerwerbsprogramm. Ich meine, genau das muß doch das Ziel sein, meine sehr verehrten Kollegen: eine gezielte Förderung zu betreiben, die Unterschiede machen muß zwischen dem Voll-, dem Zu- und dem Nebenerwerbsbetrieb. Denn der Vollerwerbsbetrieb ist investiv zu fördern, der Nebenerwerbsbetrieb ist zu fördern im Hinblick auf Arbeitsextensivierung, weil nämlich spätestens in der zweiten Generation die junge Frau sonst nicht mehr mitmacht, und dann verliert er sogar sein Eigentum. Ich möchte dem kleinen Landwirt das Eigentum erhalten.
Herr Bundesminister Ertl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schartz?
Ja bitte, Herr Schartz.
Herr Minister, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Jahre 1975 im Lande Rheinland-Pfalz in 28 Fällen eine Förderung durch Überbrückungshilfe erfolgt ist und 1976 in ganzen 17 Fällen, und würden Sie mir dann nicht zustimmen, wenn ich sage: Das ist ein Programm, das von der Landwirtschaft, die in diesem Lande aus 79 000 Betrieben besteht, nicht angenommen wird?
Herr Schartz, aus vielen Versammlungen weiß ich, daß der Informationsstand der Landwirtschaft in dieser Frage außerordentlich gering ist. Ich appelliere deshalb an den Präsidenten des Bauernverbandes, mehr dafür zu tun,
aber nicht aus politischen Gründen so zu tun, als sei • das nicht möglich.
Herr Kiechle hat einen guten Satz gesagt: Verunsichern tun wir. Da muß ich ihm voll zustimmen. Ich muß auch sagen: Das ist die Aufgabe der Opposition. Nur, die Aufgabe der Regierung ist es, die Verunsicherung wieder abzubauen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage?
Ich möchte erst auf den Zuruf von Herrn von Geldern antworten. — Sie müssen sich einmal mit dem Minister Glup über das einzelbetriebliche Förderungsprogramm unterhalten. Das würde ich Ihnen raten. Da würden Sie eine großartige Belehrung bekommen. Schönen Gruß von mir,
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11464 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Ertler soll Ihnen ganz ungeschminkt seine Meinung sagen! Ich kann Ihnen auch noch weitere CDU-Landwirtschaftsminister nennen, wenn Sie wollen.
— Herr Schartz, bitte!
Herr Bundesminister, darf ich Ihnen, da Ihnen das offensichtlich nicht bekannt ist, die entsprechenden Artikel der „Rheinischen Bauernzeitung", die von meinem Verband herausgegeben werden und die Ihr Förderungsprogramm behandeln und erläutern, wie auch die erläuternden Schriften des Landes Rheinland-Pfalz zusenden, und sind Sie bereit, diese Schriften zu lesen? Dann werden Sie Ihr Urteil korrigieren.
Nein, ich werde mein Urteil nicht ganz korrigieren. Aber ich freue mich, daß Sie sagen, Sie wollen mir helfen. Dieses Angebot nehme ich natürlich sehr gern zur Kenntnis. Mein Haus steht Ihnen zur Verfügung, das nötige Material zu liefern. Da können Sie sich auf mich verlassen.
Ich habe Ihre Behauptung untersuchen lassen, Herr Schartz. Meine Mitarbeiter sind ja flinke Leute — geistig, aber auch körperlich!
Es stimmt in der Tat, daß 1969 in der Bundesrepublik 31 535 Betriebe gefördert worden sind. 1976 waren es 6 237. Aber 1969 wurden nur in rund 1 000 Fallen wesentliche Investitionen für Althofsanierungen und ähnliche gewichtige Vorhaben gemacht. Alles andere waren mehr oder weniger Kleinkredite mit 20 000, 30 000 DM für Maschineninvestitionen. Dadurch erklärt sich nach unseren Untersuchungen die große Zahl von 1969.
Ich muß Ihnen sagen: Ich habe gar nichts gegen Hofkreditprogramme der Länder. Wenn sie Geld haben und etwas tun können, begrüße ich das sehr. Wir haben das Unsere getan über die Kreditanstalt für Wiederaufbau, auch mit ganz guten Konditionen. Das wurde übrigens auch hervorragend in Anspruch genommen. Die Frage des Agrarkredits ist also für mich erledigt. Ich erinnere übrigens weiter an die Zusatzkreditprogramme der Landwirtschaftlichen Rentenbank und der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank, die alle auch die Zustimmung des Ministers bekommen haben.
Aber ich sage Ihnen noch einmal: Die Förderungskonzeption muß letzten Endes den unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung tragen, und zwar so, wie Sie es auf Seite 22 des Agrarberichts nachlesen können. Dort heißt es z. B. beim Zuerwerbsbetrieb: Reineinkommen 11 671 DM; außerbetriebliches Erwerbseinkommen 8 338 DM; sonstiges Einkommen 1 680 DM. Das ergibt ein Gesamteinkommen von 21 689 DM. Beim Nebenerwerb beträgt das Reineinkommen 2 958 DM; außerbetriebliches Einkommen 25 637 DM. Das ergibt ein Gesamteinkommen von 28 983 DM.
Ich halte noch einmal fest: Die Problembetriebe sind die Vollerwerbsbetriebe an der unteren Grenze bzw. die Zuerwerbsbetriebe. Für die meisten Betriebe besteht hier nur die Möglichkeit, kombinierte Einkommen herbeizuführen. Hier soll keiner sagen, es seien keine außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplätze geschaffen worden. Ich habe die Zahl da: Von 1972 bis 1977 sind im Rahmen der Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur, wobei wohlgemerkt der Bund hier auch die Länder fragen muß — es ist nicht immer alles Bundesmeinung, wir haben Gemeinschaftsaufgaben —, 518 500 neue Dauerarbeitsplätze gefördert und 643 600 Arbeitsplätze gesichert worden. Das sind die Zahlen. Deshalb gibt es eine Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Diese kann gar nicht genug mit der Agrarstruktur verzahnt werden.
Denn wenn Sie die kleinen Landwirte auf dem Lande halten wollen — und das will ich — und ihr Eigentum sichern wollen, dann müssen Sie erreichen, daß sie ihr Einkommen über die außerlandwirtschaftliche Tätigkeit absichern können. Sonst werden sie vom Land vertrieben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiechle?
Herr Minister Ertl, darf ich Ihnen, da Sie mir soeben in einer nonchalanten, aber keineswegs sehr sorgfältigen Form vorgeworfen haben, ich hätte gesagt: „Verunsichern tun wir", ein Zitat aus meiner Rede vorlesen:
In diesen wichtigen Problemen fehlt eine klare Aussage der Bundesregierung. Sie hat weder ein Konzept noch ein Programm. Sie gibt unseren verunsicherten Bauern keine Leitlinie noch hat sie den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Das überläßt sie der Opposition.
Und wie lautet die Frage?
Es tut mir leid, offensichtlich gibt es selbst unter Bayern Sprachschwierigkeiten. Ich habe es anders verstanden, Herr Kiechle, es tut mir leid. Aber verunsichern tun Sie auch ganz gerne — wenn ich Ihre Rede ein kleines bißchen bewerte.
Aber ich gebe zu: Sie haben das nicht gesagt; ich entschuldige mich auch dafür. Aber Ihre Rede war in der Tonlage natürlich auf Verunsicherung angelegt.
Das ist Ihr gutes Recht. Ich habe es nur falsch mitbekommen; das liegt offensichtlich an Ihrer alemannischen Aussprache, deren der Altbayer scheinbar nicht ganz mächtig ist.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11465
Aber wenigstens die Bayern sollten sich noch in der gleichen Sprache verständigen können.
Aber verehrter Herr Präsident und Franke Stücklen,
auch zwischen Franken und Altbayern gibt es diesbezüglich Unterschiede. Zwischen Schwaben und Altbayern ist es noch schwieriger. Das ändert nichts am gemeinsamen Heimatgefühl.
— Nur die Altbayern, das ist ganz historisch. Das sind diejenigen, die dort geboren wurden, wo es das Herzogtum Bayern gab. Andere haben es dann erobert und dort die Herrschaft angetreten.
- Nein, Teile Schwabens gehörten zum Herzogtum Bayern, aber eben nur Teile Schwabens.
Ich will, bevor ich zu einer zusammenfassenden Wertung komme, Herr von Geldern, nochmals ein klein wenig auf Ihre Bemerkung zur Fischerei eingehen, zumal da Sie mir auch immer schriftliche Mitteilungen dazu machen. Es ist auch nicht so, daß ich nicht wüßte, daß Sie große Sorgen haben. Ich habe dafür viel Verständnis. Als ich heute meine Pressemappe durchsah — da werden Sie mir allerdings auch sagen: unsere Sorgen berühren 1979; das teile ich auch —, habe ich zufällig gelesen, daß die schleswig-holsteinische Presse voller interessanter Schlagzeilen war: „Krabbenfischer — erfreuliche Verbesserung der Fangergebnisse", schrieben die „Husumer Nachrichten". Weiter heißt es: „Unterschiedliche Entwicklung bei den Kutterfischern" . Sie sehen, ich berichte ganz vollständig. „Nord- und Ostsee gaben 33 000 Tonnen Fisch her. Die Fänge gelten dennoch als unbefriedigend." Dann heißt es in den „Kieler Nachrichten" — ich zitiere nur diese Zeitungen —: „Kutterfischerei kam 1978 glimpflich davon".
— Entschuldigen Sie, jetzt hätte ich beinahe eine scherzhafte Bemerkung gemacht, Herr von Geldern. Ich bin natürlich nicht in der Lage, persönliche Verantwortung dafür zu übernehmen, daß die Fische durch bestimmte Fangmethoden dezimiert wurden. Sie haben solche genannt, z. B. die Gammelfangmethode. Es ist uns gelungen, die Dänen auf 10 °/o zu drücken. Das war ein beachtlicher Erfolg, bei dem Sie auch die Situation in Dänemark berücksichtigen müssen; denn auch dort geht es um die Sicherung von Arbeitsplätzen.
Wir reden immer so gern von Europa, und dabei meinen manche offensichtlich, die Deutschen seien nur da, um Befehlshaber zu spielen. Der eine darf dieses, der andere darf jenes nicht tun, und wir dürfen alles. So können Sie ein Europa nicht bauen, sondern Europa können Sie nur hauen, wenn Sie versuchen, so miteinander zu leben, daß jeder leben kann. Sonst geht es nicht.
Da müssen Sie sich mit dem Tatbestand abfinden, daß es Probleme gibt. Ich will die Details hier nicht aufführen. Das ist keine Ausrede. Ich möchte auch nicht wieder auf Großbritannien eingehen. Der britische Landwirtschaftsattaché hat sich sowieso schon darüber beklagt, daß ich gestern auf Großbritannien eingegangen bin. Deshalb möchte ich das heute kein zweites Mal tun; denn ich möchte Großbritannien in der Gemeinschaft halten. Aber es ist schon sehr schwierig, die gemeinsame Agrarpolitik zu formulieren.
Eines verstehe ich nicht, was ich immer wieder in Zeitungen lese; aber es wird offensichtlich oft etwas anderes publiziert, als hier im Hause gesagt wird. So wird immer wieder gefordert, wir müßten im Ostseeraum zweiseitige Verhandlungen führen. Ich verstehe das aus der gesampolitischen Sicht nicht; denn gesamtpolitisch lehnt die CDU/CSU genau das ab. So geht es nicht. Sie müssen in dieser Frage respektieren, daß es eine Gemeinschaft gibt, und wenn wir zweiseitig verhandeln, können wir den Briten nicht verwehren, daß auch sie zweiseitig verhandeln. Das gilt auch für die Franzosen und für alle anderen Länder.
— Sie müssen einmal die Verträge und die Beitrittsakte nachlesen! Sie können nicht so tun, als ob es hier keine rechtlichen und politischen Verpflichtungen gäbe. Es ist dann die Frage, wann eine Politik wirksam wird. Herr von Geldern, ich muß Ihnen da wirklich noch einmal Nachhilfeunterricht geben.
Ich muß Ihnen sagen — das bestätigt Ihnen sogar die Fischereiwirtschaft; Sie haben ja gute Lieferanten —: Die Bundesrepublik Deutschland kann überhaupt nur unter einer EG-Regelung leben.
Wir selber haben keine Fanggründe, wir haben nichts anzubieten. Deshalb war es gut, daß es zu einer Achterlösung gekommen ist. Das ist der Grund dafür, daß wir bis heute in der Fischerei einigermaßen erträglich über die Runden gekommen sind. Ich möchte nur hören, daß das von Ihnen anerkannt wird, weil das auch die Fischereivertreter in Gesprächen mit mir anerkennen. Herr von Geldern, Sie behaupten etwas, was die Fischereivertreter bei mir nicht aufrechterhalten.
Ich bitte, keine Zwiegespräche zu führen.
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11466 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Nur habe ich keine Möglichkeit, die britische Regierung zum Befehlsempfang nach Bonn zu zitieren. Ich bitte, das ein bißchen zu respektieren.
Herr Kollege Kiechle, das ist keine Frage von brav oder nicht brav, sondern es ist eine Frage, bei der England vitale Interessen hat; aber ich habe hier nicht die Interessen Englands zu vertreten.Ich möchte noch einmal sehr deutlich wiederholen, was auch ein Vorredner gesagt hat: Wir lassen uns nicht von Bürokraten sozusagen alles vorschreiben. Dann müssen Sie in Europa ein politisches Parlament schaffen — was ich wünsche; dabei weiß ich, daß es auch der Großteil dieser Partei will —, das die letzte Entscheidung hat. Ich als Minister würde das lieber gestern als morgen haben, weil wir dann eine klare Verantwortung haben. Sie wissen aber auch, was dagegen steht. Man sollte sich nicht immer gleich Illusionen hingeben.Ich sage Ihnen darüber hinaus: Die Gemeinschaft wird nur bestehen können, wenn sie langfristig Mehrheitsentscheidungen erträgt. Sonst wird sie nicht leben können.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Wer immer in Brüssel die Verantwortung trägt, wird diese auf Dauer nicht tragen können, wenn er sich einerseits in Brüssel um einen redlichen Kompromiß bemüht und andererseits daheim aus nationalen Gründen dauernd dafür gescholten wird. Das geht dann nicht.
Dann müssen wir sagen, daß wir zu einer solchen Gemeinschaft nicht fähig sind und eine Freihandelszone oder ähnliches wollen.Es wurde auch der Beitritt weiterer Staaten hier angesprochen. Agrarwirtschaftlich gesehen würde ich zum Beitritt eher nein als ja sagen. Aber glauben Sie, daß Sie heute noch Agrarpolitik nur unter agrarischen Gesichtspunkten machen können?
Die Agrarpolitik muß sich natürlich auch in unsere außenpolitische, außenhandelspolitische und wirtschaftspolitische Landschaft einordnen. Dazu brauchen zum Beispiel die Deutschen zur Sicherung der Arbeitsplätze offene und größere Märkte.Wenn Sie sich die Bilanz anschauen: In den letzten beiden Jahren 10 Milliarden Plus im Warenverkehr mit unseren acht Partnern! Das sind 200 000 Arbeitsplätze! 41 °/o unseres industriell-gewerblichen Exportes geht in die Neuner-Gemeinschaft, und wenn Sie die ehemaligen EFTA-Staaten und die Beitrittsstaaten hinzunehmen sind es über 60 % Beim Agrarexport sind es 67 °/o, obwohl wir da — wie ich hier höre — offensichtlich Wettbewerbsnachteile haben und nicht konkurrenzfähig sind. .Ich sage nicht, daß das alles der Ausdruck unserer Politik ist — nein, ich sage Ihnen: Am liebsten wäre es mir, ich könnte eine Preis- und Einkommenspolitik für die Landwirtschaft machen ohne staatliche Regelungen, und zwar eine befriedigende. Aber wir wissen, daß wir in dieser Frage eben staatliche Regelungen brauchen, ebenso wie bei der Kohle, aus vielerlei Gründen, auch aus Sicherheitsgründen. Ich sage das sehr deutlich. Die ersten Monate dieses Jahres waren ja sehr „heiß". Sie sind vielleicht etwas auf „lauwarm" zurückgegangen. Aber ich möchte dieses Volk nicht der Gefahr aussetzen, daß es bei einer Krise — in welcher Form sie auch immer auf uns zukommt, und Krisen können sehr schnell entstehen, wie wir in jüngster Zeit erlebt haben — sagt: Warum hat denn niemand daran gedacht, genügend Vorsorge zu treffen? Das kann ich mit ruhigem Gewissen sagen: Diese Bundesregierung hat noch genügend Vorräte auf Lager, zumindest bei den Grundnahrungsmitteln.Lassen Sie mich ein Weiteres anführen. Sie haben gesagt: Beitritt — agrarwirtschaftlich viele Probleme, finanziell viele Probleme! Aber wir müssen doch wissen, daß das ein Beitritt ist, der die Demokratie in Europa stärkt!
Ich sagen Ihnen: Wenn die europäischen Demokratien nicht überleben, überlebt die Demokratie in der Welt nicht! Amerika allein wird die Demokratie nicht verteidigen können. So sehr ich an dem Bündnis hänge und so sehr ich dafür eine Aufgabe sehe, — ich sehe die große Mission der Europäer darin, in einer Gemeinschaft von Demokratien ein Bollwerk für die Verwirklichung einer humanen Welt zu werden. Die Gemeinschaft wird eine Industriegesellschaft sein. Aber diese Industriegesellschaft wäre töricht, wenn sie glaubte, sie könne auf Landwirtschaft verzichten.
Letzter Punkt! Auf eines bin ich stolz — ohne das irgendwie pathetisch sagen zu wollen —: Unser Land ist unverändert ein schönes Land. Es ist nicht zuletzt deshalb ein schönes Land, weil es uns gelungen ist, trotz eines hohen Industrialisierungsstandes eine aufgefächerte, breite Siedlungs- und Eigentumsstruktur zu erhalten. Was wäre dieses Land ohne die Dörfer, die kleinen und mittleren Städte!
Es wäre eine Ode! Das muß man sehen, und auf die Erkenntnis muß man die Politik ausrichten. Da- bei muß man natürlich in Europa Kompromisse schließen, die sicherlich den verantwortlichen Ministern nicht immer Freude machen. Lassen Sie mich dazu am Schluß noch einige Sätze zur Milch sagen. Daß sich bisher die Milchpreise auf jeden Fall sehr befriedigend entwickelt haben, sagen ja sogar Bauern. Das sagen sie vielleicht nicht unbedingt, wenn sie zu hundert versammelt sind. Auch hundert Arbeiter sagen nicht, wie sie genau denken. Aber es sagen doch viele Bauern: mit dem Milchpreis von
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Bundesminister Ertlheute können wir noch eine Zeitlang leben. Damit kann sich diese Regierung schon sehen lassen. Aber jetzt stoßen wir an eine Grenze, wo die Finanzierungskosten fast nicht mehr zu verkraften sind. Da gibt es zwei Alternativen: Begrenzte Intervention — solche Vorschläge gibt es —, oder das derzeitige System der Intervention aufrechterhalten! Im letzteren Fall müssen Sie das System der Mitverantwortungsabgabe ausbauen. Da stimme ich Ihnen in einem Punkt zu: ob dabei Großbritannien oder die Niederlande zustimmen, weiß ich nicht. Und zwingen kann ich sie nicht. Es bietet sich beispielsweise an, ab einer gewissen Menge
— ich nenne jetzt keine genauen Zahlen, weil ich mein Konzept nicht vorzeitig ausbreiten will — einen höheren Prozentsatz zu erheben. Es bietet sich vielleicht auch an, unten eine kleine Freimenge zu gewähren. Bergbauerngebiete wären sowieso herauszunehmen. Das ist alles gar nicht so schwierig, vorausgesetzt, man erzielt eine Einigung, was ich hoffe.Ich weiß, das kommende Jahr wird ein schweres Jahr sein. Meine Vorredner haben natürlich recht: Mit der Anhebung des Grundpreises bei Schweinen bewirken wir im Moment überhaupt nichts. Viel wichtiger ist, daß sich der Markt festigt, damit wieder bessere Schweinepreise zustande kommen. Ähnliches kann ich im Moment für den Rinderorientierungspreis sagen.Niemand kann an der Tatsache vorbeigehen, daß wir handelspolitische Verpflichtungen haben und daß letzten Endes durch den Dollarverfall die Substitute immer billiger wurden. Deshalb sehe ich nicht die Möglichkeit, von der Sie, Herr Kollege Ritz, sprechen. Sie sagen: Der Getreidepreis ist leicht anzuheben. Sie müssen wissen: Damit machen Sie die Kluft zu den Substituten wieder größer, und das Substitut verdrängt das eigene Produkt.Ich sage das, damit man sich darüber sehr genau Gedanken macht. Niemand von uns kann den Dollarkurs bestimmen, und niemand von uns wird das Substitutionsproblem ändern können, es sei denn, man bewegt sich zu totalen staatlichen Regelungen hin. Ob das sehr klug ist, weiß ich nicht. Das gilt sowohl für die Förderung der Landwirtschaft wie für die Gestaltung des Marktes.Ich teile allerdings die Auffassung, daß die Maßnahmen innerhalb der EG unter nationalen Gesichtspunkten unterschiedlich gehandhabt werden. Aber ich müßte natürlich viel weiter zurückgehen, wenn Sie sagen: Eigentlich hätte man zuvor eine Wirtschafts- und Währungsunion und dann einen gemeinsamen Agrarmarkt machen sollen. Der Agrarmarkt ist ein Faktum. Er ist politisch gewollt und jüngst von den Regierungschefs bestätigt worden.Im übrigen: Wer das Konzept der Bundesregierung zur Neuorientierung der Agrarpolitik kennenlernen will, braucht nur die Vorschläge der Bundesregierung vom Januar 1975 zu lesen. Sie sind in eine Bestandsaufnahme eingegangen, die gedruckt vorliegt. Das ist das politische Ergebnis.Unser Ziel wird es sein, auch in Zukunft einen funktionsfähigen ländlichen Raum zu erhalten undden Menschen in der Landwirtschaft gleiche Chancen einzuräumen. Gleiche Chancen einräumen heißt allerdings nicht: gleiche Einkommen staatlich garantieren, sondern: jeder muß individuell entscheiden, wie er seine Zukunft gestalten will; der Staat hat nur den Rahmen zu schaffen; die Freiheit des einzelnen ist Gebot und Notwendigkeit, um eine demokratische Gesellschaft überhaupt aufrechtzuerhalten.Dies ist unsere Aufgabe. Ich hoffe, daß es uns gelingt, die schwierige Situation zu meistern. Ich appelliere an alle. Denn dazu bedarf es wirklich einer großen Kooperation nicht nur aller politischen, sondern auch aller wirtschaftlichen Kräfte, von der Produktion bis zur Verarbeitung.Wenn das der Fall ist, kann die deutsche Landwirtschaft ihre Position in unserer Gesellschaft erhalten. Es muß ein Ziel unserer Politik sein, sie als einen lebensfähigen Teil unserer Gesellschaft für die Zukunft zu erhalten — nicht allein wegen der Landwirtschaft, sondern um aller Menschen willen.Abschließend glaube ich, sagen zu können: Diese Bundesregierung hat sich in vielfältiger Form bemüht, zusätzliche Leistungen zu erbringen, mag man über Details denken, wie man will. Niemand kann das abstreiten. So stellt z. B. das soziale Sicherheitsnetz der Landwirte heute nicht mehr nur ein Taschengeld dar, sondern bietet eine Geldleistung, die erheblich mehr ist.Ich stelle fest: Die Bundesregierung wird die Landwirtschaft auch in Zukunft nicht im Stich lassen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Agrarbericht 1979 — Drucksachen 8/2530 und 8/2531 — federführend an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie mitberatend an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich bemerke keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen.Zum Agrarbericht 1979 der Bundesregierung liegen auf den Drucksachen 8/2654 und 8/2655 zwei Entschließungsanträge der Fraktion der CDU/CSU vor. Es ist beantragt, die Entschließungsanträge zusammen mit dem Agrarbericht ebenfalls an die wirgenannten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keine gegenteilige Meinung; es ist so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt i der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anzeige und Beanstandung von Landpachtverträgen
— Drucksache 8/2615 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschuß
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11468 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Vizepräsident StücklenDas Wort wird nicht gewünscht. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 8/2615 — federführend — an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und — mitberatend — an den Rechtsausschuß vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keine gegenteilige Meinung; es ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Entwicklungsländer-Steuergesetzes— Drucksache 8/1857 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 8/2548 —Berichterstatter: Abgeordneter Löfflerb) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 8/2501 —Berichterstatter:Abgeordnete Rapp , Dr. Sprung
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für jede Fraktion ein Kurzbeitrag vereinbart.Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rapp(Göppingen).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, über das wir reden, ist, wie sich das für ein Subventionsgesetz ja eigentlich auch gehört, seit 1961 bereits fünfmal ausgelaufen. Es wird heute zum sechstenmal in Gang gesetzt.Die Befristung ist allemal auch Ausdruck der Hofflung auf Erkenntnisfortschritt gewesen, auf die Chance, Verbesserungen des Gesetzes in programmierten Lernschritten zu erreichen. So wurde z. B. das letzte Mal das Ärgernis des Förderungstatbestandes aus dem Gesetz entfernt, den das Stichwort von den von Deutschen bevölkerten Hotels in Spanien aufspießt. Damals — 1974 — hat man übrigens größerer Klarheit und Wahrheit wegen das Entwicklungshilfe-Steuergesetz, wie es bis dahin hieß, umbenannt in Entwicklungsländer-Steuergesetz.Schon aus diesen wenigen Sätzen sollte klargeworden sein, daß das Entwicklungsländer-Steuergesetz nie unumstritten war. Es ist auch heute nicht unumstritten. Wenn der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit neulich sagte, Entwicklungspolitik - und er meinte öffentliche Entwicklungshilfe — sei ein Abenteuer, bei vielen Maßnahmen wisse man nicht, wie sie sich in zehn, zwanzig oder in dreißig Jahren auswirkten, so gilt dies selbstverständlich auch für private Investitionen in Entwicklungsländern. Ohne Frage gibt es erwünschte, entwicklungspolitisch sinnvolle, in jeder Beziehung förderungswürdige private Investitionen in Entwicklungsländern, d. h. auch die richtige Investition im richtigen Land. Aber es gibt auch andere, von denen wir eher das Gegenteil zu vermuten Anlaß haben.All dies ist ja auch einbezogen in den raschen Wandel der Entwicklungstheorien. Integration in die Weltwirtschaft oder Abkoppelung von der Weltwirtschaft, substitutive oder komplementäre internationale Arbeitsteilung, Grundbedürfnis- oder Industrialisierungsstrategie, Exportförderung oder Importsubstitution, angepaßte oder hochgezüchtete Technologie, Dorfentwicklung oder Urbanisierung, Orientierung an der Wahrung der Menschenrechte oder lediglich an Wirtschaftsinteressen sind da nur einige der zugegebenermaßen nicht immer alternativ zu entscheidenden Fragestellungen.Wir Sozialdemokraten haben uns bei den Beratungen des Gesetzentwurfs große Mühe gegeben, in das Gesetz eine wirksamere entwicklungspolitische Konditionierung hineinzubringen. Schließlich haben wir ja unter dem Eindruck der Ereignisse im Iran beraten. Am Ende mußten wir jedoch erkennen und auch bekennen, daß wir derzeit einfach nicht in der Lage sind, mit der für ein Steuergesetz erforderlichen Genauigkeit sagen zu können, Investitionen welcher Art entwicklungspolitisch förderungswürdig sind und für welche dies nicht zutrifft.Es kommt ja noch hinzu, daß es die Entwicklungsländer selbst überhaupt nicht so gerne sehen, wenn wir von hier aus über ein deutsches Steuergesetz ihre regionale und sektorale Strukturpolitik betreiben wollten.
: Sehr wahr!)
Vielleicht kommen uns da irgendwann einmal international vereinbarte Kodizes zu Hilfe; es wäre sehr zu wünschen.Übrigens war gestern in der Zeitung zu lesen, Brasilien werde seine Industrialisierungspolitik künftig strukturpolitisch ordnen. In Sao Paulo z. B. sei der Sack zu. Sao Paulo diente uns in den Ausschußberatungen immer wieder zur Demonstration absehbarer chaotischer Entwicklung.
Lernfortschritte hat es auch bei dieser Novellierung gegeben. So werden Kapitalanlagen in den am wenigsten entwickelten Ländern — Ländergruppe 1 der UNO-Klassifizierung, die uns ja vorgegeben ist und an der wir auch nicht rütteln sollten — durch die Verlängerung des Zeitraums für die steuerwirksame Auflösung der zunächst steuerfreien Rücklage von sechs auf zwölf Jahre verstärkt gefördert. Damit wird der Erfahrung Rechnung getragen, daß die geförderten Investitionen bisher weit überwiegend in wenige Schwellenländer — und dort vorab nach Brasilien — gegangen sind, wobei es fraglos zu großen Mitnahmeeffekten gekommen ist.
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Rapp
Solche Mitnahmeeffekte sind übrigens mit fast allen Subventionsgesetzen verbunden. Sie sind auch nahezu unvermeidbar. Aber sie fallen hier ganz besonders ins Gewicht. Wir hoffen jedenfalls, daß die erwähnte Verbesserung künftig doch einen etwas höheren Anteil der deutschen Auslandsinvestitionen in die weniger entwickelten Länder lenken wird.In gleicher Weise wurde die Förderung von Investitionen im Rohstoff- und Energiebereich in Ländern der Gruppe 2 der UNO-Liste verbessert, also der entwickelteren Länder. Für diesen Zweck wird zudem eine etwas höhere Rücklagenbildung ermöglicht. Durch eine Ergänzung im Entwurfstext haben wir dafür gesorgt, daß auch bei solchen Rohstoffund Energieinvestitionen in den etwas entwickelteren Ländern die entwicklungspolitischen Interessen voll zur Geltung kommen, jedenfalls nicht hinter die rohstoffpolitischen Interessen zurückzutreten haben.Auf einige mehr technische Änderungen in diesem Bereich — Mindestbeteiligung bei beteiligungsähnlichen Darlehen, Zwischenschaltung von Holdinggesellschaften usw. — kann ich in diesem Rahmen nur stichwortartig hinweisen. — Von der Förderung ausgeschlossen haben wir den Kauf von Latifundien.Nun hat der Umstand, daß der Entwurf eine weitere Befristung des Gesetzes nicht mehr vorsah, uns Sozialdemokraten, wie Sie wissen, erhebliche Schwierigkeiten gemacht. Schadenfreude, meine Damen und Herren von der Opposition, und Anzüglichkeiten würden — ich sage das schon einmal vorbeugend — eher auf die zurückfallen, die in diesem Punkt nie Schwierigkeiten gesehen haben. Sie gehen ja in Ihren Versammlungen draußen auch herum und verkünden, Subventionen müßten prinzipiell befristet werden, und auch Ihr Grundsatzprogramm, brandneu, bekennt sich dazu. Aber im Ausschuß hat man bei der Beratung des EntwicklungsländerSteuergesetzes von Ihnen nie etwas zur Befristung gehört.
In unserem Fall hat die Befristung des Entwicklungsländer-Steuergesetzes ja immer auch den Sinn gehabt, die Sache lernfähig und offen zu halten. Wir haben es zu guter Letzt immerhin geschafft, Vorschriften über eine Meldepflicht in das Gesetz hineinzubringen, die sich u. a. auch auf die Arbeitsplatz- und die Ausbildungsplatzwirkungen der geförderten Investitionen erstreckt. Das ist ein wichtiger Fortschritt. Wir haben bisher ja noch nicht einmal gewußt, was durch dieses Gesetz im einzelnen gefördert wurde. Das werden wir künftig wissen.Ferner werden wir die Bundesregierung in einer Entschließung auffordern, bis Ende 1982 unter Auswertung der neuen Statistik über die volkswirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Wirkungen bei besonderer Berücksichtigung der Folgen für die Beschäftigungssituation sowie über die rohstoffpolitischen Auswirkungen zu berichten und Vorschläge zur Verbesserung des Gesetzes zu machen, Vorschläge, wie sie sich aus dem raschen Wandel der Voraussetzungen und der Lösungsansätze sowohl der Entwicklungspolitik als auch der Rohstoffpolitik ergeben.Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß dieses Gesetz für Sozialdemokraten erst durch diese Kombination von Statistik und Berichtspflicht der Bundesregierung akzeptabel geworden ist. Wir bringen damit zum Ausdruck, daß wir das Gesetz im Jahre 1983 aus der Wiedervorlage nehmen und dann darüber im Lichte neuer Erfahrungen und neuer Erkenntnisse neu nachdenken wollen.
Im übrigen war auch bei den Beratungen des jetzt anstehenden Änderungsgesetzes zum Entwicklungsländer-Steuergesetz bei der Opposition wieder die Rede von der Rückkehr zu Bewertungsabschlägen anstelle von Rücklagen. Bewertungsabschläge bedeuten Steuerverzicht; Rücklagen bedeuten Steuerstundung.Wenn immer wieder von den 300 Millionen DM die Rede ist, die das Ganze kostet, dann bitte ich zu bedenken: Es handelt sich um Steuerstundung, solange wir, wie gesagt, bei den Rücklagen bleiben. Wir haben alle Ansinnen, wieder Bewertungsabschläge einzuführen, zurückgewiesen.Nun hat das Gesetz im Zuge der Beratungen noch einen Artikel 1 a hinzubekommen. Es ist ein Sammelgesetz oder, wie wir im Finanzausschuß sagen, ein „Omnibusgesetz", insoweit daraus geworden, als wir der sich bietenden Gelegenheit wegen zwei das Einkommensteuergesetz betreffende Regelungen mit aufzunehmen hatten.Die erste besagt, daß Grenzgänger, die im Inland steuerpflichtig sind, künftig die Arbeitgeberbeiträge zu betrieblichen Pensionskassen nicht mehr zu versteuern brauchen. Es handelt sich dabei um Arbeitnehmer, die nicht der deutschen Rentenversicherung angehören und folglich, wie z. B. im Falle der Schweiz, auf betriebliche Pensionskassen angewiesen sind. Insoweit wird durch den Annex in diesem Gesetz in gewisser Weise eine Gleichbehandlung mit Inlandsarbeitnehmern hergestellt.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Darf ich noch eine Minute diese zweite Regelung behandeln?
Wenn die Kurzdebatte einen Sinn haben soll, müssen wir uns an die Zeit halten.
Die zweite Regelung betrifft — nur ein Stichwort — die steuerliche Berücksichtigungsfähigkeit der Kosten für die doppelte Haushaltsführung.Meine Damen und Herren, im ganzen haben wir es mit einem Gesetz zu tun, das in der Ausschußarbeit im Sinne des Offenhaltens auf das Bessere hin so verbessert werden konnte, daß es den Sozialdemokraten möglich sein wird zuzustimmen.
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11470 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Das Wort hat der Abgeordnete Stommel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen Beratung des Gesetzes zur Änderung des Entwicklungsländer-Steuergesetzes beginnt der letzte Akt des Trauerspiels einer Novellierung, die den Namen „Novellierung" kaum verdient. Obwohl die Regierung ausreichend Zeit hatte, wurde wieder nichts Durchgreifendes zustande gebracht. Wieder verspätet beraten wir eine Vorlage, die zwar gewisse Verbesserungen enthält, die auf Grund unserer intensiven Mitwirkung zustande gekommen sind, aber noch lange nicht den Vorstellungen entspricht, die wir gern in dieser Novellierung verwirklicht hätten.Wir verabschieden heute das EntwicklungsländerSteuergesetz in einer Zeit der Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern, in einer Zeit konjunktureller und währungspolitischer Schwierigkeiten mit negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.Steuererleichterungen sollen die Investitionsfähigkeit der Wirtschaft stärken. Es wird über Sonderprogramme der westlichen Industrieländer nachgedacht, um die Finanzierung von Industriegütern für Entwicklungsländer zu ermöglichen und die Konjunktur anzukurbeln. Wir sprechen von der Interdependenz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, wir sind gegen Protektionismus und treten für die Öffnung unserer Märkte für Waren aus den Entwicklungsländern ein, um den Welthandel zum Vorteil aller offenzuhalten. Ziel einer solchen Politik ist die verstärkte Integration der Entwicklungsländer in den Welthandel unter Vermeidung von dirigistischen Maßnahmen.Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen, ob das Entwicklungsländer-Steuergesetz in der uns von der Bundesregierung vorgelegten Form den Anforderungen der wirtschaftspolitischen Situation und den entwicklungspolitischen Zielen gerecht wird.Im Gegensatz zur Regierung betrachte ich zunächst die Maßnahmen im Rahmen des Entwicklungsländer-Steuergesetzes nicht vorrangig als ein Haushaltsproblem, sondern als steuerliche Anerkennung der in den Entwicklungsländern tatsächlich gegebenen Risiken.Ich darf in diesem Zusammenhang an das nichtöffentliche Hearing vom 18. Oktober 1978 erinnern. Dort haben wir auf die Frage des Kollegen Vohrer an den Sachverständigen von der OECD gehört, daß die Leistungen nach dem EntwicklungsländerSteuergesetz eben nicht als Subvention angesehen werden dürfen und damit auch in der 0,7 °/o-Rate nicht erfaßt werden, sondern daß sie eine adäquate steuerliche Maßnahme für ein besonderes Risiko darstellen.Wenn wir uns unter diesen Gesichtspunkten die heutige Beratungsvorlage ansehen, dann kann ich nur mit Bedauern feststellen: Das ist Entwicklungspolitik nach dem Steinzeitalter, eine Politik, die die Handschrift der 60er Jahre trägt.Für Sie ist die Entwicklungspolitik Zusammenarbeit zwischen den Regierungen. Ich muß hier sagen: Ihre Antiunternehmerideologie, die auch in dem Vortrag des Kollegen Rapp zum Ausdruck kam, hindert Sie daran, die privatwirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern als Teil der Entwicklungspolitik zu betrachten und zu unterstützen.Was Ihre letzten Auseinandersetzungen anbetrifft, Herr Kollege Rapp — Sie haben soeben zu meinem Erstaunen selbst erwähnt, daß Sie sich am letzten Dienstag in der Fraktion nicht einig werden konnten, ob das Gesetz befristet oder nicht befristet werden soll —, so empfinde ich darüber überhaupt keine Schadenfreude. Ich bin der Meinung, daß wir über so viel Unwissenheit über die praktische Vorgehensweise in der Wirtschaft nur Bedauern empfinden können.
Eine solche Verunsicherung in die Wirtschaft hineinzutragen, kann doch nicht Sinn, und Zweck Ihrer Regierung sein, die doch immer wieder — ob es nun der Bundeskanzler oder der Wirtschaftsminister ist — verkündet, daß sie die Privatinvestitionen auch in der Dritten Welt fördern will.
Ich muß der Bundesregierung auch vorwerfen, daß sie in ihrem Erfahrungsbericht zum Entwicklungsländer-Steuergesetz auf die vom Parlament sehr gezielt gestellten Fragen nur ungenügend Auskunft gibt. Das haben auch die Kollegen von der SPD im Ausschuß zusammen mit uns sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.Ursache sind die nur unzureichend geführten Statistiken. So kann auf die Frage nach den Steuermindereinnahmen, also auf die Frage, was dieses Gesetz den Bund und die Länder gekostet hat, keine Antwort gegeben werden.Obwohl aus diesen Gründen weder eine Bewertung der entwicklungspolitischen Zielerreichung, noch eine Beurteilung der konjunktur-, struktur-und beschäftigungspolitischen Rückwirkungen möglich ist, zeigen die vorliegenden knappen Informationen aber doch sehr deutlich, daß bei der Entscheidung über Auslandsinvestitionen andere Faktoren als das Entwicklungsländer-Steuergesetz den Ausschlag geben. Man kann aber daraus auch den Schluß ziehen, daß das Entwicklungsländer-Steuergesetz sein Ziel, nämlich zusätzliche Investitionen durch steuerliche Begünstigung zu stimulieren, kaum erreicht haben dürfte.
— Nein, es sind nicht nur Mitnahmeeffekte. Aber wenn Sie ihr Gesetz weiter so gestalten wollen, wie Sie es heute vorlegen, dann wird es vielleicht doch dazu kommen. Wir wollen das nicht. Hören Sie nur weiter zu. Wir werden noch andere Vorschläge unterbreiten.Die bescheidenen steuerlichen Vergünstigungen haben die Risiken und infrastrukturbedingten Standortnachteile vieler Entwicklungsländer nicht aus-
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Stommelgleichen können. Die Bundesregierung hat aber auch in all den Jahren keine gezielten Maßnahmen gefördert, um z. B. durch die Ausbildung von Arbeitskräften vor Ort oder durch die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen private Investitionen zu flankieren und zu unterstützen. Im Gegenteil, frühere unterstützende Maßnahmen zur Vorbereitung und Erleichterung der unternehmerischen Tätigkeit deutscher Firmen im Ausland wie die Übernahme von Kosten für Pre-Investitionsstudien oder auch die Förderung der Ausbildung von Lehrlingen in Betrieben in Entwicklungsländern sind seit Jahren nicht mehr verfolgt worden. Statt dessen nehmen Sie mit dieser Novellierung eine Ihrer üblichen Steuerreparaturen vor, konzentrieren sich auf finanztechnische Oberflächenmakulatur. Ich meine, die wenigen guten Verbesserungen passen so richtig in die Fastenzeit.Uns geht es um weiterführende Ziele:1 . Stärkere Förderung mittelständischer Investitionen in den Entwicklungsländer;2. stärkere Förderung von Rohstoff- und Energieinvestitionen;3. weitgehende Förderung des Technologietransfers;4. Berücksichtigung beschäftigungspolitischer Wirkungen;5. entsprechende Ausrichtung unseres entwicklungspolitischen Instrumentariums auch auf die sogenannten Schwellenländer;6. stärkere Unterstützung der Ausbildungsleistungen der deutschen Wirtschaft in und für die Entwicklungsländer.Um diese Ziele zu erreichen, haben wir von der CDU/CSU bereits Ende 1977, alternativ und ganz konkret gesetzestechnisch ausformuliert und begründet, entsprechende Vorschläge unterbreitet. Das werden Sie ja wohl nicht leugnen.
— Hören Sie nur zu. Ich meine, ich hätte schon eine ganze Reihe politischer Zielsetzungen hier genannt, Herr Kollege Bindig.Von diesen 18 alternativen Vorschlägen will ich Ihnen wegen der Kürze der Zeit nur die wesentlichen neun nennen:1. Wiedereinführung des Teilwertabschlages, um den Unternehmern eine echte Steuerersparnis als Anreiz zur Investition und als finanzielle Starthilfe im Gegensatz zur bisher vorgesehenen Steuerstundung zu bieten;2. Wegfall der Diffamierung nach Ländergruppen;3. Begünstigung der verdeckten Einlage;4. niedrigere Beteiligungsquoten bei Kapitalanlagen durch Darlehen;5. Begünstigung von Vorhaben im Bereich des Fremdenverkehrs, soweit die volkswirtschaftliche Zweckmäßigkeit vom Bundesminister für Wirtschaftund vom Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit anerkannt wird;6. Begünstigung von Holdinggesellschaften, und zwar im Sinne der Vorlage des Bundesrates, jedoch mit der Erweiterung, daß jede Beteiligung, die eine unternehmerische Investition zum Ziel hat, begünstigt werden sollte;7. mögliches Optionsrecht zwischen Bewertungsabschlag und Rücklagenbildung;8. Förderung des Technologietransfers durch Einbeziehung immaterieller Wirtschaftsgüter unter die Vergünstigung des Entwicklungsländer-Steuergesetzes;9. Anrechnung ausländischer Steuern auf Lizenzgebühren zur Erleichterung des Technologietransfers.Alle unsere Forderungen haben das Ziel, neben dem bestehenden außenwirtschaftlichen Instrumentarium durch weitere und vor allem verbesserte entwicklungspolitische Maßnahmen die privatwirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern zu erleichtern und zu fördern. Der Anteil deutscher Investitionen in Entwicklungsländern ist im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern außerordentlich gering. Das Potential der kleinen und mittleren Firmen ist bisher kaum mobilisiert worden. Die Chance, mit Hilfe von verstärkten privaten Direktinvestitionen oder auch anderen Kooperationsformen, wie sie z. B. im Rohstoff- und Energiebereich entwickelt wurden, neben entwicklungspolitischen Zielen auch Konjunktur-, Beschäftigungs- und vielleicht sogar Strukturprobleme mit zu lösen, sind nicht wahrgenommen, ja sogar noch nicht einmal ernsthaft geprüft worden.Dabei ist die öffentliche Entwicklungshilfe der westlichen Geberländer an einem kritischen Punkt angelangt. Die Geberländer sind von den geringen Erfolgen ihrer entwicklungspolitischen Arbeit enttäuscht. Die Suche nach guten Projekten wird immer schwieriger, weil die Aufnahmefähigkeit der Entwicklungsländer sowohl administrativ als auch hinsichtlich der Folgekosten der meist unproduktiven Projekte begrenzt ist. Es fehlen die produktiven Projekte, die Arbeitsplätze und Kaufkraft schaffen.Wenn wir trotzdem dieser auf antiquierten politischen Vorstellungen beruhenden Novellierung hier letztlich zustimmen, dann nur, weil es im Interesse der wünschenswerten Grunddaten für Investitionen in Entwicklungsländern notwendig ist, an Stelle des 1978 ausgelaufenen Gesetzes eine neue dauerhafte Grundlage zu setzen. Wenn in drei Jahren die von uns gewünschten Daten vorliegen, werden wir mit der Mehrheit der Vernünftigen erneut für eine weitergehende Förderung des Technologietransfers, des mittelständischen Engagements in Entwicklungsländern, der Rohstoff- und Energieförderung; der Ausbildungsförderung eintreten und diese dann auch durchsetzen können.
Das Wort hat Herr Abgeordnete Vohrer.
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11472 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Lassen Sie mich in der gebotenen Kürze die drei wichtigsten Änderungen des Entwicklungsländer-Steuergesetzes herausgreifen: erstens die Umwandlung in ein zeitlich unbefristetes Gesetz, zweitens die verstärkte Förderung von Kapitalanlagen in den am wenigsten entwickelten Ländern durch die Verlängerung der Auflösungsfrist für die steuerfreien Rücklagen von sechs auf zwölf Jahre, drittens die verstärkte Förderung von Kapitalanlagen im Rohstoff- und Energiebereich und die Erhöhung der steuerfreien Rücklagen von 40 auf 60 °/o.Der Punkt 1, nämlich die unbefristete steuerliche Regelung des Gesetzes, hat politisch zu sehr ausgiebigen Diskussionen geführt. Ich fand es sehr verdienstvoll von meinem Kollegen Rapp, daß er hier die Schwierigkeiten dargestellt hat. Wenn ich das in meinen Worten noch einmal nachzuvollziehen versuche, dann würde ich sagen: Es geht hier um ein Abwägen zwischen der Kontinuität steuerlicher Rahmenbedingungen einerseits und der zeitlichen Begrenzung von Subventionen andererseits. Zwischen den beiden Klippen haben wir zu wählen. Ich würde sagen: Das Hearing hat bestätigt, daß der jetzige Weg die Zustimmung der Unternehmer findet. Wir sind in der Wirksamkeit des Gesetzes u. a. darauf angewiesen, daß es überhaupt angenommen wird.Im übrigen sind die Argumente, die vorgebracht wurden, daß Investitionen in Entwicklungsländern eine langfristige Planung voraussetzen und langfristige Realisierungszeiträume in Anspruch nehmen, nicht vom Tisch zu wischen. § 9 macht es uns mit dem Abbau der Statistik und der Berichtspflicht auch möglich, das Gesetz zu verbessern, wenn wir als Gesetzgeber den Eindruck haben, daß dies geschehen sollte.Der Subventionsbericht weist aus, daß mit dem Gesetz rund 200 Millionen DM Steuermindereinnahmen verbunden sind. Er macht auch deutlich, daß die jetzige Änderung lediglich zu Mehrkosten oder weiteren Mindereinnahmen von 30 Millionen DM führt. Dieser Betrag ist sicherlich noch sehr hoch gegriffen, weil er einen höheren Marktzins unterstellt, als er derzeit zu zahlen ist.Viel interessanter ist hier die Frage nach dem Nutzen des Gesetzes, die Frage, ob durch das Entwicklungsländer-Steuergesetz überhaupt zusätzliche Investitionen bewirkt werden können. In dem Hearing haben wir gehört, daß niemand auf Grund des Gesetzes zusätzlich investieren werde, daß aber auch niemand ohne das Gesetz investieren würde.
Jener Widerspruch beherrschte das Hearing. Es zeigte sich auch immer wieder deutlich, daß mehrere Faktoren zusammenkommen müssen: Marktchancen in den Entwicklungsländern, Kostenstrukturen, die Investitionen interessant machen, politische Rahmenbedingungen, aber auch ein öffentliches Förderinstrumentarium, das sich aus Steuererleichterungen, günstigen Darlehensbedingungen, Bürgschaften, Garantien und Beteiligungen des Bundes zusammensetzt. Es ist unsere Aufgabe, ständig das Zusammenwirken des gesamten Instrumentariums zu überprüfen, um vielleicht eines Tages ein Entwicklungsländer-Steuergesetz mit größerer Zieleffizienz zu verabschieden. Daran werden wir als Liberale mitwirken und sehr intensiv mitarbeiten.Das Hearing zeigte, daß einige unserer Sorgen unberechtigt waren. Wir hatten ursprünglich die Befürchtung, daß mittelständische Unternehmen gar nicht in der Lage wären, die steuerlichen Vorteile ausreichend auszuschöpfen. Von Unternehmerseite wurde der Nachweis geführt, daß eine solche differenzierte Wirkung nicht eintreten würde. Es zeigte sich auch eines immer wieder ganz deutlich: daß mit dem Gesetz eine entwicklungspolitische Feinsteuerung nicht möglich ist.Wir hätten uns alle als Entwicklungspolitiker sehr gefreut, wenn wir die Beschäftigungseffekte hätten als Kriterium heranziehen können, wenn wir die beruflichen Qualifikationen, die mit solchen Investitionen verbunden sind, stärker hätten berücksichtigen können. Aber wie soll ein Finanzbeamter hier entscheiden, ob eine Drehbank in dem Entwicklungsland zu Ausbildungszwecken oder zur Produktion verwendet wird? Wie sollen die Deviseneinsparwirkungen in dem jeweiligen Investitionsland quantifiziert und qualitativ eingeschätzt werden? Wie soll ,die Qualität der Arbeitsplätze oder die soziale Sicherheit dort von uns beurteilt werden? Und wie können wir beispielsweise verhindern, daß Umweltbelastungen aus unserem Land in ein anderes Land durch private Investitionen exportiert werden?Das wird mit einem Entwicklungsländer-Steuergesetz nicht zu machen sein, ohne daß wir uns dem Vorwurf aussetzen, mit unserer Wertstruktur investitionslenkend zu wirken. Wer die sensible Reaktion der Entwicklungsländer kennt, weiß, daß sich mit solchen Maßgaben, die von unserer Seite vorgenommen werden, möglicherweise der Vorwurf verbindet, daß wir in dem Bereich der Investitionen neokolonialistische Ambitionen zeigen, indem wir sagen, welche Investitionen in den anderen Ländern entstehen sollten und welche nicht.Wir müssen uns bewußt werden, daß öffentliche Entwicklungshilfe und die Förderung privater Investitionen zwei völlig verschiedene Ansätze sind, daß wir in dem Bereich der öffentlichen Entwicklungshilfe gezielt Entwicklungspolitik betreiben können, indem wir solche Mittel in die am wenigsten entwickelten Länder leiten, indem wir dort das Konzept der basic needs verwirklichen, indem wir dort die Gelder gezielt in den ländlichen Raum leiten, was für private Investitionen alles nicht zutrifft. Wir wissen, daß der Schwerpunkt der Investitionen im Bereich der Schwellenländer liegt. Wir wissen, daß nur knapp 1,5 °/o der privaten Investitionen in die ärmsten Länder der Welt gehen — erfreulicherweise mit leicht steigender Tendenz. Wir wissen, daß die Gelder in die Industrialisierung, in den Touristikbereich gehen, nicht in ländliche Räu-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11473
Dr. Vohrerme, sondern in städtische Agglomerationen. Aber wir können eventuell erreichen, daß die Komplementarität privater Investitionen und öffentlicher Entwicklungshilfe unseren Ansatz verbessert.Weil die entwicklungspolitische Feinsteuerung mit dem Gesetz nicht möglich ist, ist es sicherlich nicht falsch, wenn die Pluralität der Zielsetzungen, nämlich Energie- und Rohstoffsicherung und generelle Förderung von Investitionen im Ausland, in einen engen Zusammenhang gebracht wird. Ich halte das Gesetz für eine Möglichkeit, private Investitionen unbürokratisch, zügig zu fördern. Wir bleiben haushaltsmäßig in einem verantwortbaren Rahmen. Hier möchte ich die Opposition doch bitten, daß sie ihre Vorschläge überprüft, Vorschläge übrigens, die ein Gemisch von selektiven und globalen Maßnahmen sind, die, so wie Sie es hier als Wunschkatalog vorgetragen haben, Herr Stommel, nicht eindeutig auseinandergehalten werden und deren Finanzvolumen überhaupt nicht abgeschätzt werden kann.Ich sehe in dem jetzt vorgelegten Katalog und in den jetzt vorgelegten Änderungen eine vernünftige Ergänzung des Förderinstrumentariums für private Investitionen in Entwicklungsländern. Als FDP sehen wir auch das Zusammenspiel privater und öffentlicher Investitionen als Gesamtkonzeption. Wir können dem Gesetz zustimmen und haben dann, wenn sich auf Grund der Statistik und der Berichte, die uns vorgelegt werden, herausstellen sollte, daß die entwicklungspolitische Zielsetzung nicht erreicht wird, auch den Mut, dazuzulernen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung.
Ich rufe Art. 1, 1 a, 2 und 3 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist damit bei einer Gegenstimme in zweiter Lesung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wird weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei einer Gegenstimme und drei Enthaltungen mit Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, es liegen zwei weitere Beschlußempfehlungen des Ausschusses vor. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/2501 unter Ziffer 2 die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/2501
unter Ziffer 3 ferner, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um ein Zeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksache 8/2624 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Einbringung gewünscht? -Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Fünften Änderungsgesetzes zum Arbeitsplatzförderungsgesetz zieht die Bundesregierung Konsequenzen aus den arbeitsmarktpolitischen Erfahrungen und Erkenntnissen der letzten Zeit.
Die Zahl der Arbeitslosen hat im Februar trotz des kalten Winterwetters um 7,4 % abgenommen. Für den Monat März ist ein deutlicher Rückgang jetzt bereits absehbar. Die Grundlinien der wirtschaftlichen Entwicklung lassen unbestritten für das Jahr 1979 eine weitere positive Entwicklung erwarten.Die Bundesregierung weiß, daß die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung nach wie vor erheblicher Anstrengungen bedarf. Sie läßt keinen Zweifel daran, daß dieses Ziel die politische und moralische Aufgabe Nummer eins in unserem Lande ist und unvermindert angestrebt werden muß.
Nur durch ein konzertiertes Zusammenwirken von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik wird es gelingen, schrittweise diesem Ziel näherzukommen. Die Arbeitsmarktpolitik kann hier nur einen ergänzenden, aber wichtigen Beitrag leisten. Mit der Arbeitsmarktpolitik kann man kein globales Arbeitsmarktdefizit beseitigen.Wir haben in den vergangenen Jahren deutlich machen können, wie groß die ergänzenden Möglichkeiten sind. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat beispielsweise errechnet, daß sich die Beschäftigungswirkungen der Arbeitsmarktpolitik im Jahresdurchschnitt auf rund 210 000 Arbeitsplätze beziffern lassen.Der Schwerpunkt des jetzt vorliegenden Gesetzes liegt vorrangig bei Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen Bildung und zur besseren, gezielteren Vermittlung der Problemgruppen des Arbeitsmarktes.
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11474 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Dr. EhrenbergLeider ist durch die immer noch nicht abgeschlossene und zunehmende, von allen möglichen Ecken her angeheizte Diskussion um den Runderlaß 230 der Bundesanstalt für Arbeit der Schwerpunkt dieser Novelle ein wenig ins falsche Fahrwasser geraten. Dabei sind auch viele Unklarheiten über die Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik diskutiert worden. Gestatten Sie mir darum, auch zu dieser relativ späten Stunde zur Arbeitsmarktpolitik einen ein wenig breiteren Ansatz hier vorzustellen.Erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik kann erstens durch eine bessere Qualifizierung der Arbeitnehmer die Chance des einzelnen am Arbeitsmarkt und die Rahmenbedingungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung verbessern.Sie kann zweitens die Benachteiligung bestimmter Regionen und Personengruppen abmildern.Sie kann drittens einem Teil der Arbeitsplatzsuchenden für eine bestimmte Zeitdauer Beschäftigung geben.Vollbeschäftigung ist nur mit nahtlosem Zusammenwirken von Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik herbeizuführen. Die Bundesregierung ist mit ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik nach dem Weltwirtschaftsgipfel hier auf dem richtigen, auf einem guten Wege.Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen konjunkturellen Perspektiven ist ein beschleunigter und stetiger Abbau des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsplatzdefizits ein realistisches Ziel, wenn man • zusätzlich davon ausgeht, daß sich der Trend der Arbeitszeitverkürzung aus den letzten Jahren, der das jährliche Arbeitsvolumen im Schnitt um ein bis anderthalb Prozentpunkte vermindert hat, so fortsetzt. Die tarifpolitische Entwicklung der jüngsten Zeit, aber auch beispielsweise europäische Initiativen, wie sie von dem letzten Europäischen Rat beschlossen worden sind, lassen uns guter Hoffnung sein, daß dieser Trend sich so fortsetzen wird und damit auch durch die Arbeitszeitpolitik geholfen wird, der Vollbeschäftigung näherzukommen. Das heißt, verehrter Herr Kollege George, daß das, was in der Stahlindustrie, in der Zigarettenindustrie, in der Brauindustrie an Verkürzung der Arbeitszeit für die besonderen Problemgruppen des Arbeitsmarktes, für Schichtarbeiter und für ältere Arbeitnehmer, durchgeführt wurde, gleichzeitig ein dringliches sozialpolitisches und arbeitsmarktpolitisches Anliegen erfüllt und daß wir die Tarifparteien ermuntern, auf diesem Wege kräftig weiterzumachen.
Der Arbeitsmarktpolitik kommen vor diesem Hintergrund eine Reihe besonderer Aufgaben zu. Erstens die Aufgabe, durch Maßnahmen der beruflichen Bildung und Fortbildung die Qualifikation der Arbeitsuchenden zu verbessern und sie für künftige Entwicklungen des Arbeitsmarktes besser zu wappnen. Zweitens die Aufgabe, der Entstehung und Verfestigung schwer vermittelbarer Problemgruppen am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Drittens die Aufgabe, durch wirksame Vermittlung und Beratung dafür zu sorgen, daß zumindest die vorhandenen und angebotenen Arbeitsplätze kurzfristig besetzt werden. Viertens die Aufgabe, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen das Abgleiten in Dauerarbeitslosigkeit zu verhindern und zumindest einem Teil der Arbeitslosen vorübergehend Beschäftigung zu geben.Aber es geht nicht nur um die globalen Arbeitsmarktschwierigkeiten. Noch stärker muß sich die Arbeitsmarktpolitik auf die strukturellen Ungleichgewichte und einseitigen Benachteiligungen bestimmter Regionen und Personengruppen konzentrieren. Wir haben beispielsweise die regionale Differenzierung einer Arbeitslosenquote im Februar dieses Jahres von 1,6 °/o in Göppingen einerseits und 16,7 °/o in Passau andererseits, und in einer Vielzahl von Städten und Landkreisen in Baden-Württemberg und im Rhein-Main-Dreieck haben wir mit einer Quote von unter 2 °/o fast Vollbeschäftigung erreicht. Wir haben als Folge einer zunehmend vorangeschrittenen Selektierung der Arbeitskräfte in einer Vielzahl von Unternehmen zunehmend Differenzierungen nach Qualifikation, Alter und Geschlecht. Ungelernte sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Qualifizierte, Frauen stärker als Männer, ältere Arbeitnehmer stärker als jüngere.In diesem Zusammenhang ein ernstes Wort, ein Appell an öffentliche und private Arbeitgeber: Die zunehmende Zahl von Höchstaltersbegrenzungen bei Stellenangeboten ist nicht nur unsozial, sie ist auch betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich unsinnig.
Wie können Arbeitgeber erwarten, daß der Arbeitsmarkt funktioniert, wenn sie durch künstliche Hemmschwellen einen Teil der Arbeitswilligen, die meist über einen großen Erfahrungsschatz an praktischer Tätigkeit verfügen, von den Vermittlungen durch die schon beim Angebot ausgesprochene Begrenzung nach dem zufälligen Kalenderjahr der Geburt dieses Arbeitnehmers abgrenzen. Ich möchte ausdrücklich sagen, das gilt für öffentliche und private Arbeitgeber gleichermaßen.
Vor diesem Hintergrund bleiben, auch wenn die Situation in den letzten Monaten besser geworden ist, die Vermittlungschancen beim harten Kern der Dauerarbeitslosen schwierig. Zwar hat sich im Sommer 1978 die Zahl um 27 000 vermindert. Sie ist aber immer noch zu hoch. Darum liegt hier einer der wesentlichen Schwerpunkte der Änderungsvorschläge der fünften Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes.Erfreulicherweise können wir feststellen, daß die Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen unter 20 Jahren überproportional zurückgegangen ist und erheblich unter dem Durchschnitt der Gesamtarbeitslosigkeit liegt. Dagegen bereitet nach wie vor die Frauenarbeitslosigkeit große Sorgen. Mit einer Arbeitslosenquote von 4,4 °/o bei den Männern und einer von 5,8 °/o bei den Frauen ist hier ein großes Ungleichgewicht eingetreten. Aber es muß hervorgehoben werden, daß die stärkere Frauenarbeitslosen-Bundesminister Dr. Ehrenbergquote nicht das Ergebnis eines stärkeren Abbaus an Frauenarbeitsplätzen ist. Im Gegenteil. Von 1971 bis 1977 hat sich die Zahl der Arbeitsplätze für Männer von 14,7 Millionen auf 13,8 Millionen, also um rund 1,2 Millionen, vermindert, während die Zahl der Arbeitnehmerinnen 1977 mit 7,6 Millionen etwa gleich hoch wie 1971 war, exakt um 10 000 höher. Wer sich also mit dem Thema Frauenarbeitslosigkeit befaßt — das ist die größte Gruppe der Arbeitslosen —, muß dabei sehen, daß das das Ergebnis einer zunehmenden Erwerbsquote bei den Frauen ist und daß nicht ein Abbau an Frauenarbeitsplätzen die Ursache ist. Ich sage das nicht, um die Frauenarbeitslosigkeit zu verharmlosen. Jede arbeitsuchende Frau hat das gleiche Recht auf einen Arbeitsplatz wie ein arbeitsuchender Mann, und wir werden Entsprechendes dafür zu tun haben.Besonders besorgniserregend — ohne Rücksicht auf geschlechtsspezifische Differenzierungen — ist die Tatsache, daß immer mehr Arbeitsuchende ungelernte Arbeitnehmer sind. Nach den letzten Strukturuntersuchungen der Bundesanstalt für Arbeit sind es mehr als 60 % der Gesamtzahl. Darum liegt der Schwerpunkt der fünften Novelle bei der Fortentwicklung und Verbesserung der positiv gestaltenden arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten. Durch den Ausbau der Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes, insbesondere der Förderung der beruflichen Bildung, der Förderung der Arbeitsaufnahme, sollen die Chancen für eine ausbildungs- und berufsadäquate Wiedereingliederung in das Berufsleben verbessert werden. Dies gilt insbesondere für die Schwer-Vermittelbaren.Ich gehe an dieser Stelle gleich auf einen Punkt der Kritik an diesem Gesetzentwurf ein. Ich kann nicht verstehen, wie bei dieser so deutlich aus dem Gesetz herauslesbaren Zielrichtung der Vorwurf erhoben werden kann, die Anpassungslasten der Arbeitslosigkeit sollten einseitig den Arbeitslosen zugeschoben werden.Der vorliegende Entwurf tut gerade dies nicht. Seine Zielrichtung ist positiver Natur. Einzelfälle von Arbeitsunwilligkeit, die im Verhältnis zum Gesamtproblem Arbeitslosigkeit von völlig untergeordneter Bedeutung sind, nimmt Weser Entwurf nicht zum Anlaß zu einer Jagd auf ein vermeintliches Heer von Arbeitsunwilligen. Im Vordergrund stehen vielmehr ein verstärktes Dienstleistungsangebot der Arbeitsverwaltung und verbesserte Hilfen für den einzelnen, um durch qualifizierende Maßnahmen die Entstehung von Arbeitslosigkeit zu verhindern bzw. ihren Abbau zu beschleunigen.
Mit Dequalifikation, meine Damen und Herren, wäre nichts gewonnen, weder für den einzelnen noch für den Arbeitsmarkt. Es gibt heute bereits in vielen Regionen einen Mangel an qualifizierten Arbeitnehmern. Ungelernte Arbeitslose haben wir dagegen viel zu viele. Durch Dequalifikation von Fachkräften wollen wir diese Zahl nicht noch erhöhen, sondern im Gegenteil durch den Ausbau der beruflichen Bildung, durch Maßnahmen zur Verbesserung der Vermittlungsaussichten und Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung gerade unterwertige Beschäftigungen in Zukunft vermeiden, fehlende Qualifikationen nachholen helfen und Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die eine größere Vermittlungschance eröffnen.
Aber es wäre natürlich auch bei diesem Ansatz leichter, wenn die Arbeitgeber aufhörten, eine Selektion der Älteren und der weniger Belastungsfähigen vorzunehmen. Und es muß Schluß sein — —
— Darauf gebe ich Ihnen gleich eine Antwort, Herr George.Es muß Schluß sein mit der arbeitnehmerfeindlichen Devise, nur Leute mit Olympia-Qualifikationen einzustellen, auch wenn man selber nur ein Spiel in der Kreisklasse zu veranstalten hat.
Die Frage, woran das liege, können Sie wahrscheinlich besser beantworten als ich. Ich würde gerne von all denen, die über mangelhafte Qualifikation der heute Arbeitsuchenden reden, eine Antwort auf die Frage haben, wie es denn bei dieser angeblich schlechten Qualifikation möglich war, daß alle diese arbeitslosen Kollegen bis 1973, während der Hochkonjunktur, vollbeschäftigt und voll einsatzfähig waren.
Da das der Fall ist, da das nachweisbar ist, muß es wohl andere Ursachen für ein gesteigertes Anspruchsverhalten bei der Einstellung gegeben haben. Man wird ja wohl auch noch feststellen dürfen, daß die gleiche deutsche Volkswirtschaft, die zwischen 1960 und 1973 in der Lage war, rund 2,5 Millionen ausländische, mit den hiesigen Produktionsverhältnissen nicht vertraute Arbeitnehmer anzulernen und schnell in den deutschen Produktionsprozeß einzugliedern, bei gutem Willen auch in der Lage sein müßte, aus den heute ungelernten Arbeitslosen wenigstens angelernte, wenn nicht Facharbeiter zu machen.
Hier. gibt es einen Mangel an vorausschauender Unternehmerinitiative. Ich mache mich anheischig, den Unternehmern schon heute zu sagen, daß dann, wenn sich dieses Verhalten nicht ändert, die Facharbeiterlücke 1985 außerordentlich groß sein dürfte.
. Die. Arbeitsverwaltung wird dabei das Ihre tun, und wir haben die Mittel dafür im Haushalt aufgestockt und werden die Instrumente mit der 5. Novelle des AFG entsprechend verbessern, um diese Dienstleistungseinrichtung für den Arbeitsmarkt noch leistungsfähiger zu machen.Wenn von Unternehmerseite immer wieder zu hören ist, es gäbe ja eigentlich viel mehr offene Stellen, sie würden nur gar nicht erst gemeldet, weil das Arbeitsamt nichts zu bieten hätte, so ist das eine Haltung, die der Beteiligung der Arbeitgeber
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11476 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Dr. Ehrenbergan der Selbstverwaltung dieser Anstalt in keiner Weise entspricht.
Der Transparenz des Arbeitsmarktes wäre gedient, wenn jeder, der offene Stellen hat, sie auch am nächsten Tage der Arbeitsverwaltung anzeigte.
Auch hier hoffen wir, mit der Verstärkung der personellen Ausstattung der Arbeitsverwaltung einigesmehr leisten zu können, als dies bisher gelungen istVor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse aus den Analysen der Struktur des Arbeitsmarktes enthält die 5. Novelle folgende Schwerpunkte.Erstens. Die berufliche Bildung wird vor allem für die Problemgruppen des Arbeitsmarktes verbessert und intensiviert. Hierzu sieht der Entwurf insbesondere vor, daß die Zugangsvoraussetzungen zur Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung insbesondere für junge Arbeitslose erleichtert werden. Arbeitslosen Jugendlichen mit mindestens einjähriger Beschäftigung sollen bei Teilnahme an berufsvorbereitenden Maßnahmen Ausbildungshilfen auch ohne Anrechnung von Elterneinkommen gezahlt werden. Darüber hinaus soll der Anreiz für die Übernahme von Tätigkeiten, bei denen ein Mangel an Arbeitskräften besteht, durch Erhöhung des Unterhaltsgeldes verstärkt werden, und gleichzeitig werden für Problemfälle die Einarbeitungszuschüsse erhöht, damit ein größere Anreiz zur Beschäftigung solcher Arbeitnehmer gegeben wird.Zweitens. Die Vermittlung von Arbeitslosen soll verbessert und erleichtert werden. Der Entwurf sieht u. a. vor, daß die Arbeitsämter in Abständen von nicht mehr als drei Monaten zu einer Arbeitsberatung einladen sollen, in der zu prüfen ist, ob die berufliche Eingliederung des Arbeitslosen insbesondere durch die Teilnahme an einer Maßnahme zur beruflichen Bildung oder zur Verbesserung der Vermittlungschancen gefördert werden kann.Das letztere ist eine der wichtigsten Neuregelungen der Novelle. Insbesondere den schwer vermittelbaren Arbeitslosen soll auf dem Wege zu einer dauerhaften Integration ins Berufsleben gezielter und besser als bisher geholfen werden. In Informationskursen sollen die Arbeitslosen die Möglichkeit erhalten, sich über die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt und das Angebot an beruflichen Bildungsmaßnahmen eingehend zu informieren, sich mit ihrer individuellen, durch Arbeitslosigkeit geprägten Situation auseinanderzusetzen, praktische, betufsfeldorientierte Erfahrungen zu sammeln und die Fähigkeit zu planvollem Vorgehen bei den eigenen Bemühungen um die berufliche Wiedereingliederung verbessern zu können. Das ist also kein psychotherapeutisches Prokrustesbett; vielmehr geht es um Information und Beratung, um eine bessere Grundlage für die individuellen Beratungs- und Vermittlungsgespräche im Anschluß an die Maßnahme,
um verbesserte Möglichkeiten der realistischenSelbsteinschätzung. Insbesondere auch Ungelerntesollen mit den Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation vertraut gemacht werden.Die Kurse sollen das Gefühl, noch lernen zu können, wecken und stärken. Sie werden deshalb — eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Arbeitsministeriums und der Bundesanstalt für Arbeit bereitet zur Zeit die Inhalte dieser Programme vor — an folgenden Faktoren auszurichten sein: den individuellen Möglichkeiten am erreichbaren Arbeitsmarkt, den in Frage kommenden Berufsfeldern, der Möglichkeit der beruflichen Bildung und ihrer Förderung, den Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, der Gestaltung schriftlicher Bewerbungen und dem Verhalten bei Vorstellungsgesprächen, der Befähigung zum Handeln aus eigener Initiative für die Nutzung des Stellen- und Bildungsangebots und dem Erkennen von Begabungsschwerpunkten zur Wahrnehmung von Chancen auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der beruflichen Bildung.Darüber hinaus prüfen wir gegenwärtig die Möglichkeit, die Vermittlungsaussichten der in der Bundesrepublik lebenden arbeitslosen Arbeitnehmer durch Sprachkurse entscheidend zu verbessern, weil hier ein ganz schwieriges soziales und politisches Problem vor allem mit der zweiten Ausländergeneration auf uns zu kommt.Zu Thema Erleichterung und Verbesserung der Vermittlungsfähigkeit gehört weiter die im Gesetzentwurf vorgesehene Konkretisierung der „Zumutbarkeit" in § 103 AFG. Bisher wurde der Begriff der . Zumutbarkeit leider sehr unterschiedlich ausgelegt. Es war nach der Praxis einiger Arbeitsämter möglich, zwanzigjährige Ledige, denen in ihrem Heimatort auf lange Sicht kein Platz zur Verfügung zu stellen war, nicht in andere Orte zu vermitteln, in denen sogar Heime für Auszubildende zur Verfügung standen, und an anderen Arbeitsplätzen wurden Familienväter weit vom Wohnort entfernt vermittelt, nach sehr unterschiedlich gehandhabten Maßstäben auf der gleichen Rechtsgrundlage des geltenden Arbeitsförderungsgesetzes.Es liegt im Interesse der beschäftigten Arbeitnehmer und ihrer arbeitsuchenden Kollegen, hier eine einheitliche, klare Auslegung und eine Konkretisierung dieser Bestimmungen zu bekommen. Nicht Verschärfung des geltendes Rechts ist das Ziel der Fünften Novelle beim § 103, schon gar nicht, wenn man die Interpretation des geltenden Rechts durch den Zumutbarkeitserlaß der Bundesanstalt zugrunde legt. Die Gesetzesänderung soll vielmehr gerade die Basis für eine Änderung dieses Erlasses sein, z. B. in Richtung auf eine bessere und sozial ausgewogenere Berücksichtigung der familiären und persönlichen Situation des Arbeitslosen. Während das geltende Recht lediglich vorschreibt, daß bei der Beurteilung der Zumutbarkeit die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes, die Interessen der Gesamtheit der Beitragszahler und die des Arbeitslosen zu berücksichtigen sind, betont die Novelle den Vorrang der Interessen des Arbeitslosen und sieht deren Abwägung mit den Interessen der Gesamtheit der Beitragszahler vor.
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Bundesminister Dr. EhrenbergDarüber hinaus stellt sie ausdrücklich klar, daß bei der Interessenabwägung durch den Arbeitsvermittler die Befücksichtigung der familiären und sozialen Situation des Arbeitslosen unverzichtbar ist. Der Entwurf, meine Damen und Herren, hebt — anders als das geltende Recht — ausdrücklich hervor, daß bei der Beurteilung der Zumutbarkeit alle Umstände des Einzelfalles, insbesondere die bisherige berufliche Tätigkeit und die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Arbeitslosen, seine familiären und sonstigen persönlichen Verhältnisse, die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Dauer der Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind. Soweit es im Rahmen einer sich zwangsläufig kurz fassenden Vorschrift überhaupt möglich ist, sind hiermit jedenfalls im Kontext mit der Begründung des Gesetzentwurfes Vorgaben gemacht, die gewährleisten, daß bei Einzelfallentscheidungen den berechtigten Interessen des Arbeitslosen Gerechtigkeit gewährt wird.Meine Damen und Herren, wer den Entwurf unvoreingenommen liest, der kann dies nicht übersehen. Leider habe ich in vielen Stellungnahmen — die letzte, die mir hier vor die Augen kam, war ein Interview des Kollegen Blüm in der „Wirtschaftswoche" vom 5. März 1979 — entweder diese Unvoreingenommenheit vermissen müssen, oder — was ich mich eigentlich scheue — ich müßte dem Kollegen Blüm unterstellen, er hat über diesen Entwurf geschrieben, ohne ihn gelesen zu haben.
Denn, Herr Blüm, wenn es anders wäre, so kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie z. B. schreiben konnten — ich zitiere wörtlich aus Ihrem Interview — „In Ehrenbergs Novelle steht, daß sich der Arbeitslose jetzt sogar mit dem Tariflohn zufriedengeben muß." In Wahrheit steht hierzu in der Novelle nicht ein einziges Wort. Sie erklären weiter, nach dem Regierungsentwurf könne der Arbeitslose künftig gezwungen werden, an beruflichen Bildungsmaßnahmen oder Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation teilzunehmen. Die Wahrheit ist: Auch diese Frage wird in der Novelle nicht angesprochen. Was Sie da schreiben, ist geltendes Recht, Herr Blüm. Ich nehme an, Sie haben nicht den Entwurf, sondern die Interpretation des Entwurfs in der „Frankfurter Rundschau" gelesen. Darin stand der Quatsch allerdings auch.
Ich glaube, daß diese Art der politischen Auseinandersetzung diesem so sehr schwierigen Thema nicht gerecht wird und daß wir uns gemeinsam bemühen sollten, mit Hilfe dieser Novelle, die eine wirksame Verbesserung des Instrumentariums der Arbeitsmarktpolitik beinhaltet, die Schwierigkeiten des Arbeitsmarktes Schritt für Schritt zu überwinden. Dabei kommt — das kann bei einem solchen umfangreichen Gesetz nicht anders sein — auch für die Handhabung in den Arbeitsämtern der Begründung ebenfalls hohe Bedeutung zu. Zum Beispiel wird bei der Frage der regionalen Mobilität ausdrücklich angeführt, daß es das Ziel der Strukturpolitik und der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung ist, die Maschinen zu den Menschen und nicht die Menschen zu den Maschinen zu bringen.
— Für viele bei Ihnen ist es sicher eine neue Erkenntnis; davon bin ich überzeugt.Aber natürlich zeigt die gegenwärtige Diskussion immer noch, daß an allzu vielen Stellen die Befürchtung besteht, hier könnte dadurch Unzumutbares geschehen, daß sich kleinere Unzumutbarkeiten addieren und dann summieren. Darum wollen wir prüfen, ob hier im Gesetz deutlicher als bisher gesagt werden muß, daß beispielsweise eine Beschäftigung dann auf jeden Fall unzumutbar ist, wenn für eine Arbeit nicht das tarifliche oder, wenn keine Regelung besteht, das im Beruf ortsübliche Arbeitsentgelt gezahlt wird oder, wenn eine Arbeit durch Streik oder Aussperrung freigeworden ist, für die Dauer des Streiks oder der Aussperrung. Dies sind zwei Punkte, von denen ich hoffe, daß die Kollegen im Ausschuß sie aufnehmen und in das Gesetz einarbeiten werden.Eine besondere Rolle hat bei der Zumutbarkeitsdiskussion die Teilzeitarbeit gespielt. Die Frage, wann ein Arbeitnehmer seine Arbeitsbereitschaft auf Teilzeitarbeit beschränken kann, soll nach dem Entwurf ebenfalls unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten geprüft werden. Dabei wird der Wunsch, nur einer Teilzeitarbeit nachzugehen — dies eventuell ausschließlich während einer bestimmten Tageszeit — bei all jenen Personen als berechtigt angesehen, die aufsichtsbedürftige Kinder Oder pflegebedürftige Personen zu betreuen haben. Aber auch für alle übrigen Teilzeitarbeitsuchenden gilt, daß sie primär in die gewünschte Teilzeitarbeit zu vermitteln sind. Erst wenn dies nicht möglich ist, wenn z. B. auch keine Teilzeitbeschäftigung für den Nachmittag angeboten werden kann, soll sich die Frage der Zumutbarkeit auch beim Angebot einer Vollzeitbeschäftigung stellen. Wann dies der Fall ist, hängt auch hier von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Aber wir können es, glaube ich, der Gemeinschaft der Beitragszahler nicht zumuten, daß auch in den Fällen, in denen pflegebedürftige Personen und aufsichtsbedürftige Kinder nicht vorhanden sind, ein Vollzeitarbeitsplatz im erlernten Beruf ausgeschlagen wird und ausschließlich ein Teilzeitarbeitsplatz zu einer ganz bestimmten Uhrzeit gesucht wird. Das wird die Novelle entsprechend klarstellen.Aber ich würde gern auch vor dem Hintergrund der Voten des Bundesrates zu diesem Thema folgendes sagen. Wir haben mehrmals an die öffentlichen und privaten Arbeitgeber appelliert, zusätzliche Teilzeitarbeitsplätze für jene rund 200 000 Teilzeitarbeitsuchenden, vorwiegend Frauen, bereitzustellen. Aber es kann nicht in Frage kommen, daß es spezielle Förderungen für die Umwandlung von Vollzeitarbeitsplätzen in Teilzeitarbeitsplätze gibt. Auf diese Vorschläge von Baden-Württemberg werden wir in der Novelle nicht eingehen. Vollzeitarbeitsplätze müssen den Vorrang vor Teilzeitarbeitsplätzen haben.
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11478 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Dr. EhrenbergMeine Damen und Herren, eine besondere Hilfestellung hat die Arbeitsmarktpolitik in den letzten zwei Jahren schon versucht — und wir werden es noch ausbauen — bei der Verstärkung der sozialen Dienste in den kommenden Jahren. Hier ist eine Vervielfachung des Personalstandes gesellschafts-und arbeitsmarktpolitisch geboten. Allerdings ist dies in erster Linie eine Aufgabe der Länder und Gemeinden. Ihre Finanzierung aus Mitteln der Bundesanstalt kann nur so lange in Frage kommen, wie damit aus arbeitsmarktpolitischen Gründen zusätzliche beschäftigungspolitische Effekte zu erzielen sind. Die Mittel der Bundesanstalt können nicht auf Dauer kommunale oder Landesaufgaben finanzieren oder übernehmen.
Abschließend möchte ich gern auf zwei Änderungen der Novelle noch hinweisen. Neu geregelt wird die Förderungsfähigkeit von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nach dem Regierungsentwurf soll eine Förderung künftig ausgeschlossen sein, wenn die Arbeiten keinen dauerhaften zusätzlichen Arbeitsmarkteffekt haben. Die Durchführung von Pflichtaufgaben der öffentlichen Hand kann nicht von der Bundesanstalt erfolgen.Von großer Bedeutung ist unserer Meinung nach die Stärkung der Möglichkeiten der Selbstverwaltung vor Ort. Wir wollen damit die besonderen Kenntnisse um die örtlichen Arbeitsverhältnisse bei den Mitgliedern der regionalen Selbstverwaltungsorgane besser als bisher nutzen, um auch hierdurch, durch mehr Transparenz, durch mehr direkte Einwirkung zu einem schnelleren Arbeitsmarktausgleich zu kommen. Erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik vollzieht sich letztlich in der Arbeitsverwaltung am Tisch des einzelnen Vermittlers vor Ort. Wir wissen und erkennen an, daß hier in den letzten Jahren viel geleistet wurde. Aber wir sind uns auch bewußt, daß noch vieles in organisatorischer und personeller Hinsicht verbesserungsfähig und ausbaufähig ist. Die Selbstverwaltung hat hier ein dankbares Aufgabenfeld. Es reicht nicht aus, Gesetze zu machen und Verordnungen zu erlassen.
Sie müssen in der täglichen Praxis sinnvoll mit Leben erfüllt werden. Dies ist eine Herausforderung an alle Mitglieder dieser großen Selbstverwaltungseinrichtung.
Die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen können keine Wunder vollbringen. Aber sie können die Arbeitsmarktpolitik insgesamt erfolgreicher machen. Vorausschauende Arbeitsmarktpolitik ist für die Bundesregierung kein Schlagwort, sondern Verpflichtung. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Beitrag dazu. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn er schnell und zügig beraten werden könnte, damit dieses Instrumentarium noch im Verlaufe des Sommers wirkungsvoll eingesetzt werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Kraus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Ehrenberg hat seine Ausführungen damit begonnen, daß er erneut ein rosarotes Gemälde von der derzeitigen konjunkturellen und wirtschaftspolitischen Situation gemalt hat. Das machen Sozialdemokraten, wenn sie über dieses Thema reden, zwischenzeitlich schon seit sehr vielen Jahren.
Bereits im Jahre 1975 hat Bundeskanzler Schmidt eine Arbeitslosenzahl unter einer Million angekündigt. Sie haben damit schon vor fünf Jahren, im Jahre 1975, die Wahlen in Nordrhein-Westfalen gewonnen. Allmählich wird diese Platte älter. Sie leidet. Sie verliert an Glaubwürdigkeit. Es wäre besser, zu warten, bis man wirkliche durchgreifende Erfolge melden kann, und dann wieder vor den Bürger hinzutreten.
Heute, im Jahre 1979, haben wir immer noch knapp eine Million Arbeitslose im Jahresdurchschnitt. Die prognostischen Fähigkeiten unseres Bundeskanzlers wurden durch die Wirklichkeit drastisch widerlegt.In der Zwischenzeit sind mehr als 1,5 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen.Jetzt legt die Regierung eine Novelle zum AFG vor, die letztlich nur als ein Reparaturversuch für die mißliche, für die fatale Lage am Arbeitsmarkt verstanden werden kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Zeitablauf hat auch dafür gesorgt, daß die Probleme nicht leichter, sondern sehr viel schwieriger geworden sind. Bedingt durch die lange Zeit, in der wir die hohen Arbeitslosenziffern hatten, hat sich der Anteil der schwer vermittelbaren Arbeitslosen und der Dauerarbeitslosen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen ganz erheblich erhöht. Dadurch gibt es auch zwei sich scheinbar widersprechende Fakten. Auf der einen Seite haben wir einen Fach- und auch Hilfskräftemangel; auf der anderen Seite gibt es diese hohe Zahl an Arbeitslosen.Gewiß hat die Bundesregierung seit 1974 eine ganze Reihe von Programmen zur Belebung der Konjunktur mit Maßnahmen zur Förderung der Investitionstätigkeit der Unternehmen, zur steuerlichen Entlastung der Bevölkerung und ähnliches gestartet. Das soll nicht verkannt werden. Aber vieles wurde eben zu spät, zu halbherzig getan, und vieles unterblieb gar völlig.So wurden z. B. unsere Vorschläge hinsichtlich der Vermögensbildung im Bereich des Produktivkapitals, was ja auch als ein Beitrag zu den ständig steigenden Arbeitsplatzkosten zu begreifen wäre, bis heute trotz der weitgehenden Zustimmung der FDP schlicht und einfach hintertrieben. Es besteht auch wenig Aussicht, daß der Vorschlag in dieser Legislaturperiode noch eine Chance hat.
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KrausDeswegen ist auch der erwartete Erfolg bisher ausgeblieben, trotz der Ausschöpfung der Reserven in allen Bereichen, wozu ich auch den durch die Sparsamkeit früherer Regierungen zustande gekommenen großen Spielraum bei der Staatsverschuldung rechne. Diese Chance hat doch einiges ermöglicht. Sie wurde aber letztlich nicht so genutzt, daß der Erfolg auch tatsächlich eingetreten wäre.Es sind die Schuldenberge in einem früher nicht gekannten Maße gestiegen. Trotzdem V blieb es bis zum heutigen Tage bei der Arbeitslosenquote von 5 %.Es gibt ganz sicherlich keine Patentrezepte zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Aber eines ist sicher: Im Vordergrund der Bemühungen muß die Förderung des allgemeinen Wirtschaftswachstums stehen. Die Arbeitslosigkeit ist nicht, wie manche behaupten, auf ein etwaiges Versagen der Sozialen Marktwirtschaft zurückzuführen. Sie ist im Gegenteil damit zu erklären, daß die Marktwirtschaft im ganzen immer wieder überfordert wurde und marktwirtschaftliche Gesetze und Grundsätze verletzt worden sind.Ich erinnere nur daran, daß besonders in den ersten fünf Jahren dieser Koalitionsregierung die Löhne und Gehälter sowie die Lohnnebenkosten inflationär aufgebläht worden sind. Damit wurde natürlich der Spielraum für die Investitionen erheblich eingeengt. Das alles mußte sich ganz selbstverständlich auf die Leistungskraft der Wirtschaft, auf ihre Wettbewerbsfähigkeit und vor allem auf die Investitionen und damit auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze auswirken.Bei der vorliegenden Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz geht es nun um die Verbesserung des Dienstleistungsangebots der Bundesanstalt für Arbeit, insbesondere der Arbeitsvermittlung und der Berufsberatung. Es geht auch um die Förderung der beruflichen Bildung und Umschulung, um die Förderung der Arbeitsaufnahme und nicht zuletzt auch um die Bekämpfung von Mißbräuchen. Daß der Kontakt der Vermittlungskräfte mit der betrieblichen Praxis verbessert und der Außendienst der Arbeitsämter ausgedehnt werden soll, ist sicher zu begrüßen. Dasselbe gilt für die Verpflichtung der Arbeitsämter, in Abständen von längstens drei Monaten arbeitslos gemeldete Arbeitnehmer zu einer Arbeitsberatung einzuladen. Auch die diversen Vorschläge zur Förderung der beruflichen Bildung erscheinen zweckmäßig und angebracht.Über die Struktur der Arbeitslosigkeit, über die verschiedenen Gruppen der Arbeitslosen, insbesondere über die sogenannten Problemgruppen, haben wir uns hier wiederholt unterhalten. Erfreulicherweise kann man da und dort gewisse Erfolge melden. Insbesondere ist es nicht zuletzt dank der Wirtschaft, besonders der kleinen und mittleren Betriebe, gelungen, die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen herabzudrücken. Leider gibt es auch eine gewisse Anzahl von Arbeitslosen, die an der Aufnahme einer Tätigkeit, einer regelmäßigen Arbeit nicht so sehr interessiert sind. Ich will nicht versuchen, jetzt hier diese Zahl zu quantifizieren,aber es wäre sicher verkehrt, wenn wir vor dieser Tatsache die Augen verschließen würden.Ich darf auch noch auf ein anderes Problem hinweisen. Laut Sitzungsprotokoll vom 15. Dezember 1978 hat Staatssekretär Dr. Böhme auf eine Mündliche Anfrage von Professor Biedenkopf geantwortet, daß der Bundesregierung sehr wohl bekannt sei, daß Arbeitnehmer, die sich einige Monate arbeitslos melden, trotz dieser Arbeitslosigkeit über den Lohnsteuerjahresausgleich letzten Endes netto mehr verdienen, als sie verdient hätten, wenn sie das ganze Jahr gearbeitet hätten. Ich weiß natürlich, daß dies mit der Lohnsteuerfreiheit der Sozialleistungen zusammenhängt, und kenne auch die Schwierigkeiten, die einer zweckmäßigen Lösung dieser Frage entgegenstehen. Ich meine aber, wir dürfen uns mit diesen Schwierigkeiten nicht abfinden, sondern müssen Mittel und Wege finden, dafür zu sorgen, daß sich arbeiten wieder lohnt, daß es sich mehr lohnt, als wenn nicht gearbeitet wird. Leistungsfähige dürfen, wenn nicht durch besonders schwerwiegende Gründe an der Einnahme eines Arbeitsplatzes gehindert, ihre Leistung nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft verweigern. Ein solches Verhalten ist unsozial, weil dadurch die materielle Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates zu Lasten der wirklich Betroffenen untergraben wird.Leistungsverweigerung ist vor allen Dingen denen gegenüber nicht zu rechtfertigen, die jahraus, jahrein ihre Pflicht tun und sich die hohen Abzüge für Steuern und Abgaben gefallen lassen. Diese dürfen schließlich nicht als die Dummen dastehen. Lassen Sie mich dazu den nordrhein-westfälischen Arbeitsminister Dr. Farthmann zitieren. Er hat im Oktober 1977 folgendes erklärt
— das dürfte hier wahrscheinlich weitgehend bekannt sein, Herr Franke —:Demgemäß ist es zutiefst unsolidarisch, wenn gelegentlich Mitglieder der Solidargemeinschaft verlangen, mindestens so viel an Leistungen von der Gemeinschaft wieder zurückzubekommen, was sie selbst aufgewendet haben, obwohl die Leistungsvoraussetzungen überhaupt nicht gegeben sind.Beispiele dieses Verhaltens sind sicher allgemein bekannt.Die Sozialpolitik darf nach unserer Auffassung nicht dazu führen, daß der eigene Leistungswille gelähmt wird. Deswegen hat das Leistungsprinzip durchaus seinen Platz in der Sozialpolitik. Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld dürfen zumindest nicht höher sein als das Nettoarbeitsentgelt.Ein besonders trauriges Kapitel ist die Vorgeschichte dieses Gesetzentwurfes. Der Minister hat vorhin davon gesprochen, daß die Diskussion um den Erlaß 230 von unbekannten dritten Kräften kräftig angeheizt worden sei. Ich glaube, wer sich die Geschichte einigermaßen anschaut, wer sich vertraut gemacht hat mit der Vorgeschichte dieses
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11480 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
KrausRunderlasses, der wird sicher mit mir einig gehen, wenn er hier vermutet, daß der Herr Minister sich hier selbst als Oberheizer betätigt hat. Vom Vorstand der Bundesanstalt war der zwischenzeitlich sattsam bekannte und zu einem Begriff gewordene Runderlaß 230 bei nur einer Gegenstimme angenommen worden. Der Herr Minister Ehrenberg begrüßte zunächst einmal diese Regelung.
Später mußte er seine Haltung revidieren, weil aus der Basis der SPD seine Haltung kritisiert wurde. Flugs mußte ein Opfer gefunden werden in Gestalt des Ministerialdirektors Baden, der der Vertreter des Ministeriums im Vorstand der Bundesanstalt war. Er wurde in die Wüste geschickt. Er wurde praktisch schlicht und einfach der Parteilinken geopfert.
Ehrenberg scherte sich auch gar nicht darum, daß die freien Beschlüsse der Selbstverwaltung zu achten sind, und er setzte sich einfach über die Vorschrift des § 204 AFG rigoros hinweg, wonach Mitglieder von Organen der Bundesanstalt für Arbeit in der Übernahme oder Ausübung ihres Amtes nicht beschränkt und deswegen auch nicht benachteiligt werden dürfen. Trotz alledem fühlte sich Herr Minister Ehrenberg nicht daran gehindert, uns jetzt einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem einiges noch härter geregelt ist als etwa im Runderlaß.
Man braucht sich über diese Grundhaltung nicht zu wundern. Ich darf ebenso wie der Herr Minister aus der „Wirtschaftswoche" zitieren. Dort wird geschrieben, daß er gegenüber der „Wirtschaftswoche" erklärt habe: Wer sich noch die Hände dreckig machen will, findet auch einen Arbeitsplatz." Aus dieser Meinung heraus kann man natürlich durchaus einiges rechtfertigen.Auch ein Teil der Arbeitslosen — ich betone, ein Teil — muß angesprochen und in die Pflicht genommen werden. Nicht nur die Unternehmen sollten verpflichtet werden, Zahl, Qualität und regionale Verteilung von Arbeitsplätzen besser den Bedürfnissen der Arbeitnehmer anzupassen. Auch die Arbeitnehmer müssen sich den veränderten technischen und wirtschaftlichen ßedingungn anpassen. Es ist eben nicht möglich, jemandem das Recht auf Arbeit in der Weise zu garantieren, daß ein Recht auf eine ganz bestimmte Arbeit an einem ganz bestimmten Ort zu ganz bestimmten, von ihm selbst festgelegten Bedingungen besteht. Das geht nicht.Der allergrößte Teil der Arbeitnehmer hat sich, wie wir alle wissen, im Laufe der Jahre immer wieder an die veränderten technischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Betrieb und im Unternehmen angepaßt und alles getan, um seine Arbeitsplätzezu erhalten. Die Arbeitnehmer haben dazu viel Zeit und Kraft aufgewandt und manche Opfer gebracht. Ich erinnere nur an die Millionen von Pendlern, die teilweise große Entfernungen zu ihrem Arbeitsplatz zurückzulegen haben. Ich erinnere aber auch an die vielen tausend Arbeiter, die an Baustellen im In- und Ausland beschäftigt sind. Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes hatten wir im Jahre 1970 Berufsauspendler über die Gemeindegrenzen hinweg in einer Anzahl von sage und schreibe insgesamt 7,4 Millionen. Die Zahl der Auspendler über die Gemeindegrenzen hinweg dürfte sich im Laufe der letzten Jahre kaum verringert haben. 1,8 Millionen Schüler und Auszubildende müssen täglich in eine Nachbargemeinde fahren. Die Berufsfernpendler, also jene, die nur am Wochenende nach Hause kommen können, sind allein in Bayern fast 200 000. Was sich die im Erwerbsleben stehenden selber zumuten, kann sicher auch von einem Teil der Arbeitslosen erwartet werden, es sei denn, daß besondere familiäre, soziale oder sonstige schwerwiegende Hindernisgründe vorliegen.In verschiedenen Untersuchungen, z. B. einer solchen der Industrie- und Handelskammer in Koblenz vom Juli 1977, wurde in nicht wenigen Fällen trotz Eignung Desinteresse an der Aufnahme der angebotenen Tätigkeit festgestellt, obwohl in manchen Bereichen der Wirtschaft — ich sagte es schon — nicht nur ein spürbarer Bedarf an Fachkräften, sondern auch ein solcher an Hilfskräften besteht.Auf der anderen Seite möchte ich aber auch feststellen, daß es auf die Dauer in der Tat unerträglich ist, daß die Arbeitgeber von vornherein einen ganz hohen Prozentsatz von Stellenangeboten mit einem Höchstalter versehen. Vor wenigen Tagen war zu lesen, allein im November vergangenen Jahres seien von 250 000 Stellenangeboten 100 000 mit einer Höchstalterbegrenzung ausgeschrieben gewesen. Wir sind der Meinung, daß, wer arbeiten will, dazu eine faire Chance haben sollte.Lassen Sie mich zum Schluß sagen, wir werden die Arbeitslosigkeit in ihrer jetzigen Höhe nur überwinden, wenn wir alle mithelfen, die Unternehmer, die Verbände, die Gewerkschaften, der Staat mit seinen verschiedenen Institutionen. Die Soziale Marktwirtschaft hat schon viele Schwierigkeiten überwunden und ausgestanden. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung und des enormen Bedarfs an neuen, an zusätzlichen Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren — ich halte das für eines der ganz großen Probleme — wird die Zukunft sicher nicht so rosig sein, wie der Herr Minister sie hier schildert, sondern wir werden sicher noch erhebliche Schwierigkeiten haben. Wir werden damit fertig werden, wenn wir alle wieder den Leistungswillen aufbringen, von dem die gesamte Bevölkerung in den Jahren des Wiederaufbaus getragen war, wenn wir nicht nur Ansprüche an die Allgemeinheit hegen und züchten. Auf diese Art und Weise sind wir sicher in der Lage, auch mit diesem Problem fertig zu werden.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debattenstrategie, die Sie sich für den heutigen Abend vorgenommen haben, finde ich nicht ohne Reiz. Soeben durften wir den Ausführungen unseres Kollegen Kraus lauschen. Diese Ausführungen waren sicher nicht weit entfernt von den Ansichten Ihres Wirtschaftsflügels. Wenn ich richtig informiert bin, werden wir nachher die Darlegungen des Kollegen Blüm hören. Sicher werden Sie, Herr Blüm, uns dann die Freude machen, uns die Kritik des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Arbeitsförderungsgesetz um die Ohren zu schlagen. Dann kann sich jeder aussuchen — wie Sie es immer gern hätten —, was Unionsmeinung ist. Wir erleben hier die zweite Ausführung des heutigen Schauspiels
— ich sage es Ihnen gleich —, in dem die CDU hü und die CSU hott sagt, wobei sich Ihr Fraktionspferd in der Pirouette dreht. Das halten Sie für Politik.
— Ja, so ungefähr.Es hat nicht ausbleiben können, daß Kollege Kraus erneut den Versuch machte, die Arbeitslosigkeit in unserem Land Fehlern und Versäumnissen der Regierung anzulasten.
— Daß Sie das sagen, Herr Franke, war zu erwarten. Deswegen wird es aber auch nicht intelligenter.— Da hat sich der Herr Kraus richtig aufgepumpt und alle wirschaftlichen Grundtatsachen wieder einmal außer acht gelassen. Wahrlich, Herr Kraus, ich schätze Sie ja sehr, aber viel Neues ist Ihnen nicht eingefallen. Sie haben ein etwas gröblich entstelltes, schrecklich vereinfachtes und insgesamt falsches Bild geliefert.Wenn Arbeitslosigkeit — nun wollen wir einmal ernst werden; und das sollten auch Sie, Herr Franke, einmal zur Kenntnis nehmen — ein Problem in allen westlichen Industriestaaten ist, wenn Arbeitslosigkeit eine schreckliche Geißel für die Länder der Dritten und der Vierten Welt ist, wenn Arbeitslosigkeit auch in zentral verwalteten Wirtschaften — beispielsweise des Ostblocks — oft nur künstlich verdeckt gehalten wird, dann kann man einfach nicht so argumentieren, als wäre Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik eine Folge des Versagens dieser Bundesregierung.
Wenn Sie so reden, Herr Kraus, dann spekulieren Sie eigentlich darauf, daß jedermann wisse, daß Sie das selber nicht dächten und Sie es hier nur aus propagandistischen Gründen sagten, und das könne man durchgehen lassen. Aber das lassen wir nicht durchgehen. Das können wir uns gar nicht erlauben,weil nämlich neben konjunkturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit die Probleme der Unterbeschäftigung in unserem Lande in wachsendem Maße eine Folge des strukturellen Wandels sind. Das wissen Sie. Unser Problem der Arbeitslosigkeit ist eine Summe vieler ungünstiger Faktoren, die unsere Regierung nach besten Kräften zu überwinden versucht.Arbeitslosigkeit ist natürlich auch eine Folge davon, daß in einer marktwirtschaftlichen Ordnung wie der unseren die Einflußmöglichkeiten des Bundes begrenzt sind. Das weiß Herr Kraus, und das wissen wir alle.Im Kampf um die Wiedererringung der Vollbeschäftigung haben alle ihren Teil zu tragen: Bund, Länder und Gemeinden. Daran sind viele Felder der Politik beteiligt. Einige hat der Bundesarbeitsminister genannt. Er hat sie aber nicht vollständig genannt. Die Unternehmen haben ihren Teil zu tragen, indem sie eine für sie günstige Situation nicht länger schrankenlos ausnützen, die Gewerkschaften, indem sie solidarische Aspekte der Verteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens in ihre tarifpolitischen Überlegungen einbeziehen, was sie erfreulicherweise tatsächlich tun. Ich fürchte, der Appell zum gemeinsamen Handeln aller am Wirtschaftsleben Beteiligten wird nicht überall verstanden und aufgegriffen werden.Ich widerstehe der Versuchung, hier ein wirtschaftspolitsches Kolleg zu halten; ich könnte es vielleicht auch nicht. Ich meine, wir sollten darüber reden, wie mit dem Arbeitsförderungsgesetz — das ist unsere Aufgabe — Fehlentwicklungen aufgefangen und gemildert werden können. Denn die Arbeitsmarktpolitik ist nur e i n Instrument im Kampf um die Wiedererringung der Vollbeschäftigung, und entsprechend begrenzt ist auch ihre Wirkung.Arbeitsmarktpolitik kann eigentlich noch nicht einmal da ansetzen, wo eines der großen Übel unserer derzeitigen Arbeitsmarktsituation ist, nämlich an der Tatsache — Herr Kraus hat es erfreulicherweise erwähnt —, daß viele offene Stellen heute gar keine offenen Stellen sind, daß sie nur noch Personen unter 35 Jahren angeboten werden, daß den Frauen wesentliche Berufstätigkeiten verschlossen bleiben, daß man nur noch die „Olympioniken" am Arbeitsmarkt sucht und den Leistungsgeminderten gnadenlos aussondert. Darüber zu reden ist in der Tat angebracht, ist bitter nötig. Die Tatsache, daß wir darüber reden müssen, zeugt von einer erschreckenden Inhumanität unserer Gesellschaft. Davon hört man meist wenig. Vielleicht wird Herr Blüm uns da noch helfen. Vielleicht wird er, der Herr Blüm, aber auch der Versuchung erliegen, die vorliegende AFG-Novelle als eine zwangsläufige Folge des Versagens dieser Regierung auf anderen Gebieten zu diffamieren.
Man könnte es ja so darstellen — ich kenne ja IhreArt, sich zu äußern —, als würde die Regierung ein
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Lutzzur Zeit der Großen Koalition hervorragendes Gesetzeswerk Schritt für Schritt demontieren.
Ich könnte mir vorstellen, daß Sie das sagen.
— Ich weiß, daß Sie das sagen. Denn so sehr originell in Ihrer Art, sich darzustellen, sind Sie auch nicht. — Herr Blüm, nichts, aber auch gar nichts davon stimmt.Um diesen Ihren Versuch etwas zu stoppen,
möchte ich einmal den Versuch machen, darzustellen, was mit diesem Arbeitsförderungsgesetz seit seinem Bestehen geschehen ist. Sie wissen, es ist 1969 als ein Kind der Großen Koalition beschlossen worden und hat das bis dahin gültige AVAVG abgelöst. Es ist damals mit unserem und ihrem Einvernehmen klargestellt worden, daß die Verhütung von Arbeitslosigkeit und die Förderung der beruflichen Bildung Vorrang vor den klassischen Aufgaben der Arbeitslosenversicherung haben — ein hervorragendes Gesetz! Es war ein mutiger Schritt in Neuland, wobei dieses Gesetz, Herr Blüm, seine eigentliche Bewährungsprobe erst Jahre später,
nämlich 1974 und danach, bei schwieriger Beschäftigungslage bestehen mußte.Das Gesetz ist, Herr Blüm und andere Herren der Opposition, mehrmals geändert worden. Es wurde verbessert und weiterentwickelt.
Schon Ende 1969, Herr Blüm, haben wir mit der ersten Novelle die Dynamisierung des Unterhaltsgeldes beschlossen, weil das bis dahin geltende Recht bei längerfristigen Bildungsmaßnahmen zu sozialen Härten geführt hätte.
Mit der zweiten Novelle, nämlich 1972, wurde die Förderung des Winterbaus beschlossen und das Schlechtwettergeld eingeführt, zwei Entscheidungen, die sich, wie ich meine, als sehr positiv und berechtigt herausgestellt haben. •
Mit der dritten Novelle, Herr Müller — auch da, waren Sie dabei, wie bei den anderen Novellen auch -,
haben wir das Konkursausfallgeld eingeführt und damit allen Arbeitnehmern im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers den vollen Nettolohn für die letzten drei Monate garantiert, eine Entscheidung, über die Sie damals sehr kritisch gedacht haben, die Sie heute aber gar nicht mehr bestreiten wollen. Auch Sie halten sie für notwendig. 1974 haben wir das Arbeitslosengeld dynamisiert. Am 1. Januar 1975 haben wir die Leistungen zur Arbeitsförderung verbessert: Wir haben das Arbeitslosengeld, das Kurzarbeitergeld und das Schlechtwettergeld auf 68 % angehoben, wir haben die Arbeitslosenhilfe auf 58 % des Nettolohnes festgesetzt, Verbesserungen, die auch Sie mitgetragen haben.Schließlich haben wir mit dem Gesetz zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Dezember 1975 die Konsequenzen daraus gezogen, daß sich in schwieriger arbeitsmarktpolitischer Situation auch einige Schwachstellen des AFG gezeigt hatten, die es auszumerzen galt. Wir mußten besonders die Beiträge anheben. Sie waren nicht dafür. Wir mußten das Unterhaltsgeld differenzieren und die in den Betrieben vielerorts geübte Praxis, die Bezahlung an gesetzlichen Feiertagen über das Kurzarbeitergeld abzuwickeln, unterbinden. Das waren bemerkenswerte Eingriffe. Es gab auch Eingriffe beim Unterhaltsgeld. Das ist nicht zu leugnen. Dies wird hier zur Debatte stehen. Wir haben damals für die sogenannten Notwendigkeitsfälle das Unterhaltsgeld auf 80 °/o festgelegt, für die sogenannten Zweckmäßigkeitsfälle auf 58 °/o. In schwieriger Finanzlage haben wir die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, daß das Gesetz mehr und mehr zu einem Förderungsgesetz für bereits Qualifizierte geworden war, seinem eigentlichen Zweck aber, nämlich der Förderung der Nichtqualifizierten, immer weniger entsprach. Das war ein scharfer Einschnitt. Wer will das leugnen? Nach wie vor sind wir Sozialdemokraten in der Tat der Meinung, daß auch die Zweckmäßigkeitsförderung auf 68 °/o angehoben werden müßte. Wir müßten nur einen finanziellen Deckungsvorschlag unterbreiten, um nicht unsolide Politik zu machen. Wir können das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit nicht mutwillig noch weiter ausweiten.Gelänge es, eine Arbeitsmarktabgabe von allen Erwerbstätigen zu erheben und die noch dagegenstehenden verfassungsrechtlichen Bedenken zu überwinden, dann hätten wir die notwendigen Mittel für eine solche Maßnahme, und wir würden darüber hinaus auch noch andere sinnvolle arbeitsmarktpolitische Initiativen ergreifen können. Soweit sind wir aber noch nicht. Manchmal haben wir sogar den Eindruck, daß der Sachverstand einiger Beamter stärker darauf gerichtet ist, die Verfassungswidrigkeit einer Arbeitsmarktabgabe schlüssig zu beweisen, als darauf, eine verfassungskonforme Ausgestaltung einer solchen Abgabe dem Parlament vorzuschlagen.
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LutzIm Haushaltsstrukturverbesserungsgesetz präzisierten wir damals auch die Frage, welche Beschäftigungen einem Arbeitslosen zuzumuten seien. Wir haben uns damals große Mühe gegeben. Weil das Gesetz nur einen dürren Rahmen bieten konnte, haben wir einen sehr umfangreichen Ausschußbericht geschrieben. Wir haben festgelegt, daß die persönlichen Verhältnisse des Arbeitslosen zu berücksichtigen seien und die Interessen der Gesamtheit der Beitragszahler mit denen des Arbeitslosen abgewogen werden müßten. Wir haben im Ausschußbericht sogar Fallbeispiele gebildet Sie waren uns behilflich —, um Fehlinterpretationen des Willens des Gesetzgebers zu vermeiden. Das hat leider nicht ausgereicht. Wir wurden, Herr Kraus — und das ist meine andere, aber stimmendere Geschichte — mit dem unseligen Runderlaß 230/78 der Bundesanstalt für Arbeit prompt mißverstanden.
Das macht die Arbeit, Herr Franke, an der vorliegenden fünften Novelle nicht leichter.
Es muß daran erinnert werden, daß sich der Wille des Gesetzgebers nicht nur in Gesetzestexten, sondern auch in den Debatten hier in diesem Hause und in den Berichten des Parlaments niederschlägt und zu berücksichtigen ist.
Das ist vergessen worden. Einige Positionen in der Selbstverwaltung sind verbessert worden, andere Selbstverwalter haben rote Ohren gehabt. Wir werden sicher zu einer neuen Praxis bei der Auslegung des Gesetzes, der fünften AFG-Novelle, kommen.Der Vollständigkeit halber sollte man noch anmerken, daß es vor etwa einem Jahr eine vierte AFG-Novelle gegeben hat, in der wir die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht mehr durch geringer entlohnte, kurzfristige Tätigkeiten beeinträchtigen ließen, in der wir die Sperrzeiten auf die Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld angerechnet haben, in der die Förderung der beruflichen Bildung verbessert wurde, in der Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe von Berufsanfängern der zuvor bezogenen Ausbildungsvergütung angenähert wurden.Die Änderung, die wir heute zu beraten haben, ist, meine ich, eine notwendige Weiterentwicklung des Arbeitsförderungsgesetzes. Der Bundesminister hat in wünschenswerter Klarheit einige Kernpunkte der fünften Novelle genannt.In der Tat verbessern wir die Instrumente der beruflichen Bildung, der Weiterbildung und der Umschulung. In der Tat machen wir es den Arbeitsämtern künftig zur Pflicht, sich noch intensiver um den einzelnen Arbeitslosen zu kümmern. In der Tat werden wir die Beratungs- und Vermittlungstätigkeit aktivieren und die Aufmerksamkeit der Ämter besonders auf die Problemgruppen des Arbeitsmarktes lenken, auf die nichtqualifizierten Jugendlichen, auf die Frauen,
auf die längerfristig Arbeitslosen und auf die Älteren und die Leistungsgeminderten.In der Tat bauen wir die Hilfen zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben auf. Denn wir halten das für die einzige Antwort auf die Gefahr, daß sich Arbeitslosigkeit für einen ständig wachsenden Personenkreis verstetigen könnte. Wir wollen der Gefahr entgegenwirken, daß längerfristig Arbeitslose nur noch karteimäßig erfaßt und umgeschichtet, verwaltet und mit Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe versorgt, im übrigen aber vergessen werden. Wir wollen die Arbeitslosen befähigen, sich auf wandelnde Bedingungen des Arbeitsmarktes einzustellen.
Wir wollen sie aus Lethargie, aus Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung herausführen, und wir wollen ihre Kräfte der Selbstbehauptung stärken. Das sind Kernpunkt dieser Novelle.
Sie sollten uns dabei helfen, daß das auch verwirklicht wird. Das ist zugegebenermaßen ein hoher Anspruch. Aber wir meinen, in diesem Versuch dürfen wir nicht nachlassen. Deshalb haben wir das Schwergewicht der Novelle darauf gelegt.Ausgehend von den Erfahrungen mit dem Runderlaß 230 können wir allerdings auch nicht umhin, die Kriterien der Zumutbarkeit neu zu definieren. Die Regierung hat einen Vorschlag dazu unterbreitet. Der Arbeitsminister hat ihn in Teilen interpretiert. Wir haben sehr aufmerksam zugehört. Wir wissen aber auch, wie die öffentliche Debatte darum läuft, da haben einige Herren von Ihnen etwas gesagt, da hat sich der Herr Stingl geäußert, und da hat auch der DGB kritische Anmerkungen gemacht. Verschiedentlich ist der Verdacht geäußert worden, man wolle Arbeitslose disziplinieren, sie in unzumutbare Arbeitsverhältnisse pressen oder aus der Statistik herausprüfen. Das ist sicherlich nicht die Absicht des Arbeitsministers, und unsere ist es schon gar nicht.Aber ich gebe zu: wenn derartige Mißverständnisse auftauchen, . dann muß man nach Formulierungen suchen, die Mißverständnisse ausschließen, die zweifelsfrei sicherstellen, daß keinem Arbeitslosen unter Würdigung seiner beruflichen, persönlichen und familiären Verhältnisse Dinge zugemutet werden, die nicht auch der im Arbeitsleben Stehende zu bewältigen hat. Ich gebe zu, es wird nicht einfach sein, solche unmißverständlichen Formulierungen zu finden. Die Erfahrungen mit dem Runderlaß waren schockierend genug. Das Problem Teilzeit-/Vollzeitarbeit wird uns noch heftig zu beschäftigen haben. Wenn aber die Zielrichtung klar ist — ich hoffe, Sie sehen das nicht anders —, dann muß es auch möglich sein, ein neues, ein einvernehmliches Gesetz zu machen.Wir haben die Kritik der Gewerkschaften gehört, nicht nur gehört, wir haben sie aufgegriffen. Wir haben viele Gespräche geführt, mit dem DGB, mit der DAG. Wir haben den Sachverstand der Kolle-
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Lutzgen in den Betrieben bemüht. Wir haben mit den Arbeitslosen selbst — —
— Herr Blüm, im Gegensatz zu Ihnen haben wir nicht nur geredet, wir haben auch zugehört. Das ist sehr wichtig, wenn man Gespräche führt.
Wir haben mit den Kollegen in den Betrieben geredet. Wir haben mit den Arbeitslosen selbst gesprochen. Es war manchmal schwierig. Der Herr Kraus hat ein solches Gespräch miterlebt. Wir haben weitere geführt. Wir haben uns von einem Gespräch nicht entmutigen lassen.Wir haben den Sachverstand der Beschäftigten in den Arbeitsämtern bemüht, und wir diskutieren diese Novelle mit den Kirchen. Wir haben schon einen Berg von Mißverständnissen ausräumen können.
— Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluß.Wir sind selbst in bezug auf einige Punkte der Novelle klüger geworden. Es hat uns dankbar gemacht, wie sachlich und unpolemisch derartige Gespräche im Grunde verlaufen können, wenn man nach Lösungen sucht.
Sie zu bitten, mit uns nach Lösungen zu suchen, war meine Aufgabe.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hölscher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist ein „Stellvertreterbeitrag". In unserem Pressedienst, der bereits heute nachmittag erschienen ist, steht, daß das, was ich jetzt sagen will, der Kollege Cronenberg gesagt habe. Damit es keine Mißverständnisse gibt, will ich erklären, daß der Kollege Cronenberg durch die Zeitüberschreitungen der Grünen Front verdrängt wurde. Er hatte heute abend eine andere wichtige Verpflichtung. Aber die Gedanken des Kollegen Cronenberg sind auch meine, sind die der FDP-Fraktion. Ich werde die eine oder die andere persönliche Anmerkung hinzufügen.
— So ist es, Herr Kollege Franke. Dies ist auch ein Beitrag zur Solidarität unter Kollegen.Meine Damen und Herren, liberale Beschäftigungspolitik lehnt Mangelbewirtschaftung ab. Zunächst ist es Aufgabe der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Voraussetzungen für eine gute Beschäftigungslage zu schaffen.
Beschäftigungspolitik ist ein Teil der Wirtschaftspolitik, und die Arbeitsmarktpolitik ist nach unserer Auffassung ein Teil der Beschäftigungspolitik. Somit muß eine erfolgreiche liberale Wirtschaftspolitik durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergänzt werden. Lassen Sie mich hinzufügen: Das müssen Maßnahmen sein, die nicht den Eindruck erwecken dürfen, Arbeitslose seien im Grunde an der Arbeitslosigkeit selbst schuld oder im Grunde sei die Arbeitslosigkeit ein Problem der Arbeitswilligkeit. Hier gibt es Probleme. Aber wenn wir. den Versuch machen wollten, sie zu quantifizieren, würde deutlich, daß man sich zwar um den Abbau dieser Schwierigkeiten kümmern muß, daß damit aber nicht das Grundproblem der Arbeitslosigkeit bewältigt werden kann.Vorab möchte ich eine selbstverständliche Bemerkung machen, die allerdings in der Diskussion draußen häufig, wie so manche Selbstverständlichkeiten, übersehen wird: Unabhängig von der Frage, ob das Risiko der Arbeitslosigkeit überhaupt versichert werden kann, zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einen Arbeitslosenversicherungsbeitrag. Diese Beiträge schmälern einerseits die Einkommen der Arbeitnehmer und sind andererseits für die Betriebe Kosten wie Lohn- und Materialkosten. Sie bestimmen somit auch den Preis der Produktion. Der Preis bestimmt die Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere im Export, und Wettbewerbsfähigkeit im Export hat einen entscheidenden Einfluß auf die Zahl der Arbeitsplätze. Auch aus diesen Gründen müssen wir sehr sparsam mit den Versicherungsbeiträgen umgehen. Das ist im Interesse der Solidargemeinschaft der Versicherten ebenso selbstverständlich wie der Anspruch der Arbeitslosen, als ehemalige und zukünftige Beitragszahler nicht unzumutbar in ihrer Berufsfreiheit eingeschränkt zu werden.Auch dies muß einmal festgestellt werden: Es ist das selbstverständliche Recht jedes Arbeitnehmers, der vielleicht 20 Jahre lang treu und redlich seine Arbeitslosenversicherungsbeiträge gezahlt hat, im Falle der Arbeitslosigkeit nicht sofort den erstbesten Arbeitsplatz anzunehmen, der möglicherweise für ihn eine zu diesem Zeitpunkt noch unzumutbare Abstufung in seiner Stellung, in seinem Einkommen bedeutet.Damit wäre ich im Grunde genommen beim Hauptproblem dieses Gesetzentwurfes, nämlich beim Begriff der Zumutbarkeit in § 103 AFG. Der Kollege Cronenberg hat bereits in der Haushaltsdebatte darauf hingewiesen, daß wir die Vorlage des Arbeitsministers uneingeschränkt begrüßen. Wir bejahen die Konkretisierung des Begriffs der Zumutbarkeit nicht etwa deshalb, weil wir hierdurch Disziplinierungsinstrumente schaffen wollten, sondern deswegen, weil wir folgender Auffassung sind: Die saubere Klärung des Begriffs der Zumutbarkeit hat einen doppelten Sinn:Sie verdeutlicht erstens die Rechte des Arbeitslosen, verdeutlicht, welche Arbeit er aus welchen Gründen ablehnen kann und welche Arbeit er nicht ablehnen kann. Zu wissen, welcher Arbeitsplatz zumutbar ist, dient der Klärung der eigenen Posi-
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Hölschertion und damit dem beruflichen Fortkommen des Arbeitslosen. Häufig wird übersehen, meine Damen und Herren, daß der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben in allererster Linie dem Arbeitslosen dient. Alle Erfahrungen zeigen: Je länger die Arbeitslosigkeit dauert, um so schwieriger wird die berufliche Wiedereingliederung. Mit anderen Worten, dem wohlverstandenen Interesse des Arbeitslosen widerspräche es, wenn er von seinem Arbeitsamt, von seinem Arbeitsvermittler unter allen Umständen den Nachweis einer gleichwertigen neuen Arbeit verlangen und andere Arbeitsangebote — weil sie weniger Sozialprestige haben, weil sie geringer bezahlt sind, weil sie nicht so nahe wie der alte Arbeitsplatz liegen oder weil andere Arbeitszeiten vorgesehen sind — grundsätzlich ohne Folgen für seine Leistungsansprüche ablehnen könnte. Es geht also häufig um die Alternative berufliche Wiedereingliederung oder weitere Arbeitslosigkeit, unter Umständen sogar bis hin zur Dauerarbeitslosigkeit mit allen ihren verhängnisvollen Folgen für das Selbstwertgefühl des Arbeitnehmers und, vergessen wir das nicht, für seine soziale Anerkennung und die Anerkennung seiner Familie.Aus diesen Gründen wünschen wir auch, daß in den Ausschußberatungen folgende Abwägungen vorgenommen werden. Wir wollen, daß die bisherige berufliche Tätigkeit des Arbeitslosen berücksichtigt wird, wir wollen, daß die Dauer seiner Arbeitslosigkeit ebenso berücksichtigt wird wie seine familiären Verhältnisse, und wir wollen, daß seine ganz persönliche Situation berücksichtigt wird. Hier war zweifellos Kritik an der Fassung des vielzitierten Runderlasses 230 berechtigt, weil er dieser notwendigen individuellen Wertung zu wenig Spielraum gab.Meine Damen und Herren, diese Abwägungen berücksichtigen sowohl die individuellen Interessen des Arbeitslosen wie auch die wohlverstandenen Interessen der Solidargemeinschaft der Beitragszahler. Sie geben aber auch dem Vermittler die notwendige Klarheit und die Verantwortung, im Interesse des Arbeitslosen tätig zu werden.Es erschien mir notwendig, so ausführlich auf das Problem der Zumutbarkeit einzugehen, denn in dieser Frage bestehen — leider auch bei Sozialpolitikern — immer wieder Mißverständnisse.Von mindestens ebenso großer Bedeutung sind aber die verbesserten Hilfen zur Förderung der beruflichen Bildung und zur beruflichen Wiedereingliederung der Arbeitnehmer, aber auch zum Abbau von Leistungsmißbräuchen, die diese AFG-Novelle vorsieht. Auf den Inhalt dieser Verbesserungen brauche ich hier nicht im einzelnen einzugehen; das haben meine Vorredner ausführlich getan.Zusammenfassend kann man allerdings feststellen: Mit den Neuregelungen werden die Hauptforderungen aus dem Beschäftigungsprogramm meiner Fraktion, der FDP-Fraktion, vom September 1977 und aus dem Aktionsprogramm der FDP zur Arbeitsmarktpolitik vom September 1978 verwirklicht.Die vorliegende Novelle kann nach Auffassung meiner Fraktion bei den vor uns liegenden parlamentarischen Beratungen natürlich noch verbessert werden. Dazu werden wir im wesentlichen folgende Vorschläge einbringen: verstärkte Förderung der regionalen Mobilität z. B. durch verbesserte Hilfen bei einem Umzug aus beruflichen Gründen. Hier sehe ich Anlaß zu einer persönlichen zusätzlichen Bemerkung. Wir müssen uns auch über die Grenzen der Mobilität klarwerden.
Denn wenn der Staat — ich will es einmal so ausdrücken — durch Anwendung mittelbaren Zwangs — und die Androhung der Entziehung der Arbeitslosenunterstützung bzw. des Arbeitslosengeldes ist bereits eine Stufe, bei der man von der Anwendung mittelbaren staatlichen Zwanges reden kann — sehr stark eingreift, muß er auch die Verantwortung für die Folgen einer so durch staatliches Handeln herbeigeführten Mobilität übernehmen, und da sind dann vom System her — mit Recht — sehr schnell Grenzen gesetzt. Ich habe auf meinem Schreibtisch Unterlagen über einen Fall liegen, bei dem die Arbeitsverwaltung im Taunus einen Ingenieur veranlaßt hat, mit seiner Familie den Wohnort zu wechseln und nach Wuppertal zu ziehen. Man hat ihm mitgeteilt, er sei schon eine so lange Zeit arbeitslos, daß man nicht mehr verantworten könne, Arbeitslosenunterstützung zu zahlen. Nach einem halben Jahr war dieser Mensch, der seine Zelte — Schule, Verein, Haus — im Taunus abgebrochen hatte, in Wuppertal arbeitslos. Dieser Mensch schreibt mit Recht erbitterte Briefe an Bundestagsabgeordnete. Denn er hatte es nicht zu vertreten, daß seine Firma pleite machte und er jetzt in Wuppertal wieder auf der Straße sitzt — aber entwurzelt. An diesem Beispiel möchte ich die Grenzen der Mobilität deutlich machen.
Dennoch: Wir müssen sie fördern — aber mit liberalen Mitteln und nicht durch Zwang. Denn wenn wir Zwang anwenden, tragen wir auch die Folgen, die durch eine solche Mobilität möglicherweise entstehen.
Wir werden uns auch dafür einsetzen, daß die Gleichbehandlung von behinderten Jugendlichen bei der Bemessung des Arbeitslosengelds erfolgt. Wir werden uns bei den Beratungen dafür einsetzen, daß wir zu einer zweckmäßigeren beruflichen Förderung kommen. Heute beträgt der Leistungssatz bei dieser individuell bedingten beruflichen Förderung 58 °/o. Wir sind der Meinung: Auf Antrag des Unterhaltsgeldempfängers sollte eine Aufstokkung des Unterhaltsgelds über Darlehen möglich sein. Die BAföG. Regelungen zeigen, daß dies auch administrativ bewältigt werden kann.Mein Kollege Haussmann — auch dies ist ein Punkt, den wir ansprechen werden — hat in der Haushaltsdebatte — und ich bin dankbar, daß auch der Minister dies getan hat — auf die Notwendigkeit der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen hingewiesen: Wir sind der Meinung: Hier muß eine bessere finanzielle Förderung stattfinden, z. B. durch Zuschüsse für Mehrkosten bei der Umwandlung von
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HölscherVollzeit- in Teilzeitarbeitsplätze und — was ein wichtiges sozialpolitisches Anliegen ist — bei der Errichtung von Schonarbeitsplätzen für Behinderte — ich denke hier gerade an psychisch Behinderte —, die sich im Grund sehr schnell die Frage stellen müssen, ob die monatelange Therapie denn überhaupt einen Sinn gehabt hat, weil sie zu plötzlich in den Leistungsstreß des Arbeitslebens hineingeführt wurden.Auf der Tagesordnung sollte auch unser Vorschlag bleiben, hier und da denkbare ungerechtfertigte Vorteile in bestimmten Einkommensgruppen abzubauen und möglicherweise beim Jahreslohnsteuerausgleich einen Weg durch eine Modifizierung der Rückvergütung zu finden.Abschließen möchte ich mit einem Hinweis auf die Gleichstellung beim Beitrag der Bundesanstalt für Arbeit zur Alterssicherung beim Bezug von Lohnersatzleistungen nach dem AFG, die die Novelle auf Betreiben der FDP für die von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung befreiten Angestellten vorsieht. Diese Neuregelung soll rückwirkend zum 1. Juli 1978 in Kraft treten. Angestellte, Mitglieder von Versorgungswerken und Angestellte mit einer befreienden Lebensversicherung können demnach wählen, ob der Beitrag der Bundesanstalt an das Versorgungswerk bzw. an die Lebensversicherung oder an die gesetzliche Rentenversicherung geleistet werden soll. Mit dieser Gleichbehandlung und Wahlfreiheit wird der freiheitliche Sozialstaat entsprechend den gesellschaftspolitischen Vorstellungen meiner Partei weiter ausgebaut und das gegliederte System unserer Alterssicherung gestärkt.Da ich sehe, daß ich noch etwa drei Minuten Redezeit habe, möchte ich die Zeit nutzen, um auf ein besonderes Problem im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit zu kommen. Wir haben eine leider steigende Zahl von jugendlichen Schulabgängern, die leistungsschwach sind und unmittelbar keinen Ausbildungsplatz finden. Für sie gibt es die bekannten berufsfördernden Maßnahmen. Sie erhalten ein Jahr Berufsvorbereitung aus Mitteln der Bundesanstalt. Aber in vielen Fällen führt auch dieses eine Jahr der Berufsvorbereitung nicht zum Erfolg, dem Ausbildungsplatz. Auf der anderen Seite haben wir zumTeil freie Kapazitäten im Berufsförderungswerk.Es ist eigentlich nicht einzusehen — einem solchen Betroffenen kann man es nicht plausibel machen —, daß auch die jetzt geänderte Regelung des Arbeitsförderungsgesetzes ihm im Grunde zumutet, ein Jahr oder zwei Jahre arbeitslos zu sein, weil er erst dann einen Rechtsanspruch gewinnt, in einem Berufsförderungswerk z. B. zum Metallfacharbeiter ausgebildet zu werden — was man ja bei einem arbeitslosen Hilfsarbeiter gleich tut. Deshalb kann mich hier nicht Töpfchendenken interessieren, sosehr ich Verständnis dafür habe. Natürlich ist dies eine Aufgabe der Berufsbildung; aber da müssen wir Sozialpolitiker uns einmal mit den Bildungspolitikern zusammensetzen und fragen: Wie können wir einen gemeinsamen Weg finden, damit dann, wenn die Wirtschaft keine Angebote machen kann — die Priorität sollte die betriebliche Ausbildung haben —, subsidiär nahtlos die Ausbildung in einer überbetrieblichen Einrichtung — auch in einem Berufsförderungswerk — erfolgt und nicht diese unnötige und im Grunde genommen unsoziale und auch unverständliche Regelung beibehalten wird, daß der Leistungsanspruch erst gegeben ist, nachdem eine gewisse Zeit der Arbeitslosigkeit nachgewiesen werden kann?Ich habe gerade ein großes Berufsförderungswerk in Stuttgart besucht und dort mit diesem Personenkreis gesprochen. Diese Menschen verstehen natürlich nicht, warum ein 19jähriger, der drei Jahre Hilfsarbeiter gewesen und arbeitslos geworden ist, jetzt plötzlich eine volle Ausbildung erhält, während ein 15- oder 16jähriger zunächst einmal wieder auf die Straße geschickt wird. Hier müssen wir im Grunde genommen auch die Etatschranken, die aufgebaut sind, überwinden. Dies ist zwar nicht primär Aufgabe der Arbeitslosenversicherung, aber wir müssen einen Weg finden.Ich wollte dies als konkretes Beispiel dafür bringen, wo wir uns im Rahmen der parlamentarischen Beratungen auch ressortübergreifend noch um Lösungen für bestimmte Randgruppen bemühen müssen. Denn Arbeitsmarktpolitik heißt auch, sich besonders mit den Randgruppen zu befassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blüm.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Als die CDU/CSU 1969 aus der Regierung ausschied, kamen auf 179 000 Arbeitslose 747 000 offene Stellen; das Verhältnis betrug also 4.1.
Zehn Jahre später haben wir 1 134 000 Arbeitslose und 266 894 offene Stellen. Das Verhältnis 4 : 1 ist uns also erhalten geblieben, nur hat es sich umgedreht. Damals kamen auf einen Arbeitslosen vier offene Stellen, und heute kommt auf vier Arbeitslose eine offene Stelle.
Was Sie im Siegestaumel als Machtwechsel bezeichnet haben, hat sich unter der Hand als Sozialwechsel herausgestellt.Solange vier Arbeitslose um eine offene Stelle konkurrieren müssen, haben es Vermittler schwer, exakt herauszufinden, wer wirklich arbeiten will und wer nicht.
70 % der Vermittlungsgespräche enden ohne Vermittlungsangebot.
75 % der Arbeitslosen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, haben in den letzten drei Monaten kein Vermittlungsangebot erhalten. Das Desaster liegt also weder bei den Vermittlern noch bei den Ar-
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Dr. Blümbeitslosen. Das Hauptdesaster liegt bei der miserablen Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung.
Das Desaster ist groß. Die Vollbeschäftigung hat geradezu einen Dammbruch erlitten. Die Härte des Arbeitslosenschicksals ist nicht nur von der Höhe der Arbeitslosenzahl, sondern auch von der Dauer der Arbeitslosigkeit abhängig. Je länger sie dauert, um so härter wird sie für die Betroffenen. Herr Minister, so leid es mir tut — entgegen Ihren Darstellungen —: Die Dauerarbeitslosigkeit hat zugenommen; der Anteil derjenigen, die über ein Jahr arbeitslos sind, ist um 3,8 % gestiegen und liegt jetzt bei einem Fünftel der Arbeitslosen. Sie, Herr Minister haben mir unterstellt, ich hätte das Gesetz nicht gelesen. Vielleicht darf ich an dieser Stelle aus dem Strukturbericht zitieren:Die Zahl der Arbeitslosen, die Ende 1978 ein Jahr und länger arbeitslos gewesen sind, nahm gegenüber der entsprechenden Vorjahreszeit nochmals zu.Wenn Sie den Strukturbericht nicht gelesen haben, dann lassen Sie sich ihn in Ihrem Haus doch vorlesen.
Ich hoffe, niemand erliegt der Versuchung, 1 Million Arbeitslose „vorwiegend", „hauptsächlich" oder auch nur „zum beträchtlichen Teil" als Arbeitsunwillige oder Arbeitsunfähige zu disqualifizieren. Er triebe die Arbeitslosen damit endgültig in den toten Winkel der Isolation.
— Herr Glombig, wir sollten bei Ihrem Zwischenruf einen Moment stehenbleiben. Wenn es Geschwätz ist, wenn ich dafür plädiere, daß die Arbeitslosen nicht in die Ecke der Isolation getrieben werden, dann sind Sie mit dem „sozial" in Ihrem Parteinamen weit heruntergekommen, Herr Glombig.
Natürlich gibt es Mißbrauch der Arbeitslosenversicherung. Wo gibt es den nicht? Die CDU/CSU wird mit von der Partie sein, wenn es darum geht, den Mißbrauch, soweit das mit den Mitteln des Rechtsstaates geht, zu bekämpfen. Mein Kollege Kraus hat schon darauf hingewiesen, daß es im Zusammenhang mit dem Steuerrecht Versuche gibt, den Lohnsteuerjahresausgleich so auszunutzen, daß eine kurzfristige Arbeitslosigkeit rentabler ist, als ein ganzes Jahr zu arbeiten. Ich scheue mich nicht hinzuzufügen — um ein konkretes Beispiel zu geben —: Wenn sich ein Arbeitsloser zum Vorstellungsgespräch betrunken anmeldet, um auf diese Weise schlecht aufzufallen und am Arbeitsplatz vorbeizukommen, muß ihm die Arbeitslosenunterstützung gesperrt werden, auch wenn ihm nicht bewiesen werden kann, ob das selbstverschuldete Handikap Trunkenheit war, welches verhindert hat, daß er diesen Arbeitsplatz bekommen hat.Ich warne allerdings vor der Illusion des Perfektionismus, wir könnten Mißbrauch gänzlich vermeiden. Eine freie Gesellschaft kann das nicht sogut wie ein Polizeistaat. Der Preis der Freiheit ist der Verzicht auf eine totalitäre Überwachung.Aber kommen wir jetzt zum kritischen Punkt dieser Novelle, Herr Minister. Sie verwalten die Arbeitslosigkeit, und deshalb nimmt es nicht wunder, daß der Hauptteil Ihrer sozialpolitischen Phantasie im Verwaltungsteil des Arbeitsmarktprogramms beheimatet ist.
Sie haben eine sehr schöne Rede gehalten, nur leider Gottes zu einem häßlichen Thema. Sie haben sich pausenlos mit den Unternehmern auseinandergesetzt. Angegriffen haben Sie nicht die Unternehmer, angegriffen hat Sie der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Deutsche Angestelltengewerkschaft. Warum haben Sie dazu nichts gesagt? War das wieder der berühmte Ehrenbergsche Fluchtversuch „Haltet den Dieb", um mit diesem Trick auszuweichen, den Eindruck des Verfolgers hervorzurufen, während Sie in dieser Frage in Wirklichkeit der Verfolgte sind?
Bleiben wir beim Wochenendpendeln. Der vielen Worte kurzer Sinn — jetzt lese ich wieder vor, damit Sie nicht meinen, ich interpretiere —: „Nr. 2 verdeutlicht," — so heißt es in Ihrem amtlichen Kommentar — „daß grundsätzlich auch Beschäftigungen im Wochenendpendelbereich, in besonders gelagerten Einzelfällen auch ein Umzug zumutbar sein können." Damit wird die Wochenendehe zu einer regulären Einrichtung der Sozialversicherung. Ihre Familienfeindschaft schleicht sich jetzt auch in die Sozialversicherung ein. Das wollen wir festhalten.
Da helfen keine wachsweichen Gummiparagraphen, mit denen Sie versuchen, eine Entschuldigung zu finden. Die Wochenendehe, der Zwang zum Wochenendpendeln ist erstmalig in die Arbeitslosenversicherung eingeführt worden.
— Herr Glombig, ich kann mir vorstellen, daß Ihnen das wehtut. Aber Sie müssen es doch ertragen, daß Ihnen der Spiegel vorgehalten wird.
— Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen vorlesen, was der Deutsche Gewerkschaftsbund gesagt hat: „Die Bundesregierung scheint beschäftigungshemmende Mängel am Arbeitsplatz fast ausschließlich in den Personen der Betroffenen, d. h. deren Eignung, Qualifikation, gesundheitlichen Verfassung, Motivation ..." — Soll ich weiterlesen oder langt es? Wenn Sie es wünschen, würde ich die Gewerkschaftstexte gern zu einer abendlichen Lesung benutzen.Kommen wir noch zur Teilzeitarbeit. Arbeitnehmer, die bisher möglicherweise mit vier Stunden Tagesarbeit zufrieden waren, sollen jetzt durch Ihre Novelle gezwungen werden, acht Stunden zu arbeiten. Herr Ehrenberg, verraten Sie mir einmal, wo hier der arbeitsmarktpolitische Entlastungseffekt liegt. Sie sollten einmal ein Preisrätsel aufgeben,11488 Deutscher Bundestag —.8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979Dr. Blümwarum der Arbeitsmarkt entlastet wird, wenn diejenigen, die vier Stunden arbeiten wollen, jetzt acht Stunden arbeiten müssen.Meine Damen und Herren, dabei haben wir es wieder mit einem sozialpolitischen Musterbeispiel zu tun. Einerseits verkündet diese Bundesregierung Initiativen zur Förderung der Teilzeitarbeit. Es stand sogar in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Ja, bitte, Herr Kollege.
Herr Kollege Blüm, könnte es sein, daß Sie diese erste Lesung zur Fünften Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz mit einer Wahlkampfveranstaltung Ihrer Partei in einem Vorort von Koblenz verwechseln?
Herr Glombig, im Unterschied zu Ihnen und manchen der Ihren ist mein Standpunkt nicht vom Standort abhängig. Ich könnte die Rede auch im Wahlkampf halten, das stimmt.
Meine Damen und Herren, mit der einen Hand werden Teilzeitinitiativen gefordert, mit der anderen Hand wird Teilzeitarbeit verunmöglicht. Da weiß offensichtlich die linke Hand nicht, was die rechte Hand tut. Das nenne ich eine gestörte sozialpolitische Motorik, Herr Ehrenberg. Sie sollten in der Tat einmal überlegen, ob es denn gut ist, in Hamburg arbeitslosen Frauen zu erklären — ich zitiere l –:
Wir müssen unsere Bemühungen gleichzeitig einsetzen bei einer gezielten Vermehrung von Teilzeitarbeitsplätzen.
Nach Bonn zurückgekommen, machen Sie das Gegenteil. Dabei glaube ich, daß gerade die Teilzeitarbeit eine besondere Chance bietet, zu einer flexiblen Arbeitsplatzgestaltung und zu einer den Bedürfnissen des einzelnen angepaßten Arbeitszeitordnung zu gelangen. Es muß doch nicht alles so stur bleiben. Wir müssen noch nicht alles in Kolonnen organisieren.
— Vielleicht geht das über Ihr kollektivistisches Vorstellungsvermögen, das kann schon sein; aber das Ende des Kolonnendenkens muß auch in der Arbeitsmarktpolitik gekommen sein.
Lassen Sie mich noch einen dritten Punkt, nämlich die Abstiegsautomatik, die Sie in die Novelle einführen wollen, erörtern. 60 Prozent der Arbeitslosen sind Ungelernte. Meine Damen und Herren, das arbeitsmarktpolitische Problem besteht doch nicht darin, daß wir zu wenig Ungelernte haben, sondern darin, daß wir zu wenig Fachkräfte haben. Das Problem heißt doch nicht Abqualifizierung, sondern die Aufgabe heißt Qualifizierung der Arbeitskräfte.
Anstrengung muß sich lohnen. Deshalb komme ich auch noch einmal auf das Haushaltsstrukturgesetz zu sprechen. Der Herr Kollege Lutz hat hier wieder einmal Übersoll geleistet. Ich habe bei der Haushaltsdebatte mitgezählt: In einem Kurzbeitrag hat er der Regierung neunmal gedankt. Heute hat er sich zu einer Hochleistung verstiegen, indem er mir geantwortet hat, obwohl ich noch gar nicht geredet hatte. Das ist natürlich schon eine Musterleistung.
Daran führt kein Weg vorbei: Sie haben im Haushaltsstrukturgesetz 1975 die Unterstützung für Umschulung und Fortbildung für einen Teil der Arbeitnehmer 10 Prozent unter die Arbeitslosenunterstützung gesenkt. Die Anstrengung zur Bildung und die Anstrengung zur Fortbildung und Umschulung lohnte sich nicht mehr.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lutz?
Ich stelle fest, daß der Herr Kollege Lutz gerade hereingekommen ist.
Ich wäre dankbar, wenn die Kritik am Präsidenten unterbliebe. Es gehört nicht zu dem Stil dieses Hauses.
Vielleicht, Frau Präsidentin, gestatten Sie mir eine Kritik am Kollegen Lutz. Er kann nur dann Fragen stellen, wenn er sich wenigstens meine Rede angehört hat.
Deshalb möchte ich ihn bitten, keine Frage zu stellen, denn ich finde, es gehört zum guten Umgangston, daß man nur etwas befragen kann, was man vorher gehört hat.Ein Teil der Beschädigung des Hauses „Arbeitsförderungsgesetz" nehmen Sie jetzt wieder zurück. Erst ramponieren Sie es, dann hängen Sie wieder den Rolladen ein, und jetzt sollen wir das Ganze als Wiederaufbau feiern. Es handelt sich um nichts anderes als um eine Teilkorrektur. Sie erreichen noch nicht einmal den Zustand, den das Arbeitsförderungsgesetz 1969 erreicht hatte, das von CDU-Hand geschaffen wurde. Dahin kehren Sie nicht mehr zurück. Sie reparieren nur einige Schäden, die Sie selber angerichtet haben. Herr Ehrenberg, Sie sind insofern der beste Kunde Ihrer sozialpolitischen Reparaturwerkstatt.
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Dr. BlümDie Beseitigung des selbstverschuldeten Schadens können Sie allerdings nicht als Fortschritt feiern. Das ist bestenfalls Wiedergutmachung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die kurze Zeit auch zu einem Dank an die Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit nutzen: Sie arbeiten in schwierigen Zeiten. Die Arbeitslosen nehmen zu, und die Arbeitsmöglichkeiten nehmen ab. Sie arbeiten unter schwierigen Bedingungen. Neuere Untersuchungen auch aus Ihrem Haus zeigen, daß auf einen Hauptvermittler 600 Personen kommen, die beraten und vermittelt werden wollen. Ich frage Sie: Wie läßt sich auf diese Weise seriös vermitteln und beraten? Wie läßt sich auf diese Weise überhaupt seriös unterscheiden, ob ein Arbeitswille vorliegt? Deshalb ist, wie die Statistik beweist, die wieder aus Ihrem Haus kommt, nur sehr ungenügend Zeit vorhanden: Im Durchschnitt sind es für ein Vermittlungsgespräch neun Minuten. Hier sind wir nicht am Rande der Notwendigkeit. Wir brauchen mehr Vermittler. Ich gestehe, daß sich in diesem Bereich einiges verbessert hat. Aber es muß noch besser werden, wenn die Vermittlung tatsächlich ein praxisnahes und menschennahes Serviceangebot sein soll.Im Unterschied zu dem, was Sie hier behauptet haben, verschärft die Fünfte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz in wichtigen Punkten den Runderlaß 230. Das gilt für Arbeitszeitfragen, das gilt auch für die Frage, was einem Arbeitnehmer an Lohneinbußen zugemutet wird. Herr Minister, Sie haben, als die Empörung über den Runderlaß hohe Wellen schlug, ein Opfer gesucht, um das Meer der Entrüstung zu beruhigen. Sie haben es in Herrn Ministerialdirektor Baden gefunden. Angesichts der Verschärfung, die Sie nun in der Fünften Novelle einführen, frage ich Sie, Herr Minister: Wann gehen Sie baden?
Das Wort hat der Herr Bundesminister Ehrenberg.
Herr Kollege Blüm, da Sie Ihre am Gesetzestext vorbeigehenden Interpretationen nicht aufgeben, habe ich mich noch einmal zu Wort gemeldet, um Sie auf folgendes aufmerksam zu machen. Der Runderlaß 230 ist wohl unbestritten auf der Basis des geltenden Rechts erlassen worden. In diesem Runderlaß auf der Basis des geltenden Rechts wird der von Ihnen als familienfeindlich angesehene Punkt, der Fall des Umzugs, längstens nach einem Jahr grundsätzlich für zumutbar erklärt. Bei Berufstätigkeit eines Ehegatten soll der Umzug nach dem Runderlaß nur dann unzumutbar sein, wenn eine Beschäftigung des Ehegatten am neuen Beschäftigungsort des Arbeitslosen ausgeschlossen ist. Der Regierungsentwurf stellt hierzu eindeutig klar, daß ein Umzug nur das allerletzte Mittel sein kann. Die Berufstätigkeit des Ehegatten macht den Umzug bereits dann unzumutbar, wenn dem Ehegatten nicht gleichzeitig oder innerhalb kurzer Zeit eine gleichwertige Dauertätigkeit am neuen Beschäftigungsort vermittelt werden kann. Zusätzlich beinhaltet der neue § 103 im Gegensatz zum Runderlaß, der Alleinstehende und Verheiratete gleichbehandelt, die ausdrückliche Berücksichtigung der familiären und sonstigen persönlichen Verhältnisse. Herr Kollege Blüm, wie Sie bei diesem Tatbestand den Entwurf als schärfer als den Runderlaß bezeichnen können, ist ausschließlich Ihrer Interpretationskunst zuzuschreiben und findet im Gesetzestext keine Stütze.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Blüm.
Gern.
Herr Bundesminister, könnten Sie mir mit Ihrer Interpretationskunst nachhelfen und mir sagen, wo sich die zeitliche Beschränkung von einem Jahr, von der Sie soeben selber gesprochen haben, in Ihrem Gesetzestext befindet?
Sie befindet sich im Gegensatz zum Runderlaß nicht dort.
— Nein, davon ist in dem gesamten Text des § 103 keine Rede, sondern es ist ausdrücklich an vielen Stellen im Gesetz die Rede davon, daß alle erfolglosen Vermittlungsversuche — das kann weit über ein Jahr hinausgehen — erfolgt sein müssen, bevor ein Umzug überhaupt in Frage kommen kann.
-- Davon kann überhaupt keine Rede sein.
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Blüm?
Bitte.
Würden Sie mir zugestehen, daß dies sofort und nicht erst nach einem Jahr passieren kann?
Nein, das stimmt nicht. Dafür gibt es keine Stütze im Gesetz.Genauso, verehrter Kollege Blüm, ist es mit dem, was Sie hier über die Stellungnahme des Deustchen Gewerkschaftsbundes von sich gegeben haben. Ich möchte zu dem einen Punkt, den Sie angesprochen haben, nämlich zum § 103, die Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 16. Januar 1971 zitieren. Darin heißt es:Damit ist die neue Formulierung eines § 103Absatz 1 im Regierungsentwurf zugleich geeig-11490.Metadaten/Kopzeile:
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Bundesminister Dr. Ehrenbergnet, die zu weit gehenden Regelungen des Runderlasses 230/78 der Bundesanstalt zu korrigieren. Dies ist auch der vom Bundesminister erklärte Zweck dieser Formulierung.So ist es in der Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu lesen.Eine letzte Bemerkung zu dem, was Sie hier zuletzt gesagt haben, Herr Blüm. In Ihrem Interview in der „Wirtschaftswoche" haben Sie das nicht mit dem Wortspiel des sich im Ruhestand befindlichen Ministerialdirektors Baden dargestellt, sondern dort haben Sie geschrieben:Wegen der Verschärfung muß der Bundesarbeitsminister Ehrenberg zurücktreten.Ich möchte Ihnen dazu gern sagen: Wenn mich jemals die Lust zum Zurücktreten überfallen sollte, dann nur, wenn Sie genau hinter mir stehen und ich Sie dabei ans, Schienbein treffe. Herzlichen Dank!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Urbaniak.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin davon ausgegangen, daß der Kollege Blüm sich die Mühe machen würde — und er wird ja wohl jetzt aufmerksam zuhören —, sich konkret mit den Einzelheiten des Gesetzentwurfs und der Darstellung von Minister Ehrenberg auseinanderzusetzen.
— Nun lassen Sie mal das Schienbein und hören Sie mal zu, damit wir auch einmal in einen Dialog kommen!
Ich glaubte, Kollege Blüm, Sie würden sich sehr konkret mit dem auseinandersetzen, was Minister Ehrenberg dargestellt hat: Grundlage der Parlamentsberatung, Ansatzpunkte für die Konkretisierung eines ganz wichtigen Gesetzes — im Ausschuß haben wir das zu betreiben, mit viel Phantasie und Intensität, gar keine Frage! Sie haben das leider nicht getan. Sie wissen ganz genau: Die Politik dieser Bundesregierung ist auf die Wiedererlangung der Vollbeschäftigung und den Abbau der Arbeitslosigkeit konzentriert. Sie wissen auch, daß wir trotz der großen Rezession und der Verwerfungen auf dem Weltmarkt bis hierher zu uns mit diesem Problem weitaus besser fertiggeworden sind als andere Staaten, als Nachbarn um uns.
Darauf sollten wir zunächst einmal stolz sein. Die Zahl der Arbeitslosen geht weiter zurück.Sie haben also nicht Punkt für Punkt konkret dargestellt, welches Ihre Politik ist oder wie mandas, was Ehrenberg hier dargestellt hat, angreifen kann. Sie gaben keine Erläuterung und boten keine Alternative! Es geht wohl bei Ihnen immer so, Kollege Blüm, daß die Rollen genau verteilt sind, etwa so wie heute morgen: zum Familiengeld sagt die CDU ja — ohne Deckungsvorschlag —, die CSU aber nein. Damit können Sie aber keine Politik machen, und Sie sind nicht glaubwürdig.
Ich möchte Ihnen auch dies sagen, Kollege Blüm: Sie kennen die Arbeitswelt nicht. Wissen Sie denn, wie hoch der Anteil der arbeitslosen Kolleginnen und Kollegen ist, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben? Es sind 60 0/o! Fragen Sie doch einmal nach den Sünden der Vergangenheit. Ihre Leute waren es doch, die alle diese Fragen nicht angepackt und geregelt haben. Heute kommt das sehr im Negativen auf uns zu. Wir werden gut damit fertig. Haben Sie eigentlich schon einmal ein Einstellungsgespräch oder eine Beratung vor Ort mitgemacht, Kollege Blüm, und haben Sie tatsächlich festgestellt, mit welche einer Meterlatte die Kollegen angegangen werden, wenn sie den Arbeitsplatz wünschen? Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man im Hauptquartier der CSU, in München, Olympiamannschaften haben will, dann kriegt man sie nicht. Man kriegt nur Leute, die angeschlagen und' verletzt sind, die also nicht eingegliedert werden wegen des fehlenden Engagements — das wage ich zu behaupten — der Arbeitgeber, die immer noch glauben, hier könne man weitersuchen, um ihr Risiko so klein wie möglich zu halten. Das ist keine gute Einstellung zu dem großen Problem.Wir machen auch kein perfektes Gesetz, wie Sie es angesprochen haben, etwa wie in einem Polizeistaat, wo man das alles machen könne. Das ist ja völliger Unsinn.
— Aber sicher haben Sie das gesagt! Was soll das! Es werden genügend Lücken bleiben, die wir auf Grund von Lebenserfahrung neu beraten und wieder aufgreifen müssen. In diesem Entwurf ist nichts von brutaler Administration.Herr Kollege Blüm, Sie haben gesagt, dies sei ein weiterer Fluchtversuch von Herbert Ehrenberg, er wolle sich da also hinausflüchten. Nun kann man aber Herrn Ehrenberg nicht vorwerfen, daß er irgendwann und irgendwo bei irgendeinem Thema, das uns alle berührt hat, den Fluchtversuch angetreten hat.
Denn seine Konzeptionen waren mutig und haben dazu geführt, daß wir in der Lage sind — wir als Sozialdemokraten sagen das —, weiterhin eine dynamische, zukunftsträchtige Sozialpolitik zu betreiben.
Das merken Sie sich einmal, lieber Kollege Blüm. Herr Ehrenberg flüchtet nicht. Er setzt sich nicht nur mit dem Kollegen Blüm, sondern auch mit den anderen Leuten auseinander. Das werden wir bei der
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UrbaniakKonzertierten Aktion sehen. Da sind Sie auf Tauchstation. Aber er ist dabei; er flüchtet nicht.Sie sprachen von der Familienfeindlichkeit. Da scheint mir eine Empfehlung zu bestehen: Sprecht diesen Punkt immer wieder mal an, dann könnt ihr sie treffen! Sie wissen doch, daß es die Sozialdemokraten waren, die das gleich hohe Kindergeld für alle Kinder mit den Maßnahmen vorangebracht haben, die wir seinerzeit in Verbindung mit Steuerentlastungen durchgeführt haben. Solche Gedanken hat es unter der CDU/CSU doch nie gegeben und sind, von ihr immer abgelehnt worden. Das wissen Sie doch.Wenn Sie von Familienpolitik sprechen, dann sehen Sie sich einmal die Fragestunden an. Dann sehen Sie, wie Ihre Kollegen verlangen, das Jugendarbeitsschutzgesetz aufzuweichen und zu ändern. Da frage ich Sie: Was haben Sie eigentlich getan?Nun, ich gehe davon aus, daß wir diesen Gesetzentwurf gründlich beraten. Er hat einen sehr humanen Ansatz mit den Punkten: Zugang zur und Förderung der beruflichen Fortbildung, Erhöhung des Unterhaltsgeldes. Die Aktivitäten sind insbesondere darauf gerichtet, den arbeitslosen Jugendlichen zu helfen. Ich wünsche mir, daß vor allen Dingen bei der Vermittlung und der Beratung arbeitsloser Arbeitnehmer, von Kolleginnen und Kollegen, von Jugendlichen sehr gründlich vorgegangen wird. Betreuung und Beratung müssen bis vor Ort gehen. Die Vermittler sollten sich bis in den Betrieb hinein begeben, um wenigstens einen Hauch betrieblicher Atmosphäre sinnvoll in ihren Beratungsschatz aufzunehmen.Es war die Bundesregierung, die diesen Bereich in der Vergangenheit gerade personell immer gründlich und gut ausgebaut hat. Aber da wird noch viel mehr zu tun sein.Ich bin nicht der Auffassung, daß wir im Gesetzentwurf eine Verschärfung des Runderlasses vorfinden, ganz im Gegenteil! Wenn man sich die letzte Novellierung ansieht, das, was wir in den Bericht geschrieben haben, und das, was Nürnberg mit einem Akt der Selbstverwaltung daraus gemacht hat, dann kann man nach unserer Meinung feststellen: Das verstößt gegen das, was wir damals gewollt haben. Dieser Entwurf enthält gute Ansätze, Kollege Blüm, und wir werden die Erläuterungen vornehmen, die erforderlich sind, um das alles schlüssig und sinnvoll zu machen — ohne Druck für die arbeitslosen Arbeitnehmer.Ich darf am Schluß ein Wort zu Ihrem Interview in der „Wirtschaftswoche" sagen. Darin sind sehr viele rhetorische Wendungen enthalten. Es ist Sache eines jeden, das so zu machen, wie er will. Nur, dort, wo der Interviewer sagt: Nun einmal konkret, Herr Blüm! — ich sage das sinngemäß —, kommt nichts, nur Plattheiten, Allgemeinheiten. Darum ist der moralische Anspruch, den Sie zu erheben versuchen, mit dem, was für die Politik konkret notwendig ist, nicht vereinbar. Es war mir ein Bedürfnis, Ihnen das zu sagen.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung der Vorlage an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — und an die Ausschüsse für Wirtschaft, für Jugend, Familie und Gesundheit, für Bildung und Wissenschaft — mitberatend — sowie an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuches — Jugendhilfe -
- Drucksache 8/2571 —überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort zur Einbringung hat Frau Bundesminister Huber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anders als in der Fachwelt ist in der Offentlichkeit wenig bekannt, daß Jugendhilfe ein umfassender Begriff ist, dessen konkrete Ausfüllung, was die Vorschriften betrifft, in die Zuständigkeit von Bund, Ländern und Gemeinden fällt, aber praktisch nicht nur — und auch nicht überwiegend — von der öffentlichen Hand, sondern auch von vielen Einrichtungen und Trägern vollzogen wird, die auf diesem Feld Erfahrung haben.Jugendhilfe will, wie der Name sagt, Familien und jungen Menschen helfen, Probleme zu meistern, die ihr Lebensglück und ihre Zukunftschancen bedrohen. Jugendhilfe will und soll aber nach unserer Auffassung. — vom Kindergarten bis zur vielfältigen Arbeit mit Jugendgruppen — Probleme auch verhindern helfen. Beides ist ihre Aufgabe. Jugendhilfe hat es mit Eltern und Kindern zu tun, von denen sehr viele Probleme haben, wobei die meisten mit diesen Problemen jedoch sehr gut selbst fertig werden. Andere haben Schwierigkeiten, mit denen sie nicht oder nur zur Not selbst fertig werden können. Sie lösen diese Probleme besser, wenn sie Rat und Hilfe von geeigneter dritter Seite bekommen.Das mehr als 50 Jahre alte Jugendwohlfahrtsgesetz, das der heute hier eingebrachte Gesetzentwurf zur Reform der Jugendhilfe ablösen soll, wurde nach dem Ersten Weltkrieg nach vielen Diskussionen als quasi-polizeirechtliches Eingriffsrecht konzipiert. Es kann — trotz einiger inzwischen erfolgter Änderungen — schon längst nicht mehr Grundlage einer modernen, chancengebenden Jugendhilfe sein, weil sein zentraler Ansatz eigentlich immer die Herausnahme von Kindern aus der Familie war. Schon Ende der 50er Jahre hat die damalige CDU/ CSU-Regierung eine grundlegende Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Angriff genommen,
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11492 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Bundesminister Frau Huberschließlich aber doch nur eine Novelle ins Parlament eingebracht, die 1961 verabschiedet wurde. Nach mehrjährigen Vorarbeiten einer unabhängigen Sachverständigenkommission gab es dann Referentenentwürfe, und zwar 1974 und — nach Wiederaufnahme der Arbeiten — 1977. Die Diskussion um die Jugendhilfe dauert also schon 20 Jahre. Auch der vorliegende Regierungsentwurf hat eine Anlaufzeit von mehr als neun Jahren gehabt. Welche letzte Fassung einzelne Paragraphen nun. auch erhalten mögen, es ist jetzt endlich Zeit, mit diesem Gesetz eine neue Rechtsgrundlage für einen Arbeitsbereich zu legen, der doch zu dem Wichtigsten gehört, was Staat und Gesellschaft kennen: unsere Jugend.
Eine Zeitlang sah es auch in dieser Legislaturperiode so aus, als würde es nicht genügend Schubkraft für dieses Vorhaben geben, das Bundestag und Bundesrat ja übereinstimmend beschließen müssen. Nach Vorlage des baden-württembergischen Entwurfs im Bundesrat ist jedoch, trotz noch vorhandener unterschiedlicher Auffassungen in einigen Punkten, jetzt von allen Seiten deutlich dokumentiert worden, daß diese Reform notwendig und daß ihre Grundkonzeption, nämlich die Verlagerung von den stationären Hilfen — sprich: Fremderziehung — zu den familienunterstützenden und ergänzenden Hilfen, allgemein akzeptiert ist. Ich gehe davon aus, daß diese Grundkonzeption auch hinter den Pünktchen unter Punkt Nr. 7 b der heutigen Tagesordnung steht, die durch die Opposition nicht ausgefüllt worden sind,
weil es offenbar doch nicht ganz so einfach ist, einen Jugendhilfeentwurf zu machen.Die vorliegenden Entwürfe stimmen zum großen Teil überein und weisen eine gemeinsame Zielsetzung auf, nämlich die Stärkung von Elternrecht und Elternverantwortung, die Stärkung der Erziehungskraft der Familie sowie die Verwirklichung des Rechtes junger Menschen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit unter Wahrung der Rechte anderer.Meinungsverschiedenheiten gibt es — das wird sich auch während der parlamentarischen Beratung zeigen — bei der Frage des Verhältnisses Eltern—Staat, des Verhältnisses Eltern—Kind, des Regelungsumfanges, der Stellung der öffentlichen und freien Träger sowie bei der Frage der Bundeskompetenz. Das sind gewichtige Punkte. Allein, bei sachlicher Diskussion werden sich — so erhoffe ich mir — angesichts des nunmehr so breit bejahten Reformgedankens schließlich auch Lösungsmöglichkeiten zeigen.Die Jugendhilfe muß eine Chance haben, denn es geht hier um Kinder, die sich in einer Welt zurechtfinden müssen, die oft selbst für Erwachsene nicht einfach ist. Es geht um Familien, denen man helfen muß, statt sie auseinanderzureißen, und um die Kinder in Heimen und Pflegefamilien, die ein echtes Zuhause suchen und nicht überall finden.Die Frage, wie und wann geholfen werden soll, führt in den Hauptkomplex der Diskussion: Staatund Eltern. Der Regierungsentwurf sieht eine ganze Reihe von Hilfen und Beratungsmöglichkeiten vor: Familienberatung, Erziehungsberatung, Hilfe in besonderen Notsituationen, zum Beispiel bei Krankheit oder Wohnungsproblemen, Hilfen für allein erziehende Eltern und anderes mehr.Durch Ausbau insbesondere der Erziehungs- und Familienberatung soll die Familie so gestärkt werden, daß staatliche Eingriffe gegen den Willen der Eltern künftig weniger notwendig werden. Deshalb will Jugendhilfe noch lange nicht — wie es im Pressedienst des Bundesrates vom 5. März steht — in, ständigem Kontakt mit ausnahmslos allen Familien stehen.Die Hilfen sind - das hebe ich ganz besonders hervor — ausnahmslos freiwillige Angebote. Sie dürfen nicht angeordnet oder aufgedrängt werden, auch da nicht, wo dies nach geltendem Recht noch möglich ist, wie bei der Erziehungsbeistandsschaft.Angesichts dieser Feststellung ist es ein merkwürdiger Disput, den die Opposition mit dem Angriff führt, der Gesetzentwurf der Regierung gefährde die intakte. Familie und den Erziehungsanspruch der Eltern oder, wie es Herr Ministerpräsident Späth in seiner jüngsten Bundesratsrede ausgedrückt hat, der Regierungsentwurf sei von grundlegendem Mißtrauen gegenüber der Erziehungsleistung der Familie geprägt, er stelle die Kinder als potentiell gefährdet hin, die Eltern als potentiell zur Erziehung unfähig, und biete schließlich Hilfen zur Erziehung in so umfassender Weise an, daß die Familien sich dieser Angebote gar nicht mehr erwehren könnten.
— Warten Sie mal mit Ihrem Zwischenruf!
Der von uns vorgesehene Ausbau der Erziehungsberatungsstellen wird dazu führen, daß 1 bis 2 °/o aller Kinder und Jugendlichen intensiver beraten werden und die immer noch teilweise bis zu einem Jahr dauernden Wartezeiten wegfallen. Der Ausbau entspricht den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation, der UNESCO, und übrigens auch — das kann ich mir nicht ersparen hier anzumerken —den Richtlinien im Jugendprogramm der Bayerischen Staatsregierung von 1978.
. Bei der Gefährdung, die viele Eltern heute selbst spüren und die mit den Stichworten Ausreißerei, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Jugendsekten, Mißhandlungen, Kinderselbstmorde hier schon so oft beklagt worden sind — offensichtlich, Herr Kroll-Schlüter, hat die Bundesregierung diese Probleme also doch nicht erfunden, zum Zwecke der Elterneinschüchterung, wie Sie behauptet haben —, müssen wir doch feststellen, daß es ein Zuwenig an Jugendhilfe gibt und nicht ein Zuviel..
7 000 Sorgerechtsentzüge, 3 000 Fürsorgeerziehungsanordnungen jährlich, 140 000 Kinder, die außerhalb ihrer Familie aufwachsen, darunter viele Klein- und Kleinstkinder. 90 °/o der Heimplätze werden für länger für Daueraufenthalte benötigt. Das muß man sich einmal vor Augen führen. Mehr als die Hälfte
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Bundesminister Frau Huberder Heimkinder hat keinen Kontakt mehr zur eigenen Familie. Von den anderen hat die Hälfte nur einen sehr losen Kontakt. Diese Zahlen sprechen doch für sich. Sie sollen niedriger werden. Das ist der Sinn unseres Entwurfs. Und das ist das Gegenteil von Verstaatlichung und Dirigismus.
Es würde allerdings wenig helfen, wollte man Jugendhilfe nur in den Fällen anbieten, in denen, wie es bei Herrn Späth heißt, „Eltern ihrer Erziehungspflicht nicht nachkommen". Wenn Jugendhilfe zur vorbeugenden Vermeidung von Problemen wirklich untersagt würde, wäre eine große Chance vertan. Die Hilfen werden ja, wie gesagt, nicht aufgedrängt, nicht angeordnet, sondern angeboten. Es wäre auch eine Diskriminierung von Eltern, die mit ihren akuten Problemen nicht fertig werden. Dies sind doch nicht einfach die schlechteren Eltern, denen man ein Etikett aufkleben und dann auch noch die Mitwirkungsrechte beschränken kann.
Niemand kann wollen, daß Eltern aus Angst vor einer solchen Etikettierung Hilfen, die sie eigentlich brauchen, nicht in Anspruch nehmen. Wer soll auch prüfen, wann und nach welchen Kriterien, ob und wieweit Eltern versagen? Soll z. B. ein Zuschuß für Familienbildung, Erholung oder gar für Jugendarbeit, soll Erziehungsberatung an geprüfte Defizite gebunden werden? Das kann sich doch nicht alles nur an Gefährdete und Gestörte richten. Das tut es ja auch in der Praxis der CDU-Länder nicht.
— Nein, ich habe Ihnen schon die Zahlen genannt. — Eltern, Kinder und Jugendliche dürfen nicht abgestempelt und nicht abgeschreckt werden, sondern es soll so sein, daß die Familien selber darüber bestimmen, ob und wer sich im Einzelfall um sie kümmert. Nur in den Fällen, in denen das Vormundschaftsgericht die Herausnahme der Kinder aus der Familie verfügt hat, tritt Jugendhilfe auch gegen den Willen der Eltern ein. Die Eingriffe erfolgen jedoch nicht durch das Jugendhilferecht. Es wird künftig keinen einzigen Eingriffsparagraphen enthalten.Mit der nunmehr vom Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages gefundenen Neufassung der §§ 1666 und 1666 a BGB sind die Ängste vor den Übergriffen des Staates doch wohl nun unbegründet. Was unser Gesetz betrifft, kommt es darauf an, auch diesen Kindern, die aus ihren Familien gerissen werden, nicht nur eine Unterkunft, sondern ein Zuhause zu vermitteln,
das ihnen Halt und bessere Lebenschancen gibt.
Wir brauchen gut ausgewählte und dann aber auch weiter beratene Pflegefamilien, die nicht nachher scheitern, zuvörderst solche gut beratenen Pflegefamilien, die endlich auch ein einheitliches Pflegegeld bekommen, und dann familienähnlich organisierte Heime, in denen Kinder nicht automatisch in Sonderschulen kommen. Heimkinder sind die teuersten, ihren Chancen nach aber die ärmsten Kinder. Heimkinder kosten mehrere tausend Mark im Monat. Wieviel Lebensglück und Lebenserfolg wird damit eigentlich erkauft?
Geld allein genügt nicht, und auch der beste Einsatz der hier Tätigen — das hebe ich ganz besonders hervor —, die sicherlich engagiert eine schwereArbeit tun, genügt nicht. Es kommt auf das richtige Konzept an. Der Staat hat, wenn er kraft seines Wächteramtes eingreift, positive Lebensbedingungen für ein gesundes Aufwachsen der Kinder zu schaffen. So hat es das Verfassungsgericht gesagt. So ist die Praxis aber leider noch nicht. Die Anordnung von Fürsorgeerziehung z. B. wird ganz im Gegenteil meist als Beginn einer kriminellen Karriere gewertet. Wie heißt das Wort? „Fürsorgeerziehung"!Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie schon dauernd Ihrer Sorge wegen zu vieler staatlicher Eingriffe in das Elternrecht Ausdruck geben, würden wir uns freuen, wenn Sie mit uns meinen, daß in den meisten dieser Fälle offene sozialpädagogische Arbeit genügt. Bisher hatten wir den Eindruck, daß Sie hier für mehr Eingriffe in das Elternrecht sind.Der zweite Problemkreis, den ich eingangs genannt habe, betrifft das Verhältnis Eltern—Kind, genauer gesagt die Rechte des Kindes. Im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, so sagte Herr Ministerpräsident Späth, können und müssen Spannungen vorrangig in der Familie selbst gelöst werden.
Das ist richtig und das unterschreiben wir.Von der Opposition wird dieser Satz aber so weit interpretiert, daß sich ein eigenes Antragsrecht des Kindes verbiete. Herr Späth ist zum wiederholten Male auf den Sohn oder die Tochter zu sprechen gekommen, die ihr Taschengeld zu niedrig, ihre abendliche Ausgangszeit zu kurz finden. Ich glaube, solche Beispiele verkürzen die ernste Sicht, die die Jugendhilfe verdient.Wenn Herr Späth sagt, er möchte nicht, daß sein Sohn wegen solcher Dinge zum Jugendamt läuft, damit dort zwischen Vater und Sohn vermittelt wird, so ist dies ein hübsch gebildeter Fall, der sicher die Zustimmung aller Eltern findet. Man muß dazu nur sagen, daß — mindestens seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 — jeder Jugendliche zum Vormundschaftsrichter oder auch zum Jugendamt gehen und solche Dinge vortragen darf.
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Bundesminister Frau HuberDer Vormundschaftsrichter muß dem nach dem Amtsermittlungsgrundsatz nachgehen, wenn er den Eindruck hat, daß es sich um eine ernste Sache handelt. Ist es eine Lappalie, wird er nichts veranlassen. Das ist überhaupt keine gesetzliche Neuerung.Daß auch Politiker, die über Jugendpolitik sprechen, wie z. B. jetzt auch Herr Späth, dies nicht wissen, zeigt allerdings, wie die Praxis funktioniert und auch bleiben wird.
Wenn ein Jugendlicher von zu Hause ausgerissen ist, scheint es allen selbstverständlich, daß sich der Staat darum kümmert und ihn dem sogenannten Personensorgeberechtigten, auch gegen seinen Willen, wieder zuführt.
Soll der Sozialarbeiter, der dies tut, mit ihm nun über das Wetter reden oder nicht vielleicht doch über die Gründe, weswegen er ausgerissen ist?Wenn ein Jugendlicher eine Straftat begangen hat, wird nach dem Elternrecht nicht gefragt. Der Jugendliche ist eben strafmündig. Muß er dann nicht auch Rechte haben, z. B. das Recht auf Beratung und Hilfe in Konfliktfällen, ehe er ausreißt, ehe er eine Straftat oder gar Selbstmord begeht?
Ein Jugendlicher, der ein Recht auf Beratung hat, hat und bekommt damit noch nicht recht in der Sache.
Ich fürchte, daß uns auch die künftigen Zahlen von Selbstmorden und Verirrungen zeigen werden, daß selbst bei schweren Konflikten eher zuwenig Jugendliche den Weg zur Beratungsstelle finden.Vielleicht war dies den Abgeordneten der CDU/ CSU-Fraktion dieses Hauses vor wenigen Jahren auch noch deutlich bewußt; denn da haben sie für den Ersten Teil des Sozialgesetzbuches gestimmt, und darin steht ein solches Antragsrecht.
Wird nun — und damit bin ich bei der Oppositionseinlassung Nummer drei — wirklich eine Superjugendbürokratie eingeführt? Bis zum Endausbau 1987 sind nach dem Regierungsentwurf ca. 14 000 Mitarbeiter erforderlich, die natürlich nach und nach und bei konkretem Bedarf bei Gemeinden und freien Trägern eingestellt werden sollen. Sie ergänzen die Arbeit der ca. 230 000 Mitarbeiter, die jetzt in der Jugendhilfe tätig sind. Sie ergänzen sie ausschließlich in den Leistungsbereichen offene Hilfen und Erziehungsberatung, in denen nur freiwillige Angebote gemacht werden. Es soll also keine neue große Jugendbürokratie geben und schon gar nicht ein staatliches Monopol.Inzwischen sind wir wohl — wie die geringen Abweichungen beim Vergleich der Kosten des Regierungsentwurfs und des Entwurfs von Baden-Württemberg und das schon genannte Beispiel Bayern zeigen — in unseren Ansichten nicht so weit auseinander, wie das zuerst schien.Was den Vorwurf des Perfektionismus angeht, so ist unser Text — berücksichtigt man die Einbeziehung des Adoptionsvermittlungsgesetzes — kaum länger als das alte Recht. Der hier eingebrachte Entwurf von Baden-Württemberg ist kürzer. Kürze als Qualitätsbegriff ist aber relativ. Der Entwurf Baden-Württembergs läßt das Adoptionsvermittlungsgesetz als eigenständiges Gesetz weiter gelten, was wir bedauern, und er enthält eine Reihe von Verweisungen und Generalklauseln, die das Gesetz nicht einfacher, nicht übersichtlicher, nicht einheitlicher werden lassen. Manche Formulierung, die wir in den langjährigen Diskussionen mit allen Beteiligten gefunden haben, basierte auf der Aussicht auf mehr Klarheit und einen größeren Konsens.Wir sind jedoch kompromißbereit. Den Bundesressorts liegen jetzt Straffungs- und Vereinfachungsvorschläge meines Hauses zur Abstimmung vor, die den Regierungsentwurf um ca. 30 Paragraphen kürzen könnten. Wir haben auch die Änderungsanträge des Bundesrates geprüft und werden dazu für die Ausschußberatungen Empfehlungen geben. Hier handelt es sich aber keineswegs um mehr Kürze.Die Straffungsvorschläge dürfen nach unserer Vorstellung keine globalen Vorschriften für die Eingriffsfälle nach § 1666 BGB enthalten. Generalklauseln gehören auch nicht ins Leistungsrecht, weil sie entweder die Leistungen unübersehbar ausweiten oder die Eltern durch Ermessenstatbestände zu Bittstellern machen.
— Im Leistungsbereich sind wir mit dem Bundesratsentwurf weitgehend einig.Auch die fachliche Qualität ist, besonders im Bereich der intensiven erzieherischen Hilfen, unverzichtbar. Hier darf nicht bürokratisch über das Schicksal z. B. eines schon schwer gestörten Kindes entschieden werden, das aus seiner Familie heraus muß und nun auf Gedeih und Verderb vom Jugendamt abhängt. Hier darf nicht bürokratisch entschieden werden! Es kommt, wie ich aus Briefen weiß, auch heute noch vor, daß Pflegeverhältnisse unter Außerachtlassung des sozialpädagogisch Gebotenen aus formalen Gründen abgebrochen werden. Eine Akte wird geschlossen, ein weinendes Kind verliert sein schon zweites Zuhause — Ausgang ungewiß. Wir sind ferner für klare Regelungen zur Vermeidung der jetzt noch zu beobachtenden Kostenstreitigkeiten.Bei den Organisations- und Planungsvorschriften des Regierungsentwurfs ließe sich auch über unsere jetzigen Vorschläge hinaus noch etwas kürzen. Aber es ist wichtig, daß in den Jugendhilfeausschüssen die freien Träger überall einen bestimmten Stimmenanteil haben. Und es ist eben nicht gleichgültig, ob die Aufsicht über Jugendhilfeeinrichtungen beim Regierungspräsidenten liegt oder beim Landesjugendamt, das eine bestimmte fachliche Kompetenz hat — mit
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Bundesminister Frau Hubereinem Landesjugendhilfeausschuß unter Beteiligung der freien Träger.Meine Damen und Herren, aus dem zuletzt Gesagten ersehen Sie, daß uns die Stellung der freien Träger — dies ist Punkt 4 — sehr wesentlich erscheint. Die freien Träger erbringen zwei Drittel aller Leistungen der Jugendhilfe, die im Gesamtdurchschnitt zu 80 °Io aus öffentlichen Mitteln und zu 20 % aus Eigenmitteln finanziert werden.
— Das können Sie nachlesen, Frau Karwatzki! —Wert und Unersetzlichkeit der Arbeit der freien Träger werden bereits im ersten Teil des Gesetzentwurfs ausdrücklich und unmißverständlich hervorgehoben.Bei den Regelungen des Jugendhilferechts über das Verhältnis zwischen öffentlichen und freien Trägern geht es überhaupt nicht, wie manchmal behauptet wird, darum, die Tätigkeit der freien Träger gesetzlich zu reglementieren oder gar einzuschränken. Es geht nur um die Frage, unter welchen Umständen und in welchem Umfang konkret die öffentlichen Träger verpflichtet sind; die freien Träger finanziell zu fördern und an der gemeinsamen Arbeit zu beteiligen. Diese Frage kann aber letztlich nur vor Ort entschieden werden, nämlich in den Kommunen, wo man in diesen Ausschüssen über die Planung berät.Deshalb nützen Vorschläge wenig, wie sie sich im baden-württembergischen Entwurf abzeichnen, nämlich ein allgemeines Subsidiaritätsprinzip — das im übrigen ja auch durch Verfassungsgerichtsurteil vom 18. Juli 1967 schon relativiert worden ist — zugunsten der freien Träger zu formulieren, die Vorschriften über die Funktion des Jugendhilfeausschusses, über die Arbeitsgemeinschaften, über den Landesjugendhilfeausschuß usw. aber zu streichen oder zu kürzen. Das wäre keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung der Stellung der freien Träger.Wir sind durchaus bereit, die Stellung der freien Träger noch über den Regierungsentwurf hinaus zu stärken. Allerdings geht dies nur zusammen mit den kommunalen Organisationen. Wichtig ist für uns, daß sich die Angebote in erster Linie nach den Wünschen der betroffenen Jugendlichen und ihrer Eltern richten, die ja auch die öffentlichen Träger einbeziehen, und erst danach nach den Wünschen der verschiedenen Träger, nach ihrer Planung, nach ihrer Finanzkraft. Das entspricht unserer Vorstellung vom Freiheitsraum der Betroffenen und auch von Hilfe zur Selbsthilfe,Ohne die freien Träger ist — das sage ich unumwunden — Jugendhilfe keinesfalls in der wünschenswerten Vielfalt zu leisten. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit soll jeweils derjenige leisten, der gefragt und dafür geeignet ist. Deshalb wollen auch wir den Funktionsschutz für die freien Träger der Jugendhilfe, und wir wollen ihn durch die Garantie der Eigenständigkeit freier Träger, durch die partnerschaftliche Zusammenarbeit bei Planung und Durchführung und durch die Sicherung der finanziellen Förderung der freien Träger absichern.Zum Schluß zur Frage nach der Reichweite der Bundeskompetenz: In der Jugendarbeit und der Kindergartenerziehung überläßt der Gesetzentwurf es den Ländern, diese Bereiche in ihren Kindergartengesetzen und Jugendbildungsgesetzen im einzelnen zu gestalten. Allerdings geht der Regierungsentwurf davon aus, daß allgemeine Angebote und Hilfen in Problemsituationen eng miteinander verzahnt sind, weil Jugendarbeit und Kindergartenerziehung auch eine besondere Bedeutung für benachteiligte junge Menschen haben. Ein Jugendhilferecht ohne Regelung dieser Bereiche wäre deshalb fachlich falsch konzipiert.Ein einziger Paragraph mit sieben Zeilen im baden-württembergischen Entwurf wird dem Thema „Jugendarbeit" sicher nicht gerecht.
Damit würde man sogar hinter das geltende Recht zurückfallen.
Eine Bundesregierung, die in ihrem Zuständigkeitsbereich durch den Bundesjugendplan eine umfassende, international anerkannte Jugendförderung betreibt, kann nicht hinnehmen, daß dieses wichtige Feld der Jugendhilfe auf einen bloßen Erinnerungsposten reduziert wird.
Ich denke, wir sollten, ohne jemandem Kompetenzen wegzunehmen, an der Einheit der Jugendhilfe festhalten und dies auch deutlich machen. Föderalismus als Macht- und Arbeitsteilung darf doch kein totales Grabensystem sein, sondern muß ein Verbund sein, der alle seine Möglichkeiten für erkannte gemeinsame Ziele mobilisiert. Wir wollen doch gemeinsam unseren Kindern, und das heißt auch unseren Familien, mehr Chancen geben. Sie leiden nicht wie noch in anderen Ländern Hunger. Aber sie hungern oft nach Rat, mitmenschlicher Hilfe und Geborgenheit. Sie leben in Gefahren und leiden an Irrwegen, die auch und manchmal gerade in einer Wohlstandsgesellschaft zu finden sind.Dies hier ist ein wichtiges Stück Jugend- und Familienpolitik zu leisten. Hier geht's um Reform und nicht, wie Frau Schleicher heute gemeint hat, um Retuschen. Es gibt ganz sicher kein Patentrezept, wie alle Menschen glücklich werden. Aber wenn 'es einen wirklichen Anspruch auf den viel zitierten Begriff „Priorität" gibt, auf den Vorrang jetzt dran zu sein mit seinen Problemen und Hilfe zu erhalten, so haben ihn unsere Kinder. Lassen wir sie nicht länger warten!In diesem Sinn bringt die Bundesregierung heute den Entwurf eines Jugendhilfegesetzes ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Minister Huber, da-
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Kroll-Schlüterfür danken, daß Sie den Entwurf eines Jungendhilfegesetzes dem Deutschen Bundestag vorgelegt haben.
Wir wissen, daß dies für Sie nicht sehr einfach war und daß es heftige Widerstände auch in Ihren eigenen Reihen gab, auch im Kabinett. Einige gut informierte Jugendzeitschriften sprachen sogar vom angedrohten Rücktritt.Wie auch immer er zustande gekommen ist — wir haben jetzt einen Entwurf vorliegen. Das ist anerkennenswert. In dieser Anerkennung habe ich den Dank gesagt — auch deshalb, weil wir jetzt geradezu ausführlich zu Gesicht bekommen haben, was SPD und FDP jugendpolitisch wirklich wollen:Aus dem jungen Menschen wird ein Patient. Auf die Familie allein kann man sich nicht mehr verlassen.
— Das können Sie z. B. in der Begründung nachlesen, Herr Eimer. In der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung steht z. B. unter 4.2, der Großteil der Eltern sei erziehungstüchtig, liebevoll etc. etc., und gerade deshalb, weil sie schon gut seien, seien sie für eine aktive Jugendhilfe geöffnet, und weil das so sei, müßten sie alle durch eine aktive Jugendhilfe berührt, begleitet und bearbeitet werden.
Seit 1970 arbeiten Kommissionen und Ministerien an einem Jugendhilfegesetz. In den einzelnen Phasen ist immer wieder versucht worden, einen Grundkonsens herbeizuführen. Die CDU/CSU hat in der Absicht, zur Findung dieses Grundkonsenses im Jugendhilfebereich beizutragen, ihre Stellungnahme immer wieder neu formuliert.Wir müssen leider feststellen, daß es der Bundesregierung nicht gelungen ist, diesen breiten Konsens zu finden. Der Beweis dafür liegt darin, daß schon im Bundesrat, und zwar nicht nur von den CDU/CSU-geführten Bundesländern, sondern von allen Bundesländern, mit großen Mehrheiten in den Ausschüssen über 200 Änderungsanträge zu einem Gesetz gestellt wurden, das gerade vorgelegt worden war. Wenn das notwendig ist, kann man nicht davon sprechen, daß a) ein breiter Grundkonsens gefunden worden ist und daß es b) ein sauberes, gutes, gut durchdachtes Gesetz ist.Weil die Bundesregierung einen so heftig umstrittenen wie problematischen Entwurf vorgelegt hat, der auch in den eigenen Reihen auf Kritik gestoßen ist, war es notwendig, daß die Union hier durch das Land Baden-Württemberg einen eigenen Entwurf formulierte. Dieser Entwurf ist so gestaltet, Frau Minister Huber, daß er sinnvolle Kompromisse ermöglicht. Er zeigt auch die Bereitschaft zur konstruktiven Mitarbeit.Wenn nun der Herr Kollege Kuhlwein heute in einer Presseerklärung mitteilt, hier sei die Tendenzdeutlich, daß wir überhaupt kein JHG in dieser Legislaturperiode wollten und auch nicht in der Lage seien, so etwas zu formulieren, dann muß ich sagen: wer sich so wie Sie, Herr Kuhlwein, über den Entwurf des Landes Baden-Württemberg ausläßt, der hat wohl die Fähigkeit zur konstruktiven Zusammenarbeit verloren. Ich muß auch Ihre eigenen Kollegen im Bundesrat in Schutz nehmen. Der Hamburger Senator Apel hat z. B. an mehreren Stellen ausdrücklich begrüßt, a) daß es diese Alternative gibt und b), daß man in vielen Teilen des Entwurfs mit dem Lande Baden-Württemberg tatsächlich übereinstimme.
So war es bei Herrn Kollegen Apel im Bundesrat. Im übrigen haben auch wir zu diesem baden-württembergischen Entwurf bestimmte Änderungswünsche formuliert. Ich glaube, daß wir uns mit dem Land Baden-Württemberg weitestgehend auch darauf verständigen können, daß die Bundeskompetenz im Bereich der Jugendarbeit in diesem Entwurf stärker ausgestaltet werden sollte.Seit Beginn der 70er Jahre gibt es die sogenannte emanzipatorische Sozialarbeit. Sie hat gefordert: im Mittelpunkt der Jugendhilfe muß die Sozialpädagogik stehen. Dieser Tendenz folgt der gleichzeitig entstandene Regierungsentwurf durch alle früheren Entwürfe und Wandlungen. Weitschweifig werden sozialpädagogische Methoden umschrieben, und es wird immer wieder auf diesen 'Zusammenhang hingewiesen. Bei den sozialpädagogischen Methoden vertraut die Bundesregierung vor allem auf gruppendynamische Konzepte. In diesen Kursen soll auf Grund des pädagogischen und therapeutischen Konzepts Hilfe durch intensive erzieherische Einwirkung geleistet werden, die geeignet ist, durch neue Erfahrungen im gruppendynamischen Prozeß Prägungseinflüsse im Bereich der Entwicklung und des reaktiven Verhaltens zu ändern.Das ist die Sprache des Gesetzes, Frau Minister Huber, nicht Ihre Sprache; das ist die Sprache der Begründung, nicht Ihre Sprache; das gebe ich zu. Deswegen ist es oft so zwiespältig, was Sie im Bereich der Jugendhilfe darstellen. Sie sagen nämlich: Wir wollen die Familie stärken, wir trauen ihr sehr viel zu etc. etc. Gleichzeitig aber ist das, was Sie vorlegen, darauf angelegt, die Familie durch möglichst viele außerfamiliäre, öffentliche, staatliche Einrichtungen zu ersetzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Fiebig?
Bitte schön.
Herr Kollege Schlüter, wenn Sie schon von der Sprache des Regierungsentwurfs und seiner Begründung reden, darf ich Ihnen dann ein sauberes Zitat entgegenhalten, um das zu widerlegen, was Sie eben gesagt haben:Wenn die Eltern über die Erziehungsziele zubestimmen haben, so muß dieses ihr Bestim-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11497
Fiebigmungsrecht die Jugendhilfe aktiv prägen. Jugendhilfe hat sich an den Interessen der Eltern und der jungen Menschen zu orientieren. Dies soll Jungendhilfe nicht in eine passive Rolle drängen. Da von der großen Mehrheit pflichtbewußter, sich aufopfernder, liebevoller und am Schicksal ihrer Kinder aktiv interessierten Eltern ausgegangen werden kann, die Ratschlägen für die Erziehung ihrer Kinder gegenüber offen ist, bedeutet dies, daß hier die aktive Hilfe und Unterstützung der Jugendhilfe wirksam werden kann.Herr Kroll-Schlüter, ist das nicht eine gute, verständliche Sprache?
Erstens. Als Mitglied des zuständigen Ausschusses, Herr Kollege Fiebig, sollten Sie nicht darauf angewiesen sein, lange Vorlesungen in Form einer Zwischenfrage zu halten. Zweitens. Wenn es so ist, wie Sie sagen, frage ich Sie, warum in 5.4 des Regierungsentwurfes ausdrücklich steht, daß im Bereich der Erziehungshilfe experimentiert werden müsse, um die Entwicklung im Bereich der Erziehungshilfe offen zu halten; dann frage ich Sie, weshalb im Entwurf ausdrücklich steht, daß 14jährige junge Menschen Anträge auf Förderleistung stellen können, ohne daß darüber die Eltern informiert zu werden brauchen. Wenn sie Vertrauen zu den Eltern haben, wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, wenn das Jugendamt auch die Pflicht hat, die Eltern über Fördermaßnahmen — Berufsfindungskurse, Gesundheitskurse, Sexualerziehung usw. — zu informieren. Das ist der wahre Tatbestand des Entwurfs, so wie er uns vorliegt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich möchte, Frau Präsidentin, jetzt im Zusammenhang vortragen.
Wir haben es also mit einem sozialpädagogischen Lehrbuch zu tun. Der falsche, ausschließlich auf Erziehungsziele hin orientierte Ansatz des Gesetzes wird dadurch kompliziert, daß es zugleich ein Gesetz mit einem breiten therapeutischen Service ist. Auch dort, wo im Gesetz Beratung steht, Herr Kollege Jaunich — vielleicht können wir uns darauf verständigen —, ist Therapie gemeint. Beratung ist gleichzeitig Therapie; denn in der Begründung sagt die Bundesregierung ausdrücklich — jetzt zitiere ich einmal wortwörtlich;
eben war es auch dem Sinne nach korrekt —:
Die therapeutische Betreuung ist mit der Beratung genannt worden, um deutlich zu machen, daß Beratung und Therapie nicht getrennt werden können.Auch Eltern, die sich beraten lassen, werden einer therapeutischen Betreuung oder Behandlung unterworfen. ist es denn wirklich sinnvoll, Herr Kollege Zander, so frage ich Sie — und so fragen nicht nur wir, sondern auch die Fachwelt —, ein solch breites staatliches therapeutisches System aufzubauen?Nach diesem Gesetz können alle Therapien beanspruchen, und zwar zum größten Teil kostenlos: alle jungen Menschen, alle Familienangehörigen, Jugendhelfer, alle, die bereits in diesem Bereich tätig sind. Ich finde, das ist ein absonderlicher Schritt in ein staatliches Gesundheitssystem.Wir haben es auch mit vielen unbestimmten Rechtsbegriffen zu tun.
- Besonders bei dieser Bundesregierung. — Wir haben es auch mit solchen Vorschriften zu tun, z. B. beim Antragsrecht,
mit denen man — wenn ich das so hart formulieren darf — die Jugendlichen geradezu fahrlässig aus dem Elternhaus treibt.
Fast jeder junge Mensch — das ist eine Zahl, die auch öffentlich mehrmals genannt worden ist; 60 °/o wurde hier gesagt — hat einmal in seinem Leben den Drang, sein Elternhaus zu verlassen. Die Frage, ist doch, ob man solche Tendenzen auf eine solche Art und Weise unterstützt, fördert, ja geradezu herausfordert.
Die entscheidende Frage, über die wir uns unterhalten müssen, ist, ob es nicht besser ist — auch für die Reifung des jungen Menschen —, wenn sie ihre Probleme dort lösen, wo sie eventuell entstanden sind, nämlich im Elternhaus.Die Regierung wie auch die Koalition werden mit lebhaften Worten bestreiten, daß sie einer solchen Entwicklung Vorschub leisten möchten. Ich will Ihnen, Frau Minister, das auch gar nicht so ohne weiteres unterstellen. Aber es muß gestattet sein — und das ist unsere Pflicht —,
den Entwurf kritisch zu prüfen, das zu nehmen, was dort wortwörtlich geschrieben steht und von daher auch Kritik und Alternativen zu formulieren.
Es steht ohne Frage fest, daß es ein perfektionistischer Entwurf ist. Es steht fest, daß er zu kompliziert ist. Es steht fest, daß er keine finanzielle Absicherung hat. Ein Beispiel für die Unausgereift-
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11498 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Kroll-Schlüterheit des Gesetzes findet sich in § 5, wo es in Abs. 1 heißt, daß Leistungen der Jugendhilfe ausschließlich die in diesem Gesetz geregelten Förderungsleistungen, Hilfen zur Erziehung und andere Leistungen sind, während es in Abs. 4 heißt, und zwar in völligem Widerspruch dazu, daß auch in diesem Gesetz nicht geregelte Leistungen erbracht werden können. Frage: Was will die Bundesregierung?Ich finde auch, daß der gesamte Entwurf einen besserwisserischen Zug an sich hat gegenüber den Eltern. Es ist die Rede von der partnerschaftlichen Zusammenarbeit, von der Berücksichtigung der freien Träger und des elterlichen Willens. Aber letztlich wird die Beachtung des elterlichen Willens davon abhängig gemacht, ob es nach Meinung des Staates dem Wohle des Kindes entspricht und ob das Ganze finanzierbar ist.
Erstes Beispiel, Herr Kuhlwein: Jugendliche, d. h. 14-, 15-, 16jährige, haben ein selbständiges Antragsrecht auf Leistung der Jugendhilfe nach § 7 des Entwurfs. Der Jugendliche kann hiermit aus einer augenblicklich spontanen Regung heraus einen großen bürokratischen Prozeß auslösen und somit auch eine Gefährdung des innerfamiliären Friedens provozieren, obwohl er selbst diese Folgen gar nicht beabsichtigt hat. Er beantragt formlos, das Jugendamt muß sich damit auseinandersetzen, 'es muß bescheiden, es muß also regelrecht diesen Konflikt in das Elternhaus hineintragen.
Ich glaube nicht, daß Sie diese Ihre Haltung so, wie es hier formuliert ist, durchhalten werden. Wir sollten uns darauf verständigen, daß wir dem Elternhaus mehr zutrauen, auch den Jugendlichen mehr zutrauen. Auch die Berufsfindungskurse müssen Sie im Zusammenhang mit dem elterlichen Sorgerecht sehen. Also: mehr Vertrauen den Eltern gegenüber und etwas weniger staatliche Kompetenz in all diesen Bereichen wäre besser. Das würde, glaube ich, insgesamt diesem Staat sehr gut tun.
Nur wenn ein § 1 eines Jugendhilfegesetzes klarstellt, daß das Recht auf Erziehung in der Erziehungspflicht der Eltern verankert ist und der Staat beschränkt wird auf ein Wächteramt, kann die Union der grundlegenden Ausrichtung des Gesetzes zustimmen.Wir trauen im Gegensatz zu Ihnen, Herr Fiebig, der Familie, den freien Trägern und den jungen Menschen sehr viel zu.
Wir wissen — und es wird viel beklagt —, daß der Staat zu bürokratisch ist, daß er die Bürger zu oft bevormundet.
Es wäre richtig, er würde bescheidener, damit die Bürger ihm wieder mehr vertrauen. Nicht in der ständigen Betreuung und Bevormundung liegt die Zukunft der Jugend, sondern in ihrer Herausforderung!
Deswegen wollen wir den Vorrang der Erziehung in der Familie und die Sicherung ihrer Erziehungsmöglichkeiten. Wir wollen den Vorrang der freien Träger, wir wollen Subsidiarität. Wir wollen die jungen Menschen nicht bevormunden, sondern ihnen Gestaltungsmöglichkeiten geben. Wir wollen nicht, daß die Reform der Jugendhilfe an der Finanzierung scheitert. Es ist unser Ziel, daß noch in dieser Legislaturperiode ein leistungsfähiges Jugendhilfegesetz verabschiedet wird.Mit unserer Alternative wie mit unserer Kritik möchten wir zeigen — im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kuhlwein —, daß wir zur konstruktiven Mitarbeit auch im Sinne der jungen Generation und der Familie, der wir mehr zutrauen als Sie, bereit sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Hauck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird fast schon Tradition, daß wichtige jugendpolitische Debatten in diesem Hause zwischen Tagesschau und Mitternacht stattfinden.
Trotzdem ist die Tatsache, daß wir heute nach fast60 Jahren erstmalig den Entwurf eines neuen Jugendhilferechts beraten, ein bedeutsames Ereignis.
Ich will diese erste Lesung nutzen, um diesen wichtigen und bedeutsamen Bereich Jugendhilfe einmal in einen gesellschaftlichen und historischen Bezug zu setzen. Vielleicht hilft das uns bei den nun beginnenden Ausschußberatungen, sachlicher miteinander umzugehen.
Das 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtgesetz soll durch dieses Gesetz abgelöst werden. Der katholische Theologe und Jurist Dr. Karl Neundörfer, Mainz, wertete damals die fast einstimmige Verabschiedung des Jugendwohlfahrtgesetzes, welches er. als ein grundsätzlich und praktisch hochbedeutsames Kulturgesetz bezeichnete, als ein seltenes Schauspiel im Deutschen Reichstag. Nach Dr. Neundörfer wurde vom Reichstag in scharfer und harter Auseinandersetzung, zugleich aber auch in sachlicher und persönlicher Zusammenarbeit ein Werk geschaffen, das dem Aufbau diente wie wenig andere zuvor. So Dr. Neundörfer.Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11499HauckDies ist eine Einschätzung, die ich teile, und gleichzeitig auch eine Würdigung dieses Reichsjugendwohlfahrtgesetzes, das bereits damals von allen politischen Kräften nicht nur als ein Fürsorgegesetz verstanden wurde, sondern als ein Jugendförderungs- und -bildungsgesetz konzipiert war.
Daß dann die Förderungs- und Bildungsinhalte noch vor dem Inkrafttreten am 1. 4. 1924 aus finanziellen Gründen durch Notverordnung eingeschränkt wurden, erwähne ich nur deshalb, weil dieser Alptraum des Kosten- und Finanzdruckes von der Jugendhilfe seit 1924 bis 1979 nicht mehr gewichen ist, wie ich vermute, auch nicht so schnell weichen wird. Das ist eine Tatsache, die man leider feststellen muß!Gestatten Sie, daß ich noch einmal zum RJWG zurückkomme. Ich verhehle nicht, daß mich die Lektüre dieser Reichstagsdebatte tief beeindruckt hat. In vielen Passagen erinnert sie an unsere heutigen Auseinandersetzungen, nur wurde damals sachlicher, realitätsbezogener diskutiert. Obwohl die weltanschaulichen Klüfte oft größer waren als heute, wurde das Bemühen des anderen anerkannt. Es wurde um die Verbesserung der Jugendsituation echt gerungen. Die Familien und die Jugendlichen mit ihren Problemen und Nöten standen im Mittelpunkt der Diskussion, und nicht so sehr der Versuch, aus ihrer Lage innenpolitisches Kapital zu schlagen.
Es fehlten die oft verletzenden Unterstellungen, denen meine politischen Freunde heute oftmals ausgesetzt sind. Herr Kollege Kroll-Schlüter, was Sie heute gesagt haben, war wirklich erfreulich, aber was Sie draußen sagen, ist manchmal deprimierend, und auch was andere sagen, ist deprimierend.
Um die weltanschaulich-religiösen Positionen wurde hart gerungen, aber man hat die Realitäten anerkannt. So konnte der schon genannte Dr. Neundörfer in seiner kritischen Würdigung des RJWG, auf die 20er Jahre bezogen — hören Sie einmal genau zu —, eingestehen, daß das Familienleben tatsächlich in so weitem Umfange aufgelöst ist, daß man der Familie nicht allein, auch nicht in dem Umfange wie früher, die Sorge um das heranwachsende Geschlecht überlassen könne. Schon damals wurde diese Familienproblematik angesprochen.Dr. Neundörfer weist dann auf die damals ungenügenden Einrichtungen der Caritas und der Wohlfahrtsverbände hin und anerkennt die Verpflichtung der Gemeinden, für alle Bürger zu sorgen und Rücksicht auf die verschiedenen religiösen Bekenntnisse und Weltanschauungen zu nehmen. Er sagt, daß dies zu einer gewissen Verstaatlichung oder Kommunalisierung führen könne, sei nicht auszuschließen und halte er für unvermeidlich. — Wir wollen das heute gar nicht so, aber die Tendenz war doch damals schon vorhanden.Es folgt der Hinweis, daß dadurch die eigene religiöse Grundsatzfestigkeit in keiner Weise beeinträchtigt wird. An anderer Stelle folgt die Feststellung, daß die Caritas sich im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz eine gesetzliche Anerkennung und einen gesetzlichen Einfluß erobert hat wie noch in keinem anderen Gesetz zuvor. So ist es dann bei den freien Verbänden bis heute geblieben. Wir erkennen diese Position der freien Verbände ausdrücklich an. Ich komme darauf noch einmal bei der Subsidiarität zurück.Die anerkennenden Worte des katholischen Theologen über die sachliche Auseinandersetzung und Fairneß der sozialdemokratischen Seite erspare ich mir. Ich wünsche nur, daß bei diesem Gesetzgebungswerk 1979/80 von dieser Einstellung von seiten der Opposition wieder etwas mehr spürbar wird, wie heute schon der Anfang gemacht wurde.
Ich will diesen historischen Rückblick mit einem Hinweis an meine politischen Freunde abschließen. Die Sozialdemokraten, die 1922 an der Verabschiedung des RJWG mitwirkten, haben sich große Verdienste um die Jugendförderung in unserem Lande erworben. Ich wünschte mir, daß in unserer Partei und unserer Fraktion das Engagement, welches Kurt Löwenstein und Maria Juchartz, die in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre, auszeichnete, gerade bei diesem Gesetz auch bei uns wieder spürbar wird und daß wir durchstehen, eine vernünftige Regelung zu erreichen.
Die Frage, vor der wir heute stehen, lautet für mich schlicht und einfach, ob es dem Gesetzgeber 1979 gelingen wird, in der Jugendförderung eine vergleichbar ähnlich große Leistung zu vollbringen wie unsere Kollegen vor 60 Jahren.In meiner Fraktion habe ich zum Ausdruck gebracht, daß für mich, der ich seit über 20 Jahren beruflich und parlamentarisch für eine Fortentwicklung der Jugendförderung eintrete, der heutige Tag ein stolzer Augenblick sein müßte. Ob er es sein wird, wird erst dann sichtbar, wenn dieses Gesetz im Bundesgesetzblatt ausgedruckt ist. Das möchte ich hier einschränkend sagen.
Schon 1959 erwartete ich eine Neukonzeption der Jugendhilfe, die von der Regierung nach einer Entschließung des Bundesjugendkuratoriums auch zugesagt war. Freie Verbände, vor allem der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, und geachtete Persönlichkeiten, Bamberger, von Mann, unterbreiteten Vorschläge. Die Regierung hatte einen Entwurf erarbeitet. Jeder wartete auf diesen Entwurf. Aber sie entschloß sich dann doch am 14. November 1960, dem Bundestag nur einen Novellierungsentwurf zuzuleiten. Er wurde mit der absoluten CDU/CSU-Mehrheit verabschiedet, obwohl die Mehrheit der freien Träger, die kommunalen Spitzenverbände und die Fachöffentlichkeit schon damals eine Neuordnung wollten.
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11500 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
HauckIch habe 1959 auf einer Tagung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge erklärt: wenn wir 1960/61 den Durchbruch nicht schaffen, wird es 15 bis 20 Jahre dauern, bis wir zu einer umfassenden Jugendhilferechtsreform kommen. Leider ist meine Vorhersage eingetroffen. Darunter hat natürlich auch meine Begeisterung etwas gelitten. Denn ob es uns wirklich gelingt, mit diesem Gesetz für die Jugend- und Familienförderung eine breitere, verbesserte und wirksamere Grundlage zu schaffen, hängt entscheidend von einem konstruktiven Verhalten der Opposition im Deutschen Bundestag und der Mehrheit im Bundesrat ab.
Das wollen wir ganz offen zugeben.
Dieser. Gesetzentwurf ist doch schon ein Kompromiß zwischen den vielfältigen Vorstellungen, die im Verlauf der achtjährigen Diskussion vorgetragen wurden. Wenn Herr Kroll-Schlüter stolz verkündet, der Entwurf wird von allen Seiten kritisiert, dann mag dies stimmen. Er muß dann aber auch die Gründe sagen, warum dies so ist. Diese Gründe sind, weil er dem einen zu weit geht und dem anderen nicht weit genug ist, weil er für viele angeblich nur ein Familienförderungsgesetz
ist und für die andere Gruppe angeblich die Verstaatlichung der Familien- und Jugendarbeit einleitet. Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn es, wie auf dem Jugendhilfetag in Köln geschehen, extremen Chaoten gelingt, Ordensschwestern, Diakonissen, Sozialarbeiter, Jugendamtsangestellte und kritische Jugendgruppenleiter zu einer gemeinsamen Verurteilung und Ablehnung dieses Entwurfs zu bringen, dann muß doch schon in der Vorbereitung, in der Klimamachung, in der Stirnmungsmachung etwas falsch gelaufen sein. Deshalb müssen wir in diesem Hause im Interesse der jungen Generation wieder zur Sachlichkeit zurückfinden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Kroll-Schlüter?
Wollten Sie damit sagen, daß die Teilnehmer des Jugendhilfetages in Köln durch die Stellungnahme der Opposition in irgendeiner Weise beeinflußt waren?
Das habe ich nicht gesagt.
Ich sage, wenn es Chaoten gelingt, das und das zu erreichen, dann ist das bedenklich. Wie wir agiert haben, ist eine andere Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Entschuldigung, Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Kroll-Schlüter?
Herr Kollege Hauck, ist es aus Ihrer Sicht auch bedenklich, wenn Ihre
Freunde aus den Bundesländern mit dazu beitragen, daß 200 Änderungsanträge zu diesem Entwurf formuliert werden?
Darauf komme ich noch einmal zurück. Lassen Sie mich bitte weiter fortfahren.Herr Kroll-Schlüter, Sie wissen aber doch, daß diese Vorlage auf den Diskussionsentwurf, den eine unabhängige Sachverständigenkommission erarbeitet hat, zurückgeht und daß die Erfahrungen der Praxis, die z. B. im 3. Jugendbericht ablesbar sind, einbezogen worden sind. Viele Eingaben, Stellungnahmen und Vorschläge wurden berücksichtigt. Sowohl in bezug auf Art. 6 als auch in bezug auf Art. 74 des Grundgesetzes ist diese Vorlage verfassungskonform. Daß wir ein modernes Jugendhilferecht brauchen, weil die Praxis schon längst aus den Grenzen der klassischen Jugendfürsorge, Jugendpflege und Jugendsozialarbeit herausgewachsen ist, wurde von der Opposition bis vor wenigen Monaten nicht bestritten. Ich freue mich, daß Sie heute wieder zugeben, daß wir eine solche Regelung brauchen.
Dieser Entwurf ist eine diskutable Grundlage, obwohl er, wie ich vorhin schon erwähnt habe, in sich einen Kompromiß darstellt. Er soll durch eine Verbesserung der Förderungsangebote und der Hilfen zur Erziehung und zur Verwirklichung des Rechtes junger Menschen beitragen, die Stärkung der Erziehungskraft der Familie einleiten, die Beseitigung oder Verminderung sozialer Benachteiligungen und eine Verbesserung der sozialen Teilhabe erreichen.Wir wollen die Verbesserung der Förderungsangebote der Jugend- und Familienarbeit, die Verbesserung des Angebots an offenen pädagogischen und therapeutischen Stellen, auch um eine Unterbringung außerhalb der eigenen Familie möglichst vermeiden zu helfen. Die stationären Kosten in der Jugendhilfe betragen zum Teil 80 Prozent; wenn man sie herunterdividiert, sind es 60 Prozent bei 5,2 Milliarden DM, die für Jugendhilfe aufgewandt werden. Wir wollen den Ausbau der ambulanten sozialen Dienste und der Erziehungsberatung und die gleichrangige partnerschaftliche Zusammenarbeit der freien und öffentlichen Träger.Meine sehr verehrten Damen und Herren, obwohl auch der Bundesrat anerkennt, daß das geltende Jugendwohlfahrtsgesetz den Gegebenheiten nicht mehr voll gerecht wird, hat er den Regierungsentwurf am 21. Dezember 1978 zurückgewiesen und die Regierung aufgefordert, eine neue grundlegend vereinfachte Fassung vorzulegen. Die folgenden Gründe wurden angeführt; ich will sie kurz kommentieren.Zunächst wurde der Perfektionismus des Entwurfs bemängelt. Darüber kann man reden. Aber alle müssen sich um Vereinfachung kümmern. Herr Stark, die Vorlage des Rechtsausschusses zum Unterhaltsvorschußkassengesetz war kein Beitrag zur Vereinfachung in dem Bereich der Jugendhilfe oder des Unterhaltsrechts.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11501
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stark?
Ja.
Herr Kollege Hauck, darf ich Sie darauf hinweisen — soweit Sie das kritisieren —, daß diese Vorlage vor allem mit Anträgen Ihrer Kollegen von der SPD und der FDP kompliziert wurde?
Sie haben einstimmig zugestimmt.
Ich habe gesagt: Alle müssen einen Beitrag leisten. Ich will das nur als Beispiel dafür bringen, daß alle daran mitarbeiten müssen.
— Ich appelliere doch an alle, an Kommunen, Länder, Bundesratsausschüsse, Justizministerien und alle unterschiedlichen Ordnungen in unserem Staat, die doch mit an der Perfektion teilhaben.Meines Erachtens ist aber dem Anliegen nach Vereinfachung nicht damit gedient, daß man Generalklauseln mit dem Hintergedanken fordert, den Gesetzgeber zu umgehen und anderen Instanzen und Bürokratien völlig freie Hand in der Handhabung und Auslegung des Gesetzes zu lassen. Das ist auch nicht der Sinn. Das hat auch der Deutsche Städtetag so ausgedrückt.Dann kam die Forderung nach Kostenausgleich, ein verständliches Anliegen, wie ich hier ganz offen sagen muß, das aber auf einer anderen Ebene geklärt werden muß. Erfreulich ist, daß über die Höhe der Kosten nicht mehr gestritten wird, da ja auch der Entwurf des Landes Baden-Württemberg zu einem ähnlichen Finanzbedarf kommt.Dann kommt der Hinweis auf die beschränkte Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Jugendarbeit und das Kindergartenwesen. Wir sind der Meinung, daß Jugendarbeit und Kindergarten in den Bereich der Jugendhilfe gehören und daß dies auch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1967 bestätigt wurde.
Ich komme darauf noch einmal zurück, wenn ich über die Einheit der Jugendhilfe spreche.Dann kommt der wichtige Einwand der Gefährdung des Erziehungsvorrangs der Eltern durch dieses Gesetz.
Darüber müssen wir reden. Aber ich muß Ihnen ganz offen sagen: Die Unterstellungen, die von Oppositionspolitikern oft wider besseres Wissen bis zum Extrem gesteigert werden, erregen mich innerlich, weil ich mir sage: Die müßten doch wissen, daß das nicht so ist, wie sie es darstellen.
Sie wissen doch ganz genau, daß alle Hilfen und Förderungsangebote auf dem Freiwilligkeitsgrundsatz beruhen. Weil Familien, wie schon 1922 so auch heute, aus unterschiedlichen Gründen mit Erziehungsproblemen nicht fertig werden, sollen ihnen Angebote unterbreitet werden, z. B. Erziehungsberatungsstellen, die es heute leider noch zu wenig gibt.Was ist es eigentlich für ein Unsinn, wenn der bayerische Ministerpräsident in der CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß mit dem Gesetz 1 200. Jugendsozialstationen — gemeint sind Erziehungsberatungsstellen — mit 12 000 Helfern geschaffen werden. Dies ist dann nach Franz Josef Strauß auch der permanente Eingriff auch in die intakte Familie. Die Union müßte, nach Strauß, ja den Verstand verloren haben, wenn sie die Schaffung ganzer Armeen von Sozialarbeitern, die ein ganz anderes Gesellschaftsbild als die Union haben, zuließe.
Dies sagt der Ministerpräsident, der in seinem Jugendprogramm der bayerischen Staatsregierung für jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt eine räumlich und personell bedarfsgerecht ausgestattete Erziehungsberatungsstelle fordert, wobei als Endziel in dem Landkreis eine Richtzahl von 50 000 Einwohnern je Stelle und bei den Städten von 40 000 Einwohnern je Stelle gelten soll.
Die Richtlinien der UNESCO sind so, wie auch wir es wollen.Für mich wird diese Unaufrichtigkeit aber noch bedrückender, wenn der von mir auch heute wieder besonders geschätzte Kollege Kroll-Schlüter im „Bundestags-Report", einem Presseorgan des Bundestages, schreibt — ich zitiere wörtlich —:Wenn dieses jetzt vorgelegte fast totale Erziehungsgesetz umfassend angewandt wird, dann sind wir nicht mehr weit entfernt vom totalen Erziehungsstaat.
Herr Kroll-Schlüter, Sie wissen nicht, wie grausam oder wie menschenverachtend ein totaler Erziehungsstaat sein kann. Sie wissen aber, daß unsere Grundordnung eine solche Entwicklung gar nicht zuläßt. Sie wissen, daß dieses Gesetz von den Ländern ausgeführt wird, daß sich seine praktische Umsetzung in den Gemeinden, Städten und Landkreisen vollzieht. Sie wissen als Bürgermeister, daß diese Gemeinden demokratisch kontrolliert und verwaltet werden, und trotzdem setzen Sie das in die
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11502 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
HauckWelt, weil es der Verunsicherung und der Panikmache dient. Schon allein diese Unterstellung empfinden wir Sozialdemokraten als eine Beleidigung unseres sozialen, demokratischen, freiheitlichen Engagements für unser Land. .
Mit seinem letzten Einwand fordert der Bundesrat die Beibehaltung des Subsidiaritätsprinzips im Verhältnis zwischen den freien und öffentlichen Trägern. Ich komme bei meiner Schlußbetrachtung auf diese Problematik zurück.Dies waren die Haupteinwände des Bundesrates, und ich gestehe zu, daß man über jeden Punkt diskutieren kann. Warum sollte man es aber gleich zurückweisen? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dies eher ein Akt der Notwehr war, weil man durch die 250 Änderungsanträge, die sich zum Teil widersprechen, Herr Kroll-Schlüter, oder bei Annahme zu noch perfekteren Regelungen führen, einfach nicht fertig geworden ist. Da die Opposition mit einer Ablehnung immer schnell dabei ist, erklärten Sie dann auch sofort, Herr Kroll-Schlüter, daß der vorliegende Entwurf keiner öffentlichen Anhörung von Sachverständigen und keiner parlamentarischen Beratung standhalten werde. Heute haben Sie etwas anderes gesagt; so stand es aber in der Zeitung. Wir werden die weitere Entwicklung sehen. Für den Städtetag, für viele Verbände und Vereinigungen, für den Deutschen Bundesjugendring und die Landesjugendbehörden stellt dieser Entwurf eine Diskussionsgrundlage dar. Mit den Vorstellungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge steht der Entwurf weitgehend im Einklang, und auch im Entwurf des Landes Baden-Württemberg sind im Leistungsbereich viele Übereinstimmungen feststellbar. Was sollen also die Paukenschläge vor Eintritt in die parlamentarischen Beratungen?Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchte ich aber erklären, daß für uns zwei umstrittene Punkte von entscheidender Bedeutung sind. Ich meine die Erhaltung der Einheit der Jugendhilfe und das partnerschaftliche Zusammenwirken der freien und der öffentlichen Träger.
Der große Vorteil des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1922 war es gerade, daß es sich nicht nur auf Maßnahmen für gefährdete und verwahrloste Kinder und Jugendliche beschränkte, sondern Jugendfürsorge mit dem politisch-pädagogischen Auftrag zur allgemeinen Förderung der Persönlichkeitsentwicklung verband. Wie heißt es doch noch heute so schön im JWG : „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung." Bei der ersten Novellierung 1953 hat man diese Einheit einvernehmlich bejaht und den sogenannten Jugendpflegeparagraphen 4 wieder zur Pflichtaufgabe gemacht.Vor 30 Jahren hat sich die Arbeitsgemeinschaft für Jugendfürsorge und Jugendpflege in Rothenburg ob der Tauber gegründet. Damals haben in Rothenburg der Herr Oberregierungsrat und Leiter des Landesjugendamtes Oberbayern Franz Josef Strauß, der ehemalige Kollege Rommerskirchen und viele andere namhafte Persönlichkeiten durch diese Gründung ein Bekenntnis zur Einheit der Jugendhilfe abgelegt. Für den Deutschen Bundesjugendring, für die Katholische Jugend und viele andere ist diese Position unverzichtbar. Es bestehen ja keine Verfassungshemmnisse, denn 1967 hat das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 18. 7. ausdrücklich festgestellt, daß Jugendfürsorge und Jugendpflege in der praktischen Jugendarbeit so eng miteinander verzahnt sind, daß Jugendpflege schon allein unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhanges mit unter den Begriff „öffentliche Fürsorge" im Art. 74 Nr. 7 Grundgesetz fallen muß. Aber Bayern und Baden-Württemberg sind da anderer Meinung. Ich sage Ihnen ganz freimütig: Wenn der § 12 des baden-württembergischen Entwurfes Gesetz wird, gibt es keine Einheit der Jugendhilfe mehr in diesem Lande.
Dies werden wir nicht zulassen! Wir schätzen die verdienstvolle Arbeit von Jugend- und Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen und von anderen Trägern und werden ihren Aufgabenbereich in einem Bundesgesetz klarlegen und es nicht den Ländergesetzen überlassen. .
Im Zusammenwirken zwischen den freien und den öffentlichen Trägern wollen CDU und CSU den Vorrang der freien Träger noch verstärken, während die Koalition die gleichrangige partnerschaftliche Zusammenarbeit vorsieht.Über das Subsidiaritätsprinzip wird bei uns seit 1922 erregt diskutiert und gestritten. Meines Erachtens legt die CDU die Subsidiarität falsch aus. Sie ist nicht das, was Sie meinen. Sie wurde auch 1922 nicht in das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz geschrieben. Die sehr verehrte Frau Kollegin Dr. Elisabeth Lüders, die 1922 Berichterstatterin im Reichstag war, hat dies 1953 und 1960 in diesem Haus verschiedentlich ganz klar dargelegt und hat da auch keinen Widerspruch gefunden. Es würde jetzt zu weit führen, Ihnen die Unterschiede zwischen individueller und institutioneller Subsidiarität zu erläutern oder vorzutragen, was führende Vertreter der katholischen Soziallehre wie Franz Klüber oder Oswald von Nell-Breuning dazu ausführen. Unser partnerschaftliches Prinzip hat sich aus der Erkenntnis entwickelt, daß die wachsenden Probleme und die steigenden Kosten im Bereich der Jugendhilfe geradezu erfordern, daß die Aufgaben arbeitsteilig geleistet werden. Ein staatliches oder kommunales Monopol würde ebenso den freiheitlichen Charakter unserer Gesellschaft beeinträchtigen wie ein kirchliches oder ein Organisationsmonopol.
Zur Freiheit des Bürgers muß es gehören, bei so persönlichen individuellen Hilfen, wie sie im Jugendhilfebereich vorhanden sind, zwischen einer Vielfalt von Hilfsangeboten wählen zu können.
Deshalb sind wir für Partnerschaft und gestehen zu, daß wir über Ausformulierungen oder eventuell notwendige Klarstellungen reden können.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11503
HauckMeine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten werden in die parlamentarischen Beratungen unsere Vorstellungen mit einbringen und um bessere Lösungen mit Ihnen ringen. Ich danke für das Angebot und gebe es zurück. Dabei geht es uns um die Verlagerung der Schwerpunkte von der Fürsorge in den Erziehungs- und Bildungsbereich, soweit es das Grundgesetz zuläßt, die allgemeine Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen und die Ausweitung ihrer Mitwirkungs- und Mitspracherechte, Begründung und Konkretisierung von Rechtsansprüchen auf angemessene individuelle Erziehungshilfen, Ausgestaltung der Jugendhilfe zu einem wichtigen Erziehungsbereich neben Elternhaus, Schule und Beruf, gleichberechtigte Stellung der freien Jugendarbeit und ihre Absicherung und Qualifizierung, Erhaltung der Einheit der Jugendhilfe, partnerschaftliches Zusammenwirken zwischen öffentlichen und freien Trägern.Diese Grundpositionen sind bei uns, meine Damen und Herren, seit der Diskussion um das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz nahezu unverändert. Wir werden versuchen, diese Tradition fortzusetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Freien Demokraten begrüßen den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes, das an die Stelle des im Kern über 50 Jahre alten Jugendwohlfahrtsgesetzes treten soll. Dieses Wohlfahrtsgesetz ist im Grunde ein von der Behörde her konzipiertes Fürsorgegesetz für gefährdete Jugendliche geblieben. Was wir mit dem Entwurf wollen, ist ein modernes Leistungsgesetz für alle Jugendlichen und zugleich ein liberales, von dem Jugendlichen und seinen Eltern ausgehendes Jugendhilferecht. Ich gebe aber zu, daß uns an diesem Gesetzentwurf eines nicht gefällt, und das ist im Titel zu sehen. Uns wäre es lieber gewesen, wenn es beim alten Titel „Jugendhilfegesetz" geblieben wäre und der Inhalt nicht in das Sozialgesetzbuch eingegliedert würde. Wir halten die Einbeziehung der Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch für problematisch. Jugendhilfe ist zu gewichtig. Es muß ein eigenes Gesetz werden.
Es paßt zudem mit den angesprochenen Erziehungs- und Bildungszielen schwer in den Zusammenhang vorwiegend sozialer Geldleistungsgesetze. Das Bundeskabinett hat diesbezüglich auch Vorbehalte gemacht. Die Frage der Einbindung ist noch nicht entschieden. Uns gefällt die vorgesehene Lösung nicht.Als besonders erfreulich empfinden wir es dagegen, daß auch der Bundesrat das geltende Jugendwohlfahrtsgesetz als nicht mehr zeitgemäß betrachtet und eine Neuregelung des Jugendhilferechts noch bis 1980 für erforderlich hält. Ich glaube, eine solche gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeitdieser Reform ist eine gute Basis für eine Einigung in dieser Sache und auch über die vom Bundesrat kritisierten Punkte: der Entwurf sei zu ausführlich, zu wenig verständlich und weise dem Staat eine zu starke Rolle zu.Die Opposition hat zwar trotz Ankündigung bisher keinen Entwurf vorgelegt; jedoch kann der von Baden-Württemberg im Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf zur Verbesserung der Jugendhilfe als Gegenentwurf zum Regierungsvorschlag gelten. Er ist in der Tat kürzer, aber nur auf Grund radikaler Beschneidungen zahlreicher Leistungsangebote. Weder die Jugendlichen noch die Jugendhilfeträger wissen demnach, woran die mit Rechten und Pflichten sind. Allzuviel wird das in das Ermessen der auszuführenden Länder und Kommunen gestellt. Ich frage mich, ob das der Sinn dieser Reform sein kann. Ist es denn sinnvoll, dient es der Klarheit, der Lesbarkeit, wenn zum Thema „Jugendarbeit" zehn Paragraphen zu einem verkürzt werden, der dann auf Ländergesetze verweist? Eine Verlagerung also, eine Ausklammerung, eine Verweisung auf zehn andere, auf Ländergesetze. Das ist aber nur ein Gliederungstrick, keine Verbesserung, und dient nicht der Klarheit und Lesbarkeit.Gleiches gilt für das Weglassen der Adoptionsvermittlung im Entwurf von Baden-Württemberg. Meine Kritik am Weglassen wichtiger Elemente dieses Entwurfes soll aber nicht bedeuten, daß wir in den Beratungen darauf verzichten werden, wo immer es möglich ist, zu knappen und zu deutlichen Formulierungen zu kommen. Wenn es um Straffung geht, haben Sie von der Opposition in uns Verbündete. Aber es darf nicht zu Kürzungen und Auslassungen kommen.Im Bundesrat wurde mit Pathos die angeblich schwer verständliche Sprache des Regierungsentwurfs kritisiert. Der Entwurf, der soeben im Bundesrat eingebracht wurde, liest sich genauso, ebenso nüchtern juristisch wie mehr oder weniger jedes andere Gesetz auch. Wenn die Opposition im Verlaufe der Beratungen Vorschläge unterbreitet, die eine bessere Sprache bringen, werden wir ihnen gern zustimmen.In Stellungnahmen von Opposition und Bundesrat wird immer wieder die enge Verknüpfung von zwei Gesetzen hergestellt, nämlich dem Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge und dem Jugendhilfegesetz. Wir verkennen den Zusammenhang dieser Gesetze nicht. Wir gestehen Ihnen zu, daß eine Beurteilung des Jugendhilfegesetzes erst möglich ist, wenn die Regelung der elterlichen Sorge vorliegt. Das gilt vor allem für den entscheidenden § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches.Unsere Vorstellungen liegen jetzt vor. Jetzt ist die Zeit reif für Beratungen der Jugendhilfe und für die Verabschiedung des Gesetzes zur Neuregelung der elterlichen Sorge.Das Jugendhilfegesetz hängt zwar vom Recht der elterlichen Sorge ab, aber nicht umgekehrt das Recht der elterlichen Sorge von ihm. Wir halten die Reihenfolge in der Behandlung der Gesetze, wie sie sachlich geboten ist, ein. Eine gemeinsame Verab-
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Eimer
schiedung, wie sie z. B. von Herrn Späth im Bundesrat gefordert wurde, lehnen wir ab. Eine solche gemeinsame Verabschiedung dieser beiden Gesetze würde eine Verschiebung um mindestens ein Jahr bedeuten.
Diese Verschiebung ist unserer Meinung nach sachlich nicht zu begründen.Bleibt also ein Punkt, an dem sich die Kritik der Opposition festbeißen kann. Das ist der § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Ich glaube, es lohnt sich, die vorliegenden Formulierungen zu vergleichen. Sie sind — o Wunder — fast identisch. Es gibt einige kleine Unterschiede. Auf die will ich zu sprechen kommen.In der von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Formulierung des § 1666 heißt es:Wird das ... Wohl des Kindes ... durch unverschuldetes Versagen der Eltern ... gefährdet ...,In Ihrem Entwurf heißt es an gleicher Stelle: „... erheblich gefährdet ...". Der einzige Unterschied in den Formulierungen ist im Grunde genommen das Wort „erheblich". Nun haben uns aber alle Fachleute gesagt, daß eine Gefährdung immer erheblich sein muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stark?
Bitte schön.
Herr Kollege, ist Ihnen bewußt, daß die Koalition eineinhalb Jahre auf anderen Formulierungen bestanden hat und daß Sie erst in den letzten 14 Tagen unsere Formulierung in diesem Punkt nahezu völlig übernommen haben?
Herr Kollege, ich glaube, daß wir nicht Ihre Formulierungen übernommen haben, sondern daß wir gemeinsam Formulierungen übernommen haben, wie sie z. B. von einigen Vertretern der evangelischen Kirche vorgeschlagen worden sind.Im übrigen kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben von Anfang an klargemacht — das habe ich auch an diesem Platz hier schon gesagt —, daß wir in den Beratungen dafür sorgen wollen, daß Bedenken, die vielleicht bestehen, beseitigt werden.Im Inhalt hat sich nichts geändert. Aber der Entwurf ist klarer geworden. Das gestehe ich Ihnen gerne zu. Das ist doch wohl Sinn und Zweck von Beratungen. in diesem Hause; sonst brauchten wir in den Ausschüssen nicht zu beraten.
Ich wiederhole: Der einzige Unterschied liegt in diesem Wort „erheblich". Alle Fachleute haben unsbestätigt, daß eine Gefährdung immer erheblich sein muß.
— Wenn wir das Wort „erheblich" jetzt hineinschreiben, würde das gegenüber der jetzigen Fassung des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches eine Verschärfung bedeuten. Ich darf Sie daran erinnern, daß es im geltenden § 1666 BGB auch nur „gefährdet" heißt und nicht: „erheblich gefährdet".
— Der § 1666 steht .nun einmal auch im Entwurf von Baden-Württemberg drin.Für die Offentlichkeit muß der Streit um dieses eine Wort recht grotesk erscheinen. Jeder Bürger, der sich bei seiner Meinungsbildung nicht auf Informationen aus zweiter Hand, auf Kommentare, die nach parteitaktischen Gesichtspunkten gefärbt sind, verläßt, muß sich erstaunt fragen, wo hier ein Eingriff ins Elternrecht vorliegt und worum eigentlich gestritten wird.Auch nach unserer Meinung hat- das Elternrecht absoluten Vorrang vor einer Beeinflussung durch den Staat. Der Staat darf nach unserer Meinung nur dort eingreifen, wo ein anderes Grundrecht, das Persönlichkeitsrecht des Kindes, beeinträchtigt wird. Dem natürlichen Elternrecht ist gemäß Art. 6 des Grundgesetzes der eindeutige Vorrang vor der nur ergänzenden Aufgabe des Staates zur Jugendhilfe eingeräumt, entgegen allen Unterstellungen etwa eines Alfred Dregger, der Parallelen zu NS-Gesetzen zog, Unterstellungen, die eigentlich unter Demokraten nicht üblich sein sollten.Wie hoch diese Regierung den Wert der Familie einschätzt, sieht man auch daran, welchen Stellenwert die Familienerziehung im Gesetzentwurf der Bundesregierung hat. Es wird deutlich, daß Familienerziehung den Vorrang vor allen außerfamiliären Hilfen hat. Erst kommt die eigene Familie, dann kommt die Pflegefamilie, und dann kommen das Heim und andere Formen der Erziehung.Einer jahrelang erhobenen Forderung der FDP, insbesondere meiner früheren Kollegin Frau Lüdemann, entspricht die ausführliche Regelung, der Familienpflege und der Vermittlung von Pflegekindern durch das Jugendamt. Damit kann und soll Heimerziehung einmal weitgehend entbehrlich werden. Auch das, meine Damen und Herren, ist eine der großen Zielsetzungen dieses Entwurfs.Opposition und Koalition sind einander in vielen Punkten näher, als das in der Offentlichkeit den Anschein hat. Damit will ich aber nicht zum Ausdruck bringen, es gäbe keine Unterschiede. Ich will diese Unterschiede deutlich ansprechen.Einer dieser Unterschiede ist das Verhältnis der freien und der öffentlichen Träger der Jugendhilfe, das seit langem ideologisch belastet ist. Dieses Problem wollen wir im Entwurf auf der Basis ge-
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Eimer
genseitiger Eigenständigkeit im Sinne partnerschaftlicher Zusammenarbeit lösen. Wir wollen Vielfalt der Angebote von öffentlichen und freien Trägern, wir wollen Vielfalt der Angebote auch der freien Träger untereinander, wir wollen Pluralität des Angebots von Kirchen, Verbänden, Gemeinden und allen, die hier Angebote machen können. Vielfalt sichert Konkurrenz, Konkurrenz sichert Qualität, und das alles ist ein Kennzeichen von Freiheit. Voraussetzung dafür ist die im Entwurf vorgesehene Beteiligung freier Träger an der Planung von Anfang an.Heute haben freie Träger Vorrang vor öffentlichen Trägern. Dennoch wird mir gerade aus Baden-Württemberg gemeldet, daß sich die CDU an ihr eigenes Prinzip nicht hält, so z. B. in Stuttgart, wo therapeutische Vorschuleinrichtungen für behinderte Kinder nach der Waldorf-Pädagogik gegenüber kommunalen Einrichtungen benachteiligt werden.
Ob Partnerschaft zwischen den Trägern funktioniert oder nicht funktioniert, liegt in der Verantwortung der Länder und der Kommunen; darauf hat Herr Hauck schon aufmerksam gemacht.Großen Wert legen wir Liberalen darauf, daß der Jugendliche stärker, als es bisher der Fall war, an den für ihn zu treffenden Entscheidungen beteiligt wird. Er ist ja nicht bloßes Objekt von Erziehungsmaßregeln, sondern neben den Eltern selbst Subjekt mit wachsenden Rechten.In beiden Gesetzen — Recht der elterlichen Sorge und Jugendhilferecht — wird das deutlich gefordert. Nur der, der junge Menschen rechtzeitig, frühzeitig zu eigenverantwortlichem und selbständigem Handeln fördert und fordert, bekommt den selbstbewußten Staatsbürger, den die Demokratie braucht. Hier bringt der vorliegende Gesetzentwurf entscheidende Verbesserungen gegenüber dem Referentenentwurf.Ich darf vielleicht noch auf einen Einzelpunkt hinweisen, bei dem wir auch eine ganz entscheidende Verbesserung gegenüber den ersten Referentenentwürfen sehen. Das ist der § 48, der den Schriftwechsel von Jugendlichen in Heimen betrifft. Die alte Fassung sah vor, daß dieser Schriftwechsel eingeschränkt werden kann. Der neue § 48 sieht vor, daß dies im Verhältnis zu den Eltern nicht mehr geschehen kann und im übrigen Außenverhältnis nur noch vom Richter angeordnet werden kann. Hier sehen wir eine ganz deutliche Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf.
Erfreulich scheint mir schließlich zu sein, daß der starken Kürzung des Gesetzestextes im Entwurf von Baden-Württemberg nicht etwa eine gleiche Kürzung der vorgesehenen Finanzmittel entspricht. Die erstmaligen Kosten sind fast gleich, die laufenden nur wenig geringer als nach dem Regierungsentwurf. Die Regierung sieht einmalige Kosten von 113 Millionen, Baden-Württemberg von 110 Millionen DM vor; an jährlichen Kosten entstehen nach der Regierung 780 Millionen, bei Baden-Württemberg 707 Millionen DM. Auch im Hinblick auf die Kosten scheint nunmehr endlich eine Einigung in diesem wichtigen Gesetz möglich zu sein.Wir wollen im Lauf der Beratungen das Unsere dazu beitragen, daß wir zu einem vernünftigen Gesetz kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Frau Abgeordnete Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei allen von uns — vielleicht abgesehen von den Finanzexperten — ist Erleichterung darüber festzustellen, daß wir uns nun nach neunjährigem Bemühen endlich parlamentarisch mit der Reform des Jugendhilferechts auseinandersetzen können. Endlich ist die Zeit der Diskussions- und der Referentenentwürfe vorbei.Trotz der leidigen Vorgeschichte, und obwohl uns noch viel Arbeit in den Ausschüssen und viele sachliche Auseinandersetzungen bevorstehen, denke ich, daß wir uns nicht entmutigen lassen sollten und daß die Reform bis zum Ende dieser Wahlperiode zustande zu bringen ist.
Abgesehen von vielen Detailregelungen wird sich die Diskussion hauptsächlich auf fünf bis sechs Schwerpunkte, also grundsätzliche Fragen, beziehen. Frau Minister, kontroverse Diskussionen wird und muß es z. B. über die Frage der Stellung der freien Träger geben.
Sie haben ja schon einschränkend zumindest die Andeutung gemacht, daß wir darüber sicherlich in ein Gespräch kommen können. Ob es auch zu einer Änderung kommt, wird sich — Sie haben zur Zeit noch die Mehrheit in diesem Haus — erweisen müssen.Um es ganz klar zu sagen: Die Kritik, die ich an diesem Punkt bereits am Referentenentwurf vom Oktober 1977 geübt habe, muß ich leider trotz systematischer und einiger redaktioneller Änderungen aufrechterhalten. Die Forderung nach partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen freien und öffentlichen Trägern kann kein Ersatz für das Subsidiaritätsprinzip sein. Ich muß diese Kritik auch deshalb aufrechterhalten, weil ich eigentlich erwartet hatte, daß die Bundesregierung die bei den Verbänden eingeholten Stellungnahmen ernster nehmen und berücksichtigen werde,
dies aber leider nicht der Fall ist.
Das Postulat der partnerschaftlichen Zusammenarbeit wird im Gesetzestext selbst an mehreren Stellen unterlaufen. Ein Zeuge für diese meine Feststellung ist der Entschließungsantrag der 50. Vpllversammlung des Deutschen Bundesjugendrings vom 15./16. November 1978. Ich zitiere:
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Frau KarwatzkiAuf Grund der Bestimmungen. des Entwurfs herrscht weiterhin Unklarheit, wie man in der Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern die Koalitionsfreiheit, die Vielfalt von Trägern der Jugendhilfe, die Unterschiedlichkeit der Bereiche und die Vielzahl von Aufgaben der Jugendhilfe ihrer Bedeutung entsprechend berücksichtigen will. Die Wirkung der vorgesehenen Fachkompetenz des öffentlichen Trägers muß daraufhin überprüft werden, inwieweit sie zu einem Instrumentarium des öffentlichen Trägers gegenüber den freien Trägern werden kann.Verräterisch ist in dieser Hinsicht auch der Begründungstext. Er steht in deutlichem Gegensatz zum Gesetzeswortlaut. Auch so etwas trägt nicht zur Klarheit bei, wie wir das aus anderen Begründungstexten, ,z. B. zum Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge, wissen.Insbesondere die Bestimmungen der §§ 90 bis 108 können die in § 3 formulierte Bestimmung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit gefährden, ja teilweise sogar aufheben.Besonders § 102 ist hier kritisch zu betrachten. Die Überschrift lautet: „Schaffung und Betrieb von Einrichtungen, Diensten und Veranstaltungen öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe". Im Gesetzestext wird aus dem „und" jedoch ein „oder". Damit wird aus dem Postulat der Gleichgewichtigkeit, nach der die freien Träger nicht ausgeschlossen werden können, eine Alternativformel, die die Nichtberücksichtigung der freien Träger möglich macht, besonders dann, wenn der Zuschlag jenem Träger gegeben werden soll, der „die fachlichen Voraussetzungen für die Leistung wirksamer Jugendhilfe entsprechend der jeweiligen Aufgabe, vor allem in bezug auf ihre Durchführung durch Fachkräfte sowie auf Sachkunde und Erfahrung für den Betrieb solcher Einrichtungen" erfüllt.Zwar sollen auch „die Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Erziehungsberechtigten" sowie „eine genügende Vielfalt des Angebots" sichergestellt sein. Aber die. Erfüllung dieser Tatbestandsmerkmale kann vors öffentlichen Trägern eindeutig so ausgelegt werden, daß die freien Träger dadurch in die Enge gedrängt werden.Diese wenigen Punkte sollen genügen, um darzutun, daß sich die Formel der Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der freien Träger mit den öffentlichen Trägern meines Erachtens als Floskel bzw. als eine kosmetische Operation erweist. Die freien Träger können danach als Erfüllungsgehilfen der öffentlichen Träger mißbraucht oder ganz ausgeschaltet werden. Benachteiligt sind sie in jedem Falle. Damit unterschätzt die Bundesregierung die Bedeutung der freien Träger für die Jugendhilfe, ohne die Jugendhilfe überhaupt nicht möglich ist. Frau Minister Huber, Sie haben zwar soeben dargelegt, daß auch Sie der Überzeugung sind, daß die freien Träger in unserer Bundesrepublik nicht wegzudenken sind; aber dann, so denke ich, muß manes auch im Gesetzestext sehr deutlich kenntlich machen, damit es hier überhaupt nicht Anlaß zu Mißdeutungen gibt.
Der Gesetzentwurf ist in diesem Punkt auch einen Schritt hinter den geltenden § 5 Abs. 3 des Jugendwohlfahrtsgesetzes zurückgegangen, dessen Grundgesetzkonformität auch vom Bundesverfassungsgericht klargestellt wurde und das sich in der Praxis bewährt hat. Die Stärke der freien Träger ist es, im Gegensatz zu staatlichen Verwaltungsinstitutionen schneller und flexibler agieren und reagieren zu können. Dies ist insbesondere im Bereich der Jugendhilfe notwendig. Wir sehen deshalb nicht ein, warum dies grundlos geändert werden soll. Zweifellos muß dem öffentlichen Träger die Gesamtverantwortung für die sachgerechte Erbringung von Leistungen der Jugendhilfe zukommen; aber die Gesamtverantwortung begründet weder einen Monopolanspruch der öffentlichen Träger noch rechtfertigt sie eine Unterordnung der freien Träger unter die Ziele und Absichten der öffentchen Träger.Auf dem Hintergrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils und im Sinne eines pluralen Leistungsangebots in der Jugendhilfe gilt es daher, das Zusammenwirken öffentlicher und freier Träger auf der Basis gleichwertiger und gleichrangiger Zusammenarbeit zu sichern.Ein weiterer Punkt. Das Verständnis der Bundesregierung von Jugendarbeit ist infolge widersprüchlicher Begriffsbestimmungen nicht eindeutig definierbar. Auf Seite 75 der Begründung wird das, was früher als Jugendpflege bezeichnet wurde; jetzt als Jugendarbeit deklariert. Der Begründung nach — ebenfalls auf Seite 75 — soll Jugendarbeit in besonderem Maße zur Verwirklichung des Zieles des § 1 dienen. Meine Damen und Herren, 'in § 1 fehlt aber jeder Hinweis auf Jugendarbeit.Das moderne und allgemeine Verständnis von Jugendarbeit umfaßt eben nicht nur Erziehung, sondern auch Bildung, Aktion und Interessenvertretung.
Diesem Anspruch wird der Entwurf aber nicht gerecht.
— Ich rede von dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, nicht von einem anderen. Auch wird im Gesetzentwurf Jugendarbeit weitgehend nur mit Sozialisation gleichgesetzt. Persönlichkeitsbildung scheint nicht mehr berücksichtigt, obgleich § 1 und ausdrücklich auch die Begründung zu § 1 auf Personalisation hinweist. Auch diese Ungereimtheit — ich sage das mal in Anführungszeichen muß ausgeräumt werden. Der Deutsche Bundesjugendring verlangt in dieser Frage klar, daß die Bildungsinhalte der Jugendhilfe, insbesondere der Jugendarbeit, in § 1 und in den allgemeinen Bestimmungen des Gesetzes zweifelsfrei enthalten sein müssen. Denn nur so findet
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Frau KarwatzkiJugendarbeit den ihrem Selbstverständnis entsprechenden Rahmen.
Auch die Einengung der Jugendarbeit auf acht Aufgabengebiete — ich zitiere §§ 18 bis 25 — und auf bestimmte Dienste, Einrichtungen und Veranstaltungen ist nicht geeignet,. der Praxis der Jugendarbeit gerecht zu werden; schon gar nicht, die weitere Entwicklung der Jugendarbeit zu fördern. Jugendarbeit hat nur Sinn, wenn sie flexibel und auf die Situation der Jugendlichen reagieren kann und in der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung ihrer Arbeit offen ist. Flexibilität und Pluralität der Jugendarbeit ist aber nur durch eine Rahmenbeschreibung sichergestellt. Von daher z. B. und aus diesem Anspruch heraus fordere ich die Streichung der §§ 18 bis 26.Außerdem ist insbesondere eine finanzielle Absicherung und Förderung von Jugendarbeit unerläßlich. Die Jugendverbände fordern ein durchgängiges, aufeinander abgestimmtes Förderungssystem vom Bund bis zu den Kommunen oder umgekehrt. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist jedoch nicht einmal ein Rechtsanspruch für die Jugendarbeit gegeben. Damit wird der Grundforderung im Hinblick auf die Einheit der Jugendhilfe, also alle Bereiche gleichrangig und gleichwertig auszubauen, d. h. auch der gleichrangigen Einbeziehung und Förderung von Jugendarbeit, nicht entsprochen. Für Jugendpolitiker, so denke ich, eine mißliche Lage. Dieser Punkt gehört meines Erachtens mit zu den wesentlichen Fragen, bei denen wir uns gemeinsam, alle drei Fraktionen, noch etwas einfallen lassen müssen.
— Pardon, wir sind eine.
Mit der Frage des Selbstverständnisses und der Aufgabenstellung von Jugendhilfe und insbesondere von Jugendarbeit steht die unterschiedliche Auffassung über die Einbeziehung des Jugendhilfegesetzes in das Sozialgesetzbuch in engem Zusammenhang. Eine umstrittene Sache. Wir sind der Meinung und befürchten nach wie vor — und bei der SPD ist es ja ähnlich —, daß durch die umstrittene Einbeziehung des Jugendhilfegesetzes in das Sozialgesetzbuch der Erziehungs- und Bildungsaspekt untergeht und Jugendhilfe nur noch als Daseinsvorsorge empfunden wird. Jugendhilfe ist aber von eminent bildungspolitischer Bedeutung. So ist der Bereich der außerschulischen Jugendbildung in den Bildungsgesamtplan von Bund und Ländern einbezogen worden.In diesem Zusammenhang ein kurzer Hinweis auf etwas, was mir besonders negativ im Gesetzentwurf aufgefallen ist. Im Gegensatz zum Referentenentwurf ist im jetzigen Gesetzentwurf das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht mehr verankert, sondern in § 8 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches abgeschoben worden. Rechtssystematisch mag das vielleicht korrekt sein — das kann ich nicht beurteilen —, aber die politische Intention und die Folgen, die sich daraus ergeben können, kann ich nicht gutheißen.Zum Schluß möchte ich noch einmal deutlich sagen: Wir begrüßen den Versuch, das teilweise nicht mehr ausreichende Jugendwohlfahrtsgesetz durch ein modernes Jugendhilfegesetz abzulösen. Ein neues Jugendhilferecht darf in seiner Qualität aber nicht hinter dem geltenden Jugendwohlfahrtsgesetz zurückbleiben. Es würde sonst seinen Sinn verfehlen. Um es klar zu sagen: Die Benachteiligung der freien Träger im Vergleich zu den öffentlichen Trägern, die eingeengte Aufgabenstellung und Finanzierung der Jugendarbeit sowie die problematische Einbeziehung in das Sozialgesetzbuch sind Punkte, über die wir unbedingt reden müssen. Wenn wir hier gemeinsam zu einem Gespräch zum Wohle der Jugendarbeit, zum Wohle der Jugendlichen, zum Wohle der Eltern in der Bundesrepublik Deutschland kommen, denke ich, kommen wir einen Schritt weiter.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verlauf der Debatte hat ja gezeigt, daß hier offensichtlich im. Geiste einer mitdiskutiert, der in der letzten Woche in aller- letzter Minute im Bundesrat noch einen Gesetzentwurf eingebracht hat. Dabei ist sein Geist, wie wir feststellen mußten, allerdings am Dienstag nicht in die Unions-Fraktion gefahren; sonst hätten Sie ja nicht — Tagesordnungspunkt 7 b — einen eigenen Entwurf abschreiben müssen, sondern Sie hätten ihn, genauso wie Herr Späth das getan hat, wenigstens zur Hälfte bei der Regierung abgeschrieben.
Wir haben von Ihnen heute eine ganze Menge zu der Frage gehört, ob es überhaupt ein neues Jugendhilfegesetz geben muß. Wir sind eigentlich froh darüber, daß zumindest von den Sprechern, die sich heute geäußert haben, anerkannt worden ist, aus jugendpolitischen Gründen sollte in dieser Legislaturperiode ein neues Jugendhilfegesetz verabschiedet werden.
— Wann hat Herr Strauß das gesagt? Als er sich von Ihnen verabschiedet hat? Da hat er gesagt: So nicht und überhaupt nicht.
— Doch, das habe ich genau nachgelesen. Das war wörtlich zitiert.
Hinzu kommt, daß eine besondere Freundin von Herrn Strauß, die auf der Europaliste in Bayern kandidieren soll und bei uns im Ausschuß sitzt
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Kuhlweinsie ist leider heute abend nicht hier —, am 15. März, also heute, im „Deutschland Union Dienst" auch noch erklärt hat, es genügten eigentlich Korrekturen am Jugendwohlfahrtsgesetz. Offensichtlich brauchen Sie erst eine neue Sitzung der Strategiekommission, bevor wir endgültig wissen. was bei Ihnen laufen soll. Wir sind gern bereit, darauf zu warten; denn wir müssen ja abschließend erst in zehn, elf Monaten über das Jugendhilfegesetz im Bundestag beschließen. Deswegen haben Sie ja noch ein bißchen Zeit, sich zu einigen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege Kroll-Schlüter hat behauptet, das Jugendhilfegesetz habe so etwas den Ruch, daß alle Jugendlichen zu Patienten gemacht würden. Das zeige sich dann in den Passagen über die Erziehungsberatung, in denen die Erziehungsberatung gleich mit der Therapie gekoppelt werde. Herr Kollege Kroll-Schlüter, Sie haben sicher vergessen, vor den Beratungen in der CDU/CSU-Fraktion — vielleicht auch nur: CDU-Fraktion — nachzulesen, was Herr Minister Späth in seinem Gesetzentwurf gesagt hat. In der Bundesratsdrucksache heißt es auf Seite 99: „Darüber hinaus leisten Erziehungsberatungsstellen vielfach Hilfe selbst ." Ich weiß nicht, wo das Verwerfliche am Regierungsentwurf zu finden sein soll, der in diesem Punkt eigentlich überhaupt nichts anderes sagt. Mindestens ist der Unterschied nicht so gravierend, daß darüber die Welt konservativer Ideologen zusammenbrechen müßte.
Es geht uns um folgendes — Herr Kollege Hauck hat das in den beiden zentralen Positionen deutlich gemacht —, und darin werden wir uns auch im nächsten Jahr noch unterscheiden: zum einen um die Einheit der Jugendhilfe und wie wir sie erhalten können. Da ist es, Frau Kollegin Karwatzki, sicherlich kein Weg, daß Sie dem Deutschen Bundesjugendring insoweit folgen, daß Sie sagen: All die schönen Paragraphen, die da detailliert, enumerativ aufgeschrieben sind, sollen jetzt weg, dann setzen wir vielleicht die sieben Zeilen von Baden-Württemberg dagegen.Ich hoffe, daß Ihr Beitrag so nicht gemeint war, sondern daß wir das Anliegen des Deutschen Bundesjugendrings ernst nehmen und sagen: Wesentlich ist nicht die enumerative Aufzählung, sondern auch die Innovationsfähigkeit, die Ausweitungsmöglichkeit, ob und inwieweit der Jugendhilfeträger dann villeicht sagen kann: „Das steht nicht im Katalog, deswegen können wir diese und jene Maßnahme nicht genehmigen." Darüber können wir gern im Ausschuß beraten, ob das noch ergänzt werden müßte. Aber für unverzichtbar halten wir eine möglichst breite Darstellung dessen — gleichgewichtig wird es ja nie bei zehn Paragraphen gegenüber den gesamten Bestimmungen —, was früher: Jugendpflege, heute: Jugendarbeit oder Jugendbildungsarbeit im Gesetz bedeuten muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Ich habe wirklich nur zehn Minuten Zeit.Der zweite Punkte, auf den es uns vor allem ankommt, ist, daß die Formulierungen über die partnerschaftliche Zusammenarbeit erhalten bleiben. Frau Kollegin Karwatzki, hier sollten wir noch einmal darüber nachdenken — wir können das auch im Ausschuß weiter tun —, wozu Subsidiarität eigentlich gut sein soll und womit sie begründet wird. Es gibt sicherlich zwei Begründungen. Die eine Begründung lautet, daß Subsidiarität dazu beitragen kann, das Elternrecht auf Durchsetzung der Grundrichtung der Erziehung zu garantieren. Das kann Subsidiarität bewirken.Das zweite ist — das haben Sie angeführt —, daß freie Träger möglicherweise schneller und flexibler arbeiten. In der Begründung zum Regierungsentwurf steht auch etwas darüber, daß sie möglicherweise einen besseren Zugang zu den Jugendlichen und ihren Familien hätten. Das alles muß man natürlich an Hand der Realitäten einmal durchdeklinieren und dann die Frage stellen, ob denn Großorganisationen in der Wohlfahrtspflege — Caritas, Diakonisches Werk, vielleicht auch die Arbeiterwohlfahrt — heute wirklich noch so ortsnah und so flexibel sind, ob da nicht auch manchmal die Gefahr einer gewissen Bürokratisierung entsteht. Die umgekehrte Frage lautet, warum nicht ein in kommunaler Selbstverwaltung befindliches Jugendamt genauso flexibel vor Ort arbeiten kann, wie das ein großer freier Träger könnte.
Wir wollen die Ideologie aus dem Spiel lassen
und nicht grundsätzlich sagen: Frei ist besser und flexibler und innovativ, und staatlicher Träger ist von vornherein nachteilig und bürokratisch.
— Hören Sie doch auf, Herr Kollege Franke, Sie wissen doch überhaupt nicht, um was es hier geht!
Um den anderen Punkt noch einmal durchzudeklinieren: Die Frage des Vorrangs der freien Träger, wie im Entwurf von Baden-Württemberg be- schrieben, bedeutet nichts anderes, als daß katholische Eltern gegen ihren Willen unter Mißachtung der Grundrichtung der von ihnen gewollten Erziehung ihre Kinder unter Umständen in einen evangelischen Kindergarten schicken müssen. Oder machen wir es noch dramatischer: Es kann katholischen Eltern passieren, weil nur die Arbeiterwohlfahrt am Ort einen Kindergarten hat, möglicherweise mit „linken" Sozialpädagogen, daß der öffentliche Träger sagt: „Es ist zumutbar, wir können es uns nicht leisten, eine andere Einrichtung zu schaf-
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Kuhlweinfen, schickt ihr, katholische Eltern, eure Kinder in diesen AWO-Kindergarten mit den linken Sozialpädagogen!"Das wäre die Konsequenz dessen, was Baden-Württemberg vorschlägt, und dagegen sind wir, weil wir meinen, daß die Voraussetzung für die Durchsetzung des Elternrechts ein pluralistisches Angebot sein muß. Das kann man niemals maximal erreichen, man kann immer nur das Optimale versuchen.
Zu einem solchen optimalen pluralistischen Angebot muß auch gehören, daß der freie Träger sagt: Hier sind 100 Eltern, die wollen einen anderen Träger, ein anderer Träger ist vielleicht nicht da, und dann macht es das Jugendamt selbst. Das muß möglich sein. Nur dann ist das Elternrecht garantiert.
— Ganz sicher.Dazu kommt ein Punkt in dem Entwurf aus Baden-Württemberg, der uns auch bedrückt. Man kann ja noch darüber reden, ob an einen freien Träger verwiesen werden kann, auch wenn einem die Richtung dort nicht paßt, wenn man sicherstellen würde, daß dort Mitwirkung und Mitbestimmung garantiert sind, z. B. der Eltern über das, was mit ihren Kindern passiert, oder der Jugendlichen über das, was in einer Einrichtung passiert. In dem Baden-Württemberg-Entwurf ist das, was an Mitwirkung im Regierungsentwurf gestanden hat, nur noch ganz rudimentär enthalten, nämlich als Vorschlag für Kann-Vorschriften in den ländergesetzlichen Regelungen. Das ist wahrhaftig ausgesprochen dürftig.
— Herr Kollege Franke, Ihre Zwischenrufe gewinnen im Laufe des Abends nicht an Qualität.
Im übrigen möchte ich noch auf die Diskrepanz hinweisen — und das vielleicht so als Mitternachtsspitze, weil wir uns ja dem Ende der Debatte nähern — zwischen dem, was Sie immer draußen fordern und was Sie auch hier wieder gefordert haben, und dem, was Sie dort machen, wo Sie die Macht haben. Da ist Ihnen nämlich das Recht der freien Träger und das Subsidiaritätsprinzip wurscht und schnuppe.
Ich will Ihnen nur zwei Beispiele vortragen. Der Bayerische Landesjugendring versucht seit Monaten, bei der Landesregierung in Bayern eine neue Satzung durchzusetzen. Die Landesregierung sagt: Solange ihr nicht bereit seid, für den Landesjugendring — von den Falken bis hin zur katholischen Jugend — in die Satzung hineinzuschreiben, daß auch die religiöse Bildung zu euren Aufgaben gehört — das will dort nicht einmal die katholische Jugend —, genehmigen wir eure Satzung nicht. Das ist Subsidiarität à la Bayern.
Ein anderes Beispiel aus der „Süddeutschen Zeitung", die ab und zu nachzulesen übrigens sehr erhellend ist, weil man dort über eine Fülle von Widersprüchlichkeiten in der Unionspolitik nachlesen kann, vor allem im Provinzteil, in den „Nachrichten aus der bayerischen Provinz" : „Jugendring fühlt sich im Klammergriff" in der Gemeinde Taufkirchen im Kreis München-Land, wo der Taufkirchener Gemeinderat mit der Mehrheit der CSU beschlossen hat, alle Aufgaben bei der Regie über ein Jugendheim selbst zu übernehmen und vor allen Dingen auch eine selbständige Personalpolitik zu betreiben. Wörtlich heißt es:Die Gemeindeverwaltung stellt auf Grund des Stellenplans hauptberufliche Mitarbeiter an. Die CSU begründet ihre Haltung damit, daß durch die starke Hand der Gemeinde Fehlentwicklungen vermieden würden, wie sie in anderen Jugendheimen vorgekommen seien.
Das ist Subsidiarität, von CDU/CSU-Politikern praktiziert, wo sie die Macht haben. Deswegen wollen wir in Zukunft nicht über Ideologie reden, sondern über das, was praktikabel ist, was gemacht werden muß, um den Jugendlichen in unserem Lande zu helfen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stark.Stark (CDU/CSU) : Her Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich mit der ganzen Familienpolitik, dem Recht der elterlichen Sorge, dem Jugendhilferecht, dem Eherecht beschäftigen muß und die Hintergründe dieser Reformbewegungen kennt, darunter z. B. den Zweiten Familienbericht, die Begründung des elterlichen Sorgerechts,
so kann man nur sagen: Man kann so diskutieren wie Sie es getan haben, wenn man von diesem Hintergrund nichts weiß. Sie tun alles, um das zu verschweigen, was Sie als Hintergrund dieser Reformbewegung im Zweiten Familienbericht auf über 180 Seiten gutgeheißen haben. Davon wollen Sie jetzt offenbar nichts mehr wissen. Wenn dem aber so ist, dann sagen Sie uns das, dann können wir anders mit Ihnen diskutieren. Dann dürfen Sie aber in diesem Zweiten Familienbericht nicht der Expertenkommission danken für die hervorragende Arbeit und die hervorragenden Feststellungen. Dort wird nämlich ernsthaft untersucht, wie die Familie ersetzt werden könnte. Der Ersatz der Familie wird im Augenblick noch abgelehnt, weil der Arbeitsmarkt so viele Erziehungspersonen beiderlei Geschlechts außerhalb der Familie nicht hergebe. Aus Kosten- und Konjunkturgründen, so steht es in die-
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11510 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Dr. Stark
sem Bericht, wird die Ersetzung der Familie abgelehnt.Meine Damen und Herren von der SPD/FDP, Sie können nicht so tun, als ob Sie uns nicht einen Sorgerechtsentwurf im Jahre 1974 und dann im Jahre 1977 vorgelegt hätten, worin sinngemäß steht, die armen Kinder müßten von den „gewaltbesessenen" Eltern befreit werden, die Kinder seien „Objekte der elterlichen Fremdbestimmung", und deshalb müsse das Sorgerecht total neu geordnet werden.
Dann haben Sie anderthalb Jahre mit uns gestritten, anderthalb Jahre. Sonst hätten wir das, was im Sorgerecht berechtigt ist, nämlich die Hilfe für das gefährdete Kind, in sechs Wochen im Rechtsausschuß und im Familienausschuß verabschieden können. Anderthalb Jahre haben Sie auf falschen Positionen bestanden, und es ist uns erfreulicherweise gelungen, daß wir in den zwei Vorschriften, die das gefährdete Kind betreffen, in § 1666 und in der Vorschrift für die Pflegekinderverhältnisse — das haben wir eingeführt, das hatten Sie gar nicht im Gesetzentwurf —, zu unseres Erachtens tragbaren und vernünftigen Lösungen gekommen sind.
Wenn Sie jetzt noch auf Ihre 90 Prozent Ideologie, die in diesem Sorgerechtsentwurf noch stecken, verzichten, dann können wir ihn sehr schnell gemeinsam verabschieden. Ich würde bitten, legen Sie ihn vor. Er ist ja im Rechtsausschuß beraten. Ich höre aber, Sie wollten ihn erst im Mai beraten, Sie wollten ihn offenbar erst nach den Wahlen beraten.
— Ich habe gesagt, wenn Sie die 90 Prozent Ideologie, die jetzt noch im Sorgerechtsentwurf für die intakten Familien sind, den perfektionistischen Unsinn wegnehmen, stimmen wir zu. Wenn Sie nur den § 1666 und das Pflegekinderverhältnis verabschieden wollen, stimmen wir sofort zu. Das kann ich Ihnen versprechen.
Über das Sorgerecht werden wir im einzelnen noch gesondert sprechen. Ich würde es begrüßen, wenn wir schon in der übernächsten Sitzungswoche darüber sprechen könnten. Aber ich höre, Sie wollten erst im Mai darüber sprechen. Darüber möchte ich jetzt nicht länger reden, das ist heute nicht der entscheidende Punkt.
— Nein, es bestehen schon enge Beziehungen, wie die Bundesregierung 'in diesem Jugendhilfegesetzentwurf selber sagt, zwischen Sorgerecht und Jugendhilferecht.Daß dieser Entwurf für das Jugendhilferecht vom Verfassungspolitischen her, vom Juristischen hernicht gelungen ist, zeigen die 250 Änderungsanträge. Daß dieser Entwurf sich teilweise wie ein Parteiprogramm und nicht wie ein Gesetz liest, das schreiben inzwischen auch nahezu alle Experten. Aber darüber wollen wir jetzt nicht rechten, das ist jetzt nicht die entscheidende Frage. Über Änderungsanträge kann man in den Ausschüssen reden.Das Entscheidende ist, daß nicht klar wird, welcher Begriff der Familie hinter dem Sorgerechtsentwurf, aber auch hinter diesem Entwurf steht. Ich muß zugeben, gegenüber dem Sorgerechtsentwurf stehen bezüglich der Familie, ihrer Funktion und Aufgabe in diesem Entwurf einige erfreuliche Feststellungen. Da steht z. B., die Verhältnisse seien zum größten Teil bestens, die Eltern widmeten sich mit Liebe und Zuneigung ihren Kindern, die Kinder fühlten sich überhaupt nicht autoritär behandelt, sie fühlten sich pudelwohl und seien mit ihren Eltern zufrieden. Das steht in diesem Entwurf. Wenn das so ist, dann kann man 90 Prozent der Bestimmungen in Ihrem Sorgerechtsentwurf gleich ausstreichen. Da steht in der Begründung leider etwas anderes drin. Da sind die Eltern ganz böse, da müssen die Kinder von den bösen Eltern befreit werden. Hier im Jugendhilfeentwurf sind sie plötzlich lieb.
Ich habe schon immer gesagt, daß ich. Ihre Behauptungen im Sorgerechtsentwurf für falsch halte, daß im großen und ganzen die deutschen Familien und die Eltern nicht so schlecht sind, wie Sie, vor allem auch Sie, Frau Ministerin, sie darstellen. Dafür, daß wir hier nicht von etwas reden, was nur wir behaupten, darf ich — die Genehmigung des Herrn Präsidenten brauchen wir, glaube ich, nicht mehr — zitieren:
„Unser Land ist elternfeindlich. Weil die Eltern diskriminiert werden, gibt es weniger Babys." Wo, meinen Sie, steht das wohl? Das steht nicht irgendwo, das steht in der liberalen „Zeit", die Ihr Wirken mit großem Wohlwollen begleitet. Diesen Artikel vom 9. März empfehle ich Ihnen zur Lektüre. Da wird klar auch zum Jugendhilfegesetzentwurf gesagt: „Die Jugendhilfegesetzgebung verunsichert viele Eltern und stellt die Erziehungsrolle der Familie in Frage."Was ich in dieser Kürze behaupte, können Sie alles in Ihrem Zweiten Familienbericht nachlesen. Sie haben das nicht etwa abgelehnt, sondern auf diesen Zweiten Familienbericht haben Sie wieder in diesem Entwurf an vielen Stellen Bezug genommen. Jetzt sagen Sie: Was geht uns diese Expertenkommission an, das ist nicht unser Bier. Aber erstens hat die Bundesregierung sich dazu so eingelassen: „teilweise sei das im Augenblick noch nicht zu vollziehen, teilweise sei es politisch schwer durchsetzbar, in einigen Punkten widerspreche es auch dem, was die Bundesregierung und diese Koalition wolle."Wenn unsere Eltern wüßten, was hier unter schönen Chiffren vor sich geht, wenn sie wüßten, was
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979 11511
Dr. Stark
der Hintergrund, was das geistige Umfeld dieser Gesetzentwürfe ist, dann, davon bin ich überzeugt, wären 70 bis 90 Prozent gegen den Sorgerechtsentwurf und gegen Teile des Gesetzentwurfs zum Jugendhilferecht.Es kommt entscheidend darauf an — —
— Wenn Sie sich erregen, Herr Wehner, dann weiß ich, daß ich den richtigen Ton getroffen habe. — Es kommt hinzu, meine Damen und Herren, daß Sie - ein Teil von Ihnen will es sicher nicht — mit Ihrem „Herumreformieren" an der Familie auf den verschiedensten Gebieten am Schluß keine Familie mehr haben, wie sie Art. 6 des Grundgesetzes statuiert und als Grundrecht schützt. Sie wollen einmal die Frau fördern, dann wieder das Kind, dann vielleicht auch einmal den Mann. Sie dividieren die einzelnen Familienmitglieder auseinander und machen aus ihnen mehr oder weniger eine GmbH & Co. KG mit klar abgegrenzten Rechten und Pflichten und Verlusten. Das können Sie mit der Familie nicht machen!
Die Familie des Grundgesetzes ist etwas ganz anderes.
Sie ist vorstaatlich. Es handelt sich um ein Naturrecht. Der Staat hat es geschützt. Die Familie soll ihre Verhältnisse frei, in autonomer Selbstverantwortung gestalten, solange das Kind nicht gefährdet wird. Aber Sie wollen mit allen möglichen dirigistischen Maßnahmen auch in die intakten Familien hineinregieren,
sowohl bezüglich des Sorgerechts als auch auf diese Weise.Wir haben im Zusammenhang mit dem Sorgerecht lange über Antragsrechte diskutiert. Sie haben sie schließlich nicht mehr in Ihren letzten Entwurf genommen und Anträge von sich aus nicht mehr gestellt.Jetzt kommen Sie über das Jugendhilferecht mit Antragsrechten der Kinder. Meine Damen und Herren, das wird neue Konflikte in die Familien hineintragen, ob Sie es wollen oder nicht. Ich erinnere an den Katalog von Angeboten, Dienstleistungen allen möglichen Förderungen, Beratungen und was das alles ist. Die Kinder werden dann sicher gut aufgeklärt. Es besteht ernsthaft die Gefahr, daß auf Grund dieses breit gefächerten Angebots mit Antragsrechten der Kinder, die sie dann, wie es im Gesetz steht, verfolgen können, denen aber letztlich die Eltern widersprechen können, Konflikte zwischen Eltern und Kindern entstehen werden. Ich meine das gar nicht polemisch. Solche Gesetze sollten Sie in dieser Form nicht machen.Wenn Sie den Kindern helfen wollen, müssen Sie — das ist die erste Erkenntnis, bei der wir uns im Grundsatz unterscheiden — die Familie stärken. Herr Wehner hatte in einer früheren Debatte einmal gesagt, mit dem elterlichen Sorgerecht werde die Erziehungsfunktion der Eltern gestärkt. Das isttotal falsch. Die Eltern werden damit überhaupt nicht gestärkt, sondern irritiert, zum Teil bevormundet, reglementiert bis hinein in die intakten Familien.
Was die Ansätze Ihrer Familienpolitik betrifft, so lesen Sie einmal den Artikel in der „Zeit" vom 9. März!
Ich kann Ihnen den Artikel jetzt nicht vorlesen. Ich will es auch nicht, Es handelt sich um eine Zeitung, die Sie nicht so ohne weiteres abtun sollten. Lesen Sie, was dieses Blatt und andere Blätter inzwischen zu Ihrer Familienpolitik sagen! Sie haben in diesem Bereich eine unglückliche Hand. Sie stärken nicht die Familie als Einheit, als Ganzes. Zu einer Familie gehören auch Bindungen, auch Verzichte, auch Opfer. Da kann man nicht die Rechte gegeneinander austarieren wie im Gesellschaftsrecht.
Von hier kommt der entscheidende Einwand gegen Ihre Familienpolitik, gegen Ihre Reformentwürfe auf diesem Gebiet. Sie sollten sich,
was das Hineinreglementieren in die Familie betrifft, mehr Zurückhaltung auferlegen.
Sie sollten die Familie materiell besser stärken. Dann hätten Sie auch einen Beitrag für das bessere Wohl der Kinder geleistet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 8/2571 an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend — und an den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend — sowie an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung — vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 14. Januar 1975 über die Registrierung von in den Weltraum gestarteten Gegenständen— Drucksache 8/2232 —
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11512 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 144. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1979
Präsident CarstensBeschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie
— Drucksache 8/2595 —Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Stavenhagen, Scheffler
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort anderweitig gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung in zweiter Beratung und Schlußabstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Juli 1978 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich über Arbeitslosenversicherung— Drucksache 8/2594 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und SozialordnungWird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 8/2594 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 9. Juni 1978 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Autobahnzusammenschluß im Raum Basel und Weil am Rhein— Drucksache 8/2592 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOWird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 8/2592 an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — federführend — sowie an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs einen Siebenten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes
— Drucksache 8/2651 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOWird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 8/2651 an den Innenausschuß — federführend —, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend — sowie an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung — vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? Ich seheund höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in der Eisen- und Stahlindustrie der Gemeinschaft— Drucksache 8/2540 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für WirtschaftWird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 8/2540 an den Ausschuß für Wirtschaft vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenBundeseigene Liegenschaften in Wiesbaden, Schloßplatz 3/Mühlgasse 4-6
— Drucksache 8/2607 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußWird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags des Bundesministers der Finanzen auf Drucksache 8/2607 an den Haushaltsausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 29. März 1979, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.