Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich habe die traurige Pflicht, Ihnen den Tod unseres Kollegen Bertram Blank bekanntzugeben. Er starb in den frühen Morgenstunden des 23. Mai im Alter von nur 48 Jahren an einer schweren Krankheit.Bertram Blank wurde am 9. April 1930 in Bonn geboren. Nach dem Abschluß der Schule studierte er von 1960 bis 1965 Rechtswissenschaft. Als Assessor und Regierungsrat war er bei der Bezirksregierung in Köln und von 1965 bis 1972 als Erster Beigeordneter der Stadt Bensberg tätig. 1969 wurde er Mitglied der SPD.Bertram Blank war ein gläubiger Katholik, der sich bei seiner politischen Arbeit mit all seiner Kraft der Nöte und Sorgen seiner Mitbürger annahm. Die Ämter, die er innehatte, verdeutlichen sein weitgespanntes Engagement. Er war stellvertretender Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Rheinisch-Bergischer Kreis, Mitglied der Gewerkschaft ÖTV und der deutsch-israelischen Gesellschaft.Dem Bundestag gehörte er seit 1972 an. Hier war er ordentliches Mitglied des Haushaltsausschusses und stellvertretendes Mitglied des Verteidigungsausschusses sowie des Ausschusses für Forschung und Technologie. Seine Fraktion wählte ihn auch zum stellvertretenden Obmann ihrer Haushaltsgruppe. Als Hauptarbeitsgebiet darf seine Tätigkeit im Verteidigungsbereich, sein Einsatz für die Probleme der Soldaten und die Sicherheit unseres Staates angesehen werden. Noch am 10. Mai dieses Jahres vertrat er als Berichterstatter für den Verteidigungshaushalt eine Vorlage im Verteidigungsausschuß. Unmittelbar danach mußte er den Ausschuß unter Schmerzen verlassen.Wir sind tief betroffen über seinen Tod. Der Deutsche Bundestag verliert mit Bertram Blank einen hochgeschätzten Abgeordneten, der sich seiner Pflicht aufopferte. Ich spreche seinen Angehörigen, besonders seiner Frau und seinen drei Kindern, sowie der Fraktion der SPD meine aufrichtige und herzliche Anteilnahme aus.Der Deutsche Bundestag wird Bertram Blank ein ehrendes und dankbares Andenken bewahren.Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Sitzen erhoben. Ich danke Ihnen dafür.Meine Damen und Herren, für den verstorbenen Abgeordneten Blank ist am 26. Mai dieses Jahres der Abgeordnete Sander in den Deutschen Bundestag eingetreten. Ich begrüße den uns bekannten Kollegen sehr herzlich und wünsche ihm eine erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.
Als Mitglieder des Verwaltungsrats der Lastenausgleichsbank hat die Fraktion der CDU/CSU den Abgeordneten Dr. Czaja, die Fraktion der SPD Herrn Walter Haack zur Wiederwahl vorgeschlagen. Ist das Haus mit diesen Vorschlägen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit sind der Abgeordnete Dr. Czaja und Herr Walter Haack gemäß § 7 Abs. 4 des Gesetzes über die Lastenausgleichsbank als Mitglieder des Verwaltungsrats dieser Bank gewählt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um die in der Ihnen vorliegenden Liste „Zusatzpunkte zur Tagesordnung" aufgeführten Vorlagen:1. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens
Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Rechtsausschuß2. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verlängerung der Antragsfrist für die Abgabe des Antrags auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol
Überweisungsvorschlag:FinanzausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOPunkt 6 der Tagesordnung soll abgesetzt werden.Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung wie folgt abgewickelt
Metadaten/Kopzeile:
7284 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Präsident Carstenswerden: zunächst Punkt 2, dann Punkt 5, der voraussichtlich um 15.30 Uhr aufgerufen wird, dann Punkt 3, Punkt 4, Punkt 7 — zusammen mit Zusatzpunkt 1 —, anschließend die Punkte 8 bis 17 sowie die Zusatzpunkte 2 und 3. — Ich sehe und höre auch dazu keinen Widerspruch. Ich stelle das Einverständnis des Hauses fest.Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen für Abrüstung in New York und die NATO-Tagung der Staats- und Regierungschefs in WashingtonDas Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Stunden aus Amerika zurückgekehrt, begrüße ich die Gelegenheit, den Bundestag sogleich über Verlauf und Ergebnisse dieser Reise zu unterrichten. Sie diente mit ihren beiden Stationen in New York und in Washington zwei Hauptzielen, zwischen denen ein enger Zusammenhang besteht: In New York habe ich vor der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zu Themen der Abrüstung und Rüstungsbegrenzung die Politik der Bundesregierung in diesen Fragen dargelegt; in Washington haben wir zusammen mit den anderen Regierungschefs und Ministern der NATO-Staaten Beschlüsse gefaßt, die das Atlantische Bündnis und seine gemeinsame Fähigkeit zur Verteidigung stärken werden.Zwischen Rüstungsbegrenzung und Stärkung der westlichen Allianz besteht kein Widerspruch, sondern vielmehr ein innerer logischer Zusammenhang. Es handelt sich um komplementäre und sich gegenseitig ergänzende politische Ziele. Denn die Gewährleistung des militärischen Gleichgewichts ist eine unerläßliche Voraussetzung für dauerhafte Entspannung. Und dies gilt ebenso für Fortschritte in der Abrüstung.Die Reise gab den Herren Genscher, Apel und mir außerdem Gelegenheit zu Gesprächen mit einer Reihe von Staatsmännern aus vielen Regionen der Welt. Davon hebe ich hier meine ausführliche Unterredung mit Präsident Carter hervor, die erneut und unmißverständlich hat klarwerden lassen, daß wir und die amerikanische Regierung nicht nur in allen Grundfragen der Politik, sondern daß wir auch weitgehend bis in die Details übereinstimmen.Die Initiative zur Sondergeneralversammlung der UNO zu den Abrüstungsthemen ging von der Dritten Welt aus. Die Bundesregierung hatte diese Initiative von vornherein aktiv unterstützt. Vielleicht darf ich hier einflechten, daß ich mich darüber freue, daß in der nächsten Woche Mitglieder des Unterausschusses Abrüstung und Rüstungskontrolle des Bundestages in New York Gelegenheit nehmen werden, sich unmittelbar über die Sondergeneralversammlung zu unterrichten und dort auch ihrerseits Gespräche zu führen.In der gegenwärtig noch andauernden einleitenden Generaldebatte am East River in New York kam es uns darauf an, nicht nur unser allgemeinesInteresse an dieser Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zu bekunden, sondern auch mit einem konzeptionellen Beitrag die für uns entscheidenden Akzente zu setzen.Ich habe in meiner dortigen Rede hervorgehoben, daß zur Verwirklichung eines stabileren Friedens vier Elemente notwendig sind:erstens eine Politik des politischen, des strategischen, des militärischen Gleichgewichts;zweitens — auf der Grundlage solchen Gleichgewichts — eine Politik der Entspannung, der Konflikteindämmung und des Interessenausgleichs;drittens die Fähigkeit und der Wille zu wirksamer Krisenbeherrschung; denn Krisen können trotz Gleichgewichts und trotz Entspannungspolitik immer neu und auch unvorhergesehen auftreten;viertens die Vorhersehbarkeit, die Berechenbarkeit, die Transparenz des eigenen politischen und militärischen Verhaltens.Diese vier Leitmotive, wenn ich sie so nennen darf, haben ganz genauso auch unseren Beitrag zur Ratssitzung und zu den diesjährigen Entscheidungen der Nordatlantischen Allianz wenige Tage später bestimmt.Vor dem Hintergrund dieser vier Prinzipien habe ich in den Vereinten Nationen den Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Festigung des Friedens, zur Stabilität, zur Rüstungsbegrenzung dargestellt und dabei natürlich auch auf unseren Verzicht auf A-Waffen, B-Waffen und C-Waffen hingewiesen, den wir unseren Verbündeten gegenüber schon im Jahre 1954 geleistet haben. Ich habe weiter auf unsere Unterstützung der bisherigen Bemühungen zur Begrenzung der Rüstungen, auf die europäischen Einigungsbestrebungen, auf unsere Partnerschaft in der Atlantischen Allianz sowie auf die Notwendigkeit unseres Beitrags zur kollektiven Verteidigungsfähigkeit unseres Bündnisses hingewiesen, um in der Sondergeneralversammlung auch auf diese Weise ein realistisches Bild zu zeichnen.Wir haben erstens vorgeschlagen, unsere Erfahrungen bei der Kontrolle unseres Verzichts auf die Herstellung chemischer Waffen anderen Staaten zur Verfügung zu stellen. Zweitens haben wir vorgeschlagen, unsere seismologischen Einrichtungen für die Verifikation eines vollständigen Atomteststoppvertrages oder des Comprehensive Test Ban, wie er in der internationalen Diskussion meistens genannt wird, zur Verfügung zu stellen. Wir haben drittens eine internationale Konvention über die Beschränkung internationalen staatlichen und kommerziellen Handels mit konventionellen Waffen vorgeschlagen. Viertens sind wir für die Schaffung von mehr Vertrauen ineinander durch größere Transparenz, durch größere Durchsichtigkeit bei Aufwendungen für militärische Zwecke und bei militärischen Aktivitäten eingetreten.In dem Zusammenhang möchte ich, meine Damen und Herren, eine Passage, die mir am East River am Herzen gelegen hat, besonders erwähnen: Der Abbau von Mißtrauen, Furcht und Feindschaft ist eine universale Aufgabe, sie besteht auf der ganzen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7285
Bundeskanzler SchmidtWelt. Es liegt wohl an uns Älteren, dies den jüngeren Menschen nahezubringen. Unser Land hat mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk positive Erfahrungen gemacht. Es gibt ebenso positive Ansätze im Verhältnis zur Volksrepublik Polen. Ich denke, diese Politik der Vertrauensbildung und Versöhnung unter jungen Menschen ist eine Aufgabe, die sich auch die Vereinten Nationen zu eigen machen sollten.
Wir haben dort unsere Bereitschaft erklärt, zu einem neuen internationalen Programm beizutragen, das der Verständigung unter der jungen Generation aller Völker dient, und wir haben uns vorbehalten, im Laufe des Jahres den Vereinten Nationen dazu einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten.In den nächsten vier Wochen wird ja noch weiterhin die Thematik der nuklearen Rüstungsbegrenzung und Abrüstung im Mittelpunkt der Diskussionen in New York stehen. Von unmittelbarer Aktualität ist dabei SALT, sind also die Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen, Gespräche, die zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion geführt werden, wobei der Ausdruck „strategische Waffen", wie Sie alle wissen, in dem Zusammenhang interkontinentale nukleare, atomare Zerstörungsmittel meint, mit denen die eine Weltmacht das Land der anderen Weltmacht verwüsten kann und umgekehrt.Im Zusammenhang mit der nuklearen Problematik habe ich — wie übrigens auch Vizepräsident Mondale, der dort für die Vereinigten Staaten von Amerika sprach — auf die Bedeutung der Disparitäten im Mittelstreckenbereich hingewiesen. Ich habe festgestellt, daß diese Waffen mit ihrer gleichfalls enormen Vernichtungskraft für Europa und für andere Regionen eine ebenso existentielle Bedrohung darstellen, wie sie für die beiden Großmächte die strategischen Interkontinentalwaffen darstellen. Diese Mittelstreckenwaffen dürfen deshalb in einem ausgewogenen System des militärischen Gleichgewichts nicht außer Betracht bleiben.Wir haben weiterhin unterbreitet, daß die europäischen KSZE-Erfahrungen in und seit Helsinki auch im weltweiten Rahmen genutzt werden sollten, und dachten an dieser Stelle besonders an die vertrauensbildenden Maßnahmen, zu denen man sich in Helsinki ja einstweilen nur freiwillig, in der Form einer Absichtserklärung, verpflichtet hat; sie haben noch keine völkerrechtliche Bindungswirkung. Ich habe die Entwicklung von vertrauensbildenden Maßnahmen auch in anderen Regionen der Welt gefordert.In diesen Zusammenhang der Vertrauensbildung gehört die immer dringlicher werdende Transparenz, die Durchsichtigkeit der tatsächlichen militärischen Lage, der tatsächlich vorhandenen militärischen Mittel. Es ist notwendig, den konkreten Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung, die angestrebt werden, verläßliche Daten, verläßliche Zahlen zugrunde zu legen. Mir erscheint es bedeutsam, daß inzwischen bereits in drei Bereichen die Verfügbarkeit verläßlicher Daten und Zahlen international als notwendig anerkannt wird, nämlich bei den Beratungen der Vereinten Nationen über Vergleichbarkeit und Offenlegung der militärischen Haushalte im allgemeinen, bei SALT im besonderen und zum dritten bei MBFR, bei den Wiener Verhandlungen über beiderseitig ausgewogene Rüstungsbegrenzung in Mitteleuropa.Die enge Verbindung von Verteidigung und Rüstungsbegrenzung als Elementen einer geschlossenen realistischen Sicherheitspolitik ist auch auf diesem NATO-Gipfeltreffen in Washington ein beherrschendes Thema gewesen. Sie erkennen das, meine Damen und Herren, auch an dem Kommuniqué, von dem ich annehme, daß es spätestens heute abend in Deutschland auch gedruckt vorliegen wird; vielleicht steht es schon in einigen Morgenzeitungen.Dort, im Kommuniqué, wird zu MBFR festgehalten, daß die Bündnispartner ihre Verhandlungsposition mit dem Ziele der Herstellung einer übereinstimmenden kollektiven Gesamthöchststärke — also auf beiden Seiten der Gleichung — und mit dem Ziele eines Abbaus der Disparitäten der Panzer auf beiden Seiten der Gleichung bekräftigen. Weiter wird festgehalten, daß die westliche Initiative vom April dieses Jahres, an deren Hervorbringung wir ja seit dem Sommer des vorigen Jahres drei Vierteljahre gearbeitet haben, in ihrer Bedeutung gewürdigt wurde, daß die Bündnispartner die Klärung der Datenausgangsbasis in Wien als für substantiellen Fortschritt in den Verhandlungen entscheidend ansehen und daß wir ein Verhandlungstreffen auf Außenministerebene vorschlagen werden, wenn substantielle Fortschritte in diesen Gesprächen erzielt werden. Die Position stellt klar, daß die zwischen Ost und West festgestellte konzeptionelle Einigung über das Ziel der ungefähren Parität durch die Einigung über die Daten und durch Fortschritte bei MBFR nunmehr auch konkretisiert und anschließend realisiert wird.Natürlich wurde in die Konsultationen im Nordatlantikrat auch der Stand von SALT einbezogen. Daneben, aber keineswegs am Rande hatten der Bundesminister des Auswärtigen, der Bundesminister der Verteidigung und ich Gelegenheit, uns sehr ausführlich von amerikanischen SALT-Experten über den allerjüngsten Stand jener Verhandlungen unterrichten zu lassen. Ich habe schon erwähnt, daß dieses Thema gleichzeitig auch zwischen Präsident Carter und mir erörtert worden ist, ebenso wie wir es in gesonderten Gesprächen mit seinem Sicherheitsberater erörtert haben. Ich habe diese Gelegenheiten genutzt, um unsere Sorge über die im Mittelstreckenbereich bestehenden Potentiale zum Ausdruck zu bringen. Wir haben klargemacht, daß wir es für unerläßlich halten, daß dieses Problem sorgfältig und gemeinsam analysiert wird, und daß sodann das unter den Bündnispartnern konsultiert wird, was daraufhin einzuleiten ist.Ich begrüße, daß der französische Staatspräsident in seiner Rede vor der Sondergeneralversammlung in New York die französische Abrüstungspolitik überzeugend reaktiviert hat. Darin liegen Chancen, die es zu nutzen gilt.
Metadaten/Kopzeile:
7286 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundeskanzler SchmidtIch selbst habe im ürbigen in der Sondergeneralversammlung am East River darauf hingewiesen, daß die Mittel für den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau der Entwicklungsländer dann jedenfalls gesteigert werden können, wenn es gelingt, die Rüstungen zu begrenzen und den Aufwand für militärische Zwecke einzuschränken. Auch wir Deutsche könnten noch mehr tun, obwohl wir Entwicklungshilfe bereits in beträchtlichem Umfange leisten. Unser inzwischen massiv erhöhter Entwicklungshilfehaushalt beträgt mehr als ein Zehntel unserer Verteidigungsausgaben. Das ist weitaus mehr als in den allermeisten Ländern der Welt. Wenn alle Länder es so einrichten könnten wie wir, ginge es den Völkern in den Entwicklungsländern wesentlich besser.
Besonders die Länder im Osten Europas müssen sich vorrechnen lassen — ich habe das auch in New York getan —, daß sie erheblich, ja daß sie hundertfach hinter den Leistungen der westlichen Staaten zurückbleiben.
Wir haben in diesem Zusammenhang klar zum Ausdruck gebracht, daß wir in den Waffenlieferungen des Ostblocks an die Entwicklungsländer keinen Beitrag zu friedlichen Entwicklungen sehen können. Waffen können keine landwirtschaftlichen Maschinen, keine Düngemittelfabriken, keine Schulen und keine Ausbildungsstätten ersetzen.
Ich wiederhole, was auch dort vorgetragen wurde, daß es schon bisher die Politik der Bundesregierung war, nur in insgesamt geringfügigen Ausnahmefällen Waffen an Staaten außerhalb des Nordatlantischen Bündnisses zu liefern. Dabei soll es auch bleiben. Nach neutralen Analysen haben deutsche Waffenlieferungen an die Dritte Welt nur drei Hundertstel eines einzigen Prozents unseres Sozialprodukts betragen. Nach unseren eigenen Feststellungen betrug dieser Anteil an unserer Gesamtausfuhr zwei Zehntel eines Prozents.Wie der Bundestag weiß, lassen wir Waffenlieferungen in internationale Spannungsgebiete grundsätzlich nicht zu. Wir werden auch in Zukunft den Entwicklungsländern nicht Waffen, sondern vielmehr wirtschaftliche Kooperation anbieten: Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen.
Nur so besteht überhaupt Aussicht, den Abstand zwischen den Ländern der Dritten Welt und den Ländern Europas und Nordamerikas Schritt für Schritt zu verringern.Dabei machen uns die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent Sorgen. Wir haben gemeinsam mit unseren westlichen Verbündeten die Gefahren einer Politik erörtert, welche dort bestehende Instabilitäten ausnutzt. Gespräche, die darüber in Kürze zwischen Vertretern westlicher Staaten unter Einschluß unseres Landes in Paris stattfinden werden, sind Ausdruck solcher Sorge. DieBundesrepublik wird das in ihrer Macht Stehende auch weiterhin tun, um mitzuhelfen, daß Konflikte in Afrika entschärft werden und wir so zur Aufrechterhaltung der Selbständigkeit und der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten beitragen.Ich habe in New York in der UNO sehr deutlich hervorgehoben, daß der Weltfriede nicht nur eine militärische Komponente, sondern auch eine ökonomische und eine soziale Komponente hat. Angesichts des interdependenten Weltzusammenhanges, in dem fast alle Völker leben — die Chinesen in der Volksrepublik China vielleicht relativ am wenigsten — und von dem wir alle abhängig sind, können sich nicht einzelne Staaten oder ganze Gruppen von Staaten dauerhaft eines beträchtlichen Wohlstands erfreuen, während viele andere am Rande des Existenzminimums verbleiben.Ich habe in New York allerdings auch nachhaltig klargemacht, daß die Bundesregierung nicht bereit ist hinzunehmen, daß von ihr mit Kapitalhilfe oder technischer Hilfe unterstützte Länder später oder gleichzeitig in UN-Entschließungen oder anderswo falsche Behauptungen über uns aufstellen,
z. B. falsche Behauptungen über angebliche militärische oder atomare Zusammenarbeit mit Südafrika, oder uns auf andere Weise zu Unrecht kritisieren. Die Position der Bundesrepublik Deutschland ist klar: Uns geht es nicht um den Aufbau von Machtpositionen in der Dritten Welt, für uns sind die Entwicklungsländer ebensowenig ein Feld der ideologischen Auseinandersetzung, sondern wir werden im Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeit und gegenseitiger Verantwortlichkeit unsere humanitäre Zielsetzung weiterhin ,durch praktische Solidarität beweisen, wobei wir allerdings erwarten, daß Solidarität nicht als Einbahnstraße betrachtet wird.Lassen Sie mich jetzt zu den Beratungen und Aktivitäten des Nordatlantikrats einige Sätze des Berichtes anschließen. Das Atlantische Bündnis hat sich in Washington erneut als fähig und willens erwiesen, auch unter den sich verändernden weltpolitischen Gegebenheiten seine Aufgabe zu erfüllen, nämlich das zur Sicherung des Friedens erforderliche Gleichgewicht der Kräfte zu gewährleisten, ohne das politische Stabilität nicht denkbar ist. Das dabei bekräftigte Bekenntnis von Präsident Carter zur Allianz sowie die von allen Partnern bestätigte Strategie der Allianz verdienen besondere Hervorhebung.Ich will dabei nicht verschweigen, daß die Allianz nicht frei ist von internen Problemen. Ich denke dabei an die Süd-Ost-Flanke. Hier gilt es, im Geiste der Bündnissolidarität Lösungen zu finden, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen und zu einer baldigen Wiederherstellung der vollen Verteidigungsfähigkeit in dieser wichtigen Region führen.Wir haben sehr begrüßt, daß unsere Freunde Karamanlis und Ecevit das persönliche Gespräch wiederaufgenommen haben. Wir haben an dieser positiven Entwicklung durchaus keinen nebensächlichen Anteil. Sie waren beide nacheinander hier in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7287
Bundeskanzler SchmidtBonn zu Besuch. Wir haben intensiv mit beidenreden dürfen und das auch in Amerika fortgesetzt.Es bestand in Washington in den Beratungen des Rates Einigkeit darüber, daß nur Verteidigungsfähigkeit plus Entspannungspolitik uns den Frieden sichern können. Dies ist auch Kernaussage einer sehr umfangreichen Analyse der künftigen Entwicklungen im Ost-West-Verhältnis, die, für jene Ratstagung erarbeitet, durch den Rat in Washington verabschiedet worden ist. Ich nehme an, daß sie im Auswärtigen Ausschuß behandelt werden kann.Nach unseren übereinstimmenden Feststellungen bestehen in Europa auch auf konventionellem Gebiet erhebliche Disparitäten, und zwar zugunsten des Warschauer Pakts. Ich habe darüber auch mit den sowjetischen Gästen heute vor drei oder vier Wochen ausführlich gesprochen. Solange diese Disparitäten nicht abgebaut werden, sind wir gezwungen, innerhalb des Bündnisses die erforderlichen Verteidigungsmaßnahmen zur Erhaltung unserer Sicherheit zu treffen.Deshalb hat das Bündnis in Washington in Gestalt eines Langzeit-Verteidigungsprogramms Beschlösse gefaßt, die darauf abzielen, seine Verteidigungsfähigkeit zu verbessern. Die Partner der Allianz sind bereit, dafür weitere Mittel bereitzustellen. Geplant ist ein jährliches reales Wachstum von 3 %. In unserer eigenen mittelfristigen Finanzplanung ist dafür vorgesorgt.Dabei geht es der NATO nicht darum, meine Damen und Herren, mit dem Warschauer Pakt numerisch gleichzuziehen. Vielmehr wird die Stärkung der Vorneverteidigung und der Stärkung der Fähigkeit, wirkungsvoll einer Überraschung zu begegnen, der Vorrang eingeräumt. Ich brauche die Bedeutung dieser beiden Punkte gerade für unser Land nicht besonders zu betonen.Die Bundesregierung hat die Arbeiten an diesem Langzeit-Verteidigungsprogramm von Anfang an nachdrücklich gefördert. Unser Beitrag ist dann in der gemeinsamen Beratung in Washington auch besonders anerkannt worden.Dieses Langzeit-Verteidigungsprogramm koordiniert zum erstenmal die Aktionsprogramme über einen Fünfjahresrahmen hinaus und schafft damit auch neue Möglichkeiten für die rechtzeitige Standardisierung, die Harmonisierung der Waffensysteme — hier hatte in meinem Entwurf ein Wortungetüm gestanden: „Steigerung der Interoperabilität" — und für die gemeinsame Nutzung neuer Technologien.Wir sind mit unseren Bündnispartnern davon überzeugt, daß ein solches kollektives Programm dazu beitragen wird, glaubhafte Abschreckung auch in den 80er Jahren zu gewährleisten. Es werden zugleich davon wichtige Impulse auf die Bemühungen ausgehen, den transatlantischen Rüstungsverkehr, der auch keine Einbahnstraße sein darf, in konkrete Bahnen zu lenken. Präsident Carter hat in Washington erneut seine Entschlossenheit bekundet, auf diesem schwierigen Gebiet Fortschritte zu erzielen.Ich will hier einfügen, daß wir im Nordatlantikrat dem italienischen Volke angesichts der schweren Prüfungen, der Ermordung von Aldo Moro unser Mitgefühl ausgedrückt und der italienischen Regierung und meinem Freunde Andreotti angesichts ihrer Standhaftigkeit unseren Respekt bekundet haben.
Wir waren uns im Rat darüber einig, daß die Bekämpfung der internationalen Geißel des Terrorismus gemeinsam geschehen muß.Übrigens waren die Mitglieder der Bundesregierung während der Reise durch Kontakte mit Bonn und mit Berlin natürlich über die hiesigen aktuellen Vorgänge informiert. Ich habe andererseits auch mit Genugtuung die Festnahmen in Jugoslawien zur Kenntnis genommen. Wir danken dafür den jugoslawischen Sicherheitsbehörden und danken gleichzeitig den Behörden Frankreichs und anderer Länder.
Die Freipressung in Berlin und die dortigen Attentate nach dem Muster der Roten Brigaden in Italien haben uns empört. Ich gehe davon aus, daß das Land Berlin, in dessen Verantwortung die Sicherheit der Strafanstalt Moabit liegt, die Vorgänge rückhaltlos aufklärt und sodann Folgerungen ziehen wird. Ich behalte mir vor, bei der Behandlung dieses Tagungsordnungspunkts im weiteren Verlauf des heutigen Tages dazu Stellung zu nehmen.Die Bündnispartner haben sich in Washington natürlich auch mit den Entwicklungen der letzten Zeit in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes befaßt. Das Bündnis teilt unsere Einschätzung, daß die Situation in und um Berlin insgesamt ohne ernste Störungen war, daß Schwierigkeiten in gewissen wichtigen Bereichen jedoch angehalten haben. Die Bündnispartner haben die bekannten Grundpositionen des Bündnisses zu Berlin bekräftigt, insbesondere das Bekenntnis zur strikten Einhaltung und vollen Anwendung aller Bestimmungen des vierseitigen Abkommens.Am Vorabend des NATO-Gipfels sind, wie üblich, die Außenminister Frankreichs, Englands, der Vereinigten Staaten und unser Außenminister zu ihrem traditionellen Viereressen über Deutschland und Berlin zusammengetroffen. Das Treffen verlief im Geiste der traditionellen Freundschaft. Es erbrachte Einigkeit in allen wichtigen Sachfragen. Die Außenminister der Drei Mächte teilten unsere Bewertung des Besuchs des sowjetischen Generalsekretärs Breschnew in bezug auf Berlin und die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten.Im Mittelpunkt meiner Begegnungen am Rande der Sondergeneralversammlung und des NATO-Gipfels stand — ich sagte es schon - eine ausgiebige partnerschaftliche, freundschaftliche Unterhaltung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Jimmy Carter. Ich habe den Präsidenten über
Metadaten/Kopzeile:
7288 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundeskanzler Schmidtdie Gespräche mit dem Generalsekretär Breschnew unterrichtet. Präsident Carter seinerseits hat mir eine umfassende Unterrichtung über den gegenwärtigen Stand und die Absichten der amerikanischen SALT-II-Gespräche gegeben. Ich habe dabei beim amerikanischen Präsidenten großes Verständnis für die europäischen Sicherheitsinteressen auf dem Felde der Mittelstreckenwaffen gefunden.Wir waren uns, was den vierten Weltwirtschaftsgipfel angeht, der Mitte Juli in Bonn stattfinden wird, einig, daß wir alle miteinander, gemeinsam für mehr Wachstum sorgen müssen, daß die Welt aber auch eine Verringerung der Inflation insgesamt braucht und daß wir in aller Welt mit der Energie sparsamer umgehen müssen, wenn wir bei der Bekämpfung der Zahlungsbilanzungleichgewichte und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit in verschiedenen Ländern Fortschritte erzielen wollen. Wir wollen deshalb in Bonn über die Möglichkeiten sprechen, unsere ökonomischen Politiken zu koordinieren. Wir haben aber auch Übereinstimmung erzielt, daß die längerfristigen strukturellen Probleme, denen sich unsere Volkswirtschaften und die Weltwirtschaft insgesamt gegenübersieht, nicht minder dringlich sind und daß sie unsere volle Aufmerksamkeit und Entschlossenheit erfordern, wenn wir die Grundlagen unseres Wohlstands nicht gefährden wollen. Ich füge hier quasi in Klammern ein, daß ich davon ausgehe, daß insbesondere die kanadische Regierung, der Regierungschef Pierre Trudeau, uns auf diesem Felde einen guten Beitrag auf der Gipfelkonferenz wird leisten können.Zurück zu den Begegnungen in Washington. Es besteht danach gute Aussicht — das erscheint mir wichtig; ich weise insbesondere jene Mitglieder des Parlaments darauf hin, die in einem anderen Gremium an den Vorbereitungen gerade dieses Gesprächsteils beteiligt gewesen sind —, daß sie durch das Nonproliferationsgesetz des amerikanischen Senats ausgelösten Schwierigkeiten zwischen den Vereinigten Staaten und Euratom in Kürze befriedigend gelöst werden können. „Gelöst" bezieht sich auf die Lösung der prozeduralen Streitfragen.Die Begegnung mit Präsident Carter war — ich glaube, ich erwähnte es — durch ein Vier-AugenGespräch mit seinem Sicherheitsbeauftragten Brzezinski vorbereitet worden, der mir unter anderem einen ausführlichen Bericht über seine Gespräche mit der chinesischen Führung gegeben hat, Eindrücke, die das ergänzen und bestätigen, was viele von uns bei eigenen Reisen erfahren hatten. Lassen Sie mich diesen Teil des Berichts mit der Feststellung beenden, daß Atmosphäre und Inhalt des Gesprächs mit dem amerikanischen Präsidenten die solide Partnerschaft zwischen den Regierungen, die enge Freundschaft zwischen beiden Völkern erneut bekräftigt haben.
Ich will gleich ein Wort über mein Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten sagen, aber vielleicht sollte ich hier einfügen: Wenn man so wie gegenüber den Regierungspersonen in Frankreich oder England oder Dänemark oder Holland, Italien,Irland, Luxemburg, Belgien fast jeden Monat Gelegenheit hat, sich in irgendwelchen Ratssitzungen der EG zu treffen, dann ergibt sich dabei zweierlei. Zum einen stehen zwar manchmal die Zeitungen voll von „schärfsten Auseinandersetzungen". Das betrifft dann meistens die Agrarminister. Man hat sich schon an diese „schärfsten Auseinandersetzungen" gewöhnt, weil ja insgesamt doch der Wille zum Kompromiß das Ganze kennzeichnet und jedesmal die Einigung hinterherkommt. Zum anderen führt dann aber diese vielfältige Häufigkeit der Begegnungen in den europäischen Räten eben dazu, daß sich nicht monatelang Konfliktstoffe auftürmen können, die erst dann, wenn es endlich nach einem halben Jahr zu einer Sitzung kommt, der Bereinigung bedürfen, dann aber auch bereinigt werden. Im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika, im Verhältnis zu Kanada gibt es nicht so vielfältige Sitzungen und persönliche Begegnungen. Die sind etwas seltener. Deswegen finde ich es ganz erklärlich, wenn sich da ein bißchen mehr aufhäuft bis zur nächsten Begegnung, aber genauso selbstverständlich ist es, daß es dann — ähnlich wie in den europäischen Räten — bei solcher Gelegenheit bereinigt und in Ordnung gebracht wird.
Dem französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing habe ich für die Hilfe gedankt, welche französische Truppen deutschen Staatsbürgern in Zaire geleistet haben.
Ich habe die positive Haltung bekräftigt, die wir gegenüber den französisch-belgischen Aktionen in Zaire eingenommen haben.Präsident Giscard d'Estaing seinerseits hat mir die französischen Vorschläge für die Abrüstungsmaßnahmen, insbesondere für die von ihm vorgeschlagene Europäische Abrüstungskonferenz erläutert. Ich halte für bedeutsam und will hier festhalten, daß Frankreich diese Konferenz im Rahmen der KSZE-Teilnehmer angeregt hat, d. h. unter Beteiligung der beiden nordamerikanischen Staaten, USA und Kanada.
Insgesamt, meine Damen und Herren — und ich habe vielerlei Gespräche mit anderen weggelassen —, unsere Gespräche der letzten Woche haben bestätigt: Mit unseren Partnern verbindet uns ein Verhältnis des Vertrauens. Dies ist ja auch hier in Deutschland besonders deutlich geworden durch den Besuch der britischen Königin in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie in Berlin. Wir haben ihre Feststellung, daß Großbritannien fest auf unserer Seite und auf der Seite der Berliner steht, mit Genugtuung und mit Dankbarkeit entgegengenommen.
Und ich hatte den Eindruck, der Besuch hat auch der Königin Spaß gemacht.Generalsekretär Waldheim hat uns ganz ausdrücklich für unsere Unterstützung der Vereinten Nationen auf mehreren Gebieten gedankt und da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7289
Bundeskanzler Schmidtbei besonders auch unsere Bemühungen um eine Lösung des Namibia-Problems erwähnt. Entsprechend dem aus diesem Hause immer wieder geäußerten Anliegen habe ich dem Generalsekretär unseren Wunsch auf stärkere Beteiligung von Deutschen in den Stäben der Vereinten Nationen vorgetragen und darf Ihnen berichten, meine Damen und Herren, daß hier Aussichten auf weitere Fortschritte bestehen.
Lassen Sie mich zur abschließenden Bewertung kommen. Diese Reise der deutschen Delegation fügt sich in die Kontinuität unserer Außenpolitik der letzten zehn Jahre nahtlos ein. Einer ihrer tragenden Grundsätze ist, daß Entspannung nötig ist und daß sie ein Gleichgewicht der militärischen Kräfte voraussetzt. Dies habe ich sowohl auf der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in New York als auch beim NATO-Gipfeltreffen in Washington konsequent vertreten. Aber Entspannungspolitik kann nicht nur in Europa betrieben werden. Wer in anderen Regionen, sei es im Nahen Osten, sei es in Afrika, sei es anderswo auf der Welt, auf Konfrontation setzt, der gefährdet das Gleichgewicht und untergräbt das Werk der Entspannung.
Wir haben in Washington mitgeholfen, daß die westliche Allianz ihre jedermann erkennbaren Verteidigungsaufgaben auch in den 80er Jahren und jedenfalls so lange erfolgreich erfüllen kann, bis zwischen Ost und West einvernehmliche Lösungen möglich werden. Wir haben in New York dazu beigetragen, daß der Weg zu einvernehmlichen Lösungen auch beschritten werden kann. Die Politik des Abbaus von Spannungen — das ist unser Ziel, aber nicht nur unser Ziel, es ist der gemeinsame Wille der Allianz, wie er auch erneut im Kommuniqué von Washington zum Ausdruck kommt — muß weitergehen, realistisch, hartnäckig, auch mutig. Wer zur falschen Zeit aufgibt, weil er nicht beim ersten, zweiten oder dritten Anlauf schon vollen Erfolg erlebt, der kann die Gefahr heraufbeschwören, daß wir uns in eine Zeit zurückentwickeln, in der Konfrontationen die Regel waren und in der tiefes Mißtrauen die Lösung von Konflikten fast unmöglich gemacht hat. Auch die beiden Partner bei SALT, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion, geben nicht auf, auch wenn sie im ersten oder zweiten oder dritten Anlauf noch nicht den unterschriftsreifen Erfolg erreicht haben, meine Damen und Herren.Ich darf zusammenfassen. Unsere Gespräche und Verhandlungen haben deutlich gemacht:Erstens. Unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika und zu unseren anderen Verbündeten in der Atlantischen Allianz ist in einer festen und vertrauensvollen Sicherheitspartnerschaft begründet.Zweitens. Gemeinsam erkennen wir die wachsende politische Bedeutung der Länder der Dritten Welt. Wir bejahen sie, und wir bieten den Ländern der Dritten Welt eine faire Partnerschaft an.Drittens. Die Bundesrepublik Deutschland wird in ihrer Arbeit für den Frieden in der Welt überall als ein konstruktiver Partner geachtet. — Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Haus hat die Erklärung der Bundesregierung von dem Herrn Bundeskanzler gehört. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Zimmermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß der Herr Bundeskanzler Regierungserklärungen abgibt, ist sein gutes Recht, auch aus dem Anlaß der ihm für die Darstellung seiner Politik und für seine Selbstdarstellung vorteilhaft erscheint. Wir würdigen durchaus die physische und psychische Leistung,
daß der Herr Bundeskanzler in einem so nahen Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Washington diese Erklärung abgegeben hat.
Auf der anderen Seite haben wir natürlich weder die Regierungserklärung noch die Papiere, die von drüben erst herüberkommen müssen, studieren können. Wir müssen deshalb aus dem Stand und mit Vorbehalt antworten.Ein einziger Satz der Empörung über das, was in Berlin geschehen ist, Herr Bundeskanzler, ist zu wenig.
Es gibt hier keine weiteren Tagesordnungspunkte, bei denen dieses Thema erörtert werden kann. Es ist innerhalb der Regierungserklärung zu erörtern: Also ist es mit dieser Regierungserklärung aufgerufen.Die gewaltsame Befreiung des einsitzenden Terroristen Meyer ist letzten Endes die Frucht einer Politik, die das Notwendige auf dem Gebiet der inneren Sicherheit nicht getan hat und die Hilfe der Opposition gegen die Linken in der SPD sich nicht in Anspruch zu nehmen traute, als es darum ging, Wirksames zu tun.
In Holland, in der Schweiz in Frankreich und jetzt auch in Jugoslawien werden deutsche Terroristen dingfest gemacht. Bei uns kommen sie als offizielle Besucher in eine festungsartig ausgebaute Haftanstalt und holen ihren Genossen heraus.
Die Zeitungen beschäftigen sich ausführlich mit diesem Thema unter der Überschrift: „Koalitionsrücksichten schützen Justizsenator Baumann". Von Allianzverpflichtungen zwischen Bonn und Berlin ist die Rede. Man will den Rücktritt nicht als eine Kette von Rücktritten — vorher Oxfort, vorher Neubauer und jetzt Baumann — erscheinen lassen. Man
Metadaten/Kopzeile:
7290 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Zimmermannbefindet sich wieder einmal in einer Koalitionsklemme. Und wieder einmal sind Koalitionsrücksichten wichtiger als eine Politik der Sicherheit für Berlin.
Herr Bundeskanzler, ein stellvertretender Vorsitzender der SPD kann sich nicht davon freisprechen, wenn alle Welt die Überschrift hat: Berliner SPD stützt Senator Baumann — Stobbe teilte mit, daß die SPD-Fraktion einstimmig beschlossen hat, den Mißtrauensantrag der CDU gegen Baumann zurückzuweisen.Meine Damen und Herren, mit der Deckung, die hier aus Koalitionsrücksichten dem FDP-Justizsenator Baumann durch den Regierenden Bürgermeister Stobbe und durch die SPD gewährt wird, übernehmen Sie — das müssen Sie wissen — die Mitverantwortung für die unglaublichen Fahrlässigkeiten, die im Moabiter Strafvollzug geschehen sind und die nicht auf Unfähigkeit der Justizwachtmeister, sondern auf mangelnden konsequenten Weisungen des Senators Baumann beruhen.
Sonst wäre es ja wohl nicht jetzt, nachher, notwendig gewesen, gleich ein ganzes Bündel von Maßnahmen neu anzuordnen.Diese Mitverantwortung, meine Damen und Herren auch von der SPD, übernehmen Sie gegenüber einem Mann, der am 11. Oktober 1977 im Gastkommentar der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" schrieb, ihm sei das — bekanntlich nur mit Hilfe der CDU/CSU-Fraktion zustande gekommene — Kontaktsperregesetz ein „Anlaß zur Sorge". Er hat dieses Gesetz als nicht erforderlich bezeichnet.Auf welchem Boden dieser Justizsenator Baumann steht und mit welchem geistigen Hintergrund er ausgestattet ist, müssen einige Zitate zeigen, die typisch dafür sind, wer von SPD und FDP in die wichtigsten Positionen für die Gewährleistung der inneren Sicherheit in Land und Bund berufen worden ist.
Herr Baumann sagte am 19. Juli 1976: „Ich würde unter Umständen sogar eine schwächere Reaktion des Staates gegenüber der Anarchoszene in Kauf nehmen."
Er hat hervorragend und richtig prognostiziert.
Er sagte am 16. Mai 1977 — übrigens wiederum in einem „Spiegel"-Gespräch; er war ein sehr häufiger Gesprächspartner des „Spiegel" —: „Seien wir wachsam gerade gegenüber Überwachungsgelüsten." Der Mann kann deutsch, meine Damen und Herren. Er gilt als hervorragender Jurist. Er weiß, was er sagt. Wenn er hier „Gelüste" mit dieser genüßlichen Tonart in Verbindung mit „Überwachung" bringt, dann zeigt er natürlich, daß Überwachung als solche schon etwas Triebhaftes, Lustvolles, jageradezu Perverses ist. Das ist der geistige Hintergrund, der hier in dieser Wortwahl ganz deutlich wird.
Am 26. September 1977 sagte Herr Baumann: „Man darf nicht um geringfügiger, ganz geringfügiger Erfolge willen die Freiheit aller in einem unerträglichen Maße einschränken."
„Die Terroristen wollen ja nur, daß der Staat überreagiert." Fragen Sie doch, meine Damen und Herren, die Bevölkerung draußen, ob sie sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlt durch Maßnahmen der Polizei und der Regierung! Die fühlt sich nur eingeschränkt durch Angst vor terroristischen Überfällen, durch sonst nichts.
Es kommt aber noch besser. Im Dezember 1977 sagte der Justizsenator Jürgen Baumann — nach Hanns Martin Schleyer, wie ich einfügen darf —: „Die größte Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat ist ein Politiker, der glaubt, daß dieser demokratische Rechtsstaat in Gefahr ist."
Was sagt der Justizsenator eigentlich jetzt, da in Berlin nicht nur die Kette an Ausbrüchen, Morden, Freipressungen, sondern jetzt auch Überfälle auf offener Straße à la italienischer Roter Brigaden sozusagen an der Tagesordnung sind, um, offensichtlich erkennbar in einem unmittelbaren Zusammenhang, den Lorenz-Drenkmann-Prozeß platzen zu lassen, weil es keine Verteidiger und dann vielleicht auch keine Richter und am Schluß erst recht keine Angeklagten mehr gibt? Das ist doch die Absicht, die hier verfolgt wird.
Und da soll der Rechtsstaat nicht in Gefahr sein?Ein letztes Zitat. Am 13. Februar 1978 sagte Jürgen Baumann:Mir geht es darum, daß man die Weichen von vornherein richtig stellt und nicht später wieder mit anderen Maßnahmen herumknabbert an der Rechtsstellung des Verteidigers.Auch hier eine Wortwahl wie bei den „Überwachungsgelüsten". Das Herumknabbern am Verteidiger — das heißt in deutsch übersetzt: Jede Untersuchung des Verteidigers, jede Einschränkung, jede Überwachung des Verteidigers wird vom Herrn Justizsenator Baumann als ein Herumknabbern, also als etwas Schlechtes, als etwas Ehrenrühriges, als etwas Widerwärtiges, als etwas nicht Notwendiges empfunden.Meine Damen und Herren, die Sie in Berlin und hier in Bonn Verantwortung tragen, ist es so, wie die „Welt" am 30. Mai schreibt? Sie schreibt:Der FDP-Minister, der angeblich etwas zuvielgegen die Terroristen getan hat, .soll gehen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7291
Dr. Zimmermannund der FDP-Minister, der ersichtlich zuweniggegen die Terroristen getan hat, soll bleiben.Nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen haben vier Frauen — eine freigepreßte und drei aus einer Berliner Haftanstalt ausgebrochene; das war bekanntlich der Grund für den Rücktritt des Justizsenators Oxfort — dem Terroristen Meyer zur Flucht verholfen. Das war möglich, obwohl eine Arbeitsgruppe der Sicherheitsbehörden schon in der zweiten Hälfte 1976 festgestellt hat, daß bei den in der Untersuchungshaftanstalt Moabit inhaftierten politisch motivierten Straftätern die Gefahr von Ausbrüchen und Befreiungsversuchen erfahrungsgemäß besonders hoch zu veranschlagen ist. Wie an diesem Mittwoch, gestern im Rathaus Schöneberg bekannt wurde, hat diese Arbeitsgruppe, der Vertreter der Justizverwaltung, des Innensenators, der Bauverwaltung und der Polizei angehörten, diese Warnung in einem vertraulichen Bericht über bauliche Sicherheitsmaßnahmen in den Berliner Vollzugsanstalten geäußert. Auch die Pforte, durch die jetzt Till Meyer entführt wurde, ist in diesem Bericht namentlich als Sicherheitsrisiko angesprochen worden.
Der Bau jenes Pavillons vor dieser Pforte ist — so liest man es — inzwischen auch von der Justizverwaltung geplant — geplant! —, eineinhalb Jahre, nachdem dieser erschütternde Bericht vorgelegt worden ist.Meine Damen und Herren, man muß leider sagen, Berlins SPD/FDP-Senat hat eine traurige Tradition im fahrlässigen Umgang mit Gewalttätern erreicht.
Es wird aber wohl so sein, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" gestern unter der Überschrift „Der Fall Moabit" schrieb:Berlins Justizsenator Baumann sieht keinen Anlaß, wegen der Moabiter Affäre zurückzutreten. Nach den trüben Erfahrungen mit Hessens ehemaligem Ministerpräsidenten Osswald, der am 3. Oktober 1976 unmittelbar nach Schließung der Wahllokale das Handtuch geworfen hatte, sollte die Auskunft Baumanns wohl vorerst dahin relativiert werden, daß er jedenfalls vor dem Wahlschluß in Hamburg und Niedersachsen am Sonntagabend nicht zurücktritt.Alles das ist schon einmal dagewesen. Meine verehrten Anwesenden,
— meine verehrten Damen und Herren Kollegen, Herr Kollege Wehner, wenn Ihnen diese Anrede besser gefällt — —
— Das haben Sie mir voraus, Herr Kollege Wehner;bei Ihnen gibt es diese Übergänge von Wahlversammlungen zu Bundestagssitzungen nicht, bei Ihnen ist immer Wahlversammlung.
Nun möchte ich zu dem kommen, was .der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zur Abrüstungskonferenz und zur NATO gesagt hat. Auf der Abrüstungskonferenz sind Standpunkte ausgetauscht worden, zum Teil unvereinbare Standpunkte. Dennoch hat eine solche Konferenz ihren guten Sinn. Sie trägt dazu bei, den Gedanken der Abrüstung weltweit zu popularisieren, weltweit ein Klima zu begünstigen, das gegen Wettrüsten und gegen die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen gerichtet ist.In der Tat ist es so, daß anhaltendes Wettrüsten große Gefahren für die Zukunft der Menschheit unvermeidbar heraufbeschwören muß. Es überlastet die jeweiligen Volkswirtschaften und bedroht damit den. Lebensstandard der betroffenen Völker. Damit behindert es auch die Möglichkeiten der Industriestaaten, der noch zu entwickelnden Welt auf die Beine zu helfen, Hunger und Elend einzudämmen und für eine allgemeine, letztlich auch wieder uns zugute kommende Ausbreitung von Wohlstand zu sorgen. Und schließlich beinhaltet fortdauerndes Wettrüsten auch die Möglichkeiten des Anwachsens der Kriegsgefahr.Nur, wer Politik mit dem Ziel der Abrüstung betreiben will, darf nicht den Zusammenhang mit den traurigen Realitäten der Welt, in der wir leben, verlieren. Angesichts des gewaltigen, laufend bedrohlich weiter wachsenden Militärpotentials des Warschauer Pakts, angesichts der expansiven, auf Gewinnung immer neuer maritimer und territorialer Einflußzonen gerichteten Politik Moskaus ist das allererste Gebot, das wir zu befolgen haben, die Sorge um unsere Sicherheit, um die Sicherheit der freien Welt, um die Sicherheit aller Staaten in der Welt, die sich gegen Agitation, Infiltration, Subversion und Aggression wehren wollen.Die Sowjetunion mag im Augenblick an vieles denken; an Abrüstung im vernünftigen Sinne des Wortes, an eine Abrüstung also, die auf Gegenseitigkeit beruht und Gleichgewicht zum Ziel hat, denkt sie jedenfalls gegenwärtig — nicht. Im, Bereich der strategischen Waffen will sie ihr hohes Niveau numerisch halten und qualitativ verbessern. Ihre konventionelle Übermacht in Europa soll bestehenbleiben. Wenn sie nicht gerade den angeblich friedenserhaltenden Charakter der sogenannten „gewachsenen Stärkeverhältnisse" zur Rechtfertigung ihrer Übermacht bemüht, leugnet sie diese, indem sie unter Vorlage falscher Zahlen die ebenso falsche Behauptung aufstellt, Parität sei bereits gegeben.Meine Damen und Herren, ich finde es wirklich unerhört, daß der sowjetische Außenminister Gromyko vor wenigen Tagen, wenige Tage vor der Abrüstungskonferenz, erklärt hat, die Sowjetunion habe seit Jahren in Europa keinen Soldaten und keinen Panzer mehr in das Glacis eingeführt.
Metadaten/Kopzeile:
7292 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Zimmermann— Eine wirklich unerhörte, lügnerische Behauptung!
Und in der sogenannten Grauzone zwischen strategischen und taktischen Kampfmitteln verlangt die Sowjetunion kategorisch westliche Zugeständnisse, während sie ebenso kategorisch eigene ablehnt.Wieder war es Gromyko, der letzte Woche in New York keinerlei Kompromißbereitschaft hinsichtlich ,der SS 20 gezeigt, jedoch ganz aggressiv die Beschränkung der Cruise Missiles auf Flugweiten von 600 und 2 500 km und das totale Verbot der Neutronenwaffe verlangt hat.Abrüstung, meine Damen und Herren, die auf Gegenseitigkeit beruht und Gleichgewicht zum Ergebnis hat, ist für uns — wenn überhaupt — nur dann erreichbar, wenn die Staaten des Westens aus einer Position der Sicherheit, die es ohne Verstärkung ihrer Positionen nicht gibt, an diese Aufgabe herangehen; Schwäche und Unsicherheit erhöhen die Gefahr.Wir begrüßen daher den NATO-Gipfel und seine Ergebnisse ausdrücklich.
Er hat ein realistisches Bild von den gegebenen Bedrohungen gezeichnet, ein Bild allerdings, wie wir es in den letzten Jahren nur noch von uns selber und von bestimmten Experten aufgezeichnet erhielten. Von den meisten verantwortlichen Politikern, vor allem solchen, die hier sitzen, haben wir es nicht aufgezeichnet erhalten. Der NATO bleibt unter den heute gegebenen Umständen gar nichts anderes übrig; als Verteidigungsbereitschaft und militärische Schlagkraft zu erhöhen. Sie darf, wie Carter richtig sagt, ihre Wachsamkeit nicht auf Europa beschränkt lassen. Die sowjetisch-kubanischen Aktivitäten in Afrika gehen uns alle an und fordern uns alle zum Handeln auf, wie es z. B. Frankreich dem Westen in Shaba nun schon zum zweiten Male vorgemacht hat. Wir begrüßen daher das von den Bündnispartnern beschlossene langfristige Verteidigungsprogramm zur Stärkung der Kampfkraft der verbündeten Streitkräfte. Auch stehen wir mit Nachdruck hinter der in der Minister-Richtlinie 1977 aufgestellten Forderung, die finanziellen Verteidigungsplanungen jährlich real um 3 010 zu steigern. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, daß neben den USA die Bundesrepublik Deutschland in hohem Maß zur Steigerung ihres Verteidigungsauftrages verpflichtet ist, und zwar nicht nur, weil wir nach den Vereinigten Staaten die wirtschaftlich Stärksten im Bündnis sind, sondern auch deshalb, weil wir an der Nahtstelle des Bündnisses sitzen und unsere Sicherheit besonders empfindlich ist.
Schließlich begrüßen wir die Erkenntnisse des NATO-Gipfels hinsichtlich der Lage und der Notwendigkeiten in Afrika. Die geplante Konferenz in Paris, auf der die Verbündeten — hoffentlich konkret! — beraten wollen, wie den afrikanischen Staaten gegen Aggressionen von außen verstärkt geholfen werden soll, halten wir nicht nur für gut und richtig, sondern auch für dringend geboten.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ganz allgemein sagen: Wir sind zwar die parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland,
aber wir praktizieren mit Ihnen Gemeinsamkeit dort, wo Sie nach unserer Überzeugung einen richtigen Weg gehen. Sie haben daher in allem, was zu einer Stärkung der NATO und zu einer Stärkung der Verantwortung ihrer Mitglieder führt, unsere volle Unterstützung. Aber gerade weil diese Dinge für uns wichtig, lebenswichtig sind, müssen wir auch auf die Schwachpunkte hinweisen, Herr Bundeskanzler, die Ihre Sicherheitspolitik, Abrüstungs- und Verteidigungspolitik bei aller in gemeinsamen Texten zum Ausdruck gebrachten verbalen Übereinstimmung mit den Bündnispartnern aufweist.Ich will es konkretisieren: Auch Sie, Herr Bundeskanzler, sprechen auf sicherheitspolitischem Gebiet mitunter eine Sprache, die nachdenklich macht.Beginnen wir mit den abrüstungspolitischen Aussagen in der gemeinsamen Erklärung, die Sie zusammen mit Herrn Breschnew kürzlich abgegeben haben. Wörtlich heißt es dort: „Beide Seiten betrachten es als wichtig, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt." Darum, Herr Bundeskanzler, geht es doch in Europa nicht! Die Sowjetunion hat Überlegenheit, und zwar eine ganz erdrückende, und obwohl dies so ist, gestatten Sie eine Formel, die diese Überlegenheit praktisch leugnet.Was soll das Bekenntnis in dieser Erklärung zu den Wiener Verhandlungen über eine Verminderung der Streitkräfte in Mitteleuropa, wenn das Wort „ausgewogen" nirgendwo im Text auftaucht, wenn man eine „annähernde" Parität genügen läßt und damit den Interpretationskünsten Böswilliger Tür und Tor öffnet? Sie wissen doch wie wir, daß nach Moskaus Auffassung „annähernde" Parität schon heute existiert.
— Das hat Gromyko in den Vereinten Nationen ja gesagt.Was muß denn Herr Breschnew aus der Tatsache folgern, daß Sie seine Terminologie übernehmen? Daß Sie etwa alles in Ihrer Macht in Europa Stehende tun werden, um echtes Gleichgewicht zu érreichen? Mit Sicherheit nicht! Er wird sich in seinem Bestreben ermutigt fühlen, schöne Worte statt wirklicher Entspannung zu geben, Worte, wie er sie jetzt in Prag gesagt hat — und das schließt sich würdig an die Aussage seines Außenministers an —, es gebe keine Waffenart — so Breschnew —, zu deren. Einschränkung oder Verbot die UdSSR auf Grund einer gemeinsamen Verabredung und Vereinbarung nicht bereit wäre.Was soll das gemeinsam mit Breschnew abgelegte Bekenntnis zu MBFR, wenn dieser nicht daran denkt, das für uns doch unverzichtbare Prinzip ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7293
Dr. Zimmermannmeinsamer Höchststärken festschreiben zu lassen? Warum bestärken Sie, Herr Bundeskanzler, den sowjetischen Staatschef in diesem Bestreben, indem Sie auf diese Weise das von den Sowjets favorisierte Prinzip nationaler Höchststärken weiterhin in der Diskussion lassen?Nun könnte man Ihre gemeinsame Erklärung insoweit noch als einen Akt der Höflichkeit einem ausländischen Staatsmann gegenüber abtun. Aber dagegen sprechen weitere Einlassungen zu diesem Thema, denn auch dort, wo Sie alleine gesprochen haben, gebrauchen Sie Formeln, die in Moskau gut klingen. So verrieten Sie dem Bonner „General-Anzeiger" kurz vor Ihrer Reise nach New York, daß man bei MBFR — so wörtlich — auf „letzte Akkuratesse" verzichten könne. Ein schönes Wort - als ob nicht auch Sie wüßten, welche schwerwiegenden Nachteile Deutschland schon einmal durch einen bewußten Verzicht auf Akkuratesse, wie ihn Ihre Parteifreunde Brandt und Bahr bei Aushandlung und Abfassung der Ostverträge praktiziert haben, eingehandelt worden sind.
In New York haben Sie wiederum zweideutig formuliert. Ihre Formel, wonach in der militärischen Rüstung die Parität insgesamt hergestellt werden müsse, kann leider auch so ausgelegt werden, daß in Europa dann keine konventionelle Parität gegeben sein müsse, wenn zwischen den beiden Bündnissystemen nur insgesamt, also bei Hinzurechnung auch aller atomaren Möglichkeiten, Parität besteht — ein gefährlicher Gedankengang, der der Aufklärung bedarf.Auch müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, was Ihre in New York aufgestellte These bedeuten soll, daß sich das Gleichgewicht auch auf den wirtschaftlich-sozialen Bereich erstrecken soll. Heißt das in verklausulierter Form etwa, daß den Sowjets zum Ausgleich für die größere Wirtschaftskraft des Westens ein Fortbestehen ihres militärischen Potentials in Europa zugestanden werden soll? Oder was sonst heißt diese zweideutige Formel?Solche Zweideutigkeiten, Herr Bundeskanzler, belasten das Bündnis insbesondere mit den Vereinigten Staaten. Auch bestärken Sie damit die sowjetische Führung in der Hoffnung, weder durch SALT II noch durch MBFR oder eine andere Abrüstungskonferenz ihre derzeitige Positionen, die auf den Erhalt bestehender und auf die Schaffung neuer Übergewichte abzielen, in Frage stellen zu müssen.Es gibt aber, Herr Bundeskanzler, bei Ihnen nicht nur Zweideutigkeiten, es gibt auch nicht akzeptable Eindeutigkeiten, so wenn Sie im Vorfeld des NATO-Gipfels im amerikanischen Fernsehen behauptet haben, die Neutronenwaffe werde zum gegenwärtigen Zeitpunkt innerhalb der NATO noch nicht gebraucht. Herr Bundeskanzler, diese Waffe wird genau jetzt gebraucht, denn jetzt besteht die erdrükkende Überlegenheit sowjetischer offensiver Panzerdivisionen, zu deren wirksamer Bekämpfung diese Waffe ein besonders geeignetes Mittel ist.
Sie haben dem amerikanischen Präsidenten vor dem Gipfel eine Lektion erteilt. Politik, sagten Sie, müsse berechenbar sein. Auch wir sind dieser Meinung. Wir folgen Ihnen, wenn Sie sagen, wenn Sie sagten — jetzt nach dem großen Treffen ist alles natürlich Jubel, Trubel, Heiterkeit —, daß die Politik der USA in den letzten Jahren auf einer Reihe von Gebieten unsicher, unentschlossen, ja, zum Teil verworren erschien. Dies gilt für finanzpolitische und wirtschaftliche Fragen ebenso wie für SALT II. Dies gilt auch für Afrika. Aber nicht nur die Politik der USA sollte eindeutig und berechenbar sein, Herr Bundeskanzler, sondern auch die Ihre.
Die Sowjetunion, aber auch Kuba und die DDR betreiben seit langer Zeit einen Abrüstungsverbalismus, der in Wirklichkeit expansive Ziele verfolgt.
Mein Kollege Alois Mertes hat vor wenigen Tagen mit Recht geäußert, für Moskau bedeute Entspannung in Deutschland und Osteuropa Verhinderung der Menschenrechte, während für Bonn und den Westen Entspannnung Durchsetzung der Menschenrechte heißen müsse. Dieser Gegensatz von Interessen und Überzeugungen darf nicht in einem Entspannungsnebel verschwinden, wo die Worte eine ganz andere Wirklichkeit ausdrücken, als sie verbal sagen. Wir müssen immer wieder ungeschminkt unsere Auslegung von politischen Schlüsselbegriffen wie Sicherheit, Gleichheit, Parität und Entspannung exemplarisch erläutern.
Das deshalb, weil die Ausdrucksweise auch der Deklaration zwischen Breschnew und Ihnen, Herr Bundeskanzler, vom 6. Mai 1978 einen Eindruck von Übereinstimmung in der Sache vorgibt, zu dem man festhalten muß, daß Vorstellungen von Harmonie, die in Wirklichkeit nicht besteht, einer wirklichen Friedenssicherung nur schaden können.Seit den Jahren des Beginns der Koalition von SPD und FDP haben wir innenpolitisch einen Linksruck und außenpolitisch eine neue deutsche Ostpolitik zu verzeichnen, wie sie auch im Ausland klassifiziert worden ist, eine Politik, die im wesentlichen jahrelang erhobenen westpolitischen Forderungen Moskaus entgegenkam und damit eine wesentliche politische und juristische Positionsverbesserung der Sowjetunion gegenüber Deutschland und Westeuropa mit sich gebracht hat.
Die Regierungskoalition ist heute zu einem guten Teil Gefangene dieser Politik geworden. Um nicht offenkundig zu machen, daß die von Anerkennung, Vorleistung und Verzicht erhoffte Entspannung nicht eingetreten ist, um also das Scheitern dieser Politik nicht eingestehen zu müssen, tut die Bundesregierung manches, was sie vielleicht in Wirklichkeit gar nicht will, nur um Moskau bei Laune zu halten.
So wagt man doch heute nicht einmal, das bescheidene Viermächteabkommen voll auszuschöpfen, ob-
Metadaten/Kopzeile:
7294 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Zimmermannwohl diese banale Selbstverständlichkeit der „vollen Anwendung" dieses Abkommens erst jüngst wieder bekräftigt wurde.
Der Herr Kollege Wehner hat gegenüber Moskau erklärt, das Viermächteabkommen sei in der Vergangenheit von uns häufig „bewußt fehlerhaft" gehandhabt worden.Wie stolz war die Bundesregierung auf die menschenrechtliche Seite der KSZE-Schlußakte von Helsinki. Aber als es galt, in Belgrad Nägel mit Köpfen zu machen, hat man regierungsamtlich gesagt, daß die Politik der Durchsetzung der Menschenrechte selbstverständlich keine antikommunistische Stoßrichtung bekommen dürfe.Auch in der Politik gegenüber Afrika war die Politik der Bundesregierung im Zwielicht. Als ob es die für uns lebenswichtige Kaproute nicht gäbe, als ob im südlichen Afrika keine Deutschen und Deutschstämmigen lebten, hat die Bundesregierung bislang dort Bestrebungen begünstigt, die den Interessen der Deutschen, Deutschstämmigen und Europäer diametral entgegengesetzt waren und die darüber hinaus auch für die Stämme der schwarzen Bevölkerung keineswegs das Heil bedeuten würden, sondern neues Unrecht bei gleichzeitiger Verelendung im ökonomischen Bereich brächten.
Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang muß Ihr Interview mit „Newsweek" angesprochen werden. Vier Stunden lang waren Sie mit einem Journalisten zusammen, der dann eine flagrante Indiskretion begangen hat. War es wirklich eine echte Indiskretion, oder war sie vielleicht diplomatisch gewollt? Auch diese Frage muß erlaubt sein, wenn aus dem Interview, seiner Urfassung und seiner verlautbarten Fassung so offenbar unterschiedlich hervorgeht, wie weit Sie die sowjetische Führung schonen wollten. Wenn Sie sich bei dieser Passage ungerecht behandelt vorkommen sollten, dann werden Sie doch bitte deutlicher! Sagen Sie ja, und sagen Sie nein, wenn Sie dieses oder jenes meinen! Bei der Neutronenwaffe haben Sie sehr wohl die Bedeutung gerade für Mitteleuropa und insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland erkannt. Sie haben nicht für diese Waffe optiert, Sie haben sie mit der fadenscheinigen Begründung von sich weggeschoben, daß hier eine ausschließliche Zuständigkeit des amerikanischen Präsidenten vorliege. Dabei haben die Vereinigten Staaten auf ein Votum ihrer Partner in Europa, insbesondere auf Ihr Votum, gewartet.
Wir wissen, Herr Bundeskanzler, daß das Zwielichtige, das in Ihrer Politik so oft sichtbar wird, nicht allein Eigenbau ist. Wir wissen, daß Sie unter dem Druck der Herren Bahr und Brandt und des breiten linken Randes Ihrer Partei und Fraktion stehen. Es gibt immer mehr selbsternannte Außenminister, die dem. eigentlichen Regierungschef und Außenminister nach Moskau und Washington jeweils voraus- oder hinterherfahren, offenbar um daszu sagen, was wirklich Sinn der deutschen Politik ist.
Wir wissen, daß diese drei Gruppen von Personen Sie dazu verurteilen, taktisch zu lavieren, und davon abhalten, die Richtlinien der von Ihnen erkannten Politik wirklich zu bestimmen.
Die Linksaußen Ihrer Partei haben in vielen Fragen das Heft in der Hand, Herr Kollege Wehner. Das ist leicht zu merken, das weiß die ganze Öffentlichkeit. Neuerdings haben die gleichen Personen, die ich soeben genannt habe, das Heft beim Radikalenerlaß in die Hand genommen, bei der Antiterrorgesetzgebung haben sie es nie aus der Hand gegeben, und beim Recht der elterlichen Sorge steht uns eine neue, von den Eltern in diesem Land flagrant abgelehnte Einmischung des Staates in die Familie unmittelbar bevor.
Ich habe in diesem Zusammenhang sehr eingehend die positiven Seiten der Abrüstungsdebatte und des NATO-Gipfels herausgestellt. Ich wiederhole, daß wir zur Zusammenarbeit auf diesen existentiell wichtigen Gebieten bereit sind. Wir suchen die Kooperation innerhalb des Bündnisses auch gegenüber den Verhandlungspartnern von MBFR und SALT, aber nicht auf der Basis der Ungleichheit, sondern auf der Basis der Gleichheit. Wir suchen eine Entspannung, bei der wir die Teilung nicht verfestigen und unsere eigene Freiheit nicht riskieren wollen, sondern die unsere Freiheit sichert und die Freiheit der übrigen Deutschen wiederherstellt.
Solange das Ost-West-Verhältnis — das ist leider immer noch der Fall — von sowjetischer Hochrüstungspolitik und weltweiter Einflußstrategie geprägt bleibt, solange es genauso wie die Analyse ist, die auf dem Washingtoner Gipfel gegeben wurde, solange muß unsere Wachsamkeit der Freiheit und nur der Freiheit gelten, wie hoch ihr Preis auch sein mag!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fand die Einleitung von Herrn Kollegen Zimmermann bemerkenswert für die Einschätzung des NATO-Gipfels und der UNO-Generalversammlung durch die Opposition. Sie halten das offenbar für zweitrangige Ereignisse, verglichen mit Ihres Versuch, Herr Dr. Zimmermann, hier Berliner Abgeordnetenhaus zu spielen — und das auch nur, weil am nächsten Sonntag zwei Landtagswahlen vor der Tür stehen.
Es hat Sie offenbar noch nicht einmal nachdenklich gemacht, daß den Terrorakten in Berlin die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7295
Dr. Ehmkegleiche Zeitplanung zugrunde liegt, daß diese Terrorakte ebenso auf den Termin der Landtagswahlen zielen. Sie steigen vielmehr in diese Zeitplanung ein und sprechen dann von der Solidarität der Demokraten.
Was Sie zu den Fragen der Abrüstungs- und Entspannungspolitik gesagt haben, zeichnete sich zunächst dadurch aus, daß Sie offenbar die letzte Rede, die Herr Kollege Strauß hier im Hause gehalten hat, nicht mitbekommen haben — oder sie ist wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Zum Teil, Herr Dr. Zimmermann, haben Sie hier in der Tonart des Kalten Krieges gesprochen,
in dem Sie offenbar immer noch ein goldenes Zeitalter sehen, in dem es für die Unionsparteien leicht war, mit simplen antikommunistischen Parolen satte Mehrheiten zu kriegen. Aber die Zeiten sind vorbei.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchte ich dem Herrn Bundeskanzler für seine heutige Regierungserklärung danken.
Wir möchten ihm dafür danken, daß er in New York vor der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen, die auf eine Initiative der blockfreien Nationen zurückging, unsere Vorstellungen zu den ebenso lebenswichtigen wie schwierigen Themen der Abrüstung entwickelt und den Friedenswillen unseres Volkes in feierlicher Form bekräftigt hat. Der Bundeskanzler hat auf der NATO-Gipfelkonferenz in Washington unseren Willen zur Verteidigung wie zur Entspannung bekundet und hat diese beiden Seiten unserer Politik in dem Wort von der politschen Sicherheitspartnerschaft zusammengefaßt.Er hat den Zusammenhang von Sicherheits-, Ent-spannungs- und Wirtschaftspolitik ebenso dargelegt wie den Zusammenhang von Abrüstung und verstärkter Kooperation mit der und für die Dritte Welt. Er hat dabei in New York wie in Washington dieselbe Sprache gesprochen. Er hat damit für unsere Politik der engen Zusammenarbeit im. Bündnis und des Entspannungsbemühens gegenüber dem Osten auf der Basis eines politischen, strategischen und militärischen Gleichgewichts zusätzliche Glaubwürdigkeit gewonnen.Meine Damen und Herren, dies ist besonders in einer weltpolitischen Situation wichtig, in der die Fortführung der Entspannungspolitik auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen und die Skepsis gegenüber ihren Möglichkeiten in Ost und West offensichtlich gewachsen ist.Das ist ein bedrückender Vorgang; denn wie auch Herr Kollege Strauß in seiner bedeutenden Rede vom 11. Mai an dieser Stelle ausgeführt hat — im Gegensatz zu Herrn Zimmermann haben wir das noch nicht vergessen —, kann man zwar über dieWege der Entspannung verschiedener Meinung sein, aber es gibt, wie auch Herr Strauß gesagt hat, keine Alternative zur Entspannung. Der Vergleich mit der Alternative von Leben und Tod, den Herr Kollege Strauß in diesem Zusammenhang herangezogen hat, war tiefgründiger, als dem Kollegen Strauß bewußt gewesen sein mag. Wie Bundespräsident Heinemann einmal gesagt hat: Im Zeitalter der Atomwaffen gibt es jenseits des Friedens keine Existenz.Wenn diese Tatsache zwischen uns unbestritten ist — und das ist in diesem Hause offenbar der Fall —, dann wäre es doch töricht, die Möglichkeiten wie die Schwierigkeiten der Entspannungspolitik zum Gegenstand kurzatmiger Überlegungen oder gar Polemiken zu machen. Auch Landtagswahlen rechtfertigen nicht, mit den Lebensinteressen unseres Volkes so umzugehen.
In der öffentlichen Diskussion sind viele Gründe dafür genannt worden, warum die Entspannungspolitik auf Schwierigkeiten gestoßen ist: der Übergang von der Phase des politischen Durchbruchs zum mühseligen Alltag des Interessenausgleichs und der Kooperation bei grundsätzlichen Gegensätzen der Gesellschaftsordnungen; die Enttäuschung der Sowjetunion über die — gerade in der Wirtschaftskrise — weit hinter ihren übertriebenen Erwartungen zurückgebliebene wirtschaftliche Kooperation mit dem Westen; das Mißtrauen der Sowjetunion gegenüber den Absichten der Vereinigten Staaten angesichts etwa des Jackson-Amendments zum sowjetisch-amerikanischen Handelsvertrag sowie angesichts der Menschenrechtskampagne und der geänderten Abrüstungsstrategie der neuen amerikanischen Administration.Das Mißtrauen des Westens gegenüber den Absichten der Sowjetunion ist auch gewachsen angesichts der forcierten Rüstungsbemühungen der Sowjetunion, angesichts ihrer Interventionen in Afrika und angesichts ihrer Behandlung von Dissidenten. Es hat auf beiden Seiten mißtrauensbildende Maßnahmen gegeben, während man gleichzeitig in anderen Bereichen um vertrauensbildende Maßnahmen verhandelt hat. Solche Rückschläge mögen bei den grundsätzlichen Unterschieden der beiden Systeme unvermeidbar sein. Unser Lebensinteresse gebietet es, dafür zu sorgen, daß sie nicht zu einer neuen Form von Kaltem Krieg zurückführen.Was waren eigentlich die entscheidenden Motive dafür, daß es in Ost und West überhaupt zur Entspannungspolitik kam? Im Westen zunächst die Einsicht, daß die Politik des Kalten Krieges, des „Roll back", die „Politik der Stärke" gescheitert war mit dem Durchdenken der Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten, einen Atomkrieg zu führen; insbesondere nach dem Anschauungsunterricht der Berlin-Krise von 1961 und der Kuba-Krise von 1962 setzte sich die Einsicht durch, daß Sicherheit nur im Frieden zu erreichen ist und dieser nur in einem Interessenausgleich der ideologisch so unterschiedlichen Blöcke gefunden werden kann.Im Osten, speziell in der Sowjetunion war das Jahr 1956 in diesem Zusammenhang von besonderer
Metadaten/Kopzeile:
7296 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. EhmkeBedeutung. Der XX. Parteitag der KPdSU mit dem Geheimreferat Chruschtschows über die Verbrechen Stalins setzte einen Prozeß der Entstalinisierung in der Sowjetunion und in den osteuropäischen Ländern in Gang. Das Jahr 1956 sah dann aber auch die Aufstände in Polen und in Ungarn. Ein Motiv der Entspannungspolitik für die sowjetische Seite mag daher wohl gewesen sein, sich für die Sicherung ihres Glacis in Osteuropa nicht nur auf Panzer stützen zu müssen, sondern durch die Politik des Gewaltverzichts und der wirtschaftlichen Kooperation im nationalen wie im wirtschaftlichen Bereich die innere Lage jener Länder und zugleich den Einfluß der Sowjetunion in diesen Ländern zu stabilisieren. Das wirtschaftliche Interesse bestand auch für die Sowjetunion selbst, in der ein überaltertes bürokratisches Wirtschaftssystem zwar militärische und zivile Großprojekte ermöglicht, aber den technologischen Vorsprung des Westens nicht aufgeholt und die Probleme der allgemeinen Hebung des Lebensstandards nur sehr begrenzt gelöst hatte.Die sowjetischen Militärs schließlich waren für den Gedanken einer Entspannung gegenüber dem Westen wohl vor allem darum zu gewinnen, weil sie die Lage der Sowjetunion gegenüber der Volksrepublik China im Auge hatten.Unsere eigenen Motive deckten sich mit denen des Westens, ohne sich in diesen zu erschöpfen. Für die deutsche Politik kam es auch darauf an, sich nicht zwischen die Stühle zu setzen, zu verhindern, daß Entspannung zwischen den Großmächten auf unsere Kosten getrieben werden würde. Es war eine Politik, die die Bundesrepublik vor drohender außenpolitischer Isolierung bewahrte, eine Politik des Realismus und zugleich eine Politik der wahren Stärke, da sie keine Berührungsangst mit dem Kommunismus hat; eine Politik, die sowohl unter europäischen wie unter deutschen Gesichtspunkten in der Zunahme des Handels, des Austauschs, der Kontakte und der immer dichter werdenden Beziehungen zwischen West und Ost keine Gefahr, sondern eine Chance sieht; eine Politik, die versucht, aus der Sondersituation der deutschen Teilung insofern eine Tugend zu machen, als sie die Bundesrepublik als Vorkämpfer der Entspannung zum Vorkämpfer eines Europa macht, in dem die Deutschen in ihren beiden Nachkriegsstaaten zunächst einmal wenigstens wieder in ein vernünftiges nachbarschaftliches Verhältnis miteinander kommen können.Die Erfolge dieser Politik sind heute unter objektiv Urteilenden unbestritten: die zwar langsame, aber fortschreitende Normalisierung unseres Verhältnisses zur Sowjetunion, zu den osteuropäischen Staaten, zur DDR; die Verbesserung der Lage West-Berlins durch das Viermächteabkommen; die humanitären und kooperativen Fortschritte im Gefolge der KSZE, übrigens auch der Belgrader Konferenz, von der der amerikanische Außenminister vor kurzem mit Recht gesagt hat, daß sie positive Wirkungen entfaltet habe, lange bevor sie zusammengetreten war.Trotz dieser Fortschritte steht die Entspannungspolitik aus den obengenannten Gründen heute vorSchwierigkeiten, und nicht nur das. Sie steht zugleich vor einer besonders kritischen Schwelle: Sie muß entweder in Form der Rüstungskontrolle und der Rüstungsreduzierung auch auf das engere militärische Gebiet übergreifen oder aber die Entspannungspolitik — und damit auch die Möglichkeiten eines wahren Fortschritts im Nord-Süd-Verhältnis — drohen am weltweiten Wettrüsten und an der mit ihm verbundenen Vergeudung wichtiger Ressourcen zu scheitern.
Es scheint mir wichtig zu sein, in dieser Situation nicht zu polemisieren, sondern zu prüfen, ob denn die ursprünglichen Motive für die Entspannungspolitik, ob sich die Interessenlage, der sie entsprang, in Ost und West, geändert hat oder nicht. Ich bin der Meinung, daß das nicht der Fall ist.
Beide Seiten wissen heute noch besser als vor fünfzehn Jahren, daß ein Atomkrieg das voraussichtliche Ende ihrer Völker wäre, denn die Bedrohung mit der Katastrophe ist inzwischen noch größer geworden. Der Westen ist im ganzen mit der Entspannungspolitik gut gefahren. Der Ostblock hat zwar militärisch den großen Vorsprung der Vereinigten Staaten auf strategisch-nuklearem Gebiet im wesentlichen aufzuholen vermocht — darauf komme ich noch zurück —, aber wirtschaftlich und technologisch hat der Westen seinen Vorsprung eher noch ausgebaut, und ideologisch war die Sowjetunion seit dem zweiten Weltkrieg noch nie derart in der Defensive, und zwar auch im eigenen Lager des Weltkommunismus, wie sie es heute ist.Die Sowjetunion steht heute in Osteuropa vor keinen geringeren Problemen als früher. Und diese Probleme sind jedenfalls auf Dauer noch weniger als früher mit Panzern zu lösen. Die Sowjetwirtschaft bricht ohne Transfer von westlichem Know-how und Kapital sicher nicht zusammen, aber zumindest das Tempo der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Sowjetunion wird von Umfang und Art dieses Transfers nicht unwesentlich bestimmt. Herr Kollege Strauß ist neulich weiter gegangen und hat sogar davon gesprochen, daß für die Sowjetunion „ein wirtschaftlicher Zwang zur Zusammenarbeit mit dem Westen aus technisch-industriellen Abläufen heraus" bestehe. Eine etwaige Erwartung der Sowjetführung, durch diese wirtschaftlich-technische Kooperation mit dem Westen der Notwendigkeit einer Reform ihres Wirtschaftssystems enthoben zu werden, wird sich dabei meines Erachtens allerdings nicht erfüllen.Was schließlich die Volksrepublik China betrifft, so ist diese nicht schwächer und ihr Verhältnis zur Sowjetunion nicht besser geworden. Die Reise des Generalsekretärs der KPdSU an die chinesische Grenze zeugt davon ebenso wie die Hinweise von sowjetischer Seite, die sich bei der Diskussion der Waffen der Grauzone häufen werden, daß die Sowjetunion schließlich eine zweite, eine sehr lange zweite Grenze habe. Dies ist ein zentraler politischer und militärischer Faktor der Weltpolitik, der aber selbst für China-Reisende der CSU/CDU kein Anlaß sein sollte, in Peking antisowjetische Stammtischsprüche zu klopfen, wie es Herr Kollege
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7297
Dr. EhmkeZimmermann getan hat. Politisch seriöse China-Reisende werden bei den Gesprächen in Peking nicht vergessen, daß sie es dort mit einer politischen Führung zu tun haben, die zwar China wirtschaftlich der Welt gegenüber zu öffnen beginnt, die aber immer noch am Dogma von der Unvermeidbarkeit eines dritten Weltkrieges festhält, die also die Schwelle zu einer weltweiten Politik der Koexistenz noch nicht überschritten hat.
Das sowjetische Interesse an der Entspannungspolitik ist also sicher nicht schwächer geworden, sondern ganz im Gegenteil. Man mag einwenden, dies möge zwar objektiv richtig sein, wer aber könne garantieren, daß sich die sowjetische Führung subjektiv gemäß dieser objektiven Interessenlage verhalten werde.Das führt mich zu einer der zentralen Fragen in der Auseinandersetzung um die Entspannungspolitik, die heute in den Vereinigten Staaten wie in unserem Land geführt wird. Einer der erfahrensten Experten der Vereinigten Staaten in Sachen Sowjetunion, George F. Kennan, hat in einem bemerkenswerten Artikel in der „Washington Post" vom Dezember 1977 darauf hingewiesen, daß die militärisch-technische Diskussion zu komplex sei, um zuverlässige Anhaltspunkte für die notwendigen politischen Entscheidungen liefern zu können. Wenn ich einen Ausdruck von Oliver Wendel Holmes aus dem juristischen Bereich in den militärischen Bereich transponieren darf, möchte ich sagen: Die Politik muß vor der vielleicht trügerischen Exaktheit militärtechnischer Analysen auf der Hut sein.Kennan weist darauf hin, daß es eine viel tiefere Frage sei, die dem Streit um die Entspannungspolitik zugrunde liege, nämlich die Frage, welche Auffassung wir von der sowjetischen Führung haben und von den Bedingungen, unter denen sie handeln muß. Die eine Meinung sieht, wenn ich hier mit Kennan übertreiben darf, in der sowjetischen Führung eine Gruppe von Unholden, die frei von allen innenpolitischen Problemen nur auf das eine aus sind, nämlich den freien Westen zu ruinieren und zu unterdrücken. Nach der anderen Meinung handelt es sich bei der sowjetischen Führung um ziemlich normale Männer, die zwar in gewissem Sinne Opfer ihrer eigenen Ideologie sind, die andererseits aber doch nur so handeln, wie eben verantwortliche Menschen einer Großmacht im technologischen Zeitalter zur Wahrung ihrer eigenen Interessen zu handeln pflegen. Diese Meinung hält die Sowjetunion für eine sehr konservative, vielleicht die konservativste Führung, die irgendwo heute in der Welt regiere, ziemlich fortgeschritten im Lebensalter, auf das Ende ihrer politischen Karriere zugehend und daher allen anderen zugeneigt als schnellen Abenteuern. Diese Männer teilten mit dem Rest der Welt das Entsetzen über einen atomaren Krieg und seien im wesentlichen mit der Wahrung ihrer bestehenden politischen Macht und ihres bestehenden politischen Einflusses in der Welt beschäftigt
— ich komme dazu noch —; es seien Männer, deren Motivation im wesentlichen defensiv sei, wie sich auch auf der Belgrader Konferenz gezeigt hat — die defensive Rolle der Sowjetunion dort hat der Kollege Kohl neulich mit Recht hervorgehoben —, und es seien Männer, die vor großen wirtschaftlichen und innenpolitischen Problemen der weiteren Entwicklung der Sowjetunion stünden.Ich möchte für mich keinen Zweifel daran lassen, daß die zweite Betrachtungsweise den Tatsachen sehr viel näher kommt als die erste. Auch Herr Strauß scheint nun diese Auffassung zu teilen. Seine Worte über die Friedensliebe des russischen Volkes und seines Staatspräsidenten unterschieden sich jedenfalls wohlwollend vom traditionellen Vokabular der deutschen Rechten.
Es scheint mir eine der wesentlichen Aufgaben unserer Diskussion zu sein, jenseits von Zerrbildern, wie sie in Deutschland noch von der NS-Propaganda mit herrühren,
und von* Wunschbildern, wie die prokommunistische Propaganda sie verbeitet, ein realistisches Bild der Sowjetunion zu gewinnen und mit zur Grundlage unserer Politik zu machen.
Es gibt ein historisch begründetes Mißtrauen der Sowjetunion gegenüber dem Westen, und es gibt ein legitimes Sicherheitsinteresse der sowjetischen Führung gegenüber dem Westen wie unserer Führung gegenüber dem Osten. Es gibt aber auch ein Interesse der Sowjetführung, ihre eigenen wirtschaftlichen und innenpolitischen Probleme besser zu lösen, durch Entspannung im militärischen Sektor gegenüber dem Westen, Ressourcen freizumachen für die Entwicklung des Lebensstandards in der Sowjetunion und im Ostblock.
Das heißt nicht, daß die Sowjetführung sich je für den inneren Lebensstandard gegen die äußere Sicherheit entscheiden könnte, es heißt aber wohl, Herr Kollege Mertes, daß es zu einer klugen Politik des Westens gehören muß, das Interesse der Sowjetunion an einer Entspannungspolitik, an einer Begrenzung der Rüstung, die ihr Mittel freigibt für die binnenwirtschaftliche Entwicklung ihres eigenen Landes, wachzuhalten und zu fördern. Dies muß eine der zentralen Aufgaben westlicher Politik gegenüber dem Osten sein.
Herr Kennan hat dabei übrigens mit Recht darauf hingewiesen, daß es insoweit der Westen zum Teil auch selbst mit in der Hand hat, die Haltung zu beeinflussen, mit der eine neue sowjetische Führung, die in den nächsten Jahren ja unvermeidlich ist, dem Westen gegenübertreten wird. Die Analyse George
Metadaten/Kopzeile:
7298 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. EhmkeF. Kennans wird meines Erachtens durch die Ergebnisse des Breschnew-Besuchs in Bonn bestätigt. Die sowjetische Führung hat in der politischen Deklaration wie mit ihrer Unterschrift unter ein auf 25 Jahre angelegtes wirtschaftliches Kooperationsabkommen — in beiden Dokumenten ist West-Berlin einbezogen — ihr tiefes eigenes Interesse an der Fortführung der Entspannungspolitik bekundet. Sie hat gleichzeitig zum ersten Mal in einer Ost-West-Erklärung die Feststellung unterschrieben, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebe und daß annähernde Parität und Gleichheit zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen.Kollege Zimmermann, ich verstehe Ihre Kritik an dieser Formulierung nicht. Die Worte von der approximate parity sind Worte, die 1973 von der NATO in die MBFR-Verhandlungen eingeführt wurden. Sie haben doch selbst gesagt, daß die Sowjetunion früher davon sprach, daß das bestehende Übergewicht zu ihren Gunsten ein friedenserhaltender Faktor sei. Davon sind wir weg. Wir sind jetzt jedenfalls bei der gleichen Sprache. Die Sorge, daß wir damit etwas anerkennen, was nicht unseren Interessen entspricht, ist doch darum überflüssig, weil die Datendiskussion ja noch fortgeführt und abgeschlossen werden muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Gerne.
Herr Kollege Ehmke, besteht das Problem nicht darin, daß die Sowjetunion zwar jetzt auf die Vokabel „Parität" eingeschwenkt ist, daß sie aber inhaltlich unter der Parität etwas ganz anderes als der Westen versteht, und ist die Wiener Zahlendiskussion nicht deshalb ein so hochpolitisches Thema?
Herr Kollege Mertes, ich bin der Meinung, daß mit der Übernahme der gleichen Worte noch nicht unbedingt schon die Einigung in der Sache gefunden sein muß. Aber Sie können mir doch sicher darin zustimmen, daß es ein Fortschritt ist, wenn sich beide nun den gleichen Maßstab für ihre Politik zu eigen machen und wenn die Diskussion jetzt nicht mehr um zwei verschiedene Maßstäbe geht, sondern über die Frage, was dieser eine Maßstab konkret bedeutet.
Hätte die Sowjetunion nicht den Willen, diese Diskussion zu führen, wäre es unverständlich, daß sie sich zu meiner und Ihrer großen Überraschung überhaupt auf die Datendiskussion eingelassen hat. Denn das war ja ein sehr erfolgreicher Durchbruch auf dem Gebiet der Abrüstung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Zimmermann?
Ja, bitte.
Herr Kollege Ehmke, glauben nicht auch Sie, daß zwischen der gemeinsamen Verwendung einer Vokabel wie Parität oder annähernde Parität und dem, was Gromyko — ich habe ihn zweimal zitiert — und was Breschnew gesagt haben — wovon wir beide wissen, daß es die Unwahrheit über die wirkliche Zahl der Panzer und Soldaten in Europa ist —, daß also zwischen diesen beiden Verbalismen ein ungeheurer Unterschied ist, der erst durch ganz konkrete lange Verhandlungen ausgefüllt werden muß und bei dem man jedenfalls sehen muß, daß es ein riesiger Unterschied ist?
Natürlich muß das gemeinsam Erklärte durch lange Verhandlungen ausgefüllt werden. Das sehen wir wie Sie. Wir wären dankbar, wenn Sie uns dabei unterstützen würden. Dann kämen wir vielleicht schneller voran. Im übrigen wissen Sie doch, daß es nicht so einfach ist, etwa nur Panzer mit Panzern zu vergleichen. Es war schließlich die NATO, die in der Option III eine Reduzierung von Panzern auf der einen Seite und eine Reduzierung von taktischen Nuklearwaffen auf der anderen Seite vorgeschlagen hat. Da wird es ja schon schwerer, Parität etwa nur numerisch zu sehen. Der Bundeskanzler hat das vorhin mit Recht ausgeführt. Sie können doch nicht einfach sagen, Herr Dr. Zimmermann, daß es keine politische Bedeutung hat, daß die Sowjetunion den alten europäischen Grundsatz des Gleichgewichts — politisch, strategisch, militärisch und auch wirtschaftlich — als gemeinsame Grundlage der Entspannungs- und Abrüstungspolitik akzeptiert.
Im militärischen Bereich wird von annähernder Gleichheit und Parität gesprochen, politisch insgesamt geht es darum, zu einer Situation des Gleichgewichts zu kommen. Darum hat es keinen Zweck — ich verstehe das nicht, da wir uns über die Notwendigkeit einig sind, diese Worte jetzt in konkreten Verhandlungen zu erproben —, daß Sie hier nun wieder antikommunistische Schlagworte reinbringen, die für die Verhandlungen doch gar nichts bedeuten. Ich muß Ihnen sagen: Da hat mir neulich die Rede von Herrn Strauß sehr viel besser gefallen.Sie können die Deklaration nach dem BreschnewBesuch auch darum nicht einfach vom Tisch wischen, Herr Kollege Zimmermann, weil die sowjetische Führung bisher zum erstenmal ihre Bereitschaft bekundet hat, die Waffen der Grauzone in zukünftige Verhandlungen einzubeziehen und den neuen MBFR-Vorschlag der NATO, der auf eine Initiative des Bundeskanzlers und der Bundesregierung zurückgeht, in Wien zu verhandeln.Sie haben recht: Es geht jetzt darum, diese Worte in den konkreten Abrüstungsverhandlungen, die laufen oder neu eröffnet werden müssen, zu prüfen, auf ihren praktischen Gehalt hin zu testen. Wer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7299
Dr. Ehmkenicht die Geduld hat, diese Erklärungen einem solchen Test zu unterwerfen, erweckt Zweifel an derErnsthaftigkeit seines eigenen Entspannungswillens.
Herr Kollege Kohl hat hier neulich den Versuch gemacht, die Ernsthaftigkeit des sowjetischen Willens zur Entspannung unter anderem mit dem Hinweis in Frage zu stellen, daß der Zeitpunkt des Breschnew-Besuchs taktisch bestimmt gewesen sei. Er sei in eine Zeit zunehmender deutsch-amerikanischer Meinungsunterschiede gelegt worden. Herbert Wehner hat demgegenüber mit Recht darauf hingewiesen, daß die sowjetische Seite weder den Versuch gemacht hat, die Bundesrepublik von ihren Verbündeten zu trennen, noch gar, sie gegen die Verbündeten auszuspielen. Und der Herr Bundesaußenminister hat mit Recht erklärt, daß Maßstab unserer Beurteilung die Beantwortung der Frage sein sollte, ob der Besuch den deutschen Interessen genützt oder nicht genützt hat. Nach unserer Meinung hat er ihnen genützt.Ich frage mich übrigens auch, ob nicht der Vorstellung, der sowjetische Staatspräsident habe die Strapazen einer Reise nach Bonn auf sich genommen, nur um uns im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zu irritieren, nicht doch eine arg naive Auffassung von der Politik der Sowjetunion zugrunde liegt.
Eine solche Argumentation ist im übrigen, Herr Kollege Kohl, auch unserem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zutiefst inadäquat. Willy Brandt hat anläßlich des 30. Jahrestages des Marshallplans noch einmal die Gemeinsamkeit der Grundinteressen und Grundüberzeugungen beider Völker unterstrichen. Dazu gehört auch das gemeinsame Bekenntnis zu den Menschenrechten, so sehr man über die Frage streiten kann, in welcher Form sie am besten geltend gemacht werden. Darüber gibt es inzwischen ja auch in Washington second thoughts. Die Gemeinsamkeit dieses AufeinanderangewiesenSeins wird erneut unterstrichen werden, wenn Präsident Carter, worauf wir uns freuen, demnächst die Bundesrepublik und West-Berlin besuchen wird.Zu diesen Gemeinsamkeiten gehört auch die Einsicht in die Notwendigkeit der Politik der Entspannung, der Rüstungskontrolle und der Abrüstung, in der die Bundesrepublik doch den Vereinigten Staaten gefolgt ist und nicht umgekehrt. Der Bundeskanzler hat in seiner Rede vor der Sondergeneralversammlung dem amerikanischen Präsidenten ausdrücklich noch einmal für die Energie und die Überzeugungskraft gedankt, mit der er diesen Prozeß, einschließlich der Frage einer Einschränkung der weltweiten Rüstungsexporte, fördert. Umgekehrt hat uns der Stellvertreter des Ständigen Vertreters der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen, Botschafter Leonhard, in einer bemerkenswerten Rede vor dem Abrüstungsseminar der Sozialistischen Internationale in Helsinki aufgefordert, inEuropa doch etwas mehr Aufgeschlossenheit und Phantasie für die Probleme der Abrüstung aufzubringen.Wir müssen uns heute, so meine ich, Herr Kollege Kohl, auf beiden Seiten des Atlantiks vor einer Gefahr hüten: vor der Versuchung, die jeweiligen innenpolitischen Kontroversen in das Verhältnis der beiden Staaten und Völker hineinzutragen. Es dürfen derartige Lebensfragen z. B. nicht zu jeweiligen Wahlkampfmitteln instrumentalisiert werden.
Ich weiß, daß heute die Auseinandersetzungen in der Menschenrechtsfrage in den Vereinigten Staaten, insbesondere im amerikanischen Kongreß, Mißtrauen gegen die Sowjetunion wachsen lassen. Das gleiche gilt für die Rüstungspolitik der Sowjetunion, auch wenn der Westen seine Rüstung ebenfalls ständig verbessert. So berichtet ja die Bundeswehr z. B. zu Recht und mit Stolz über die in den letzten Jahren erzielten Verbesserungen vor allen Dingen im Bereich der Panzer- und der Flugabwehr.Besonders aktuell — Herr Mertes, jetzt komme ich zu Ihrer Frage — ist die Verschlechterung der politischen Atmosphäre zwischen Washington und Moskau durch die sowjetischen und kubanischen Interventionen in Afrika. Entspannung und Abrüstung haben sicher regionale Aspekte; aber auf der anderen Seite kann die Entspannungspolitik auf die Dauer nicht auf bestimmte Regionen beschränkt bleiben. Die Entspannungspolitik muß daher auch auf Afrika ausgedehnt werden, denn noch gilt sie dort nicht. Friedenspolitik kann nur weltweit angelegt sein.Der Grundsatz der Unteilbarkeit des Friedens und der Sicherheit in allen Teilen der Welt ist anläßlich des Breschnew-Besuchs, Herr Dr. Zimmermann, zum erstenmal von der Sowjetunion mit unterschrieben worden, gewissermaßen als Vorgriff auf die Diskussionen in der Sondergeneralversammlung. In dem am Schluß des Breschnew-Besuchs herausgegebenen Kommuniqué haben beide Seiten die Auffassung vertreten, daß dem Ziel der Sicherung der Entspannung und des Friedens in Afrika die Achtung der Unabhängigkeit, die Souveränität, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Integrität der afrikanischen Staaten gemäß den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und den Beschlüssen der OAU entsprechen.
Der Bundeskanzler hat daher in seiner Rede vor den Vereinten Nationen mit Recht darauf hingewiesen, daß das, was z. B. im Nahen Osten oder jetzt in Afrika passiert, auch das in Europa langsam wachsende Vertrauen wieder in Mißtrauen rückverwandeln könnte. Zweifellos versucht die Sowjetunion in Afrika, in Lücken hineinzustoßen, die die westliche Politik gelassen hat. Wir müssen ja sehen, daß es zwischen der Kennedy- und Carter-Admini-
Metadaten/Kopzeile:
7300 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Ehmkestration kaum eine amerikanische Afrikapolitik gegeben hat. Auch die Entwicklung in Angola ist übrigens etwas komplizierter gewesen, als die offiziöse Lesart es heute meist wahrhaben will.Die Carter-Administration hat wieder eine Afrikapolitik. Bundesaußenminister Genscher hat vor einigen Wochen hier im Hause ausführlich dargelegt, daß und warum diese Afrikapolitik Präsident Carters von der Bundesregierung unterstützt wird. Diese neue amerikanische Afrikapolitik setzt auf das Eigeninteresse und den Willen zur Selbständigkeit der afrikanischen Völker. Meine Meinung ist, die Sowjetunion wird auf die Dauer in Afrika feststellen müssen, daß ihre Bäume nicht nur in Ägypten nicht in den Himmel wachsen. Und Castro wird eines Tages feststellen müssen, daß Afrika zu groß für ihn ist.
Die Vorgänge in Zaire haben gezeigt, daß eine solche langfristige Politik unter Umständen durch kurzfristige Notmaßnahmen ergänzt werden muß. Darüber soll in der nächsten Woche in Paris weiter gesprochen werden. So wichtig dies auch ist — noch wichtiger ist ein langer Atem für eine Politik der Unterstützung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Staaten Afrikas. Ich bin der Meinung, es muß zu einem Schwerpunkt der wirtschaftlichen Nord-Süd-Politik gerade der europäischen Staaten werden, auf wirtschaftlichem Gebiet zu dieser Unabhängigkeit beizutragen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, falls wir uns insoweit einig sein sollten, dann müßten wir uns aber noch in einem weiteren Punkt einig werden, nämlich daß es in der Frage der Apartheid kein Wackeln geben kann.
In dieser Frage der Rassendiskriminierung muß die Opposition wie die Regierung eine klare Position beziehen,
die einerseits unseren Grundwerten und Grundüberzeugungen entspricht und die andererseits den jungen Völkern Afrikas das Mißtrauen nimmt, wir verfolgten in einer Art Fortsetzung von Kolonialpolitik mit anderen Mitteln doch nur die Interessen des weißen Mannes. Herr Kollege Zimmermann, ich sage es Ihnen noch einmal: Die sicherste Art, die KapRoute zu gefährden, ist, das zu machen, was Ihr Parteivorsitzender Strauß macht, nämlich die Apartheidpolitik der Vorster-Regierung zu unterstützen.
— Wir haben hier ja eine Debatte darüber geführt; Sie können das nachlesen.
— Dann lesen Sie einmal die Debatte nach. Ich habe ihm das damals genauso vorgeworfen wie heute.
Die Sowjetunion wird durch die Gespräche in Bonn und die Erörterungen in New York zur Kenntnis genommen haben, daß ihr Verhalten in Afrika von entscheidender Bedeutung für die auch von ihr gewünschte Fortführung der Entspannungspolitik in Europa geworden ist. Ich möchte hier aber Zweifel gegenüber der Vorstellung anmelden, der amerikanische Präsident solle etwa die Unterzeichnung des SALT II-Abkommens, das nach Auskünften beider Seiten fast durchverhandelt ist, von Entwicklungen in Afrika abhängig machen. Natürlich hängt alles in der Weltpolitik irgendwie zusammen.
Daraus folgt aber noch nicht, daß man alle schwierigen Probleme miteinander verzahnen muß. Ich fürchte vielmehr, eine solche „Gebiß-Theorie" würde uns unfähig machen, überhaupt noch eine der harten Nüsse zu knacken, die darauf warten, geknackt zu werden.
Wir dürfen gegenüber der Gesamtatmosphäre sicher nicht unempfindlich sein. Wir sollten aber versuchen, Fortschritte schrittweise dort zu erreichen, wo sie zu erreichen sind.Dazu gehört der Abschluß eines SALT II-Abkommens, das auch den Weg zu einem ersten MBFRAbkommen ebnen mag. Der Herr Bundeskanzler hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir für den Abschluß eines SALT II-Abkommens sind. Mit den Widerständen im amerikanischen Senat wird schließlich der Präsident fertig zu werden haben. Vor dem Frühjahr 1979 wird eine Ratifizierungsdebatte voraussichtlich ja selbst dann nicht beginnen können, wenn das Abkommen noch in diesem Herbst unterzeichnet werden sollte. Auf keinen Fall dürfen wir aber diese Aufgabe des amerikanischen Präsidenten erschweren.
Der Bundeskanzler hat in den letzten Monaten— ich erinnere an seinen Vortrag vor dem Institut für Strategische Studien in London im Oktober 1977— immer wieder betont, daß angesichts der Tatsache, daß die Sowjetunion auf dem Gebiet der strategischen Waffen gleichgezogen hat, die in Europa bestehenden Disparitäten auf dem Gebiet der eurostrategischen und der konventionellen Waffen militärisch und politisch eine größere Bedeutung gewinnen. SALT II hindert aber nicht den Abbau dieser Disparitäten. Die Bereitschaft der Sowjetunion, auch über Waffen der Grauzone zu verhandeln, wie die interessanten Abrüstungsvorschläge des französischen Staatspräsidenten eröffnen den Weg, über diese Fragen in SALT III zu verhandeln. Insoweit müßte dann allerdings — ich nehme an, darin stimmen wir überein — der Bilateralismus der Großmächte ein Ende finden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7301
Dr. EhmkeIn den Wiener MBFR-Verhandlungen muß die Datendiskussion zu Ende geführt und dann über die neue Initiative der NATO, die auf eine Anregung des Bundeskanzlers zurückgeht, verhandelt werden.Das alles ist aber nur ein Anfang. Der Übergang von bloß quantitativer Rüstungsbegrenzung zu Begrenzung der qualitativen Entwicklung von Rüstungstechnologien steht uns noch bevor. Er wird in Ost und West eine sehr schwierige Konversion von Produktions- und Forschungskapazitäten aus dem Rüstungs- in den zivilen Bereich zur Voraussetzung haben. Das Problem der Abrüstung reicht auch insoweit tief in die Probleme der Weltwirtschaftsordnung und der Weltwirtschaftspolitik hinein.Wir hoffen, daß die Ergebnisse der ersten Sondergeneralversammlung der UNO für die Lösung dieser Fragen der Abrüstung, die Fragen unseres Überlebens sind, bessere Voraussetzungen schaffen werden.Die Beratungen des NATO-Gipfels dürften der Sowjetunion noch einmal vor Augen geführt haben, daß diese Abrüstungspolitik keine Einbahnstraße ist. Disparitäten, die nicht durch Abrüstung abgebaut werden, werden in der irrationalen Logik gegenseitigen Mißtrauens und Wettrüstens schließlich durch Aufrüstung ausgeglichen werden.Präsident Carter hat großen Mut zur Unpopularität gezeigt, den gerade wir Europäer honorieren sollten, als er durch seine Entschlüsse in Sachen B 1-Bomber, MX-Rakete und Neutronenwaffe der Sowjetunion signalisiert hat, daß die Vereinigten Staaten — so groß die arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Versuchung sein mag — nicht an einer weiteren Umdrehung der Rüstungsschraube interessiert sind.Keiner sollte diese Haltung des amerikanischen Präsidenten als Schwäche mißverstehen. Es ist nun an der Sowjetunion, ihre Erklärungen von Bonn und New York, die einen großen Fortschritt darstellen, mit uns in konkreten Verhandlungen in gute Ergebnisse umzusetzen. Gelingt das nicht, wird die öffentliche Meinung auch in Europa — da bin ich sicher — dem amerikanischen Präsidenten auf einen Weg folgen, den sie sowenig wie er gehen will, der dann aber notwendig werden könnte.Aus dieser Feststellung spricht Sorge, nicht Ungeduld. Wir werden noch viel, viel Geduld haben müssen, um den Frieden zu sichern. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang aber auch einen Vergleich: Der Prozeß der europäischen Einigung läuft nun schon 25 Jahre; immer wieder bauen sich neue Schwierigkeiten auf. In jeder Phase der Entwicklung kommen wir dem Ziel nur wenig näher. Warum eigentlich soll der Entspannungsprozeß zwischen Ost und West, der nun an die kritische Schwelle der Abrüstung gekommen ist, an anderen zeitlichen Maßstäben gemessen werden können? Vielleicht kann der Hinweis auf diesen zeitlichen Aspekt, Herr Kollege Kohl, auch dazu beitragen, die Möglichkeit einer gemeinsamen Außenpolitik in diesen lebenswichtigen Fragen doch noch einmal ernsthaft zu überdenken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sind die Impulse der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen für Abrüstung und ganz besonders die der NATO-Gipfelkonferenz von herausragender Bedeutung. Die Freien Demokraten stellen mit Genugtuung fest, daß beide Ereignisse von der aktiven und konzeptionell klaren Mitgestaltung unserer Bundesregierung erkennbar beeinflußt wurden. Wir sprechen dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister dafür Dank und Anerkennung aus, insbesondere für ihren überzeugenden Einsatz in. New York und in Washington.
Sie haben damit den Interessen unseres Landes gedient.Meine Damen und Herren, bevor ich auf die Perspektiven der Verteidigungspolitik und der Abrüstungsbemühungen näher eingehe, will ich eine Enttäuschung nicht verhehlen. Die Ausführungen des Kollegen Zimmermann zeugten doch wohl von den Schwierigkeiten der Opposition, zum belebenden Disput beizutragen.
Sie entblößten vielmehr, wie mir scheint, in schockierender Weise die Anstrengungen, nur nicht aus dem Wahlkampftritt zu kommen.
Herr Zimmermann hat seine Ouvertüre hier mit einem falschen Thema im falschen Saal eröffnet.
Dieser seltsamen Unternehmung verdanken wir die befremdliche Tatsache, daß ein Terrorist sozusagen auf NATO-Format getrimmt wurde und zumindest ansatzweise gegen die UNO-Debatte gestellt wird. Ich gehe deshalb auf diese Anwürfe ein; denn sie verlangen zwingend eine Klarstellung.Die gewaltsame Befreiung des in Berlin-Moabit inhaftierten Angeklagten Meyer ist ein schwerer Schlag für die Strafverfolgung. Sie hat ebenso negative psychologische Auswirkungen wie die gestern verübten Anschläge auf zwei Berliner Anwälte. Wir Freien Demokraten erwarten, daß alles, aber auch alles, zur Aufdeckung der Hintergründe und zur Beseitigung erkannter Schwachstellen getan wird.
Die Ermittlungen der Justiz und die Untersuchungen des parlamentarischen Ausschusses sind im Gange. Wenn die Sachverhalte geklärt sind, muß festgestellt werden, ob man politischer Verantwortung gerecht geworden ist oder nicht. Dann erst kann über jene Fragen befunden werden, die von der CDU/CSU von Anfang an marktschreierisch als politische Hieb-und Stichwaffen eingesetzt werden.
Metadaten/Kopzeile:
7302 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
HoppeMeine Damen und Herren, es sollten auch hier keine politischen Unwerturteile gesprochen, es sollte nicht der Stab über Menschen gebrochen werden, bevor ausreichende Faktenkenntnis besteht. Das jedenfalls ist ein Stil, der bitter macht.
Er dient mit Sicherheit nicht der politischen Klärung, sondern schafft ein Klima, in dem sich nur der wohifühlen kann, der auf die Erzeugung von Lebensunsicherheit sowie auf Aggression und Angst setzt.
Die Saat des Terrorismus würde aufgehen, wenn die demokratischen Parteien den Bürgern in unserem Staat ein Bild des maßlosen und rücksichtslosen Gegeneinanders böten, dem dann nämlich nur noch das Gefühl der Ohnmacht folgen könnte. Wir haben gewiß schwere Rückschläge bei der Bekämpfung des Terrorismus erlebt, aber wir haben auch handfeste Erfolge errungen. Wir sollten das nicht zu klein schreiben, sondern herausheben, weil es trotz aller noch vorhandenen Bedrohung die notwendige Rükkenstärkung vermittelt und auch jenes Maß an Selbstsicherheit, das wir benötigen, um den Kampf gegen den Terrorismus erfolgreich zu bestehen.Die eindeutig gewachsenen Fähigkeiten unserer Sicherheitsorgane zur methodisch ausgefeilten Zielfahndung und die enorm verbesserte Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg haben zu einer Kette gravierender Fahndungserfolge geführt. Ich darf jetzt aufzählen: Festnahme von Knut Folkerts im September 1977, Festnahme von Christoph Wackernagel und Gert Schneider im November 1977 in Holland, Festnahme von Christian Möller und Gabriele Kröcher-Tiedemann im Dezember 1977 in der Schweiz, Festnahme von Christine Kuby im Januar 1978 in Hamburg, Festnahme von Stefan Wisniewski und Marion Folkerts — —
— Verehrter Herr Kollege Kohl, ich habe mir die Daten deshalb geben lassen, weil ich befürchtet habe, da Sie hier im Bundestag heute Wahlkampf veranstalten wollen,
und weil Sie nicht bereit sind, auf eine Regierungserklärung auch konstruktiv einzugehen.
Deshalb, verehrter Herr Kollege Kohl, darf ich fortfahren, denn das gehört dann auch zu diesem Thema, das der Kollege Zimmermann in diese Debatte eingeführt hat: Festnahme von Stefan Wisniewski und Marion Folkerts im Mai 1978 in Frankreich, Festnahme von Sieglinde Hofmann, Peter Boock, Rolf Clemens Wagner und Brigitte Mohnhaupt ebenfalls im Mai in Jugoslawien. Und hierbei handelt es sich nur um die spektakulärsten Fälle, denn insgesamt sind seit September 1977 37 Verhaftungen in der Terroristenszene erfolgt.Dieser Erfolg wäre ohne die enge Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern gerade auf diesem Gebiet nicht möglich, und dabei können die Verdienste von Werner Maihofer von niemandem ernsthaft bestritten werden.
Was nun die Auslieferung betrifft, so wickelt sich dies nach einem streng rechtsförmlichen Verfahren ab. Dabei wird von Recht und Vertrag um kein Jota abgewichen.Herr Kohl, auf Ihren Zwischenruf hin sage ich Ihnen noch einmal: Hier soll nicht abgerechnet und nicht aufgerechnet werden. Hier soll auch nicht die gewaltsame Befreiung in Berlin der Versorgung des harten Kerns der RAF und dem großartig funktionierenden Kommunikationssystem in Stammheim gegenübergestellt werden. Nur sollte für uns alle die Besinnung auch auf jene Ereignisse den selbstgerechten Eifer bremsen; und das sollte eigentlich verhindern, daß in schlichter Einfalt diese Vorgänge mit dem Versagen der Sicherheitspolitik, die den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht werden könne, gleichgesetzt werden.Das sollten wir uns und sollten wir der Sache nicht antun. Ich nenne eine solche Haltung destruktiv, weil sie auf Untergangsstimmung und nicht auf Mitverantwortung setzt. Es ist das Gegenteil dessen, was im guten Sinne als Patriotismus bezeichnet wird. Das wird ausgerechnet von Politikern praktiziert, die sich gern das schmückende Beiwort „patriotisch" zulegen.
Wir dürfen es einfach nicht zulassen, daß Terroristen unser politisches Handeln diktieren. Die Diskussion über Terroristenabwehr darf auch nicht durch Wahltermine bestimmt werden. Für den Ausbau der inneren Sicherheit ist das Gift.
Trotz des schweren Rückschlags, den wir in Berlin erlebt haben, gibt es keinen Anlaß zur Hysterie. Die Worte des Generalbundesanwalts sollten überall Eindruck machen. Vielleicht nehmen auch Sie ein Urteil aus dem Ausland zur Kenntnis: „Le Monde" stellt in der Ausgabe vom 31. Mai fest, die Verhaftung in Belgrad sei der wichtigste Sieg seit Mogadischu.Ich möchte zur Regierungserklärung zurückkommen und hier für die Freien Demokraten feststellen: Die Sondergeneralversammlung fügt mit ihren Ergebnissen dem bisherigen Dialog über Rüstungskontrolle eine neue wichtige Nord-Süd-Dimension hinzu. Vor allem zeigt sie die zunehmende Interdependenz zwischen allen Regionen der Welt bei der Aufgabe der Friedenssicherung auf. Es war deshalb sehr richtig, daß die Bundesregierung die Initiative der nichtgebundenen Staaten, auf die dieseDeutscher Bundestag — 8. Wahlperiode 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7303HoppeSondergeneralversammlung zurückgeht, von Anfang an unterstützt hat.Ohne Zweifel wird das Ergebnis dieser UNO-Debatte die laufenden Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle beeinflussen, wie auch die im Vorfeld des New Yorker Ereignisses stattgefundenen Gespräche zwischen den maßgebenden Repräsentanten der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland von anregender und fortwirkender Bedeutung sind. Ich verweise noch einmal auf den vom Bundeskanzler und dem sowjetischen Staats-und Parteichef unterschriebenen Satz, daß annähernde Gleichheit und Parität zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen. Es war nur logisch, daß der Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen auf diesem Kernsatz aufbaute und einleuchtende Schlußfolgerungen für eine umfassende Sicherheitspolitik zog.Verteidigung und Rüstungsbegrenzung sind für die Bundesregierung Teile eines geschlossenen sicherheitspolitischen Konzepts. Es ist deshalb kein Gegensatz zur Politik der Entspannung, sondern ihre Bedingung, wenn wir auf die Kraft unseres Verteidigungsbündnisses, d. h. auch auf seine Abschreckungsfähigkeit Wert legen. Insofern sind die Sondergeneralversammlung und das NATO-Gipfeltreffen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ihre gemeinsame Zielsetzung ist Stabilisierung des Friedens und Herstellung der Sicherheit für die größtmögliche Zahl von Menschen. Konkreter gesagt: Entspannungspolitik kann keine regionale Angelegenheit sein. Sie ist unteilbar.Präsident Carter hat diesen Grundsatz in Washington in sehr drastischer Form, dabei vor allem auf die Krisenherde in Afrika bezogen, formuliert. Dieser Grundsatz entspricht auch den eindeutigen Richtpunkten unserer Regierung. Diese perspektivische und praktische Übereinstimmung, an deren inhaltlichen und atmosphärischen Pflege der Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sicher keinen unwesentlichen Anteil hat, sollte nicht geringgeschätzt und darüber hinaus von professionellen Schwarzsehern ständig in Zweifel gezogen werden. US-Außenminister Vance hat am Dienstag noch einmal die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland als ausgezeichnet und von erstrangiger Bedeutung für beide Seiten bezeichnet. Das sollte in unserem Lande von allen, auch von der Opposition, zur Kenntnis genommen werden.Ich bekräftige noch einmal, daß gerade wir Freien Demokraten als Befürworter einer realistischen Entspannungspolitik auf die volle Funktionsfähigkeit des westlichen Bündnisses und auf die vertrauensvollen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika größten Wert legen; denn ohne die Stabilität der westlichen Allianz und ohne die Unterstützung durch die amerikanischen Freunde wäre ein substantieller und gesicherter Fortschritt der auf Verständigung und Zusammenarbeit in Europa angelegten Politik nicht möglich. Deshalb hat jede unserer Initiativen auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik nur dann Sinn Lind Nutzen für unser Land, wenn die umfassende Kongruenz der Absichten undErwartungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten voll gewahrt bleibt.Deutschen Sicherheitsinteressen wird es ganz gewiß am wenigsten entsprechen, wenn in Phasen der Abklärung neu auftauchender Fragen in rüder Form gegen die amerikanische Administration zu Feld gezogen wird oder behauptete Differenzen zwischen Bonn und Washington genüßlich kultiviert werden. Gerade in der Auseinandersetzung um die Neutronenwaffe haben dabei die Kollegen Strauß und Kohl, wie mir scheint, Fehlleistung über Fehlleistung produziert. Weshalb wollen Sie nicht begreifen, daß mit dem Beschluß Präsident Carters, die endgültige Entscheidung über den Bau der Neutronenwaffe in die Abrüstungsverhandlungen einzuführen, ein Angebot gemacht wurde, das die Abrüstungsbemühungen aus der geradezu diabolischen Verknüpfung mit verstärkter Aufrüstung auf beiden Seiten lösen kann? Dieses Angebot sollte deshalb nicht zerredet, sondern von allen Parteien dieses Hauses unterstützt werden.
Wir begrüßen es, ,daß die NATO für die Verhandlungen in Wien die Zielsetzung bekräftigt hat: Herstellung der ungefähren Parität in der Form einer übereinstimmenden kollektiven Gesamthöchststärke beim Personal der Landstreitkräfte beider Seiten und Abbau der Panzerdisparität. Es ist zu hoffen, daß die im April vorgelegte Initiative, an der die Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt hat, konkret beantwortet wird und daß die mit dieser Initiative verbundene Datendiskussion zu einer Klärung der Ausgangslage und schließlich zu einer Dateneinigung führt. Diese Einigung ist eine substantielle Voraussetzung für ein glaubwürdiges Ergebnis der MBFR-Verhandlungen.Günstig stehen auch 'die Aussichten für einen Abschluß der SALT-Verhandlungen. So berechtigt die Hoffnungen darauf sein mögen, daß diese Verhandlungen in absehbarer Zeit erfolgreich beendet werden können, so betrüblich ist aber gerade aus europäischer Sicht die Erkenntnis, daß ein mögliches SALT-II-Ergebnis die bestehenden Disparitäten bei den Mittelstreckenraketen unberührt läßt. Diese Disparitäten dürfen genausowenig aus den Augen verloren werden wie die Panzerüberlegenheit des Warschauer Pakts. Eine Antwort darauf stellt zweifellos das am Mittwoch in Washington verabschiedete langfristige Verteidigungsprogramm der westlichen Allianz dar. Das Bündnis orientiert sich dabei ausschließlich an seinem Verteidigungsauftrag. Der Schwerpunkt liegt bei der gerade für unser Land lebenswichtigen Vorne-Verteidigung und der Fähigkeit, wirkungsvoll auf einen Überraschungsangriff reagieren zu können. Der deutsche Beitrag ist in Washington voll anerkannt worden. Es wäre gut, wenn er auch hierzulande von keiner Partei in Zweifel gezogen würde.
Ich will die militärpolitische Thematik nicht bis ins Detail darstellen. Mein Kollege Möllemann wird
Metadaten/Kopzeile:
7304 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Hoppedarauf noch eingehen können. Mir liegt jetzt mehr daran, auf das hohe Maß an übereinstimmender Beurteiung aller Bündnispartner hinzuweisen, daß die realistische Entspannungspolitik konsequent fortgesetzt werden muß.Diese Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen einer Ost-West-Studie, die auf Initiative von Präsident Carter erarbeitet worden ist und die umfassende Analysen der künftigen Trends im Ost-West-Verhältnis klarlegt. Es ist erfreulich, daß sich die Regierung Schmidt/Genscher darin ebenso bestätigt sehen kann wie durch das spürbar gewachsene Bewußtsein der NATO-Partner für die wirtschaftliche Dimension unserer Sicherheit. Auch für die Zukunftssicherung Berlins weiß die Bundesregierung um das Engagement und den Rückhalt unserer Verbündeten.Meine Damen und Herren, ein besseres Ergebnis dieses Gipfeltreffens ist in der Tat nur schwer vorstellbar. Es bestärkt uns in der Überzeugung, daß unsere schwierige und nie endende Arbeit zur Festigung des Friedens auf sicherem Boden weiterentwickelt werden kann.Der Deutsche Bundestag hat allen Anlaß, die elementare Bedeutung dieser Tatsachen herauszustellen und den Bürgern in unserem Lande zu vermitteln; denn all diese Anstrengungen auf dem Gebiet der Verteidigung, der politischen Entspannung der konkreten Abrüstung haben letztlich den einzelnen Menschen zum Adressaten. Sein Leben in Freiheit ohne Not und Angst zu sichern, bleibt der Antrieb unserer Politik.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst einmal nach dem, was hier von einigen Kollegen vorgetragen wurde, eine Bemerkung zu dem Sinn und dem Gegenstand dieser heutigen Debatte. Damit, Herr Kollege Hoppe, kein Zweifel darüber aufkommen kann — und das mußten Sie wissen, als Sie eben Ihre irreführenden Äußerungen machten —: Diese heutige Debatte hat die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum Gegenstand. Es war uns aus gutem Grunde angesichts der innenpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik signalisiert worden, daß der Herr Bundeskanzler die Güte haben werde, auch Themen aus der Innenpolitik anzusprechen.
— Und das scheint mir auch, Herr Kollege Wehner, ganz richtig zu sein. Wenn wir schon einmal die Chance haben, hier im Parelament mit dem Herrn Bundeskanzler zu diskutieren, dann wollen wir über deutsche Politik, wie sie die Bürger erfahren, wie sie die Bürger bedrückt, wie sie die Bürger auch im Blick auf Abhilfe bei den Problemen anschauen, miteinander sprechen — natürlich auch und gerade über die Gegenstände, die der Kanzler besonders vorgetragen hat.
Das ist insofern schon, Herr Kollege Hoppe, ein Stück Generalaussprache. Wer Sie heute bei Ihren
Äußerungen geleitet hat, verstehe ich sowieso nicht. Wer um Gottes willen, lieber Herr Hoppe, hat Sie denn veranlaßt, jetzt diese Loyalitätserklärung für Werner Maihofer abzugeben? Das erinnert einen doch verdächtig an die Loyalitätserklärungen der Sozialdemokraten für den Bundesminister Leber. Erst die Erklärungen und dann der Sturz! Das ist doch die Erfahrung, die wir hier im Deutschen Bundestag gemacht haben.
Dieses Thema haben doch nicht wir in die Debatte eingeführt. Diese Debatte in Sachen Maihofer ist doch Monat um Monat im Blick auf diesen aus der Sicht der Sozialdemokratischen Partei ungeliebten Minister angereichert worden. Es waren doch gerade vor ein paar Tagen zehn Abgeordnete der SPD, die öffentlich mit entsprechend drastischen Äußerungen bis hin zu der Rücktrittsforderung für den Fall eines Falles hervorgetreten sind. Und der neben Ihnen sitzende Abgeordnete Möllemann, einer der bedeutenden Köpfe Ihrer Fraktion, war doch schnell fertig mit der Zunge und hat sich dieser Meinung dann doch auch sofort angeschlossen. Auch das läßt sich doch überhaupt nicht leugnen. Ich bin sicher, daß Herr Möllemann jetzt sagen wird, er sei immer für Werner Maihofer gewesen und werde auch in Zukunft für Werner Maihofer sein. Nur, Herr Maihofer hat inzwischen begriffen, daß ihm das alles nichts hilft. Wer ihm wirklich helfen wird, müssen wir in den nächsten Wochen abwarten.
Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Dr. Kohl Bitte schön.
Herr Kollege Kohl, wären Sie so freundlich — das, obwohl ich weiß, daß Sie ohnehin gerade gegen besseres Wissen gesprochen haben —, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich die in der Presse mir zugeschriebene Äußerung unverzüglich dementiert habe, weil sie nicht den Tatsachen entsprach?
Ich kann nur sagen: Das nehme ich gerne zur Kenntnis; denn es zeigt, daß die FDP wieder zu ein bißchen Selbstdisziplin zurückfindet. Das ist immerhin ein sehr bedeutender Vorgang, mit dem ich einverstanden bin. Nur, Herr Kollege Möllemann, Sie können doch nicht leugnen, daß das, was im Blick auf den Bundesinnenminister seit Monaten läuft, nicht nur aus den Reihen der Sozialdemokraten kommt. Das ist die bittere Enttäuschung über den weiten Weg des Werner Maihofer vom Linken zum Rechten, an der Mauer von Damaskus, zum Mann der Staatspolitik oder wie Sie es nennen wollen. Diese Enttäuschung steckt doch auch tief in Ihren eigenen Reihen.Ich hätte dieses Thema wahrlich nicht angesprochen. Aber wenn Sie, Herr Hoppe, an dieses Pult treten und uns zumuten, daß wir alles das klaglos anhören, was Sie dem Wähler jetzt glauben vor-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7305
Dr. Kohlsetzen zu müssen, dann kann ich nur sagen: das ist ziemlich unerträglich.
Damit komme ich zu einem anderen Punkt. Wer hat Sie denn veranlaßt, von Wahlterminen zu reden? Wenn es schon in diesem Hause Strategen gibt, die die Ereignisse der Staatspolitik und die Wahltermine virtuos auf glückliche Weise verbinden, dann sind es doch wirklich die großen Lenker der Regierungskoalition. Ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf; dafür haben Sie die Mehrheiten, und Sie nehmen Ihre Platzchance wahr. Aber muten Sie uns doch bitte nicht noch zu, Ihnen bei diesen Dingen zu applaudieren. Das ist doch schon ein Stück Unverfrorenheit, um es einmal deutlich und drastisch zu sagen.
Es ist doch kein Zufall, Herr Kollege Hoppe, daß die Debatte und die Schlußabstimmung über die Rentengesetzgebung just am nächsten Donnerstag stattfinden, daß eben das, was mit dem Rentenbetrug des Jahres 1976 zusammenhängt, erst nach der Wahl zur Sprache gebracht werden soll. Und, Herr Kollege Hoppe, ohne irgend jemandem zu nahezutreten: Sie haben so leidenschaftlich über die Terrorismusbekämpfung geredet. Daß der Pannenbericht doch irgendwann einmal kommen wird, ist ja für uns alle eine gewisse Hoffnung. Hoffnung ist bekanntlich schon sehr viel im Leben. Aber ursprünglich sah das Konzept bei allen Beteiligten so aus — wie mir gesagt wurde —, daß wir über diesen Bericht Mitte oder Anfang Mai miteinander sprechen.
Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Bitte schön.
Herr Kollege Dr. Kohl, halten Sie es nicht für möglich, diese ungeheuerliche Art, mit dem Wort „Betrug" in diesem Haus eine Fraktion und eine Regierung treffen zu wollen, zurückzunehmen?
Herr Kollege Wehner, zunächst einmal darf ich Sie bitten — obwohl das eine Ihrer bekannten Taktiken ist —, wenn Sie mich schon zitieren, richtig zu zitieren. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, damit das ganz klar ist — Ihre Fraktion habe ich in diesem Zusammenhang übrigens noch gar nicht angesprochen; aber wenn Sie es unbedingt wollen, bin ich bereit, auch das zu tun —: Unsere gemeinsame Muttersprache kennt für einen bestimmten Vorgang das Wort „Betrug". Wenn einer mit erklärter Absicht und in voller Kenntnis dei Tatsachen das Gegenteil von dem öffentlich beteuert, was der Wahrheit entspricht, und er weiß, daß damit bestimmte Handlungen des Betroffenen, wie beispielsweise des Wählers, hervorgerufen werden, dann nenne ich das Betrug, Herr Kollege Wehner. Das ist ganz klar und deutlich.
— Herr Kollege Wehner, wie Sie mich in Zukunft oder heute nennen, ist mir ziemlich gleichgültig.
Ich stehe dann in einer stolzen Reihe von Zeitgenossen, die Sie innerhalb und außerhalb der SPD mit Ihren speziellen Ausdrücken belegt haben. Das ficht mich nicht weiter an, um das ganz deutlich zu sagen.
Sie müssen schon entschuldigen, ich verwende jetzt einmal eine von Ihnen gerne gebrauchte Formulierung, Herr Kollege Wehner. Es ist schon ziemlich unerträglich, daß Sie hier in einer solchen Weise das parlamentarische Leben gestalten, daß im Bundestag nahezu keine Politik mehr stattfindet, weil Sie sich in der Innenpolitik in gar keinem Punkt mehr einigen können. Wenn man Ihnen das in zurückhaltender Form nur vorhält, dann reagieren Sie in dieser Weise. Es hat niemand den Kollegen Hoppe veranlaßt, diese Themen so anzusprechen. Wenn Sie sie aber ansprechen, dann müssen Sie schon hinnehmen, daß Sie die entsprechende Antwort bekommen.
Der Herr Kollege Ehmke hat ziemlich am Ende seiner Ausführungen noch einmal davon gesprochen, daß im Blick auf Entspannungspolitik, daß im Blick auf die Notwendigkeit, die Veränderungen in der Welt, auch der strategischen Kraftlinien, sorgfältig zu beobachten — ich sage es mit meinen Worten —, gemeinsame Außenpolitik not täte. Herr Kollege Ehmke, Sie haben von diesem Pult von vielen Kollegen gerade haben Sie Franz Josef Strauß mehrmals zitiert; lesen Sie auch unter diesem Gesichtspunkt seine letzte Rede, die er hier gehalten hat, nach — immer wieder gehört, daß wir es für eine vernünftige Politik halten, wenn wir die Kontroversen in wichtigen Feldern, in denen sie unübersehbar sind, hier austragen, aber daß es um unseres gemeinsamen Staates willen erwünscht ist, daß es Felder der Politik geben könnte, geben müßte, in denen wir aus demokratischem Konsens Gemeinsamkeit üben. Wir wären sehr glücklich, wenn wir in Feldern der Außenpolitik mehr Gemeinsamkeit haben könnten. Aber, Herr Kollege Ehmke, da ist es hier nicht mit verbalen Bekundungen getan, sondern da muß man schon bereit sein, auch die Konsequenzen daraus zu ziehen. Wenn Sie seit dem Beginn der 70er Jahre — jetzt spreche ich die Sozialdemokratische Partei an — Friedenspolitik als ein parteiisch' Ding, als eine parteiische Sache für sich in Anspruch nehmen, wenn Sie jeden, der eine andere Meinung in Grundfragen der deutschen Außenpolitik vertrat, der Anti-Friedenspolitik geziehen haben, wenn Sie jetzt wieder — schauen Sie sich doch einmal Ihre eigenen Wahlplakate in Hamburg und in Niedersachsen an — die Behauptung aufstellen, SPD und Frieden seien sozusagen deckungsgleich und synonym, dann schaffen Sie doch gar keine Voraussetzungen für ein vernünftiges Gespräch zur gemeinsamen Außenpolitik. Dabei ist dies
Metadaten/Kopzeile:
7306 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Kohldoch sehr töricht, wie jeder weiß. Es gibt keinen parteiischen Frieden, und es gibt auch keine parteiische Friedenspolitik. Es ist doch absurd, behaupten zu wollen, daß in diesem Hause eine Fraktion eine Politik betreibt, die Frieden und Freiheit nicht dienen will. Wenn es richtig ist, daß wir gemeinsam dem Frieden und der Freiheit und der Wohlfahrt und der sozialen Gerechtigkeit in unserem Lande dienen wollen — und das dürfen wir doch selbstverständlich voneinander annehmen —, dann, Herr Ehmke, kann man über den Weg streiten, aber man kann doch nicht von vornherein den guten Willen und die guten Absichten des anderen bestreiten. Das tun Sie fortdauernd, auch heute wieder in Ihrer Rede.Sie haben dann einfließen lassen, das sei „Kalter Krieg", wenn jemand dies oder jenes sage. Ich habe hier Formulierungen des amerikanischen Präsidenten — ich will sie gar nicht alle vortragen — aus den letzten Tagen seines Sicherheitsberaters Brzezinski. Wenn ich diese Formulierungen hier ohne Zitatangabe verwendete, würde doch ein Großteil Ihrer Freunde in der Fraktion der SPD „Kalter Krieg" denken oder laut rufen. Sie haben ein weiteres verräterisches Zitat gebracht, das ich überhaupt nicht begreifen kann, Herr Ehmke. Sie sagten — ich bringe es jetzt in meiner Formulierung; ich konnte so schnell nicht notieren — im Blick auf die innere Entwicklung der Sowjetunion — dabei sprachen Sie eine ganze Reihe von uns durchaus genauso beurteilter Vorgänge an —, wir müßten von einem Rußland-Bild weg, das noch aus der Folge der NS-Zeit geprägt sei. Ich kann dazu nur sagen, Herr Ehmke, ich habe kein aus der Folge der NS-Zeit geprägtes Bild der Sowjetunion, und in meiner Fraktion hat es auch niemand.
Wir sollten doch nicht unsere eigene Argumentation gegenüber der Sowjetunion, die doch auf dem Prinzip der Sachgerechtigkeit und auf unseren eigenen Erkenntnissen beruht, die wir vielleicht unterschiedlich interpretieren, damit abwerten, daß wir uns den Vorwurf zuziehen — das ist die Konsequenz Ihres Denkens —: Wer die Sowjetunion kritisiert, der kritisiert sie als Folge eines Sowjetunionbildes aus der NS-Zeit. Dies ist unerträglich, wenn Sie so mit uns umgehen.
Meine Damen und Herren, im Laufe des Vormittags ist uns der Wortlautauszug aus dem Schlußkommuniqué des NATO-Gipfeltreffens zugegangen. Deswegen zunächst dazu noch eine Bemerkung: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen die Feststellung im Schlußkommuniqué:daß die Mitglieder der Allianz ihre Solidarität und ihre Wachsamkeit wahren und ihre Verteidigungskraft auf einer Ebene halten müssen, die dem Angriffspotential des Warschauer Paktes entspricht, während sie zugleich sich um die Förderung von Entspannung bemühen sollen.Das, meine Damen und Herren, ist eine notwendigeKorrektur und auch eine Festlegung für die Ostpolitik der Bundesregierung, für die vor allem HerrBrandt als Bundeskanzler, aber auch Sie, Herr Bundeskanzler, in sehr leichtfertiger Weise und häufig aus opportunistischen, tagespolitischen Gründen dazu neigten, elementare Sicherheitsinteressen zu vernachlässigen. Wir begrüßen die klare Feststellung, daß die Sowjetunion und einige ihrer Alliierten Situationen von Instabilität und regionalen Konflikten in der Dritten Welt ausgenutzt haben und daß diese — nun angeführt und zitiert — „Mißachtung der Unteilbarkeit der Entspannung die weitere Verbesserung von Ost-West-Beziehungen nun in Gefahr" bringe. Meine Damen und Herren, das ist genau das, was wir etwa in der letzten Debatte, Franz Josef Strauß und ich, nach dem Breschnew-Besuch hier festgestellt haben. Damals schrien Sie, das sei „Kalter Krieg", das sei „ewig gestrig". Wenn ich an die Afrika-Debatte im Hause denke, da war das alles „Kalter Krieg" und „ewig gestrig" . Ich kann nur sagen: wenn das, was hier festgelegt wurde, auch von Ihnen in der SPD überall im Lande vertreten würde, wären wir auf dem Wege zu einer gemeinsamen Außenpolitik, Herr Kollege Ehmke, einander ein wesentliches Stück nähergekommen.Wir begrüßen in diesem Kommuniqué die Feststellung, daß die strikte Beachtung und uneingeschränkte Erfüllung aller Bestimmungen des Viermächteabkommens für die Förderung der Entspannung, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und die Entwicklung von Zusammenarbeit in ganz Europa i von höchster Bedeutung sind. Wir weisen mit Sorge auf den Versuch hin, die auch im Schlußkommuniqué festgestellten anhaltenden Schwierigkeiten in und um Berlin von sogenannten ernsten Störungen abzugrenzen. Wir alle wissen aus der Erfahrung der Berlin-Politik, wie fließend der Übergang ist, vor allem für die Betroffenen in Berlin.Herr Bundeskanzler, wir begrüßen die Bekräftigung der Schlußakte von Helsinki und die Feststellung, daß es auf dem nächsten Treffen 1980 in Madrid auch zu überprüfen gelte, ob es nicht nur in den Beziehungen zwischen den Staaten, sondern auch im Leben von Einzelpersonen merkbare Verbesserungen gebe. Das ist eine bedeutsame Ausführung, und ich hoffe, daß die Realitäten dem folgen werden. Wir, meine Damen und Herren, in der CDU/CSU-Fraktion begrüßen die nüchterne und realistische Einschätzung auch der sowjetischen Politik, wie sie jetzt die Presse und insbesondere der amerikanische Präsident Jimmy Carter auf dem NATO-Gipfel und auch seine Berater vorgenommen haben. Wir begrüßen erstens die Deutlichkeit des Hinweises, daß die Sowjetunion und andere Warschauer-Pakt-Staaten durch ihre fortdauernde Aufrüstung für unser Bündnis eine Bedrohung darstellen und daß diese Aufrüstung über die durchaus legitimen Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetunion hinausgehe. Zweitens: Die Wachsamkeit der NATO — und auch das ist ein wichtiger Satz, der dort gesprochen wurde — darf und kann nicht auf Europa beschränkt bleiben. Die Sowjetunion und Kuba sind in Afrika gegenwärtig 1 dabei, einzelne Nationen daran zu hindern, ihren eigenen Weg zu finden. Drittens: Die Vereinigten Staaten werden das strategische und nukleare Gleichgewicht mit der Sowjetunion wahren. Viertens: Die militärische Herausforderung durch die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7307
Dr. KohlI Sowjetunion erfordert die Modernisierung der Streitkräfte und zusätzliche Militärmacht für das Atlantische Bündnis.Die CDU/CSU-Fraktion teilt diese Beurteilung der Sicherheitsinteressen des Atlantischen Bündnisses in vollem Umfang. Wir haben das bereits in der Debatte zur sogenannten Neutronenwaffe am 13. April deutlich gesagt.Damals haben Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Fraktion versucht, Ihre Übereinstimmung mit der Politik der amerikanischen Regierung zu dokumentieren. Dies erfüllt uns mit Genugtuung, wenn wir daran denken, wie Sie, Herr Bundeskanzler, und andere Redner der Koalition noch im April und Mai heftig dabei waren, jeden, der in diesem Sinn sprach — Carter, Brzezinski; auch das Kommuniqué formulierte so —, als „Kalten Krieger" oder als eine Kategorie des Kalten Krieges zu bezichtigen.
— Sie brauchen doch nur die Debatte nachzulesen.Wir erwarten von Ihnen, Herr Bundeskanzler, daß Sie jetzt auch in der eigenen Partei Ihren Worten Taten folgen lassen. Sie fordern doch ständig mehr Führung vom amerikanischen Präsidenten und von der amerikanischen Regierung im Bündnis. Ich kann nur sagen: Führen Sie doch selbst einmal in der eigenen Koalition und in der eigenen Partei! Dann wären wir doch schon ein Stück weitergekommen.
Das war doch der Grund, warum Sie in Sachen Neutronenwaffe die amerikanische Politik so halbherzig unterstützten: nicht, weil Sie in der Sache anderer Meinung waren, sondern weil Sie mutlos waren und es nicht wagen konnten, gegenüber den Linken in Ihrer eigenen Partei hier einen klaren Kurs zu steuern. Es waren doch Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, und die öffentliche Kampagne Ihrer Partei, der SPD, gegen die Neutronenwaffe, die damals zu einer Belastung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses geführt haben.Wenn Sie das schon nicht selber zugeben, ist es ja immer sehr gut, die Verlautbarungen und Darstellungen Ihres Pressechefs zu hören und zu lesen. Er ist eine bedeutende Persönlichkeit, der immer bedeutende Ausführungen zur Zeitgeschichte macht. Der hat nun der Presse über Ihr Tun berichtet — das ist ja sein amtliches Geschäft —, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Befürchtungen über eine Finnlandisierungspolitik der Bundesregierung ausgeräumt haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was ist eigentlich den Herrn Bölling veranlaßt, überhaupt anzunehmen, daß es Befürchtungen wegen einer Finnlandisierungspolitik geben könnte? Waren es nur die schrecklichen Schwarzmalereien dieser finsteren Gestalten aus der Opposition? Oder war es vielleicht doch die Folge Ihres üblichen Rundumschlags? Sie haben ja auf diesem Gebiet jetzt wieder Bedeutendes geleistet.
Wir wissen ja, wie sehr amerikanische Senatoren oder Kongreßmänner erfreut sind, von einem Gast, der da über den Ozean kommt, Hinweise zu bekommen,
wie sie sich endlich zu verhalten hätten. Ich kann nur sagen: Sagen Sie doch das alles einmal im Parteipräsidium der SPD zu 'Bahr und Brandt und den anderen! Dort sind Sie aufgerufen, Rundumschläge, wenn Sie sie schon verabreichen wollen, zu erteilen.
Wer hat denn das Gespenst der Finnlandisierungspolitik aufgebracht? Ich habe Sie, Herr Bundeskanzler, von dieser Stelle aus gewarnt, diesen doch ganz und gar unglücklichen Vergleich mit dem Rückversicherungsvertrag aus der Welt zu schaffen. Sie haben das damals in der Ihnen eigenen Art weggefegt. Der Herr Bundesaußenminister ist ganz gegen seine Art Ihnen an diesem Tag mit einem historischen Ausflug beigesprungen, der nicht unbedingt würdig ist, in unsere Geschichtsbücher aufgenommen zu werden.Wenn man den Rückversicherungsvertrag in diese Debatte einführt, darf man sich doch nicht wundern, wenn jetzt überall das Mißvergnügen und das Mißtrauen mit Händen greifbar sind. Aus dem Besuch Breschnews den Vergleich mit dem Bismarckschen Rückversicherungsvertrag zu ziehen, war eine Fehlleistung ersten Ranges.
Ich muß Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler — auch das muß ich jetzt nachtragen —: Damals war ich der Meinung — da habe ich Ihnen offensichtlich Unrecht getan —, das sei so eine Formulierung, wie sie ohne langes Nachdenken schon einmal passieren kann. Inzwischen weiß ich: Das war eine Höchstleistung Ihrer Berater, die in dieser Sache offensichtlich den Punkt der Geschichte gesucht haben, wo die Statur der Kanzler endlich in eine vergleichbare Größe gebracht wird.
Meine Damen und Herren, ich sage es jetzt so, wie ich es empfinde. Wir haben eine ganze Menge einzuwenden gehabt und immer noch einzuwenden gegen die Politik Willy Brandts. Aber der Vergleich mit dem Rückversicherungsvertrag wäre ihm mit Sicherheit nicht eingefallen. Daß muß man ihm zur Ehre wirklich sagen.Herr Bundeskanzler, Sie haben sehr empört reagiert Die verheerende Wirkung dieser historischen Parallele ist unübersehbar. Das Ganze zeigt ein Stück Konzeptionslosigkeit, Unklarheit und Schwäche in Ihrer Außenpolitik, die mehr als bemerkenswert ist.Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Rede vor der UNO darauf hingewiesen, daß es gelingen müsse, die Rüstung zu begrenzen, damit zusätzliche Mittel zugunsten der Entwicklungsländer freiwerden.
Metadaten/Kopzeile:
7308 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. KohlSie sprechen von sogenannten leistungsfähigen Staaten, die ein großes militärisches Potential besitzen, .dafür einen ungewöhnlichen finanziellen Aufwand treiben, die aber gegenüber den Entwicklungsländern auf dem. Felde des Transfers von Kapital und Technologie nur völlig Unzureichendes leisten.Wenn Sie jetzt noch hinzugefügt hätten, wie es der amerikanische Präsident in der ihm eigenen offenen und deutlichen Weise getan hat, daß die Sowjetunion damit gemeint war — es kann gar niemand anders gemeint sein —, dann könnte ich nur sagen: Das sind vorzügliche Formulierungen, die voll und ganz unsere Unterstützung finden. Nur muß ich auch hier sagen, Herr Bundeskanzler: Warum sagen Sie das nicht einmal hier in diesem Saal und von diesem Pult aus angesichts einer ganzen Gruppe von Abgeordneten Ihrer eigenen Fraktion, die während entwicklungspolitischer Debatten völlig andere Ausführungen zu diesem Thema machen? Sie sprechen hier sehr Vernünftiges, sehr Kluges aus. Aber warum gehen Sie, um Ihre Sprache von heute früh zu benutzen, dabei an das Ufer des East-River? Warum bleiben Sie nicht am Ufer des Rheines und sprechen hier einmal mit klarer, mutiger Sprache Vernünftiges und Kluges aus?
Das, Herr Kollege Ehmke, wäre beispielsweise ein Feld in der Außenpolitik, auf dem wir uns wieder sehr rasch einigen könnten. Wir brauchen dabei nur ein Stück mit Offenheit aufeinander zuzugehen.Herr Bundeskanzler, Sie hatten dann die Freundlichkeit, mit einem sehr bemerkenswerten Einstiegssatz zu sagen, Sie hätten gehört, die Opposition erwarte, daß Sie auch etwas zu den neuesten innenpolitischen Ereignissen sagen. In der Tat: Wir erwarten das, denn Sie sind Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, und wir erwarten von Ihnen nicht nur, daß Sie die Staatsgäste aufs beste empfangen — es ist sehr gut, wenn Sie das tun —; darüber hinaus erwarten wir auch, daß Sie bei den anderen Bereichen Ihrer Amtsgeschäfte uns wenigstens gelegentlich teilhaben lassen an Ihren weitreichenden Überlegungen.Seit Monaten herrscht in der deutschen Innenpolitik Stillstand. Sie sehen es ja im parlamentarischen Alltag. Ihre Regierung packt überhaupt keines der wirklichen Probleme des Landes an. Sie weicht aus, sie verleugnet sie, oder es werden allgemeine markige Erklärungen abgegeben. Die Politik wird auf künstlich inszenierte Nebenkriegsschauplätze ab- gedrückt. Während Sie, Herr Bundeskanzler, mit einem beachtlichen Feuerwerk politischer Schaueffekte Ihr ganzes Geschick darauf verwenden, jeden Konflikt mit den Ideologen Ihrer Partei zu vermeiden, wachsen die Problemwerke. Die Zeit läuft dahin, bleibt ungenutzt. Während sich die Bundesregierung um klare Entscheidungen im Bereich der inneren Sicherheit herumdrückt, rüsten unübersehbar die Terroristen zu neuen Anschlägen.Die besorgniserregenden Zahlen unserer Bevölkerungsentwicklung werden verharmlost.
Die notwendigen konkreten Maßnahmen der Familienpolitik bleiben aus. — Herr Wehner, Sie mögen darüber lachen.
Ich kann nur sagen: Herr Wehner, lachen Sie doch darüber. Im Zusammenhang mit den Zukunftserwartungen können Sie ruhig lachen. Ich hoffe nur, daß möglichst viele sehen, wie Sie zu diesem Thema lachen.
Die Gesetzesflut und der staatliche Bürokratismus,
die immer weiter voranschreitende Vormundschaft der Bürokratie gegenüber den Bürgern werden von Ihnen, Herr Bundeskanzler, in gewichtigen Sonntagsreden beklagt, obwohl doch gerade Ihre Fraktion, Ihre Partei und Ihre Regierung mehr Verantwortung dafür trägt als je zuvor eine Regierung. Müssen wir Ihnen wirklich vorrechnen, was Sie auf dem Wege zu Ihrer sozialistischen Lebensqualität in den letzten neun Jahren an Gesetzen und Verordnungen produziert haben?
Herr Kollege Ehmke, das ist gar nicht mehr mit Zahlen, sondern nur noch in Kilo auszudrücken. Herr Bundeskanzler, zur Sicherung der Berufschancen der jungen Generation fällt Ihnen ja außer dem Bildungszentralismus auch nicht mehr viel ein.
Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke?
Ja, gern.
Herr Kollege, ich wundere mich über das, was Sie über die Gesetzgebung dieses Hauses sagen,
angesichts der Tatsache, daß die Unionsparteien weit
über 90 0/o der in diesem Hause beschlossenen Gesetze mit getragen haben
und außerdem auch noch die Verantwortung für eine viel weitergehende Bürokratisierung in. den Landesverwaltungen dort, wo Sie regieren, tragen.
Der. verehrte Kollege Ehmke hat zwar keine Frage gestellt, aber ich will versuchen, die Frage aus dem Satzgebilde herauszukristallisieren. Herr Kollege Ehmke, Sie sind ein rechtskundiger Mann. Sie sind Professor der Rechte. Ihnen brauche ich doch nicht zu sagen, wie Gesetze
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7309
Dr. Kohlzustande kommen. Sie waren doch viel zu lange Chef des Bundeskanzleramtes,
um beispielsweise nicht zu wissen, wie der Ablauf einer Regierung ist. Aus all diesen Gründen können Sie die Gesetzesflut nun doch wirklich nicht der Opposition anlasten. Damit das klar ist: Daß wir allesamt, alle Parteien und alle Fraktionen — Landtage und Kommunalparlamente eingeschlossen —, in der Gefahr stehen, zuviel reglementieren zu wollen — oft genug auch auf die Forderung der Bürger hin, die ja im ersten Teil der Festrede weniger Gesetze fordern und im zweiten Teil der Festrede sagen: Unser Anliegen muß aber gesetzlich geregelt werden —, weiß auch ich. Ich war bisher aber immer der Meinung — so verändern sich ja wirklich die parlamentarischen Qualitäten, Herr Kollege Ehmke —, daß die Mehrheit wenigstens noch für sich in Anspruch nimmt, die Verantwortung für die Gesetze zu tragen, die verabschiedet worden sind. Das gehört doch eigentlich noch zum parlamentarischen Leben.
Meine Damen und Herren, mehr als sieben Monate sind ins Land gegangen, seit Hanns Martin Schleyer das Opfer einer dramatischen Terrorwelle wurde, die mit seiner Ermordung gipfelte. Jeder weiß, daß seit diesem Zeitpunkt zur Verbesserung der inneren Sicherheit nichts Entscheidendes geschah. Die im April dieses Jahres nach einem rundherum würdelosen Tauziehen mit den Fraktionslinken der SPD endgültig verabschiedete Novelle zur Strafprozeßordnung ist ein Flickwerk. Den Namen Antiterrorpaket, der aus Ihren Kreisen einmal geprägt wurde,
verdient dieses Fragment gewiß nicht. Jedermann ist offenkundig, daß wir den Terror mit all dem, was bisher geschah, mit den bisherigen Maßnahmen nicht überwinden.Herr Kollege Ehmke und vor allem Herr Hoppe, im Blick auf Ihre Ausführungen von heute möchte ich dies sagen. Wenn gegenwärtig in der Bundesrepublik über Parteienverdruß diskutiert wird, so hat das seinen Grund doch auch darin, daß immer mehr Bürger sich in der Politik ihres Staates nicht wiederfinden. Wenn sich in einer sehr seriösen Umfrage eines der großen deutschen Institute die Wähler von SPD, FDP und CDU/CSU jeweils mit Zweidrittelmehrheit in der Frage der kämpferischen Auseinandersetzung des Staates mit dem Terrorismus zutiefst enttäuscht zeigten, so ist das doch keine Scharfmacherei, sondern die Stimmung und der Wille der Bürgerschaft unseres Landes. Das Wesen von Demokratie besteht ganz gewiß nicht darin, daß Politiker eine Demoskopie in Auftrag geben, das Ergebnis ablesen und dann in die Tat der Gesetzgebung umsetzen. Das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte. Das Wesen von Demoskopie und die Erfahrung aus Versammlungen — auch im Wahlkampf — besteht doch darin, daß wir uns der Meinung unserer Bürger stellen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das gilt doch für uns alle:Wenn wir hier aus dem Saale herausgehen und dann draußen in den Versammlungen, in den Bürgergesprächen, in den Sprechstunden erleben, was oft aus unseren hiesigen Taten geworden ist, sehen wir doch, daß die feststellbare Diskrepanz eines der Probleme der parlamentarischen Demokratie ist. Herr Hoppe, wenn nun zwei Drittel der potentiellen FDP-Wähler sagen, daß sie diese Gesetzgebung ganz und gar nicht mehr verstehen, dann muß Sie das doch zum Nachdenken zwingen, nicht aber zu solchen Floskeln veranlassen, wie Sie sie heute hier abgelassen haben.
Ich sage das vor allem jenen, die zu ihrer Zeit hier mit stolzem Schritt durch diesen Saal gingen und von sich sagten, sie wollten mehr Demokratie wagen. Zu „mehr Demokratie wagen" gehört auch, den Willen des Bürgers in die politische Arbeit mit aufzunehmen und nicht die pseudoelitäre Arroganz zu haben, das, was die Leute denken, beiseite zu schieben. Wir sind dafür, in diesem Zusammenhang über die Verantwortlichkeit mit unseren Bürgern zu sprechen. Die Mehrheit der SPD-Fraktion — Sie wissen das so gut wie ich — denkt doch gerade in dieser Sache so, wie auch wir denken. Es ist doch nur die Angst vor den Linken, die die Sperrmöglichkeit in Ihrer Fraktion besitzen, welche Sie zu Ihrem Tun veranlaßt. Gerade im Bereich der inneren Sicherheit wird doch das Verhalten der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien für den Bürger immer unverständlicher.Die Forderung nach wirksamen Gesetzen, nach einer Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen gegen terroristische Anschläge kann doch nicht abgetan werden als „Ordnungshysterie", als „Überreaktion", als „Abbau des Rechtsstaates". Die Maßstäbe, die Sie, meine Damen und Herren von SPD und FDP, in Fragen der inneren 'Sicherheit anlegen, entfernen sich immer weiter vom politischen, vom demokratischen Wollen unserer Bürger. Daran kann man keine Freude haben, denn dies gefährdet den Rechtsstaat. Überhaupt muß doch einmal die Frage aufgeworfen werden — gerade jetzt angesichts so vieler Wahlkampfäußerungen von Ihrer Seite —: Wer gefährdet denn eigentlich den Rechtsstaat? Der Politiker, der fordert, daß konspirierende Anwälte besser überwacht werden, oder Terroristen, denen es zu leicht gemacht wird, mit gefälschten Anwaltspapieren ihre Komplizen aus der Festung Moabit herauszuholen? Meine Damen und Herren, dies alles ist wirklich sehr bedrückend.Und, Herr Hoppe, das, was Sie nun hier als große Weißwäsche für den Senator Baumann vorgebracht haben, war wirklich eine Höchstleistung der Verdrehung der Tatsachen. Herr Hoppe, ich hätte mir gewünscht, die Herren der FDP, der SPD und der Bundesregierung hätten am Abend jenes schlimmen 19. Oktober, als der Mord an Hanns Martin Schleyer und die Vorgänge in Stammheim bekanntwurden, genauso reagiert. Ich habe die Formulierungen alle noch im Kopf. Da war nicht immer Klugheit gegenwärtig, sondern da ist an diesem Abend aus der Emotion heraus ganz anderes gesagt worden. Wenn jetzt Herr Baumann in dieser Form der Öfentlich-
Metadaten/Kopzeile:
7310 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Kohlkeit gegenübertritt, muß man eben sagen: Gegen ihn zeugen alle seine Reden und Taten. Wenn man sich jahrelang hinstellt und sich in dieser Weise profiliert, wenn man als Justizsenator von Berlin, einer so schwierigen Stadt in diesem Sachzusammenhang, noch im Dezember, also vor rund sechs Monaten, erklärt, die größte Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat ist ein Politiker, der glaubt, daß dieser demokratische Rechtsstaat in Gefahr ist, dann muß man sich doch fragen lassen: Was ist eigentlich im Kopf dieses ordentlichen Professors der Rechte vorgegangen? Tatsächlich aber, Herr Hoppe, ist es doch so — und deswegen habe ich Sie nicht verstanden —, daß Sie genauso denken wie ich. Auch die meisten in der FDP und in der SPD denken genauso.
Und fünf Sechstel der Mitglieder der Bundesregierung denken genauso. Was glauben Sie denn, was der Herr Bundeskanzler Helmut Schmidt tun würde, wenn er einmal wirklich sagen könnte, vom Druck der Linken in der SPD befreit, was er zu diesem Thema zu sagen für richtig hält?
Wie schnell waren Sie, meine Damen und Herren, immer mit Rücktrittsforderungen bei der Hand! Ich erinnere an den Vorgang um den Kollegen Traugott Bender.
Wenn Sie die Vorgänge jetzt einmal in Ruhe vergleichen, müssen Sie doch wenigstens zugeben: Es ist beschämend, wie Sie sich jetzt, nur um sich in Berlin an der Macht festzukrallen, in einem Koalitionsgestrüpp zusammengetan haben, um alles, was überhaupt nur geht, zuzudecken und die einzelnen zu halten nach dem Motto: Wenn der eine den anderen hält, gehen wir gemeinsam nicht unter. Meine Damen und Herren, die Wähler werden Ihnen in Berlin zum. gegebenen Zeitpunkt die entsprechende Lektion erteilen.
Der Rechtsstaat, unser Rechtsstaat lebt aus der Loyalität und dem Vertrauen der Bürger. Dieses Kapital wird leichtfertig verspielt, wenn sich der Staat, unser Staat, unser demokratischer Staat unfähig zeigt, das Recht zu wahren und die Sicherheit des Bürgers als friedenstiftende Qualität des Staates zu gewährleisten. Meine Damen und Herren, der skandalöse Ausbruch des Terroristen Till Meyer zeigt doch erneut die Entschlossenheit, die ungebrochene Entschlossenheit der Terroristen, und daß sie zu jeder Zeit zu weiteren Anschlägen fähig sind.Im Zusammenhang mit dieser Entführung kommen jetzt in der Bevölkerung ganz böse Reden auf. Wir sind doch nicht wirklich ein Parlament, wenn wir das hier nicht mehr zur Sprache bringen,
wenn wir so tun, als gehe uns das gar nichts an und genüge es, wenn in einem vertraulich tagenden Ausschuß darüber berichtet wird. Es muß doch darüber gesprochen werden, daß wir dabei sind, ineine Vertrauenskrise sondergleichen zwischen Bürger und Staat hineinzugeraten, weil es dem Bürger eben ganz und gar unverständlich ist, daß der Staat bei vielen kleinen kriminellen Vergehen bis hin zu Ordnungstatbeständen bei Verkehrssündern voll und ganz funktioniert, während es sich bei Verbrechern schlimmster Art, die diesen Staat zerstören wollen, zeigt, daß er offensichtlich doch nicht ganz in der Lage ist, kraftvoll zu reagieren.
Das für mich Bestürzende ist, meine Damen und Herren, daß Sie das draußen doch alles genauso sehen und erfahren. Ich bin sicher, daß eine große Mehrheit der Fraktionskollegen aller drei Fraktionen — quer durchs ganze Haus — genauso denkt. Wie soll denn ,der Bürger Vertrauen zum Staat haben, wenn er erfährt, daß es der Polemik — etwas anderes war es nicht — gegen die bessere Überwachung konspirativer Anwälte oft genug gelungen ist, diejenigen, die für die Sicherheit in Haftanstalten verantwortlich sind, so weit einzuschüchtern, daß bereits der Ausweis eines Anwalts genügt, um in eine solche Strafanstalt hineingehen zu können?Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, weil ich die seltene Chance habe, Herr Kollege Brandt, mich mit Ihnen direkt über dieses Thema unterhalten zu können — es ist nicht das gleiche Thema, damit kein Mißverständnis aufkommt, sondern es ist ein anderes Thema, aber es ist auch ein Thema, das uns zutiefst bewegt —, auch ein Wort zum Radikalenerlaß sagen. Wie, glauben Sie, sollen denn die Bürger unseres Staates Vertrauen haben können, wenn etwa im Blick auf den sogenannten Radikalenerlaß solche Äußerungen gemacht werden, wie Sie sie jetzt gemacht haben? Herr Ehmke sprach von Gemeinsamkeit. Ja, meine Damen und Herren, Sie kündigen doch ein Stück Gemeinsamkeit um das andere auf! Herr Kollege Brandt, wir beide waren damals die federführenden Mitglieder dieses Kreises: ich als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, Sie als Bundeskanzler. Wir waren doch beide zu jeder Stunde selbstverständlich voll bereit, die freiheitliche Grundordnung, unser Grundgesetz, das Beamtenrecht zu respektieren. Schon das Wort „Radikalenerlaß" ist ja eine Verfälschung der Grundidee,
die hier zugrunde liegt. Wir haben es viel zu früh zugelassen — ich sage das an uns alle gerichtet —, daß aus einer Sache ein Terminus wurde, der von vornherein mit einem unterschwelligen Grundton belastet war.Herr Kollege Brandt, was wollten wir damals denn eigentlich? Ich unterstelle Ihnen doch jetzt nicht, weil das Januar 1972 war, daß das Wahlvorbereitung für die Bundestagswahl gewesen ist. Das tue ich nicht, Herr Kollege Brandt; denn damals stand der Termin ja noch gar nicht unmittelbar bevor. Ich sage dies, weil in der Öfentlichkeit darüber diskutiert wird. Es muß doch einmal möglich sein, Herr Kollege, daß wir wenigstens in einer Sache übereinstimmen. Ist es denn bei Ihnen schon so weit, sind Sie so programmiert, daß Sie bereits dann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7311
Dr. Kohl„nein" sagen, wenn nur der aufgerufene Redner X der CDU angehört? Es ist doch wirklich eine schlimme Entwicklung in unserem Parlament, wenn wir nicht mehr miteinander reden können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Friedrich?
Ja, gerne.
Herr Dr. Kohl, ist Ihre — vorgestern durch Ihren Pressesprecher verkündete — Gemeinsamkeit mit den NS-Taten Dr. Filbingers auch ein Stück der demokratischen Gemeinsamkeit, die Sie hier ansprechen?
Meine Damen und Herren — —
Ich bitte, auf das Glockenzeichen des Präsidenten zu achten. Ich bitte um Ruhe im Hause! Herr Abgeordneter Dr. Kohl, fahren Sie bitte fort.
Meine Damen und Herren, ich will auf das, was der Herr Abgeordnete Friedrich gesagt hat, gleich eingehen, aber lassen Sie mich den anderen Gedankengang noch zu Ende bringen, weil mir das sehr wichtig ist.Wir sind davon ausgegangen, Herr Kollege Brandt, daß uns in der konkreten Situation, wie wir sie zu Beginn der 70er Jahre vorfanden, das Zunehmen radikaler, vor allem linksradikaler Gruppen — aus welchen Gründen auch immer — es zwingend geboten erscheinen ließ — uns, den Repräsentanten aller demokratischen Parteien; ich beziehe hier ausdrücklich den damaligen Bundesinnenminister und jetzigen FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher ein, der ja auf seiten der Bundesregierung mit federführend war —, dafür Sorge zu tragen, daß Feinde der Demokratie, ob das nun Neofaschisten oder Kommunisten irgendeiner Provenienz sind, an den Schaltstellen der Macht unseres Staates nichts verloren haben. Wir waren der Meinung — und wir in der CDU/CSU bleiben der Meinung —, daß es unerträglich ist, daß Kommunisten oder Faschisten Richter, Staatsanwälte und Lehrer an unseren Schulen werden können.
Wir kämpfen leidenschaftlich für die Freiheit eines jeden Bürgers. Meine Damen und Herren, Freiheit ist sehr leicht zu fordern und zu ertragen, wenn man sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Freiheit, wie wir sie verstehen, ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden, dessen Meinungen schwer zu ertragen sind. Aber das ist das Wesen von Freiheit, wenn es wirkliche Freiheit sein soll.Deswegen, weil wir für Freiheit sind, ist es ja bei uns wie in nur wenigen Ländern der Welt möglich, politische Gesinnung zu demonstrieren. Wo gibt es noch solche Möglichkeiten, Versammlungen zu stören, wie jeder von uns das in diesen Tagen im Wahlkampf wieder erlebt hat? Ich bin immer dafür, dies offen auszutragen, denn Demokratie heißt Ringen um den besten Weg der Politik, heißt doch niemals, daß man sich polizeilich gegen Ideen abschirmen kann, Herr Kollege Brandt. Das ist doch die großartige Sache bei den Menschenrechten und bei der Bürgerrechtsbewegung, daß Panzer, Mauern, Stacheldraht Ideen eben nicht zerstören können, daß Ideen vor der Geschichte immer stärker waren.
Aber, Herr Kollege Brandt, es gibt doch nicht nur das Recht des einzelnen, etwa einen Beruf ergreifen zu können. Es gibt doch auch das Recht des Mitbürgers, der von diesem Beruf des anderen in irgendeiner Form in Anspruch genommen wird, beeinträchtigt wird. Unser Freiheitsrecht heißt doch immer: Respekt vor der Freiheit des danebenstehenden Nächsten, des Nachbarn, des Mitbürgers. — Ich weiß nicht, warum Sie darüber jetzt lachen müssen, Herr Kollege Wehner, aber das ist wirklich Ihre Sache.
Ich kann nur sagen, Herr Kollege Brandt: Das Recht des Kindes, des acht-, neun-, zehnjährigen Kindes in der Grundschule, das Recht des Kindes im Gymnasium oder in der Berufsschule, das Recht der Eltern dieses Kindes hat doch ein gleiches Gewicht. Herr Kollege Brandt, 98 % der Bürger unseres Landes — wir können das ja in einem Bundesland, wo die Verfassung dies zuläßt, einmal gemeinsam in einer Bürgerinitiative ausprobieren; lassen Sie uns das doch einmal machen, ich lade Sie als Parteivorsitzenden der SPD herzlich zu einer solchen Volksabstimmung ein — wollen nicht, daß ihre Kinder von kommunistischen oder faschistischen Lehrern in den Schulen gegen den Staat, gegen die freiheitliche Ordnung, gegen den Geist des Elternhauses umfunktioniert werden.
Metadaten/Kopzeile:
7312 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Kohl— Herr Kollege Wehner, ich weiß, daß Ihnen diese Debatte unangenehm ist.
— Herr Kollege Wehner, es ist ein bestürzender Vorgang, daß Sie das, was ich gerade eben zu dem Thema Verfassungsfeinde an Schulen angesprochen habe, in das Wort „Skandal" gekleidet haben. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang.
Herr Kollege Brandt, als ich Ihren Text las, war die erste Frage, die ich mir stellte, ob Sie eigentlich einmal als ein Mann, der nun auch seinen Lebensweg gegangen ist, auch durchlitten hat, mit jenen Familien gesprochen haben, die seit Generationen etwa gegen die Kommunisten stehen und sozialdemokratisch wählen. Ich komme, wie Sie wissen, aus einer Stadt, wo viele solcher Familien leben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es in meiner Heimatstadt eine Familie gibt, die seit Generationen — ich sage es noch einmal — SPD wählt und wo die Mutter oder der Vater bereit wären, ihre Kinder zu kommunistischen Lehrern in die Schule zu schicken. Ich glaube es nicht, weil ich das nirgendwo erlebt habe. Darum geht es doch.
Was Sie hier bis hin zu dem törichten Wort vom Berufsverbot, das jetzt in Ihren Kreisen immer mehr kolportiert wird, zum Ausdruck bringen, ist für sich schon schlimm.
Jetzt komme ich zu dem Kollegen Friedrich. Ich will auch da noch ein Wort zuvor sagen. Herr Kollege Brandt, wir sind damals auseinandergegangen und waren uns darüber im klaren, daß dieser sogenannte Radikalenerlaß niemals das Signal zur Hexenjagd etwa auf junge Leute bedeutet hat. Das war nie anders in unseren Diskussionen formuliert worden. Sie waren damals genau wie ich der Meinung, daß wir versuchen wollen, diese kraftvolle freiheitliche Demokratie zu gestalten, aber daß zu den Grundrechten auch immer das Recht auf Irrtum gehört. Meine Damen und Herren, wer sich geirrt hat, muß aber die Fähigkeit haben, zur Erkenntnis zu gelangen.
— Herr Kollege Brandt, bevor Sie Ihre Frage stellen, möchte ich den Gedanken noch zu Ende führen. Wir in der CDU/CSU waren immer dagegen, daß man einem jungen Mann, der mit 18, 19 Jahren oft genug auf Grund des Versagens des Elternhauses, der gähnenden Langeweile seiner Umgebung, der Verführung durch viele Faktoren den Weg in eine radikale Gruppe gefunden hat, das als Kainsmal bis ans Ende seines Lebens anhängt. Wir waren immer dafür, daß er die Chance haben muß, dazuzulernen. Es ist ein wichtiger Auftrag demokratischer Parteien, gerade junge Leute aus radikalen Gruppenin die Parteien der demokratischen Mitte zurückzuholen. Das war immer unsere Auffassung. Daran hat sich nichts geändert.
Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Brandt?
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kohl, darf ich Ihr Wort von der Hexenjagd aufgreifen und Sie fragen, ob Sie es für völlig unerheblich halten, daß ein Mitglied des Bundesverfassungsgerichts unlängst gesagt hat, die bürokratischen Auswirkungen jener Vereinbarung von Anfang 1972, an die Sie erinnerten, hätten etwas Erstickendes an sich? Ich teile diese Auffassung und bin deshalb der Meinung, dies muß in Ordnung gebracht werden; denn das habe ich damals nicht gewollt, und hoffentlich Sie auch nicht.
Herr Kollege Brandt, ich kenne diese Äußerung eines Richters vom Bundesverfassungsgericht nicht. Mit dem Zitat selbst kann ich nicht sehr viel anfangen; denn ich kenne überhaupt niemanden in der Bundesrepublik, der etwa das, was dieser Richter in diesem Zitat, das Sie soeben zitiert haben, wenn es so richtig ist — ich habe keinen Zweifel daran —, befürchtet, will. Ich habe deutlich die Intentionen hier wiedergegeben, die wir damals gemeinsam hatten. Ich kann nur sagen: Wenn solche Punkte vorhanden sind, dann lassen Sie uns darüber reden. Aber das sollte nicht in der Form geschehen, daß man, wie Sie, sagt, daß die Gegner des Staates nur noch aus Beamtenstellen bei Staatskanzleien, Sicherheitsdiensten usw. auszuschließen sind.Herr Kollege Brandt, Sie schulden uns und Ihren eigenen Freunden die Antwort in Sachen Lehrer. Ich weiß, daß Sicherheitsdienste wichtig sind, und ich weiß auch, daß die Beamten einer Staatskanzlei wichtig sind. Aber auf die lange Sicht — damit es keinen Zweifel geben kann — sind für mich die Lehrer die allerwichtigsten; denn hier geht es um die Zukunftschancen der jungen Generation.
— Ich möchte jetzt keine Frage zulassen; denn ich muß mich jetzt dem Kollegen Friedrich zur weiteren Beantwortung seiner Fragen zuwenden.Nun ist hier ein Vorgang gestaltet worden, der seinen Grund hat und der in einem Gesamtvorgang zu sehen ist, der gegenwärtig in der Bundesrepublik stattfindet. Herr Abgeordneter Friedrich, ich habe soeben mit Zustimmung Ihres Parteivorsitzenden erklärt: Wir wollen keine Hexenjagd. Wir wollen auch, daß einer, der in jungen Jahren zu einer extremen Gruppe kam, nicht ein Kainsmal bis ans Ende seiner Tage an sich trägt, daß ihm das Grund-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7313
Dr. Kohlrecht des Irrtums, der Fähigkeit des Dazulernens zugemessen wird.
Das war immer unsere Meinung.Wenn Sie jetzt in der Debatte um den Ministerpräsidenten, unseren Freund Hans Filbinger, diesen Zusammenhang herstellen, dann, Herr Friedrich, zeigt sich ganz klar und deutlich, was Ihre eigentliche Absicht ist.
Es geht Ihnen überhaupt nicht um Hans Filbinger, es geht Ihnen nicht um den Kollegen Puvogel oder diesen oder jenen. Es geht Ihnen ausschließlich darum, ein Schlachtengemälde zu errichten, nach dem — in Ehmkes Formulierung kam das Wort wieder vor — die Rechten die Schuld für alles tragen.
Wer rechts ist und wer Nazi ist, bestimmen Sie. Das ist jener Akt schlimmer Heuchelei,
daß es Ihnen gar nicht um das Schicksal des einzelnen geht — ich komme auch darauf noch zu sprechen —, sondern daß Kategorien geschaffen werden. Weil Sie mit Ihrem intellektuellen Beitrag zur deutschen Politik am Ende sind,
weil Sie mit Ihrer Politik überhaupt am Ende sind, brauchen Sie jetzt die Diffamierungswand für eine ganze Gruppe in unserem Volk.
Herr Abgeordneter Dr. Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke.
Weil Sie gar nicht mehr in der Lage sind, sich dem Thema zuzuwenden, das eigentlich unser Thema ist, nämlich aus der Geschichte zu lernen, und weil Sie wissen, daß Sie mangels Ihrer Beiträge dabei sind, die Macht zu verlieren, deswegen muß jetzt diffamiert werden. Deswegen wollen Sie so eine Art Schnüffelei und Gesinnung der Reentnazifizierung 30 Jahre nach dem Ende Adolf Hitlers einführen.
Herr Kollege Brandt, damit das klar ist: Ich werde leidenschaftlich dafür kämpfen, daß wir uns in der Union nicht in der gleichen Weise betätigen. Ich sehe die Pflicht unserer und vor allem auch meiner eigenen Generation, die nach dem Kriegsende noch ein Kind war und gar nicht in die Versuchungen jener Zeit geraten konnte, darin, zum inneren Frieden beizutragen. Ich finde es eine erbärmliche Sache, wenn Sie jetzt versuchen, mit denen, die Ihnen dabei dienlich sind, in alten Skripten von 20- oder 22jährigen herumzusuchen, mit dem Rotstift herumzukorrigieren, um Ihr Feindbild von heute entsprechend beweisen zu können. Diese Art historischer Mistkäferei wird uns den inneren Frieden nicht bringen, meine Damen und Herren.
Und was dabei so besonders erbärmlich ist — ich sage dieses Wort so hart —, ist, daß Sie Unterschiede machen. Sie machen einen Unterschied zwischen jenem, der damals in jüngeren oder älteren Jahren einmal Hitler anhing und nach dem Krieg zur SPD ging — der hat die volle Reinigung erfahren — —
— Herr Kollege Brandt, ich kenne Sie als einen Mann, der eigentlich für das noch Sinn haben müßte. Es ist doch unerträglich, daß' hier Geschichte so aufgearbeitet wird, daß der, der zur SPD ging, die volle Reinigung, die Katharsis erfahren hat, Anspruch auf himmlische und irdische Glückseligkeit hat, derjenige, der es nur bis zur CDU brachte, im Fegefeuer verharren muß und der, der es nur bis zur FDP brachte, vorerst geschont wird, solange Sie die FDP in der Koalition brauchen. Das ist doch Ihre Moral.
Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kohl, könnten Sie mir vielleicht darin zustimmen, daß irgendwo eine Grenzlinie zwischen dem Vorgang, den Sie eben beschrieben haben, verläuft, nämlich wie sich Männer oder Frauen, die früher einer anderen Auffasung anhingen, im demokratischen Deutschland verhalten, und der Frage, ob jemand fähig ist oder nicht, sich dazu zu äußern oder sich davon abzusetzen, daß er im Dienste Hitlers Landsleute umgebracht hat?
Herr Kollege Brandt, ich beantworte Ihre Frage sehr klar. Aber ich war noch nicht ganz mit dem anderen Gedankengang zu Ende.Herr Kollege Brandt, hier spreche ich Sie als den Repräsentanten der SPD an, der in der Kontinuität einer über hundertjährigen Parteigeschichte steht: Wenn wir unter den großen demokratischen Gruppen bei allem Streit, bei aller leidenschaftlichen Auseinandersetzung um den Weg unserer Politik nicht mehr fähig sind, uns die moralische Qualität unseres Tuns gegenseitig zuzubilligen, ist das das Ende unseres Staates.
Metadaten/Kopzeile:
7314 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. KohlSie, Herr Kollege Brandt, haben es doch zugelassen, und der Bundeskanzler hat es zugelassen. Er ist der zweite Vorsitzende der SPD. Der schweigt sich ohnedies über dieses alles hinweg. Es ist leichter in diesen Zeiten, in Washington aufzutreten, als hier zu diesen brisanten Fragen
— doch, meine Damen und Herren — klar Rede und Antwort zu stehen.
Herr Kollege Brandt, Sie wissen so gut wie ich, daß aus diesen vielen Millionen, die damals, aus welchen Gründen auch immer — da waren persönlich ehrenhafte Gründe des Idealismus dabei und Gründe bloßen Opportunismus; das ist heute übrigens auch noch so; so ganz anders sind die Menschen nicht geworden — in der NS-Zeit dabei waren, doch dieser unser demokratischer Staat mit erwachsen ist. Diese Millionen haben doch mit dieser riesigen Mehrheit unsere Demokratie mitgebaut. Deswegen bin ich dagegen — ich sage das auch im Blick auf meine eigene Partei, damit da gar kein Zweifel aufkommt —, daß wir jetzt nachforschen: Der hat dort das geschrieben, und jener hat dort das geschrieben.Herr Brandt, Sie dürfen sich doch nicht beschweren, wenn Sie, Ihre eigene Partei, fortdauernd Öl in dieses Feuer hineingießen. Sie tun es doch, indem Sie konservativ immer als reaktionär, als halbfaschistisch darstellen. Das ist doch das, was an Wortklitterung in den letzten Jahren geschehen ist.
Jetzt zu Ihrer konkreten Frage. Herr Kollege Brandt, Sie wissen so gut wie ich, daß in geschichtlich so schweren Zeiten, wie es auch das Dritte Reich war, der eine in eine persönlich ungleich schwierigere Lage kam und der andere mehr Glück hatte.
Jetzt spricht beispielsweise über die Taten im Dritten Reich eine ganze Generation, die damals noch gar nicht lebte, die zum Teil durch miserablen, nicht existenten Geschichtsunterricht ein völlig falsches Bild von dieser Zeit bekommen hat. Mir tut es weh — ich war 15 Jahre alt —, wenn ich gelegentlich beobachte, wie Leute über Zeiten und über Menschen, über Gefahren und Versuchungen reden, die das nur noch aus den Akten und aus den Büchern kennen können, die in die Gefahr, in die Versuchung nie gekommen sind. Ich brauche Ihnen, Herr Kollege Brandt, das wahrlich nicht zu sagen; Sie wissen das auch.Wenn das aber so ist, muß man doch im Einzelfall auch überlegen — jetzt spreche ich den Kollegen Hans Filbinger an; daran führt gar kein Weg vorbei —, ob man versucht, einen Mann zu treiben und zur Strecke zu bringen, oder ob man mit ihm ein Gespräch über diese Zeit führt. Wer Hans Filbinger kennt — ich kenne ihn seit Jahrzehnten; ich bin ihm freundschaftlich verbunden —, weiß, daß er ein Mann ist, der aus seiner ganzen Art, aus seinem Herkommen, aus seiner Überzeugung, auch aus seiner religiösen Überzeugung — warum soll ich dashier verschweigen? — heraus natürlich kein Mann des NS-Staats war. Es ist eine zutiefst deprimierende Sache, wenn jetzt nach über 30 Jahren sozusagen ein Gesinnungszertifikat abgefordert wird. Er war damals in einer besonders schweren, menschlich tief bedrückenden Situation. Wer mit ihm darüber redet, kann das in jeder Sekunde verspüren. Das geht in dem Mann natürlich heute noch um, wie es jedem von uns in einer vergleichbaren Lage, wie ich glaube, auch ginge. So etwas bedrückt einen.
Er ist ein Mann, der anderen geholfen hat — das ist doch unbestreitbar —, der in diesem konkreten Fall offenkundig nicht helfen konnte.Wer ist nun derjenige, der im Bundestag aufsteht und mit einem Akt von Selbstgerechtigkeit ohnegleichen erklärt: Mir wäre das nicht passiert? Das ist pharisäische Gesinnung.
Herr Kollege Brandt, das Bedrückende an der Sache ist doch, daß diese persönliche geschichtliche Erfahrung eines Mannes aus einer exponierten Generation jetzt mit der Tagespolitik vermengt wird. Wenn Hans Filbinger in einer anderen der drei im Parlament vertretenen Parteien wäre, würde niemand über diesen gleichen Vorgang reden. Das wissen Sie so gut wie ich. Das ist das, was in diesem Zusammenhang erbärmlich ist.
Glauben Sie mir: Das bringt uns nicht weiter. Unsere wichtige historische Pflicht ist es, aus diesen schrecklichen Erfahrungen, die unser Volk im 20. Jahrhundert machen mußte, für die Kinder zu lernen. Natürlich gehören zur deutschen Geschichte Auschwitz, Maidanek und Treblinka; ich habe es schon mehrmals hier gesagt. Aber auch der 20. Juli gehört dazu. Herr Kollege Brandt, ich bin der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union, einer Partei, die ihren entscheidenden Impuls aus dem deutschen Widerstand empfangen hat. In wenigen Tagen begehen wir den 100. Geburtstag von Andreas Hermes, dem ersten Vorsitzenden der CDU in einem wichtigen Teil Deutschlands. Dieser Mann war noch ein Jahr, bevor er Parteivorsitzender wurde, vom Blutgericht Roland Freislers zum Tode verurteilt worden. Er ist dann in der Sowjetunion von sowjetischen Gerichten erneut verurteilt worden. Bei dieser Herkunft, meine Damen und Herren, müssen wir doch mit niemandem darüber reden, was Geist des Widerstandes ist. In dieser CDU/CSU-Fraktion sitzt der Sohn des Grafen Stauffenberg. Wir müssen doch nicht darüber reden, ob wir gegen Hitler stehen, ob wir gegen den faschistischen Geist stehen. Das ist doch nun wahrlich für uns selbstverständlich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7315
Dr. KohlAber gerade weil dies so ist und weil es so verderblich ist, Herr Kollege Brandt, daß Abgeordnete wie der Kollege Friedrich eben solche Fragen in solcher Formulierung stellen, weil sich ja hier ein Geschichtsbild bei ihm festsetzt — nicht bei uns —, das Schlimmes verrät — er wird ja nicht nur hier so reden, sondern er wird ja draußen in Franken so handeln —,
müssen wir hier so leidenschaftlich darüber reden.Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um Leugnen, Abstreiten oder um die Diskussion von Tatbeständen — gar keine Spur davon. Hier geht es darum, daß wir uns zunächst einmal selbst die Frage stellen, was für einen Beitrag wir selbst zu leisten bereit sind. Nur damit das noch einmal klar wird, Herr Kollege Brandt: Ich will mich nicht daran beteiligen, und ich werde alles tun, daß wir uns nicht daran beteiligen, da aufzurechnen; denn das Ende ist das Ende jedes fairen Miteinander in der Demokratie. Aber tun Sie endlich das, was Ihres Amtes als Parteivorsitzender ist! Und der Bundeskanzler soll endlich durch den Einsatz seiner Autorität darauf hinwirken, daß diese Dinge unterbleiben.
Herr Abgeordneter Kohl, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, ich habe nicht die Absicht, eine Frage des Abgeordneten Friedrich zu beantworten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal zu dem Thema Terrorismus zurückkehren. Wir fragen Sie, wo Ihre Vorschläge in dieser konkreten Situation zur Beschleunigung der unerträglich langen Strafverfahren, zur Vereinheitlichung des Polizeirechts, zur Verbesserung des Melderechts, zur Verhinderung gewaltsamer Demonstrationen und zur Verbesserung der Arbeit der Sicherheitsbehörden bleiben, und, Herr Kollege Brandt, Herr Bundeskanzler, wo bleiben eigentlich Ihre Beiträge zur Auseinandersetzung mit den geistigen Ursachen des Terrorismus?
Die Saat Ihres Nichtstuns, Ihres Kneifens geht doch auf, wenn in diesen Tagen der Bundesvorstand der Jusos das Urteil im Rechtsstreit Böll—Walden — das ist ein Rechtsstreit; da kann man unterschiedlicher Meinung sein; da kann man auch Schelte üben, das ist alles legitim —, das Urteil eines ordentlichen deutschen Gerichts
— ja, eines Bundesgerichts — in diesem Zusammenhang „politische Justiz" nennt.
Meine Damen und Herren, ich muß Sie fragen: Wohin sind wir eigentlich gekommen?
Da, Herr Bundeskanzler, genügt es nicht, daß Sie, wie ich kürzlich in einer Zeitung las, klagen, wenn es um die Gesetze gegen den Terror gehe, dann lasse Sie die Fraktion aus Angst vor den Unterbezirken hängen. Haben Sie doch einmal keine Angst! Kommen Sie hier in den Bundestag, vertreten Sie Ihre Meinungen, die so weit von den unsrigen in Wahrheit nicht entfernt sind — ich habe sie ja oft genug in der Zeit des Krisenstabes gehört —, dann werden Sie eine Mehrheit haben. Wenn doch wenigstens die Mitglieder der Bundesregierung, die Bundestagsabgeordnete sind, hier mitstimmen, hätten wir eine prachtvolle Mehrheit der Vernunft in diesem Hause.
Aber das alles ist Ihnen bekannt, und leider hat sich in diesem Zusammenhang dann gar nichts mehr entwickelt.Ich will wegen des an sich nicht geplanten Zwischenstücks dieser Debatte, das ich aber — ich sage das ausdrücklich — für sehr wesentlich für unsere eigene Orientierung halte, noch ein kurzes abschließendes Wort sagen.Meine Damen und Herren, wir halben heute die Regierungserklärung gehört, wir 'haben von den neuesten wichtigsten Erkenntnissen gehört, die aus dem Bereich der NATO auf uns zukommen, und wir haben ein bemerkenswertes Wort zum Thema Wachstum gehört, Herr Bundeskanzler, das ich doch noch ansprechen will. Da ich den Text nicht vorher hatte, mußte ich mir das jetzt aus meinen Notizen zusammensuchen.Nach dem EG-Gipfel von Kopenhagen betonten Sie, Herr Bundeskanzler, es sei kein Wachstumsversprechen, auch in London nicht, gegeben worden, nur eine mehr oder minder unverbindliche Projektion. Manchmal habe ich fast den Eindruck, Sie sollten mal wieder bei Ihrem alten Lehrer Karl Schiller nachhören, was der einmal unter Projektion verstanden hat. Eine Projektion enthält nicht nur ein hohes Maß an voluntaristischer Aussage darüber, was die Regierung anstrebt oder zu erreichen für möglich hält, eine Projektion — so haben wir es einmal gelernt — ist das in Zahlen gegossene Ziel der Regierung, an dem sie sich messen lassen muß. Herr Bundeskanzler, die permanente Korrektur von Wachstumsprojektionen ist insofern das sich fortsetzende Eingeständnis der Regierung für ihre eigene Unfähigkeit. Nicht Projektionen müssen revidiert werden, wenn abzusehen ist, daß sie nicht zu erreichen sind, die Politik muß endlich den Mut zur Kurskorrektur finden. Sie haben diese Kurskorrektur in Ihrer eigenen Partei bisher nicht durchsetzen können.Der Graf Lambsdorff hat da wieder sehr kluge Worte — er ist übrigens ein Meister im Sprechen kluger Worte — vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie gesprochen. Ich möchte nur einmal wissen, ob er so auch in der Koalition spricht, wenn es darum geht, diese Klugheit in Paragraphen und
Metadaten/Kopzeile:
7316 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. KohlArtikel von Gesetzen zu gießen. Er hat dort gesagt, daß die Notwendigkeit der wachstumspolitischen Vorsorge in der Steuerpolitik durchschlagen müsse. Das sind für uns vertraute Klänge, meine Damen und Herren. Es ist doch ganz eindeutig, daß wir genau dies wollen. Deswegen unterstützen wir die Absicht, Wenn sie Graf Lambsdorff wirklich hat, gegen Verzicht auf protektionistische Maßnahmen unseren Außenhandelspartnern wachstumspolitisches Entgegenkommen der Bundesrepublik zu offerieren. Dazu braucht es aber eine konsequente Wachstumspolitik, gegen die sich die Bundesregierung bislang immer wieder tatsächlich gewandt hat; denken Sie nur an die Steuersenkungsvorschläge.Sie wissen sehr genau, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung auch auf der Währungskonferenz in Mexiko auf der Sünderbank saß. Dort nämlich mußte der Bundesfinanzminister, der eine die Investitionen und Innovationen lenkende Politik propagiert, zu seinem Leid erfahren, daß nach vorherrschender Meinung eine Politik der Steuerentlastung wirksamer ist — auch hier altbekannte Grundsätze — als zusätzliche Staatsausgaben.Die Politik wird also an Zugeständnissen nicht vorbeikommen. Die Bundesregierung wird das tun müssen. Deswegen will ich noch einmal ganz kurz unsere Programmpunkte hierzu vortragen.Erstens: Abbau der investitions- und leistungshemmenden Überbesteuerung.Zweitens: Förderung privater 'Investitionen und des Wunsches nach Selbständigkeit.Drittens: Förderung neuer Techniken und Erfindungen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit auf Jahrzehnte hinaus sichern.Viertens: Ausweitung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, Abbau mobilitätsfeindlicher Regelungen, Stärkung der marktwirtschaftlichen Dynamik durch Förderung von jungen kleinen und mittleren Unternehmen.Herr Bundeskanzler, wenn Sie das, was Graf Lambsdorff vor dem BDI andeutete, in die Praxis Ihrer Politik im Wege von Gesetzen und im Wege von Politik einbringen, werden Sie unsere Unterstützung finden. Das ist das, was wir jetzt brauchen. Wir haben aber den Eindruck, daß Sie sich um des Machterhalts willen immer mehr der Verantwortung entziehen, daß Sie eben erpreßbar sind, wie es hier einmal gesagt worden ist, von den Linken in Ihrer eigenen Fraktion.Herr Bundeskanzler, es gibt ein Bürgerrecht auf eine Regierung, die führt, die Zeichen setzt, die nicht erpreßbar 'ist. Bitte mißachten Sie dieses Bürgerrecht nicht, gehen Sie nicht vor einer kleinen Minderheit in Ihrer Partei in die Knie! Wenn diese Abgeordneten auf dem linken Flügel der SPD ihre wahren Anliegen vor der Wahl erklärt hätten, hätten sie dieses Haus nie erreicht, das ist ganz sicher, auch nicht, wie ich glaube, die Zustimmung Ihrer eigenen Gruppierung. Eine solche Politik, die weiße Flagge zu zeigen, verspielt und zerstört Vertrauen. Und was wir brauchen, ist eine Bürgerschaft, die Vertrauen hat, das Vertrauen, daß der Staat und diePolitik und die Regierung in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, in der Steuer-, der Finanz- und der Haushaltspolitik, in der Energiepolitik, in der Familien- und Bevölkerungspolitik, in den Fragen der inneren Sicherheit endlich handelt.Vielleicht, Herr Bundeskanzler, haben wir heute noch die Chance, dazu von Ihnen ein Wort zu hören. Es wäre zu lang, wenn wir bis zu Ihrem nächsten Bericht von einer Auslandsreise warten müßten. Auslandsreisen sind wichtig. Daß Sie die deutschen Interessen im Ausland richtig vertreten, ist bedeutsam und wichtig. Aber es ist auch wichtig, daß wir das eigene Haus bestellen. Unser Gewicht in der Welt wird um so größer sein, je besser unser Haus, unsere Bundesrepublik Deutschland bestellt ist. Vielleicht haben Sie die Güte, Herr Bundeskanzler, uns dazu noch einiges zu sagen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Ich darf zuvor bekanntgeben, daß interfraktionell vereinbart worden ist, daß die Mittagspause ausfällt. Die Debatte wird also bis zum Ende durchgeführt.
— Herr Abgeordneter Wehner, Ihre Parlamentarischen Geschäftsführer
haben das dem Präsidium mitgeteilt.
— Herr Abgeordneter Wehner, ich rufe Sie zur Ordnung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tagesordnung des Deutschen Bundestages für seine heutige Sitzung sieht unter Punkt 2 vor: „Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen für Abrüstung in New York und die NATO-Tagung des Staats- und Regierungschefs in Washington" und an anderer Stelle unter Punkt 4: „Beratung des An-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister Genschertraps der Fraktion der CDU/CSU betr. Verbesserung der Arbeit der Sicherheitsbehörden des Bundes". Das heißt auf deutsch, daß auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages heute sowohl die Fragen der äußeren wie die der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland stehen. Es bestand kein Anlaß, den Bericht über die Tagungen in New York und Washington mit Fragen der inneren Sicherheit zu vermischen, so bedeutend sie sind und so ernst sie genommen werden müssen.
Herr Kollege Kohl, Sie haben hier auf sehr ernst zu nehmende Fragen verwiesen, die uns alle bewegen. Ich habe bei Ihren Ausführungen an das Jahr 1946 zurückdenken müssen. Mir sind im Zusammenhang mit dem Jahr .1946 drei Namen bewußt geworden, die ich in die Erinnerung des Hohen Hauses zurückrufen möchte.Einen haben Sie genannt. Dieser eine Name war Andreas Hermes. Der andere, -den ich für uns in Anspruch nahm, war Wilhelm Külz. Der dritte, den ich für die Sozialdemokratische Partei nennen möchte, war ein Mann, der lange Zeit hier in diesem Haus gesessen hat nicht in der ersten Reihe und vielleicht nicht in dem Maß beachtet, wie sein geschichtliches Verdienst es erfordert hätte —, nämlich der Abgeordnete Franz Neumann, der Mann, der dafür gesorgt hat, daß in Berlin jedenfalls die Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten auf sowjetischen Druck nicht durchgeführt werden konnte.
Er steht stellvertretend für jene Sozialdemokraten, die in der damaligen sowjetischen Besatzungszone unter ungleich ungünstigeren Voraussetzungen einen ähnlichen Versuch unternommen haben.Ich nenne diese drei Namen, meine Damen und Herren, weil diese drei Namen die Erkenntnis dreier großer politischer demokratischer Richtungen aus den Erfahrungen des Dritten Reiches verkörpern, nämlich zusammenzustehen, wenn eine neue Bedrohung kommt, von welcher Seite auch immer sie kommen mag. Ich habe Sorge gehabt, das könne heute verlorengehen.
Vor mir liegt eine Schrift über die Ziele der „Roten Armee Fraktion", in der es heißt:Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzlichkeit zu zerstören.An anderer Stelle wird dann gesagt:Durch geeignete Aktionen muß die Guerilla klarstellen, daß sich ihre Angriffe grundsätzlich gegen alle Institutionen des Klassenfeindes, alle Verwaltungsdienststellen und Polizeiposten, gegen Direktionszentren der Konzerne, aber auchgegen alle Funktionsträger dieser Institutionen, gegen leitende Beamte, Richter, Direktoren usw. richten, daß der Krieg in die Wohnviertel der Herrschenden getragen wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist im Grunde die Ankündigung von Revolution, Terror und Rückfall in die Barbarei. Das erfordert nicht, daß wir uns gegenseitig demokratische Zuverlässigkeit bestreiten, sondern daß wir jetzt zusammenstehen in der Abwehr dieser Herausforderung für unseren freiheitlichen Rechtsstaat.
Mein Kollege Hoppe hat Herrn Kollegen Maihofer nicht gegenüber jemandem in Schutz genommen. Herr Kollege Maihofer tut seine Pflicht, und weil er sie tut, stehen wir zu ihm. Ich würde sehr vorsichtig sein mit der Zitierung von Treuebekenntnissen zu eigenen Parteifreunden. Da gibt es Beispiele in der Geschichte aller Parteien über die Langlebigkeit solcher Erklärungen und Bekenntnisse.Lassen Sie mich auch ein Wort sagen zu den Vorgängen in Berlin und dazu, warum sich der Bundeskanzler in der Regierungserklärung darauf beschränkt hat, seine Bestürzung über diese Vorgänge zum Ausdruck zu bringen. Er hat hinzugefügt, er behalte sich vor, später noch dazu Stellung zu nehmen, nämlich dann, wenn über die Fragen der inneren Sicherheit zu sprechen ist, wenn es über dieses Thema zur Diskussion kommt, die heute noch stattfindet.Wir wollen auch nicht vergessen, daß heute das Abgeordnetenhaus von Berlin — und das ist der Ort, wo die Verantwortlichen ihre parlamentarische Verantwortung auch durchzustehen und wahrzunehmen haben — tagt und sich mit den Vorfällen von Moabit befassen wird.Senator Baumann hat sich von der ersten Stunde an zu seiner Verantwortung bekannt. Die Regierungsfraktionen in Berlin, Freie Demokraten und Sozialdemokraten, haben nichts unternommen, um irgend etwas zu verschleiern, sondern sie haben die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt. Es wird heute in öffentlicher parlamentarischer Debatte und nicht hinter verschlossenen Türen über dieses Thema zu reden sein.Das ist die Art, wie in einer Demokratie Vorgänge dieser Art behandelt werden. Das hat nichts zu tun mit Verschleierung, Unter-den-Teppich-Kehren oder Kumpanei in Koalitionen. Deshalb waren die Angriffe deplaziert.Ich hatte bei mancher Kritik an dem Justizsenator Baumann mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten den Eindruck, hier gehe es weniger um die Kritik an einem für einen bestimmten Bereich verantwortlichen Minister als vielmehr um die Auseinandersetzung mit einem anerkannten liberalen Strafrechtslehrer, der beachtenswerte Aussagen zur freiheitlichen Gestaltung unseres Rechts- und Staatssystems gemacht hat.
Metadaten/Kopzeile:
7318 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister GenscherMeine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir diese Debatte, soweit sie sich mit diesem Thema befaßt, in ihrer ganzen Tragweite beurteilen wollen, so muß zweierlei berücksichtigt werden. Die Terroristen könnten in der Bundesrepublik Deutschland keinen größeren Erfolg erreichen, als uns entweder dazu zu bringen, durch Hektik in der Gesetzgebung den freiheitlichen Rechtsstaat in seinem Wesenskern zu beschädigen, oder die demokratischen Parteien in der Auseinandersetzung über den Terrorismus zu einer Selbstzerfleischung der Demokratie in unserem Lande zu bringen. Beides kann niemand wollen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun zu dem Thema zurückkommen, das heute auf der Tagesordnung steht, nämlich zu dem Bericht des Bundeskanzlers über die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen. Das war kein Reisebericht über einen Ausflug des Bundeskanzlers nach New York, sondern es war die Berichterstattung über eine der bedeutungsvollsten Konferenzen, die die Vereinten Nationen in den letzten Jahren abgehalten haben. Die Lösung der großen Fragen zwischen Nord und Süd, die Überwindung der Kluft zwischen reichen und armen Ländern ist die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Wenn wir sie nicht lösen, werden wir nicht nur dem moralischen Anspruch unserer Verfassung nicht gerecht, sondern wir werden auch nicht in der Lage sein, den Frieden weltweit zu bewahren. So gesehen ist das Thema, das dort verhandelt wurde, Friedenspolitik. Ich hätte dazu in der Debatte von allen Seiten des Hauses Sachbeiträge erwartet.
Der Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Staaten der Dritten Welt nicht von ungefähr den Antrag auf Durchführung dieser Sondergeneralversammlung gestellt haben. Sie haben diesen Antrag gestellt, weil sie spüren, wie übermäßige Rüstungsausgaben der Industriestaaten die Fähigkeiten der Industriestaaten einschränken, ihnen die notwendige Hilfe bei ihrer Entwicklung und bei der Überwindung von Armut, Hunger und Not zu leisten. Es besteht kein Zweifel — dies ist von der Bundesregierung hier von diesem Pult aus genauso wie in den Vereinten Nationen wiederholt zum Ausdruck gebracht worden —, daß die Pflicht zur Hilfe für die Staaten der Dritten Welt nicht eine spezielle, nur den marktwirtschaftlich orientierten Industriestaaten gestellte Aufgabe ist, sondern daß es sich um eine Aufgabe handelt, der sich alle Industriestaaten stellen müssen. Ich wiederhole, was ich bei anderer Gelegenheit gesagt habe: Ich halte es für einen unerträglichen Zustand, daß alle kommunistischen Industriestaaten zusammengenommen weniger öffentliche Entwicklungshilfe leisten, als die Bundesrepublik Deutschland dies allein tut.
Meine Damen und Herren, dieses Thema der Disproportionen in der Hilfeleistung ist vom Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen, im Deutschen Bundestag und bei anderen Gelegenheiten einschließlich der Konferenzen der NATO und des Wirtschaftsgipfels in London zu einem zentralen Thema der internationalen Diskussion gemacht worden. So gesehen begrüßt derjenige, der die Ergebnisse und Aussagen des NATO-Gipfels begrüßt, derjenige, der die Haltung der westlichen Staaten bei dieser Sondergeneralversammlung begrüßt, auch derjenige, der die Haltung der amerikanischen Regierung begrüßt, auch die Haltung der Bundesregierung. Denn hier besteht eine nahtlose Übereinstimmung zwischen uns und unseren westlichen Verbündeten sowie unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft.Der Bundeskanzler hat für die Bundesregierung vor der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen ein realisierbares und realistisches Konzept zur Frage der Abrüstung vorgetragen. Er hat der Versuchung widerstanden, durch großflächige, sich möglicherweise über Jahrzehnte erstreckende, nicht konkretisierbare Programme die Aufmerksamkeit abzulenken von jenen internationalen Verhandlungen, bei denen jetzt schon, wenn beide Seiten es wollen, Fortschritte möglich sind. Ich erwähne die MBFR-Verhandlungen in Wien, die SALT-Verhandlungen und auch die Grauzonen-Problematik, auf die die Bundesrepublik Deutschland in besonderer Weise hingewiesen hat.Herr Kollege Zimmermann hat dem Bundeskanzler gesagt, er habe von „ungefährer Parität" gesprochen und damit zu einer unklaren Begriffsbildung beigetragen. Ich möchte Ihnen aus dem NATO-Kommuniqué einmal vorlesen, was dort steht:Sie— nämlich die Teilnehmerstaaten —bestätigen ihre Zustimmung zu dem vereinbarten Ziel der Verhandlungen, zu einem stabileren Kräfteverhältnis sowie zur Stärkung von Frieden und Sicherheit in Europa beizutragen. Dieses Ziel würde durch ihren Vorschlag erreicht werden, einen ungefähren Gleichstand der Landstreitkräfte im Gebiet der Reduzierungen in der Form einer übereinstimmenden kollektiven Gesamthöchststärke für den Personalbestand der Landstreitkräfte und der Verminderung der Disparität bei den Kampfpanzern zu erreichen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die bedeutende neue Initiative, die sie— also die westliche Seite —am 19. April in die Verhandlungen einführten und bei der sie nun eine ernsthafte und konstruktive Reaktion der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes erwarten. Diese Bündnispartner sind der Auffassung, daß die Datendiskussion in Wien ein wesentliches Element der Bemühungen um ein befriedigendes Ergebnis ist und daß die Klärung der Datenbasis daher für substantielle Fortschritte in den Verhandlungen entscheidend ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7319
Bundesminister GenscherMeine sehr verehrten Damen und Herren, die Einführung des Begriffs der ungefähren Gleichheit, des Begriffs der ungefähren Parität und des Nichtstrebens nach einseitiger Überlegenheit in ein west-östliches Dokument anläßlich des Besuchs des Generalsekretärs Breschnew in der Bundesrepublik Deutschland war in der Tat ein bedeutender Fortschritt für die internationale Abrüstungsdiskussion, weil sie uns die Möglichkeit gibt, in dieser Diskussion unter Berufung auf dieses Dokument auch die östliche Seite beim Wort zu nehmen, wenn es darum geht, diese Ziele zu erreichen. Wir wären aber einer Illusion unterlegen — und das war nicht der Fall —, wenn wir davon ausgegangen wären, daß über die Frage, ob die Parität schon vorhanden ist, Einigkeit erzielt wäre. Deshalb kommt dem Satz so entscheidende Bedeutung zu — ich wiederhole ihn —:Diese Bündnispartner sind "der Auffassung, daß die Datendiskussion in Wien ein wesentliches Element der Bemühungen um ein befriedigendes Ergebnis ist und daß die Klärung der Datenbasis daher für substantielle Fortschritte in den Verhandlungen entscheidend ist.Meine Damen und Herren, das ist doch kein Dokument, das ohne oder gegen die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet worden ist, sondern wir gehören mit zu den Autoren dieses Dokuments, das deutlich macht, daß Voraussetzung jeder realistischen Truppenreduzierung in Europa zunächst einmal die Klärung der vorhandenen Personalstärken und auch der vorhandenen Panzerstärken ist.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?
Bitte schön!
Herr Bundesminister, indem ich dieser Ihrer Klärungsforderung ausdrücklich zustimme, möchte ich Sie fragen: Besteht das Problem nicht darin, daß ein Text wie die deutsch-sowjetische Deklaration vom 6. Mai 1978 bei unserer Öffentlichkeit den Eindruck einer weitgehenden politischen Harmonie schafft, während dann komplizierte NATO-Texte, denen ich ausdrücklich zustimme, die eigentliche Korrektur dieses Harmonieeindrucks darstellen, die aber die deutsche Öffentlichkeit in dieser Form kaum wahrnehmen kann?
Herr Kollege, diese Gefahr sehe ich nicht. Vielmehr sehe ich darin umgekehrt eine Chance für uns, daß Begriffe, die seit langem zu den zentralen Zielen unserer Abrüstungspolitik gehören, die auf lange Zeit von der östlichen Seite abgelehnt wurden, nunmehr, nachdem sie in einem zweiseitigen ost-westlichen Dokument enthalten und damit von der anderen Seite als solche akzeptiert sind, die Basis der Argumentation bilden und nunmehr jene gleiche dynamische Kraft für die Veränderung des Bewußtseins in der weltweiten Diskussion haben werden, wie die Begriffe aus der Schlußakte von Helsinki sie inzwischen auch haben, auch gegen den Pessimismus derjenigen, die der Meinung waren, man dürfe nichts unterschreiben, bei dem nicht von vornherein in jeder einzelnen Wortwahl die totale Übereinstimmung hergestellt sei. Das ist der eigentliche Punkt.
Deshalb glauben wir an die Dynamik einer solchen Politik, die durch Überzeugung, Gespräch und Verhandlung die Diskussion voranbringt mit dem Ziel, als Ergebnis der Diskussion sachliche, realisierbare Ergebnisse zu erreichen. Ich denke, daß die Anerkennung, die diese gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers und des sowjetischen Generalsekretärs im NATO-Rat und bei unseren Gesprächspartnern in Washington gefunden hat, zeigt, daß man die Bedeutung der Aufnahme dieser Begriffe in ein west-östliches Dokument dort genauso hoch einschätzt, wie auch wir das tun.Nun ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, im Zusammenhang mit der NATO-Tagung in Washington auch die Frage behandelt worden, wie es sich denn mit der Entspannungspolitik im Verhältnis zu den Vorgängen und Entwicklungen in Afrika verhalte. Hier im Deutschen Bundestag wurde heute morgen die Frage aufgeworfen, warum denn die Bundesregierung nicht früher und von sich aus auf die Probleme Afrikas aufmerksam gemacht und die dort vorhandenen Gefahren und Probleme gesehen hätte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, schon bei der NATO-Ratstagung in Oslo im Jahre 1975 ist über die äußeren Rahmenbedingungen der Sicherheit der NATO-Staaten diskutiert worden. Schon auf der NATO-Ratstagung in Oslo 1975 waren wir uns — und zwar ausgelöst durch einen deutschen Diskussionsbeitrag — darüber einig, daß nicht allein das Kräfteverhältnis der Bündnisse auf europäischem Boden zueinander, die innere Stärke der NATO, unsere wirtschaftliche Stärke und politische Stabilität für unsere Sicherheit entscheidend sind, sondern auch das Kräfteverhältnis und mögliche Kräfteverschiebungen um Europa und um die Vereinigten Staaten herum.In diesem Zusammenhang ist damals auch auf die Gefahr hingewiesen worden, die sich aus einer Verschiebung der Machtverhältnisse in Afrika ergeben könne. Ich denke, daß die Afrikapolitik der Europäischen Gemeinschaft, die sich in Übereinstimmung mit der Afrikapolitik der Vereinigten Staaten und Kanadas befindet, einen wesentlichen Anteil daran hat, daß die Möglichkeiten zur Ausnutzung von Schwächepunkten in Afrika nicht größer geworden sind, als man es damals befürchten mußte, sondern im Gegenteil: Unser Konzept der Stärkung der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten durch wirtschaftliche Hilfe, unser Konzept der Stärkung ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit und wirtschaftlichen Stabilität und damit auch ihrer politischen Stabilität, um sie gegen Einflüsse von außen immun zu machen, ist die Antwort der westlichen Staaten auf den Versuch, Einflußzonen in Afrika zu errichten.
Metadaten/Kopzeile:
7320 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister GenscherDie Bundesregierung hat deshalb in dem besonderen Fall, der sich eben in Zaire zugetragen hat, ausdrücklich und als eine der ersten Regierungen der französischen und der belgischen Regierung für ihren Einsatz zur Rettung von Menschenleben gedankt und hat das auch als eine politisch wichtige Aktion gewertet, als Zeichen dafür, daß der Westen nicht desinteressiert abseits steht, wenn mit Unterstützung von außen die territoriale Integrität eines afrikanischen Staates beeinträchtigt wird.Denn es gehört nun einmal zu den Grundsätzen der Organisation für Afrikanische Einheit, daß die territoriale Integrität und der ungeschmälerte Bestand der afrikanischen Staaten auf jeden Fall gewahrt bleiben sollen, wenn nicht Afrika durch endlose Grenzkorrekturen im Chaos versinken soll. Das gilt auch dort, wo diese Grenzen als Produkt kolonialer Grenzziehung möglicherweise der inneren Logik widersprechen mögen. Ich glaube, es war ein Akt der Weisheit der afrikanischen Staaten, daß sie sich zu einem solchen Grundsatz entschlossen haben. Wir stehen hier hinter der Organisation für Afrikanische Einheit, und wir sind daran interessiert, daß diese Organisation gestärkt wird, daß sie die Möglichkeit erhält, afrikanische Probleme mit afrikanischen Möglichkeiten und Mitteln zu lösen, damit Afrika nicht Schauplatz des Austragens eines Ost-West-Gegensatzes wird — zum Nachteil nicht nur der Europäer, sondern auch der Afrikaner. Denn wir müssen daran interessiert sein, daß dieses Afrika ein unabhängiges Afrika ist. So wahren wir auch unsere eigenen Sicherheitsinteressen, und so erreichen wir, daß die Staaten Afrikas als unabhängige Staaten in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Staaten Europas ihre Entwicklung vorantreiben können.Meine Damen und Herren, das bedeutet in dieser außerordentlich schwierigen Lage, die jetzt in Afrika entstanden ist, daß wir mit großer Sorgfalt dafür sorgen, daß die Initiative der fünf westlichen Sicherheitsratsmitglieder zur Lösung der Namibia-Frage — und zwar zur friedlichen Lösung der Namibia-Frage — nicht Schaden leidet, sondern diese Entwicklung fortgesetzt werden kann und Namibia nicht in einem Rassenkrieg versinkt und daß wir mit der gleichen Intensität unsere amerikanischen und britischen Freunde bei ihren Versuchen unterstützen, in Rhodesien eine entsprechende friedliche Lösung möglich zu machen.Auch das war Gegenstand der Aussprache bei Gelegenheit des NATO-Gipfels in Washington im Kreis der NATO-Partner, nicht weil sich die NATO in afrikanische Angelegenheiten einmischen wollte, sondern weil die in der NATO zusammengeschlossenen Demokratien wollen, daß nicht nur sie selbst in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts ihr eigenes Schicksal gestalten können, sondern daß das gleiche auch die afrikanischen Staaten tun können. Dazu ist notwendig, daß wir alle auch in den sehr schwerwiegenden Fragen des südlichen Teils Afrikas — ich schließe hier die Republik Südafrika ein — eine glaubwürdige Haltung einnehmen, und zwar auch in der Menschenrechtsfrage.Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier ist heute über die Menschenrechtsfrage, über. ihre faszinierende Wirkung gesprochen worden, die über Mauer und Stacheldraht hinweggeht, die nicht durch Zensur und Gefängnis zu unterdrücken ist. Aber das Eintreten für die Verwirklichung der Menschenrechte muß allumfassend sein: in Europa wie in anderen Teilen der Welt, wie auch im südlichen Afrika, auch dort, wo Rassendiskriminierung eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellt.
Vielleicht sollten Sie einmal mit jenem Kollegen aus Ihrer Fraktion sprechen, der nach seiner Rückkehr aus Südafrika im Rundfunk gesagt hat, einige Fortschritte hätte man da unten schon gemacht. So habe er z. B. beobachtet, daß jetzt schon die Schwarzen und Weißen zusammen im Fahrstuhl fahren dürften. Meine Damen und Herren, man muß sich einmal überlegen, wie das bei Menschen ankommen muß, die darum ringen, daß sie ihre Gleichberechtigung auf der Grundlage ihrer Hautfarbe erringen, wenn in dieser Form über ihre Probleme gesprochen wird.
Mir geht es hier nicht darum, eine emotionale Behandlung dieser Frage zu erreichen, sondern ich möchte um Verständnis dafür ringen, daß die Unabhängigkeit Afrikas — das war ein wichtiges Thema in Washington — Verwirklichung von Menschenrechten, von Selbstbestimmung, aber auch ein Stück Sicherheitspolitik für Europa und für die Bundesrepublik Deutschland ist.Deshalb waren das, was der Bundeskanzler hier als Ergebnis dieses NATO-Gipfels vorgetragen hat, und das, was er als Ergebnis der Sondergeneralversammlung vorgetragen hat, mehr als ein Reisebericht. Meine sehr verehrte Damen und Herren, was hier vorgetragen wurde und was hier gewürdigt werden konnte, war ein Konzept der westlichen Demokratien zur Bewahrung ihrer Freiheit, zur Stärkung ihrer Sicherheit und zur Fortsetzung ihrer Friedenspolitik auf der Grundlage eines handlungsfähigen Bündnisses. Das war das Thema heute morgen. Das andere steht am Nachmittag an.Wir werden uns den Fragen der inneren Sicherheit so wenig entziehen wie den Fragen der äußeren Sicherheit. Aber es wird uns nichts nützen, für die innere Sicherheit einzutreten, wenn nicht die äußere Sicherheit gewahrt ist. Das getan zu haben war ein Ergebnis der Konferenz von Washington. Das sollte das Haus unterstützen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige polemische Äußerungen des Herrn Abgeordneten Kohl, insbesondere die Benutzung solcher Worte wie Kneifen oder Auswei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7321
Bundeskanzler Schmidtchen, zwingen mich, in Ihre Mittagspause hinein noch einmal das Wort zu nehmen. Ich hatte mir dies ja heute morgen vorbehalten und muß von dem Vorbehalt jetzt Gebrauch machen.Ich sagte schon heute morgen, die Bundesregierung gehe davon aus, daß das Land Berlin, in dessen Verantwortung die Sicherheit der Berliner Strafanstalten liegt, die dortigen Vorgänge rückhaltlos aufklären und sodann die sich daraus ergebenden Folgerungen ziehen wird. Ich füge jetzt hinzu: Es muß und kann ja wohl auch durch geeignete Maßnahmen und Einrichtungen verhindert werden, daß in ein Gefängnis eine Maschinenpistole verbracht wird und sich inhaftierte Terroristen der gegen sie verhängten Haft entziehen können. Dazu braucht es, Herr Abgeordneter Kohl, keinerlei neuer Gesetze, sondern dafür gibt es Gesetze, die das verhindern. Die müssen nur angewandt werden.
Man braucht keine neuen Gesetze. Deswegen weise ich die Insinuationen des Oppositionsführers zurück, die besagten, die Selbstbeschränkung im Machen immer neuer Gesetze sei Grund dafür, daß hier und dort schlimme — ich wiederhole es: schlimme — Fehler passieren.
Ich denke, es sollte sich niemand durch die Wiederholung der Forderung nach immer neuen Gesetzen
von den eigentlichen Fehlern oder Lücken, die in der Anstaltssicherheit offensichtlich vorhanden sind, und nicht nur in Berlin zutage getreten sind, abhalten lassen.Ich will übrigens über die Kritik an diesen Vorkommnissen dort nicht vergessen, daß einer der Anstaltsbeamten unter Einsatz seines Lebens die Befreiung eines weiteren gefährlichen Häftlings verhindert hat, und dies verdient Anerkennung.
Ich will hinzufügen, daß wir die meisten der an den Mordanschlägen in Deutschland beteiligten Terroristen kennen. Wir werden sie — dessen bin ich gewiß — auch und gerade mit Hilfe der Regierungen derjenigen Staaten, in denen sie sich gegenwärtig aufhalten, früher oder später ihren gesetzmäßigen Richtern und damit ihrer Strafe zuführen. Ganz offensichtlich sind viele deutsche Terroristen derzeit unter dem Druck der Fahndung in den ausländischen Untergrund weggetaucht. Aber ich füge auch hinzu, daß uns die gegenwärtige Ruhe nicht täuschen darf.
und daß weitere Herausforderungen unseres Stehvermögens nicht ausgeschlossen werden können, bevor dieser Wahn zu Ende geht. Wir werden diese Herausforderungen auch bestehen. Wir werden übrigens, Herr Abgeordneter Kohl, gewiß auch alle notwendigen Konsequenzen aus den Fahndungsfehlern ziehen müssen. Wenn ich „wir" sage, so meine ich Bund und Länder.
Bald wird der Bericht des früheren Kollegen Höcherl vorliegen, dem ich nicht vorgreifen will.
Aber auch hier auf diesem Felde handelt es sich ganz offenbar weniger darum, daß neue Gesetze und neue Paragraphen notwendig wären,
wie es auch aus Ihrer Rede wieder hervorzuklingen schien,
sondern es handelt sich darum, daß das, was an Instrumenten da ist, zielstrebig eingesetzt werden muß.
Ich bin jedenfalls, Herr Abgeordneter Kohl — ich sage das nicht zum erstenmal —, ein Gegner uferloser immer neuer Gesetzgebung und ewiger Basteleien.
Allerdings ist wohl jetzt schon klar — die Bundesregierung hat das von Anfang an vertreten —, daß nämlich die Verbesserung der praktischen polizeilichen Möglichkeiten sowohl politisch als auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor immer neuen, wenn zum Teil auch durchaus diskutablen Vorschlägen zur Änderung des Strafrechts haben muß, weil nämlich der simple Satz richtig bleibt, daß nur derjenige bestraft werden kann, der infolge zweckdienlicher Fahndung tatsächlich festgesetzt und seinem Richter zugeführt werden konnte.
Wir werden die Terroristen, die es jetzt gibt, ergreifen, und sie werden bestraft werden; aber ein Ende des Terrorismus wäre damit nur dann erreicht, wenn nicht weiterhin jüngere Menschen in aller Welt auf diesem wahnwitzigen und auch für sie selbst schrecklich endenden Weg weitergehen.
Metadaten/Kopzeile:
7322 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundeskanzler SchmidtDeswegen denke ich, daß wir, unbeschadet der hier etwas reichlich hitzig ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten, die ja wohl leider weiter so ausgetragen werden, jeder in seinem Felde dazu beitragen soll, daß es allüberall, auch auf unseren Schulen, auch auf unseren Hochschulen, in unseren Verbänden, eine klare, auf ein klares Ziel gerichtete Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit gibt: Rechtsstaatlichkeit des Verhaltens des einzelnen oder einer Gruppe oder eines Verbandes, auch und gerade im Falle des Interessenkonflikts, des geistigen Konflikts oder des ideologischen Konflikts. Ich bin mir darüber klar, daß Erziehung — schon dieser Begriffsname — nicht überall in Deutschland sehr groß geschrieben wird. Deswegen betone ich es ein zweites Mal: Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit, gerade für den Fall des Konfliktes.Es muß deshalb — wenn ich das im übrigen einfügen darf — wohl vielen von Ihnen ebenso gehen wie mir, es muß wohl jedem verantwortlichen Politiker so gehen: Es macht uns Sorge, daß bei uns gegenwärtig mit nationalsozialistischer oder neonazistischer Literatur und Schallplatten Geschäfte gemacht werden können und daß neonazistische Gruppen — und nicht nur linksextremistische — jugendliche Anhänger finden, ,die sich zur Gewalt bekennen.Ich weiß, daß es nur wenige Irregeleitete sind. Die gibt es überall und immer. Auch die Terroristen sind nur wenige Irregeleitete. Ich weiß auch, daß die überwältigende Mehrheit unserer Bürger diesen Neonazisten genauso ablehnend gegenübersteht wie den Terroristen. Aber all das entbindet niemanden in den Schulen und Hochschulen, in den Ländern und im Bund von der Pflicht zu größter Aufmerksamkeit.Ich, Herr Abgeordneter Kohl, möchte ebensowenig wie Sie kommunistische oder neonazistische Erziehungseinflüsse in unseren Schulen und Hochschulen wirksam werden sehen.
Ich frage mich aber, ob Ihre Ausführungen zu dem Extremistenerlaß von 1972 wirklich ein wesentlicher Beitrag dazu gewesen sein können.
Ich war von Anfang an — ich darf die Gespräche aus dem Jahre 1972 in Ihre Erinnerung rufen — ein Gegner dieses Erlasses, weil ich nie geglaubt habe, daß man gesetztes Recht und höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Weg über die Erlaßpraxis von noch so vereinigten Regierungschefs, sei es der Länder oder ,des Bundes, zu beeinflussen versuchen sollte. Ich räume ein — und nicht mit Vergnügen —, daß jener Erlaß inzwischen einen Teil der Rechtsprechung beeinflußt hat.Das, was für die Einstellung in den öffentlichen Dienst gilt, und das, was für das Recht gilt, unter dem Angehörige des öffentlichen Dienstes, z. B. auch in Schulen, ihren Pflichten, ihren Aufgaben, ihren Obliegenheiten nachzugehen haben, das steht im Beamtenrecht, in einigen Fällen sogar im Ver-fassungsrecht. Bundesverwaltungsgericht, Verfassungsgericht und andere hohe Gerichte haben für die Auslegungsschwierigkeiten, die es naturgemäß immer gibt = sonst bräuchten wir keine Gerichte —, die Richtlinien gegeben, an die sich die Verwaltung zu halten hat. Extremistenerlasse sind keine Richtlinien, die gesetztes oder gesprochenes Recht ersetzen können.
Ich halte sie deswegen im Grunde für verfehlt, Herr Abgeordneter Kohl.Sie haben — und das will ich in dem Zusammenhang erwähnen — auf ein bestimmtes Urteil der jüngsten Zeit abgehoben und sich darüber beklagt, daß sich der Abgeordnete Willy Brandt und andere meiner Freunde an diesem Urteil gerieben haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— Na gut. Bleiben wir bei den Jusos. Vielleicht habe ich es falsch erinnert. Mir liegt nicht daran, Sie in diesem Punkte falsch zu interpretieren. Ich korrigiere mich gerne auf Ihren Zuruf hin.
Ich will Ihnen nur eines sagen — darauf kommt es mir nun allerdings an —: Urteilsschelte gehört zu den demokratischen Rechten freier Meinungsäußerung jedes Bürgers in ,der Bundesrepublik Deutschland.
Das Recht zur Urteilsschelte gilt sogar — obwohl ich es bisher nicht in Anspruch genommen habe und auch heute gewiß nicht in Anspruch nehmen will — gegenüber Urteilen des Bundesverfassungsgerichts.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kohl?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Bundeskanzler, würden Sie mir zustimmen, daß wir in bezug auf das Recht zur Urteilsschelte — ich habe das gleiche gesagt — übereinstimmen, daß wir aber hoffentlich auch darin übereinstimmen, daß es aus dem Geist unserer freiheitlichen Demokratie nicht statthaft ist, in diesem Zusammenhang von „politischer Justiz" und „politischen Urteilen" zu reden? Das ist doch der Punkt!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich stimme Ihnen zunächst zu, daß wir in bezug auf das Recht zur Urteilsschelte offenbar einer Meinung sind, was auch durchaus einschließt, daß man ein Urteil von zwei verschiedenen Blickrichtungen aus schelten kann und daß sich die Scheltenden gegenseitig schelten können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7323
Bundeskanzler SchmidtI Der Ausdruck politische Justiz — ich kenne dasPapier nicht, auf das Sie sich bezogen — kann zunächst ein wertneutraler sein. Jeder von uns hat schon von politischen Strafprozessen gesprochen. Dies war offenbar ein Zivilprozeß, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe. Er muß in den letzten Tagen abgeschlossen worden sein, in denen ich im Ausland war. Ich bitte, mir nachzusehen, daß ich mit den Einzelheiten nicht vertraut bin.
— Sicherlich gibt es auch politische Prozesse, die in der Gestalt des Zivilprozesses auftreten. Politische Beleidigungsklagen beispielsweise, die auch nicht gerade in einem Strafprozeß verhandelt werden müssen, liegen an der Grenze.
— Wenn der Ausdruck politischer Prozeß einen herabsetzenden Charakter haben sollte, wäre ich sehr vorsichtig, einen solchen Ausdruck zu gebrauchen, Herr Abgeordneter.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lenz?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf vielleicht meine Ausführungen zu Ende führen; denn ich möchte Sie nicht mit anderem aufhalten als mit meinen Antworten auf die Herausforderungen, die ich aus dem Munde des Oppositionsführers gehört habe.Er hat auch über die Erforschung der Ursachen des Terrorismus gesprochen. Nicht nur ich, sondern die Bundesregierung insgesamt mißt dieser Erforschung große Bedeutung zu. Die Bundesregierung hat ja gemeinsam mit den Innenministern der Länder unter Federführung des Kollegen Maihofer ein großes Vorhaben auf diesem Felde in Gang gesetzt. Ich hoffe, daß es ohne kraftraubende Kompetenzschwierigkeiten auf verschiedenen staatlichen Ebenen oder zwischen verschiedenen staatlichen Ebenen vorangebracht werden kann.Ich will in dem Gesamtzusammenhang allerdings eines sagen. Weder dient es der geistigen Erforschung des Terrorismus noch dient es dem Bewußtsein der Rechtsstaatlichkeit in unserem Lande, wenn in einzelnen Teilen des Landes oder in einzelnen Verwaltungsbereichen eine Schnüffeleipraxis in bezug auf das, was Menschen in relativ jugendlichem Alter einmal gesagt, getan, getragen oder zerrissen haben, nun dazu führt, daß das alles in die Akten geschrieben wird und daraus Rückschlüsse für den weiteren Verlauf eines dann noch 40 Jahre betragen sollenden Berufslebens gezogen werden.
Das ist eine Praxis, die jedenfalls von der Rechtsprechung nicht verlangt, von ihr auch nur sehr teilweise gedeckt und zum Teil sogar verurteilt wird, eine Praxis, die in dem Lande des Ministerräsidenten kulminiert, über den Herr Abgeordneter Kohl vorhin lange gesprochen hat.
Diese Praxis ist in vielen Fällen ein Verstoß gegen den Anstand, der auch von staatlichen Behörden verlangt wird.
— Es ist ganz klar, von welchem Land ich spreche. Ich will auch gerne den Namen aussprechen und an die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Kohl hinsichtlich der Person des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Dr. Filbinger einiges anknüpfen.Zunächst den einen Satz: Ich stimme Ihnen, Herr Abgeordneter Kohl, für meine Person jedenfalls, darin zu: Ich bin auch gegen die Aufrechnung politischer Irrtümer aus Jugendzeiten. Ich habe mich daran nicht beteiligt. Aber wenn jener Ministerpräsident, wie es doch nun vielfältig in den Debatten berichtet worden ist, die um seine Person im Laufe der letzten Wochen stattfanden, tatsächlich gesagt haben sollte: Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein, — wenn dieser Satz von dem erwachsenen, juristisch gebildeten, völlig ausgereiften Manne an der Spitze jenes Landes heute tatsächlich so gesprochen worden sein sollte, dann ist eine solche Einlassung für mich tief schmerzlich.
Eine solche Einlassung halte ich für unvertretbar. Derjenige, der eine solche Einlassung angreift, der nützt nach meiner Vorstellung unserem Volke und unserer Rechtskultur.
Wer einen solchen Satz verteidigte, daß das, was im März oder April 1945 Rechtens war, auch heute nicht Unrecht sein könne, der würde uns allen schaden.
Herr Abgeordneter Kohl, rechnen Sie bitte nicht — —
— Ich habe es in mehreren Zeitungen gleichzeitig so gelesen, und Sie haben es auch gelesen.
Metadaten/Kopzeile:
7324 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundeskanzler SchmidtFür den Fall, daß der Herr Ministerpräsident Filbinger es dementieren sollte
— ich hatte gesagt: „falls er es so gesprochen haben sollte" —, werde ich in bezug auf seine Person meine eben gemachten Ausführungen für gegenstandslos erklären,
Zeit genug hat er dazu gehabt.
Herr Abgeordneter Kohl, ich glaube nicht, daß es dem Gewicht einer solchen Auseinandersetzung gerecht wird, wenn Sie die Äußerungen eines Ministerpräsidenten gegen möglicherweise sehr unbedachte Äußerungen junger Leute, Jusos z. B., aufrechnen wollen.
— Das schien mir der Zweck Ihrer Rede zu sein.
Ich gehöre ja beinahe Filbingers Generation an, und auch ich habe in der Nazi-Zeit sechs Jahre lang die Uniform der Wehrmacht getragen und vieles miterlebt. Ich weiß aus eigener Erfahrung wie jeder der damals erwachsen werdenden oder schon erwachsenen Generation, daß man — sei es als Soldat, sei es als Kriegsrichter oder Marinerichter — in vielerlei schwierige und schwierig zu bewältigende Situationen geraten konnte. Es gibt noch ein paar Ältere in diesem Saal, die das alles miterlebt haben. Ich will darüber nicht nachträglich rechten. Der eine ist einer bestimmten sittlich schwierigen Situation vielleicht mit etwas Glück besser gerecht geworden als der andere, vielleicht mit etwas Pech. Ich würde es nicht gut finden, darüber nachträglich zu rechten.
Für mich stehen nicht — wenn ich mich salopp ausdrücken darf — 30 oder wieviel Jahre zurückliegende Sünden oder — bei anderen — Jugendsünden zur Debatte. Für mich steht eigentlich, wenn der Name Dr. Filbingers fällt, der ja wohl z. B. der Erfinder des Schlagwortes von der Alternative „Freiheit oder Sozialismus" ist, die Art seines politischen Kampfstils und sein pathologisch gutes Gewissen zur Debatte.
Ich benutze sodann für die ganze Bundesregierung die Gelegenheit, zu unterstreichen, was der Herr Kollege Genscher im Laufe dieser Mittagsdebatte ausgeführt hat, nämlich den Appell, in diesen Fragen des Rechts und der Aufrechterhaltung desRechts zusammenzustehen. Ich füge hinzu: Ich wünschte mir — unabhängig von unseren Kontroversen —, daß wir auch erkennen, daß wir zusammenstehen müssen und daß wir infolgedessen auch zusammenstehen wollen in der Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit, was durchaus viel, viel Gelegenheit läßt, sich zu irren und etwas zu tun, was vor Gericht anders beurteilt wird, als man es selbst im Augenblick seines Handelns beurteilt hat; sonst brauchten wir keine Gerichte. Erziehung zur Rechtstaatlichkeit ist etwas, auf das man sich auf allen Seiten des Hauses einigen sollte.Nun hat der Abgeordnete Kohl die für mich erstaunliche Bemerkung gemacht, im Bundestag finde keine Politik statt — er hat gesagt: „mehr". Ich weiß nicht, an welchen Zeitraum er dabei dachte.
Ich will Ihnen eines sagen, Herr Abgeordneter Kohl: Die Mehrheit dieses Hauses und die Bundesregierung verfolgen auf vielen Feldern seit Jahr und Tag sehr klare politische Linien. Sie erleiden dabei bisweilen Rückschläge und Enttäuschungen; sie sind insgesamt dabei gut gefahren, das Land ist dabei insgesamt gut gefahren. Wer eine andere Politik will, der muß sie in diesem Hause vortragen, damit Politikauseinandersetzung stattfinden kann.
Es hat doch keinen Sinn, wenn man einerseits auf die Darbietung der eigenen politischen Substanz verzichtet, diesen Verzicht andererseits bemänteln zu wollen durch verbale Kraftakte wie „Betrug" und dergleichen Worte, wie Sie sie heute morgen gebraucht haben.
Sie haben gesagt, es gebe keine parteiische Friedenspolitik. Es klang ein Vorwurf daraus hervor.
— Verehrter Herr Abgeordneter, im Gegensatz zu der Situation, in der Sie sich befanden, als Sie auf meine Rede antworteten — Sie hatten meinen Text vor sich —, habe ich Ihren Text nicht vor mir. Ich zitiere aus dem Gedächtnis und lasse mich gerne in dem Zitat korrigieren. Das, worauf es ankommt, folgt ja noch erst. Ich nehme also Ihren korrigierenden Zwischenruf gerne auf.Sie haben gesagt, es gebe keinen parteiischen Frieden. Dann haben Sie meinen Parteifreunden oder der ganzen Regierung — das weiß ich nicht so genau, ich muß jetzt vorsichtig sein in meinem Zitat, weil es vielleicht nicht ganz stimmt —, vorgeworfen, wir täten so, als ob Sie nicht für den Frieden einträten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7325
Bundeskanzler SchmidtDas haben Sie so gemeint?
— Ich habe sie nicht gesehen,
aber ich muß Ihnen eines ganz deutlich sagen: Ich bin in der Tat der Meinung, daß Ihre Außenpolitik dem Frieden nicht dient, selbst wenn sie es will. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich komme darauf gleich zurück, mache aber darauf aufmerksam, daß ein Christdemokrat, der sich ausschließlich über Kraftworte oder Wahlkampfschlagworte oder Schlagzeilen des Gegners deren Exklusivität wegen aufregt, dann im Glashaus sitzt, wenn er nicht in der eigenen Partei dafür sorgt, daß der alternative Gebrauch, die polarisierende Gegenüberstellung von Sozialismus und Freiheit endlich aufhört.
Das haben doch Sie angefangen, um damit zu insinuieren: Die einen sind für den Sozialismus, aber nur wir, die anderen, die Christdemokraten, sind für die Freiheit. Das war doch wohl Ihre Erfindung, die am Anfang dieser Spirale steht. Wenn auf beiden Seiten zurückgesteckt werden könnte, werden Sie mich dabei finden.
Und nun komme ich zu der Frage, ob Ihre Außenpolitik dem Frieden wirklich dienlich wäre. Sie haben die erstaunliche Bemerkung gemacht, das gemeinsame, von uns mit erarbeitete Kommuniqué des Nordatlantikrates bedeute eine Korrektur der Außenpolitik der Bundesregierung. Was in diesem Kommuniqué steht, Herr Abgeordneter Kohl, entspricht unserer Überzeugung — einer Überzeugung und einer Politik, die wir uns im Lauf von mehr als achteinhalb Jahren erarbeitet haben.Vielleicht darf ich Sie mit einem gewissen Stolz darauf hinweisen, daß die These vom militärischen Gleichgewicht als einer unverzichtbaren Voraussetzung für Entspannungspolitik der Titel eines Buches ist, das ich während der Großen Koalition_ geschrieben und veröffentlicht habe. Es hat übrigens den Untertitel „Deutsche Friedenspolitik".Ich darf hier eine gewisse Kontinuität des Denkens und Handelns über ein volles Jahrzehnt jedenfalls für mich in Anspruch nehmen und brauche mir nicht gefallen zu lassen, daß jemand, der zu jener Zeit — sehr verdienstvoll wahrscheinlich - in einem Land Ministerpräsident war, herkommt, die Geschichte klittert und so tut, als -ob eine Versammlung dieser Woche in Washington uns korri- gieren müßte. Im Gegenteil. Unser Beitrag zur gemeinsamen Stabilitätspolitik des Westens war, dieses doppelte Ziel der Allianz zu setzen, nämlich Verteidigungsfähigkeit und Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und auf der Basis des Gleichgewichts gleichzeitig die Allianz insgesamt zur Entspannungspolitik einzusetzen.
Ich muß in diesem Zusammenhang auch den damaligen Außenminister Willy Brandt nennen, in dessen Zeit es nämlich fällt, daß die Allianz — soweit wir Deutschen dabei damals beteiligt waren, war es Willy Brandt; übrigens, wenn ich mich richtig erinnere, auch Gerhard Schröder — auf der Basis des Harmel-Berichts zur Zeit der Großen Koalition sich dieses doppelte Ziel gesetzt hat: zum einen die Fähigkeit zur kollektiven Selbstverteidigung zu erreichen und zu bewahren und zum anderen, gestützt auf diese Fähigkeit, die Eindämmung der Konflikte und die kompromißweise Lösung von Konflikten — schlechthin die Entspannungspolitik — ins Visier zu nehmen und als Ziel, als Konzept danebenzustellen.Ihr Konzept ist das in den letzten achteinhalb Jahren nie gewesen. Sie waren gegen die Ostverträge; Sie waren gegen Helsinki; Sie waren gegen die KSZE. Selbst als die Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen eintrat, waren Sie gespaltener Meinung.Ich werfe Ihnen das heute nicht vor., Ich bringe es nur deshalb vor, um Ihnen ins Bewußtsein zu heben, Herr Abgeordneter Kohl, der Sie damals in Mainz waren, daß es nicht so ist, daß die deutsche Bundesregierung von heute aus heutigen NATO-Kommuniqués zu lernen hätte, was die doppelte Zielsetzung von Verteidigungsfähigkeit und Entspannung bedeutet. Sondern ich muß Ihnen sagen: Sie haben von der doppelten Zielsetzung der Strategie der Allianz immer nur die erste Hälfte begriffen, niemals . die zweite Hälfte, die Entspannungspolitik.
Wir sind stolz darauf, daß wir die beiden Hälften der gemeinsamen Weltpolitik der Allianz entfaltet haben — gemeinsam mit unseren Freunden in Amerika, unabhängig davon, welcher Präsident regierte, mit unseren Freunden in Kanada, unabhängig davon, welche Partei dort regierte, mit Frankreich, unabhängig davon, wer dort Präsident war, und ebenso unabhängig von innenpolitischen Entwicklungen in England, in Italien, in Westeuropa, in Nordeuropa.Lediglich die deutsche CDU/CSU hat ich willnicht polemisieren und drücke mich deshalb zurückhaltend aus — hier einen gewissen Nachholbedarf. Sie haben sich auch heute in diesem Punkt, obwohl ich mit einem zur Differenzierung geneigten Ohr durchaus Ansätze gehört habe, nicht klar dazu bekannt.Deutlich ist, daß der außenpolitische Anpassungsprozeß dieser bedeutenden deutschen Parteigruppierung CDU und CSU an die Gesamtpolitik des westlichen Bündnisses noch nicht voll gelungen ist. Er ist bei der CSU weniger gelungen als bei der CDU.
— Ja, es gibt Ausnahmen, z. B. die Rede des Kollegen Strauß, die vorhin mit Recht in Erinnerung gerufen wurde. Das war eine Überraschung, die auch ich registriert habe. Der Anschluß ist aber immer noch nicht voll hergestellt.
Metadaten/Kopzeile:
7326 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundeskanzler SchmidtIch habe durchaus gehört, daß Sie gesagt haben, Sie teilten in weitestem Umfang den Inhalt des Kommuniqués des Nordatlantikrats. Wenn das so ist, Herr Abgeordneter Kohl, dann lassen Sie doch endlich einmal diese Zustimmung einwirken auf die öffentliche Meinung der Bundesrepublik Deutschland. Dann sagen Sie es doch endlich einmal so deutlich, daß es nicht durch alles mögliche Rankenwerk wieder in Frage gestellt wird. Dann sagen Sie doch endlich — Sie würden uns dann manches der Schlachtfelder abgraben, auf denen wir uns mit Ih- nen herumschlagen müssen — dem deutschen Volk deutlich, daß Sie diese Kombination von Verteidigung und Entspannungspolitik in all ihren wichtigen Details, wie sie die westliche Allianz im Laufe der letzten acht, neun oder zehn Jahre gemeinsam betrieben hat, für richtig halten und daß Sie diese Einsicht nunmehr bejahen. Das wäre wirklich ein Schritt voran, und dann hätten Sie zum heutigen Thema etwas beigetragen.
Statt dessen haben Sie noch einmal das Märchen aufgebracht, das neulich schon der Abgeordnete Strauß mit dem Rückversicherungsvertrag vorgetragen hatte. Es war eine Verfälschung. Ich benutze das harte Wort, das Sie hier vorhin eingeführt haben, meinerseits nicht. Die Verfälschung ist durch Herrn Kollegen Genscher unter wörtlicher Vorlesung des originalen Interviews richtiggestellt worden.Sie haben heute gleichwohl dieselbe Fälschung noch einmal vorgetragen. Sie haben dann gemeint, es sei demjenigen, den Sie mit diesem Wort „Rückversicherungsvertrag" in Anspruch nahmen, zu Unrecht in Anspruch nahmen, um seine eigene Statur gegangen. Ich will Ihnen mal was sagen: Ich habe um meine Statur keine Sorgen, Herr Kohl. Die ist in der ganzen Welt anerkannt!
— Ich bin bereit, die Orte Mainz und Kassel auszunehmen, soweit es sich dort um christlich-demokratische Abgeordnete handeln sollte.
Dann appellierte der Abgeordnete Kohl an den Bundeskanzler, er solle in seiner eigenen Partei und Koalition mehr Führung ausüben, er solle nicht nur im Ausland die Wahrheit sagen, er solle auch im Inland dasselbe sagen. Herr Abgeordneter Kohl, es gibt sicherlich in der Partei, der ich angehöre, verschiedene politische Strömungen, und manchmal bedaure ich das. Manchmal sähe ich es lieber, sie würden weniger nach außen dringen. Ich sähe es lieber, sie würden im Innern zu kompromißweiser Entscheidung geführt werden. Aber dies ist ja nicht die einzige Partei mit verschiedenen Strömungen. Die regelmäßige Wiederkehr des Namens Kreuth inden deutschen Zeitungen erinnert mich daran, daß es dergleichen auch anderswo gibt.
Ich bedaure es gleichwohl.Sodann haben Sie erneut diese alte Klitterung im Zusammenhang mit einer bestimmten Waffe vorgebracht, über die der amerikanische Präsident eine von uns voll gebilligte und getragene Entscheidung gefällt hat. Sie haben mir Mutlosigkeit vorgeworfen. Auch wenn Ihr Nebenmann jetzt den gleichen Zwischenruf machen sollte wie eben: An ziviler Courage, Herr Abgeordneter Kohl, lasse ich mich ungern übertreffen, auch nicht von Ihnen. Ich bin auch gar nicht getroffen, wenn Sie hier Defizite vortragen wollen.
Ich bilde mir nämlich etwas darauf ein, .daß ich vor Kongressen der Deutschen Gewerkschaftsbewegung auf Punkt und Komma dasselbe sage wie vor Kongressen der Arbeitgeber oder der Unternehmer.
Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich in den Vereinten Nationen nicht anders gesprochen habe als im Nordatlantikrat.
Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich im Ausland nicht anders spreche als im Deutschen Bundestag. Sie können sich darauf verlassen, daß ich genauso in den Gremien meiner Partei und meiner Fraktion spreche — nicht immer zu jedermanns Freude, wie ich einräume. Aber das ist alles ein und dieselbe Politik, von der ich noch einmal betone, daß sie im allgemeinen im Ausland, einschließlich der dortigen Christdemokraten, durchaus anerkannt wird.
Fragen Sie einmal Herrn Andreotti. Fragen Sie einmal Herrn Tindemans. Fragen Sie einmal Ihre christdemokratischen holländischen Kollegen.
— Wir werden ja auch Wahlen gewinnen, lieber Freund. Ihr werdet am nächsten Montag dumm aus der Wäsche gucken.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7327
Bundeskanzler Schmidt— Dann will ich meinen nächsten Satz lieber an Sie adressieren, Herr Kollege Kohl. In Wirklichkeit ist es doch so: Auch die Mehrheit der deutschen Bürger, einschließlich vieler Wähler und sogar Mitglieder Ihrer Partei, ist mit der gegenwärtigen Bundesregierung und mit dem gegenwärtigen Bundeskanzler durchaus zufrieden und will ihn jedenfalls nicht mit Ihnen vertauschen, Herr Abgeordneter Kohl.
Mir ist das auch durchaus verständlich, denn es ist ja nicht recht zu erkennen, welche andere Politik in der Substanz — nicht in der Wortwahl, denn diese ist deutlich verschieden, wie Sie gemerkt haben — der Herr Oppositionsführer machen wollte. Bei ihm müßte man die Katze im Sack kaufen, und es stellte sich außerdem noch heraus, daß es der Herr Abgeordnete Strauß ist, der den Sack zugebunden hat.
Meine Damen und Herren, laut Tagesordnung müßte jetzt die Fragestunde beginnen. Ich bin aber darauf hingewiesen worden, daß es hier wohl eine Mehrheit gibt, die meint, wir sollten diese Debatte jetzt nicht unterbrechen. Ich muß — weil Betroffene sich auf die ursprüngliche Zeitplanung eingerichtet haben — das Haus aber fragen: Gibt es Bedenken, daß wir die Aussprache jetzt fortsetzen? — Das ist nicht der Fall.
Dann erteile ich dem Herrn Abgeordneten Brandt das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Abgeordnete Kohl hatte sich während einer längeren Passage seiner Rede heute vormittag an meine Adresse gewandt. Es wäre nicht in Ordnung, wenn ich ihm darauf nicht antwortete. Das Rederecht der Regierung geht vor; deshalb bin ich erst jetzt an der Reihe.Bevor ich meine Antwort vor allen Dingen zu zwei Punkten gebe, Herr Kollege Kohl, möchte ich Ihnen in aller Offenheit sagen, wie ich die bisherige Debatte und auch die Beiträge von Ihnen und Herrn Zimmermann aufgefaßt habe: als das interessante, wenn auch, wie ich glaube, nicht besonders hilfreiche Beispiel dafür, wie man eine Debatte im Deutschen Bundestag umfunktionieren kann. Ich gebe Ihnen neidlos zu: Das können Sie. Ich bezweifle aber sehr, daß damit der Arbeit dieses Hauses und der deutschen Demokratie gedient ist.
Ich möchte mich zu zwei Punkten äußern, nach denen Sie besonders gefragt haben. Erstens beziehe ich mich auf das, was mit dem sogenannten Extremisten- oder. Radikalenbeschluß aus dem Jahre 1972 zusammenhängt. Zweitens möchte ich mich zu dem äußern, was Sie in einer öffentlichen Äußerung gestern noch deutlicher als in Ihrer heutigen Rede als den Versuch bestimmter Leute, eine Art neuer Entnazifizierung in der Bundesrepublik anleiern zu wollen, bezeichnet haben.
Was den ersten Punkt angeht, Herr Kollege Kohl, so haben Sie — das stützt sich auf einen Artikel, von dem ich gar nicht weiß, ob Sie ihn ganz gelesen haben oder ob Sie ihn nur auszugsweise kennen; ich muß übrigens zugeben: Mir kann es auch passieren, daß man zuerst nur Auszüge bekommt und hinterher nachfragen muß, in welchen Zusammenhang man das Gelesene einordnen muß — heute hier und noch mehr in Reden in Niedersachsen in den letzten beiden Wochen folgenden Eindruck erweckt: Da kommen die Sozialdemokraten und deren Vorsitzender sagt: Dieser Erlaß — oder wie immer man es nennen will — aus dem Jahre 1972 paßt uns nicht mehr; davon nehmen wir Abschied. Der Vorsitzende der Sozialdemokraten ist dafür, daß unsere Kinder von Kommunisten unterrichtet werden. — Das ist die Kurzfassung dessen, was Sie hier nicht nur dem Hause, sondern von diesem Hause aus den uns Zuhörenden haben vermitteln wollen.Jetzt möchte ich Ihnen mal in fünf Minuten darlegen, worum es dabei wirklich geht und daß Sie eigentlich Grund hätten, nuancierter an dieses Problem heranzugehen, als es Ihre beiden Kurzfassungen ergeben.
Herr Kollege Kohl, es ist richtig: Damals, im Jahre 1972, kamen zuerst die Innenminister. Ich glaube, es war der Hamburger Innensenator, der deren Vorsitzender war. Dann kamen die Ministerpräsidenten; Sie waren Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Dann hat das Kabinett natürlich von mir Bericht darüber bekommen, und wir alle waren der Meinung, wir sollten den Versuch machen — leider ist er meinen Beobachtungen nach schon vor langem gescheitert —, natürlich nicht neues Recht zu setzen — das wußten wir damals schon —, aber auf der Basis des geltenden Rechts die Verfahrensweisen bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst zu vereinheitlichen und das gebotene Maß an Rechtssicherheit herzustellen, damit nicht in einem Land anders als im anderen und in den Ländern anders als im Bund verfahren würde.
Genau dies aber ist — wie jeder feststellt, der sich umschaut in deutschen Landen — nicht erreicht worden.
Vielmehr ist die einheitliche Handhabung durcheine Vielzahl von einander völlig entgegengesetzten
Metadaten/Kopzeile:
7328 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
BrandtVerhaltensweisen und Handhabungen abgelöst worden.
Die Überprüfungspraxis zahlreicher Behörden hat eine Eigendynamik entwickelt, die auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts leider nicht zurückgeschraubt hat. Das ist die Tatsache.
Die Verselbständigung ist zuweilen so weit gegangen,
daß den Überprüfungen geradezu groteske Züge anhaften.
Dazu haben nicht nur wir uns geäußert, sondern das ist immer mehr ein Ärgernis in deutschen Landen geworden.
— Warten Sie einen Augenblick! — Es wurde ins Gegenteil verkehrt, was mit dem Beschluß der Ministerpräsidenten erreicht werden sollte.Dies gilt zunächst in zahlenmäßiger Hinsicht. Keiner von uns hat damals gemeint, dies würde dazu führen, daß in Hunderttausenden von Fällen danach gefragt würde, was jemand einmal in einer Schülerzeitung geschrieben hat, ob er einmal an einer Demonstration teilgenommen hat, ob ein Mädchen irgendwann einmal an einem Info-Stand gestanden hat. Ich habe das nicht gemeint und nicht gewollt, und ich meine, Sie haben es damals auch noch nicht so gewollt.Dies gilt aber nicht nur in zahlenmäßiger Hinsicht, sondern auch in bezug auf die Belastung, die sich für das geistige Klima in der Bundesrepublik ergeben hat. Der Aufsatz, auf den Sie sich in einer unerlaubten Kurzfassung beziehen, trägt nicht ohne Grund die Unterüberschrift „Eine Belastung für das geistige Klima in der Bundesrepublik Deutschland". Darum geht es.
Und jetzt sage ich ohne Polemik: Es ist offenbar nicht oder nur sehr schwer möglich — und das geht nicht nur an die Adresse von Ländern der einen Couleur —, Tatsachenerhebungen und Gesinnungskontrollen voneinander zu trennen.Da aber haben für viele meiner Freunde und mich, aber auch für viele, die nicht Sozialdemokraten sind, und für manche, die gar keiner Partei angehören, Anlaß zu besonderer Sorge Tendenzen in einigen Ländern gegeben, einem Bewerber schon anzulasten, daß er Teile der Verfassung für veränderungswürdig hält, auch wenn er die Grundrechte bejaht. Hieraus Verfassungsfeindlichkeit abzuleiten, ist besorgniserregend. Das Grundgesetz darf nicht so restriktivausgelegt werden, wie es die Art vieler Konservativer in diesem Lande ist.
Die Sozialdemokratische Partei hat schon im Jahre nach dem Beschluß, auf den Sie sich bezogen haben, schon im Frühjahr 1973, als ich noch für die Regierungsgeschäfte verantwortlich war, auf ihrem Hannoverschen Parteitag festgestellt:Die Selbstverständlichkeit, daß Personen, die verfassungswidrige Ziele verfolgen, nicht in den öffentlichen Dienst gehören, darf nicht länger dazu mißbraucht werden, Duckmäuserei mit Verfassungstreue gleichzusetzen.
Das hat die SPD schon im Jahre 1973 gesagt.
Was nun die Lehrer angeht, Herr Kollege Kohl: Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, sich mit meinen Gedanken dazu unvoreingenommen auseinansetzen, so würden Sie folgendes feststellen: Ich habe gesagt — das trifft sich übrigens mit Überlegungen mancher meiner Kollegen und Freunde aus der Freien Demokratischen Partei —: eine Sache ist, daß es für die eigentlichen sicherheitsrelevanten Bereiche wohl einer automatischen Vorprüfung bedarf, während es für die anderen Bereiche — und dazu gehören dann auch die Schulen — weniger darauf ankommt, was jemand einmal in der Schülerzeitung X geschrieben oder ob er einmal an einer Demonstration teilgenommen hat. Vielmehr kommt es auf sein Verhalten in der Ausbildung und im Dienst an. Und dazu haben wir in unserer Bundesrepublik Deutschland das Disziplinarrecht.
Im übrigen sage ich — Kommunisten her, Kommunisten hin; ich sage es weit darüber hinaus —: Gerade in der Schule gilt es, jede Form von Indoktrination zu verhindern,
und Indoktrination hängt bekanntlich nicht von einer bestimmten Parteizugehörigkeit ab.Ich habe gemeint und meine: Die negativen Folgen des seinerzeitigen Ministerpräsidenten-Beschlusses müssen bereinigt werden. Ich meine, das ist ein demokratisch-rechtsstaatliches Gebot. Ich meine auch, daß es nicht auf die lange Bank .geschoben werden darf. Deshalb bin ich dem Bremer Bürgermeister, meinem Kollegen und Freund Hans Koschnick, so dankbar, daß er sich dieser schwierigen Aufgabe — im Kontakt mit Kollegen aus anderen Ländern und auch nach Vorklärungen in der eigenen Partei — über die Parteigrenzen hinweg annehmen will.Lassen Sie mich Ihnen, verehrte Kollegen von der CDU/CSU, sagen: In der Verteidigung unserer rechtsstaatlichen Demokratie, so wie sie durch das Grundgesetz festgelegt ist, ließen und lassen wir uns in dieser Bundesrepublik Deutschland von niemandem übertreffen und überbieten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7329
BrandtDeshalb galt und gilt auch: Wer die Demokratie bekämpfen will, der soll sich seinen Arbeitsplatz nicht in der Verwaltung des demokratischen Staates suchen. Das hat aber nichts damit zu tun, daß wir nicht aufgerufen wären — wir jedenfalls fühlen uns aufgerufen; ich bin sogar ungeduldig, daß wir dabei nicht rascher Fortschritte machen —, Ansätze zur Gesinnungsschnüffelei und zum Duckmäusertum im Keim zu ersticken. Denn das müßte die Aufgabe sein.
Die Äußerung des Bundesverfassungsrichters Helmut Simon, die ich heute früh durch meine Zwischenfrage zitiert habe, Herr Kollege Kohl, daß die Auswirkungen dieses Erlasses etwas Erstickendes an sich hätten, müßte uns doch allen zu denken .geben.
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Kohl, muß ich mit Entschiedenheit die Äußerungen zurückweisen, die Sie in den letzten Tagen — außerhalb dieses Hauses häufiger als hier — gemacht haben, nämlich Ihre Deutung der Solidarität der Demokraten. Ich fand es makaber, das bitterernste Thema des Terrorismus erneut in den Wahlkampf, in die Landtagswahlkämpfe zu tragen; aber das ist Ihre Sache.
— Hören Sie einmal einen Augenblick zu! — Dies ist um so empörender, als sich der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht noch immer nicht von seiner unglaublichen Äußerung von vor etwas mehr als einem Monat distanziert hat, durch die er die Entstehung des Terrorismus und Gewaltverbrechen mit der Bildung der sozialliberalen Koalition ursächlich in Zusammenhang bringen wollte.
Und ich sage Ihnen hier wie der Öffentlichkeit in Niedersachsen: Wer zu einem bitterernsten Thema so leichtfertig und leichtgewichtig daherredet — das war übrigens zu dem Zeitpunkt, . als der Führer der italienischen Christdemokraten, Aldo Moro, in der Hand der Terroristen war, die ihn dann umgebracht haben — und dann nicht .die Kraft hat, das in Ordnung zu bringen, der taugt nicht zum Regierungschef eines deutschen Landes.
— Das hilft ja alles nichts! Sie haben das ja gewollt,und Sie können doch nicht erwarten, daß Sie es inder SPD und an deren Spitze mit Masochisten zu tun haben. Das können Sie 'doch wohl nicht erwarten!
Herr Kollege Kohl, ich komme zu dem anderen Punkt, nämlich zu Ihrer Unterstellung, die gestern in der 'Mitteilung aus Ihrer Fraktion noch etwas deutlicher war als heute. Sie nannten es besonders verantwortungslos, daß es die Taktik — so hieß es wörtlich — führender Sozialdemokraten sei, eine Art neue Entnazifizierungskampagne zu entfachen.
Herr Kollege Kohl, Sie haben heute in mehreren Zusammenhängen, wo es vielleicht nicht so angebracht war, den Ausdruck „ungeheuerlich" verwendet. Ich verwende ihn in diesem Zusammenhang.
Die deutschen Sozialdemokraten haben sich mit Kurt Schumacher — und ich war dieser seiner Meinung — schon damals, als diese sogenannte Entnazifizierung eingeführt wurde, dagegen gewendet, daß hier in diesem Land die Kleinen gehängt wurden und man die Großen laufen ließ.
Ich halte es für Konrad Adenauers große staatsmännische Leistung, daß er einen generationsmäßigen Abstand zwischen dem Ende der NS-Zeit und denen, die dann diesen Staat zu stabilisieren hatten, geschaffen hat. Das ist eine Leistung durch Zeitgewinn, die manche falsch eingeschätzt haben, aber die wohl als eigentlicher Ertrag der Ära Adenauer übrigbleibt. Darin stimme ich mit Ihnen natürlich überein. Dieses Volk hätte nicht leben können, diese Republik hätte nicht Gestalt annehmen können, wenn sich nicht alle Beteiligten geöffnet hätten für alle Teile des Volkes und wenn wir nicht Schlachten von gestern und vorgestern solche hätten bleiben lassen, wenn wir uns nicht vorgenommen hätten, sie nicht immer noch einmal zu schlagen. Das ist die eine Seite.Ich habe mich an der öffentlichen Debatte über einen deutschen Ministerpräsidenten nicht beteiligt. Ich glaube, es ist dabei von mehr als einer Seite Unzweckmäßiges gesagt worden.
Aber ich stehe zu dem, was ich gestern aus gegebenem Anlaß einigen Journalisten gesagt habe, daß man nämlich schon über die Sensibilität eines Rhinozeros oder über eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Verdrängung verfügen muß, wenn man nicht die Kraft oder den Mut aufbringt, sich — jedenfalls hinterher — eindeutig vom furchtbaren Tun von Richtern im Hitlerstaat abzusetzen.
Metadaten/Kopzeile:
7330 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
BrandtZeitungsartikel sind eine Sache. Akademische Abhandlungen sind eine andere Sache. Todesurteile und deren Exekution haben noch eine besondere Qualität.
Ich möchte, verehrte Anwesende, jetzt auch noch vier Bemerkungen zum eigentlichen Gegenstand der Debatte machen.Erstens. Es ist heute üblich geworden, für Entspannung zu sein. Ich will nicht an Zeiten erinnern, in denen man deswegen noch hart getadelt wurde. Es ist gut, wenn man jedenfalls verbal für Entspannung ist.
Gerade weil ich, wie jeder weiß, mich für den Abbau von Spannungen, wie ich meine, ohne Illusionen, aber mit Beharrlichkeit eingesetzt habe
— hören Sie doch einmal zu, Herr Marx; hier werden Sie wahrscheinlich sogar zustimmen —, deshalb sage ich: Politische Entspannung wird die nächsten Jahre und wird die Entwicklung hinein ins nächste Jahrzehnt nicht überleben, wenn sie nicht durch Vereinbarungen auf dem militärischen Gebiet ergänzt wird.
Das ist meine Einsicht in den Prozeß, in dem wir stehen und der vor uns liegt.Ich muß allerdings, Herr Kollege Kohl, zurückweisen, wenn Sie in diesem Zusammenhang denen, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die politische Verantwortung für die Bundesrepublik getragen haben und dabei eine Mehrheit in diesem Haus und auch der deutschen Wähler hinter sich gebracht haben, unterstellen, sie hätten die Sicherheitsinteressen dieses Staates vernachlässigt. Das ist nicht nur unrichtig und ungerecht, sondern es ist auch die Unterstellung, daß man die Interessen dieses Staates nicht so wahrgenommen hätte, wie man es beschworen hatte. Diesen Vorwurf brauche ich nicht hinzunehmen. Ich nehme ihn auch nicht hin.
Er wird auch ganz eindeutig durch die Erörterungen im Bündnis in jenen Jahren und durch das, was deutsche Verteidigungsminister hier und anderswo dargelegt haben, widerlegt.Zweitens. Ich sagte, politische Entspannung allein werde nicht halten. Ich stimme auch mit der These überein — das ist ein Gebiet, wo es jedenfalls Annäherungen zwischen Regierung und Opposition gab —, daß Entspannung, die allein auf Europa beschränkt bliebe, auch nicht viele Jahre halten würde. Allerdings mache ich dann folgende Einschränkung. Zu glauben, man könnte die Entwicklung auf anderen Kontinenten allein aus der Übertragung der Kategorien erklären, mit denen wir es in Europa im Ost-West-Konflikt zu tun haben, führt uns in die Irre. Das hat uns Asien gezeigt. Der britische Premierminister hat im Anschluß an die NATO-Tagung nicht ohne Grund deutlich darauf hingewiesen, daßauch in Afrika eine ganze Reihe eigener — nicht nur zusätzlicher, sondern originärer — Elemente im Spiel sind, die man immer in ihrem Zusammenwirken mit den von außen kommenden interventionistischen Faktoren sehen muß.Drittens. Auch mir liegt daran, wie es der Kollege Ehmke heute vormittag für die sozialdemokratische Partei schon getan hat, der Bundesregierung, dem Bundeskanzler, dem Bundesaußenminister für den gewichtigen deutschen Beitrag insbesondere auch zur Erörterung der Vereinten Nationen zu einem Thema, das dort noch jahrelang die Menschen in Anspruch nehmen wird, Dank zu sagen. Aber es wird von dort etwas ausgehen. Jedenfalls wird einiges von dem, was dort eingespeist wird, im internationalen öffentlichen Bewußtsein weiterwirken. Ich hoffe, daß ein paar Zahlen auch in unserem Volk deutlicher werden, z. B. die Zahl, daß heute, an diesem 1. Juni 1978, wie an jedem Tag dieses Jahres zwei Milliarden DM für Rüstung auf der Welt ausgegeben werden, 800 Milliarden DM in einem Jahr. Ich sage uns allen, Ihnen und den Menschen draußen: Eine nochmalige Verdoppelung dieser weltweiten Rüstungen halten selbst die stärksten Volkswirtschaften nicht durch. Die Menschheit rennt in ihr Verderben, wenn es die politisch Verantwortlichen im nächsten Jahrzehnt nicht dahin bringen, daß sich die Rüstungsspirale nicht weiter nach oben dreht.
Viertens ist dann mit dem Thema der Rüstungsbegrenzung, zu dem es einen — ich sage es noch einmal — gewichtigen deutschen Beitrag gegeben hat, der Ausgleich zwischen reichen Industrieländern und armen Entwicklungsländern enger verbunden, als wir bisher gemeint haben. Die Anregung, die der französische Staatspräsident Giscard d'Estaing hierzu in New York gegeben hat, die andere gegeben haben — ich erwähne jetzt nicht ausdrücklich die beiden wichtigen Passagen in der Rede des Bundeskanzlers hierzu —, sollten nachdrücklich weiter verfolgt werden. Das Echo läßt hoffen, daß nach dem Ende dieser Sondergeneralversammlung gerade auch das Thema Abrüstung und Entwicklung einen festeren Platz in der öffentlichen Meinung behalten wird. Ich meine, es darf keine Illusion bleiben, daß ein Teil der Mittel, die heute für Rüstungen auf der Welt ausgegeben werden, künftig, noch im nächsten Jahrzehnt, für die Entwicklung auf der südlichen Halbkugel und für die Kooperation zur Verfügung stehen müssen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst eine kurze Bemerkung zu dem Stil, mit dem Sie, Herr Bundeskanzler, die parlamentarische
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7331
Dr. KohlAuseinandersetzung im Blick auf Ihre Zitatenfähigkeit hier praktizieren.
Sie sagten beiläufig, Sie hätten nicht meinen Text. Sie haben gesehen, daß ich weitgehend frei gesprochen habe. Herr Bundeskanzler, Sie wissen auch, daß wir immer reden müssen, ohne Ihre Texte wirklich zu kennen. Es gehört zu Ihrer Regierungspraxis im Umgang mit der Opposition, daß man etwa eine Minute vor Sitzungsbeginn, wenn überhaupt, einen Text der Regierungserklärungen in die Hand bekommt.
— Vielleicht sind es auch fünfzehn Minuten.Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin aus der Fülle Ihrer parlamentarischen Erfahrungen und der Bedeutung dieser Erfahrungen beiläufig die Provinz da draußen erwähnt. In einem ordentlichen deutschen Landtag, gleichgültig, ob SPD oder CDU dort die Regierungsgeschäfte führen, wäre Ihre Praxis im Umgang mit der Opposition bei Regierungserklärungen völlig undenkbar. Das ist Ihr spezieller Stil.
Aber ich weiß, das ficht Sie alles nicht an.
Ich muß sagen: Ich muß Ihnen auch im Namen meiner Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion meine rückhaltlose Bewunderung darüber zum Ausdruck bringen
— jetzt müssen Sie wirklich klatschen —, wie Sie es fertigbringen, sich über viele Minuten unentwegt selbst zu loben und das auch noch zu glauben, was Sie gesagt haben.
Ich habe selten einen Politiker erlebt, der sich mit soviel Überzeugung selbst auf die Schulter schlägt und unentwegt sagt, was er für ein großartiger Mann ist.
Herr Bundeskanzler, ich habe überhaupt nichts dagegen, daß das so ist und Sie das so glauben. Das ist wirklich Ihre Sache. Aber ersparen Sie uns die Peinlichkeit, das andauernd von Ihnen hören zu müssen!
Es war schon verräterisch — ich bin hier nicht an das Pult gegangen, um tiefenpsychologische Zusammenhänge aufzudecken, aber das ist so reizvoll, daß ich als Parlamentarier abdanken müßte, wenn ich es nicht wenigstens andeutete —, daß Sie sogar noch der Vergleich mit Bismarck gereizt hat. Das war sehr bemerkenswert, Herr Bundeskanzler.
Ich habe das im Zusammenhang mit dem Rückversicherungsvertrag ganz anders gesehen — ebensodas, was Sie dann über den Bundesaußenministergesagt haben. Das Zitat habe ich gar nicht verwandt. Das, was Sie hier veranstaltet haben, war ein reines Schattenboxen. Ich habe nur gesagt, daß Sie bei dem Begriff „Rückversicherungsvertrag" die Inspiration bekommen haben — und daß Sie auf die gleiche Ebene wie jener andere Kanzler kommen wollten. Das war schon zu viel — oder zu wenig, wie man es nimmt. Sie sind natürlich mehr als jener Kanzler. Sie sind einzig in Ihrer Art. Das ist in der Tat bemerkenswert, Herr Bundeskanzler.
In diese Betrachtung paßt auch, wie Sie dann die übrigen Tatsachen darstellen. Herr Bundeskanzler, ich käme doch nie auf einen solchen Gedanken, wenn ich — so wie Sie — die Bundestagswahl verloren hätte. Sie sind — und das ist statistisch nachweisbar; alles können Sie doch nicht herumdrehen — der Mann, der in der Geschichte der Bundesrepublik bei einer Wahl den höchsten Stimmenverlust eingeheimst hat. Da reden Sie von einem Wahlsieg. Das ist auch bemerkenswert.
Herr Kollege Brandt, was müssen Sie dann im Zusammenhang mit der 72er Wahl sagen, wenn das 1976 ein Wahlsieg war? Ich sage Ihnen das zum Trost, wenn Sie hier so über manches Ihre Gedanken anstellen.
Meine Damen und Herren, eines ist sicher: In der Frage der völlig uneingeschränkten Bewunderung für sich selbst ist Helmut Schmidt der Größte in unserer Bundesrepublik. Er wird auch in langer Zeit nicht übertroffen werden.
Aber jetzt, Herr Bundeskanzler, ein paar Bernerkungen zu jenem Teil Ihrer Ausführungen zur Sachpolitik, von dem ich einfach sagen muß: Das kann nicht so stehenbleiben. Auch auf die Gefahr hin, daß Sie es wieder verübeln: Der amtierende Kanzler der Bundesrepublik Deutschland darf zu Recht in diesem Fall an seinen Amtseid erinnert werden, wonach er für alle Bürger die Geschäfte zu führen hat — ich unterstelle, daß Sie das tun wollen. Sie sollten aber nicht aus bloß parteipolitischem Interesse von der Rostra des Deutschen Bundestages herab sagen: Die Außenpolitik der CDU/CSU-Fraktion dient nicht dem Frieden. Und dann haben Sie nach einer Pause hinzugefügt: Selbst wenn sie dies will.Herr Bundeskanzler, es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder es fehlt Ihnen an intellektueller Einsicht — und ich denke nicht daran, Ihnen das zu unterstellen —, oder es ist einfach böswillig.
Sie kennen so gut wie ich unsere Texte. Sie kennen die gemeinsame Wahlplattform von CDU und CSU, die verbindlich ist. Sie haben eine ähnliche Wahlplattform in der SPD. Das ist das Übliche in Parteien. Sie wissen ganz genau, daß alles das, was Sie über den Zusammenhang zwischen Verteidigungs- und Abrüstungspolitik hier behauptet haben, einfach unwahr ist. Wir haben Friedenspolitik
Metadaten/Kopzeile:
7332 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Kohlimmer unter den folgenden zwei Gesichtspunkten gesehen: Friede ist für uns nur ein wahrer Friede in Freiheit. Freiheit kostet das Opfer der Verteidigungsbereitschaft. Und Entspannung ist eine wichtige Voraussetzung für dauerhafte Friedenspolitik. Das habe ich von diesem Pult oft genug gesagt.
Herr Bundeskanzler, wie können Sie, wenn Sie wirklich so viele Kontakte mit ausländischen Politikern haben, ernsthaft behaupten, die CDU/CSU habe den Anschluß an die Gesamtpolitik des Bündnisses verloren?
Herr Bundeskanzler Helmut Schmidt: Wir, die Christlich Demokratische Union und die ChristlichSoziale Union, sind Mitglieder der Europäischen Volkspartei. Die CDU ist die größte Landesverbandspartei der Europäischen Volkspartei. Wir sind Mitglieder der Europäischen Demokratischen Union, Herr Bundeskanzler Helmut Schmidt. Wir befinden uns in der Parteiengemeinschaft, ,die die stärkste parteipolitische Gruppierung in Europa ist. Das wissen Sie doch so gut wie ich.
Wenn Sie etwa das Programm der Europäischen Volkspartei im Blick auf die Europawahlen im nächsten Jahr betrachten, werden Sie feststellen, in welch starkem Umfang sich hier Geist vom Geiste aus den Unionsparteien niedergeschlagen hat; in welch starkem Maße wir bei der Formulierung der Grundsätze mitgewirkt haben. Angesichts solcher Tatsachen können Sie es sich doch nicht so einfach machen und von diesem Pult aus sagen: Ihr findet nicht Anschluß an die Gesamtpolitik des Bündnisses. Den findet überhaupt nur einer; nur unter der Führung von Helmut Schmidt findet ein Anschluß an irgend etwas statt — nur an die Wähler nicht, Herr Bundeskanzler, wenn ich Sie noch einmal an Ihr Wahlergebnis vom letzten Mal erinnern darf.
Dann haben Sie eine solche Verdrehung vorgenommen — da ist an sich die Intelligenz des Zuschauers herausgefordert —, daß man das gar nicht mehr ansprechen sollte. Aber ich muß es dennoch tun. Sie haben schlankweg behauptet, wir wollten den Terrorismus mit mehr Gesetzen bekämpfen. Sie haben die allgemeine Verdrossenheit über die Gesetzesflut mit der Terrorismusgesetzgebung in Zusammenhang gebracht. Herr Bundeskanzler, Sie wissen, daß das nicht stimmt. Sie wissen so gut wie ich, daß die wirkliche Bekämpfung des Terrorismus auf drei Feldern gleichzeitig geschehen muß. Das erste Feld betrifft den gesamten Bereich, wo es um die Verstärkung der Staatsorgane — auch im technischen Bereich — geht, um die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, um die Zusammenarbeit mit befreundeten Ländern in Europa — und zwar außerhalb der Gesetzgebung. Hier bleibt noch vieles zu tun; einiges ist geschehen.Zweitens. Sie selbst haben doch Krisenstäbe, Diskussionsrunden nach der Ermordung von Hanns Martin Schleyer einberufen und gesagt, was manalles tun müsse. Daß es nicht zur gesetzgeberischen Arbeit kam, liegt doch nicht an Ihren neuen Einsichten, sondern das liegt daran, daß Sie in der eigenen Partei keine Mehrheit haben, daß Sie erpreßbar geworden sind, daß in Wirklichkeit die Linken dieses Kabinett regieren.
Das dritte Feld, Herr Bundeskanzler, bei der Bekämpfung des Terrorismus ist für uns das wichtigste. Das ist die Auseinandersetzung mit den geistigen Hintergründen. Da höre ich von Ihnen immer wieder, daß diese Auseinandersetzung notwendig sei. Ich frage Sie: Was haben Sie getan, was haben Sie in Ihrer eigenen Partei getan, um die Diskussion zu fördern? Es ist doch z. B. unerträglich, daß an deutschen Universitäten ganze Institute, ganze Fakultäten in einer Weise indoktriniert sind, daß die Freiheit von Lehre und Forschung dort abgeschafft ist — und Andersdenkende nicht mehr geduldet werden.
Ein Weiteres: Im Zusammenhang mit .den Fragen, die Sie gegenüber Hans Filbinger aufwarfen, ist eigentlich deutlich geworden, Herr Kollege Brandt— bei Herrn Schmidt eigentlich mehr als bei Ihnen —, um was es Ihnen wirklich geht. Herr Bundeskanzler, Sie waren mit dem Thema sehr rasch zu Ende, um dann zu sagen, daß dieser Mann— ich zitiere Sie wörtlich — ein pathologisch gutes Gewissen habe. Schließlich meinten Sie, der eigentliche Punkt sei, daß er in der Gegenwart eine so entschiedene, eine so entschlossene, eine so kantige Politik führe. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich finde das, was Sie gesagt haben, unerträglich.Wenn Sie sich mit dem Politiker Hans Filbinger über seine politischen Aussagen in der Frage des Terrorismus oder in Fragen der Bildungspolitik auseinanderzusetzen haben, dann tun Sie das bitte. Aber vermengen Sie nicht Vorgänge miteinander, die miteinander gar nichts zu tun haben.
Das ist das eigentlich Unerträgliche. Aus Ihren Äußerungen, Herr Bundeskanzler, ist deutlich geworden: Ihnen geht es doch gar nicht um Fragen der jüngsten Geschichte, sondern Ihnen geht es um die Diffamierung eines politischen Gegners, den Sie als gefährlich erkannt haben. Das ist die eigentliche Erfahrung.
Dann seien Sie, Herr Bundeskanzler, ganz unbesorgt um den Parteivorsitzenden. In der Zeit meines Amtes als Parteivorsitzender sind CDU und CSU die mitgliederstärkste Partei in Deutschland geworden. Um das zu erreichen, werden Sie noch lange brauchen. Ich kann Ihnen nur sagen: Sprechen Sie mehr mit Ihren Mitgliedern. Bringen Sie uns doch einmal eine sozialdemokratische Mutter, die damit einverstanden ist, daß ihre Kinder in der Schule von kommunistischen Lehrern erzogen werden. Dann hätten wir einmal ein Beispiel.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7333
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
— Herr Abgeordneter Wehner, die CDU/CSU-Fraktion erträgt Sie jetzt seit Jahrzehnten. Sie müssen mich auch noch zehn Minuten lang ertragen.Letzter Punkt, Herr Bundeskanzler. Sie haben wieder nach der Alternative gefragt. Die Alternative liegt doch auf dem Tisch. Wir haben Ihnen zum Thema Wiederbelebung unserer Wirtschaft und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Vorschläge gemacht. Wir haben Ihnen doch Jahr für Jahr Vorschläge zur Beseitigung der Abgaben- und Steuerlast des Bürgers gemacht. Wir waren als Opposition dazu bereit, auch unpopuläre Entscheidungen mitzutragen. Sie wissen doch so gut wie ich, daß keines Ihrer staatlichen Investitionsprogramme die Zündung bringen wird, daß die Zündung nur erfolgt, wenn wir den Bürger von Steuern und Abgaben entlasten, wenn wir die Investitionsfreudigkeit im privaten Sektor herausfordern. Das ist doch der entscheidende Punkt.
Sagen Sie bitte nicht unseren Zuhörern, wir hätten keine Alternative, sonst muß ich Ihnen die Drucksachen vorlegen und Sie bitten, doch endlich einmal mitzustimmen. Dann wäre das Problem gelöst.Ich will noch einen zweiten Punkt nennen, der in den nächsten Jahren zu einem Skandal zu werden droht: Wo ist eigentlich Ihre Energiepolitik, Herr Bundeskanzler? Wir, die CDU/CSU, haben Ihnen angeboten, bei notwendigen, wichtigen, schwierigen und vielleicht auch unpopulären Entscheidungen die Verantwortung mit zu übernehmen. Sie waren doch gar nicht in der Lage, dieses Angebot anzunehmen. Wie hieß es kürzlich in einem Kreis, als über das Thema gesprochen wurde? Diese Vorlage könne nicht eingebracht werden, weil es keine Mehrheit gebe. Auf meine erstaunte Frage nach dem warum wurde mir dann gesagt: Natürlich — im Parlament könne man eine Mehrheit haben, aber in der Koalition nicht. Und weil in der Koalition keine Mehrheit besteht, kann man natürlich auch im Parlament keine Mehrheit herbeiführen. Das ist der Stil der Zusammenarbeit bei uns in der Bundesrepublik.
Herr Kollege Brandt, noch eine kurze Bemerkung zu dem, was Sie hier zum Extremistenerlaß sagten. Ich kann nicht erkennen, daß Sie zu den Vorwürfen in diesem Zusammenhang wirklich etwas Bereinigendes gesagt hätten. Denn im Kernstück sind wir doch gar nicht auseinander, und wir waren es auch damals nicht.
— Ich weiß nicht, warum Sie jetzt so dazwischenrufen; Sie wissen ja noch gar nicht, was ich sagen will. Ich habe es Ihnen heute früh schon einmal versichert: Das ist ja das Schlimme in dieser parlamentarischen Auseinandersetzung; Sie sind schon dagegen, wenn nur der Name aufgerufen wird, anstatt sich um das Thema zu bemühen.Herr Kollege Brandt, wir sind doch damals gemeinsam davon ausgegangen — ich lege Wert auf diese Feststellung, weil ich hoffe, daß man doch noch etwas an Gemeinsamkeit retten kann —, daß hier nicht linear verfahren werden darf, sondern daß man das individuelle Schicksal des Betroffenen sehen muß. Ich kann Ihnen nur sagen: ich war viele Jahre in einem solchen Amte, und ich habe das nie anders gehandhabt. Weil dies so ist, verstehe ich diesen Einwand überhaupt nicht. Wenn Sie hier beispielsweise von Hunderttausenden von Fällen sprechen, dann muß ich Ihnen doch wirklich die Frage stellen: Von welchen „Hunderttausenden von Fällen" reden Sie denn eigentlich? Es kann doch gar keine Rede davon sein, daß in Hunderttausenden von Fällen Recherchen dieser Art, die Sie beklagt haben, angestellt werden. Aber, meine Damen und Herren, wir haben doch damals nicht neues Recht gesetzt — Herr Kollege Brandt, das muß man doch noch einmal in Erinnerung rufen —, sondern wir haben den Text —
Wissen Sie, Herr Kollege, ich war viele Jahre Ministerpräsident eines Bundeslandes. Ich habe täglich mit diesen Fragen zu tun gehabt. Mit jemandem darüber zu diskutieren, der offensichtlich die einfachsten Voraussetzungen nicht hat, ist sehr schwierig.
Herr Kollege Brandt, hier geht es doch darum, daß man die geltende Verfassung, den geschriebenen Text der Verfassung, auch den Geist der Verfassung — es gibt ja auch eine Erfahrung aus der lebenden Verfassung; das ist doch unstreitig — und das Beamtenrecht als die andere rechtliche Grundlage nicht verändert, sondern daß man sie aus einer gemeinsamen Grundkonzeption anwendet. Das war, wenn Sie so wollen, die Idee bei diesem Erlaß. Damals waren wir auch alle einig. Es hat doch nicht die CDU/CSU zu vertreten, daß sofort nach diesen Erlaß einige sozialdemokratisch geführte Bundesländer angefangen haben, hier nicht mehr mitzumachen — und jene Kräfte in Ihrer Partei sich regten, die etwas ganz anderes wollten. Sie müssen schon in den Diskussionen der kommenden Monate den Beweis antreten, wo die beklagten Recherchen „hunderttausendfach" angestellt worden sind. Ich sage Ihnen voraus: Dieser Beweis wird Ihnen sehr schwerfallen.Und dann, Herr Kollege Brandt — und das ist eigentlich das Stichwort —, die Belastung für das geistige Klima! Das klingt sehr gut. Keiner von uns ist für eine Belastung des geistigen Klimas. Nur: Das wird im Zusammenhang mit der Kampagne gegen die „Berufsverbote" ausgesprochen. Da gibt es ja einen psychologischen Zusammenhang. Das brauche ich Ihnen nicht näher zu interpretieren. Es heißt doch, daß etwa deutsche Ministerpräsidenten und der damalige Bundeskanzler — es richtet sich doch eigentlich gegen Sie selbst — ausgezogen wä-
Metadaten/Kopzeile:
7334 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Kohlren, um eine Belastung für das geistige Klima herbeizuführen.
Das wollten Sie nicht — und das wollte ich nicht, Herr Kollege Brandt. Wir waren uns einig, daß hier eine wichtige, die Freiheit des Staates qualifizerende, garantierende Entscheidung zu treffen war. Das freiheitliche Klima in unserem Lande wollte niemand von uns verletzen oder gar zerstören.
Worum geht es denn? Es geht darum, engagierte Kommunisten, engagierte Faschisten, Neofaschisten von den Schaltstellen der Macht im Staat fernzuhalten.
Herr Kollege Brandt, lassen Sie mich das noch einmal sagen, weil hier offensichtlich ein erheblicher Unterschied besteht: Für mich ist die Erziehung von Kindern eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Tätigkeit in einer Staatskanzlei.
Ich halte das für eine der wichtigsten Fragen, aus welchem Geiste Lehrer unsere Kinder erziehen. Wir wollen Lehrer in unseren Schulen haben, die aus dem Geist unserer Verfassung unsere Kinder erziehen.
Das ist die Grundlage.Wenn ich im Wahlkampf davon sprach, daß ich bedaure, daß die Solidarität der Demokraten aus dem Herbst vergangenen Jahres bei der Terrorismusgesetzgebung zerbrochen sei,
dann weiß ich nicht, warum Sie das hier ansprechen. Es ist doch so, Herr Kollege Brandt: In den Wochen des Krisenstabes haben wir zusammengewirkt. Wir haben heute keine Chance mehr, zusammenzuwirken — und zwar auf Grund der Entwicklung in Ihrer eigenen Partei.
Ich bedaure das.Amüsiert hat mich — nur am Rande will ich das sagen —, daß Sie hier feierlich Ernst Albrecht die Regierungsfähigkeit abgesprochen haben, Herr Kollege Brandt, wo ich doch weiß, wie sehr Sie im stillen Kämmerlein froh wären, Sie hätten Albrecht anstelle von Ravens.
Sie mögen ja politisch anderer Meinung sein, aber Sie wissen doch, daß das ein Mann ist mit einer bedeutenden Qualifikation für dieses Amt. Sie sollten doch wenigstens hier im Bundestag nicht jenen Stil praktizieren, den Sie da in Niedersachsen praktizieren: „Soziale Politik statt Herrn Albrecht". Dort haben Sie ja jetzt das Wort „Herr Albrecht" zum Schimpfwort gemacht. Ich kann nur sagen: Was soll denn das, wenn man die bürgerliche Anrede nun zur Diffamierung umfunktioniert? Es ist weitgekommen mit dem intellektuellen Beitrag deutscher Sozialdemokraten im Wahlkampf.
Eine letzte kurze Bemerkung. Herr Kollege Brandt, was immer Sie sagen mögen zu dem Thema Entnazifizierung, Re-Entnazifizierung nach 30 Jahren: Ich stehe zu all dem, was ich heute früh zum Thema selbst sagte. Ich stehe aber vor allem zu einem: zur Friedenspflicht unserer Generation. Das System ist erkennbar: daß an dem oder jenem Punkte plötzlich gegraben wird, daß dann Schriften von jungen Leuten — das ist nicht nur ein Beispiel; Sie wissen so gut wie ich, das sind sehr viele Beispiele —, gefunden werden.
Da reißt man dann oft genug drei, vier, fünf, acht Sätze aus einem Zusammenhang,
und dann proklamiert man, daß man jemanden „zur Strecke gebracht" habe — ich verwende dieses Wort. Sie haben das damals am Beispiel des Minister Puvogel erleben können, Herr Kollege Brandt. Das war ein typisches Beispiel für die pharisäische Gesinnung, die Teile der deutschen Sozialdemokratie hier zum Ausdruck gebracht haben.
Ich kann nur sagen, Herr Kollege Brandt, ich verstehe nicht, daß nicht wenigstens Sie und einige in Ihrer Partei die Einsicht gewinnen, daß es unser gemeinsames Amt ist, das zu beenden.Es sind auf diesem Weg genug Fehler von allen Seiten — ich betone: von allen Seiten — gemacht worden. Es nützt uns überhaupt nichts, auf diesem Weg fortzufahren.Das hätte ich gern heute von Ihnen gehört: daß der Vorsitzende der SPD genauso wie der Vorsitzende der CDU hier erklärt, daß er seinen Beitrag leisten will, um diese Entwicklung zu beenden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Tagesordnungspunkt, über den hier von Anfang an gesprochen wird, lautet: „Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen für Abrüstung in New York und die NATO-Tagung der Staats- und Regierungschefs in Washington."
Ich sage dazu: Es wird in keinem anderen Parlament der atlantischen Gemeinschaft etwas mit dem
Verlauf der heutigen Sitzung des Deutschen Bundes-
Wehner
tages Vergleichbares geschehen in bezug auf die Berichterstattung und die Würdigung und die Erörterung dieser Tagungen, die Gegenstand auch unserer Berichterstattung und Diskussion sind.
Ich sage Ihnen, daß die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sich dagegen verwahrt, die hier demonstrierte Art und Weise zur Lähmung und Entwürdigung der Arbeit des Parlaments weiter anzusehen.
— Wer sind Sie denn, die Sie hier plötzlich feixen? Wo waren Sie denn, als dieser Bundestag im Jahr 1949 anfing?
Wo nehmen Sie denn den Mut her,
diesen Bundestag um jeden Ruf zu bringen?
Ich habe Ihnen in der letzten Debatte vor Pfingsten gesagt:
Sie sind gar nicht eine parlamentarische Opposition; Sie sind eine außerparlamentarische Opposition, im Sinne nämlich von APO, aber rechts draußen.
Es gibt zu meinem Bedauern nach unserer Geschäftsordnung und auch nach unserer Praxis bei allem, was sonst den Deutschen an Organisationsfähigkeit nachgesagt wird, keine Möglichkeit,
— nein, nein! — Sie dazu zu bringen, daß Sie Ihrer Aufgabe als Parlamentarier endlich gerecht werden und sich mit der Tagesordnung befassen.
Ich frage Sie: Wo und wie wollen Sie das denn verantworten, Sie feixende Meute
— ja, das sind Sie! —,
all diese Punkte ganz einfach zu übergehen? Vizepräsident Frau Funcke: Herr Abgeordneter!
Wir sind ganz woanders!
Herr Abgeordneter Wehner!
Wie das heute von Ihnen gedacht war und wie diese Sitzung heute denaturiert wurde, habe ich erlebt.
Herr Abgeordneter Wehner, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Wehner (SPD) : Ich sage Ihnen noch einmal:
Die SPD verwahrt sich gegen diese Art, das Arbeitsprogramm, das wir heute angenommen haben, von Ihnen derart sabotieren zu lassen!
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 8/1826 —
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Böhme zur Verfügung.
— Ich bitte das Haus um Ruhe, damit die Fragestunde beginnen kann.
Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Stavenhagen auf:
Hat die Bundesregierung bereits Erkenntnisse darüber, wie hoch die Schäden des Unwetters vom 22. und 23. Mai dieses Jahres in den betroffenen Gebieten sind?
Frau Präsidentin, die mündlichen Anfragen 51 bis 58 befassen sich alle mit den Folgen des Unwetters vom 22. und 23. Mai dieses Jahres.
Sie wollen offensichtlich alle Fragen gemeinsam beantworten.
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Ja, ich bitte darum.
Ich muß zunächst jeden Fragesteller um sein Einverständnis bitten. Es bleiben natürlich für jeden zwei Zusatzfragen. Sind die Herren Dr. Stavenhagen, Dr. Früh, Dr. Friedmann und Herr Susset damit einverstanden, daß die
Metadaten/Kopzeile:
7336 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Vizepräsident Frau FunckeBeantwortung gemeinsam vorgenommen wird? — Ich höre keinen Widerspruch.Dann rufe ich auch die Fragen 52 bis 58 auf:Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen des Nachtragshaushalts für 1978 Finanzmittel für ein Soforthilfeprogramm bereitzustellen und für eine rasche und unbürokratische Abwicklung zu sorgen?Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet, um möglichst rasch einen Gesamtüberblick über die verheerenden Auswirkungen des Hochwassers in Südwestdeutschland zu erhalten, und wie hoch sind nach bisherigen Erkenntnissen die entstandenen Schäden anzusetzen?Welche Hilfen gedenkt die Bundesregierung unmittelbar zur Überwindung von Notständen einzusetzen, und welche längerfristigen Maßnahmen sind geplant, um die schweren Schäden im privaten und öffentlichen Bereich möglichst auszugleichen?Welche finanziellen und steuerlidien Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Geschädigten der Hochwasserkatastrophe, die über Südwestdeutschland in den letzten Tagen hereingebrochen ist, zu helfen, soweit die Schäden nicht durch die gesetzliche Gebäudeversicherung bzw. durch andere Versicherungen beglichen werden?Ist die Bundesregierung bereit, falls sie in den vorgenannten Schadensfällen augenblicklich keine Möglichkeiten zur direkten Hilfe sieht, durch Einrichtung eines „Katastrophenfonds" im Rahmen des Bundeshaushalts die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß sowohl die bereits jetzt eingetretenen Schäden wie auch künftige ganz oder zumindest teilweise abgegolten werden können?Wird die Bundesregierung zur Behebung der umfangreichen Schäden, die durch die starken Regenfälle in Süddeutschland entstanden sind, schnell und unbürokratisch Mittel bereitstellen?Welchen Umfang werden diese Mittel gegebenenfalls erreichen?Bitte schön.Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Ich bedanke mich.Ich beantworte die Fragen 51 bis 58 im Zusammenhang wie folgt. Erstens. Die Bundesregierung hat bisher nur vorläufige Schätzzahlen der betroffenen Landesregierungen über die Höhe der Schäden des Unwetters vom 22./23. Mai 1978 im landwirtschaftlichen Bereich. Danach werden diese Schäden auf insgesamt etwa 60 Millionen DM geschätzt.Bei den anderen Schadensbereichen hat die Bundesregierung über die Berichte in den Medien hinaus keine weiteren Erkenntnisse. Der Umfang der Schäden kann nur von den betroffenen Ländern festgestellt werden.Zweitens. Der Bundesminister der Finanzen hat schon im März 1977 einen umfangreichen Katalog für steuerliche Sofortmaßnahmen bei Naturkatastrophen ausgearbeitet und seine Zustimmung allgemein zu den Maßnahmen erteilt, die die Landesfinanzbehörden der vom Hochwasser betroffenen Länder in diesem Rahmen im einzelnen für erforderlich halten.In Betracht kommen insbesondere: Steuerstundungen, Verzicht auf Vollstreckungsmaßnahmen, Sonderabschreibungen bei der Ersatzbeschaffung und Wiederherstellung von beschädigten Wirtschaftsgütern sowie schließlich Lohnsteuerfreiheit bei Unterstützungen von privaten Arbeitgebern an unwettergeschädigte Arbeitnehmer bis zum Betrag von 1 500 DM.Im Einzelfall können weitere Billigkeitsmaßnahmen getroffen werden, soweit eine besondere Not. Lage vorliegt. Die zuständigen Landesbehörden werden auf diese Hilfsmaßnahmen in geeigneter Form hinweisen. Die Länder sind aufgefordert, dem Bundesminister der Finanzen mitzuteilen, welche Maßnahmen sie im einzelnen vorsehen.Drittens. Für Hilfsmaßnahmen in Katastrophenfällen sind in erster Linie die Länder zuständig. Eine Mitfinanzierung durch den Bund könnte nur ausnahmsweise aus dem Gesichtspunkt der gesamtstaatlichen Repräsentation in Betracht kommen. Das Ergebnis wäre allerdings ein weiterer lall einer Mischfinanzierung durch Bund und Länder mit der bekannten Problematik.Voraussetzung einer Bundesbeteiligung ist, daß die eingetretenen Schäden so groß sind, daß von einer Katastrophe nationalen Ausmaßes, gesprochen werden muß. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, kann erst geprüft werden, wenn die betroffenen Landesregierungen mit entsprechenden Feststellungen und dem Wunsch an den Bund herangetreten sind, sich an der Behebung der Schäden zu beteiligen. Dies ist bisher nicht geschehen.Viertens. Gegen die Einrichtung eines auf Dauer angelegten Katastrophenfonds bestehen erhebliche Bedenken. Wie ich bereits ausgeführt habe, ist eine Zuständigkeit der Mitfinanzierung des Bundes nur ausnahmsweise und unter eng begrenzten Voraussetzungen gegeben. Aus haushaltsrechtlichen Gründen ist daher von einem Dauerfonds abzusehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stavenhagen.
Herr Staatssekretär, wird die Instandsetzung von bundeseigenen Einrichtungen wie Bauten an Wasserwegen und an Straßen dazuführen, daß hierfür Mittel aus dem Bundeshaushalt verwendet werden und dadurch bei anderen Projekten Verzögerungen eintreten?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Dies läßt sich im Moment nicht absehen, weil hierzu genaue Zahlen noch nicht vorliegen, wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir den Katalog der steuerlichen Maßnahmen im genauen Wortlaut zur Verfügung stellen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich. Bitte sehr.
Dann möchte ich die Fragesteller der Reihenfolge nach aufrufen. Herr Abgeordneter Dr. Früh, möchten Sie eine Zusatzfrage stellen? — Bitte schön.
Herr Staatssekretär, würden Sie, wenn die Meldungen der Länder vorliegen — man geht ja davon aus, daß es sich um rund 1 Milliarde DM handelt —, dann auch unmittelbar Vorschläge machen, wie diese doch beträchtlichen Schäden in Zusammenarbeit mit dem Bund möglichst bald bereinigt werden können?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7337
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Wenn die betroffenen Länder sich an uns wenden, werden wir selbstverständlich zusammen mit den Ländern adäquate Vorschläge erörtern. Dies ist, wie gesagt, bisher noch nicht geschehen, weil die Länder sich noch nicht an uns gewandt haben.
Eine weitere Zusatz. frage des Herrn Abgeordneten Früh.
Herr Staatssekretär, würden Sie sich auch dafür aussprechen, daß man Untersuchungen darüber anstellt, inwieweit Dämme oder Flußführungen im Rahmen einer Gemeinschaftsaufgabe verbessert werden könnten, damit eventuell solch große Niederschläge nicht wieder zu ähnlichen Ergebnissen führen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wie ich vorhin schon mitteilte, liegen bisher ausschließlich aus dem landwirtschaftlichen Bereich erste vorläufige Schätzzahlen vor. Ich bin gern bereit, nach Vorliegen weiterer Zahlen Ihre Anregung zu überprüfen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Friedmann.
Herr Staatssekretär, worauf ist es zurückzuführen, daß es nach dem übereinstimmenden Urteil der geschädigten Gemeinden leichter war, die Hilfe französischer und kanadischer Streitkräfte als die der deutschen Bundeswehr zu erhalten?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Ich bedaure es sehr, wenn dieser Eindruck entstanden ist. Dies liegt dann aber daran, daß die Länder sich wohl nicht in richtiger Form an den Bund gewandt haben. Wie ich Ihnen vorhin in der Antwort ausdrücklich mitteilte, haben die Länder sich bisher noch nicht an den Bund gewandt. Es ist nicht möglich, daß der Bund ohne Ansuchen von sich aus Hilfe leistet.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß der Einsatz der Bundeswehr auch möglich ist, ohne daß die Länder sich an den Bund wenden?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Mindestens setzt ein Eingreifen auch der Bundeswehr voraus, daß entsprechende Anfragen seitens der Länder vorliegen.
Eine dritte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß Mittel, die in anderen Katastrophenfällen für andere Länder seinerzeit bereitgestellt wurden, in erheblichem Umfang nicht abgerufen wurden?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Dazu kann ich Ihnen im Moment keine konkrete Auskunft geben.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Susset.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, die von der Landesregierung Baden-Württemberg schon bekanntgegebene ungefähre Schadenshöhe im privaten Bereich, im gemeindlichen Bereich und auch beim Gewerbe und in der Landwirtschaft von 500 bis 700 Millionen DM als gerechtfertigt anzusehen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies kann ich natürlich nicht. Wie ich Ihnen schon sagte, sind bisher nur im landwirtschaftlichen Bereich Schätzzahlen — insgesamt belaufen sich die Schätzungen auf etwa 60 Millionen DM — gemeldet worden. Im Hinblick auf die anderen Schadensbereiche — ich wiederhole meine Antwort noch einmal — hat die Bundesregierung über die Berichte in den Medien hinaus keine weiteren Erkenntnisse. Wir stellen anheim, daß die Landesregierungen der Bundesregierung weitere Aufschlüsse geben und dies nicht nur über die Medien erledigen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Susset.
Herr Staatssekretär, ich entnehme beispielsweise der heutigen Ausgabe von VWD, daß Schäden — und zwar aufgegliedert nach den Bereichen, wie ich es vorhin vorgetragen habe — in Höhe von 500 bis 700 Millionen DM als festgestellt angesehen werden können.
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Ich nehme dies zur Kenntnis und stelle anheim, daß die Länder an den Bund herantreten.
Eine Frage des Herrn
Abgeordneten Lambinus.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß auch der Freistaat Bayern bisher nicht an den Bund mit der Bitte um eine Bundesbeteiligung bei der Behebung der Schäden herangetreten ist?Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Ich kann mitteilen, daß bisher der Bundesregierung nur vorläufige Schätzzahlen der betroffenen Landesregierungen, dann also wohl auch des Freistaates Bayern, über die Höhe der Schäden im landwirtschaftlichen Bereich mitgeteilt worden sind. Darüber hinaus ist bisher nichts geschehen, was mir im gegenwärtigen Moment bekannt wäre.
Metadaten/Kopzeile:
7338 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Spöri.
Herr Staatssekretär, darf ich präzisierend nachfragen, ob es bisher seitens der Landesregierung Baden-Württemberg einen offiziellen Antrag auf flankierende Hilfeleistung seitens des Bundes gibt.
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Soweit bisher bekannt ist, nicht.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Ey.
Herr Staatssekretär, bis zu welchem Zeitpunkt glaubt die Bundesregierung einen halbwegs exakten Gesamtüberblick über die entstandenen Schäden, länderweise geordnet, zu haben, wobei ich davon ausgehe, daß Ihr Haus sich längst mit den Ländern und deren Referenten in Verbindung gesetzt hat?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir warten die Berichte der Länder ab und werden dann unverzüglich die Gesamtübersicht erstellen.
— Das läßt sich im Moment nicht absehen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Roth.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie gesagt haben, daß sich kein Land — weder Bayern noch Baden-Württemberg noch Rheinland-Pfalz — bisher an die Bundesregierung gewandt hat, um die verfassungsrechtliche Möglichkeit auszulösen, überhaupt Hilfe zu erhalten: Gibt es wenigstens inoffiziell politische Bemühungen der betroffenen Länder, mit dem Bundesfinanzministerium zu Regelungen zu kommen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Dies ist mir nicht bekannt.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Huonker.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß eine über die steuerlichen Hilfen hinausgehende Hilfe seitens des Bundes nur darin bestehen könnte,, daß man eine Hilfsmaßnahme trifft, die etwa mit dem häufig diskutierten Tatbestand der Mischfinanzierung zu tun hat, und halten Sie es für denkbar, daß die Landesregierung von Baden-Württemberg deshalb noch nicht an den Bund herangetreten ist, weil man vermeiden will, sich durch ein solches Hilfeersuchen in Widerspruch zu den früheren Aussagen in Sachen Mischfinanzierung zu setzen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann den ersten Teil Ihrer Frage bestätigen. Eine Mitfinanzierung durch den Bund könnte nur ausnahmsweise aus dem Gesichtspunkt der gesamtstaatlichen Repräsentation in Betracht kommen. Das Ergebnis wäre dann, wie Sie treffend gefragt haben, ein weiterer Fall einer Mischfinanzierung durch Bund und Länder mit der bekannten Problematik. Die weitere Unterstellung, die Sie hinsichtlich des Landes Baden-Württemberg gemacht haben, kann ich freilich nicht bestätigen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Gerster.
Herr Staatssekretär, würden Sie freundlicherweise einmal die Höhe der Schäden einer derartigen Naturkatastrophe beziffern, ab der sich der Bund von sich aus verpflichtet fühlt, tätig zu werden, und könnten Sie sich mit mir auf die Definition einigen, daß der Bund bereits dann zuständig ist, wenn derartige Naturkatastrophen die Grenzen mehrerer Bundesländer überschreiten?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Für die Zuständigkeit des Bundes, Herr Kollege, gibt es keine von vornherein feststehenden Grenzen. Maßgebend ist zunächst die Höhe des Schadens privater Geschädigter, vermindert um Versicherungsleistungen und einen zumutbaren Eigenanteil der Geschädigten. Dabei sind alle Schadensbereiche zu berücksichtigen, nicht nur der von mir vorhin erwähnte Bereich der Landwirtschaft. Zum anderen ist zu prüfen, ob die Finanzkraft des einzelnen Landes zur Behebung des verbleibenden Schadens ausreicht. Nur soweit dies nicht der Fall ist, kann eine Bundeszuständigkeit angenommen werden. Für die Behebung von Schäden an öffentlichen Einrichtungen von Ländern und Gemeinden fehlt im übrigen eine Bundeszuständigkeit. Bei der von mir vorhin genannten Schadens-höhe von etwa 60 Millionen DM, bisher festgestellt und gemeldet im landwirtschaftlichen Bereich, dürfte eine Bundeszuständigkeit nicht angenommen werden können.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Ey.
Herr Staatssekretär, ist in Ihrem Hause daran gedacht, eine Schadensverständigenkommission zu berufen, um eine möglichst ausgewogene und unter den unterschiedlichen Verhältnissen gerechte Form der Schadensregulierungen und Hilfen einzuleiten?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, daß diese Frage sachgerecht erst beantwortet werden kann, wenn die Schätzmeldungen der Landesregierungen vorliegen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Spöri.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7339
Herr Staatssekretär, davon ausgehend, daß in meinem Wahlkreis Heilbronn allein 137 gewerbliche mittelständische Betriebe von den Folgen dieser Unwetterkatastrophe betroffen sind, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung be- reit ist, zu prüfen, ob diesen mittelständischen Firmen nicht aus ERP-Mitteln Hilfe geleistet werden kann?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Diese Prüfung müßte von den die ERP-Mittel verwaltenden Instanzen autonom durchgeführt werden.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Gerster.
Herr Staatssekretär, da Sie hier lediglich von landwirtschaftlichen Schäden gesprochen haben und da es der Bundesregierung bisher offenbar entgangen ist, daß auch erhebliche Schäden etwa an Gebäuden entstanden sind, möchte ich Sie fragen: Wären Sie bereit, für die Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen, daß im Bereich der Gebäude, der Wohnungen, der Eigentumswohnungen zumindest ebenso hohe Schäden entstanden sind?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich darf auf meine Ihnen vorhin erteilte Antwort verweisen, in der ich ausdrücklich darauf hingewiesen habe, daß bei der Feststellung der endgültigen Höhe des Schadens natürlich alle Schadensbereiche zu berücksichtigen sind. Dies habe ich vorhin ausdrücklich erwähnt. Ich habe vorhin nur das mitteilen können, was dem Bund bisher mitgeteilt worden ist, nämlich Schadensmeldungen aus dem landwirtschaftlichen Bereich. Es ist wohl nicht Sache des Bundes, festzustellen, daß andere Schadensmeldungen nicht erfolgt sind, und dies zu rügen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Lambinus.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß es der Bundesregierung auf Grund einer vom Freistaat Bayern angestrengten Verfassungsklage unmöglich ist, bei der Schadensregulierung derartiger Fälle unmittelbar mitzuwirken?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Wie ich vorhin schon sagte, ist die Rechtslage ,die, daß die Feststellung des Umfangs der Schäden nur von den Ländern vorgenommen werden kann.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Roth.
Herr Staatssekretär, es könnte ja sein, daß die Fragestunde von heute ein Verhalten, eine Handlung der betroffenen Bundesländer auslöst, die zu entsprechenden Anträgen gegenüber dem Bund führt. Würden Sie dann als Bundesregierung schnell, unverzüglich und wirksam helfen wollen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Daß dies, wenn die Voraussetzungen vorliegen, geschehen wird, habe ich vorhin schon zum Ausdruck gebracht.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Huonker.
Herr Staatssekretär, sind Sie schon in der Lage, die Wirksamkeit der vom Finanzminister des Landes Baden-Württemberg angeordneten steuerlichen Maßnahmen zu beurteilen, und sind Sie ferner, sobald der Bundesregierung dies möglich ist, bereit, uns die Steuerausfälle zu nennen, die auf Grund dieser im Interesse der hochwassergeschädigten Bürger angeordneten Maßnahmen entstehen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies kann ich im Moment noch nicht. Ich darf aber auf einen Teil meiner eingangs gegebenen Antwort verweisen, wonach die Länder aufgefordert sind, dem Bundesminister der Finanzen mitzuteilen, welche Maßnahmen sie im einzelnen vorsehen.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte schön.
Herr Staatssekretär, da Sie erwähnten, daß keines der Länder an Sie herangetreten ist, möchte ich Sie fragen: Könnten Sie sich vorstellen, daß die Bundeswehr bei der akuten Beseitigung von Schäden mithilft und daß ein Angebot der Bundeswehr bei den betroffenen Landkreisen als sehr dienlich und auch zweckfördernd angesehen würde?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Den ersten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege, kann ich nicht bestätigen. Ich habe vielmehr ausgeführt, daß die betroffenen Landesregierungen bisher vorläufige Schätzzahlen über die Höhe der Schäden des Unwetters im landwirtschaftlichen Bereich sehr wohl gemeldet haben.
Den zweiten Teil Ihrer Frage kann ich nicht beurteilen. Ich verweise auf das, was ich vorhin gesagt habe, daß nämlich das Tätigwerden der Bundeswehr wohl voraussetzt, daß solche entsprechende Anfragen erfolgen.
Keine Zusatzfrage mehr?Die Frage 59 der Abgeordneten Frau Funcke ist von der Fragestellerin für heute zurückgezogen worden.Die Fragen 60 und 61 des Herrn Abgeordneten Dr. Voss werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Spöri auf:Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß der marktwirtschaftliche Lenkungsmechanismus für Investitionen ausgehöhlt wird, wenn über Abschreibungsgesellschaften ein steigender Anteil des Anlagekapitals vorrangig nach der Höhe der zu erwartenden Verlustzuweisungen angelegt wird, und wenn ja, welche Folgerungen zieht sie daraus?
Metadaten/Kopzeile:
7340 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß der marktwirtschaftliche Lenkungsmechanismus für Investitionen durch die Zulassung des negativen Kapitalkontos für Kommanditisten und durch die Praxis der sogenannten Abschreibungsgesellschaften beeinflußt wird und daß dadurch Fehlleitungen von Investitionskapital möglich sind.Für die an einer Abschreibungsgesellschaft interessierten Kapitalanleger steht — durch entsprechende Werbung bewußt gefördert — in aller Regel die Erzielung einer möglichst hohen Verlustquote im Vordergrund. Die damit zu erreichenden Steuerersparnisse sind der Hauptanreiz, sich an Abschreibungsgesellschaften zu beteiligen. Die Abschreibungsgesellschaften erreichen hohe Verlustzuweisungen nicht zuletzt auch durch möglichst geringe Eigenkapitalquoten und durch eine Aufblähung der Anlaufkosten.Bei den Kapitalanlegern wie auch bei den Abschreibungsgesellschaften, welche die Beteiligungen anbieten, treten Rentabilitätserwägungen, die sonst dem marktwirtschaftlichen System zugrunde liegen, oft zurück. Diese Tendenz wird zusätzlich dadurch gefördert, daß die derzeitige steuerliche Praxis nicht nur Liquiditätsvorteile und Zinsgewinne möglich macht, sondern vielfach gerade beim völligen Verlust der Vermögensanlage unter Umständen endgültige Steuerersparnisse erlaubt, die den Kapitaleinsatz übersteigen.Die unverhältnismäßig hohe Zahl der Konkurse in diesem Bereich in der Vergangenheit ist demnach nicht zufällig und zeigt, daß tatsächlich volkswirtschaftliche bedenkliche Fehlleitungen von Investitionskapital erfolgt sind.Frau Präsidentin, ich bitte darum, die nächste Frage nach Möglichkeit im Zusammenhang hiermit beantworten zu können.
Wenn der Fragesteller damit einverstanden ist, rufe ich zusätzlich Frage 63 des Herrn Abgeordneten Dr. Spöri auf:
Wird die Bundesregierung angesichts der Praktiken von Abschreibungsgesellschaften entsprechend einer Empfehlung des Bundesrats einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des .negativen Kapitalkontos" vorlegen?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hält die gegenwärtige steuerliche Praxis, welche die Abschreibungsgesellschaften begünstigt, für änderungsbedürftig. Die derzeitige Besteuerungslage ist allerdings beim sogenannten negativen Kapitalkonto auch nach geltendem Recht umstritten. Beim Bundesfinanzhof sind zur Zeit mehrere Revisionen anhängig, die zu einer Klärung der Rechtslage führen können. Der Bundesminister der Finanzen ist diesen Verfahren beigetreten und hat dort die Auffassung vertreten, daß Verlustzuweisungen bei Kommanditisten auch nach geltendem Recht grundsätzlich nur bis zur Höhe der Vermögenseinlage zulässig sind.
Unabhängig von diesen Revisionsverfahren begrüßt die Bundesregierung die Entschließung des Bundesrates vom 3. Juni 1977, die eine grundsätzliche gesetzliche Lösung beabsichtigt. Es wird derzeit geprüft, mit welchen geeigneten gesetzgeberischen Maßnahmen dieser Entschließung gefolgt werden kann, welche als Ziel formuliert hat, die steuerliche Anerkennung eines negativen Kapitalkontos bei Mitunternehmern von Kapitalgesellschaften, die nur beschränkt haften, grundsätzlich auszuschließen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung es für mit marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien unvereinbar hält, wenn heutzutage die Steuersparbranche mit Annoncen Werbung macht, in denen Verlustzuweisungen statt betriebswirtschaftlicher Ertragschancen angepriesen werden?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wie ich schon feststellte, ist die Praxis der sogenannten Abschreibungsgesellschaften geeignet, Auswirkungen auf den Lenkungsmechanismus für Investitionen zu haben. Es trifft zu, daß dadurch Fehlleitungen von Investitionskapital möglich und auch tatsächlich eingetreten sind.
Eine weitere Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, nachdem Sie neue Initiativen der Bundesregierung auf diesem Felde angekündigt haben, darf ich Sie vielleicht fragen, was die Bundesregierung bisher konkret gemacht hat, um mißbräuchliche Entwicklungen auf dem Gebiet der Abschreibungsgesellschaften einzuschränken.
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in den letzten Jahren sind verschiedene Regelungen getroffen worden, die dazu dienen sollten, die Herbeiführung von Verlusten durch besondere steuerliche Aufwandsposten zu verhindern. Insbesondere wegen des Ausweichens auf die allgemeinen steuerlichen Bestimmungen haben sich diese Maßnahmen als nur begrenzt wirksam erwiesen.
Gesetzlich wurde eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt. Die wichtigste ist wohl die Einführung der generellen Verlustklausel ab 1975, wonach erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen nicht zur Entstehung und Erhöhung eines betrieblichen Verlusts führen dürfen. Ausnahmen von dieser Vorschrift gelten nur bei den Berlin-Präferenzen und bei den Sonderabschreibungen auf Seeschiffe.
Zu diesen gesetzlichen Maßnahmen hinzu kommen noch eine Reihe von Verwaltungserlassen, die in den letzten Jahren ergangen sind.
Eine weitere Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7341
Herr Staatssekretär, innerhalb welcher zeitlichen Fristen rechnen Sie mit der Vorlage des von Ihnen angesprochenen Gesetzentwurfs seitens der Bundesregierung?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Wie ich Ihnen schon mitteilte, hatte der Bundesrat im Jahre 1977 eine Entschließung gefaßt. In Zusammenarbeit mit den Ländern wird jezt geprüft, wie dieser Entschließung nachgekommen wird. Einen genauen Zeitplan kann ich Ihnen nicht nennen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, waren Ihnen ein Teil der Zusatzfragen des Kollegen Spöri schon zuvor bekannt, daß Sie Ihre Antwort so flüssig ablesend geben konnten?
Herr Kollege, die Frage wird nicht zugelassen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Huonker.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die interessierte Öffentlichkeit, die sich mit dem Gedanken trägt, sich an solchen Abschreibungsgesellschaften zu beteiligen, deren Risiko häufig nicht zu übersehen ist, durch die jetzt in dieser Fragestunde stattfindende Diskussion darauf hingewiesen wird, daß damit zu rechnen ist, daß diese Art der „Steuerstundung" künftig nicht mehr möglich sein wird?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Es wird im Rahmen der Verwirklichung der von mir genannten Entschließung zu prüfen sein, welche gesetzlichen Maßnahmen da getroffen werden.
Ich darf noch hinzufügen, daß es üblich ist, Herr Kollege Jäger, Antworten auf mögliche Zusatzfragen, die aus dem Gesamtzusammenhang erwartet werden können, entsprechend zu präparieren. Eine sachgerechte Information dieses Parlaments erfordert dies.
Keine weitere Zusatzfrage? - Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Böhme. Ich bedanke mich.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung ist Herr Staatsminister Wischnewski anwesend. Ich rufe die Frage 128 des Herrn Abgeordrieten Graf Stauffenberg auf:
Sind Ordnungsgeld und Verfahrenskosten im Zusammenhang mit der gegen den Bundeskanzler am 15. September 1976 erlassenen einstweiligen Verfügung auch nicht vorübergehend oder vorschußweise aus öffentlichen Miteln bezahlt worden, und bejahendenfalls über welchen Zeitraum hinweg ?
Herr Kollege Graf Stauffenberg, ich beantworte Ihre Frage wie folgt. Ich verweise auf die Antwort, die Staatssekretär Dr. Schüler auf die mündliche Frage des Abgeordneten Hartmann in der Fragestunde des Bundestages am 20. April gegeben hat. Er hat ausgeführt, daß weder zur Begleichung der Verfahrenskosten noch des Ordnungsgeldes öffentliche Mittel in Anspruch genommen worden sind. Dem ist nichts hinzuzufügen. Öffentliche Mittel sind auch nicht vorübergehend oder vorschußweise zum Einsatz gekommen.
Keine Zusatzfrage? — Dann bedanke ich mich beim Herrn Staatsminister Wischnewski.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung ist Herr Bundesminister Genscher anwesend.
Ich rufe Frage 129 der Frau Abgeordneten Erler auf.
Hat die Bundesregierung humanitäre Hilfe für West-SaharaFlüchtlinge z. B. in Form von Babynahrung verweigert, obwohl der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit am 19. Oktober 1977 eine solche in verstärktem Maße gefordert hat, und wenn ja, mit welcher Begründung?
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat sowohl im Dezember 1976 wie auch 1978 humanitäre Hilfsmaßnahmen zugunsten von Westsahara-Flüchtlingen unterstützt. Diese Frage wurde unter anderem auf Anregung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Sitzung des Unterausschusses Humanitäre Hilfe des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages vom 14. Dezember 1977 behandelt. Dort hat das Auswärtige Amt einen weiteren finanziellen Betrag für Unterstützungsmaßnahmen einer deutschen privaten Hilfsorganisation angekündigt. Im April 1978 erhielt demzufolge das Diakonische Werk einen entsprechenden Zuschuß von 200 000 DM. Diese Hilfsorganisation übernahm die Verantwortung dafür, daß die Mittel zur Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Flüchtlinge verwendet werden.
Eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, wie ist es dann zu erklären, daß der Antrag von „Terre des Hommes" seit zwei Jahren im Kompetenzgerangel zwischen BMZ, BMI und AA hin- und hergeschoben wird und daß bisher noch nicht über ihn entschieden worden ist?
Genscher, Bundesminister: Frau Abgeordnete, die Mittel, die für diese Zwecke bereit stehen, sind beschränkt. Deshalb kann ich nicht von vornherein die in Ihrer Frage liegende Unterstellung, es handele sich um Kompetenzgerangel, bejahen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, sind Sie für einen entsprechenden Antrag von „Terre des Hommes" zuständig?
Metadaten/Kopzeile:
7342 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Genscher, Bundesminister: Die Bundesregierung ist zuständig, Frau Abgeordnete.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 130 des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt auf:
Gehört zu den Zielen, die mit der Durchführung der ersten allgemeinen, unmittelbaren Wahlen zum Europäischen Parlament verfolgt werden, nicht zuletzt auch das Bestreben, den Wählern in den neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bewußt zu machen, daß sie nicht nur Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten bzw. der Länder- oder Gebietskörperschaften, in die diese sich aufgliedern, sind, sondern Rechte und Pflichten als Bürger der Europäischen Gemeinschaft wahrzunehmen haben?
Genscher, Bundesminister: Ja.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, ich kann aus Ihrer Antwort entnehmen, daß diese Zielsetzung der Wahlen von der Bundesregierung bejaht wird. Wenn das so ist, frage ich die Bundesregierung: Hält sie es mit dieser Zielsetzung nicht für unvereinbar das war Gegenstand meiner ersten Frage — oder doch mindestens dieser abträglich, wenn die Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und des Saarlandes beabsichtigen, am Tage der Wahlen zum Europäischen Parlament in ihren Ländern Kommunalwahlen durchzuführen, wie nach einem Treffen der beiden Ministerpräsidenten in Mainz am 19. April 1978 bekanntgegeben wurde?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, soweit ich informiert bin, ist eine endgültige Entscheidung über die Abhaltung der Kommunalwahlen noch nicht getroffen worden. Die Probleme, die Sie bei einem zeitlichen Zusammenfallen der Kommunalwahlen und der europäischen Wahlen erkennen, sehe ich ähnlich wie Sie und werde deshalb Gelegenheit nehmen, mit den Herren Ministerpräsidenten über den Gesichtspunkt der Bedeutung der europäischen Wahlen zu sprechen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 131 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Nimmt der Deutsche Gewerkschaftsbund Einfluß auf die Berufung von Sozialreferenten an den 'deutschen Botschaften, und wenn ja, auf Grund welcher gesetzlichen Bestimmungen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, das Verfahren bei der Besetzung der Sozialreferentenstellen an unseren Auslandsvertretungen ist gesetzlich nicht geregelt. Es entspricht einer auf das Jahr 1950 zurückgehenden Praxis. Danach verständigt sich das Auswärtige Amt über die Benennung der Sozialreferenten mit dem Bundesminister für
Arbeit und Sozialordnung und dem Deutschen Gewerkschaftsbund.
Beide können dem Auswärtigen Amt Besetzungsvorschläge unterbreiten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, wenn man diese Praxis anwendet, warum wendet man sie nicht auch bei der Ernennung von Attachés für Agrarfragen, für Wirtschaftsfragen usw. an, so daß man dort den Deutschen Bauernverband, den BDI oder den Beamtenbund genauso um Einvernehmen fragt, wie es hier der Fall ist?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich glaube nicht, daß wir uns bei der Besetzung von Fachreferentenstellen in den Botschaften generell den Grundsatz zu eigen machen sollten, daß es sich um eine Art berufsständischer Vertretungen handelt.
Gleichwohl habe ich mit dem Präsidenten verschiedener Verbände über die Angelegenheit gesprochen. Wenn von dort aus qualifizierte Vorschläge gemacht werden, werden sie berücksichtigt. Aber man kann das nicht generell tun. Ich glaube, daß diese Frage auch schon geprüft worden ist, als man das von mir geschilderte Verfahren in bezug auf die Beteiligung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Aussicht genommen hatte. In dem damaligen Brief, der der Vereinbarung zugrunde liegt, heißt es:
Ich habe mich daher in erster Linie an den Deutschen Gewerkschaftsbund mit der Bitte gewandt, mir geeignete Personalvorschläge zu machen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Sozialreferenten ausschließlich von den Gewerkschaften gestellt werden sollen. Ich wäre Ihnen im Gegenteil dankbar, wenn Sie mir auch von sich aus einige Vorschläge übermittelten, die ich gern wohlwollend prüfen würde.
Der Brief ist an den Präsidenten des Deutschen Caritas Verbandes, Herrn Prälaten Müller, gerichtet. Er ist unterzeichnet: „Mit freundlichen Grüßen Ihr Dr. Konrad Adenauer."
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Bundesminister, wären Sie bereit, auch andere im sozialen Bereich tätige Organisationen, wie den Christlichen Gewerkschaftsbund, hier einzuschalten, oder wollen Sie die Praxis als solche überhaupt abschaffen, daß man unabhängige Beamte und Angestellte als Sozialreferenten nimmt?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7343
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kann eine Praxis gar nicht abschaffen, sondern das Beamtenrecht bindet mich. Ich lasse mich insofern gern binden. Wie Sie schon aus dem Datum 1950 sehen, handelt es sich um eine beinahe 30 Jahre lang erprobte Praxis. Im übrigen fällt es mir, wie Sie wissen, ohnehin immer schwer, mich in Gegensatz gerade zu einer von Herrn Dr. Adenauer eingeführten Praxis zu verhalten.
Aber ich bin bereit, qualifizierte Persönlichkeiten aus allen Bereichen mit zu berücksichtigen. Ich sage noch einmal: Ich habe mit Präsidenten verschiedener Verbände gesprochen. Wenn von dort aus auch für die zeitweise Beschäftigung qualifizierter Persönlichkeiten Vorschläge gemacht werden können, so werden diese Vorschläge dasselbe Maß an Beachtung wie diejenigen des Deutschen Gewerkschaftsbundes finden; denn wir sind daran interessiert, einen großen Erfahrungsbereich in die Arbeit des Auswärtigen Dienstes einzubeziehen, ohne das sich damit in irgendeiner Weise eine Einschränkung der Personalhoheit des Bundesministers des Auswärtigen ergeben darf. Das würde in der Tat gegen Beamtengesetze und unsere Personalpolitik verstoßen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hasinger.
Herr Bundesminister, können Sie bestätigen, daß in den letzten Jahren in Verfolg der von Ihnen genannten Praxis zunehmend mehr Bewerber vorgeschlagen wurden, die nicht aus gewerkschaftlicher oder betrieblicher Praxis kamen, sondern junge Akademiker waren, insbesonder aus dem Bereich von Stiftungen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kann das nicht bestätigen. Ich kann es aber nicht dementieren. Ich müßte es nachprüfen.
Allerdings möchte ich hinzufügen, daß eine akademische Vorbildung nicht von vornherein ein disqualifizierendes Merkmal für die Tätigkeit im Auswärtigen Dienst ist
Eine Frage der Frau Abgeordneten Steinhauer.
Herr Bundesminister, können Sie mir bestätigen, daß es in vielen Ländern der Welt üblich ist, bei der Berufung von Sozialreferenten in den Auswärtigen Dienst die Gewerkschaft zu konsultieren, und ist es nicht so, daß manche Beamte aus Ihrem Hause unter Umständen nicht bereit sind, einer solchen Berufung, die auf Zeit erfolgt, in diesem Bereich überhaupt Folge zu leisten?
Genscher, Bundesminister: An sich besteht kein Mangel an Bereitschaft bei den Angehörigen des Auswärtigen Dienstes, solche Aufgaben zu übernehmen; denn der Auswärtige Dienst verfügt über eine große Anzahl auch für diese Aufgaben befähigter Beamter. Inwieweit in anderen Ländern ein vergleichbarer Tatbestand da ist, vermag ich deshalb nicht zu beurteilen, Frau Abgeordnete, weil wir uns — für uns sage ich: gottlob — in einer Staats-und Gesellschaftsordnung befinden, in der es freie Gewerkschaften gibt, während das Verhältnis von Staat und Gewerkschaften in vielen anderen Staaten ein gänzlich anderes ist, so daß dort möglicherweise andere Motivationen für die Vorschläge vorliegen, als das bei uns der Fall ist.
Keine weitere Frage.Dann rufe ich die Frage 132 des Herrn Abgeordneten Becher auf:Wie hoch ist nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung das Ausmaß der Truppenstärke und Waffenhilfe sowie die Zahl der Berater, mit denen Kuba, die „DDR", die CSSR und andere Mitgliedstaaten des Warschau-Paktes stellvertretend für die Sowjetunion in die internen Verhältnisse Afrikas eingreifen?Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, exakte Angaben über Truppen, militärische Berater, Ausbilder und Experten, die die Staaten des Warschauer Paktes, insbesondere in jüngster Zeit aber Kuba, in die verschiedenen Staaten Afrikas entsandt haben, liegen nicht vor. Der britische Außenminister David Owen hat am 5. April 1978 in einer Rede vor dem Unterhaus festgestellt, daß sich zur Zeit etwa 16 000 kubanische Militärs in Äthiopien und 20 000 in Angola aufhalten. Auch in anderen afrikanischen Staaten hat die Zahl solcher militärischer Berater oder Soldaten in jüngster Zeit zugenommen.Im übrigen bitte ich um Verständnis, wenn die Bundesregierung an ihrer bisherigen Praxis festhält, Angaben über ihr bekannte, aber nicht veröffentlichte Details nur in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu machen.Zur Beantwortung des zweiten Teils . der Frage nach dem Umfang der Waffenhilfe möchte ich auf die Veröffentlichungen des Londoner Instituts für strategische Studien verweisen, insbesondere auf die Veröffentlichung aus dem Jahre 1977/78.Die Sowjetunion und die anderen Warschauer-Pakt-Staaten lieferten in den letzten Jahren Waffen und militärische Ausrüstungen im Wert von jährlich bis zu 3 Milliarden Dollar an Länder der Dritten Welt. Es handelt sich dabei um eine Schätzung, der als Berechnungsbasis Preise vergleichbarer westlicher Waffensysteme zugrunde liegen.Die Sowjetunion und andere Staaten Osteuropas haben seit 1975 Abkommen über Waffenexporte mit ca. 29 Ländern der Dritten Welt in einer Gesamthöhe von 11,7 Milliarden US-Dollar geschlossen, wobei der größte Teil dieser Abkommen bisher nur teilweise abgewickelt worden ist.Über den Anteil Afrikas an diesen Globalzahlen liegen exakte Angaben nicht vor.Im übrigen möchte ich ausdrücklich auf die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU vom 4. Mai 1977 — Drucksache 8/345 — verweisen.
Metadaten/Kopzeile:
7344 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, um ein Beispiel aus der jüngsten Zeit aufzugreifen: Teilt die Bundesregierung die Feststellung des Präsidenten Carter und seiner Mitarbeiter, daß der von Angola aus durchgeführte Einfall in Zaire auch von Kubanern vorbereitet und mit geleitet wurde?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich habe heute in der Debatte zum Ausdruck gebracht, daß wir uns in der Beurteilung der Entwicklung und auch bestimmter bedrohlicher Situationen in Afrika in voller Übereinstimmung mit unseren westlichen Verbündeten befinden, eingeschlossen die Regierung der Vereinigten Staaten. Ich darf an dieser Stelle hinzufügen, daß es am Vorabend der NATO-Konferenz im Rahmen einer Zusammenkunft der Außenminister der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland eine vertiefte Erörterung auch dieser Fragen gegeben hat. Wir stehen unter dem Eindruck, daß die Eindringlinge in Zaire ihren Vorstoß nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Unterstützung afrikafremder Kräfte unternehmen konnten.
Eine weitere Frage.
Herr Minister, wie steht die Bundesregierung zu den Meldungen, wonach auch der vor drei Wochen durchgeführte Besuch des Verteidigungsministers der DDR, Heinz Hoffmann, und der beiden NVA-Generale Reinhold und Hoppe in Angola dem Ausbau von Militärhilfe für Kampfaktionen sowohl gegen Zaire wie gegen Südafrika gedient haben soll?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, mir liegen in diesem Augenblick — in diesem Augenblick! — und an dieser Stelle keine Informationen vor, die es rechtfertigen würden, daß ich dazu regierungsamtlich eine verbindliche Stellungnahme abgebe. Ich will dieser Frage aber gern nachgehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Werner.
Herr Bundesaußenminister, würden Sie den Informationsgrad des Auswärtigen Amtes als auf der Höhe bezeichnen, wenn Sie auf der einen Seite von knapp über 30 000 Kubanern sprechen und auf der anderen Seite der Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, Herr Brezinski, in den vergangenen Tagen die Zahl von mindestens 40 000 nannte und gleichzeitig davon sprach, daß die Milliardensummen der sowjetischen Militärhilfe im vergangenen Jahr um ein Beachtliches höher gewesen sein dürften als etwa im Jahre 1976, als die Bundesregierung eine Zahl von 5 Milliarden DM genannt hatte?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, zunächst einmal werden Sie Verständnis dafür haben, daß ich den Informationsstand des Auswärtigen Amtes für kaum übertreffbar halte.
In der Sache möchte ich hinzufügen, daß wir, wie eben schon geschildert, in einem ständigen Meinungsaustausch mit unseren amerikanischen und anderen Verbündeten stehen. Eine der Erkenntnisse dieses Informationsaustausches besteht darin, daß es natürlich nie möglich ist, in solchen Fällen absolut verläßliche Zahlen zu ermitteln. Das liegt in der Natur der Sache und wird Ihnen von jedem Fachmann bestätigt werden. Ich glaube, politisch und militärstrategisch bedeutungsvoller als ein numerischer Streit, der eine eher quantitative denn qualitative Bedeutung hat, ist die Tasache des militärischen Engagements als solche.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Voigt.
Herr Minister, da in der deutschen Öffentlichkeit häufig der Eindruck entsteht, daß die Sowjetunion, wenn sie mit Hilfe von Waffenlieferungen oder Beratern versucht, in Afrika Einfluß zu erzielen, ihr angestrebtes Ziel auch immer erreicht, möchte ich Sie fragen, ob es nicht auch Beispiele dafür gibt, daß Länder, die von der Sowjetunion Waffenhilfe und Berater erhalten haben, entweder gar nicht erst in das Lager der Sowjetunion eingetreten oder aber später aus diesem Lager abgeschwenkt sind und westliche Positionen übernommen haben, so daß man sagen kann, daß sich die Hilfe der Sowjetunion aus ihrer Sicht zum Teil sogar kontraproduktiv erwiesen hat?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich bin der festen Überzeugung, daß sich die Politik der Staaten der Europäischen Gemeinschaft und auch unserer amerikanischen und kanadischen Freunde — die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten durch Nichteinmischung, aber wirtschaftliche Hilfe, damit durch Herstellen wirtschaftlicher Stabilität, Schaffung sozialer Gerechtigkeit und damit politischer Stabilität zu sichern — langfristig mehr auszahlt als das Vollpumpen von Entwicklungsländern mit Waffen.
Dies vorausgeschickt, kann ich Ihnen bestätigen, daß nicht in allen Ländern, in die seitens der Sowjetunion oder ihrer Verbündeter Waffen oder Berater entsandt worden sind, die damit gehegten Hoffnungen erfüllt worden sind. Ich glaube, daß sich unser Konzept langfristig durchsetzt. Und ganz sicher hat jener afrikanische Staatsmann recht, der einmal hier in Bonn gesagt hat: Afrika braucht keine Stalinorgeln, Afrika braucht Traktoren.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Marx.
Herr Kollege Genscher, nachdem bei einem früheren Treffen zwischen dem damaligen Bundeskanzler Brandt und dem Minister-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7345
Dr. Marxpräsidenten Stoph aus der DDR die Formulierung gebraucht worden ist, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen, darf ich fragen, ob Sie in der Lage sind, die kriegstreibenden Kräfte der DDR, Berater und Soldaten, in verschiedenen afrikanischen Staaten in ihrem ungefähren numerischen und qualitativen Gewicht diesem Hause vorzutragen.Genscher, Bundesminister: Nicht in diesem Augenblick, Herr Abgeordneter. Ich habe hier Zahlen für den Warschauer Pakt insgesamt genannt. Aber in dem geeigneten Gremium sind wir, soweit sie vorliegen und soweit die dafür zuständigen Dienststellen der Bundesregierung dazu in der Lage sind, natürlich bereit, das zu tun.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Bundesminister, da Sie den Informationsstand Ihres Hauses für fast nicht übertreffbar erklärt haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie in der Lage sind, uns wenigstens vor dem Hintergrund der Äußerung des äthiopischen Junta-Chefs Mengistu, u. a. DDR-Truppen kämpften und stürben an der Seite seiner Soldaten, die Zahl der Soldaten und Militärberater der DDR, die derzeit in Äthiopien im Einsatz sind, mitzuteilen.
Genscher, Bundesminister: Wenn Sie die Frage vorher schriftlich vorgelegt hätten, wäre ich sicher dazu in der Lage gewesen, Herr Abgeordneter.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Mertes.
Herr Bundesminister, trifft es zu, daß der sowjetische Entspannungsbegriff ausdrücklich die Förderung von sogenannten nationalen Befreiungskriegen — etwa in Afrika — vorsieht und deckt und daß insofern im sowjetischen sogenannten Entspannungsverhalten gar nichts Überraschendes eintritt?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, Sie werden sich erinnern, daß wir uns bei der Diskussion der Deklaration, die der Bundeskanzler und der sowjetische Generalsekretär Breschnew unterzeichnet haben, auch über die Formulierung unterhalten haben, daß der Friede unteilbar ist. Diese Formulierung macht deutlich, daß bei diesen Gesprächen auch eine solche Frage erörtert wurde, weil die Bundesregierung der festen Überzeugung ist, daß es zu ihrer weltweiten Friedenspolitik gehört, alle Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen. Dazu gehört auch die Lösung der Fragen, die uns — wie ich fest überzeugt bin — gemeinsam bedrücken, nämlich die Beendigung der Kolonialherrschaft in Namibia und in Rhodesien und die Überwindung der Rassentrennungspolitik in Südafrika.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Bundesminister, da es allgemeine Auffassung dieses Hohen Hauses ist, daß es zwischen uns und der DDR besondere innerdeutsche Beziehungen gibt, frage ich, warum das, was das Auswärtige Amt über das Engagement der DDR in Afrika weiß, nur dem Ausschuß bekanntgegeben werden soll und nicht der deutschen Öffentlichkeit.
Genscher, Bundesminister: Es geht gar nicht um das Wissen des Auswärtigen Amtes. Außerdem, wenn Sie schon auf die besonderen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur DDR hinweisen, so werden Sie mir gern zugeben, daß für das Verhältnis zur DDR nicht das Auswärtige Amt zuständig ist, sondern das Bundeskanzleramt, Herr Abgeordneter.
Sie wissen, daß wir bei Abschluß des Grundvertrages gemeinsam großen Wert darauf gelegt haben. Wir müssen hier bei der Wahrnehmung unserer Rechtsposition sehr bedachtsam sein, um nicht etwas ins Gleiten geraten zu lassen.
Was im übrigen solche Zahlenangaben angeht, so beruhen sie sehr häufig auch auf Erkenntnissen der dafür zuständigen Dienste, in deren Entscheidungsbereich es liegen muß, inwieweit sie das Maß ihrer Erkenntnisse öffentlich offenbaren oder in vertraulichen Gremien. Das ist also nicht eine Entscheidung des Außenministers, sondern die Entscheidung ist an anderer Stelle zu treffen.
Eine Frage der Frau Abgeordneten Erler.
Herr Bundesminister, teilen Sie meine historische Analyse, daß es bisher immer nur in solchen Ländern möglich war, kubanische Truppen ins Land zu rufen, wo allzu lange kolonialistische oder aber unterdrückende Strukturen wie etwa in Äthiopien auch mit Unterstützung des Westens aufrechterhalten wurden?Genscher, Bundesminister: Frau Abgeordnete, ich möchte dazu eine generelle Bemerkung machen. Ich glaube, daß es bei der Betrachtung der Entwicklung in den Staaten der Dritten Welt zum Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker der Dritten Welt gehört, daß wir uns zu Anwälten ihrer eigenen Entscheidungen über ihre innere Ordnung machen und uns nicht in die Rolle eines Lehrmeisters oder gar eines Landes begeben, das die Hingabe von Hilfe mit Bedingungen für eine bestimmte innere Ordnung verknüpft. Was wir anzubieten haben, ist unser freiheitliches Staats-, Wirtschafts-und Gesellschaftssytem als Beispiel und Modell mit der Möglichkeit, es freiwillig zu übernehmen oder nicht.
Metadaten/Kopzeile:
7346 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister GenscherDie historische Erfahrung zeigt in der Tat, daß jene ehemaligen Kolonien, die in besonderer Weise auf die Unabhängigkeit vorbereitet worden sind, den Weg in die Unabhängigkeit, in das Finden einer nationalen Identität am leichtesten gegangen sind, verglichen mit jenen, in denen der Prozeß der Entkolonisierung am längsten hinausgezögert worden ist.
Keine Frage.
Ich rufe die Frage 133 des Herrn Abgeordneten Dr. Becher auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Gefahr der in Afrika geführten Stellvertreter-Kriege durch eigene Maßnahmen sowie gemeinsam mit ihren Verbündeten vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufklären und abwenden zu helfen?
Genscher, Bundesminister: Die Bundesregierung tritt dafür ein, Konflikte überall in der Welt mit ausschließlich friedlichen Mitteln zu lösen. Ihre Afrika-Politik ist darauf angelegt, durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit Unabhängigkeit und Stabilität der Staaten Afrikas zu erhöhen, um sie dadurch in die Lage zu versetzen, neuen wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Abhängigkeiten zu widerstehen. Die Bundesregierung wirkt auf diese Weise aktiv bei dem Abbau von Konflikten in Afrika mit. Sie ist davon überzeugt, daß die Ausräumung der Ursachen der friedensbedrohenden Konflikte die wirksamste Politik gegen ein Vordringen außenafrikanischer Mächte in Afrika ist. Die Bundesregierung ist bereit, hierbei Mitverantwortung zu übernehmen, wie sie es bereits im Rahmen der Namibia-Initiative der fünf westlichen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats getan hat. Für konkrete Maßnahmen zur Verhinderung oder Beendigung bewaffneter Konflikte in Afrika ist nach Auffassung der Bundesregierung zunächst die Organisation für afrikanische Einheit als regionale Organisation der afrikanischen Staaten berufen. Ob darüber hinaus auf Wunsch der OAE oder im Einvernehmen mit ihr der UN-Sicherheitsrat mit der Vermeidung oder Beendigung eines bewaffneten Konflikts in Afrika befaßt werden soll, ist eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit, die im konkreten Fall von der Bundesregierung gemeinsam mit ihren Verbündeten und Partnern geprüft wird.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, erblickt die Bundesregierung in den gestrigen Afrika-Beschlüssen des NATO-Gipfels auch eine Verpflichtung, zu verhindern, daß die in meiner ersten Frage genannten Staaten durch allzu umfangreiche Kredit- und Wirtschaftshilfen zusätzlich befähigt werden, mit unserem Geld sozusagen indirekt Stellvertreterkriege in Afrika zu führen?
Genscher, Bundesminister: Welche Staaten haben Sie dabei im Auge, Herr Abgeordneter, damit ich Ihre Frage präzise beantworten kann?
Insbesondere die Ostblockstaaten.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich glaube, es bestand Einigkeit darüber, daß der wirtschaftliche Austausch zwischen der Bundesrepublik Deutschland — wie übrigens auch anderer westlicher Staaten — und den Staaten Osteuropas im gegenseitigen Interesse liegt, daß insbesondere auch das langfristige wirtschaftliche Abkommen der materiellen Absicherung der politischen Zielsetzung, nämlich der Fortsetzung der Entspannung und damit auch der Schaffung von Voraussetzungen für die Lösung heute noch nicht lösbarer oder nicht lösbar erscheinender Probleme dient. Unter diesem Gesichtspunkt sehen wir die wirtschaftlichen Beziehungen. Dies ist übrigens eine Praxis, die alle Bundesregierungen eingehalten haben, wie etwa das Verhalten früherer Bundesregierungen z. B. nach dem Bau der Mauer in bezug auf den Interzonenhandel gezeigt hat.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, wäre im Hinblick auf die Tatsache, daß in allerpenetrantester Weise sich ja wohl Kuba verhält, und im Hinblick auf die Beschlüsse der UNO gegenüber z. B. Rhodesien die Bundesregierung bereit, gemeinsam mit ihren Verbündeten im Sicherheitsrat der UNO Sanktionen gegen Kuba zu verlangen, wenn dieses Land nicht bereit ist, seine Truppen unverzüglich aus Afrika zurückzuziehen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich glaube, es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß im Kreis der blockfreien Staaten sich die Zweifel mehren, ob es noch berechtigt ist, Kuba zu dem Kreis der blockfreien Staaten zu rechnen. Ich halte das für eine interessante und den Tatsachen entsprechende Entwicklung. Ich glaube, daß viele öffentliche Erklärungen nicht nur der Bundesregierung, sondern auch ihrer Verbündeten dazu beigetragen haben, das Bewußtsein für diese Rolle Kubas zu stärken. Hierin sehe ich die größere Wirkungsmöglichkeit als in den von Ihnen ins Auge gefaßten Vorschlägen, die im übrigen ja Mehrheiten brauchten, von deren Erreichbarkeit jedenfalls zu diesem Zeitpunkt Sie sicher ebensowenig überzeugt sind, wie ich es bin.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Voigt.
Herr Bundesminister, teilen Sie die außerordentlich hohe Einschätzung der UNO, ihrer Beschlüsse und der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der UNO, wie sie in dieser Frage zum Ausdruck kommt, vor allen Dingen, nachdem das doch offensichtlich eine grundsätzliche Kurskorrektor der CDU gegenüber den Beschlüssen der UNO und der Mitarbeit innerhalb der UNO andeutet?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7347
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung mißt den Vereinten Nationen eine hohe Bedeutung bei. Nicht zuletzt deshalb hat sie sich entschlossen, Mitglied der Vereinten Nationen zu werden.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Marx.
Herr Kollege Genscher, sind Sie in der Lage — ich stelle die Frage auf Grund Ihrer vorhergehenden Antwort —, diesem Haus gegenüber die Aktivitäten kubanischer militärischer Einheiten in einem fremden Kontinent, in Afrika, zu klassifizieren?
Genscher, Bundesminister: Ich halte es für eine wirklich interventionistische, zum Teil die Unabhängigkeit anderer Staaten beeinträchtigende Politik.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Mertes.
Herr Bundesminister, ist das Auswärtige Amt bereit, den Kollegen Voigt schriftlich darüber zu informieren, in welchen Spezialorganisationen der Vereinten Nationen die Bundesrepublik Deutschland seit 1952 aktiv mitwirkt und daß es in diesem Haus bis zum Jahr 1969 einen Konsens darüber gab, den Vereinten Nationen nicht beizutreten, wenn gleichzeitig die DDR beitritt?
Genscher, Bundesminister: Ich kann diese Frage wie die meisten Ihrer Fragen, Herr Abgeordneter, mit einem uneingeschränkten Ja beantworten.
Eine Frage der Frau Abgeordneten Erler.
Herr Bundesminister, ist die Bundesregierung bereit, entsprechend auch die militärischen Aktivitäten der Franzosen im Tschad und in der Westsahara zu klassifizieren?
Genscher, Bundesminister: Nein. Der Sachverhalt liegt anders.
Keine Frage mehr? — Ich rufe die Frage 134 des Herrn Abgeordneten Marx auf:
Ist die Bunderegierung der Auffassung, daß sie — sei es versehentlich oder gar bewußt fehlerhaft — das Viermächteabkommen über Berlin nicht korrekt eingehalten hat?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat das Viermächteabkommen für Berlin bisher stets strikt eingehalten und voll angewendet. Sie wird das auch in Zukunft tun.
Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesaußenminister, empfinden Sie ähnlich wie ich vor dem Hintergrund dieser klaren Antwort die Behauptung, die Bundesregierung habe in der Vergangenheit, sei es versehentlich oder gar bewußt, das Viermächteabkommen über Berlin fehlerhaft ausgelegt und angewendet, als schädlich für unsere Deutschland- und Berlin-Politik und darüber hinaus für unsere Außenpolitik?
Genscher, Bundesminister: Mir ist, Herr Abgeordneter, ein an die Adresse der Bundesregierung gerichteter Vorwurf dieser Art nicht bekannt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Bundesaußenminister, da Sie eine vorzüglich arbeitende Pressestelle haben, ist Ihnen sicher durch diese Pressestelle wiederholt zugegangen, daß dieser Vorwurf gegen Ihr Haus erhoben worden ist. Ich frage, ob Sie bereit sind, in diesem Haus diesen Vorwurf als unqualifiziert zu bezeichnen.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich muß Sie bitten, zu zitieren, worauf sich der an die Adresse des Auswärtigen Amts gerichtete Vorwurf gründet. Ich weiß natürlich als Zeitungsleser wie Sie, daß ein allgemeinerer Vorwurf dieser Art erhoben worden ist.
Sie haben mich aber gefragt: an die Adresse des Auswärtigen Amts. Ich habe gesagt, ein solcher Vorwurf an die Adresse des Auswärtigen Amts sei mir bis zur Stunde nicht bekanntgeworden. Sollte er mir bekanntwerden oder sollte er erhoben werden — jetzt oder in Zukunft —, so würde ich diesen Vorwurf als unberechtigt zurückweisen, und zwar in vollem Bewußtsein der Feststellung, die ich hiermit wiederhole — wie ich hoffe: zu Ihrer Befriedigung -, daß die Bundesregierung das Viermächteabkommen bisher stets strikt eingehalten und voll angewendet hat und sich auch in Zukunft so verhalten wird.
Keine Zusatzfrage.Dann rufe ich die Frage 135 des Herrn Abgeordneten Kunz auf:Kann die Bundesregierung gegebenenfalls konkrete Fälle nennen, in denen sie — sei es versehentlich oder gar bewußt fehlerhaft — das Viermächteabkommen über Berlin nicht korrekt eingehalten hat?Genscher, Bundesminister: Die Bundesregierung, Herr Abgeordneter, hat das Viermächteabkommen bisher stets strikt eingehalten und voll angewendet und wird das auch in Zukunft tun.
Metadaten/Kopzeile:
7348 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Eine Zusatzfrage.
Kann ich, Herr Minister, Ihrer Antwort entnehmen, daß Sie mit mir der Auffassung sind, daß auch in Zukunft die Möglichkeit gegeben ist, Institutionen des Bundes in Berlin zu begründen, sofern die allein für die drei Westsektoren zuständigen Drei Mächte dies gestatten?
Genscher, Bundesminister: Unabhängig davon, daß es sich hier nicht um eine aktuelle Frage handelt, beantworte ich Ihre Frage mit Ja.
Eine weitere Zusatzfrage.
Kann ich Ihre Antwort weiterhin so interpretieren, daß Sie mit mir die Auffassung teilen, daß europäische Institutionen, wenn die Europäische Gemeinschaft solche Institutionen in Berlin zu begründen wünscht, dort genauso legal sind wie in anderen Teilen der Gemeinschaft?
Genscher, Bundesminister: Wenn Sie ebenfalls hinzufügen „mit Einverständnis der Drei Mächte" und unter meiner Hinzufügung, daß es sich auch dabei nicht um eine aktuelle Frage handelt, beantworte ich Ihre Frage mit Ja.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Mertes.
Herr Bundesminister, nachdem die Bundesregierung in diesem Hause einmal eine bestimmte Zitierweise der sowjetischen Seite zum Berlin-Abkommen und zu den rechtlichen Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik Deutschland als unkorrekt bezeichnet hat: Sind Sie der Auffassung, daß es auch für die Mitglieder dieses Hauses wichtig ist, das Berlin-Abkommen immer richtig, in allen Nuancen richtig zu zitieren?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich halte es für eine pure Selbstverständlichkeit, daß Abkommen immer richtig zitiert werden. Das gilt insbesondere für Abkommen von einer so zentralen Bedeutung, wie sie das Viermächteabkommen für Berlin hat.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt.
Herr Bundesminister, würden Sie mir zustimmen, daß zwar das vertragsrechtliche, legalistische Abstecken von Grenzen der Anwendung des Berlin-Abkommens wichtig ist, um deutlich zu machen, wo diese Grenzen liegen, daß aber damit natürlich über den politischen Hintergrund einer vollen Anwendung und strikten Einhaltung im konkreten Fall noch nichts gesagt ist?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die strikte Einhaltung und volle Anwendung sollte ja alle Aspekte bei der Anwendung des Viermächteabkommens für Berlin deutlich machen. Ich würde nur gern das Wort „legalistisch" gestrichen haben,
weil das Wort „legalistisch" den Eindruck erwecken könnte, als ob die Berufung auf geltende Verträge oder Gesetze einen gewissen Hautgout hätte.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Bundesminister, kann ich Ihrer Antwort an den Kollegen Kunz entnehmen, daß die Bundesregierung der Auffasung ist, daß es bisher jedenfalls weder leichtfertige noch gar absichtliche Verletzungen des Viermächtestatus durch die Bundesregierung — oder weil man es „einmal probieren wollte" — gegeben hat?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kann nur zum wiederholten Male sagen, was ich bereits ausführte, nämlich daß die Bundesregierung das Viermächteabkommen für Berlin immer strikt eingehalten und voll angewendet hat und das auch in Zukunft tun wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Marx.
Herr Bundesminister, würden Sie auch in Kenntnis der Behauptung der sowjetischen Nachrichtenagentur „Nowosti" vom 25. Mai, die sagt, die Ausdehnung eines Visums, das in den Paß eines Ausländers gedruckt wird, auch auf das Land Berlin sei nicht eine Fahrlässigkeit eines nachlässigen Konsularbeamten, sondern eine bewußte Mißachtung des vierseitigen Abkommens, die vorhin in Beantwortung der ersten Frage getroffene klare Feststellung, daß die Bundesregierung das Viermächteabkommen bisher strikt eingehalten und voll angewendet habe, aufrechterhalten?Genscher, Bundesminister: Ich erhalte auch unter dieser Voraussetzung die von mir nunmehr wiederholt getroffene Feststellung voll aufrecht. Ich füge hinzu, meine Kollegen: Wir sprechen im Zusammenhang mit Berlin und der strikten Einhaltung und vollen Anwendung des Viermächteabkommens von einem Thema von vitaler Bedeutung für die deutsche Politik. Ich bin deshalb um große Klarheit und Eindeutigkeit bemüht gewesen, und ich denke, daß wir alle — auf welcher Seite des Hauses wir auch sitzen — ein Interesse daran haben, diese Diskussion in großer Verantwortung zu führen, wohl wissend, daß das Viermächteabkommen von außerordentlicher Bedeutung für die Bindungen und die Entwicklung der Bindungen Berlins an den Bund ist. Deshalb ist die Bundesregierung ja so sehr daran interessiert, daß sie das Abkommen strikt einhält und voll anwendet und damit behutsam mit diesem wichtigen Abkommen umgeht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7349
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf nunmehr die Leitung der Sitzung übernehmen und die Frage 136 des Herrn Abgeordneten Kunz aufrufen:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß keinerlei Anlaß besteht, Positionen in bezug auf Berlin abzubauen, da das Viermächteabkommen stets strikt eingehalten und voll angewendet worden ist, wie dies dem Abkommen entspricht?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, darf ich hierzu aus der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vom 11. Mai im Anschluß an den Besuch des Generalsekretärs Breschnew zitieren:
Ich habe besonderen Wert darauf gelegt, unseren Gesprächspartnern deutlich zu machen, daß unsere Berlin-Politik nicht darauf ausgerichtet ist, die bestehende Lage zu verändern, sondern daß wir sie erhalten und stabilisieren wollen.
Der Herr Bundeskanzler hat weiter gesagt — ich zitiere wiederum wörtlich —:
Man muß sich von der Vorstellung trennen, daß die Sicherheit und die Lebenskraft Berlins durch bloß demonstrative Aktivitäten und Initiativen, die niemandem tatsächlichen Nutzen bringen, wirklich gestärkt werden könnten. Im Interesse Berlins muß sich eine verantwortungsbewußte Berlin-Politik an den vom Viermächteabkommen gegebenen Möglichkeiten und Grenzen orientieren.
Es ist zu begrüßen — damit gebe ich meinen während der Debatte vom 11. Mai 1978 gewonnenen Eindruck wieder —, daß die Ausführungen der Vertreter aller Parteien im Deutschen Bundestag erkennen ließen, daß die Berlin-Frage behutsam behandelt werden muß. Das ist auch die Auffassung der Drei Mächte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz .
Da Sie, Herr Minister, sehr zu Recht auf die Kontinuität der Berlin-Politik abgehoben haben, darf ich Sie in diesem Zusammenhang fragen, ob Sie mir bestätigen können, daß der Angriff, der durch die sowjetische Nachrichtenagentur „Nowosti", auf die Herr Kollege Marx Bezug genommen hat, wonach das Verfahren zur Übernahme von Bundesgesetzen nach Berlin kritisiert wird, ein erstmaliger Angriff dieser Art ist und nach dem abgeschlossenen Besuch von Breschnew besonders aufhorchen läßt.
Genscher, Bundesminister: Er wäre besser unterblieben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kunz.
Herr Minister, teilen Sie meine Auffassung, daß alle Angriffe, die in diesem von Herrn Marx und mir in Bezug genommenen
Nachrichtenbulletin von „Nowosti" enthalten sind, insgesamt einen höchst untauglichen Versuch einer Ummünzungskampagne hinsichtlich des Abkommens über Berlin darstellen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, durch die Verwendung der Worte „alle Angriffe" schaffen Sie einen so allgemeinen Begriff, daß wir uns später darüber verständigen müßten, was Sie dabei alles im Sinne hatten. Deshalb sehe ich mich außerstande, Ihre Frage zu diesem Zeitpunkt zu beantworten, denn ich kann nur das beurteilen, was ich selbst gelesen habe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kittelmann.
Herr Minister, wie qualifizieren Sie die Tatsache, daß das. sowjetische Nachrichtenmagazin „Nowosti" gerade jetzt nach dem Besuch von Herrn Breschnew die Anwürfe in einer sehr detaillierten Weise vorbringt, und ist damit zu rechnen, daß die Sowjetunion nach dem Besuch von Herrn Breschnew das Berlin-Thema wiederum in einer formal weitergehenden Weise behandeln wird, als es während des Besuches zu erkennen war?
Genscher, Bundesminister: Wir halten uns an das, was in der Deklaration zu dieser Frage gesagt worden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sieglerschmidt.
Herr Bundesminister, da ich ja fragen muß: Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich die Vokabel „legalistisch" auch gern streichen möchte? Aber dann kommt meine Frage: Halten Sie nicht auch insbesondere die Fälle, in denen die Sowjetunion Kritik an Dingen übt, die so wie bisher schon in Berlin gewesen sind, für besonders schwerwiegend und deswegen besonders zurückweisungswürdig?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, Sie führen mit Ihrer Frage in den Bereich der gewachsenen Bindungen. In der Tat ist es dort natürlich besonders schwerwiegend. Aber ich bitte, den Begriff der Entwicklung der Bindungen, der auch gedeckt wird durch das Viermächteabkommen, gleichwohl nicht geringzuschätzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Bundesminister, dann habe ich Sie wohl richtig verstanden, wenn die Bundesregierung die Bestimmungen des Viermächteabkommens, wo es heißt, daß sie berücksichtigen bei der Erweiterung der Bindungen, daß wie bisher Berlin nicht von der Bundesrepublik Deutschland regiert wird, daß darin klar zum Ausdruck kommt, daß die bisherige Praxis in der Bun-
Metadaten/Kopzeile:
7350 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Jäger
desrepublik Deutschland und in West-Berlin nicht als ein untersagtes Regieren in diesem Sinne aufgefaßt werden kann?Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, darf ich Sie bitten, diese Frage zu wiederholen?
Ich darf sie verkürzt wiederholen, Herr Bundesminister: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß in der Formulierung des Viermächteabkommens klar zum Ausdruck kommt, daß die bisherige Bindungspraxis West-Berlins an die Bundesrepublik Deutschland durch diese Formulierung nicht als ein von diesem Abkommen untersagtes Regieren qualifiziert wird?
Genscher, Bundesminister: Die Bindungen werden durch das Viermächteabkommen nicht nur bestätigt, sondern ihre Entwicklung wird sogar für zulässig erklärt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Bundesminister, teilen Sie meine Auffassung, daß ein vorschneller und leichtfertiger Gebrauch der Qualifikation „demonstrativ" für normale Ausschöpfungsmaßnahmen gegenüber dem Berlin-Abkommen den deutschen und Berlin-Interessen abträglich ist?
Genscher, Bundesminister: Wenn es vorschnell und leichtfertig geschieht, was sicher eine Beurteilungsfrage ist, ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor.
Bei der Frage 137 bittet der Fragesteller um schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nunmehr die Frage 138 des Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung in der gemeinsamen Erklärung des Zentralkomitees der KPdSU, des Präsidiums des Obersten Sowjets und des Ministerrats der UdSSR über Inhalt, Tragweite, Schwerpunkte und politische Bedeutung des Besuchs des Staats- und Parteichefs Breschnew in Bonn, oder sieht sie als Ergebnis der Gespräche und Verhandlungen sowie der ausgetauschten Dokumente noch andere Schwerpunkte und Auswirkungen?
Herr Bundesminister.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung bewertet den am 12. Mai 1978 veröffentlichten Beschluß der sowjetischen Führung zum Besuch von Generalsekretär Breschnew, dem sowjetischen Staatsoberhaupt, in der Bundesrepublik Deutschland als eine wichtige politische Erklärung. Sie begrüßt u. a. die in diesem Beschluß enthaltene Aussage, auch in Zukunft im Geiste des gegenseitigen Einvernehmens, der Offenheit und des wachsenden Vertrauens gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu handeln und das Ziel zu verfolgen, weiterhin die Qualität und das Niveau der beiderseitigen Beziehungen anzuheben. Das sind Gedanken, die auch in der anläßlich des Besuches unterzeichneten gemeinsamen Deklaration zum Ausdruck gekommen sind.
Der Herr Bundeskanzler hat am 11. Mai 1978 in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag die Haltung der Bundesregierung zu der deutsch-sowjetischen Gipfelbegegnung eingehend dargelegt. Der Bundesminister des Auswärtigen hat in der anschließenden Debatte ebenfalls ausführlich Stellung genommen. Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages wurde schon am 10. Mai über die Besuchsergebnisse unterrichtet. Daher möchte 'ich es mir versagen, die Besuchsergebnisse noch einmal im einzelnen zu analysieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Bundesaußenminister, hat die Bundesregierung in ihrer Wertung nicht auch den beiderseits erklärten Willen — auch den der Sowjetunion — zum Abbau des militärisch-konventionellen Übergewichts mit der Tendenz zum Gleichgewicht in Europa hervorgehoben, und steht nicht in völligem Gegensatz dazu die soeben von Ihnen behandelte sowjetische Erklärung, die die deutsche Verantwortung für eine starke Abrüstung — aber ohne jede Erwähnung des Gleichgewichts — in den Vordergrund rückt?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, wir waren. uns bei der Diskussion über die gemeinsame Deklaration darüber einig, daß es jetzt darum geht, die darin genannten Zielsetzungen in die Tat umzusetzen. Dazu bieten insbesondere die sogenannten MBFR-Verhandlungen in Wien Gelegenheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Bundesaußenminister, kann die Bundesregierung bestätigen, daß die in der amtlichen TASS-Erklärung enthaltenen Hinweise auf ein europäisches Wettrüsten die daran nicht beteiligte Bundesrepublik Deutschland nicht treffen können und daß sie die Behauptung von dem bereits bestehenden unveränderbaren Gleichgewicht in Europa nicht teilen kann?
Genscher, Bundesminister: Der Herr Bundeskanzler hat heute in der Regierungserklärung und in seinem späteren Beitrag darauf hingewiesen, daß das Ziel der Herstellung eines Gleichgewichts zu den zentralen Zielen der Abrüstungspolitik der Bundesregierung gehört. Schon daraus ergibt sich, daß wir dieses Ziel als noch nicht erreicht betrachten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.Ich rufe die Frage 139 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:Sieht die Bundesregierung — so wie die offizielle Presse — Parallelen im Zusammenhang mit den Gesprächen, Verhand-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7351
Präsident Carstenslungen, Dokumenten und Vertragsentwürfen beim Besuch des Staats- und Parteichefs Breschnew einerseits zu den deutschsowjetischen Abkommen von Berlin des Jahres 1925, andererseits zu den zahlreichen bisherigen Bestrebungen „zur Verwirklichung der leninistischen friedliebenden Politik der KPdSU und der Sowjetunion"?Herr Bundesminister.Genscher, Bundesminister: Die deutsche Seite hat sich — damals wie heute — bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zur Sowjetunion vom Geist der Verständigung und des Friedens leiten lassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Könnten Sie im Zusammenhang mit meiner Frage eindeutig feststellen, daß es Parallelen zu der Kombination von wirtschaftlichtechnischen Hilfen und einer neuen gewandelten Qualität politischer Beziehungen, wie sie bei der Vorbereitung des Abkommens von 1925 auf beiden Seiten ausdrücklich angeführt wurde, derzeit nicht gibt, weil jede Wechselpolitik zwischen West und Ost für uns von Verhängnis wäre?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Situation der Jahre 1925 und 1926 ist mit der des Jahres 1978 aus verschiedenen Gründen nicht vergleichbar. Zum einen ist Deutschland geteilt. Es gibt Militärblöcke auf dieser Welt. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Unterschiede, so daß ich mich darauf beschränken möchte, zu wiederholen, daß wir uns — heute wie damals — vom Geist der Verständigung und des Friedens leiten lassen. Ich glaube, es wäre verfehlt, wenn wir den krampfhaften Versuch machten, Parallelen zu ziehen, die einer seriösen historischen Überprüfung möglicherweise nicht standhielten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Bundesaußenminister, zeigt sich nicht gerade in Ihrer voll zu billigenden Distanzierung von solchen Parallelen der fundamentale Unterschied in der Beurteilung der Ziele der Beziehungen zur Sowjetunion, wie sie in der sowjetischen Presse und wie sie hier vorgenommen wird?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich glaube, es ist für niemanden — unabhängig davon, ob er sich mit Politik beschäftigt oder nicht — ein Geheimnis, daß die Ziele kommunistischer Staaten sowohl außen- als auch innenpolitisch gänzlich andere sind als die demokratischer Staaten, zu denen wir uns rechnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.
Ich rufe die Frage 140 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Glaubt die Bundesregierung, wie Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher erklärt haben soll, bei der Rettungsaktion der französischen und belgischen Fallschirmjäger in der Zaire-Provinz Shaba „Neokolonialismus" entdeckt zu haben, und wenn ja, warum?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister.
Genscher, Bundesminister: Die Äußerungen von Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher sind, wohl durch verkürzte Wiedergabe, mißverstanden worden. Sie hat keineswegs die humanitäre Rettungsaktion Frankreichs und Belgiens in einen Zusammenhang mit dem Begriff des Neokolonialismus gestellt.
Die Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage ist klar. Sie ist bei der Begegnung der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft, im NATO-Rat und heute im Deutschen Bundestag — aber auch bei anderen Gelegenheiten — mit der gebotenen Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgegeordneter Dr. Hupka.
Herr Bundesaußenminister, sind Sie dann bereit, dem Hohen Hause den ganzen Text mitzuteilen, nachdem es nicht möglich war, vom Bundespresseamt oder vom Auswärtigen Amt den genauen Text zu erhalten, weil hier ein Verbot der Wiedergabe erlassen worden war?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, wenn Sie wünschen, den ganzen Text zu hören, ist Ihr Informationsbedürfnis schon jetzt als so wichtig anzuerkennen, daß Ihnen auf jeden Fall der ganze Text zugestellt werden wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Hupka.
Kann ich dann davon ausgehen, Herr Bundesaußenminister, daß diese Formulierung „Neokolonialismus" nicht in Übereinstimmung mit der offiziellen Haltung der Bundesregierung steht?
Genscher, Bundesminister: Die Bundesregierung hat nur eine offizielle Haltung. Wir haben überhaupt gar keine inoffizielle Haltung!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Voigt.
Herr Bundesminister, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung sehr großes Gewicht darauf legt, daß bei keiner der politischen Maßnahmen, die sie in
Metadaten/Kopzeile:
7352 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Voigt
Afrika unterstützt, irgendwie der Eindruck entstehen könnte, als wollte sie eine Politik des Neokolonialismus unterstützen?Genscher, Bundesminister: Die Bundesregierung hat es sich im Gegenteil, wie ich heute schon bei der Beantwortung anderer Fragen zum Ausdruck gebracht habe, zum Ziel gesetzt, die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten zu stärken. Das ist die Ablehnung einer Politik des Neokolonialismus. Das hat aber nichts mit dem Vorgang zu tun, über den wir hier eben gesprochen haben, Herr Kollege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Bundesminister, wie erklären Sie den Umstand, daß Frau Staatsminister Hamm-Brücher, deren Äußerung so, wie sie in der Presse wiedergegeben worden ist, ja erhebliches Aufsehen erregt hat, bisher keinerlei Dementi hat hören lassen und daß wir bis zum heutigen Tag, bis zu Ihrer Äußerung erleben mußten, daß hier peinliches Schweigen herrschte?
Genscher, Bundesminister: Ob das Schweigen peinlich war, überlasse ich Ihrer Beurteilung, aber die Gelegenheit, die mir durch die Frage gegeben wurde, diese Erklärung abzugeben und die Position
der Frau Staatsminister als eines Teils der Bundesregierung darzustellen, zeigt die Nützlichkeit und Bedeutung von Fragestunden des Deutschen Bundestages.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Kollege Genscher, da Sie freundlicherweise dem Kollegen Hupka zugesagt haben, den gesamten unverkürzten und unverstellten Wortlaut zur Verfügung zu stellen: Wären Sie, da die Sache ja nicht nur ein Gespräch zwischen Ihnen und ihm, sondern öffentlich von Interesse ist, bereit, durch Ihre Pressestelle den vollen unverkürzten und unverstellten Wortlaut verbreiten zu lassen?
Genscher, Bundesminister: Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmeldungen hierzu liegen nicht vor.
' Ich rufe Frage 141 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Welche Bedeutung mißt die Bundesregierung der Äußerung des polnischen Botschafters Piatkowski bei, daß mit „eindeutig negativen Folgen" zu rechnen sei, wenn die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen nicht zu einer Revidierung der Schulbücher in der Bundesrepublik Deutschland führen sollten, und was gedenkt die Bundesregierung gegen eine derartige Drohung zu tun?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hält es nicht für sinnvoll, zu einer ihr nur indirekt aus Zeitungsberichten bekanntgewordenen Diskussionsäußerung Stellung zu nehmen, von der ihr weder der genaue Wortlaut noch der Zusammenhang, in dem die Äußerung gefallen sein soll, bekannt sind.
Maßgebend und verbindlich für den Standpunkt beider Seiten bleiben die Ihnen bekannten Feststellungen, die in der gemeinsamen deutschpolnischen Erklärung vom 25. November 1977 getroffen worden sind.
Mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich daraus zitieren:
Beide Seiten würdigten die vor kurzem der Öffentlichkeit vorgelegten Empfehlungen der gemeinsamen Schulbuchkonferenz und die in diesem Zusammenhang in beiden Ländern erzielten Fortschritte bei der Berücksichtigung der Empfehlungen in der Schulpraxis. Sie hielten jedoch weitere intensive Anstrengungen zur Erreichung des gemeinsamen Zieles einer vorurteilsfreien, auf gegenseitiges Verstehen gerichteten Erziehung der Jugend für notwendig. Sie brachten ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, in dieser Richtung alles zu tun, was in ihren Kräften steht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Bundesaußenminister, wäre es nicht die Aufgabe und die Pflicht des Auswärtigen Amts gewesen, sich den genauen Text zu besorgen, um nachher dementsprechend vielleicht ein Gespräch mit dem polnischen Botschafter zu führen, zumal ja, wie Sie sagten, die Ausführungen Ihnen, d. h. dem Auswärtigen Amt, zumindest in indirekter Rede und als Zitat bekanntgewesen sind?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich sage noch einmal, daß wir uns an das halten, was vereinbart ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
tine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Ist daraus aber nicht zu schließen, wenn man die Äußerungen des Botschafters der Volksrepublik Polen ernst nimmt — man muß sie ernst nehmen —, daß es hier offizielle Stellen gibt, die sich nicht daran halten wie die Bundesregierung?Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, im Gegensatz zu mir unterstellen Sie die Richtigkeit der Wiedergabe dieser Äußerungen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7353
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.
Ich rufe die Frage 142 des Herrn Abgeordneten Fiebig auf:
Ist der Bunderegierung einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 18. Mai 1978 zufolge bekannt, daß nach einem Bericht des US-Bundesrechnungshofes sich die CIA zur Beschaffung von Informationen über Ost-Europa der Mitarbeit von 22 Personen bedient hat, denen Nazi-Kriegsverbrechen zur Last gelegt werden, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Regierung der Vereinigten Staaten zu veranlassen, diesen Vorgang aufzuklären?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Genscher, Bundesminister: Die Botschaft in Washington ist aufgefordert worden, den Sachverhalt aufzuklären.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fiebig.
Herr Bundesaußenminister, -werde ich dann über das Ergebnis der Recherchen informiert werden?
Genscher, Bundesminister: Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.
Ich rufe die Frage 143 des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß deutsche Aussiedler aus dem polnischen Machtbereich bei Besuchen in der Botschaft der Volksrepublik Polen in Bonn angehalten werden, sich der polnischen Sprache zu bedienen, und wenn ja, welche Folgerungen zieht sie daraus?
Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Genscher, Bundesminister: Die Bundesregierung, Herr Abgeordneter, hat bisher keinen Anlaß gehabt, sich mit dem von Ihnen dargestellten Sachverhalt zu befassen. Beschwerden über die Praxis der polnischen Botschaft sind ihr bisher nicht zugegangen.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß sich auch deutsche Auslandsvertretungen im Umgang mit Personen, die der deutschen Sprache mächtig sind, im allgemeinen vorzugsweise der deutschen Sprache bedienen. Das entspricht der Praxis, die auch von den Auslandsvertretungen anderer Staaten befolgt wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wittmann.
Herr Minister, würden Sie diese meine Frage aufnehmen und als einen Anhaltspunkt und eine Beschwerde in dieser Richtung werten?
Genscher, Bundesminister: Ich bin gern bereit, Ihre Frage aufzunehmen, um der Angelegenheit nachzugehen. Ob Anlaß zu einer Beschwerde besteht, kann erst dann beurteilt werden, wenn der Sachverhalt in gebotener Weise aufgeklärt ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Herr Minister, ist es nicht ein Unterschied, ob sich eine Auslandsvertretung ihrer Sprache bedient, andererseits aber Besucher auffordert, sich der Sprache der Auslandsvertretung zu bedienen, oder ist es so, daß die Deutsche Botschaft z. B. in Warschau Besucher auffordert, sich der deutschen Sprache zu bedienen, ansonsten ihre Gesuche nicht verhandelt werden?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, darf ich noch einmal den entscheidenden Satz aus meiner Antwort zitieren. Dann wird vielleicht die Haltung der Bundesregierung verständlicher. Ich hatte gesagt:
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß sich auch deutsche Auslandsvertretungen im Umgang mit Personen, die der deutschen Sprache mächtig sind, im allgemeinen vorzugsweise der deutschen Sprache bedienen.
Was z. B. zu prüfen ist, ist die Frage, ob es sich in den von Ihnen genannten Fällen um Personen handelt, die der polnischen Sprache mächtig sind.
— Herr Abgeordneter, ich möchte Sie bitten, wenn Sie konkrete Fälle haben, diese mir zuzuleiten, damit ich diesen konkreten Fällen nachgehen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx.
Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß auch in anderen Fällen, in denen es sich um Deutsche aus Ostdeutschland handelt, die ihren Wohnort seit über 10 Jahren verlassen haben und in Anfragen schriftlicher Art an die polnische Botschaft herantreten, diese verlangt, die Anfragen und die zusätzlichen Schreiben in polnischer Sprache vorzulegen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich werde der Sache nachgehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.Ich rufe dann noch die Frage 144 des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann auf:Was unternimmt die Bundesregierung dagegen, daß von den Aussiedlern aus Ostblockstaaten ein Verzicht auf dort gelegenes Vermögen verlangt wird?Herr Bundesminister des Auswärtigen.Genscher, Bundesminister: Die in Ihrer Frage enthaltene Feststellung, daß von den Aussiedlern aus Ostblockstaaten ein Verzicht auf dort gelegenes Vermögen verlangt wird, trifft in dieser Form nicht zu. Die Gesetzgebung dieser Staaten in bezug auf Vermögen von Aussiedlern, die nach dem Recht des jeweiligen Ostblockstaates in der Regel dessen
Metadaten/Kopzeile:
7354 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister GenstierStaatsangehörigkeit besitzen, ist unterschiedlich. Im allgemeinen wird von den Aussiedlern, die nicht anders behandelt werden als sonstige Personen, die ihren Wohnsitz in das westliche Ausland verlegen, eine Regelung der Vermögensverhältnisse verlangt, die durch entgeltliche oder unentgeltliche Verfügungen getroffen werden kann. In Anbetracht des verständlichen Wunsches, so schnell wie möglich in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln, können bei einem Verkauf von Gegenständen, die nach der Gesetzgebung des jeweiligen Ostblockstaates nicht mitgenommen werden können, allerdings unter Umständen nur ungünstige Preise erzielt werden.Hinzu kommt, daß bei unentgeltlichem Erwerb von Grundstücken, wie Erbschaft, Schenkung und Ersitzung, nach dem Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht mancher Ostblockstaaten außer bei landwirtschaftlichem Besitz hohe Steuern fällig werden. Sollten der Bundesregierung Einzelfälle bekannt werden, in denen Aussiedlern durch das Steuerrecht besondere Härten entstehen, wird sie diese Fälle mit der jeweiligen Regierung des osteuropäischen Staates aufnehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann wegen der fortgeschrittenen Zeit nur noch die beiden Zusatzfragen des Herrn Fragestellers und keine weiteren zulassen.
Herr Abgeordneter Wittmann, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß auch andere nichtkommunistische Staaten bei Auswanderung derartige Verzichtserklärungen bzw. Regelungserklärungen verlangen?
Genscher, Bundesminister: Ich kann Ihnen im Moment solche Staaten nicht nennen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es tut mir leid; aber ich kann außer einer möglichen Zusatzfrage des Fragestellers keine weiteren Zusatzfragen zulassen.
Ich danke dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen für die Beantwortung der Fragen.
Wir sind am Ende der Fragestunde.
Die nicht mehr aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 82, 83, 97, 115, 116, 121 und 122 sind zurückgezogen worden.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, ist zum Tagesordnungspunkt 2 noch ein Punkt zu erledigen. Zu diesem Punkt hatte der Herr Abgeordnete Friedrich um Gelegenheit zur Abgabe einer persönlichen Erklärung nach § 35 der Geschäftsordnung gebeten. Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Friedrich hierzu das Wort.
Herr Präsident! Der CDU-Abgeordnnte Dr. Kohl hat mir heute in der Debatte zur Regierungserklärung unterstellt, meine an ihn gerichtete Frage sei Teil einer gegen Dr. Filbinger gerichteten Kampagne, die von mir auch außerhalb des Hauses, z. B. in Franken, geführt werde.
Nach dieser persönlich gezielten Unterstellung habe ich nach § 35 der Geschäftsordnung das Wort begehrt. Zu den Äußerungen Dr. Kohls stelle ich fest:
Ich habe mich bisher weder in Franken noch sonstwo öffentlich an den Äußerungen zur Debatte über Dr. Filbinger beteiligt. Deshalb war meine Frage an Dr. Kohl auch nicht Teil einer Kampagne. Sie bezog sich vielmehr auf den nachfolgenden Wortlaut einer Presseerklärung der CDU/CSU-Fraktion vom 30. Mai, also von vorgestern, in der es heißt — ich zitiere mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten —
In seinem Lagebericht vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat der Fraktionsvorsitzende Dr. Helmut Kohl auch zu der Kampagne gegen Ministerpräsident Dr. Filbinger Stellung genommen. Dabei hat er u. a. erklärt: „Die CDU/CSU-Fraktion bekundet ihre Solidarität mit Ministerpräsident Hans Filbinger".
Weiter heißt es dann in dieser Presseerklärung in nichtwörtlicher Rede:
Kohl erklärte weiter, die jetzt gegen Filbinger laufende Kampagne sei Teil einer Gesamtstrategie, die darauf abziele, die Führung der Union oder einzelne ihrer Repräsentanten zu diffamieren.
Soweit der Text der CDU/CSU-Presseerklärung, in der Dr. Kohl seine volle Solidarität — ohne Wenn und Aber — mit Dr. Filbinger bekundete.
Ich stellte heute meine Frage, weil zwischen der von Dr. Kohl vor zwei Tagen abgegebenen Solidaritätserklärung für Dr. Filbinger, in der von ihm eine Gesamtstrategie, besonders der SPD, gegen die Union unterstellt wird, und seiner heutigen Aussage im Parlament über die von ihm angestrebten Gemeinsamkeiten der Demokraten ein eklatanter Widerspruch besteht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf hinweisen: Sie dürfen in Ihrer Erklärung nach § 35 nur Erklärungen zurückweisen, die in bezug auf Ihre Person abgegeben worden sind, oder eigene Ausführungen richtigstellen. Ich bitte Sie, sich daran zu halten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7355
Ich weise die Erklärung zurück, in der mir eine persönliche Kampagne unterstellt wird, weil der ganzen deutschen Öffentlichkeit bekannt ist, daß die Veröffentlichung gegen Dr. Filbinger von so angesehenen Zeitungen wie der Wochenzeitung „Die Zeit" oder der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" oder in dieser Woche erneut auf drei Seiten von der „Zeit" zuerst publiziert worden ist. Deshalb ist der Vorwurf einer Kampagne der SPD ungerechtfertigt. Dies wird abgedrängt, weil sich Dr. Kohl moralisch zu Dr. Filbinger nicht erklären kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, wir fahren dann in der Abwicklung der Tagesordnung fort.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1978
— Drucksache 8/1801 —
Wird das Wort zur Einbringung der Vorlage gewünscht? — Der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat am 10. Mai 1978 den schon Anfang dieses Jahres angekündigten Entwurf eines Nachtragshaushalts 1978 beschlossen und diesen dann dem Deutschen Bundestag zugeleitet. Mit rund 939 Millionen DM neuen Ausgaben sieht dieser Entwurf die Finanzierung wichtiger struktur-und beschäftigungspolitischer Maßnahmen vor. Einschließlich des Nachtrags werden die Ausgaben des Haushalts 1978 gegenüber 1977 nunmehr um 10,8 v. H. auf 189,4 Milliarden DM steigen.Die zusätzlichen Ausgaben entfallen im wesentlichen auf folgende Schwerpunkte: zusätzliche erhebliche investive Hilfen für den Steinkohlenbergbau einschließlich Forschung und Innovation, Erhöhung der Förderbeihilfe für deutsche Kokskohle, Investitionshilfen für eine grundlegende Neugliederung saarländischer Stahlunternehmen, Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen für die durch die Anpassungsmaßnahmen in der saarländischen Stahlindustrie freigesetzten Arbeitnehmer, Förderung der Stahlforschung und der nichtnuklearen Energieforschung, der Entwicklung neuer Technologien auf diesem Gebiet, Kapitalzuführung an die Salzgitter AG, Hilfsmaßnahmen für die deutsche Seefischerei sowie die Förderung der Arbeitsaufnahme in Berlin. Daneben sind neue Verpflichtungsermächtigungen von rund 1,4 Milliarden DM zu erwähnen, die im wesentlichen eine mittelfristige Fortsetzung dieser Maßnahmen sicherstellen sollen.1978 bis 1981 werden die investiven Hilfen für den Steinkohlenbergbau um rund 2,3 Milliarden DM aufgestockt. Damit soll die Förderkapazität langfristig gesichert werden. Die derzeitige Lage des deutschen Bergbaus erlaubt es den Unternehmen leider immer weniger, die dafür erforderlichen Investitionen selbst zu finanzieren. Deshalb wird die bisherige Investitionshilfe durch die Erhöhung des Zuschußanteils der öffentlichen Hand verbessert. Den zusätzlichen Mittelbedarf bringen der Bund zu zwei Dritteln, die Bergbauländer zu einem Drittel auf. Außerdem erhält der Bergbau Mittel für eine Verstärkung der Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, die vor allem zum Ziel haben, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Der Bundesanteil an diesen Hilfen beträgt etwa 390 Millionen DM im Jahr.Neben diesen Investitionshilfen wird die Förderbeihilfe für die Lieferung von Kokskohle an Stahlunternehmen erheblich verbessert. Die langanhaltende Stahlflaute, weltweite Strukturveränderungen in der Stahlindustrie, der Kostenanstieg im deutschen Bergbau und nicht zuletzt die uns auch auf anderen Gebieten Sorge bereitende Dollarkursentwicklung haben dazu geführt, daß gegenwärtig Kokskohle auf dem Weltmarkt zu Preisen bezogen werden kann, die wesentlich unter den kostendekkenden Preisen unseres Bergbaus liegen. Die für 1978 von 13,50 DM auf 38,40 DM je Tonne erhöhte Förderbeihilfe schafft hier einen Ausgleich, indem sie dem Bergbau kostendeckende Erlöse und der Stahlindustrie die Beschaffung der Kokskohle zu einem international vergleichbaren Preisniveau ermöglicht. Im Nachtragshaushalt des Bundes sind für die Zahlung der Kokskohlenbeihilfen zusätzlich 314 Millionen DM vorgesehen. Der Gesamtjahresbedarf hierfür beläuft sich auf ca. 1,1 Milliarden DM; davon trägt der Bund, wie gesagt, zwei Drittel.Mit diesen zusätzlichen Hilfen für den deutschen Bergbau hat die Bundesregierung ihre Absicht dokumentiert, die Option in den 80er Jahren für den Energieträger Kohle offenzuhalten. Die Maßnahmen dienen aber auch der Erhaltung vieler Arbeitsplätze, insbesondere natürlich im Saarland und im Ruhrgebiet.Erhebliche Mittel sind für eine grundlegende Neugliederung saarländischer Stahlunternehmen vorgesehen, die durch Ausmaß und Dauer der weltweit schwierigen Absatzlage für Stahl besonders betroffen sind. Die Anpassung an die veränderte Weltmarktlage erfordert hohe Investitionen, die der Bund bezuschußt, um die Wettbewerbsfähigkeit der saarländischen Stahlindustrie langfristig zu erhalten und damit Arbeitsplätze zu sichern. Für 1978 sind hierfür rund 50 Millionen DM vorgesehen; in den kommenden vier Jahren sollen weitere 200 Millionen DM bereitgestellt werden. Diese Hilfe wird vor allem mit Rücksicht auf die besondere Situation im Saarland gewährt.Daneben hat die Bundesregierung zur Finanzierung eines neuen Programms zur Förderung der Stahlforschung mit einem Volumen von 120 Millionen DM in den Nachtragshaushalt 1978 einen Teilbetrag von 20 Millionen DM eingestellt. Damit soll die Entwicklung neuer Technologien gefördert werden, insbesondere zur Verbesserung des Stahlherstellungsverfahrens und zur Qualitätssteigerung der bei uns produzierten Stähle.
Metadaten/Kopzeile:
7356 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister MatthöferAußerdem werden von 1978 bis 1981 200 Millionen DM je zur Hälfte vom Bund und von den Ländern Saarland und Rheinland-Pfalz an regionalen Förderungsmitteln bereitgestellt. Diese Mittel dienen zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen im Saarland und in einem Teil von Rheinland-Pfalz für die durch die Anpassungsmaßnahmen der saarländischen Stahlindustrie freigesetzten Arbeitnehmer.Ich gehe davon aus, daß es über die grundsätzliche Notwendigkeit dieser Fördermaßnahmen keinen Streit gibt. Wenn wir aber der Meinung sind, daß die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Fördermaßnahmen für die Kohle, für den Stahl und für die deutsche Seefischerei notwendig und richtig sind, dann müssen wir auch eine finanzielle Deckung dieser zusätzlichen Maßnahmen und Ausgaben sicherstellen. Die Ausgaben des Nachtragshaushalts sollen nach dem Regierungsentwurf in Höhe von 231 Millionen DM durch Kürzungen von Ausgabeansätzen des bisherigen Haushalts 1978 — eine Reihe von Ausgaben entfallen auf Grund der tatsächlichen Entwicklung — und im übrigen durch eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme um 708 Millionen DM auf insgesamt 31,5 Milliarden DM gedeckt werden.Die Bundesregierung, insbesondere auch der Bundesfinanzminister werden sich einer Suche ,des Parlaments nach weiteren Einsparungen im Haushalt nicht in den Weg stellen.
— Herr Kollege Löffler, ich freue mich über jeden Beifall, in diesem Falle insbesondere deshalb, weil es mir endlich gelungen ist, die Aufmerksamkeit des Hauses zu erregen. — Es müßte sich dann allerdings, wie der Herr Kollege Hoppe angekündigt hat, wirklich um bis ins einzelne gehende Sparvorschläge handeln, die nicht Investitionsausgaben betreffen sollten. Das schränkt uns schon einmal ein. Außerdem habe ich ungeheuer große Mühe, die vom Parlament beschlossene Minderausgabe von 2,5 Milliarden DM in diesem Jahr zu erbringen, d. h., Sie dürften mir auch nicht diese Minderausgabe erhöhen, wenn das Ganze praktikabel bleiben soll. Wenn Sie uns im Rahmen dieser Einschränkungen dabei helfen, die Kreditaufnahme möglichst gering zu halten, dann wollen wir Ihnen dabei nicht nur nicht im Wege stehen, sondern auch mit unseren schwachen Kräften noch helfen.
— Ich habe immer gedacht, Herr Kollege Dr. Stavenhagen, Sie legten Wert auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzminister. Das ist meine bisherige Erfahrung. Das wird sicher auch so bleiben.Ein Nachtragshaushalt kann aber sicher nicht Anlaß sein, die über 7 000 Ausgabeansätze des Bundeshaushalts jeweils aktualisieren zu wollen. Auch— wie ich schon sagte — eine Erhöhung der globalen Minderausgabe von 2,5 Milliarden DM erschien der Bundesregierung nicht sinnvoll. Ich habe mich sorgfältig bemüht, dieser Auflage des Parlaments nachzukommen. Wir haben Schwierigkeiten, schon die 2,5 Milliarden DM zu erbringen. Aber wir wollen doch jeden vernünftigen, wirklich operationellen Weg zu zusätzlichen Einsparungen gern gemeinsam mit dem Parlament gehen.Die Bundesregierung wird im Haushaltsvollzug auf eine sorgfältige und sparsame Mittelbewirtschaftung hinwirken. Es wäre aber unvernünftig, an den Ansätzen pauschale Einsparungen erzwingen zu wollen.Ich bin mir sehr der Problematik bewußt, die durch die kumulierte Kreditaufnahme der letzten Jahre geschaffen worden ist und die sich bei der weiterhin notwendigen expansiven öffentlichen Haushaltsgestaltung noch verschärfen kann. Ich füge aus gegebenem Anlaß hinzu, daß der Bundesminister der Finanzen und die Bundesregierung den einstimmig gefaßten Beschluß des Deutschen Bundestages, mittelfristig auf eine Konsolidierung des. Bundeshaushalts hinzuwirken, respektieren und ihm auch das volle Gewicht zumessen, das ihm zukommt, weil ihm schwerwiegende und beachtenswerte Gesichtspunkte zugrunde liegen.Wir haben es dabei erstens mit der ökonomischen Problematik zu tun, die Kreditmärkte und das Zinsniveau nicht unnötig durch einen zu hohen öffentlichen Kreditbedarf zu belasten. Der öffentliche Kreditbedarf darf nicht Kapitalbildung und Kreditaufnahme der privaten Wirtschaft einengen. Das gegenwärtig ungewöhnlich niedrige Zinsniveau zeigt, daß die öffentliche Kreditaufnahme sich bisher nicht störend ausgewirkt hat.Wir müssen zum zweiten sorgfältig darauf achten, daß die Defizite der öffentlichen Hand nicht zu einer zu großen Bürde für die vor uns liegenden Jahre werden. Schon jetzt ist mit einer hohe Belastung durch Zinsen und Tilgungen zu rechnen, die den finanzwirtschaftlichen Spielraum künftiger Haushalte in geradezu besorgniserregender Weise einschränkt. Dabei wissen wir heute noch nicht, wann wieder eine bessere konjunkturelle Lage einen deutlichen Abbau der Kredite zuläßt. Ich muß hier wieder erwähnen, daß angesichts dieses früher oder später auf uns zukommenden Zwangs zum Abbau der Verschuldung — —Herr Kollege Dr. Kohl, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesem einen Satz zuhören würden, weil er eigentlich für Sie gedacht war.
— Ja, bitte, ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß jetzt etwas kommt, was ich eigentlich auf Sie gezielt hatte sagen wollen. Ich dachte mir, es wäre vielleicht höflich, Sie darauf hinzuweisen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7357
Bundesminister MatthöferIch muß hier wieder erwähnen, daß angesichts dieses früher oder später auf uns zukommenden Zwangs zum Abbau der Verschuldung Diskussionen über Steuererleichterungspläne in Größenordnungen von zweistelligen Milliardensummen unrealistisch sind.
— Ich setze mich jetzt mal mit Ihnen, Herr Kollege Dr. Kohl, auseinander.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, Herr Bundesminister, einen Augenblick. Zum Ablauf der Debatte: Ich muß darauf hinweisen, daß der Herr Bundesminister eine Rede zur Einbringung seiner Vorlage hält. Zwischenfragen sind nicht gestattet, Zwischenrufe sind gestattet. — Bitte schön!
Es ist deshalb, Herr Präsident, auch dem Redner erlaubt, auf Zwischenrufe einzugehen.
— Herr Kollege Dr. Kohl, ich darf an der Stelle fortfahren, wo ich unterbrochen wurde.Ich weiß nicht, wie hoch Sie sich zahlenmäßig die Steuersenkung vorstellen. Man müßte das vorher wissen, weil der Tarif nur dann entsprechend gestaltet werden kann, wenn man eine Größenordnung hat.
— Ich darf Sie einmal bitten, mir durch Zwischenruf Ihre Größenordnung zu sagen, weil ich dann darauf eingehen würde, was dies für die Pläne Ihres Kollegen Dr. Strauß bedeutete, eine Verfassungsklage einzureichen, weil das Defizit seiner Meinung nach jetzt zu hoch ist. Was Sie mir zumuten, Herr Dr. Kohl, ist nach Meinung Ihres Kollegen. Dr. Strauß eine Verfassungswidrigkeit.
Wenn ich diese Ausgaben für Investitionen mache, wie es hier weitgehend der Fall ist, dann befinde ich mich — immer nach Meinung des Kollegen Dr. Strauß — in Übereinstimmung mit der Verfassung. Wenn ich das tue, was mir der Herr Kollege Dr. Kohl anträgt, bin ich — nicht nach meiner Meinung, sondern immer nach Meinung des Kollegen Dr. Strauß — außerhalb der Verfassung. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie beide sich einigen würden.
— Nein, nein, Herr Kollege Dr. Kohl, erst einmal einigen Sie sich mit Ihrem Mitoppositionsführer — man weiß ja da nie, wer wirklich das Sagen hat —,
damit die Union einmal mit einer Stimme spricht und nicht so ein Stimmenwirrwarr von Trommeln und Trompeten und Klarinetten zu hören ist. Zwischendurch kommt immer auch einmal eine menschliche Stimme durch,
und einige reden dann auch noch mit gespaltener Zunge — nicht Sie —, so daß ich nie wirklich weiß, wer denn hier nun für die Union spricht. Die Gesamtheit Ihrer Vorschläge, Herr Kollege Dr. Kohl, ist in sich so widersprüchlich, daß sie wirklich, wenn sie als Einheit gedacht wäre, als Scharlatanerie bezeichnet werden müßte.
Insofern gebe ich also den Vorwurf, die Konsolidierung des Bundeshaushalts nicht genügend im Auge zu behalten, an den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU weiter.
Ein dritter Gesichtspunkt, den wir bei der Kreditaufnahme des Bundes beachten müssen, ist in der Tat die von mir vorhin erwähnte und von Herrn Dr. Strauß genannte Vorschrift des Art. 115 des Grundgesetzes. Der Vorsitzende der CSU, Strauß, hat es für richtig gehalten, sich öffentlich auf eine bestimmte Interpretationsweise festzulegen. Wenn ich Art. 115 hier erst an dritter Stelle erwähne, so gewiß nicht aus Mangel an Respekt vor dem geltenden Verfassungsrecht. Art. 115 verweist uns aber nach seinem klaren Wortlaut auf die Prüfung, ob eine Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt. An diesem Tatbestandsmerkmal möchte sich der Herr Vorsitzende der CSU aber vorbeimogeln, indem er einfach behauptet, dies sei eine Ausnahmebestimmung, und etwas, was eine Ausnahmebestimmung zulasse, dürfe nicht öfter als zwei- oder drei- oder, was weiß ich, viermal vorkommen. Das ist keine seriöse Argumentation, weil sie nicht dem klaren Wortlaut des Verfassungstextes entspricht.
Das Grundgesetz begrenzt die Kreditaufnahme des Bundes in Zeiten einer Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts nicht. Das wirtschaftliche Gleichgewicht ist derzeit in der Bundesrepublik, aber nicht nur in der Bundesrepublik, gestört, weil bei uns wie anderswo eine hohe Arbeitslosigkeit besteht und wir immerhin in unserem Lande eine Million Menschen haben, die Arbeit suchen, weil das wirtschaftliche Wachstum derzeit nicht ausreicht, die Rationalisierungseffekte auch nur auszugleichen, geschweige denn ausreicht, per Saldo noch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ist angesichts der dramatischen Veränderung von Wechselkursen und Außenhandelsströmen wohl nicht als ungestört zu betrachten.
Metadaten/Kopzeile:
7358 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bundesminister MatthöferWenn die Opposition in diesem Punkte anderer Meinung ist, soll sie dies klar sagen und öffentlich betonen, daß die deutsche Wirtschaft in Ordnung und im Gleichgewicht sei. Dann allerdings, Herr Kollege Dr. Kohl, wenn Sie dieser Meinung sind, die deutsche Wirtschaft sei im Gleichgewicht, bitte ich aber auch, eine mögliche Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes nicht mehr in Betracht zu ziehen, weil nämlich das eine das andere ausschließt.
Ich bin darüber hinaus gespannt, welches Echo eine solche Position, wir hätten Gleichgewicht und da sei nicht mehr viel zu tun, in der internationalen Diskussion hätte. Es fällt uns ohnehin schon schwer genug, die deutsche Position international wirksam zu vertreten. Ich wäre dankbar, wenn die Opposition ihre Angriffe auf die Bundesregierung so einrichten könnte, daß die Vertretung unseres nationalen Interesses an einer vernünftigen Wirtschaftspolitik im Ausland nicht im Inland unnötigerweise gemindert würde.
Das mittelfristig oberste Ziel der Finanzpolitik ist es, dazu beizutragen, durch ausreichendes Wirtschaftswachstum die Vollbeschäftigung in unserem Lande wiederherzustellen und langfristig zu sichern.
— Ich will mich gar nicht darauf einlassen, ob wir das schaffen. Das hängt natürlich auch sehr von Umständen ab, die außerhalb unseres Einflußbereiches liegen. Wir haben es hier mit internationalen Entwicklungen zu tun. Allerdings würde ich mich freuen, wenn ich eines Tages einmal von der Opposition eine einheitliche und klare Position, mit der ich mich argumentativ auseinandersetzen könnte, zu hören bekäme über den Weg zur Erreichung der Vollbeschäftigung und ihrer langfristigen Sicherung; darauf warte ich noch.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß dies ein schwieriger, längerfristiger Prozeß sein wird, der auch strukturelle Umstellungen und Anpassungen erfordert. Dies ist in erster Linie eine Aufgabe der Wirtschaft selbst. Der Staat kann aber neben der Setzung der richtigen Rahmenbedingungen, wozu er verpflichtet ist, versuchen, Impulse in die richtige Richtung zu geben. Er ist in unserem Lande dazu sogar gesetzlich, auch grundgesetzlich verpflichtet.Das notwendige Wirtschaftswachstum kann nur dadurch erzielt werden, daß alle Anstrengungen darauf konzentriert werden, den technischen Fortschritt und seine wirtschaftliche Nutzung durch Innovation und zukunftsgerichtete Investitionen zu fördern. Hier, Herr Dr. Kohl, ist ein Punkt, wo ich mit Ihrer Liste, die Sie heute vormittag vorgetragen haben, übereinstimme, und das ist die Notwendigkeit der Förderung neuer Existenzgründungen in unserem Lande, der Förderung der Innovations- und Investitionsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen.
Da haben wir aus den letzten Jahren einiges vorzuweisen.
Sie werden sich noch wundern, was wir da noch alles tun werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es tut mir leid, Herr Abgeordneter Haase , Zwischenfragen sind während der Einbringungsrede nicht gestattet.
Aber Sie sind ja ein berühmter Zwischenrufer; warum rufen Sie nicht?
— Zwischenrufe, Herr Kollege Haase, die Ihnen ja nicht fremd sind, sind Ihnen gestattet.
Der Entwurf des Nachtragshaushalts ist ein Schritt in diese Richtung. Wir meinen, es sei ein richtiger Schritt in diese Richtung. Ich bitte sehr herzlich um Ihre Unterstützung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, ich eröffne die allgemeine Aussprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haase .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, es ist schade, daß uns ein Ereignis von nationaler Bedeutung bevorsteht und wir verpflichtet sind, uns hier kurz zu fassen. Manche Ihrer Äußerungen müßten mich veranlassen, in dem einen oder anderen Punkt jetzt die Klingen mit Ihnen zu kreuzen.Lassen Sie mich nur zu dem letzten Punkt Ihrer Rede etwas sagen. Sie beliebten zu bemerken, wir würden uns noch wundern, was Sie noch alles tun werden zur Ermutigung der Gründung selbständiger Existenzen. Habe ich richtig gehört, daß die Partei, die den Unternehmern die gelben Punkte aufdrückt, sie zu gierigen Profithyänen stempelt, plötzlich auf die Idee gekommen ist, Neugründungen von unternehmerischen Existenzen unterstützen zu wollen? Habe ich das richtig gehört? Erst machen Sie die Leute kaputt, und nachher wollen Sie Neugründungen fördern. Das ist Sozialismus!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7359
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal?
Herr Kollege Westphal, ich habe Herrn Löffler versprochen, nur 15 Minuten zu reden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie brauchen nur ja oder nein zu sagen, Herr Abgeordneter, aber Sie müssen sich entscheiden.
Nein.
Die Kernfrage dieses Nachtragshaushalts ist ebenso wie beim Etat 1978 die Höhe des Schuldenzuwachses, die in diesem Jahr wieder einen traurigen Nachkriegsrekord erreicht. Herr Bundesfinanzminister, ich bin eigentlich ein bißchen traurig darüber, daß Sie dieses Basisproblem unserer finanziellen Existenz so diskret am Rande haben liegenlassen, daß Sie es so gar nicht im Detail behandelt haben.Ist Ihnen nicht bewußt, in welcher Situation wir uns befinden? Dazu sind Sie zu klug und mit den Dingen zu sehr befaßt. Sie wissen schon, in welcher Situation wir uns befinden, nämlich, Herr Minister, daß in etwa fünf, sechs Jahren die gegenwärtige Verschuldungshöhe nicht einmal mehr ausreichen wird, die Zinsen zu zahlen. Herr Minister, in einer solchen Situation kann man doch nicht nonchalant über die Dinge hinweggehen.Aber ich weiß: Ihre Augen richten sich nur noch bis auf das Jahr 1980; wie Karl Schiller, der Sie ja kannte, sagt: nur bis zum Tellerrand der nächsten Wahl, was danach passiert, ist alles egal. Diese Wahl wollen Sie erreichen, und so verhalten Sie sich auch. Ich muß es sagen: leider.
— Herr Kollege, ich komme nachher noch ganz kurz auf Brüning. Sie sollten sich im Zusammenhang mit Herrn Brüning ein bißchen über die historischen Zusammenhänge unterrichten.Übrigens: Die Brüningsche Politik — sagen Sie das einmal Ihren hauseigenen Schreibern — ist aus guten Gründen von der sozialdemokratischen Fraktion des Deutschen Reichstags toleriert worden, verehrter Herr Minister. Wenn Herr Brüning ein bißchen mehr Erfolg gehabt hätte, wenn ihm außer den Sozialdemokraten noch ein paar andere geholfen hätten, dann wäre uns unter Umständen das Dritte Reich erspart geblieben. Schmähen Sie nicht den Brüning.
Bereits der Schuldenzuwachs nach dem ursprünglichen Haushaltsplan, der jetzt noch um 700 Millionen DM erhöht werden soll, übersteigt trotz allerBuchungstricks — Herr Minister, Sie wissen Bescheid — schon zum drittenmal entgegen dem Gebot des Art. 115 des Grundgesetzes die Ausgabenfür Investitionen. Zwar sind Ausnahmen — da sind wir uns einig — zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zugelassen, aber die jahresdurchschnittliche Arbeitslosenzahl von 1 Million, die auch für dieses Jahr trotz des witterungsbedingten Rückgangs der Arbeitslosenzahl im Mai erwartet wird, ist leider keine Ausnahme mehr. Es scheint unter der Verantwortung dieser Regierung zur Regel zu werden.Auch gesamtwirtschaftlich ist diese Schuldenwirtschaft nicht weiter vertretbar. Die Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute plädierte im April zwar für höhere Haushaltsdefizite, aber nicht für erhöhte Haushaltsdefizite schlechthin, sondern ausschließlich zu dem Zweck, mit öffentlichen Investitionen das gesamtwirtschaftliche Wachstum nachhaltig zu fördern und — das „und" wird bei Ihnen immer vergessen — den Leistungswillen zu fördern und die den Leistungswillen hemmenden Steuerbelastungen zu beseitigen. Das wird auch mit diesem Nachtragshaushalt nicht erreicht. Was Sie als investive Ausgaben im Haushalt bezeichnen, wird nur um 400 Millionen DM erhöht. Die Schuldenlast steigt dagegen um 700 Millionen DM.Im übrigen gibt es bei diesen Gutachten auch noch ein Minderheitsvotum; das sollte man sich auch einmal ansehen. Dabei handelt es sich um das Essener Institut. Es warnt, daß erneute Steigerungen des Defizits die Verunsicherungen nicht verringern, sondern vergrößern. Herr Minister, an dieser Stelle müßte ich eigentlich Ausführungen über die Bedeutung der Erwartungen und Stimmungen in unserem Lande, über die Bedeutung der Psychologie im ökonomischen Prozeß machen. Sie wissen darüber aber letztlich genausogut Bescheid wie ich. Sie verstoßen auch hier wieder gegen diese Grundgesetze.Diese Einwände gelten grundsätzlich für alle Maßnahmen — so sagt das Essener Institut —, die die Verschuldung des Staates erhöhen, also auch für zusätzliche Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Wenn überhaupt, dann dürfen nach Auffassung der Essener höhere Schulden allenfalls mit dem Ziel einer Einebnung der starken Progression im Lohn- und Einkommensteuertarif in Kauf genommen werden. Das entspricht im wesentlichen auch der Auffassung des Sachverständigenrates in seinem letzten Jahresgutachten und auch der Auffassung der CDU/CSU-Fraktion.Meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, Sie stehen jetzt vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik mit Dauerarbeitslosigkeit und Schulden über Schulden. Statt wegweisende Zukunftsperspektiven geben zu können, beschränkt sich die Bundesregierung auf die notdürftigen Reparaturen selbstverschuldeter Unfälle. Auch der Nachtragshaushalt mit seinen Subventionen an notleidende Wirtschaftszweige ist nichts anderes. Meine Damen und Herren, Sie laufen doch der Entwicklung im Grunde genommen nur hinterher. Herr Minister, passen Sie einmal auf. Ich zitiere Sie; das hört doch jeder gern. In der „Wirtschaftswoche" vom 12. Mai haben Sie einen guten Vergleich angestellt. Wie ein Radfahrer handeln Sie, der alle 100 m absteigt, um den Reifen
Metadaten/Kopzeile:
7360 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Haase
neu aufzupumpen, anstatt sich einmal die Zeit zu nehmen, den Reifen zu flicken. So handelt die Bundesregierung und so handeln die sie tragenden Parteien.
— So ist es doch tatsächlich. Ich wäre ja glücklich, verehrter Herr Gärtner, wenn Sie uns dabei helfen würden, die Freunde auf den Pfad der Tugend zu bringen und endlich nicht nur permanent anzuhalten und Korrekturen vorzunehmen, sondern einmal eine Reform an Haupt und Gliedern herbeizuführen. Aber leider wird sich diese Reform an Haupt und Gliedern mit unseren sozialdemokratischen Kollegen nicht herbeiführen lassen.Auch Kanzler Schmidt hat z. B. in seiner aufschlußreichen Rede in Oslo zugeben müssen, daß die entscheidende Ursache für die anhaltende Investitionsschwäche und Dauerarbeitslosigkeit und damit auch für die schwere Krise der Staatsfinanzen letztlich psychologischer Natur ist und in der allgemeinen Unsicherheit und dem mangelnden Vertrauen in die Zukunft begründet liegt. Die riesigen Schuldenzuwächse können angesichts des schon erreichten Schuldenstandes die allgemeine Unsicherheit nur vergrößern. Sie sind daher nicht nur verfassungsrechtlich unzulässig, finanzpolitisch gefährlich, sondern auch Gift für die Konjunktur.Meine Damen und Herren, unter den Finanzpolitikern waren wir uns quer durch die Fraktionen bei allen Unterschieden in der verfassungsrechtlichen Beurteilung im Grundsatz einig, daß der durch die überhöhten Ausgaben bedingte Schuldenzuwachs des Bundes zumindest mittelfristig zu hoch ist. Der Herr Kanzler Schmidt hat bereits in seiner Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode angekündigt, daß die Neuverschuldung des Bundes künftig niedriger sein müsse. Damit hat er recht.Herr Kollege Hoppe hat bei der zweiten Lesung des Haushalts 1978 die damals beschlossenen Nettokreditaufnahmen als wohl endgültig ausgereizt bezeichnet. Ich begrüße es ausdrücklich, daß er — leider offensichtlich im Gegensatz zur Haltung der FDP-Minister im Kabinett — das nicht einfach als Geschwätz von gestern abgetan hat, sondern von der FDP-Fraktion durch unseren verehrten Kollegen Gärtner angekündigt wurde, wenigstens die 700 Millionen DM des Nachtrags, für die die Regierung .eine zusätzliche Kreditaufnahme vorgesehen hat, durch Einsparungen zu decken. Wenn Sie dabei bleiben, verehrter Herr Kollege Gärtner, haben Sie uns an Ihrer Seite, und mit uns haben Sie ja bekanntlich die Mehrheit.Möglicherweise kommt jetzt die unvermeidliche Frage — wie immer — nach den Kürzungsvorschlägen der Opposition. Meine Damen und Herren, wir drücken uns ja gar nicht vor der Entscheidung, aber es ist nun einmal nicht Aufgabe der Opposition, zu den für eine dauerhafte Konsolidierung notwendigen Eingriffen die erforderlichen Vorschläge zuerst zu machen, um den Regierungsparteien die Möglichkeit zu geben, die Opposition dann jeweils bei den betroffenen Gruppen draußen im Lande zu verteufeln.Ich erinnere nur — ich kann mir jedes weitere Wort sparen — an die Aktion, die der Bundesminister für Soziales, der Herr . . .
— nein, Ehrenberg,
im Zusammenhang mit den Vorschlägen des Kollegen Windelen, die Transferleistungen einmal unter die Lupe zu nehmen, bewirkt hat. Das ist ja die Tragik. Wenn wir Ihren Wünschen Rechnung tragen, Vorschläge auf den Tisch zu legen, heißt es: Seht die sozialen Demonteure! Herr Kollege Löffler, wenn ich demnächst sage: wir wollen das BAföG mal ein bißchen einfrieren, so garantiere ich Ihnen: Ihre Kollegen aus dem Bildungsbereich ziehen an den deutschen Universitäten umher und sagen: Schreibt dem Haase einen Brief; das ist der, der euch an die Dividenden will.
Ich garantiere Ihnen: das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.Meine Damen und Herren, es gehört zu den vornehmsten Führungsaufgaben der Regierung, ein umfassendes Sanierungskonzept vorzulegen. Das ist nun mal die Rollenverteilung.Wir sagen ja gar nicht wie weiland die Sozialdemokraten — ich erinnere mich noch sehr gut jener Formulierung —: „Wer sind wir denn? Für was halten Sie uns denn eigentlich? Wir waschen doch nicht anderer Leute schmutzige Wäsche!" Das haben Sie seinerzeit, im Jahre 1966, auf unsere Fragen geantwortet, welche Überlegungen Sie hätten.
Sie antworteten uns: „Das ist euer Tisch; den habt ihr gedeckt, und nun müßt ihr zusehen, wie die Zeche bezahlt wird." Wir verhalten uns gar nicht so. Herr Kollege Westphal, wir gehen ja auf Ihre Vorstellungen ein. Bringen Sie sie auf den Tisch, und Sie werden sehen, daß wir mittun. Ich erinnere Sie daran: Beim Haushaltsstrukturgesetz haben wir 40 von 44 Kürzungsanträgen unsere Zustimmung gegeben. Sie können doch nicht sagen, wir verhielten uns gewissenlos. Wir machen doch mit.
Wenn wir hier über Schulden und Einsparungen diskutieren, dürfen wir uns nicht auf den Nachtrag beschränken.
— Gut, Sie haben es gehört.
Vor eineinhalb Monaten, am 13. April 1978, hat dieses Hohe Haus die Bundesregierung einstimmig aufgefordert, mit der Vorlage des Haushaltsplans 1979 und der Fortschreibung des Finanzplans für die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7361
Haase
Jahre bis 1982 unter Berücksichtigung des Art. 115 des Grundgesetzes den Schuldenzuwachs abzubauen und die Neuverschuldung zu verringern. Wir waren uns alle — Herr Kollege Löffler, Herr Kollege Hoppe, ich darf Sie besonders ansprechen — einig, was das bedeutet. Nach dem noch geltenden Finanzplan vom Herbst des letzten Jahres sollte der Ausgabenzuwachs des Bundes ab 1979 auf jährlich 6 % gesenkt werden. Das wurde von dem früheren Finanzminister Apel stets als Beginn der notwendigen Konsolidierung bezeichnet. Nach der Steuerschätzung vom Februar reicht dies indessen nicht aus, um den einstimmigen Grundsatzbeschluß des Bundestages zu verwirklichen. Bei 6 % würde der Schuldenzuwachs in allen Jahren des neuen Finanzplans nicht niedriger, sondern durchweg höher liegen.Der Notwendigkeit äußerster Sparsamkeit verschloß sich auch der neue Bundesfinanzminister, Herr Kollege Matthöfer, zunächst nicht. Dem Finanzplanungsrat legte er im April eine Projektion vor, in der der mittelfristige Ausgabenzuwachs auf 5 bis 5,5 O/o festgelegt wurde. Und Herr Kanzler Schmidt erklärte noch am 26. April vor seiner Fraktion: „Die Fraktion muß damit rechnen, daß ich mich im Zweifel auf der Seite des Finanzministers befinde." Um so überraschter, Herr Minister Matthöfer, war ich, als Sie am 10. Mai 1978, noch keinen Monat nach der einstimmigen Verabschiedung des Grundsatzbeschlusses, plötzlich von Ihrer bisherigen Haltung abrückten und ankündigten, daß die Bundesausgaben im nächsten Jahr doch wieder stärker steigen sollen.Nun, als Forschungsminister hatten Sie sich wohl schon in der Energiedebatte als sehr beweglicher Politiker erwiesen. Ursprüngliche Positionen haben Sie aufgegeben, als Sie in Ihrer Partei Widerstand von links verspürten. Der fatale Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, verehrter Herr Matthöfer, daß sich jetzt das, was damals geschah, wohl in der Finanzpolitik wiederholen soll.
Jetzt versuchen Sie nach der Methode „Haltet den Dieb" der Opposition eine „in sich widerspruchsvolle Politik" vorzuwerfen.Meine Damen und Herren, die Haltung der Union ist klar und eindeutig. Wir haben doch alle erfahren, wohin uns immer mehr Staat, die von der SPD durchgesetzte Politik einer ständigen Erhöhung des Staatsanteils geführt haben. Alle zwölf Konjunkturprogramme seit 1973 haben uns aus den Schwierigkeiten nicht herausgeholfen.Auch der Bundeswirtschaftsminister — das ist interessant, man müßte bei diesen Formulierungen verweilen — hat jetzt erklärt: „Ich mache keinen Hehl aus meiner Auffassung, daß ich von kurzfristig wirkenden oder nicht wirkenden Konjunkturspritzen nichts halte." Ja, er hat solche Konjunkturspritzen — Herr Matthöfer, hören Sie zu —, wie das, was sein Kollege, der Finanzminister, jetzt vorhat, als „konjunkturpolitisches Showgeschäft" bezeichnet. Auch er hat dabei vor zu hohen Ausgaben gewarnt, weil diese die auch von ihm als notwendig anerkannte „langfristig angelegte Entlastung der Unternehmen und der Einkommensbezieher" erschweren oder verhindern.Graf Lambsdorff hat damit eindeutig die Richtigkeit der eindeutigen Prioritäten der Union bekräftigt, nämlich erstens Stärkung von Leistungswillen, Investitionsbereitschaft und Selbständigkeit, zweitens Milderung der Steuer- und Ausgabenlast, drittens — gleichzeitig — langfristiger Abbau des Schuldenzuwachses und des Staatsanteils. Das, was sowohl wir als auch Graf Lambsdorff fordern, ist nicht Brüningsche Politik. Herr Matthöfer, die Brüningsche Politik können Sie doch im Grunde genommen nur aus der damaligen Situation heraus werten, von dem Reparationsdruck herunterzukommen. Ich würde Ihnen hier gern noch mehr sagen, aber die Zeit erlaubt es nicht.Wenn wir angesichts der konjunkturellen Lage den Abbau der leistungshemmenden heimlichen Steuererhöhungen bei der Lohn- und Einkommensteuer und — mittelfristig — der investitionshemmenden ertragsunabhängigen Steuern den Vorrang vor hohen Ausgabensteigerungen einräumen, so sind wir uns darüber im klaren, daß der Schuldenzuwachs nicht sofort auf das vertretbare Normalmaß heruntergefahren werden kann. Auch wir müssen — das sei der Redlichkeit halber hier betont — eine hohe Verschuldung in Kauf nehmen, aber eben nur vorübergehend und zu einem anderen Zweck, auch zu dem Zweck, daß über mehr Wachstum wieder echte Wachstumssteuern in die Kassen des Staates fließen. Nur dann, wenn Sparsamkeit wieder oberstes Gebot ist, sich die Staatsausgaben wieder nach den vertretbaren Einnahmeerwartungen richten, kommen wir aus der Einbahnstraße einer immer höheren Staatsverschuldung heraus. Herr Matthöfer, wir brauchen eine Ausgabenpolitik, die sich wieder an der Leistungsfähigkeit dieser Republik orientiert und die Augenmaß beweist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich darf Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. — Deshalb fordern wir bereits für 1979 eine Tarifreform an Stelle der vom Finanzminister jetzt offensichtlich übernommenen Forderungen des Hamburger SPD-Parteitages. Wir stimmen der Formulierung des Herrn Kollegen Hoppe zu: „Das Ziel der Haushaltskonsolidierung darf nicht unter dem Schuldenberg versinken." Jetzt können Sie und die von Ihnen ins Kabinett entsandten Minister beweisen, daß das, was Sie damals gesagt haben, nicht nur leere Worte waren. Noch ist es nicht zu spät, die vom Finanzminister Matthöfer beabsichtigte Weichenstellung rückgängig zu machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Löffler.
Metadaten/Kopzeile:
7362 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Ausführungen des Herrn Kollegen Haase frage ich mich, ob wir wirklich bei Punkt 5 der Tagesordnung, erste Beratung eines Nachtragshaushalts 1978, sind
oder ob der Bundestagspräsident so etwas wie eine Therapiestunde aufgerufen hat.Mit diesem Nachtragshaushalt beweist die Bundesregierung, wie ernst sie ihre Verpflichtung gegenüber den arbeitenden Menschen und gegenüber der Wirtschaft in unserem Lande nimmt. Alle Ausgaben in diesem Nachtragshaushalt sind der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage angepaßt und sollen helfen, Schwierigkeiten in einigen Sektoren und Regionen zu mildern oder gar zu beseitigen.Für die Opposition ist dieser Nachtragshaushalt — anders war es auch nicht zu erwarten, Herr Kollege Haase — lediglich eine erneute willkommene Gelegenheit, ihre sattsam bekannten Vorwürfe gegen die Finanzpolitik der Bundesregierung zu wiederholen. Die vorgebrachten Argumente werden ja durch die ständige Wiederholung nicht schärfer; im Gegenteil, sie wirken nun langsam schon etwas abgestanden.Wenn ich mich dennoch mit Ihrer Argumentation auseinandersetze, dann deshalb, weil ich Ihnen, Herr Haase, nicht die Gelegenheit geben möchte, mit Ihren polemischen Attacken die Köpfe unserer Bürger zu verwirren. Z. B. hat ja bereits im Vorfeld der Auseinandersetzung um den Nachtragshaushalt der Kollege Dr. Franz Josef Strauß einen Artikel geschrieben, den Sie ja für die Vorbereitung Ihrer Rede weidlich benutzt haben. Es ist auch gut so, daß Sie das aus persönlichen Gründen getan haben;
man muß auch an seine eigene Zukunft denken, Herr Haase, und da ist es sehr gut, wenn Sie sich so verhalten.Dieser Artikel strotzt ja von haltlosen Vorwürfen, Unterstellungen und Verunglimpfungen gegenüber dem Bundesfinanzminister, und zwar so sehr, daß in ihm für die sachliche Auseinandersetzung kaum noch Platz blieb. Sachlich enthält er wahrlich nichts Neues; alte Bekannte geben sich ein polemisches Stelldichein. Dazu gehören auch die Schlagworte — die Sie zum Teil wiederholt und noch vergröbert haben — von der gegenwärtigen Schuldenmißwirtschaft, der Vertrauenskrise, der Unglaubwürdigkeit usw. usw. — alles schon längst gehört.Im übrigen wiederholt der Kollege Strauß — was Sie auch getan haben — ohne jede Begründung die These von den sogenannten Selbstheilungskräften der Wirtschaft, die nicht zum Zuge kommen können, weil die böse Bundesregierung diese Selbstheilungskräfte hemmt.Herr Haase, leider haben Sie nichts anderes zu bieten gehabt als das, was in dem Artikel steht. Sie haben dem Bundesfinanzminister vorwurfsvoll zugerufen: Das ist Ihre Politik. Ich darf den Satz mit einer kleinen Abwandlung an Sie zurückgeben: Das ist Ihre Polemik.Noch ein weiteres, Herr Haase: Weil Sie gerne klirren, müssen Sie uns nicht ständig einen Scherbenhaufen einreden. Benutzen Sie besser den Scherbenhaufen der finanzpolitischen Konzeption Ihrer Fraktion, dann haben Sie genug Möglichkeiten, Geräusche zu machen.
— Wissen Sie, das alles wird natürlich durch Geschrei nicht besser. Sie müssen sich schon einmal das eine oder das andere anhören.
Meine Damen und Herren, in diesem Nachtragshaushalt werden 314 Millionen DM als Zuschüsse zur Erleichterung der Produktion von Kokskohle und Hochofenkoks zu den im Haushalt 1978 schon bewilligten 365 Millionen DM hinzugefügt. Damit wird der deutschen Eisen- und Stahlindustrie und dem deutschen Steinkohlebergbau geholfen. Die Hilfe besteht darin, daß die erhöhte Differenz zwischen dem kostendeckenden Preis für deutsche Kohle und dem Wettbewerbspreis von Drittlandskohle ausgeglichen wird.Ich frage mich nun allen Ernstes: Was könnten bei diesem Problem die sogenannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft bewirken?
Zechenstillegungen, weitere Erschwerung des Stahlabsatzes, Gefährdung der Arbeitsplätze!
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir dieses Problem den von Ihnen apostrophierten Selbstheilungskräften der Wirtschaft überließen, wäre die Folge die Vernichtung von Arbeitsplätzen, was wir uns gerade in der jetzigen Situation nicht erlauben und leisten wollen.
Wir wollen keine Selbstheilung durch Absterben wirtschaftlicher Bereiche oder durch Vernichtung von Arbeitsplätzen, sondern wollen Selbstheilung durch Hilfe zu einer langfristigen Gesundung, und die bieten wir im Bereich Kohle und Stahl mit diesem Nachtragshaushalt an.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ist unsere soziale Komponente der Politik, die wir auch in schwierigen Situationen nicht aufgeben werden.Oder nehmen wir die 348 Millionen DM Zuschüsse für Investitionen an Unternehmen des Steinkohlebergbaus: Sie sind nötig, um begonnene Rationalisierungsmaßnahmen fortzuführen und die Förderkapazität des deutschen Steinkohlebergbaus langfristig zu sichern. Die sogenannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft würden zum Zusammenbruch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7363
Löfflervon Unternehmungen führen, Arbeiter arbeitslos auf die Straße setzen und unsere langfristige Energieversorgung auf das Empfindlichste gefährden.Das gleiche gilt auch für die Investitionszuschüsse für Unternehmen der saarländischen Stahlindustrie sowie für die Mittel, mit denen die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" für das Saarland aufgestockt wird. Ich kann mir vorstellen, daß der saarländische Ministerpräsident unsere Hilfe über den Nachtragshaushalt 1978 mehr schätzt als die vage Hoffnung auf das, was Sie als Selbstheilungskräfte der Wirtschaft bezeichnen.Sie haben aber nicht ein Wort dazu gesagt, wie durch Ihre Politik, um ein anderes Beispiel zu nennen, 60 Millionen DM für die Forschung in den Bereichen Kohle, Stahl und Energie zusätzlich frei werden sollen. Die sogenannten Selbstheilungskräfte würden im Bereich der Hochseefischerei ohne Hilfe von außen den Patienten nicht gesunden, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit zugrundegehen lassen.
Wenn man den Leistungswillen der in unserer Wirtschaft als Unternehmer und als Arbeiter tätigen Menschen stärken will, dann kann man das nur tun, wenn man ihnen solidarische Hilfe gewährt, insbesondere dann, wenn sie in Schwierigkeiten geraten sind, die nicht national zu verantworten sind.
Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie von Selbstheilungskräften sprechen, meinen Sie offensichtlich etwas anderes als wir.
— Ja, ja, Herr Waigel, so ist das leider. Wir bieten Arznei zur Heilung und wollen mit unseren Maßnahmen nicht beim Faustrecht des Stärkeren Geltung verschaffen.
Die Finanzierung dieses Nachtragshaushalts ist nicht ganz leicht. Wir werden uns in den Beratungen im Haushaltsausschuß bemühen, so viel Deckung wie möglich aus dem Haushalt 1978 zur Verfügung zu stellen. Dabei hoffen wir, daß wir die Deckungsvorschläge der Bundesregierung so verbessern, daß wir die zusätzliche Nettokreditaufnahme von 710 Millionen DM deutlich absenken können. Wenn wir dabei jegliche Erhöhung der Nettokreditaufnahme vermeiden können, um so besser. Die Opposition ist aufgerufen, freundlichst eingeladen — so möchte ich unter Kollegen sagen —, dabei mitzuhelfen. Allerdings, lieber Herr Kollege Waigel, kommen Sie nicht mit dem einfachen Vorschlag, die globale Minderausgabe zu erhöhen, weil das nämlich kein finanzpolitisch seriöser Vorschlag wäre. Es muß- bei dem Suchen nach Deckung auch vermieden werden, daß Mittel zur Deckung herangezogen werden, die an ihrer jetzigen Stelle im Haushaltsplan ebenfalls konjunkturwirksam eingesetzt sind. Das bedeutet auch: Kürzungen an Investitionen kann es nicht geben.Wie nicht anders zu erwarten war, hat der Sprecher der Opposition die gemeinsame Beschlußempfehlung des Deutschen Bundestages auf Drucksache 8/1589 zur dauerhaften Konsolidierung des Haushalts erwähnt. Wir stehen natürlich zu dieser Beschlußempfehlung, lieber Herr Kollege Haase. Aber eine dauerhafte Konsolidierung kann ja wohl nicht nur durch phantasieloses Streichen von Ausgaben erreicht werden — so hat ja nicht einmal der als sehr sparsam bekannte preußische König Friedrich Wilhelm I. seine Staatsfinanzen geführt —, sondern eine dauerhafte Konsolidierung kann doch nur durch eine Wiedergewinnung der vollen Auslastung unserer Produktionskapazitäten und durch den Abbau der heute vorhandenen Arbeitslosigkeit erreicht werden. Es wäre ja wohl ein Widersinn, Herr Haase, mit dem auch Sie nicht leben könnten, den Haushalt mit allen Mitteln konsolidieren zu wollen und dabei weite Bereiche der Gesellschaft und Wirtschaft zu ruinieren.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß es in der gegenwärtigen Finanzpolitik keine Patentrezepte gibt.Ich habe mir drei Beispiele herausgesucht, um daseinmal zu belegen. Ich zitiere das „Handelsblatt"vom 21. März 1978. Dort heißt es unter der Überschrift „Der Staat machte die Konjunktur kaputt" :Die unter dem vermeintlichen Diktat der Konsolidierung stehenden Etatplanungen und dernoch restriktivere Vollzug der öffentlichenHaushalte bremsten das Wachstum der Inlandsnachfrage zu stark ab, um die Unternehmen zu einer stetigen, über die mit den Rationalisierungsinvestitionen hinausgehende Erweiterung der Produktionskapazitäten zu veranlassen.So stand es im „Handelsblatt" vom 21. März.Am 9. März sagte der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank — ich zitiere wieder —:Nach meiner Auffassung ist die vorgesehene Vorschuldung in dieser Höhe notwendig— nicht nur möglich, sondern notwendig —,um ein ausreichendes Wachstum der Binnennachfrage sicherzustellen. Sie ist aber andererseits nicht so groß, daß davon Gefahren für die Preisstabilität in der Bundesrepublik ausgehen könnten.
Der Präsident der Deutschen Bundesbank warnte gestern in „Bilanz" vor einer weiteren Staatsverschuldung, weil sonst der Geldwert zu stark gefährdet sei. So könnte man jetzt noch Stöße von Papier darüber vorlesen, welche guten Ratschläge uns die Fachleute oder diejenigen geben, die sich für solche halten. Ich glaube, wir müssen unseren eigenen Weg gehen, den wir vor unseren Wählern, vor diesem Volk, zu verantworten haben.Der Staat muß in der gegenwärtigen Situation sowohl Sparsamkeit üben als auch die Konjunktur beleben und stützen. Dabei reicht es nicht, nur Be-
Metadaten/Kopzeile:
7364 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Löfflerstehendes zu erhalten — auch das muß in der jetzigen Situation getan werden —, sondern wir müssen gleichzeitig Wege für eine gesunde zukünftige wirtschaftliche Entwicklung ebnen. Diese Doppelaufgabe, mit dem richtigen Augenmaß wahrgenommen, schafft die beste Vertrauensbasis für Wirtschaft und Gesellschaft und nicht das ständige Tartarengerede von angeblicher Mißwirtschaft.Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Dieser Nachtragshaushalt beweist einmal mehr, daß sich die Arbeitnehmer und die Unternehmer auf die sozialliberale Koalition verlassen können. Unbeirrt von undifferenziertem Gerede von Sparsamkeit bietet dieser Nachtragshaushalt Hilfe zur Heilung der gegenwärtigen Schäden in einigen Bereichen unserer Wirtschaft, damit aus regionalen und sektoralen Schäden nicht innerhalb unseres Staates der große Schaden mit all seinen unberechenbaren sozialen und politischen Konsequenzen wird. Herr Bundesfinanzminister, wir werden den von Ihnen vorgelegten Nachtragshaushalt mit aller Sorgfalt beraten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Gärtner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung des ersten Nachtragshaushalts in diesem Jahr wird sich sicherlich — dazu war auch der Beitrag des Kollegen Haase angelegt — nicht auf die vorliegenden Druckseiten ides Haushalts beschränken, die hier ausgeteilt worden sind, sondern sie wird sich mit ein wenig mehr beschäftigen. Ich meine, es ist aber dennoch ganz sinnvoll, wenn man manche dieser Ausgabenpositionen noch einmal unter die Lupe nimmt. Insbesondere finde ich es bemerkenswert, wie der jetzige Bundesfinanzminister beim Ressortwechsel einiges an offenbar ungelösten bzw. lösungswürdigen Problemen mitgenommen hat und nun ohne das bislang übliche Streitverfahren zwischen Finanzminister und Ressortchef in seiner eigenen Person kurzerhand gleich entschieden hat. Ich denke dabei an die Positionen, die sich insbesondere mit dem Einzelplan 30 befassen.Dennoch bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß gerade in dem Bereich der nichtnuklearen Energieforschung wohl auch unbestrittenermaßen ein großer Nachholbedarf besteht. Die Bekräftigungen einer sicheren und unabhängigen nationalen Energieversorgung haben zu lange darunter gelitten, daß wir unsere öffentlichen Mittel ziemlich einseitig auf nur ein Energiedarbietungskonzept konzentriert haben. Der nun eingeschlagene Weg, der nach meinem Eindruck noch verstärkt werden muß, ist zu begrüßen.Dennoch wird die Ausgabenseite dieses Nachtragshaushaltes wohl hier und im Haushaltsausschuß weniger Streit entfachen. Der interessantere Teil dieses Entwurfs ist die Einnahmeseite. Die — wenn ich das so sagen darf — spärliche Größeder Einnahmenpositionen im Entwurf kann nicht zufriedenstellen.
Das kann deshalb nicht zufriedenstellen, weil wir hier nicht so tun können, als ob wir nicht im Deutschen Bundestag am 13. April 1978, also vor nicht allzu langer Zeit, einmütig beschlossen hätten, daß wir die mittelfristige Haushaltssanierung ernsthaft betreiben wollen. Dies hat der Herr Bundesfinanzminister — wenn ich das richtig im Hinterkopf habe — mit Dankbarkeit — wenn auch mit zähneknirsdhender Dankbarkeit, habe ich den Eindruck — entgegengenommen.
— Herr Kollege Waigel, bitte, korrigieren Sie doch Ihre Rede weiter. Vielleicht geht das dann besser.Es besteht die Aufgabe für das gesamte Parlament, diesem Beschluß Rechnung zu tragen. Ich gehe davon aus, daß nicht nur wir Freien Demokraten zu diesem Beschluß stehen, sondern auch die Kollegen Dr. Kohl und Dr. Zimmermann, die diesen Antrag auf der Drucksache 8/1480 vom 26. Januar 1978 hier eingebracht haben.Wenn dies, meine Damen und Herren, von der Opposition bejaht wird, dann müßte vorher allerdings einiges an Widersprüchlichkeiten aus der Welt geschafft werden.Wenn ich höre, daß der Oppositionsführer eine erkleckliche Steuersenkung schon zum 1. Januar 1979 verspricht — um es für die anderen Kundigen in diesem Hause noch einmal zu wiederholen —, aber gleichzeitig in dem von ihm unterschriebenen Antrag drinsteht, daß mit dem Haushalt 1979 die mittelfristige Haushaltssanierung eingeleitet werden solle, ist das ein gut Stück politischer Kühnheit, weil das gar nicht so zu bewältigen ist.
Vielleicht können Sie Wunder vollbringen, aber hier in diesem Hause wohl weniger.Der stellvertretende Vorsitzende Dr. Dregger hat im übrigen in einem Beitrag für die Zeitschrift „Expreß", also in einem Beitrag, wo ihn kein Journalist möglicherweise falsch interpretieren konnte, am25. Mai geschrieben, es gäbe noch „Staatsausgaben, die nicht aufschiebbar sind und ihrerseits Geld erfordern". Er hat dabei im Zusammenhang mit der geringen Geburtenrate in der Bundesrepublik Deutschland an das Kindergeld gedacht. Dies sind natürlich „investive Ausgaben" — wenn ich Ihnen das einmal sagen darf.Ich sehe also überhaupt nicht, wie das alles mit den Äußerungen des Kollegen Dr. Strauß in Einklang zu bringen ist, der dies völlig anders gesehen hat. Ich meine: Man kann nicht alles mit dem laufenden Wahlkampf entschuldigen.Wie ist das mit dem, was ich in der „Welt" vom26. Mai lesen durfte? Der Kollege Spranger gab einem die Ehre. Die Überschrift lautete: „Spranger fordert Verbesserungen beim Bundesgrenzschutz". Im weiteren Verlauf des Artikels ist die Rede da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7365
Gärtnervon, daß die Aufstockung des Bundesgrenzschutzes — —
— Sie können sich hinsetzen, weil Sie doch wohl auch hier um 19 Uhr wieder herausgehen wollen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Soll das heißen, daß Sie die Zwischenfrage nicht zulassen?
Wir haben uns richtig verstanden. Herr Spranger hat das noch nicht verstanden.
Es ist also dort davon die Rede, daß der Bundesgrenzschutz von jetzt 22 000 Mann auf insgesamt 30 000 Mann verstärkt werden sollte.
Ich bin zwar nicht sicher, ob man das hier in diesem Rahmen sagen darf, aber ich möchte dennoch bemerken, daß in der Union gelegentlich darauf geachtet werden sollte, daß nicht jeder jeden Tag etwas anderes erklärt, nur damit sichergestellt ist, daß sich der breite Klientel daraus das für sich Passende heraussuchen kann.
— Es kann natürlich sein, daß Sie Ihre Auffassungsgabe ein bißchen verbessern müßten.
Herr Strauß sollte also sein Augenmerk nicht nur auf den Oppositionsführer richten, sondern auch auf Kollegen aus der eigenen Landesgruppe.
Herr Kollege Haase, das Problem mit dem Tellerrand ist in diesem Zusammenhang natürlich so eine Sache. Was Sie da eben auf die Koalition abgezogen haben, würden Sie dann bei kritischer Begutachtung der eigenen Parteifreunde auch dort ganz gut anbringen können.
Ich meine: Die Forderung des Oppositionsführers nach Steuersenkungen schon zum 1. Januar 1979 kann kein ernsthafter Beitrag zur Haushaltssanierung sein.
Wir sollten auch nicht vergessen, daß wir bereits in den letzten zwei Jahren durch mehrfaches Fordern und durch Mitstimmen in diesem Plenum und im 'Bundesrat Einnahmeausfälle in Höhe von etwa 20 Milliarden DM beschlossen haben.
Ich frage mich langsam, wie man das alles zusammenbringen will, wenn man auf der einen Seite — wie das der Kollege Spranger getan hat — mit 8 000 Planstellen und rund 400 Millionen DM mehr für den konsumtiven Bereich ausgibt — —
— Wie schwach die Opposition ist? Das stimmt.
— Also, damit Sie endlich zufrieden sind, bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es liegt in Ihrem Ermessen, wie Sie sich entscheiden wollen. — Bitte, Herr Abgeordneter Spranger!
Herr Gärtner, nachdem Sie meine Vorschläge kritisiert und abgelehnt haben: Kann man dann wenigstens von Ihnen Vorschläge bekommen, wie Sie die 30 bis 40 % nicht besetzten Stellen beim Bundesgrenzschutz und die dadurch bedingte nicht ausreichende Einsatzfähigkeit ausgleichen wollen?
Herr Kollege Spranger, dies ist nun wirklich nicht der Vorgang, der zur Rede steht. Es geht doch darum, daß Sie gefordert haben, die jetzige Zahl von 22 000 Stellen auf 30 000 zu erhöhen. Das ist der Punkt, sonst überhaupt nichts. Ich bin gerne bereit, den Vorgang mit Ihnen nachher noch einmal zu diskutieren, aber ich bin auf Grund Ihrer Intervention jedenfalls nicht in der Lage, meinen Vorwurf zurückzunehmen.Wenn ich die beiden Positionen sehe — auf der einen Seite ein Steuersenkungspaket in Höhe von 10 bis 15 Milliarden DM und auf der anderen Seite die anderen Vorschläge, die gelegentlich auftauchen —, dann kommt das eigentlich einem Streichungsantrag des Art. 115 des Grundgesetzes gleich.
Wer heute verantwortungsbewußt Haushaltspolitik treiben will, —
— Sie müssen das wirklich laut sagen. Ich habe den Eindruck, Sie möchten gerne noch etwas sagen.
— Wir geben uns ja wirklich redlich Mühe. Herr Haase ist ja nicht umsonst ein so liebenswürdiger Mensch und hat mir ein entsprechendes Angebot gemacht, wobei ich allerdings immer noch sagen muß, Herr Haase: Mehrheit und Mehrheit sind zwei Paar Schuhe. Es kommt immer auch auf die Struktur der Mehrheit an. Das müssen Sie sehen. Wir haben ja, was die Mehrheit angeht, vor acht Tagen im Haushaltsausschuß eine kleine Kostprobe vorgeführt bekommen, als es um den Zollfahndungsdienst ging. Im Haushaltsausschuß haben wir diese Zollfahndungszulage gemeinsam abgelehnt, und Ihre Kollegen im Innenausschuß haben sie wieder einführen wollen. Das verstehe ich unter Struktur der Mehrheit. Man muß, auch in den einzelnen Parlamentsausschüssen, ein bißchen stimmiger handeln, damit die Widersprüchlichkeit nicht so offen zutage tritt.
Es wird also notwendig sein, eine Haushaltskonsolidierung mittelfristig einzuleiten. Das heißt noch lange nicht, daß die Haushaltskonsolidierung mit der Brechstange herbeigeführt werden kann. Eine entsprechende Bereinigung der öffentlichen Ausgaben muß man natürlich auch im jeweiligen konjunkturpolitischen Zusammenhang sehen. Vom Kaputtsparen kann aber in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rede sein. Viele Dinge, die auch von
Metadaten/Kopzeile:
7366 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Gärtnerder Opposition beklagt werden, etwa die Belastungen des Haushalts, die die Transferausgaben bewirkt haben, sind ja keine Erfindungen, die die Koalition auf den Weg gebracht hat, sondern vieles ist mit Ihrer Zustimmung gelaufen. Viele Vorschläge der Union sind in diesem Hause eben auch abgelehnt worden; sie waren alles andere als billig, wenn man die Situation des Bundeshaushaltes berücksichtigt.Ich habe darauf hingewiesen, daß die Haushaltssanierung auch eine gewisse Signalwirkung in bezug auf die Verbesserung der Haushalte der Länder und Gemeinden hat. Das ist eine Aufgabe von mittelfristiger Perspektive. Dennoch sollten wir bereits heute, bei den Beratungen des Nachtragshaushalts 1978, den Versuch unternehmen, ein erstes Signal zu setzen, um bei der Vorlage des Haushaltes 1979 dann deutlich machen zu können, daß wir unseren Beschluß vom 13. April 1978 sehr ernst nehmen. Das heißt für meine Fraktion, bei den kommenden Beratungen im Haushaltsausschuß den energischen Versuch zu unternehmen, eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme zu vermeiden. Der Finanzminister hat eben erklärt, er sei für Vorschläge offen. Herr Finanzminister, ich bin sicher: wenn viele suchen, wird auch manches gefunden.Nach meinem Eindruck wird es keine leichte Arbeit sein, den Satz von der Veränderung der Ausgabenstruktur der öffentlichen Haushalte in die Wirklichkeit umzusetzen. Das heißt ja nicht nur, neue Mittel für Investitionen freizumachen, sondern das muß wohl auch bedeuten — wenn wir nicht grundsätzlich davon ausgehen wollen, daß die Steuereinnahmen in überraschend hohem Maße fließen —, an traditionelle Bestände der Ausgabenstruktur heranzugehen. Wenn ich mir vor Augen halte, was die Sicherheitspolitiker jetzt schon wieder zusammen alles verhackstücken, kann ich nur sagen: Aufpassen, es geht an eure Stellen. Das Herangehen an traditionelle Bestandteile der Ausgabenstruktur wird also nicht nur den Willen, das auch tatsächlich zu tun, erfordern, sondern wird darüber hinaus eine Menge an Mut und auch an Durchhaltevermögen verlangen.Es geht nämlich auch darum, daß wir die Personalkosten in den öffentlichen Haushalten endlich senken müssen. Von daher nehme ich an, daß auch die Herren Innenpolitiker, die Mitglieder des Innenausschusses wieder zuhören. Wenn wir neue Stellen schaffen, kommen wir in die Verlegenheit, daß dadurch erhebliche Mittel langfristig gebunden und nicht mehr frei verfügbar sind. Deshalb muß, wenn wir in den öffentlichen Haushalten mehr Stellen ausweisen, der Versuch unternommen werden, die Kosten für die bestehenden Stellen und für die neuen Stellen — aber eben nicht nur für die neuen Stellen alleine — zu senken. Die Gültigkeit des Satzes von der problemlosen Zuwachsrate im öffentlichen Dienst, der unaufhaltsamen Strukturverbesserung, des Haltens von Besoldungsgruppen kann für die Zukunft nicht ohne weiteres übernommen werden. Ich bin mir sicher, daß dieser Forderung eine Vielzahl von Bürgern zustimmen wird. Ebenso wird eine Vielzahl von Bürgern, die von unserer Arbeit im Ausschuß betroffen werden, wenig erfreut sein. Nur,wir haben überall geringere Zuwachsraten. Dann soll es noch Bereiche geben, in denen die Bestandteile, die aus den Jahren stammen, in denen wir positive Zuwachsraten hatten, einfach fortgeschrieben wurden. Dies wird keiner verstehen. Ich meine, veränderte Bedingungen haben insoweit ihre Konsequenzen, auch wenn dies nicht ganz erfreulich ist.Es wird auch nicht darum gehen, auf der einen Seite nur zu sparen und Schulden machen zu wollen, denn sparen und sparen sind ebenso zwei Paar Schuhe wie das Schuldenmachen. Wenn man Schulden für Zukunftsinvestitionen macht, z. B. für den Bereich des Umweltschutzes, der Entwicklung neuer Technologien, dann ist dies ein Verfahren, das im übrigen auch vom Grundgesetz voll abgedeckt wird. Die Frage ist ja auch, wie beispielsweise ein gutes Unternehmen seine eigene Zukunftspolitik betreibt. Sie wird es nach demselben Grundsatz machen. Es ist also zu fragen, ob nicht angesichts der gegenwärtigen Ausgabenstruktur unserer öffentlichen Haushalte, Bund, Länder und Gemeinden wieder mehr zu Investitionshaushalten kommen müssen, denn wir haben im Grunde eher Interventionshaushalte und Transferhaushalte, also Haushalte, die ihrer Aufgabe eigentlich nicht gerecht werden, Rahmendaten für mittelfristige Entwicklungen abzugeben, sondern die bei entstehenden Problemen nur noch intervenieren, dabei aber strukturelle Problemlösungen fast völlig aus den Augen verlieren. Von daher besteht das Problem, daß die Verschuldung bei der jetzigen Haushaltsstruktur eben nicht einfach in die Zukunft fortgeschrieben werden kann. Es geht also auch nicht darum, übermorgen eine Haushaltskonsolidierung herbeizuführen, aber es muß schon jetzt der erste Schritt dafür getan werden, daß wir unseren Satz von ,der mittelfristigen Haushaltskonsolidierung ernst nehmen.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch zwei Punkte ansprechen, die auf der Ausgabenseite des vorliegenden Nachtragshaushalts eine gewisse Rolle spielen. Das ist diesmal die Frage, die mit dem Bereich Stahl zusammenhängt. Wir haben in diesem Bereich unsere Probleme. Ich bin sicher, daß wir der Anstrengungen aller bedürfen, um für den Bürger in unserem Lande in den Regionen, die betroffen sind, insbesondere einen Übergang und eine Problemlösung zu finden, die die Schwierigkeiten der Anpassung erträglicher werden läßt.Es geht auch um regionale Probleme, nämlich um Probleme, die das Saarland hat. Wenn ich richtig sehe, bin ich der einzige Saarländer, der zu diesem Punkt spricht. Ich halte es eigentlich für verwunderlich, daß diejenigen, die ein erkleckliches Maß am Bundeshaushalt partizipieren, die Debatte nicht mitverfolgen.Man muß sehen, daß es nicht nur darum geht, für ein Land Prozentsätze für die Investitionsförderung heraufzusetzen, diese und jene Mark aus öffentlichen Haushalten zu bewegen, sondern es muß auch möglich sein, daß ein Land von sich aus eine selbstbewußte Politik der Darstellung seiner Entwicklungspotentiale nach außen betreibt. Ein Land, das im Grunde durch seine Regierung hier dem Parlament in einem Memorandum die Vergan-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7367
Gärtnergenheit vorträgt und beklagt, daß es immer zu kurz gekommen sei, wird natürlich kein psychologisches Klima erwecken, das Unternehmen dazu bewegt, sich dort anzusiedeln, oder junge Menschen davon abhält, auszuwandern. Ob ein Land Anreize bietet zur Ansiedlung von Unternehmungen mit Zukunftsperspektiven oder zum Verbleiben der Bürger in diesem Lande, hängt nicht nur davon ab, wieviel Geld wir aus öffentlichen Haushalten bereitstellen. Es hängt vielmehr auch davon ab, wie Politiker eines Landes bereit sind, ihr Land offensiv und selbstbewußt nach draußendarzustellen. Attraktivität einer Region ist nicht nur eine Frage der öffentlichen Fördersätze, sondern hängt auch nicht unwesentlich von ganz branchenfremden Merkmalen ab, z. B. von der Frage der Schulpolitik, von dem Freizeit- und Erholungswert und nicht zuletzt auch von der sogenannten allgemeinen kulturellen Landschaft. In diesen Bereichen gehört einiges an Leistungen dazu, die ein Land selbst vollbringen kann. Auf diese Leistungen sollten wir alle warten, damit wir nicht hinsichtlich der Höhe der Mittel, die wir in unsere Haushalte einstellen, überrascht sind, wenn wir in den nächsten Jahren feststellen, daß wir zwar viel Geld ausgeben wollten, aber insgesamt die Entwicklung nicht auf den Weg gebracht haben, auf den diese Länder einen Anspruch haben.In diesem Sinne hoffe ich auf eine fruchtbare Arbeit im Haushaltsausschuß während der kommenden Wochen. Ich bedanke mich für das Zuhören und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Gärtner, für den freundlichen Wunsch am Schluß Ihrer Ausführungen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/1801 an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehen und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften
— Drucksachen 8/1606, 8/870 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/1846 —Berichterstatter: Abgeordneter Walther
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 8/1792 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Broll Abgeordneter Liedtke
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Broll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der Drucksache 8/1792, die Ihnen vorliegt, hat sich ein kleiner Druckfehler eingeschlichen. Auf Seite 21, wo die Hochschullehrerbesoldung, die neue C-Besoldung, abgedruckt ist, müssen C-4-Professoren in der zehnten Dienstaltersstufe nicht 4 352,72 DM, sondern 4 362,72 DM verdienen. Ich will nicht behaupten, daß die meisten Professoren angesichts ihrer notorischen Zerstreutheit auf diesen Fehler gekommen wären, meine aber doch, daß wir die Berichtigung vornehmen sollten, denn schließlich kann heute jeder einen Taschenrechner haben, und nachher kommt einer darauf, daß das Gesetz nicht stimmt. Für den Haushaltsausschuß zur Beruhigung, Kollege Haase: Die Mehrausgaben dabei sind minimal.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Achte Gesetz war uns als „Müllgesetz" angekündigt worden. Wir haben uns aber durch diese Bezeichnung der Beamten des Ministeriums nicht den Blick für die schweren Probleme vernebeln lassen, die in diesem Gesetz verborgen sind. Da wir am Ende nach vier langen Sitzungen, in denen wir der geballten Front der Bundesregierung und des Bundesrates gegenüberstanden, doch zu einer einmütigen Abstimmung im Innenausschuß gekommen sind, will ich nur auf die Punkte eingehen, die wir im Innenausschuß anders geregelt haben und die wir Ihnen anders vorschlagen möchten, als sie von Bundesrat und Bundesregierung vorgeschlagen waren.Da ist zunächst einmal die Regelung der Mehrarbeitsvergütung für Beamte. Im Bereich der inneren Sicherheit und bei bestimmten anderen Diensten schlug die Bundesregierung vor, die Ermächtigung, Mehrarbeit bei Beamten über 40 bis 80 Stunden pro Monat nicht durch Freizeit, sondern durch Geld zu vergüten, zu verlängern bis zum 31. Dezember des Jahres 1980. Dann sollte offenbar sprunghaft der Bedarf an Überstunden aufhören. Wir waren der Meinung, daß es zwar taktlos wäre, hier öffentlich zu vermuten, die Bundesregierung könne dann eines Tages wiederum um Verlängerung dieser Ermächtigung bitten, wie es schon einige Male passiert ist, wir sind andererseits aber nicht harmlos genug, um nicht zu sehen, daß eine Verführung in solch einer Ermächtigung liegt. So haben wir eine stufenweise Reduzierung dieser Überstundenvergütung beschlossen. Wir sind dabei dem Bundesrat, den Bundesländern sehr weit entgegengekommen. Bis Ende dieses Jahres dürfen sogar über 80 Stunden und dann fortlaufend jedes Jahr 80, 70, 60, 50 Überstunden vergütet werden; dann soll Schluß sein.Wir haben Respekt vor den Beamten, die bei minimalem Entgelt Überstunden über das Maß hinaus zu leisten bereit gewesen sind, das normalerweise im Beamtengesetz vorgesehen ist. Wir haben Respekt vor den Beamten, die weitgehend aus dem Bereich der inneren Sicherheit kommen, daß sie diese Bereitschaft gezeigt haben, obwohl netto außer-
Metadaten/Kopzeile:
7368 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Brollordentlich wenig herauskommt und der Vergleich mit den im Tarifbereich üblichen Überstundenvergütungen gescheut werden muß.Wir sind aber der Meinung gewesen, meine sehr verehrten Damen und Herren — das sage ich ganz besonders auch für meine Fraktion —, daß erstens Länder und Bund sich darauf einstellen müssen, daß innere Sicherheit angesichts der heutigen Bedrohung nicht erreicht werden kann, wenn nicht die Organe der inneren Sicherheit auch mit dem nötigen Personal ausgestattet werden. Wir sind zweitens der Meinung, daß wir unseren Beamten nicht zumuten können, daß in manchen Bereichen, wo Überstunden verordnet werden, gezahlt wird, in anderen Bereichen, etwa der Bundeswehr, wo auch regelmäßig viele Überstunden gefordert werden, aber kein Pfennig gezahlt wird. Um der Gleichheit willen meinten wir auch, daß diese Regelung endlich beendet werden sollte. Schließlich sind wir der Meinung, daß das ganze System der Überstundenbezahlung im Grunde ein Fremdkörper in der Beamtenbesoldung ist.
So wollten wir zumindest auf das bisher im Gesetz vorgesehene Maß zurückgehen. Wenn wir heute schon hören, daß man von der Einführung der 35-Stunden-Woche redet, wo im öffentlichen Dienst wirklich nichts mehr rationalisiert werden kann, wo jede eingesparte Stunde 2,5 % mehr Personalkosten und entsprechend mehr Investitionskosten verursachen wird, dann muß hier im öffentlichen Dienst Klarheit herrschen: Derlei Forderungen werden durch Überstunden keineswegs abgegolten werden können.Wir haben uns nicht dazu entschließen können, dem Antrag des Bundesrates zu folgen, beim technischen und wissenschaftlichen Personal von Forschungsschiffen überhaupt keine Überstundenbezahlung zuzulassen. Dieser Antrag kam ja vom Bundesrat, soviel ich weiß auf Initiative des Freistaates Bayern. Bei allem Respekt vor der Weisheit der Bayerischen Staatsregierung meinten wir doch, daß Bayern eher eine binnenländische Kontinentalmacht etwa wie Osterreich oder die Schweiz sei. Wenn Bayern in der Geschichte auch einmal sehr weit nach Süden vorgedrungen war, so daß ein Herzog, wenn er sich auf einen weit im Süden seines Landes gelegenen Berg gestellt hätte, wohl die Kuppeln von San Marco hätte erkennen können, wenn er ein Fernrohr gehabt hätte,
so sind wir doch der Meinung, daß in maritimen Dingen die Bundesregierung sehr viel größere Kompetenz hat — hinreichend bewiesen durch die Tatsache, daß der Kanzler bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Helgoländer Lotsenmütze trägt.
Der zweite wesentliche Punkt, zu dem wir uns im Innenausschuß erhebliche Gedanken gemacht haben und in dem wir auch zu einer einmütigen Entscheidung gekommen sind, bezieht sich auf die Hochschullehrerbesoldung. Hier hatte der Bundesrat, seinem Finanzausschuß und seinem Innenausschuß folgend, eine totale Veränderung der einmal vorgesehenen C-Besoldung vorgeschlagen, die die C-Besoldung wiederum der H-Besoldung, die ihrerseits wiederum der A-Besoldung ähnlich war, also den Regeln, die für die in den aufsteigenden Gehaltsgruppen befindlichen Beamten gelten, angepaßt hätte. Der Innenausschuß des Bundestages folgte hier — und er bittet Sie, heute auch hier so zu beschließen — dem Vorschlag des Kultusausschusses des Bundesrates, der grundsätzlich — wie auch wir — der Meinung war, man möge bei der einmal im Zweiten Besoldungsvereinheitlichungsund Neuregelungsgesetz konzipierten neuen Hochschullehrerbesoldung bleiben, in der bei C 2, C 3 und C 4 jeweils zwei normale A-Gehaltsgruppen zusammengefaßt werden. Nun ist die Frage, ob bei Beamten, die kontinuierlich alle zwei Jahre im Gehalt aufsteigen, ein besonderer Anreiz auf ihren Fleiß ausgeübt wird, sicherlich umstritten. Wir können uns heute darüber nicht äußern; aber wir sollten zumindest die Tradition und vielleicht auch die Illusion, daß dadurch ein Mehr an Leistung auch ein bißchen honoriert werde, anerkennen und sollten bei der C-Besoldung alter Weise bleiben. Wir sind dabei dem Bedürfnis des Bundesrates sehr entgegengekommen, der etwa 80 Millionen DM einsparen wollte. Wir sind bei der C 1-Besoldung, in der sich die Hochschulassistenten befinden, dem Votum der Bundesregierung gefolgt und sparen allein dabei bis zu 25 Millionen DM jährlich ein. Wir haben ferner gesagt, daß bei der Besoldung C 2 bis C 4, in der sich die Professoren der Fachhochschulen und der Wissenschaftlichen Hochschulen befinden, eine Verminderung der Bezüge nach der alten C-Besoldung um 2,5 % zu vertreten wäre. Ich bin dankbar, daß die SPD-Gruppe von ihrem ursprünglichen Plan, um 3 % zu vermindern, heruntergegangen und bei 2,5 % geblieben ist. Nicht, daß diese 8 Millionen DM nicht doch noch interessant wären, die dadurch zusätzlich gespart werden könnten! Wir meinten aber, ein demonstrativer Akt gegen die Professoren, denen vor drei Jahren eine Veränderung ihrer Besoldung versprochen worden war, sei gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angebracht, weil sie ja ein paar Schmälerungen ihres Status in Kauf nehmen, den Wegfall der Emeritierung, mehr Lehrverpflichtungen, deutlich mehr Verpflichtungen durch einen im Zuge scheinbarer Demokratisierung aufgeblähten Verwaltungs- und Sitzungsapparat, größere Studentenzahlen, durch ihren ständigen Kampf, in dem sie stehen, mit ideologisierten Gruppen, mit den Anforderungen an Wissenschaft, Forschung, Prüfungen usw.Ich bitte Sie, dieser Version, die wir im Innenausschuß beschlossen haben, zuzustimmen. Ich fordere den Bundesrat auf, Verständnis dafür zu haben, daß wir in diesem entscheidenden und außerordentlich gefährlichen Augenblick der hochschulpolitischen Entwicklung zeigen wollen, daß wir den Hochschullehrern helfen wollen, die Schwierigkeiten zu bestehen, daß wir anerkennen wollen, in welcher Bedrängnis sie im einzelnen stehen.Wenn wir wohl auch zugeben müssen, daß unter offenbar falscher Auslegung der Chancengleichheit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7369
Brollmancher auf einen Hochschulprofessorenstuhl gekommen ist, der dort genausowenig hingehört wie ich als Vertreter der Bundesrepublik auf die Olympiade, der ich die Kugel nie weiter als 6,50 m gestoßen habe, so müssen wir doch wissen, daß die Mehrheit der Hochschulprofessoren treu zur Verfassung steht, beharrlich und konsequent die Freiheit der Wissenschaft, die wissenschaftliche Sauberkeit, den demokratischen Rechtsstaat gegenüber den Studenten vertritt.
Wenn wir wollen, daß sie auch weiter den jungen Menschen den Weg in die wissenschaftliche Haltung, den Weg in ihre persönliche berufliche Zukunft und auch den Weg zu unserem demokratischen Rechtsstaat weisen, sollten wir, so meine ich, bei diesem Vorschlag, dem die Hochschullehrerverbände inzwischen zugestimmt haben, bleiben.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Liedtke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Gesetzesvorlage einstimmig verabschiedet und brauchen uns hier erfreulicherweise nicht zu streiten. Ich nutze das, indem ich Sie mit einer Kurzform meiner Bemerkungen beglücke.
Die Hochschullehrerbesoldung in der jetzigen Form ist vom Bundesrat bereits für den Vermittlungsausschuß anvisiert. Wir sehen sie also wieder. Den Ländern will ich nur sagen: Sie zahlen; im Vermittlungsausschuß wird dann auch ihr Wort zählen.
Was die Überstunden anlangt, bleiben wir hart; denn überarbeitete Menschen bringen auch überarbeitete Leistungen. Hier geht es um den empfindlichen Bereich der Medizin. Auch ich habe lieber einen frischen als einen überarbeiteten Arzt, wenn ich mich ihm anvertrauen muß.
Der Polizei in den Ländern möchte ich sagen, daß ihr Begehren — A 9 plus Zulage — in einem eigenen Gesetz erfaßt ist, das demnächst im Innenausschuß behandelt wird.
Meine Damen und Herren, Sie haben mir sehr aufmerksam zugehört. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich will in der Tat versuchen, dem Vorbild meines Kollegen Liedtke zu folgen, und mich außerordentlich kurz fassen. Es gibt im Grunde genommen drei Schwerpunkte dieses Gesetzes. Zwei Schwerpunkte wurden schon genannt: die Hochschullehrerbesoldung und die Mehrarbeitsvergütung. Da diese beiden Punkte sowie der dritte Punkt einstimmig im Innenausschuß beraten wurden, will ich darauf verzichten, hier nähere Ausführungen zu machen.
Ich möchte zur Hochschullehrerbesoldung nur zum Ausdruck bringen, daß auch wir erwarten und hoffen, daß der Bundesrat die von uns vorgeschlagene Lösung im Interesse der Hochschullehrer und der Hochschulpolitik billigen wird.
Beim zweiten Punkt, nämlich der Mehrarbeitsvergütung, möchte ich mich ebenfalls hinter die vom Innenausschuß beschlossene Regelung stellen. Ich möchte für meine Fraktion nur zum Ausdruck bringen, daß wir, ebenso wie es der Kollege Broll vorgetragen hat, dieses nur als eine Übergangslösung ansehen, die sowohl aus arbeitsmarktpolitischen als auch aus beamtenpolitischen Gründen einmal ein Ende haben muß. Wir werden uns also überlegen, ob wir hier nicht sehr bald zu einer anderen Lösung dieses Problems kommen müssen.
Nun noch der dritte und letzte Punkt, von dem, wie ich gehört habe, noch nicht die Rede war. Er betrifft eine Änderung des Entwicklungshelfergesetzes. Auf die Initiative meiner Fraktion hin wird der Entwicklungdienst künftig den anderen Gemeinschaftsdiensten gleichgestellt. Die Gleichrangigkeit kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß nach einem zweijährigen — unter bestimmten Voraussetzungen auch schon nach fünfzehnmonatigem — Entwicklungsdienst die Pflicht erloschen ist, Grundwehrdienst und Zivildienst zu leisten. Hieraus hat sich für meine Fraktion die zwingende Konsequenz ergeben, daß die vom Wehrdienst und Zivildienst befreiende Tätigkeit als Entwicklungshelfer auch im Rahmen des öffentlichen Dienstrechts nicht anders als der Grundwehrdienst gewertet werden darf. Ich freue mich, daß dieser unser Antrag im Ausschuß Zustimmung gefunden hat. Mit dieser Neuregelung wird eine Lücke geschlossen, die bisher im Bereich der Dienstpflichtigen für den Staat und unsere Gesellschaft bestanden hat.
Damit habe ich, wie ich glaube, auch nicht zu lange gesprochen.
Ich schließe die Aussprache. Ich weise noch einmal darauf hin, daß auf Seite 21 ein Druckfehler vorhanden ist, der hier entsprechend berücksichtigt wird.Wir treten in die zweite Beratung ein. Ich rufe Art. I, II, III, III a, IV, V sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf in der zweiten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.Ich eröffne die dritte Beratung.Das Wort wird nicht begehrt. Wer dem Gesetzentwurf in dritter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Das Gesetz ist damit einstimmig gebilligt.
Metadaten/Kopzeile:
7370 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenDer Ausschuß empfiehlt, die zu dem Gesetzentwurf Drucksachen 8/1606, 8/870 eingegangenen Petitionen und Eingaben für erledigt zu erklären. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Zu Punkt 4 der Tagesordnung — Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betr. Verbesserung der Arbeit der Sicherheitsbehörden des Bundes — Drucksache 8/1771 — teile ich Ihnen mit, daß der Antrag für heute zurückgezogen ist.Ich rufe Punkt 7 der TagesordnungErste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Zimmermann, Dr. Eyrich, Röhner, Spranger, Gerlach , Dr. Bötsch, Dr. Klein (Göttingen), Berger (Herne), Dr. Wittmann (München), Schwarz, Dr. Pfennig, Hartmann, Regenspurger, Dr. Laufs, Glos, Biehle, Klein (München) und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens— Drucksache 8/1719 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß Rechtsausschußin Verbindung mit Zusatzpunkt 1 zur Tagesordnung auf :Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens— Drucksache 8/1836 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß RechtsausschußDas Wort hat der Herr Abgeordnete Spranger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allein zwei Voraussetzungen können zu dieser Stunde noch eine Rede rechtfertigen: erstens die schwerwiegende Bedeutung des Gegenstandes und zweitens die Selbstverpflichtung des Redners, sich so kurz wie möglich und nötig zu fassen. Ich glaube, es ist gut, daß wir noch Zeit finden, hier die erste Lesung dieser zum Gegenstand der Beratung zu erhebenden Gesetzentwürfe durchzuführen.Die vielen ungelösten innenpolitischen Probleme, die wir beklagen, haben sich um die ständig wachsenden, nicht mehr tragbaren Schwierigkeiten vermehrt, die ein seit Jahren kontinuierlich und seit der Jahreswende 1976 nahezu sprunghaft-dramatisch ansteigender Zustrom von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland verursacht. Die Zahl der Asylbewerber wuchs von über 5 900 im Jahre 1973 über 11 100 im Jahre 1976 auf 16 410 im Jahre 1977 an. Das ist eine Steigerung von über 48 % in einem Jahr. In den ersten vier Monaten des Jahres 1978 waren es 8 751 Asylbewerber. Hochgerechnet auf 1978 ergibt sich eine Zahl von 28 000 Asylbewerbern.Die Ursachen dieses Anstiegs erklären sich nicht allein aus der Tatsache, daß der Rechtsanspruch auf Asyl bei uns in einem international kaum vergleichbaren, einzigartig liberalen Asylrecht anerkannt undverwirklicht ist. Es ist auch nicht allein der große Anreiz, den die Bundesrepublik Deutschland durch schnelle und umfassende Eingliederung nach Anerkennung des Asylbewerbers bietet. Die im Vergleich zum sprunghaften Anstieg der Zahl der Asylbewerber abnehmende Zahl von Anerkennungen beweist neben anderen Erkenntnissen, daß Asyl in steigendem Maße mißbräuchlich verlangt wird. Die weit überwiegende Zahl der heutigen Asylbewerber schützt lediglich persönliche politische Verfolgung vor, um sich wirtschaftliche Vorteile durch langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen. Vor allem über Ost-Berlin werden immer mehr dieser Wirtschaftsflüchtlinge — insbesondere aus Pakistan — asylrechtsmißbräuchlich eingeschleust. Besonders verwerflich dabei ist die Tatsache, daß die Asylerschleichung von gewissenlosen Geschäftemachern, „Schleppern" und Agenturen in den Heimatländern, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt, ja sogar organisiert wird, die sich dann an den letzten Ersparnissen, am hier verdienten Arbeitslohn oder an den hier erhaltenen Sozialhilfen solcher Menschen bereichern.Unser Asylverfahren schleppt sich zur Zeit über sechs Verfahrensstationen hin, von der Vorprüfung des Sachverhalts durch das Bundesamt in Zirndorf bis zur Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht; anschließend dann noch das über zwei Verwaltungs- und drei Gerichtsinstanzen laufende Ausweisungsverfahren der Ausländerbehörde. Wir müssen feststellen, daß keine andere westliche Demokratie auch nur annähernd derartige Verfahrensvielfalt kennt, die dem Ansturm der Asylbewerber nicht mehr gewachsen ist.Gerade bei erkennbar aussichtslosen Asylanträgen werden mit anwaltlichem Beistand alle Verfahrensstationen bis zuletzt ausgeschöpft, um den Aufenthalt so lang wie möglich auszudehnen. Dies führt zu einer Verstopfung der Rechtsmittelzüge mit einer sich hinziehenden Verfahrensdauer von zur Zeit durchschnittlich fünf bis acht Jahren. Diese Verlängerung der Verfahrensdauer führt zu erhöhter Einreise, diese wiederum vergrößert die Zahl der Bewerber, was wiederum das Verfahren verlängert; also ein ganz schlimmer Circulus vitiosus, der durchbrochen werden muß.Die Bundesländer können schon seit langem den Zustrom nicht mehr bewältigen. Die Kapazität der Sammelunterkünfte ist erschöpft. Die Schwierigkeiten der Unterbringung der Asylanten in den Gemeinden und in den Landkreisen werden unerträglich. Auch die finanzielle und die sicherheitsmäßige Belastung kann nicht mehr verkraftet werden.Diese Entwicklung wird aber auch denjenigen, die zu Recht die Anerkennung als politisch Verfolgte bei uns begehren, in keiner Weise mehr gerecht. Gerade im Interesse der tatsächlich politisch Verfolgten liegt es, zu einer Beschleunigung des Verfahrens zu kommen und Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern. Wir wollen, daß das Asylrecht generös gewährt wird, aber nur solchen, die tatsächlich politisch verfolgt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7371
SprangerSeit geraumer Zeit hat deshalb die CDU/CSU die rechtsstaatlich einwandfreie Beschleunigung des Asylverfahrens unter voller Anwendung der humanitären Grundsätze und unter Berücksichtigung des berechtigten Anspruchs der wirklich politisch Verfolgten auf die schnelle Feststellung ihres Status und ihre baldige Eingliederung in unsere Gesellschaft gefordert. Mit Anfragen und Stellungnahmen im Bundestag und in den Ausschüssen hat die CDU/ CSU seit Sommer 1977 wiederholt auf das Handeln der Bundesregierung, auf gesetzliche Beschleunigung gedrängt.Da es zu unserem großen Bedauern dazu leider nicht kam, hat die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag einen eigenen Gesetzentwurf zur Beschleunigung des Asylverfahrens vorgelegt. Dieser Entwurf erhält uneingeschränkt das verfassungsmäßig gewährleistete Grundrecht auf Asyl, beschleunigt das Verfahren erheblich und gibt die Möglichkeit, eklatante Mißbräuche zu verhindern. Unter Wahrung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze wird das Asylverfahrensrecht an das bestehende Rechtsschutzsystem angepaßt. Die Übernahme von Flüchtlingen im Einzelfall aus humanitären Gründen außerhalb des Asylrechts bleibt unberührt. Ich darf zur Abkürzung im einzelnen auf den Entwurf verweisen und nur kurz den wesentlichen Inhalt angeben.Wir wollen, daß das Widerspruchsverfahren abgeschafft wird. Dort waren ohnehin selten neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dadurch kann das Verfahren um durchschnittlich etwa neun Monate verkürzt werden.Wir sind auch der Meinung, daß das Berufungsverfahren für alle Asylklagen entfallen kann. Wir wollen keine Gabelung des Rechtsmittels — aus verschiedenen Gründen, die später in den Ausschußberatungen dargelegt werden. Wir erhoffen uns dadurch eine Verkürzung des Verfahrens um zusätzlich 47 Monate.Schließlich soll zur weiteren Beschleunigung des Verfahrens eine Pflicht zur unverzüglichen Meldung der Asylbewerber bei den Grenz- bzw. Ausländerbehörden vorgesehen sein. Antragstellung und Bearbeitung sollen beschleunigt werden.Nach unserer Überzeugung würde ein Gesetz, das unserem Entwurf entspricht, erreichen, daß politisch Verfolgte im Sinne des Grundgesetzes innerhalb eines überschaubaren Zeitraums ihre Anerkennung als Asylberechtigte erhalten, daß Schutzsuchende aus Bürgerkriegs- und anderen Krisengebieten, die nicht die Voraussetzungen der persönlichen Verfolgung erfüllen, im Rahmen der Möglichkeiten unseres Landes nach den Vorschriften des Ausländerrechts betreut werden können, ohne auf unbegründete Asylanträge verwiesen zu werden, und daß schließlich Arbeitsuchenden, die aus arbeitsmarktpolitischen Gründen nicht aufgenommen werden können, sowie insbesondere Organisationen und Personen, die sich an der Einschleusung dieser Menschen bereichern, der Umweg über mißbräuchliche Berufung auf das Asylrecht verschlossen wird.Wir sollten nicht übersehen, daß auch die finanzielle Belastung durch asylrechtsmißbräuchliche Praktiken um Millionen gekürzt werden kann — angesichts der Lage der öffentlichen Hände ein sicherlich bedeutsamer Effekt. Schließlich wird das durch den Wegfall der Widerspruchsausschüsse freiwerdende Personal die Anerkennungsausschüsse verstärken und das Verfahren dort beschleunigen. Das gleiche gilt für den Wegfall der personellen und finanziellen Belastungen der Gerichte.SPD und FDP haben kurz vor der heutigen Debatte ihrerseits einen Entwurf eingebracht. Ich möchte mich dazu einer Stellungnahme enthalten. Das wird im Ausschuß zu geschehen haben und auch geschehen. Entscheidend ist, daß im Ausschuß und im Parlament unverzüglich eine schnelle Beratung der überfälligen Gesetzesänderung erfolgt, die zu einer wirksamen Beschleunigung des Asylverfahrens führt, was sicherlich im Interesse aller in diesem Hohen Hause ist.Nach Auffassung der CDU/CSU kann das Gesetz noch vor der Sommerpause abschließend beraten werden. Wir werden auf Einhaltung dieser Zeitvorstellung drängen. Die Probleme sind seit langem bekannt. Unsere Aufgabe ist es nun, dieses Probleme zu lösen. Dies verlangen Rechtsstaatlichkeit und Humanität gegenüber jenen, die tatsächlich wegen politischer Verfolgung Asyl im freien Teil Deutschlands begehren. Das verlangt aber auch die politische Verantwortung gegenüber unseren Bürgern, denen die nicht mehr übersehbaren Belastungen durch Mißbrauch des Asylrechts nicht mehr zuzumuten sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bühling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit der Abkürzung des Asylverfahrens bestehen keinerlei Meinungsunterschiede. Das etgibt sich schon daraus, daß die Überschrift beider Gesetzentwürfe, die das Asylverfahrensrecht ändern sollen, das Wort „Beschleunigung" enthält.Wenn aber über Beschleunigung nachgedacht wird, muß zunächst folgendes festgehalten werden: Die Bundesrepublik Deutschland hat ein sehr großzügiges Asylrecht. Sie gewährt allen politisch verfolgten Ausländern Asyl auf Grund einer Verfassungsbestimmung — Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG — und stellt zur Durchsetzung dieses Rechts, ebenfalls nach dem Grundgesetz — Art. 19 Abs. 4 —, den Rechtsweg zur Verfügung. Diese Regelungen des Grundgesetzgebers von 1949 beruhen auf den bitteren Erfahrungen der Nazizeit, in der viele Deutsche ins Ausland fliehen mußten und sich glücklich schätzen konnten, wenn sie dort Asyl fanden.Es steht außer Frage, daß die SPD-Fraktion diesen Verfassungsgrundsätzen nicht nur im rechtlich gebotenen Mindestumfang nachkommen will. Der Entwurf der Regierungsfraktionen steht vielmehr auf dem Standpunkt, daß trotz aller Verfahrensände-
Metadaten/Kopzeile:
7372 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Bühlingrungen dem Recht auf Asyl, der wirklich gegebenen Zwangslage eines Asylbewerbers in verfahrensmäßig großzügiger und gründlicher Weise weiterhin entsprochen werden soll.Die erschreckenden Zahlen, die uns zum Handeln zwingen, brauche ich nicht zu wiederholen. Insoweit kann ich mich auf die Angaben in der Vorlage und auch auf meinen Vorredner beziehen. Ich möchte nur nochmals die bedauerliche Tatsache hervorheben, daß die Zahl der Asylanträge auch in den letzten Monaten stark gestiegen ist.Nun zu den Beschleunigungsmaßnahmen im einzelnen. Zunächst zu dem Punkt, in dem wir im Ergebnis mit dem Gesetzentwurf der CDU/CSU übereinstimmen: Das Widerspruchverfahren soll entfallen. Das spart nicht nur die Zeitdauer einer Instanz. Es setzt darüber hinaus viel Personal frei, das in den Anerkennungsausschüssen gleich am Anfang mitarbeiten und dadurch den Beginn des Verfahrens wesentlich beschleunigen kann. Der geringen Zahl der Antragsteller — im Jahre 1976 waren es knapp 3 % —, deren Widerspruch bisher Erfolg hatte, wird in Zukunft das Verwaltungsgericht zu ihrem Recht verhelfen. Wir werden im Verlauf der weiteren Beratungen zu prüfen haben, ob bindend vorgeschrieben werden soll, daß die Vorsitzenden der Anerkennungsausschüsse die Befähigung zum Richteramt haben sollten. Dies könnte möglicherweise die Qualität schon der Verwaltungsentscheidungen erhöhen.Zum zweiten folgt ein Problem, bei dem wir nur zum Teil mit dem Entwurf der CDU/CSU übereinstimmen, nämlich die Regelung der Berufungsinstanz. Es ist in der Tat außergewöhnlich, daß im Durchschnitt der Jahre 96 % der Berufungen in Asylsachen zurückgewiesen werden und nur 4 % Erfolg haben. Vielfach ist deshalb gefordert worden, die Berufung gänzlich auszuschließen. Auch die CDU/CSU will diesen Weg gehen. Aber dagegen bestehen doch Bedenken. Es muß nicht nur an die große Masse der Mißbrauchsfälle, sondern auch an die wirklich problematischen Asylgesuche gedacht werden. Für diese soll der Rechtsschutz möglichst nicht verkürzt werden. Es gibt doch wohl Fälle aus manchen Ländern, die eine wirklich eingehende Prüfung in zwei Tatsacheninstanzen verlangen. Gleichwohl kann in der überwiegenden Mehrzahl der Asylsachen die zweite Tatsacheninstanz entfallen. Wenn alle fünf Richter des Verwaltungsgerichts die Asylklage für offensichtlich unbegründet halten, können sie die Berufung ausschließen. Das wird bei ungefähr 80 % aller Klagen der Fall sein. Aber auch dann, wenn nur noch 20 % aller erstinstanzlichen Urteile berufungsfähig blieben, wäre das immerhin noch die fünffache Zahl der wirklich erfolgreichen Berufungen.Nun zu unserem dritten Vorschlag, einem Vorschlag, der nur im Entwurf der Regierungsfraktionen steht. Das gerichtliche Verfahren soll in der Weise dezentralisiert werden, daß durchschnittlich in jedem Bundesland ein Gericht für Asylsachen zuständig wird. Zur Zeit entscheidet für das ganze Bundesgebiet — mit Berlin — allein das Verwaltungsgericht Ansbach in Bayern. Dort waren am1. Januar 1978 5 557 Asylprozesse anhängig. Die Aufarbeitung dieses Rückstandes würde jahrelang dauern. Inzwischen sind aber schon wieder viele neue Sachen hinzugekommen, und immer mehr kommen hinzu. Die Aufteilung der- Zuständigkeiten auf etwa zehn Verwaltungsgerichte könnte nach einer gewissen Übergangszeit Entscheidungen möglicherweise schon nach einigen Monaten bringen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch hervorheben, daß der Freistaat Bayern mit Recht wiederholt darauf hingewiesen hat, daß er seine ausschließliche Belastung mit Asylprozessen für untragbar hält.Es ist darüber hinaus vorgeschlagen worden, daß die Verwaltungsgerichte über die Klagen, die sie einstimmig für offensichtlich unbegründet halten, durch Beschluß, d. h. ohne mündliche Verhandlung, entscheiden. Ich verkenne nicht, daß dies eine weitere wesentliche Vereinfachung insofern mit sich brächte, als es keines Dolmetschers für seltene oder in Deutschland wenig bekannte Sprachen mehr bedürfte. Gleichwohl ist uns das Asylrecht doch zu bedeutsam, als daß wir dem Asylbewerber nicht die Chance geben müßten, vor dem Gericht selbst zu erscheinen und seine Sache selbst zu vertreten bzw. vertreten zu lassen. Hier müssen die Verwaltungsgerichte auf Abhilfe sinnen und sich der Mitwirkung möglichst vieler sprachendienstlicher Institutionen versichern.Was werden nun alle diese Änderungen in der Praxis mit sich bringen? Das Asylverfahren wird in den Mißbrauchsfällen, d. h. in mindestens 80 % der Verfahren, von durchschnittlich sieben Jahren auf schätzungsweise eineinhalb Jahr verkürzt. Das bringt in mehrfacher Hinsicht günstige Ergebnisse mit sich, einmal die Entlastung der Verwaltung, zum zweiten eine erhebliche Einsparung von Sozialhilfemitteln, die in dreistellige Millionenzahlen geht. Die Spannungen zwischen Personen, die sich zu Unrecht jahrelang in Deutschland aufhalten, und der einheimischen Bevölkerung würden wesentlich abgebaut. Den berüchtigten Einschleusungsorganisationen und allen ihren Helfershelfern würde weitgehend das Handwerk gelegt. Nicht zuletzt würden die echten Asylbewerber, für die Art. 16 des Grundgesetzes wirklich geschaffen worden ist, schneller und besser zu ihrem Recht kommen.Diese Vorteile würden allen Bundesländern zugute kommen, da die Asylbewerber gegenwärtig auf das ganze Bundesgebiet verteilt werden. Demgemäß sind auch alle Länder daran interessiert, daß die gegenwärtigen Verhältnisse grundlegend verändert werden. Das gilt übrigens nicht nur für die Länder, sondern mindestens ebenso auch für die zahlreichen Gemeinden, die sich darüber beschweren, daß ihre Sozialverwaltung und ihr Sozialetat unnötig beansprucht werden.Noch wichtiger und erfreulicher wäre aber die Entlastung Berlins, das durch den organisierten Asylmißbrauch bei weitem am stärksten betroffen wird. Auf Grund der speziellen Zugangsverhältnisse, die sich aus dem besonderen Status Berlins ergeben, reisen über den DDR-Flughafen Schönefeld oder über die U-Bahn und die S-Bahn von Ost-Berlin aus im-Bühlingmer noch über die Hälfte aller Antragsteller für die gesamte Bundesrepublik über Berlin ein. Das waren im Vorjahr immerhin rund 10 000 Personen, und es würden in diesem Jahr noch viel mehr, wenn der Gesetzgeber nicht alsbald Einhalt gebietet. Die Stadt steht dadurch nicht nur vor Schwierigkeiten, sondern vor praktisch unlösbaren Problemen. Die Arbeitsbedingungen für die Angehörigen der Verwaltung, die sich mit den Asylbewerbern befassen, sind ihnen nicht mehr länger zuzumuten. Die zusätzliche Unterbringung der neu einreisenden Asylsuchenden ist nach wie vor sehr problematisch; die Bevölkerung wird dadurch weitgehend beunruhigt. All diese Lasten würden zwar nicht von heute auf morgen von Berlin genommen, würden sich aber doch fortlaufend vermindern. Es besteht die begründete Hoffnung, daß sie auf ein noch erträgliches Maß zurückgeführt werden können.Ein Rechtsvergleich mit allen westeuropäischen Staaten ergibt, daß die Bundesrepublik Deutschland auch bei Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs immer noch das gründlichste Verfahren für Asylanträge haben wird. Das gilt besonders für den Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, den es in anderen Staaten entweder gar nicht oder nur in geringerem Umfang gibt.Ich darf deshalb abschließend der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Beschleunigung des Asylverfahrens möglichst bald geltendes Recht wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Die Begründung des Gesetzentwurfs der Koalition bezieht sich auf die in der letzten Zeit in besonders bedrückendem Maß gestiegene Zahl der Asylbewerber und die immer weiter steigende Zahl der offensichtlich unbegründet gestellten Asylanträge. Die Berechnungen haben ergeben, daß bei einer Ausschöpfung aller Rechtsmittel etwa eine Dauer von acht bis neun Jahren anzunehmen ist. Acht bis neun Jahre bis zu einer endgültigen Entscheidung, ob ein Asylbewerber wirklich Asyl in der Bundesrepublik Deutschland erhält oder nicht, gleicht einer Rechtsverweigerung für diejenigen, die dann schließlich das Asyl erhalten. Wenn Sie im Verhältnis dazu die Zeit nehmen, nach der ein in Deutschland ansässiger Ausländer einen Einbürgerungsantrag stellen kann, nämlich nach zehn Jahren, dann scheint doch wohl die Zeit von neun Jahren, nach der der Asylantrag abgelehnt werden kann, diese Diskrepanz deutlich zu machen.Das Asylrecht in der Bundesrepublik ist im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten in der Verfassung verankert. Wir nehmen auch aus diesem Grunde als Liberale das Aylrecht außerordentlich ernst. Wir bejahen den Grundsatz, wie er in der Festschrift für Günther Küchenhoff 1972 von Wollenschläger formuliert worden ist. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten:Gleichviel, ob man den Asylgedanken aus einem erweiterten Gastrecht im Sinne frühester Rechtsordnung, aus religiösen Ursprüngen oder einer allgemeinen Humanität herleiten will, sein wesentlichster Kern war und ist der gleiche, nämlich einem aus nicht objektiv gerechtfertigten, gewissermaßen schon aus dem Naturrecht abzuleitenden Gründen oder, laienhaft ausgedrück, aus ungerechten Gründen verfolgten Menschen Schutz und Hilfe angedeihen zu lassen.Genau dies hat auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen bereits 1948 festgeschrieben.Wir wollen mit diesem Entwurf, den wir hier heute in der ersten Lesung vorgelegt haben, die Pervertierung und den Mißbrauch des so wichtigen Rechtes nicht hinnehmen. Wir wollen durch eine Straffung zu einer zeitlich wirksamen Asylgewährung kommen. Wir wollen aber auf der anderen Seite auch eine strenge Beachtung der liberalen und rechtsstaatlichen Position sicherstellen. Deswegen sieht unser Entwurf vor, daß das Berufungsverfahren nur dann entfällt, wenn das Verwaltungsgericht einstimmig und nach mündlicher Verhandlung, d. h. nach Teilnahme des Klägers, die Klage als offensichtlich unbegründet abweist und nicht etwa durch ein reines Beschlußverfahren, in dem der Kläger mündlich nicht gehört werden kann. Die Berufung bleibt in den anderen Fällen voll erhalten, ebenso die Revisionsinstanz. Ich verhehle nicht, daß für uns Liberale bei den Vorberatungen zu diesem Entwurf die Möglichkeit, durch eine sogenannte Annahmeberufung die Berufungsinstanz einzubeziehen, angenehm erschien. Aber wir müssen das im Hinblick auf weitere Verzögerungen sehen. Wir werden diese Frage im Ausschuß noch eingehend prüfen und überprüfen. Unter keinen Umständen werden wir, wie die Opposition vorschlägt, die Berufung generell wegfallen lassen.Entgegen der CDU-Vorstellung sprechen wir uns für eine Dezentralisierung der Verfahren aus, um hier zu einer größeren Entlastung zu gelangen. Wenn wir aber auf der einen Seite die Verfahren beschleunigen, dürfen wir auf der anderen Seite nicht unbeachtet lassen, daß die Verwaltungsvorschriften der Ausländerbehörden, z. B. die Nrn. 6 und 3 zum § 38 Ausländergesetz hin und wieder sehr weit ausgelegt werden. Wir werden hier darauf achten müssen, daß bei einer entsprechenden Verkürzung der Verfahren nicht der Zweck umgekehrt wird, so daß der Ausländer durch eine zu rasch und zu weit ausgelegte Norm abgeschoben wird.Unrecht und Gewalt haben trotz allen Bemühungen in vielen Staaten der Welt leider noch ihren festen Platz. Es ist eine der vornehmsten humanitären Pflichten der freiheitlich-demokratischen Länder, Asyl für politisch Verfolgte zu gewähren. Wir Wollen mit dem Entwurf dieses Recht der Ausländer und diese Pflicht unseres Landes stärken und sichern. Wir wollen zu einer rascheren und schnelleren Entscheidung über die Gewährung des Asylrechts für die politisch Bedrängten kommen. Aber nicht nur die Gewährung des Asylrechts erfolgt nach rechtsstaatlichen, freiheitlichen und humanitären Kriterien, auch
Metadaten/Kopzeile:
7374 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Wolfgramm
der weitere Aufenthalt in der Bundesrepublik vollzieht sich nach diesen rechtsstaatlichen Grundsätzen. So hat sich auch das Auslieferungsverfahren strengsten rechtsstaatlichen Anforderungen zu unterwerfen, und kein Ausländer wird bei einem noch so politisch wichtigen Auslieferungsbegehren zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Dies gilt selbstverständlich auch für das Auslieferungsbegehren der jugoslawischen Regierung.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Baum.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Vorredner haben nahezu alles dargelegt, was hier zu sagen ist, so daß ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken möchte.
Die Bundesregierung hält eine Verkürzung der Verfahren für dringend notwendig. Sie hat dem Innenausschuß schon vor längerer Zeit einen Bericht vorgelegt, auf den ich mich beziehe. Die Zahlen, die wir in diesem Jahr in den ersten vier Monaten haben, lassen den Rückschluß zu, daß wir etwa 24 000 Asylanten im Jahre 1978 zu erwarten haben gegenüber 16 000 im Vorjahr. Erfahrungsgemäß werden 85 % davon nicht anerkannt.
Wir sind uns alle über die Zielrichtung notwendiger gesetzlicher Änderungen einig. Unter Wahrung der. humanitären Grundsätze, die unser verfassungsrechtlich garantiertes Asylrecht kennzeichnen, soll das Anerkennungsverfahren so beschleunigt werden, daß es dem Anspruch der politisch Verfolgten auf schnelle Feststellung gerecht wird. Wir sind uns einig, was den Wegfall des Widerspruchsverfahrens angeht. Wir haben Bedenken, Herr Kollege Spranger, hinsichtlich des generellen Wegfalls des Berufungsverfahrens. Das haben Herr Kollege Wolfgramm und Herr Kollege Bühling soeben schon ausgeführt. Eines der wesentlichen Probleme klammert der Gesetzentwurf der Opposition völlig aus: die Belastung des Verwaltungsgerichts Ansbach. Ich möchte hier auch für die Innenminister der Länder erklären, daß eine Dezentralisierung der verwaltungsgerichtlichen Verfahren notwendig ist.
Uns allen geht es darum, das Asylrecht gerade im Interesse der politisch Verfolgten durch ein neues, effektiveres Verfahrensrecht zu stärken. Das Asylrecht soll politisch Verfolgten Schutz bieten, es darf jedoch nicht als Weg zu einer aus wirtschaftlichen Gründen angestrebten Einwanderung mißbraucht werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.Ich schlage Ihnen vor, die Vorlagen an den Innenausschuß — federführend —, an den Rechtsausschuß — mitberatend — und an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung — zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Punkte 8 und 9 der Tagesordnung sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik im Handel und Gastgewerbe
— Drucksache 8/1766 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Wirtschaft InnenausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO9. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von örtlichen Zuständigkeiten der Landesversicherungsanstalten in Niedersachsen — Drucksache 8/1772 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und SozialordnungErste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verlängerung der Antragsfrist für die Abgabe des Antrags auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs— Drucksache 8/1813 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: FinanzausschußErste Beratung des von ,der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol— Drucksache 8/1820 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:FinanzausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOIch frage das Haus, ob das Wort gewünscht wird. — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Die Überweisungsvorschläge bitte ich aus der Tagesordnung zu ersehen. Ich frage, ob Änderungen oder Ergänzungen gewünscht werden. — Das ist nicht der Fall. Wenn ich keinen Widerspruch sehe und höre, sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Punkte 10 und. 11 der Tagesordnung auf:10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu dem Antrag der Fraktion der CDU/ CSUVerbesserung der Verkehrssicherheit für motorisierte Zweiradfahrer— Drucksachen 8/1269, 8/1732 — Berichterstatter: Abgeordneter Hoffie11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu dem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978 7375
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenDritten Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen im Zusammenhang mit der Neuregelung des § 8 des Personenbeförderungsgesetzes— Drucksachen 8/803, 8/1731 —Berichterstatter: Abgeordneter WaffenschmidtDie antragstellende Fraktion der CDU/CSU hat im Einvernehmen mit den beiden anderen Fraktionen beantragt, die beiden Punkte von der Tagesordnung abzusetzen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu demErfahrungsbericht der Bundesregierung zur Ausführung des Gesetzes über die Errichtung einer Zusatzversorgungskasse für Arbeitnehmer in der Land- und Forstwirtschaft— Drucksachen 8/712, 8/1726 —Berichterstatter: Abgeordneter KirschnerIch frage den Herrn Berichterstatter, ob er eine Ergänzung des Berichts zu geben wünscht. — Das ist nicht der Fall. Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Ich frage, ob das Wort begehrt wird. — Das ist nicht der Fall.Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses, den Erfahrungsbericht zur Kenntnis zu nehmen, zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags des Präsidenten des BundesrechnungshofesRechnung und Vermögensrechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1977 — Einzelplan 20 —— Drucksache 8/1776 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußDas Wort wird nicht begehrt. — Es wird vorgeschlagen, die Vorlage an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Punkte 14 bis 17 der heutigen Tagesordnung auf:14. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Verordnung des Rates betreffend die Errichtung einer Europäischen überberuflichen Organisation für TafelweinVorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 816/70 zur Festlegung ergänzender Vorschriften für die Gemeinsame Marktorganisation für Wein— Drucksachen 8/1608 Nr. 20, 8/1767 —Berichterstatter: Abgeordneter Schartz
15. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungMitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Aussichten der Wirtschafts- und WährungsunionMitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über eine „bessere Koordinierung der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitik"Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat betreffend das wirtschafts- und währungspolitische Aktionsprogramm 1978— Drucksachen 8/1258, 8/1132, 8/1619, 8/1768 —Berichterstatter:Abgeordneter Dr. NarjesAbgeordneter Dr. Schachtschabel16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungMitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die Einführung eines gemeinschaftlichen Beihilfesystems zugunsten des innergemeinschaftlichen Austausches von Kraftwerkskohle— Drucksache 8/1687, 8/1763 —Berichterstatter:Abgeordneter Wolfram
17. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Verordnung des Rates über die Unterstützung gemeinschaftlicher Vorhaben zur Exploration von Kohlenwasserstoffen
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Durchführung der Verordnung über die Unterstützung gemeinschaftlicher Vorhaben zur Exploration von Kohlenwasserstoffen— Drucksachen 8/1191, 8/1760 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. AhrensIch frage, ob einer der Herren Berichterstatter das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall. Ich danke den Herren Berichterstatter.Ich frage das Haus, ob Einverständnis darüber besteht, daß wir der Einfachheit halber gemeinsam ab-
Metadaten/Kopzeile:
7376 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1978
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen stimmen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann kann ich so verfahren.Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen der Ausschüsse auf den Drucksachen 8/1767, 8/1768, 8/1763 und 8/1760. Wer den Vorschlägen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe den Deutschen Bundestag zu seiner nächsten Sitzung für Mittwoch, den 7. Juni 1978, 13 Uhr ein.Die heutige Sitzung ist damit geschlossen.