Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Am 4. Dezember 1977 hat der Abgeordnete Dr. Meinecke seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ich spreche Ihnen, Herr Kollege Meinecke, die herzlichen Glückwünsche des Hauses dazu aus.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die heutige Tagesordnung um die von der Fraktion der SPD beantragte Aussprache gemäß Anlage 4 Nr. 1 der Geschäftsordnung zum Thema Verwirklichung der Menschenrechte ergänzt. Der Tagesordnungspunkt soll heute nach der Fragestunde aufgerufen werden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann stelle ich fest, daß das Haus damit einverstanden ist.
Amtliche Mitteilung ohne Verlesung
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 7. Dezember 1977 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Rapp , Junghans, Dr. Holtz, Dr. Schmude, Bindig, Dr. Böhme (Freiburg), Büchler (Hof), Dr. Diederich (Berlin), Dürr, Fellermaier, Frau Dr. Focke, Friedrich (Würzburg), Haase (Fürth), Huonker, Ibrügger, Immer (Altenkirchen), Jahn (Marburg), Dr. Jens, Junker, Kretkowski, Lenders, Frau Dr. Lepsius, Dr. Linde, Müller (Nordenham), Frau Renger, Dr. Schachtschabel, Dr. Schäfer (Tübingen), Scheu, Schluckebier, Schmidt (München), Dr. Spöri, Stahl (Kempen), Wolfram (Recklinghausen), Angermeyer, Wurbs, Dr. Haussmann, Frau Matthäus-Maier, Zywietz, Dr. Vohrer, Frau Schuchardt und der Fraktionen der SPD, FDP betr. Welttextilabkommen — Drucksache 8/1231 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/1314 verteilt.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Erhard , Müller (Remscheid), Franke, Frau Will-Feld, Neuhaus, Dr. George, Dr. Laufs, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Hasinger, Müller (Berlin) und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Reichsversicherungsordnung
— Drucksache 8/1086 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Erhard das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen mit dem vorgelegten Gesetzentwurf einen einzigen Paragraphen der Reichsversicherungsordnung ändern. Es soll weder für irgendeinen Bürger ein Pfennig mehr Geld bewilligt noch irgendein Anspruch verkürzt werden. Wir wollen nur eine der Regierung bereits gegebene Ermächtigung zum Erlaß einer komplizierten und umfangreichen Rechtsverordnung konkretisieren und auch teilweise einschränken. Ziel unserer Vorstellungen ist eine größere Sicherung der Person in ihrem Intimbereich.
Der § 319 der Reichsversicherungsordnung gibt dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Recht, für jeden einzelnen Bürger eine Versicherungsnummer einzuführen. Die Versicherungsnummer wird nach Schätzungen 90 bis 95% der Bevölkerung erfassen. Der Einstieg ist die sogenannte Krankenversicherungsnummer. In diesem Zusammenhang läuft bereits seit dem 1. April im schleswig-holsteinischen Kreis Rendsburg/Eckernförde ein vom Bundesarbeitsministerium und von der Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung initiierter Testversuch.
Ursprünglich, nämlich bei der Einfügung dieser Ermächtigung in die Reichsversicherungsordnung, war beabsichtigt, als Versicherungsnummer das im Entwurf eines Bundesmeldegesetzes vorgesehene Personenkennzeichen zu verwenden. „Als Versicherungsnummer soll grundsätzlich das Personenkennzeichen verwendet werden", so heißt es im Bericht des Ausschusses für Arbeit vom 16. Juni 1972, zu Drucksache VI/3508, Seite 12. Es heißt dort weiter:
Falls sich die Einführung des Personenkennzeichens verzögert, ist vorgesehen, bis zu seiner Einführung die Versicherungsnummer der Rentenversicherung zu verwenden, damit unterschiedliche Versicherungsnummern in der Krankenversicherung und Rentenversicherung vermieden werden.
Mit der Einführung eines allgemeinen Personenkennzeichens hatte sich der Rechtsausschuß in der vorigen Periode in seiner Sitzung am 5.- Mai 1976 eingehend befaßt und einstimmig bei einer Stimmenthaltung empfohlen:
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Erhard
Die Entwicklung, Einführung und Verwendung von Numerierungssystemen, die eine einheitliche Numerierung der Bevölkerung im Geltungsbereich dieses Gesetzes ermöglicht' , ist unzulässig.
Inzwischen hat sich auch die Innenministerkonferenz dahin verständigt, bei der Vorlage eines Entwurfs für ein neues Bundesmeldegesetz ein Personenkennzeichen nicht mehr vorzusehen.
Meine Damen und Herren, in den Vereinigten Staaten hat das Problem eines allgemeinen Personenkennzeichens eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. In dem erneut eingebrachten Gesetzentwurf HR 14161 der Abgeordneten Goldwater jun. und Koch heißt es in der Sektion 6 B — natürlich in Übersetzung —:
Niemand darf ohne ausdrückliche Genehmigung des Kongresses ein allgemeines Kennzeichen, das irgendeinem anderen Personenkennzeichnungssystem entspricht, entwickeln oder benutzen.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mit dieser Problematik bei der Mikrozensusentscheidung befaßt und gesagt, „wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme zugänglich ist", wäre dies mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren.
Hier. stellt sich für uns nun die Frage: Welches Ziel wird mit der Einführung einer bundeseinheitlichen Versicherungsnummer verfolgt? Welche Konsequenzen sind zu befürchten? Wir haben eine breite Literatur aus jüngster Zeit, aus der wir die richtigen Erkenntnisse nehmen können.
Zunächst muß aber festgestellt werden, daß eine moderne Industriegesellschaft unstreitig auf datentechnisch erfaßte Informationen angewiesen ist. Richtige und rechtzeitige Informationen können für Wirtschaftsunternehmen und für den Bürger von entscheidender Bedeutung sein, selbstverständlich auch für die Verwaltungen. Auch die geplante Krankenversicherungsnummer und die in diesem Zusammenhang zu entwickelnde allgemeine Versicherungsnummer und das hiermit verbundene Datensystem mögen Verwaltungsarbeit, Zeit und Kosten einsparen. Die Sozialversicherungsträger und die öffentlichen Hände müssen die technischen Fortschritte nutzen und in ihrem Bereich auch einsetzen. Grenzen moderner Techniken müssen aber. sorgfältig dort gezogen werden, wo die Intimsphäre des Bürgers verletzt werden kann. Man muß nämlich wissen, daß die Versicherungsnummer nicht nur für die Krankenversicherung und die Rentenversicherung Verwendung finden würde, sondern selbstverständlich auch für die Unfallversicherung und für die Arbeitslosenversicherung. Es gibt kein Verbot und keine zwingende Vorschrift, die den Minister bindet, daß diese Nummer auch sonst nicht verwendet werden darf, z. B. durch Banken oder durch andere Verwaltungen. Die geplante Versicherungsnummer ist mit den vorgenannten . verfassungs- und rechtspolitischen Grundsätzen kaum vereinbar.
Neben der erstrebten Rationalisierung der Krankenversicherung und der für notwendig gehaltenen Dokumentation in den Krankenkassen soll sich die Kennzeichnung der Krankenkassen, deren Vertragspartner und ihrer Mitglieder in ein Gesamtsystem zur Kennzeichnung der Arbeitgeber sowie der Träger der Sozialversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit einpassen und als Möglichkeit für den „Aufbau der Datenbasis für die Sozialdatenbank" dienen. So läßt sich im Bundesarbeitsblatt 1977, Seite 155 nachlesen. Dort heißt es dann weiter, und es ist ganz wichtig, dies zu beachten:
Art und Umfang des Datenaustausches zwischen den Beteiligten bleibt der Vereinbarung zwischen ihnen überlassen.
Welches sind aber die Daten, die im Rahmen der Disposition der Beteiligten frei ausgetauscht werden dürfen? Hier gibt Aufschluß eine ganze Vielzahl von Publikationen, und zwar unter dem Titel „Informationssysteme in der GKV" und „Sozialdatenbank", vor allem erschienen beim Bundesarbeitsministerium. Dabei wird immer wieder betont, daß Grundgedanke dieser Informationssysteme die personenbezogene Kennzeichnung und Erfassung aller Leistungsdatenträger und leistungsauslösenden Bescheinigungen ist. Das heißt, es werden mehrere hundert Millionen Kranken- und Überweisungsscheine, rund 450 Millionen Arzneiverordnungen und ca. 70 Millionen' Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen pro Jahr lückenlos gespeichert, festgehalten und ausgewertet. Jede Spritze, jeder Verband, jedes Medikament, jede Diagnose und jede Fehlzeit sollen gespeichert werden.
Diese Systeme sollen von allen gesetzlichen Krankenkassen aufgebaut und deren Daten in einer mehrstufigen Hierarchie über die Landes- auf der Bundesebene zusammengeführt werden. Hierdurch sollen die Krankenkassen in die Lage versetzt werden, ihre Versicherten nach Merkmalen wie — ich zitiere hier das, was man lesen kann — Alter, Geschlecht, Familienstand, Tätigkeitsmerkmale, Wirtschaftszweige, Stellung im Beruf sowie nach Diagnosen — z. B. Risiken wie hoher Blutdruck, Kreislaufschwäche und Übergewicht — personenbezogen zu überwachen. Diese Angaben sollen zugleich Planungsdaten für die Bedarfsdeckung mit Gesundheitsgütern liefern.
Es ist offensichtlich, daß diese Versicherungsnummer technisch einem allgemeinen Personenkennzeichen nicht nur nahekommt, meine Damen und Herren, sondern ein allgemeines Personenkennzeichen unter schlicht anderer Bezeichnung darstellt. Die Einführung und Verwendung dieser Versicherungsnummer führt im Ergebnis dazu, daß die elektronische Datenverarbeitung in der Lage ist, über den betreffenden Bürger gesammelte medizinische Einzelinformationen schnell und in beliebigen Kombinationen zusammenzufügen, so daß ein Röntgenbild der Persönlichkeit zur Verfügung steht. Im Ergebnis heißt
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Erhard
das: absolut verwaltete Medizin über den total gespeicherten Bürger. Der Computer wird zum allwissenden Medizinmann, der Arzt zu dessen Gehilfe und der Versicherte und Patient zum entpersönlichten und damit inhumanen, würdelosen, gläsernen Objekt. Dieses Objekt ist auf einen einzigen Blick durchschaubar für die Verwaltungen, die ich eben genannt habe, und damit auch für viele andere mehr.
Der Datenmoloch wird gleichzeitig zu einem Machtfaktor, der das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient de facto außer Kraft setzt. Ganz natürlich wird hier das Mißtrauen sogar institutionalisiert.
Ich darf in diesem Zusammenhang auf die im Protokoll festgehaltenen Ausführungen, die im Rechtsausschuß zu diesem Problem gemacht worden sind, und auf eine weitere, in der Öffentlichkeit zugängliche Stelle hinweisen, nämlich auf einen Beschluß der 8. Vollversammlung der Gemeinsamen Synode der katholischen Bistümer vom 22. November 1975, aus der ich auszugsweise zitieren möchte:
Zugleich spüren wir deutlicher die Fragwürdigkeit und geheime Verheißungslosigkeit, die in einer rein technokratisch geplanten und gesteuerten Zukunft der Menschheit steckt. Schafft sie wirklich einen neuen Menschen? Oder nur den völlig angepaßten Menschen? Den Menschen, . .. eingemauert in eine überraschungsfreie Computergesellschaft, erfolgreich eingefügt in die anonymen Zwänge und Mechanismen einer von fühlloser Rationalität konstruierten Welt — rückgezüchtet schließlich auf ein anpassungsschlaues Tier?
Um dies zu verhindern, meine Damen und Herren, sieht der Gesetzentwurf technische Bestimmungen vor, die es unmöglich machen, eine einheitliche Versicherungsnummer für das ganze Bundesgebiet zu schaffen. Der Entwurf ermöglicht aber die elektronische Datenerfassung und Datenverarbeitung in angemessenem Rahmen. Diese Grenzziehung für die Datenverarbeitung im medizinischen Bereich erscheint nicht nur aus juristischen, sondern insbesondere auch aus moralischen und ethischen Gründen geboten.
Wir, meine Damen und Herren, verkennen nicht, daß es noch sehr sorgfältiger weiterer Überlegungen und wahrscheinlich gesetzlicher Vorschriften bedarf, vielleicht sogar eines Sozialdatenschutzgesetzes, um möglichst jeden Mißbrauch der empfindlichen personenbezogenen Daten weiter einzuschränken oder gar auszuschließen. Was wir jetzt aber schon tun können, sollten wir nicht unterlassen. Wenn bei der weiteren Gesetzesberatung noch bessere Lösungen erkennbar werden sollten, so werden wir dem Besseren sicher gerne zustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung gibt dem Datenschutz,
mithin dem Schutz des Persönlichkeitsbereichs, hohen Rang. Der Datenschutz ist ein ganz wesentliches Element unseres freiheitlichen sozialen Rechtsstaates. In der Sozialversicherung hat man die Notwendigkeit des Datenschutzes — denn nur der Name ist relativ neu, nicht die Sache selbst — schon früh erkannt.
Bereits die Reichsversicherungsordnung enthält Regelungen zum Schutz des Versicherten vor Mißbrauch von Informationen über seine Person. Im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuchs haben wir eine umfassende, sorgfältig durchdachte Geheimhaltungsvorschrift für den gesamten Anwendungsbereich dieses Gesetzes geschaffen. Einen weiteren wichtigen Fortschritt bringen die Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes, die zum 1. Januar 1978 in Kraft treten werden. Lassen Sie mich hier nur auf einen Punkt hinweisen, nämlich auf § 12 dieses Gesetzes, der vorschreibt, daß Behörden und sonstige öffentliche Stellen, also auch die Krankenkassen, die Art der von ihnen oder in ihrem Auftrag gespeicherten personenbezogenen Daten, die Aufgaben, zu deren Erfüllung die Kenntnis dieser Daten erforderlich ist, die Stellen, an die sie personenbezogene Daten regelmäßig übermitteln, und die Art, der zu übermittelnden Daten dem betroffenen Personenkreis bekanntzugeben haben. Hierdurch wird die Datenverarbeitung nicht nur für den einzelnen Bürger transparent gemacht, auch der Gesetzgeber erhält eine bisher nicht vorhandene Ubersicht über den Datenfluß in der öffentlichen Verwaltung und damit auch die Möglichkeit, gezielt dort einzugreifen, wo es seiner Meinung nach nottut.
Wir tun im Bereich der Sozialversicherung aber noch mehr. Im Bundesarbeitsministerium werden zusätzliche bereichsspezifische Datenschutzregelungen geprüft. Dabei geht es u. a. um Einzelheiten der Datenübermittlung und der Auskunft an den Betroffenen über die zu seiner Person gespeicherten Daten. Wir dürfen und werden auch nicht zögern, sofort zusätzliche Regelungen zu treffen, wenn sich Unzulänglichkeiten oder Lücken im Datenschutz zeigen. Es steht für uns völlig außer Frage, daß auch bei der Einführung einer Versicherungsnummer die Erfordernisse des Datenschutzes zu beachten und zu berücksichtigen sind.
Aber das erfordert sehr viel mehr und Grundsätzlicheres, als in der Vorlage der Opposition zum Ausdruck kommt. Mit kleinlichen technischen Regelungen am Rande die Sicht für die Gesamtaufgabe Datenschutz zu versperren wäre weder der Sache dienlich noch dem hohen Rang des Datenschutzes angemessen.
Ich hätte sehr ernste Bedenken, wenn mit solch vordergründigen Schranken und Hindernissen ausgerechnet die Krankenversicherungsträger daran gehindert würden, sich moderner, rationeller Verwaltungstechniken in vollem Umfang zu bedienen.
So sieht der Gesetzentwurf der CDU/CSU u. a. vor, daß die Versichertennummer nur für das Leistungsrecht verwendet werden darf. Das gäbe eine
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Bundesminister Dr. Ehrenberg
sehr eigenartige Folge, nämlich die, daß es den Krankenkassen im gesamten Bereich des Meldewesens, des Beitragseinzugs und bei allen übrigen Verwaltungsaufgaben unmöglich wäre, sich der eigenen Versicherungsnummer zu bedienen.
Das kann ja wohl nicht Sinn einer vernünftigen Regelung sein.
— Sie müssen Ihren Gesetzentwurf präziser formulieren, wenn man das dort nicht herauslesen soll.
Denn im übrigen, meine Damen und Herren von der Opposition, würde Ihr Entwurf auch dazu führen, daß der engbegrenzte Nummernvorrat nicht ausreicht, um dauerhaft ein rationelles Verwaltungsverfahren zu gewährleisten. Die Mitgliederfluktuation bei den Krankenversicherungsträgern ist so groß, daß ein auf Ihre Vorschläge hin begrenzter Nummernvorrat bereits nach etwa zehn Jahren erschöpft wäre. Die Unterlagen der Krankenkassen sind aber in der Regel 30 Jahre aufzubewahren, so daß die Versichertennummern in dieser Zeit nicht für neue Mitglieder verwendbar sind. Bei organisatorischen Änderungen, beispielsweise bei der Auflösung oder Zusammenlegung von Krankenkassen, wäre die Kapazität bereits früher erschöpft, so daß der Mitgliederbestand völlig neu durchnumeriert werden müßte. Hinzu kommt, daß nach der Reichsversicherungsordnung auch für die Familienangehörigen eine Versichertennummer verwendet werden soll, wodurch ebenfalls die knappe Stellenkapazität noch rascher erschöpft sein würde. Ich warne daher mit allem Nachdruck davor, vorschnell durch kurzsichtig einschränkende technische Regelungen notwendige Entwicklungen zu unterbinden und die Verwaltungsarbeit zu erschweren, ohne daß der Bürger in seinen Persönlichkeitsrechten dadurch besser geschützt würde.
Im übrigen läuft zur Zeit ein von der Selbstverwaltung der Krankenversicherung getragener Modellversuch in Rendsburg/Eckernförde zur Erprobung eines Versichertenausweises. Durch diesen Modellversuch wollen wir in der Praxis feststellen, ob der heutige Krankenschein durch diesen Versichertenausweis im Sinne rationellerer Arbeit abgelöst werden kann. Dieser Modellversuch gilt zwar nicht unmittelbar dem Problem der Versichertennummer. Da der Versichertenausweis aber eine Nummer enthält, dürfte ein Nebeneffekt dieses Modellversuches auch sein, Erfahrungen darüber zu erhalten, in welcher Form Versichertennummern zu Verwaltungserleichterungen und Einsparungen führen. Dieses Projekt, an dem Krankenkassen, Ärzte und Apotheken mitarbeiten, wird zum Jahresende abgeschlossen. Bei gründlicher Auswertung werden die Ergebnisse gegen Ende des nächsten Jahres vorliegen. Ich fände es reichlich unklug, wenn wir diese praktischen Erfahrungen bei den Überlegungen zur
Frage einer Versichertennummer nicht einbezögen und nicht dementsprechend abwarteten.
Lassen Sie mich abschließend folgendes feststellen. Persönlichkeitsschutz ist absolutes Gebot und vorrangige Aufgabe. .Aber nicht durch kleinliche Behinderung der Verwaltungsarbeit im Bereich der Krankenversicherung kann Persönlichkeitsschutz erreicht werden, sondern nur durch echte, effektiv greifende Datenschutznormen und -schranken. Das sicherzustellen ist unser Ziel. Der eng angelegte Gesetzentwurf der Opposition scheint mit allerdings dabei wenig hilfreich zu sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich bemühen, nach den zutreffenden Bemerkungen, die der Bundesarbeitsminister zu der Gesetzesinitiative der Opposition gemacht hat, mich vor unnötigen Wiederholungen zu bewahren.
Während der parlamentarischen Sommerpause hat uns der Fraktionsvorsitzende der Opposition mit markigen Worten eine Herbstoffensive angekündigt, eine Herbstoffensive, die die Koalitionsfraktionen das Fürchten lehren sollte. In der Sozialpolitik sollen nun wohl die drei Gesetzentwürfe, die heute in erster Lesung beraten werden, dieses Versprechen einlösen. Wenn wir uns den materiellen Gehalt der drei Gesetzentwürfe ansehen, entpuppt sich die groß angekündigte Herbstoffensive als ein sozialpolitisches Sonnenwendfeuer: der Berg hat gekreißt, und drei Mäuslein waren geboren.
Mein Part ist in dieser Debatte, mich mit dem Gesetzentwurf zur Änderung der Reichsversicherungsordnung, dort konkret zu § 319 RVO, auseinanderzusetzen. Ich will nun nicht mehr so viel von Intimschutz und Nummern reden. Man könnte die merkwürdigsten Assoziationen bekommen. Ich will versuchen, Ihre Initiative einmal einzuordnen. Ich fürchte, daß Sie mit diesem Gesetzentwurf in der sozialpolitischen Landschaft tolpatschig herumtapsen, weil konzeptionelle Unklarheit Sie dazu verführt, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Ich werde das in einigen Punkten noch erläutern.
Auch der' Vortrag des Kollegen Erhard hat deutlich gemacht, daß Sie zunehmend in ideologischen Verdächten gefangen sind. Diese wenden Sie sonst zwar gegen uns; aber nun wollen Sie sie auch einmal gegen die Ermächtigungsnorm im § 319 RVO wenden, die die Möglichkeit der Einführung der Versicherungsnummer vorsieht. Da Sie in ideologischen Verdächten gefangen sind, werden Sie für organisatorische und strukturelle Notwendigkeiten im Gesundheitswesen zunehmend blind.
Wir Sozialdemokraten wollen und werden die Ökonomie im Gesundheitswesen ausbauen. Wir haben bereits erste Schritte gemacht. Wir sind bereit, Maßnahmen zu treffen, die die Effizienz im
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Egert
Gesundheitswesen steigern. Dies kann zwischen sachverständigen Kritikern unseres Gesundheitswesens im Grunde nicht mehr strittig sein. Dabei sind wir Partner bei dem Versuch, organisatorischen Notwendigkeiten im Gesundheitswesen Rechnung zu tragen. Wir unterstützen das Bemühen, die Möglichkeiten der Datenverarbeitung sinnvoll in unser System der Gesundheitssicherung einzubeziehen. Die Basis für all diese Aktivitäten sind Erfahrungen aus der Praxis und die Erkenntnisse, die wir auch aus Modellversuchen gewinnen. Wir sind lernbereite und lernfähige Partner bei dem Versuch, aus den gewonnenen Erkenntnissen auch die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Weil wir die Bereitschaft zum Lernen haben, weil wir bereit sind, alle Erkenntnisse vorurteilsfrei zu prüfen, und weil wir die Krankenkassen als einen Teil der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen nicht mit besonderem vorwurfsvollen Mißtrauen begleiten, weil wir organisatorische Effektivität nicht grundsätzlich als den Versuch mißverstehen, den Menschen einer zunehmenden anonymen Bürokratisierung und Katalogisierung auszuliefern, sind wir unbefangen genug, zu prüfen, ob und wie die Ermächtigungsnorm des § 319 RVO zweckmäßig ausgefüllt werden kann.
Wir sehen gegenwärtig keinen begründeten Anlaß, die Ermächtigungsnorm des § 319 einzugrenzen. Wir wollen den Trägern der Krankenversicherung die Möglichkeit erhalten, sich zeitgemäßer und ' rationeller Verfahrenstechniken zu bedienen.
Als Begründung zu dem Gesetzentwurf tragen Sie vor, daß das Versicherteninteresse, der Persönlichkeitsschutz besondere Anforderungen an den Umgang mit den gewonnenen Daten stellen. Sosehr wir diesem Anliegen dem Grunde nach zustimmen, sosehr widerstrebt es uns, mit Ihnen nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß bereits mit § 12 des Bundesdatenschutzgesetzes, aber auch mit den Vorschriften des Sozialgesetzbuches — der Bundesarbeitsminister hat im einzelnen darauf hingewiesen — sensible Instrumente geschaffen worden sind, um genau dieser grundsätzlichen Position Rechnung zu tragen. Dabei schließen wir nicht aus, daß sich aus den praktischen Erfahrungen mit der Anwendung der Vorschriften in diesen Gesetzen neue regelungsbedürftige Tatbestände ergeben.
Was Sie in Ihrem Gesetzentwurf dazu anbieten, offenbart ein fundamentales Mißverständnis, nämlich den Glauben daran, daß mit einer rein technischen Regelung, die Eingrenzung der Zahl der Stellen einer Versicherungsnummer, ein Mehr an Schutz persönlicher Daten erreicht werden kann. Damit behindern Sie nur die störungsfreie und kostensparende Anwendung moderner Technik; Sie sichern nicht den Schutz persönlicher Daten. Sollten sich Unzulänglichkeiten und Lücken im Datenschutz zeigen, sind wir zur punktuellen Korrektur bereit. Ein entschiedenes Nein sagen wir jedoch zu dem Versuch, bereits im Vorgriff kleinliche Behinderungen der Arbeit der Krankenversicherungen durch gesetzliche Änderungen zu verankern.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch einen Hinweis. Persönliche Daten über Krankheiten können in der Selbstverwaltung nicht nur bei der Krankenversicherung gespeichert werden. Sie werden jetzt schon in erheblichem Umfang bei den Kassenärztlichen Vereinigungen gespeichert. Wenn es Ihnen also ausschließlich um das Problem des Datenschutzes ginge, so frage ich, wo Ihre Vorschläge für eine Regelung in diesem Bereich der Selbstverwaltung unseres Gesundheitswesens sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ist Ihnen entgangen, daß die Einführung eines allgemeinen Personenkennzeichens eine gesetzliche _ Regelung durch den Gesetzgeber — sprich: Bundestag — erfordert, daß hier aber der Regierung eine Ermächtigung mit praktisch dem gleichen Ergebnis gegeben ist und daß es nur darum gehen kann, ob ein allgemeines Personenkennzeichen auf diesem oder jenem Wege verhindert werden soll?
Wissen Sie, es geht uns darum, aus den Erkenntnissen, aus den Modellversuchen, die laufen, soweit sie mittelbar oder unmittelbar für die Eingrenzung, die Sie wünschen, bedeutsam sind, die Schlußfolgerung zu ziehen, und zwar nicht im Vorgriff auf diese Erkenntnisse, sondern auf einer sachlichen Grundlage. Mir scheint sinnvoll zu sein, daß wir uns gemeinsam die Zeit lassen, aus diesen Modellen zu lernen. Ich glaube, daß das dem Interesse der Menschen, gerade da, wo es um den Schutz persönlicher Daten geht, mehr Rechnung trägt.
Weil wir das Problem, das hinter dem Gesetzentwurf der Opposition steht, für gewichtig halten, widersprechen wir nicht der Überweisung des Gesetzentwurfs. Wir lehnen den von der Opposition gewählten Weg aber ab. Wir halten ihn tendenziell für selbstverwaltungsfeindlich. Zu gegebener Zeit werden wir in den Ausschußberatungen unsere Bedenken im einzelnen vortragen. Wir wollen auf der Grundlage des bereits vorliegenden und noch vorzulegenden Erfahrungsmaterials, soweit es datenmäßig bedeutsam ist, und unter Einbeziehung der Erfahrungen, die die Länder Rheinland-Pfalz und Berlin mit der Einführung von Versicherungsnummern gemacht haben, prüfen, welche das bestehende Recht ergänzenden gesetzlichen Regelungen gegebenenfalls getroffen werden müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Herr Abgeordneter Cronenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
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Cronenberg
— Lieber Kollege Franke, ganz so einfach werde ich es nicht machen,
wenngleich ich Ihnen in der vorweihnachtlichen Stimmung verspreche, es recht kurz zu machen.
Höchstmögliche Effektivität auch durch Rationalisierungsmaßnahmen, auch durch Einsatz von Computern ist ein Anliegen, das von der Opposition gelegentlich überzeugend vorgebracht wird. Es deckt sich mit unseren Wünschen und Zielvorstellungen.
Ebenso heftig wird natürlich höchstmöglicher Datenschutz verlangt. Selbstverständlich habe ich Verständnis dafür, daß Sie von der Opposition uns auf diesem Gebiet nicht ganz über den Weg trauen. Das gehört zu der Rollenverteilung, wie sie in diesem Hause nun einmal üblich ist.
— Auch da, Kollege Franke.
Die Kunst, je nach Lage der Dinge jeweils das eine Ziel zu vergessen und das andere besonders herauszustreichen, ist ebenfalls ein Privileg der Opposition, das wir einfach zur Kenntnis zu nehmen haben. Die Kunst, beide Ziele miteinander zu verbinden und eine vernünftige gesetzliche Regelung zu finden, ist Aufgabe und Verpflichtung des ganzen Hauses. Um dies zu erreichen, werden wir mit der Absicht, aus der Vorlage ein gescheites Gesetz zu machen, der Überweisung zustimmen.
Die Sicherung individueller Persönlichkeitsrechte und das individuelle Recht auf Datenschutz sind für uns Liberale ein hochrangiger und besonders sensibler Bereich des Persönlichkeitsrechts. In dem Schutz dieses Persönlichkeitsrechts lassen wir uns von niemandem übertreffen. Ferner wollen wir mit dem Datenschutz dafür sorgen, daß ein Übergewicht der Verwaltung gegenüber dem Bürger, in unserem Fall gegenüber dem Versicherten, verhindert wird. Neben einem Datenmißbrauch wollen wir auch eine Zweckentfremdung der Datenverarbeitung verhindern.
Jeder Bürger gibt seine personenbezogenen Daten und Informationen nur zu einem bestimmten Zweck ab, ganz besonders wenn es sich um Angaben gegenüber Behörden und Amtspersonen handelt. Die Vermischung solcher Daten und Informationen und somit zweckentfremdeter Gebrauch müssen daher in jedem Fall verhindert werden.
Deshalb haben wir für einige grundsätzliche Bedenken, die hier von der Opposition vorgetragen worden sind, durchaus Verständnis.
Bei einem Datenverbund zwischen Krankenversicherung und anderen Trägern der sozialen Sicherung könnten in der Tat Angaben, die der Bürger als Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung abgibt, und zwar ausschließlich aus Gründen der gesetzlichen Krankenversicherung, mit anderen Aufgabenbereichen der sozialen Sicherung zusammengeführt werden. Dadurch würden sie dem eigentlichen Zweck entfremdet.
Ich scheue mich nicht, dies als einen Unterfall des Datenmißbrauchs zu bezeichnen.
Es gehört aber zu den Grundprinzipien liberaler Politik, die Persönlichkeitssphäre des einzelnen Bürgers zu schützen. Aus diesem Grunde ist meine Fraktion von jeher immer wieder für einen weitgehenden Datenschutz eingetreten, ohne bei der notwendigen Verarbeitung personenbezogener Daten eine weitgehende Bürgerfreundlichkeit und Wirtschaftlichkeit außer acht zu lassen. Deshalb hat sich meine Fraktion so nachhaltig für die Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes in der vergangenen Legislaturperiode eingesetzt, deshalb haben wir auch immer wieder einen spezifischen Datenschutz für alle in Betracht kommenden Spezialbereiche gefordert.
Um so erstaunter sind wir allerdings darüber, daß ein solcher Antrag nun von der CDU/CSU kommt, die ja das Datenschutzgesetz — aus welchen Gründen auch immer — in der vergangenen Legislaturperiode abgelehnt hat.
Nun, sei's drum. Für uns lautet die Frage heute: Hat die CDU/CSU das Ziel, nämlich den Schutz besonders sensibler Daten im Bereich der Sozialversicherung, mit dieser Vorlage erreicht? Sind die vorgesehenen Mittel angemessen oder nicht? Wir jedenfalls sind in jeder Beziehung gegen eine Verdatung des Bürgers durch ein allumfassendes Personenkennzeichen.
Daraus müssen selbstverständlich für den Datenschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung auch Konsequenzen gezogen werden.
Der Minister hat eben, so meine ich, sehr überzeugend dargestellt, daß die Vorschläge der CDU/ CSU in dieser Form keine geeigneten Mittel sind, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Meine Fraktion appelliert allerdings deswegen an den Bundesarbeitsminister, uns nunmehr alsbald konkrete Vorschläge Unter Verwendung der Erfahrungen der Modellversuche für einen angemessenen und wirksamen Datenschutz in diesem Bereich vorzulegen,
damit diese Vorschläge in den Beratungen auch berücksichtigt werden können.
Nur der Vollständigkeit halber möchte ich hier den nachhaltigen Wunsch meiner Fraktion vortragen, daß wir auch für andere Bereiche einen solchen spezifischen Datenschutz erhalten. Wir hoffen, hier von allen Fraktionen entsprechende Unterstützung zu bekommen. Der notwendige Schutz unserer Bürger vor Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre muß gewährleistet werden. Verwaltungen dürfen nur auf diejenigen Daten zurückgreifen, die für die Erfüllung ihrer rechtmäßigen Aufgaben erforderlich sind. Dieses Ziel ist nur durch angemessene Datenschutzregelungen zu erreichen, nicht aber dadurch, daß
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4645
Cronenberg
man der Verwaltung das für ihre Funktionsfähigkeit notwendige Instrumentarium wegnimmt oder kleinliche Beschränkungen einbaut.
Auch in der Krankenversicherung müssen die Ordnungsmerkmale, ohne die ein Computer nun einmal nicht funktioniert, funktionsgerecht gestaltet werden können. Die Mißbrauchsgefahr geht nicht von den Ordnungsmerkmalen an sich aus, aber die Menschen, die mit diesen Merkmalen umgehen, stellen in der Tat eine gewisse Gefahr dar. Die Verbindung von Daten kann die Persönlichkeitssphäre verletzen, kann den Bürger belästigen, kann den Bürger in letzter Konsequenz sogar manipulierbar machen.
Unsere gemeinsame Aufgabe im Ausschuß wird es sein, eine Lösung zu finden, die notwendige funktionierende Computersysteme ermöglicht, und dies ohne jede Beeinträchtigung des Persönlichkeitsschutzes des einzelnen Bürgers. Ich hoffe, daß wir hier übereinstimmend zu einer vernünftigen Regelung kommen werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/1086 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — und an den Innenausschuß — mitberatend — zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 4 unserer Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Burger, Geisenhofer, Franke, Dr. Zimmermann, Dr. Ritz, Röhner, Lemmrich, Katzer, Dr. Jenninger, Braun, . Zink, Höpfinger, Frau Krone-Appuhn, Kiechle, Hasinger, Schedl, Müller , Müller (Berlin), Dr. Blüm, Frau Karwatzki, Dr. Voss, Dr. George, Stutzer, Köster, Krampe, Frau Hürland, Frau Schleicher, Dr. Jobst, Kraus, Dr. Hammans, Ziegler, Glos, Biehle, Dr. Schäuble, Dr. Wörner, Spranger, Dr. Althammer, Engelsberger, Dr. Rose, Frau Dr. Neumeister, Wawrzik, Link, Neuhaus, Vogt (Düren), Dr. Riedl (München), Dr. Laufs, Dr. Becker (Frankfurt), Gerlach (Obernau), Hartmann, Dr. Probst, Dr. Becher (Pullach), Dr. Möller, Lintner, Regenspurger, Breidbach, Susset, Stavenhagen, Bühler (Bruchsal), Josten, Schmidhuber, Dr. Wittmann (München) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Reichsversicherungsordnung, des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes
— Drucksache 8/1087 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Burger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schwerbehinderte sollen schon mit 60 Jahren aufhören dürfen. Diese von der CDU/CSU beantragte Regelung ist eine vor allem sozialpolitisch vernünftige Maßnahme. Sie soll auch Bestandteil des Programms zum Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter sein. Über 40 000 Behinderte sind arbeitslos; die älteren haben kaum eine Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
Nach bisheriger Gesetzeslage kann ein flexibles Altersruhegeld allgemein mit Vollendung des 63. Lebensjahres beantragt werden. Darüber hinaus können anerkannte Schwerbehinderte bereits mit Vollendung des 62. Lebensjahres flexibles Altersruhegeld erhalten. Voraussetzung ist jedoch eine Wartezeit von 35 Versicherungsjahren. Nach dem Stand vom Juli 1976 haben insgesamt 60 000 Betroffene Altersruhegeld mit 62 Jahren bezogen. Seit 1973 bestand die Möglichkeit, flexibles Altersruhegeld zu beantragen. Nach den gewonnenen Erfahrungen steht eindeutig fest, daß -sich diese Regelung für Behinderte in der Praxis bewährt hat.
Diese bewährte Maßnahme soll nun ausgebaut werden. Nur auf eigenen Wunsch soll denjenigen Schwerbehinderten, die auf Grund ihrer Behinderung im Arbeits- und Erwerbsleben besonderen seelischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt sind, ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres ermöglicht werden.
Vielfach sind diese älteren Behinderten nicht in der Weise beruflich eingegliedert, wie dies heute durch moderne Rehabilitationsverfahren möglich geworden ist. Erhebungen haben gezeigt, daß besonders die Kriegsbeschädigten oft auf sogenannten Behindertenarbeitsplätzen beschäftigt waren, die in den letzten Jahren zunehmend wegrationalisiert worden sind. Da eine erneute Umschulung wegen des Alters nicht mehr sinnvoll erscheint und der Arbeitsmarkt für ältere Menschen mit Handikaps wenig Chancen bietet, muß nach Auffassung der CDU/CSU mit der gezielten Maßnahme einer Herabsetzung der Altersgrenze für diese Betroffenen geholfen werden. Neben dieser Beseitigung von sozialen Härten sollen durch das Vorziehen der Rente auf das 60. Lebensjahr und das dadurch bedingte Ausscheiden älterer Behinderter Arbeitsplätze für jüngere Schwerbehinderte verfügbar werden.
Meine Damen und Herren, die Anzahl der erwerbstätigen Schwerbehinderten im Alter von 60 und 61 Jahren dürfte sich nach sorgfältigen Schätzungen auf 21 000 bis 22 000 Personen belaufen. Wir erwarten, daß etwa 75 0/o das vorgezogene Altersruhegeld beantragen werden. Unterstellt man eine Monatsrente von etwa 1200 DM, so ergibt sich eine Belastung für die Rentenversicherung im Jahre 1978 von rund 300 Millionen DM. Eine teilweise kostenmäßige Neutralisierung ergibt sich daraus, daß ein relativ hoher Anteil des Personenkreises bereits Berufsunfähigkeitsrente bezieht und deshalb nur die Differenz zwischen dieser Rente und dem
4646 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Burger
Altersruhegeld zu Buche schlägt. Wir sind überzeugt, daß die Schätzungen dieser voraussichtlichen Mehrausgaben nicht überschritten werden. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß schon nach bis- herigem Recht Frauen, wenn sie in den letzten 20 Jahren vor Vollendung des 60. Lebensjahres überwiegend erwerbstätig waren, mit 60 Jahren Altersruhegeld erhalten können. Beinahe 900 000 Frauen haben hiervon Gebrauch gemacht.
Eine weitere Schwelle liegt in der Bedingung, daß 35 Versicherungsjahre als Anwartschaft nachgewiesen werden müssen. Am 1. Juli 1977 betrugen die anrechnungsfähigen Versicherungsjahre bei den Altersruhegeldern der Frauen in der Arbeiterrentenversicherung nur 22,6 Jahre und bei den Männern 37,4 Jahre. In der Angestelltenversicherung waren es bei den Frauen 27,6 Jahre und bei den Männern 38 Jahre. Diese Durchschnittszahlen zeigen, daß die erforderliche Voraussetzung, 35 Versicherungsjahre zu haben, für das vorgezogene Ruhegeld eine starke Hinderung bedeutet. Die Ausgaben werden sich also sicherlich in den Grenzen halten, die wir in unserem Antrag vorgesehen haben.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU ist nach sorgfältiger 'Beratung zu der Auffassung gekommen, trotz Finanzkrise in der Rentenversicherung die Herabsetzung der Altersgrenze für Behinderte zu fordern.
Unser Grundsatz, keine ausgabenwirksamen Anträge zu stellen, bedeutet nicht, daß wir uns nicht in einzelnen Bereichen für besonders Betroffene, wie Kriegsopfer, Behinderte und andere, einsetzen, um deren Probleme sinnvoll und finanziell vertretbar lösen zu helfen.
Sie sollen nicht Opfer einer wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Entwicklung sein, für die sie nichts können und die positive und konstruktive Entwicklungen beinahe unmöglich gemacht hat.
Als Ergebnis einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik steht die Bundesregierung derzeit zum drittenmal innerhalb eines halben Jahres in der Erwartung von Defiziten in den Finanzen der Rentenversicherung. Die Vorschußlorbeeren für Minister Ehrenbergs Rettung der Rentenkassen sind rasch verwelkt. Gedämpfte Konjunktur und Wachstumsschwäche mit der Folge rückläufiger Beitragseinnahmen zwingen zu weiterem Eingreifen. Die Mehraufwendungen für unseren Antrag müssen in den Zusammenhang der Gesamtsituation eingeordnet werden. Sie dürfen nicht bagatellisiert, aber auch nicht dramatisiert werden.
Wenn Sprecher der SPD auf diese Mehrausgaben kritisch hingewiesen haben, so muß ich daran erinnern, daß auch die Bundesregierung mit ihren Beschlüssen vom 14. September dieses Jahres Ausgaben in Höhe von 7,5 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt zur Entlastung der Rentenversicherung verfügt hat. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen — darum sind Sie gebeten — mit gleichen Maßstäben rechnen.
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Der Bundesarbeitsminister, der SPD-Abgeordnete Glombig und der FDP-Kollege Schmidt haben inzwischen in öffentlichen Erklärungen weitere Entscheidungen bezüglich der Rentenversicherung angekündigt. Erneut versäumen es aber die Bundesregierung und die Koalition ein klares und dauerhaft angelegtes Sanierungskonzept unter Zugrundelegung realistischer Annahmen über die wirtschaftliche Entwicklung vorzulegen.
Meine Damen und Herren, wir fordern dieses Konzept unter Einbeziehung unseres heutigen Antrags.
Wir erwarten, daß diese Koalition, die unter dem Anspruch, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, angetreten ist, dieser notwendigen sozialpolitischen Initiative zustimmt.
Auch in Frankreich hat man vergleichbare Regelungen bereits beschlossen. Je nach Berufsgruppe können neuerdings Franzosen ab 60 Jahren in den Ruhestand gehen.
Der Bundeskanzler hat öfter von dem Modell Deutschland gesprochen. Hier kann die Koalition konkret beweisen, was hinter diesen Worten steht.
Bereits jetzt hat unser Antrag vielfache Zustimmung gefunden. Die Finanzierung der Verbesserung ist möglich und wird netto weniger zu Buche schlagen, als man zunächst annehmen könnte, weil Folgekosten aus Verdrängungsprozessen als Ergebnis einer anhaltend angespannten Arbeitsmarktsituation so oder so entstehen.
Erst kürzlich mußten 100 Millionen DM für die Schaffung von Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte zur Verfügung gestellt werden. Weitere 100 Millionen DM werden folgen. Mit hohen Beiträgen wurden unterschiedlichste Programme finanziert.
Bei der jetzt betroffenen Gruppe von Behinderten handelt es sich um gesundheitlich angeschlagene Mitbürger, die überwiegend Anspruch auf Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente haben. Dieser Anspruch müßte in jedem Einzelfall unter Beiziehung von ärztlichen Gutachten und meist unter Inanspruchnahme der Sozialgerichte geltend gemacht werden. Dies bedeutet nicht nur Verwaltungs-, Gutachter- und Gerichtskosten, sondern auch Kummer, Sorgen und seelische Belastungen für jeden einzelnen Betroffenen.
Unser Gesetzentwurf ist auch deshalb gerechtfertigt, weil dieser Personenkreis — wie die Erfahrung zeigt — meist als Folge einer größeren Belastung eine verkürzte Lebensdauer hat.
Abschließend möchte ich folgendes sagen. Viele und gute Gründe sprechen für diesen von uns vorgelegten Gesetzentwurf, der gezielt Probleme lösen will, die sich vor allem als Folge Ihrer Politik in voller Härte zeigen. Wir beantragen Überweisung unseres Gesetzentwurfes an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und erhoffen und erwarten nach gründlicher Beratung eine breite Zustimmung.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4647
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Vorweg eines: Es gibt in diesem Hause wohl kaum jemanden, der bestreitet, daß sich die Einführung der flexiblen Altersgrenze im Jahre 1972 — übrigens unter Federführung eines sozialdemokratischen Arbeitsministers — bewährt hat.
— Sie konnten ja nicht anders. Ich werde Ihnen dazu gleich noch etwas sagen. •
Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion ist unaufrichtig, unvollständig und unsolide. Dies ist durch die Ausführungen von Herrn Burger noch bestätigt worden.
Der Gesetzentwurf verursacht für die Rentenversicherung ganz unbestreitbar zusätzliche Belastungen. Ein Deckungsvorschlag wird nicht gemacht. Das ist ein durchsichtiges Doppelspiel. Man kann nicht tagtäglich die finanzielle Situation der Rentenversicherung schwarz und schwärzer malen und im gleichen Atemzug einen Antrag stellen, ohne dessen Auswirkungen in gebührendem, notwendigem, einer soliden Politik entsprechendem Maße zu berücksichtigen.
Dies widerspricht jeglicher Verantwortung in der Politik.
— Prüfen Sie einmal Ihr Gewissen! Wenn der Gesetzentwurf zur Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze mehr als einen weiteren propagandistischen Effekt bezwecken soll, muß sich die Opposition entscheiden: Entweder ist die Finanzlage in der Rentenversicherung so, wie sie sagt; dann muß sie ihren Antrag zurücknehmen. Wenn sie aber ihren Entwurf, so wie er ist, verantworten zu können glaubt, muß sie auch sagen, wo die Überschüsse in der Rentenversicherung herkommen sollen, aus denen sie ihren Vorschlag finanzieren will.
Zu dem Inhalt des Gesetzentwurfes der Opposition möchte ich folgendes sagen. Das Anliegen, die Altersgrenze für Schwerbehinderte herabzusetzen, wird von der SPD-Bundestagsfraktion voll und ganz geteilt.
Die weitere Herabsetzung der Altersgrenze, insbesondere für Schwerbehinderte, ist ein altes sozialdemokratisches Ziel,
das erst kürzlich auf unserem Parteitag in Hamburg bekräftigt worden ist.
Dazu brauchen wir von der Union keinen Nachhilfeunterricht.
Die Einführung der flexiblen Altersgrenze im Jahre 1972 halte ich übrigens für eine der wesentlichsten Reformen im sozialpolitischen Bereich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, ich bitte um mehr Ruhe und Aufmerksamkeit für die Rednerin.
Damit wurde die seit Jahrzehnten feststehende starre Altersgrenze von 65 Jahren für den Bezug von Altersruhegeld aufgelockert. Übrigens: Dies bedeutet ein Stück mehr an freiheitlicher Entscheidung, mehr Freiheit für die Arbeitnehmer.
Wir sind auch für die Herabsetzung der Altersgrenze als arbeitsmarktpolitische Maßnahme, selbst wenn wir die Wirksamkeit dieses Instrumentes keineswegs überschätzen. Vor der Entscheidung muß vor allem auch gründlich geklärt werden, welcher Art die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen sind. Ich kann Ihnen aus Gesprächen mit Betriebsräten berichten, daß dann, wenn nicht mehr voll einsatzfähige ältere Arbeitnehmer vorzeitig Altersruhegeld in Anspruch nehmen, deren Arbeitsplätze nicht erneut besetzt werden. Das heißt: Arbeitgeber beschäftigen schwerbehinderte und gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitnehmer oftmals wegen längerer Betriebszugehörigkeit, sind bei deren Ausscheiden aber nicht bereit, jüngere Arbeitnehmer neu einzustellen.
Man darf bei den Überlegungen in diesem Zusammenhang ferner nicht übersehen, daß bei einer vorzeitigen Rentenbeantragung auch das Überwechseln von Vollzeit- auf Teilzeitbeschäftigung mit einer Verdienstgrenze von bis zu 1 000 DM bedeutsam sein kann. Das bedeutet: Vollzeitarbeitsplätze könnten in Teilzeitarbeitsplätze für den gleichen Arbeitnehmer umgewandelt werden.
Ich betone noch einmal ausdrücklich: Wir sind um der Sache selbst willen und im Interesse der Schwerbehinderten für die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze auf 60 Jahre.
— Warten Sie mal ab! — Aber das kann uns nicht
dazu verleiten, den nicht solide finanzierten und
nicht ordentlich durchgerechneten Gesetzentwurf
4648 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Frau Steinhauer
der CDU/CSU zu unterstützen. Im Gegensatz zur Union sagen wir ehrlich, daß die Herabsetzung der Altersgrenze, und sei es nur für einen begrenzten Kreis, nämlich hier der Schwerbehinderten, bei der gegenwärtigen Finanzlage der Rentenversicherung nur dann verantwortet werden kann,
wenn die Rentenversicherung höhere Einnahmen erhält oder an anderer Stelle Einsparungen vorgenommen werden.
Deshalb bleibt die Herabsetzung der Altersgrenze für Schwerbehinderte in der Diskussion. Aber diese Diskussion kann erst auf der Grundlage des Anfang 1978 vorzulegenden Rentenanpassungsberichts geführt werden und gehört in den Gesamtzusammenhang des 21. Rentenanpassungsgesetzes, mit dem über die weiteren Maßnahmen zur Konsolidierung der Rentenversicherung entschieden werden muß.
Man kann es nicht so machen wie Sie, meine Herren und Damen von der Opposition, daß man aus den gesamten zusammenhängenden Problemen Rosinen heraussucht, wie es hier durch diesen Gesetzentwurf geschehen ist, ohne die Auswirkungen insgesamt sehen zu wollen.
Deshalb plädieren wir dafür, den diesbezüglichen Antrag der CDU/CSU an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Dort besteht die Möglichkeit, dieses Problem im Zusammenhang mit dem 21. Rentenanpassungsgesetz sorgfältig in die Diskussionen einfließen zu lassen und zu überprüfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geisenhofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Steinhauer, Ihre unqualifizierten Angriffe
auf die Unionsfraktion,
daß der Gesetzentwurf unaufrichtig und unsolide sei, weise ich mit Nachdruck zurück.
Sie können uns doch nicht den ehrlichen Willen absprechen, hier das Beste zu wollen! Wo führt denn das hin!
Frau Kollegin Steinhauer hat sich verbal für die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte ausgesprochen. Sie hat es zumindest als wünschenswert erachtet, daß darüber beim 21. Rentenanpassungsgesetz diskutiert wird.
Wenn ich das richtig deute, dann tritt an die Stelle der bisher bekundeten Ablehnung unseres Gesetzentwurfs die Verschiebung der Entscheidung auf spätere Zeiten.
Daraus möchte ich schließen, daß unser CDU/CSU-Gesetzentwurf draußen in der breiten Öffentlichkeit so große Zustimmung bei den Behinderten, bei den Kriegsopferverbänden, bei den Betriebsräten und bei den Betrieben gefunden hat,
daß Sie es jetzt nicht mehr wagen, eine Ablehnung vorweg auszusprechen.
Frau Steinhauer, Sie haben die Forderung an die CDU/CSU erhoben, wir möchten einen Deckungsvorschlag für die 300 Millionen DM vorlegen, die unser Gesetzentwurf für das Jahr 1978 kostet. Aber die Frage nach der Vorlage des Deckungsvorschlags würde sich heute gar nicht stellen, wenn die SPD/FDP-Regierung von Anfang an eine solide Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Rentenpolitik betrieben hätte.
Frau Steinhauer, Sie haben eine Schärfe in die Diskussion gebracht. Wundern Sie sich nicht, wenn ich Ihnen mit dieser Schärfe antworte.
Wer mehr ausgibt, als er einnimmt,
und wer noch dazu die Milliardenrücklagen ver-
braucht, hat das Recht verwirkt, Stabilitätspolitik
auf dem Rücken der Schwerbehinderten auszutragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
— Ich habe nur eine kurze Redezeit. Ich bitte dafür um Verständnis. Wir werden alle Fragen im Ausschuß behandeln.
Herr Glombig hat in einer mir vorliegenden Presseerklärung die CDU/CSU vor einer Irreführung der Rentner und Beitragszahler gewarnt. Auf die Frage, wer wen irreführt, darf ich noch im Laufe meiner Ausführungen eingehen.
Der Kollege Burger hat schon die Zielsetzung des ' Gesetzentwurfs dargelegt. Ich betone noch einmal,
Geisenhofer
daß nur derjenige das Vorziehen der flexiblen Altersgrenze auf das 60. Lebensjahr beantragen kann, der 35 Versicherungsjahre nachweist. Die überwiegende Mehrzahl der Schwerbehinderten werden diese Möglichkeit, zwei Jahre früher in Rente zu gehen, begrüßen und auch davon Gebrauch machen.
Wir wissen, daß es unter den Schwerbehinderten auch solche gibt, die bis zum 62. Lebensjahr weiterarbeiten wollen, vielleicht sogar noch darüber hinaus, weil sie eine befriedigende, gut bezahlte Arbeitsstelle haben. Nach unseren Gesetzesformulierungen — darauf haben wir großen Wert gelegt — ist sichergestellt, daß kein Schwerbehinderter vorzeitig gegen seinen Willen vom Arbeitgeber in Rente geschickt werden kann.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion verfolgt in erster Linie gesundheitspolitische und damit humanitäre Ziele. Viele anerkannte Schwerbehinderte können in der freien Wirtschaft den erhöhten Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft nicht mehr voll nachkommen. Sie arbeiten bereits auf Kosten ihrer Gesundheit.
Bei der Abfassung unseres Gesetzentwurfs haben wir auch die Frage geprüft, ob nicht das geltende Rentenrecht ausreicht, Schwerbehinderten nach einem Jahr Arbeitslosigkeit den Rentenbezug mit dem 60. Lebensjahr zu ermöglichen.- Theoretisch wäre das bei entsprechender Manipulation hart am Rande der Legalität möglich. Aber unser Gesetzentwurf verhindert, daß Gutachter und vertrauensärztliche Gutachten den Weg bestimmen. Die Schwerbehinderten sollen ohne diese schwierigen Maßnahmen in Rente gehen können.
Nach allen bisherigen Erfahrungen und Überlegungen vertritt die CDU/CSU die Auffassung, daß es sinnvoller ist, Schwerbehinderten in diesem Alter das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß zu ermöglichen, damit jüngere Arbeitskräfte, auch Schwerbehinderte Arbeitslose an ihre Stelle treten können. Auch der VdK-Präsident, Staatssekretär a. D. Weißhäupl, hat an die SPD/FDP appelliert, dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zuzustimmen.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Die Sprecherin der SPD hat erklärt, der Gesetzentwurf stehe im Widerspruch zu den Sanierungs-und Stabilitätsbemühungen der Bundesregierung. Ich habe den Eindruck, die Stabilitätsbemühungen der Regierung konzentrieren sich bei den Schwerbehinderten auf einen ganz falschen Personenkreis. Wer in der Vergangenheit nicht sparsam gewirtschaftet hat, hat in der Gegenwart das Recht verwirkt, Stabilitätspolitik auf dem Rücken der Schwerbehinderten zu betreiben.
Zu Zeiten der Unionsregierung hatten wir eine stabile Wirtschaft und Währung, volle Rentenkassen und keine Arbeitslosigkeit. Sie, meine Damen
und Herren von der SPD, können es drehen und wenden wie Sie wollen: in Ihre Regierungszeit fallen nun einmal die Stagnation der Wirtschaft, die Rezession, 1 Million Arbeitslose, leere Rentenkassen und eine gigantische Staatsverschuldung. Das ist doch nicht von der Hand zu weisen.
Was die Irreführung der Rentner betrifft, Herr Glombig, möchte ich folgendes sagen. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß bei der Fernsehdiskussion der Parteivorsitzenden mit dem Bundeskanzler unsere Herren Kohl und Strauß ernst auf die Milliardendefizite in der Rentenversicherung hingewiesen haben. Der Herr Bundeskanzler hat das als unchristliche Panikmache abgetan mit dem Hinweis: Es gibt keine Probleme, sondern höchstens ein Problemchen.
Dann hat der gleiche Bundeskanzler von dieser Stelle bei seiner Regierungserklärung am 16. Dezember zugegeben,
daß bis zum Jahre 1980 ein Defizit von 82 Milliar-
den DM in der Rentenversicherung vorhanden sei.
Meine Damen und Herren, was vor der Wahl ein Problemchen war, nicht existent war, ist nach der Wahl zum größten Finanzierungsproblem der 90jährigen Geschichte der deutschen Sozialversicherung geworden.
Wer nach der Wahl zugibt, was er vorher bestreitet, nur um die Wahlen zu gewinnen, muß sich von uns den Vorwurf gefallen lassen, daß er Wähler und Rentner getäuscht hat.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion vertreten die Auffassung, daß eine verantwortungsbewußte Regierung,
die eine solide Politik betreiben will, auch für die . Zeiten der wirtschaftlichen Flaute immer noch so hohe Reserven zur Verfügung haben muß, daß ein Härteausgleich in der Sozialpolitik oder daß ein Anliegen wie das der CDU/CSU ohne Beitragserhöhung und ohne Erhöhung des Bundeshaushalts erfüllt werden kann.
Meine Damen und Herren von der Koalition, weil Sie uns Unsolidität vorwerfen:
wir werden auch nie vergessen, daß Sie beim 20. Rentenanpassungsgesetz die drei Monatsrücklagen in der Rentenversicherung von ca. 35 Milliarden D-Mark abgeschmolzen haben bzw. abschmelzen
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Geisenhofer
werden auf eine Monatsrücklage. Ist das eine solide Politik?
Wer soll dann eigentlich die kleinsten Erschütterungen in der Sozialversicherung auffangen, wenn die Rücklage abgeschmolzen ist?
Von unserem Gesetzentwurf sind Schwerbehinderte berührt, die kein Verständnis dafür haben, daß Sie jetzt darauf hinweisen, daß eine defizitäre Lage der Rentenversicherung vorhanden sei, denn die Kriegsopfer und die Schwerbehinderten haben diese Defizite nicht verursacht und nicht verschuldet.
Wir von der Union haben mit dem Schuldenberg in der Rentenversicherung nichts zu tun. Wir haben rechtzeitig vor dem falschen Weg gewarnt. Sie haben das ignoriert; Sie allein tragen die Verantwortung.
In diesem ursächlichen Zusammenhang möchte ich aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Brandt aus dem Jahre 1969 zitieren: „Wir sind die Regierung der sozialen Reformen, wir bringen mehr soziale Gerechtigkeit in unser Land."
— Er mag es gut gemeint haben, meine Damen und Herren, aber Regierungen und Politiker werden nicht nach dem Wollen beurteilt, sondern nach den Taten.
Die Taten waren schlecht.
Meine Damen und Herren, es ist für uns schwer verständlich — und vielleicht können Sie uns da eine Aufklärung geben —, warum Sie unsere soziale Maßnahme für Schwerbehinderte nun verzögern. Sie trauen sich nicht, sie abzulehnen.
— Sie wollen das verzögern, hinausschieben — das ist gerade von Ihrer Kollegin gesagt worden —, während sich Ihr Sprecher, Herr Reuschenbach, für das Vorziehen der flexiblen Altersgrenze auf das 59. Lebensjahr für die Arbeitnehmer in der Stahlindustrie, die in Bedrängnis gekommen sind, einsetzt. Da verstehe ich den Sachverhalt wirklich nicht mehr.
Angesichts solcher Widersprüche muß ich Ihnen, meine Herren von der SPD und der FDP, den Vorwurf machen, daß Sie gar nicht willens sind, den sozial Schwächsten jetzt und sofort zu helfen,
vermutlich vor allem deswegen, weil dieser An-
trag von der Opposition, von der CDU/CSU, kommt.
Meine Damen und Herren, ich bin auch verbittert, denn im Kern betreiben Sie soziale Demontage: beim 20. Rentenanpassungsgesetz, beim 9. Kriegsopferanpassungsgesetz, beim Haushaltsstrukturgesetz,
und nach außen bezichtigen Sie die CDU/CSU der sozialen Demontage.
Ich darf Frau Staatssekretärin Anke Fuchs ansprechen, die am 4. Oktober beim Bund der Kriegsblinden in Mainz vor 2 000 Kriegsblinden sinngemäß folgendes gesagt hat: Ich warne vor jenen konservativen Kräften, die da sagen, die Grenzen des Sozialstaats seien erreicht, ja, sogar überschritten.
Meine Damen und Herren, ohne es offen zu sagen, hat sie auf Franz Josef Strauß angespielt und versucht, ihn zu verdächtigen.
Wir ziehen uns diesen Schuh nicht an.
Ich möchte mit Nachdruck richtigstellen, daß Franz Josef Strauß nie gesagt hat: Bei den Kriegsblinden, bei den Schwerbehinderten, bei den Kriegs- und Wehrdienstopfern, bei den Kleinrentnern sind die Grenzen des Sozialstaats erreicht oder überschritten. Er hat vielmehr jene Kreise gemeint — meine Damen und Herren von der SPD, hören Sie jetzt gut zu —, die als Ergebnis Ihrer Reformeuphorie Sozialleistungen erhalten haben, obwohl sie der Hilfe der Gemeinschaft gar nicht bedurft hätten.
Franz Josef Strauß hat sich immer im sozialen Bereich für einen Härteausgleich eingesetzt. Aber Sie machen ihn zum Buhmann der Nation.
Ich warne vor diesem Weg. Ich möchte Herrn Bundesminister Ertl danken, daß er sich wenigstens in diesem Bereich schützend vor Strauß gestellt hat.
Meine Damen und Herren, zum Schluß bitte ich Sie, dem Überweisungsantrag zuzustimmen. Ich darf die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung bitten, den Gesetzentwurf im Ausschuß zügig und positiv zu behandeln, denn draußen wird dieser Gesetzentwurf dringend erwartet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4651
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, unsere schwerbehinderten älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger haben es nicht verdient, in einer Debatte, in der es um die echten Anliegen dieses Personenkreises geht — ich glaube, da decken sich unsere Meinungen —, zum Objekt einer Polemik zu werden, wie sie leider Gottes bei den Ausführungen der beiden Begründer des Antrags zu spüren. war.
— Darauf komme ich noch, Herr Kollege Glombig.
Ich bedaure dies doppelt, weil wir uns interfraktionell darüber einig waren — ich habe dafür viel Verständnis, und den Verantwortlichen der Opposition danke ich dafür —, daß dieser Personenkreis und dieser Sachverhalt nicht geeignet sind, auf dieser Grundlage Fragen der Rentenfinanzierung, Fragen der Vergangenheit, Fragen des Arbeitsmarktes und alles das, was es an unterschiedlichen Meinungen gibt, zu diskutieren, diese Unterschiede also auf dem Buckel dieses Personenkreises auszutragen. Dies war eine Vereinbarung. Ich muß feststellen, daß beide Sprecher der Opposition sich nicht daran gehalten haben.
— Herr Kollege Burger hat dies bereits in seiner Begründung getan. — Ich sage hier ganz offen, daß ich dem Kollegen Franke gesagt habe, daß wir das bedauern, weil wir im Interesse der Sache und der Fragen, um die es hier geht, eine Vereinbarung ge- troffen hatten.
Deshalb werde ich mich auch nicht zu all den Fragen äußern, obwohl es viel dazu zu sagen gäbe, sondern ich will mich nur auf den Sachverhalt beziehen, um den es hier geht. Ich unterstelle auch nicht, Herr Kollege Geisenhofer, daß nicht jeder — und dieses Haus hat das schon einmal 1972 bewiesen —, der eine Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte beantragt, das Beste will.
Ich muß natürlich feststellen, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem guten Willen und einer entsprechenden Beratung, einem entsprechenden Vertreten vor allen, die damit zu tun haben. Insoweit, nämlich vom Zeitpunkt und von der unterschiedlichen Begründung her — darauf werde ich noch eingehen —, nicht von der Sache her, ist dieser Antrag sehr mit einem Fragezeichen zu versehen.
Als wir alle, meine Damen und Herren, am 22. September 1972 die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte auf 62 Jahre gemeinsam in diesem Hohen Hause beschlossen haben, war dies ein gemeinsamer gesellschaftspolitischer Wille aller Fraktionen des Deutschen Bundestages. Ich möchte hier ganz eindeutig sagen: Dieser Wille, unseren schwerbehinderten älteren Mitbürgern besonders zu helfen, besteht heute und besteht morgen bei den Freien Demokraten — ich möchte sagen: im ganzen Hause — ganz genauso.
Wir waren uns damals auch von vornherein dessen bewußt, daß die Herabsetzung nicht nur ein Problem finanzieller Art sein kann, sondern daß es darüber hinaus gesellschaftspolitisch bedeutsam ist, dem älteren Mitbürger generell mehr Freiheit zu geben. Aber ich muß auch daran erinnern: In den Ausschußberatungen war damals natürlich auch schon klar, daß eine Herabsetzung der Altersgrenze so lange zu Mehrbelastungen führen muß, solange es keine versicherungsmathematischen Abschläge, sondern andere Rentenberechnungen gibt. Da wir alle der Meinung waren und sind, daß versicherungsmathematische Abschläge in diesen Fällen nicht gerechtfertigt erscheinen, muß man sich über weitere Schritte sorgfältiger Gedanken machen, als Sie das bei der Vorbereitung Ihres Antrages jedenfalls getan haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hasinger?
Bitte.
Herr Kollege, da Sie gerade versicherungsmathemateische Abschläge abgelehnt haben: Antworten Sie auf die Frage nach der generellen Möglichkeit von versicherungsmathematischen Zuschlägen im Rahmen der flexiblen Altersgrenze ebenfalls mit einem apodiktischen Nein oder ist Ihre Haltung in diesem Punkt etwas offener?
Wir müssen zwei Dinge unterscheiden, Herr Kollege Hasinger. Ich habe bewußt gesagt: für diesen Personenkreis und für die Herabsetzung der Altersgrenze. Von der Herabsetzung der Altersgrenze für Schwerbehinderte ist jedoch zu unterscheiden die generell freie Wahl, aus dem Arbeitsleben auszuscheiden — mit versicherungsmathematischen ,,Abschlägen" — oder länger im Arbeitsprozeß zu bleiben — mit entsprechenden Zuschlägen. Das ist eine andere Sache. Sie wissen ja, daß wir uns damals auch sehr für Zuschläge bei Weiterarbeit eingesetzt haben. Das ist dann auch Gesetz geworden; insoweit also kein Dissens.
Nun aber noch einmal zurück zu Ihrer Vorlage, vor allem zur Begründung. Sie haben vielleicht zunächst mit der Möglichkeit gerechnet — das geht zumindest aus Ihrer Begründung hervor; diese Überlegungen gab es auch an anderen Stellen —, einen gewissen arbeitsmarktpolitischen Effekt zu erzielen. Frau Kollegin Steinhauer hat schon darauf hingewiesen, wie schwierig es sein wird, einen Arbeitsplatz, der durch Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze freigeworden ist, wieder mit einem Schwerbehinderten zu besetzen, weil eben viele Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz dann einfach einsparen. Zu dieser Einschätzung sind im übrigen im Zusammenhang mit diesem Problem auch die Tarifpartner gekommen: daß es möglicherweise mehr um den Abbau von Arbeitsplätzen gehe bzw. um die Weiterarbeit in Form der Teilzeitbeschäftigung mit 1 000 DM Zusatz als um Neueinstellung.
4652 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Schmidt
Wir wissen auch sehr genau, daß der Arbeitsmarkt trotz der hohen Zahl von Arbeitslosen nur sehr schwer in gleicher Weise qualifizierte Arbeitnehmer für einen freiwerdenden Arbeitsplatz anbieten kann. Oft nehmen gerade Schwerbehinderte hochqualifizierte Arbeitsplätze ein — gerade bei ihnen ist oftmals die Bereitschaft größer, sich besonders zu qualifizieren, weil sie eben den Beweis ihrer Fähigkeit erbringen wollen —; da wird es nicht leicht sein, einen solchen Arbeitsplatz wieder zu besetzen. Insoweit sehen wir nur wenig Chancen, durch Flexibilität, durch Neubesetzung zum jetzigen Zeitpunkt arbeitsmarktpolitisch etwas zu erreichen. Auch der Zeitpunkt Ihrer Vorlage ist eben problematisch.
Eine weitere Bemerkung zu dem Personenkreis, der in Frage käme, und den sich aus der vorgeschlagenen Gesetzesänderung ergebenden Kosten. Die Zahl von 21 000 bis 22 000 Personen ist, wie Sie auch wissen, Herr Kollege Geisenhofer, eine Annahme. Es gibt nur fortgeschriebene Zahlen. Im Moment gibt es ja, wie Sie selbst sagen, überhaupt nur Annahmen: 75 % Inanspruchnahme, wobei sich die Frage stellt, ob diese 75 % überhaupt die Grenze von 35 Jahren erreicht und alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt haben. Das alles sind offene Fragen. Damit ist auch kaum zu beweisen, daß die von Ihnen vorausgesagten 300 Millionen DM ausreichen wenden bzw. daß ein Teil davon durch Wiedereinstellung und sich daraus ergebende Beitragsleistungen ausgeglichen werden könnte, so daß Sie auch vom Kostenfaktor her — ich will gar nicht höhere Zahlen anführen — der Verantwortung, zum richtigen Zeitpunkt etwas Vernünftiges zu tun, nicht gerecht werden. Das kann nur im Gesamtüberblick erfolgen. Die beste Begründung, daß dies nur im Gesamtüberblick geschehen kann, hat ja der Kollege Burger mit geliefert, indem er polemisch auf die Rentenfinanzen einging, andererseits aber deutlich machte, wie sehr wir den Gesamtüberblick nach Vorlage eines Rentenberichtes im Zusammenhang mit dem 21. Rentenanpassungsgesetz brauchen, um neue Fragen und auch diese Frage prüfen zu können. Es wäre also wenig hilfreich, heute darüber zu entscheiden, und es läge nicht im Interesse der Betroffenen, vorher Entscheidungen im Ausschuß zu treffen. Hier haben sich — ich muß es noch einmal sagen — die Begründer etwas unterschiedlich verhalten. Der Kollege Burger hat „sorgfältige Beratung" gesagt. Darunter habe ich verstanden, daß wir sorgfältig im Rahmen der Vorlage des Rentenberichtes, im Rahmen des Gutachtens des Sozialbeirates und auch angesichts der Notwendigkeit der weiteren Konsolidierung der Rentenversicherung diesen Punkt einbeziehen.
Aber der Kollege Geisenhofer hat das, weil Frau Kollegin Steinhauer darauf hingewiesen hat, als eine Verschiebung angesehen. Er hat gemeint, das müsse möglichst schnell geschehen. Hier sollten Sie sich mal einigen, ob nicht die von Ihnen gezeigte Verantwortung im Rahmen der sorgfältigen Beratung das Richtigere ist.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Franke, Frau Steinhauer hat darauf hingewiesen, daß das im Rahmen des 21. Rentenanpassungsgesetzes zur Disposition steht. Dem hat Herr Geisenhofer entgegengehalten, das sei Verschiebung. Kollege Burger hat eben hier bestätigt, daß er es auch so sieht: Beratung im Gesamtüberblick, nach der Vorlage des Rentenberichts.
— Die sorgfältige Beratung — nun müssen wir doch ein bißchen in die Details gehen — kann sowieso erst im Januar/Februar erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt liegt der Rentenbericht vor. — Sind wir uns da einig? — Okay.
— Das ist sicher nicht der Fall. Es wird verabschiedet, wenn der Rentenbericht vorliegt und sich die Beratungen daran anschließen. Dann liegt ja auch ein Gutachten über die Dinge vor. Aber wir wollen nicht in die Details gehen; das ist Sache des Ausschusses.
Lassen Sie mich zu der ersten Begründung zurückkehren. Der Kollege Burger hat einleitend gesagt: Schwerbehinderte sollen schon mit 60 Jahren aufhören dürfen. Wir sollten uns alle bemühen, daß wir dies eines Tages im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten unseren schwerbehinderten Mitbürgern ermöglichen können. Wir müssen es aber auch vor den Beitragszahlern verantworten, wir müssen es verantworten vor der Gesamtfinanzierung, und wir müssen es auch für die nächste und die übernächste Legislaturperiode verantworten. Es ist nicht, wie es zunächst aussieht, etwas, was man so leicht über die Bühne bringen kann. Für uns Freie Demokraten geht es um eine bedeutsame und verantwortungsvolle Aufgabe. Das wollen wir durch Überweisung an den Ausschuß und durch Einbeziehung in die Beratungen zum 21. RAG endgültig bekunden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der Opposition, aber auch die Debattenbeiträge der Abgeordneten Burger und Geisenhofer machen es notwendig, daran zu erinnern, daß die Einführung der flexiblen Altersgrenze durch die sozialliberale Koalition ein ganz entscheidender Schritt war, der individuell freiheitliche Bestimmungsmöglichkeiten in die Sozialversicherung brachte. Ihr Gesetzentwurf beweist — neben vielem anderem, auf das ich noch zu sprechen kommen will —, daß Sie sich, wenn auch spät, zu den sozialpolitischen Grundsätzen der Koalition bekennen. Hier muß daran erinnert werden, daß der Abgeordnete Barzel in der Abschlußdebatte der sozialpolitischen Gesetzgebung des Jahres 1972 — damals mit dem ganzen Gewicht des CDU/CSU-Frak-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4653
Bundesminister Dr. Ehrenberg
tionsvorsitzenden — im Zusammenhang mit der flexiblen Altersgrenze von einer leichtfertig genährten Hoffnung sprach. Das sagte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU 1972.
Ich glaube, daran muß man erinnern, wenn man den Stellenwert dessen, was Sie jetzt vorlegen, richtig beurteilen will.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hasinger?
Ich habe keine Veranlassung, die Abgeordneten der CDU besser zu behandeln, als der Abgeordnete Geisenhofer meine Fraktionskollegen behandelt hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Franke, ich rufe Sie wegen Ihres Zwischenrufes zur Ordnung.
Es wurde auch Zeit, daß Sie einmal einen Ordnungsruf bekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, ich muß Sie darauf hinweisen, daß ordnungsleitende Bemerkungen des Präsidenten nicht Gegenstand der Diskussion sind.
Das muß ich respektieren. Ich habe nur von dem Recht, auf Zwischenfragen nicht zu antworten, so Gebrauch gemacht, wie der Kollege Geisenhofer das tat.
— Herr Franke, wir können auch in einen Dialog eintreten, wenn Sie Wert darauf legen.
— Mit Ihnen möchte ich das nicht.
Sie haben hier einen Gesetzentwurf über einen sehr dringlichen, sehr notwendigen und sozialpolitisch höchst wünschenswerten Tatbestand vorgelegt. Nur haben Sie mit keinem Satz, mit keiner Silbe gesagt, wie dieses notwendige, dringliche Anliegen finanziert werden soll. Gerade nach dem,
Herr Kollege Geisenhofer, was Sie selber von diesem Pult aus über die Rentenfinanzen gesagt haben, ist das nicht zu verstehen. Das Gebaren desjenigen, der wie Sie von der Bundesregierung sagt, daß sie mehr ausgebe als einnehme, und selbst einen Gesetzentwurf vorlegt, dessen Realisierung bis 1981 1,5 Milliarden DM kosten würde, und das, losgelöst von jedem finanziellen Zusammenhang, jetzt schnell verabschiedet haben will, muß man schlicht als finanziell unseriös bezeichnen.
So kann man nicht partiell mit Finanzdispositionen umspringen. Auch Sie wissen selbstverständlich — es ist genug darüber berichtet worden —, daß sich das Bundeskabinett bereits am 14. September mit der Frage der flexiblen Altersgrenze für Behinderte beschäftigt hat und daß der Bundesarbeitsminister vom Kabinett den Auftrag bekommen hat, die Möglichkeiten, die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen, aber natürlich auch die Finanzierbarkeit zu prüfen. Ich würde mir höchst unseriös vorkommen, hier eine Detailprüfung ohne den unveränderlichen Gesamtzusammenhang des 21. Rentenanpassungsgesetzes vorzunehmen. Wer dazu den Kopf schüttelt oder das ablehnt, der will Probleme lösen, die nicht partiell, sondern nur im Gesamtzusammenhang lösbar sind. Dafür gibt es keine bessere 'Bezeichnung als „unseriös".
Herr Kollege Geisenhofer, eine Bemerkung muß ich im Anschluß an das, was Sie in Erwiderung auf die Ausführungen der Kollegin Steinhauer gesagt haben, wirklich noch machen. Sie haben die Sozialdemokraten davor gewarnt, Franz Josef Strauß zum Buhmann der Nation zu machen. Herr Kollege Geisenhofer, die Warnung an die Sozialdemokraten ist nicht nötig. Dafür sorgt Franz Josef Strauß selber.
Wenn die Bürger das mal vergessen, dann fährt er rechtzeitig nach Chile, damit es wieder alle wissen, welchen Stellenwert er hat.
— Was das soll? Es darf also nur Herr Kollege Geisenhofer so etwas sagen, wir nicht.
Ich bitte Sie, diesen Stellenwert so zu beurteilen, wie er zu beurteilen ist.
Ich bitte sie sehr herzlich, sozialpolitisch dringliche Anliegen nicht dadurch in einen falschen Zusammenhang zu bringen, daß sie ohne Finanzierungsvorschläge und aus dem notwendigen Gesamtzusammenhang herausgelöst dargestellt werden. Wir werden bei der Beratung des Rentenanpassungsberichts und des 21. Rentenanpassungsgesetzes auch die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen einer Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze sehr sorgfältig zu prüfen haben. Ich würde Sie sehr darum bitten, selber einmal Gespräche mit Personalchefs von Unternehmungen darüber zu führen, ob denn
4654 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Bundesminister Dr. Ehrenberg
ernsthaft damit zu rechnen ist, daß diese Plätze neu besetzt werden, möglichst mit Behinderten, oder ob nicht bei der anhaltenden Wirtschaftsschwäche die große Gefahr besteht, daß diese Plätze nicht neu besetzt,. sondern eingespart werden.
Bei jeder notwendigen Aufrechnung der Gesamtkosten der Sozialversicherung, bei der man ja nicht nur die Rentenversicherung, sondern selbstverständlich auch die Arbeitslosenversicherung sehen muß, muß man sehr sorgfältig zu erfassen versuchen, mit welcher Wiederbesetzungsquote bei einer solchen Maßnahme denn wohl zu rechnen ist.
— Verehrter Herr Kollege Katzer, das ist kein Argument gegen die Notwendigkeit und Dringlichkeit dieser Maßnahme.
Es ist aber wohl ein Argument, wenn man sich über die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen Klarheit verschaffen will. Dann darf man ja wohl nicht mit einer Wiederbesetzungsquote von 100% rechnen, sondern man sollte sich bemühen, sorgfältig zu erfassen, wieviel es sein können. Auch 75 % halte ich für zu hoch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burger?
Herr Minister, Herr Kollege Katzer hat eben auf das Schwerbehindertengesetz hingewiesen. Berücksichtigen Sie nicht die Pflichtquoten, die wir dort haben? Und denken Sie nicht daran, daß wir heute moderne Rehabilitationszentren haben, die Schwerbehinderte auf vollen beruflichen Einsatz im Arbeitsleben vorbereiten, wodurch die Menschen im Gegensatz zu früher wettbewerbsfähig sind? Sehen Sie da nicht eine viel größere Chance zur Besetzung der Pflichtplätze?
Herr Kollege Burger, für die Rehabilitationszentren haben wir in den letzten sieben Jahren viel getan.
Vorher gab es davon sehr viel weniger. Ich berücksichtige das wohl. Aber trotz der Pflichtquoten, trotz der Rehabilitationszentren gibt es arbeitslose Schwerbehinderte, leider viel zu viel. Diesen Effekt müssen Sie doch sehen. Es wäre höchst leichtfertigt, jetzt so zu tun, als wäre die Wiederbesetzung- von vornherein in der von Ihnen angenommenen Höhe gegeben.
Daß die von Ihnen genannten Tatbestände begünstigend hinzukommen, darüber gibt es gar keinen Zweifel. Nur wird das allein für eine Wiederbesetzung nicht reichen. Da wird noch eine ganze Menge von gutem Willen bei den Unternehmern und effektiver Arbeitsvermittlung hinzukommen müssen, um das zu erreichen.
Aber, es sei nochmals gesagt, auch wenn die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen kleiner sein sollten, als Sie annehmen — ich fürchte, sie werden kleiner sein —, ändert das nichts an den sozialpolitisch dringlichen Anliegen dieser Maßnahme. Aber es ändert auch nichts daran, daß man das nicht aus dem Gesamtfinanzzusammenhang herausnehmen und nicht isoliert verabschieden darf. Wir müssen es vielmehr sorgfältig prüfen im Rahmen aller Bemühungen, im Zusammenhang mit dem 21. Rentenanpassungsgesetz Einnahmen und Ausgaben der Rentenversicherung in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu halten. Nur wenn wir das Problem also nicht isoliert angehen, werden wir es lösen können.
Gerade vor dem Hintergrund Ihres Gesetzentwurfes möchte ich Sie sehr herzlich darum bitten, auch in der Öffentlichkeit mehr als bisher auch Ihrerseits den Eindruck zu hinterlassen, daß die Rentenfinanzen seit 1957 untrennbar mit der wirtschaftlichen Entwicklung verbunden sind.
— Bei vielen Ihrer Ausführungen kann man heute leider nicht sehen, daß Sie das wissen!
Wenn Sie es wüßten, hätten Sie diesen Gesetzentwurf zum 21. RAG und nicht isoliert eingebracht, und Sie würden nicht von „Verschiebung" reden, wie der Kollege Geisenhofer es tut, wenn die Kollegin Steinhauer auf das 21. Anpassungsgesetz verweist.
Diesen Zusammenhang gilt es zu wahren. Die Bundesregierung ist bereit, in diesem Zusammenhang das Problem mit Vordringlichkeit zu prüfen. Eine unverzichtbare Grundbedingung ist allerdings, daß es geeignete Finanzierungsmöglichkeiten gibt. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch die Opposition diese unverzichtbare Grundbedingung respektieren und nicht versuchen würde, in der Öffentlichkeit und bei den Verbänden den Eindruck zu erwecken, Sie hätten dieses Problem, an dem wir seit langen Zeiten sorgfältig arbeiten, auf den Tisch gelegt. Ich kann Ihnen nur versichern, wir werden das mit aller gebotenen Sorgfalt im Gesamtzusammenhang des 21. Rentenanpassungsgesetzes — und nicht isoliert — behandeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/1087 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Innenausschuß — mitberatend — sowie an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung — zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4655
Präsident Carstens
Ich rufe nunmehr Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hauser , Dr. Zeitel, Schmidhuber, Müller (Remscheid), Franke, Lampersbach, Engelsberger, Schedl, Dr. Schwarz-Schilling, Neuhaus, Dreyer, Feinendegen, Dr. George, Gerstein, Haberl, Dr. Hammans, von der Heydt Freiherr von Massenbach, Frau Hoffmann (Hoya), Dr. Hubrig, Dr. Jobst, Kroll-Schlüter, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Langner, Pohlmann, Dr. Ritz, Sick, Tillmann, Dr. Unland, Frau Will-Feld, Frau Dr. Wilms, Wissmann, Würzbach, Biehle, Dr. Stavenhagen und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
, eines Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes
— Drucksache 8/1105
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Schedl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat Ihnen auf Drucksache 8/1105 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes vorgelegt, den ich kurz wie folgt begründen darf.
Im Rahmen der Bemühungen um ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot wurde und wird draußen in der Diskussion von den Betrieben immer wieder u. a. auch das Schwerbehindertengesetz angesprochen, und zwar in folgendem Sachzusammenhang:
Nach § 6 Abs. 1 dieses Gesetzes sind bei der Arbeitsplatzerfassung die Plätze von Auszubildenden mitzuzählen. Von der Zahl der Arbeitsplätze hängt aber die Höhe der Ausgleichsabgabe ab, die zu zahlen ist, wenn in einem Betrieb keine oder nicht genug Schwerbehinderte beschäftigt sind. Für eine Reihe von Betrieben ergibt sich hieraus eine sehr beträchtliche Steigerung der Ausgleichsabgabe, falls sie auch nur einen Auszubildenden mehr als bisher einstellen. Daß eine derartige Vorschrift die Ausbildungsbereitschaft nicht fördert, braucht wohl nicht mehr besonders betont zu werden.
Die Mobilisierung der letzten Reserven an Ausbildungsplätzen im Bereich der Wirtschaft ist, so meinen wir, ein wichtiges Ziel, das alle Fraktionen in diesem Hause vor Augen haben müssen. Deshalb kommt dem Abbau dieser Vorschrift, weil sie eben in diesem Zusammenhang als eine ausbildungshemmende Vorschrift anzusehen ist, wie wir meinen, erhebliche Priorität zu. Diese arbeits- und ausbildungsmarktpolitische Komponente ist möglicherweise zum Zeitpunkt der parlamentarischen Verabschiedung dieses Gesetzes Anfang 1974 nicht in al- len Konsequenzen gesehen worden, nicht zuletzt deshalb, weil ja damals am Ausbildungsmarkt die
Zahlen noch ganz anders waren, als das heute der Fall ist.
Daß sich die Einbeziehung dieser Zahlen besonders bei mittelständischen und handwerklichen Betrieben deutlich auswirkt, ist selbstverständlich, wenn man diesen Zusammenhang sieht. In strukturschwachen Gebieten, in denen vielfach keine Großbetriebe für eine Berufsausbildung zur Verfügung stehen, bildet das Potential der kleinen Ausbildungsbetriebe aber nach wie vor das wichtigste Reservoir für zusätzliche Ausbildungsplätze, die wir in den nächsten beiden Jahren angesichts der Zahl der Auszubildenden brauchen. Diese Gründe haben uns bewogen, den Antrag zu stellen, daß der frühere Rechtszustand wiederherzustellen ist und daß die Ausbildungsplätze nicht als Pflichtplätze im Sinne des § 6 Abs. 1 des Schwerbehindertengesetzes zählen sollen.
Der zweite Teil der von unserer Fraktion vorgelegten Änderungsinitiative zielt auf eine weitere Entlastung im Kostenbereich. Wir alle wissen — gerade nach den letzten gutachtlichen Äußerungen der Wirtschaftswissenschaftler —, daß die diesbezügliche Belastung bei den kleinen und mittleren Betrieben die Grenze des Erträglichen erreicht, in vielen Fällen bereits überschritten hat. Nach dem bis 1974 gültigen Recht waren schwerbehinderte Arbeitgeber in kleinen Betrieben auf die Pflichtzahl anzurechnen. Diese Anrechnungsmöglichkeit war insbesondere dann sinnvoll, wenn der Arbeitgeber in der Arbeitsausübung nicht unerheblich behindert oder wenn die Beschäftigung von Schwerbehinderten in seinem Betrieb nach der Lage des Arbeitsmarktes besonders erschwert war. Auch diese Möglichkeit ist mit der Novellierung vom 29. April 1974 weggefallen. Damit ist eine gesetzliche Benachteiligung eingetreten, die ich an einem Beispiel verdeutlichen möchte:
Der Inhaber eines Unternehmens mit ca. 50 Beschäftigten ist mit einem Behinderungsgrad von 70 % — z. B. wegen einer Beinamputation — grundsätzlich als Schwerbehinderter anerkannt. Durch seine Behinderung wird er zweifelsfrei in der Ausübung seiner Tätigkeit erheblich beeinträchtigt. Trotzdem wird er nicht auf die drei auf sein Unternehmen — nach dem jetzigen Gesetzesstand — entfallenden Pflichtplätze anerkannt. Da die Eingliederung von Schwerbehinderten gerade in seiner Unternehmensgröße nachweislich sehr schwierig ist, ohnehin häufig auch entsprechende Schwerbehinderte auf dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen, muß dieser schwerbehinderte Arbeitgeber eine finanzielle Mehrbelastung für sein Unternehmen in Höhe von 1 200 DM hinnehmen, der nach unserer Auffassung — da eben der Arbeitgeber nicht auf die Pflichtplätze angerechnet wird — jegliche Berechtigung fehlt. Dieser Tatbestand ist bei der Beratung im Jahre 1974 zwar diskutiert worden, aber doch nicht endgültig entsprechend gewürdigt worden.
Ein besonders schwieriges Problem entsteht häufig bei kleinen und mittleren Unternehmungen, die einen hohen Anteil von Frauenarbeitsplätzen haben und in denen die vollständige Besetzung der
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Schedl
Pflichtplätze nahezu ausgeschlossen ist. Gerade weil der betroffene Personenkreis schwerbehinderter Betriebsinhaber klein ist, ist auch nicht einzusehen, warum § 5 Abs. 3 der alten Fassung, der im Einzelfall für den betroffenen Arbeitgeber durchaus bedeutungsvoll war, gestrichen wurde. Wir möchten gerne auch hier den alten Gesetzesstand wiederherstellen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Gesetzentwurf ist sicher schon von vielen kritisch betrachtet worden. Am Nicken des Kollegen Gansel sehe ich, daß die Kritik unter Umständen gleich folgen wird. Man könnte auch böswillig sagen: Es handele sich im Schwerbehindertenbereich um einen Schritt in die falsche Richtung. Diese Würdigung wäre absolut falsch.
Wir meinen, daß es angesichts der Belastung gerade der kleinen und mittleren Unternehmungen mit einem schwerbehinderten Unternehmensinhaber und angesichts der überschaubar kleinen Zahl der Betroffenen durchaus gerechtfertigt ist, einen solchen Schritt zu unternehmen. Dieses Gesetz bringt im übrigen für die Schwerbehinderten praktisch keine Nachteile, würde aber für die anderen erhebliche Besserstellungen bringen.
Meine verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie im Namen der ,CDU/CSU-Fraktion dieser Änderung des Gesetzes für Schwerbehinderte zuzustimmen. Ich weise Sie noch einmal darauf hin, daß wir damit keinerlei soziale Schlechterstellung beabsichtigen, sondern daß wir damit Schranken abbauen wollen, um erhebliche Verbesserungen .am Ausbildungsplatz und Arbeitsmarkt zu erreichen, die wir für zwingend notwendig halten.
Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Schedl, passagenweise war ich mir bei Ihrer Rede im unklaren, ob Sie noch für die CSU gegen den Antrag der CDU/CSU auf Senkung der flexiblen Altersgrenze sprachen oder ob Sie schon für die CSU für den CDU/CSU-Antrag zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes sprechen wollten.
Es gibt manchmal Situationen, da scheint es so, als sollte nur ein Detail geändert werden. Aber oft ist es so — das wissen wir alle —, daß der Teufel im Detail steckt. Manchmal ist es sogar eine richtige Massenversammlung von Teufeln. So ist das bei Ihrem heute vorgelegten Antrag.
Die CDU/CSU beantragt nämlich heute, das Schwerbehindertengesetz so zu ändern, daß bei der Berechnung der Zahl der Pflichtplätze für behinderte Arbeitnehmer die Auszubildenden nicht mehr und die Arbeitgeber wieder berücksichtigt werden sollen. In nur leicht polemischer Kürze — ich werde es nachher ausführen —: ein Antrag für Arbeitgeber und gegen Auszubildende.
Wir werden diesen Antrag in der Sache ablehnen, ¿C aber aus Gründen der parlamentarischen Fairneß eine Überweisung an den Ausschuß akzeptieren.
Unsere Haltung zu dem Unionenantrag ist bereits vor drei Wochen auf dem Hamburger Parteitag klargestellt worden — ich darf aus einem Beschluß zitieren, Frau Präsidentin —:
Die Arbeitnehmer haben Anspruch auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Die Arbeitswelt ist nicht nur ein Teil des Lebensinhalts der Arbeitnehmer, sondern sie bestimmt auch weitgehend Familienleben, Freizeitverhalten und Stellung in der Gesellschaft. Die Modernisierung der Wirtschaft und die qualitative Verbesserung der Arbeitswelt müssen Hand in Hand gehen. Die Humanisierung der Arbeitswelt ist ständige gesellschaftspolitische Aufgabe. Die SPD weist alle Versuche zurück, den von ihr geschaffenen und ausgebauten Arbeitsschutz, wie Jugendarbeitsschutzgesetz, Schwerbehindertengesetz und Arbeitssicherheitsgesetz, unter dem Vorwand wirtschaftlicher Zwänge abzubauen.
Die CDU/CSU beruft sich auf einen wirtschaftlichen Zwang, auf den Zwang, Ausbildungsplätze für Jugendliche schaffen zu müssen. Über diesen Zwang brauchten wir heute allerdings nicht zu diskutieren, wenn die private Wirtschaft ihr Versprechen, in diesem Jahr 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen, auch. eingehalten hätte. Die CDU/CSU nimmt diesen Zwang aber auch nur zum Vorwand. Tatsächlich wird durch ihren Antrag nämlich kein einziger zusätzlicher Ausbildungsplatz garantiert. In der Begründung heißt es wortwörtlich, daß die „Ausbildungsfreudigkeit" der Unternehmen erhöht werden soll. Wir tadeln hier auch die Sprachverwirrung, denn von der privaten Wirtschaft ist nicht Ausbildungsfreudigkeit, sondern Ausbildungspflichtbewußtsein zu fordern.
Der Antrag der Union bedeutet schließlich nicht einen Ausbau, sondern einen Abbau des Schwerbehindertengesetzes.
— Herr Burger, was gibt es? Ich gestatte die Zwischenfrage.
Herr Abgeordneter Burger, Sie haben die Erlaubnis zu einer Zwischenfrage schon bekommen. Bitte schön.
Herr Kollege Gansel, vielen Dank, daß Sie mir Gelegenheit zu einer Frage geben.
Ich weiß, daß Sie immer kommen.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie diesen Satz auch aufrechterhalten, wenn ich Sie darauf hinweise, daß wir in Drucksache 8/439 — Antrag der Fraktion der CDU/CSU, Programm zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungs-
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Burger
platzangebotes; ich frage Sie zugleich, ob Sie dies gelesen haben — folgendes gefordert haben:
Um insbesondere der mittelständischen Wirtschaft die Einstellung zusätzlicher Auszubildender zu erleichtern, sollen Ausbildungsplätze nicht mehr als Arbeitsplätze zählen; schwerbehinderte Jugendliche sind auf das Pflichtplatzsoll anzurechnen.?
Was ist daran eine Aushöhlung des Schwerbehindertenrechtes? .
Das letztere, die Anrechnung ist geltendes Recht. Ich werde Ihnen das nachher noch im einzelnen erklären. Im übrigen bedanke ich mich für die Zwischenfrage. Ich weiß, daß Sie immer zu meinen treuesten Zuhörern gehören, Herr Burger.
Die Union greift mit ihrem harmlos erscheinenden Antrag des Kern des Schwerbehindertengesetzes an, nämlich die Beschäftigungspflicht und die Ausgleichsabgabe, indem sie die Berechnungsgrundlagen verändern will. Deshalb sind ein paar grundsätzliche Bemerkungen angebracht.
Eine Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber gegenüber Schwerbehinderten ist notwendig, weil, um die von der Union gewählte Sprache gegen sie selbst zu wenden, die „Beschäftigungsfreudigkeit" der Arbeitgeber gegenüber behinderten Arbeitnehmern konstant unterentwickelt geblieben ist. Wir haben unter Mißachtung strikt marktwirtschaftlicher Prinzipien Betriebe mit weniger als 16 Beschäftigten von der Beschäftigungspflicht entbunden, um ihnen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber größeren Unternehmen zu verschaffen. Erst bei Unternehmen mit 16 und mehr Beschäftigten beträgt der Pflichtsatz für die Einstellung schwerbehinderter Arbeitnehmer 6 % der Arbeitsplätze. Als Arbeitsplatz gelten — so heißt es in § 6 des Schwerbehindertengesetzes — „alle Stellen, auf denen Arbeiter, Angestellte, Beamte, Richter sowie Auszubildende und andere zu ihrer beruflichen Bildung Eingestellte beschäftigt werden".
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stutzer?
Ja.
Herr Kollege Gansel, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß es im gesamten Bundesgebiet — auch in Ihrem Wahlkreis Kiel — eine ganze Anzahl von Betrieben, insbesondere im Handwerk, gibt, die 14 oder 15 Beschäftigte haben und die dann, wenn sie jetzt zusätzlich einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen, so daß sie auf 16 Beschäftigte kämen, wahrscheinlich eine Ausgleichsabgabe zahlen müßten, also obendrein noch bestraft würden, weil sie zusätzlich Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, da sie qualifizierte schwerbeschädigte Facharbeiter nicht bekommen? Sie wissen ja, daß bei 16 und mehr Beschäftigten
entweder ein Schwerbehinderter eingestellt werden muß oder die Ausgleichsabgabe gezahlt werden muß. Sie kommen von der Ausgleichsabgabe heute nicht mehr frei.
Über dieses Thema diskutieren wir heute. Deshalb habe ich hier das Wort ergriffen. Wenn Sie noch einen Augenblick Geduld haben, werden Sie auf diese Frage die angemessene Antwort bekommen.
Ich will es noch einmal klarmachen, weil bei der Union offenbar eine elementare Unkenntnis über das Schwerbehindertengesetz existiert.
— Warten Sie nur ab. Ich war auch erstaunt, als ich dies schwarz auf weiß feststellte.
Sie wollen die „Auszubildenden und andere zu ihrer beruflichen Bildung Eingestellte" streichen, obwohl Sie eigentlich wissen müßten, daß diese Gruppe mit folgender Begründung in das neue Schwerbehindertengesetz einbezogen worden ist — ich zitiere aus den Materialien —:
Dadurch
— durch diese neue Regelung —
wird die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber auch auf diesen besonders schutzbedürftigen Personenkreis
— nämlich die behinderten Jugendlichen —
ausgedehnt, dessen Vermittlung in eine der genannten Stellen sich im Gegensatz zu der Vermittlung Nichtbehinderter oft sehr schwierig gestaltete. Die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber umfaßt danach künftig die Pflicht, Ausbildungsplätze und sonstige Stellen zur beruf- lichen Bildung auch für Schwerbehinderte zur Verfügung zu stellen und Schwerbehinderte zu ihrer Berufsausbildung oder sonstigen beruflichen Bildung einzustellen.
„Verpflichtung" heißt es in den Materalien. Die Unionen begründen ihren heutigen Antrag auf Drucksache 8/1105 — ich muß wiederum zitieren, Frau Präsidentin — folgendermaßen:
Die Einbeziehung der Ausbildungsplätze in § 6 hat nicht zur Folge, daß die Betriebe zur Ausbildung schwerbehinderter Jugendlicher verpflichtet werden. Das Schwerbehindertengesetz kennt keine personen- bzw. personengruppenbezogene Beschäftigungspflicht unter Schwerbehinderten.
Damit beweisen Sie nicht nur Ihre Unkenntnis der Entstehung des Gesetzes, sondern Sie beweisen auch Ihre Unkenntnis des Gesetzestextes selbst. Der § 5 des Gesetzes lautet nämlich — wiederum muß ich um Erlaubnis bitten, zu zitieren —:
Beschäftigung besonderer Gruppen
Schwerbehinderter
Unter den Schwerbehinderten, die von den Arbeitgebern nach § 4 zu beschäftigen sind,
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Gansel
müssen sich in angemessenem Umfang befinden
1. Schwerbehinderte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 80 v. H.,
2. Schwerbehinderte, die das 55. Lebensjahr vollendet haben,
3. sonstige nach Art und Schwere ihrer Behinderung besonders betroffene Schwerbehinderte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schedl?
Wenn Sie nur Ihre Gesetzeskenntnisse verbessern und mich nicht im Redefluß hemmen wollen — gern!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gansel, ich möchte nicht Ihren Redefluß hemmen, sondern Sie folgendes fragen. Ohne daß wir jetzt in ein diffiziles Auseinanderlegen von Nebensätzen und Paragraphen kommen — was zwar unsere Aufgabe ist, aber nicht unsere alleinige Aufgabe — ist meine Frage an Sie folgende: Würden Sie dieser unserer Änderung zustimmen, wenn wir damit wollen, daß Ausbildungsplätze nicht als Arbeitsplätze gezählt werden und damit der ausbildungsplatzhemmende Faktor entfällt, aber selbstverständlich alle Vergünstigungen behinderter Auszubildender nach wie vor in vollem Umfang erhalten bleiben?
Wenn Sie damit eine Ausbildungspflicht dieser Betriebe akzeptieren: ja. Darauf komme ich noch zum Schluß. Aber dies wäre bei Ihnen ja etwas völlig Neues. Immerhin: Wenn Sie lernfähig sind, dann wäre das eine Entwicklung.
Aber nun passen Sie auf! Es geht weiter. Ich habe also aus dem Gesetz vorlesen müssen, daß hier wortwörtlich von dem personengruppengezogenen Schutz die Rede ist, dessen Existenz Sie in Ihrer Begründung schlichtweg abstreiten. Daß mit jener Ziffer 3 in § 5 auch Jugendliche gemeint sind, ergibt sich übrigens aus § 7 Abs. 7 des Gesetzes, der die Anrechnung eines Schwerbehinderten, der zu einer beruflichen Ausbildung beschäftigt wird, auf mehr als einen Pflichtplatz zuläßt.
Am 29. September 1975 haben die Unionen in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung betreffend Ausbildungschancen für behinderte Jugendliche erklärt — ich darf zitieren —:
Unser Staat ist aus Gründen der Solidarität mit den behinderten Jugendlichen verpflichtet, diesen eine Berufsbildung zu ermöglichen, die es ihnen trotz ihrer Behinderung erlaubt, sich im Arbeitsleben zu behaupten. Behinderte Jugendliche müssen es als besondere Diskriminierung empfinden, wenn ihnen kein geeigneter Ausbildungsplatz oder später Arbeitsplatz zur Verfügung steht.
Sie rufen nach dem Staat und kennen noch nicht einmal Gesetze, die hier einstimmig beschlossen
worden sind. Sie reden von Pflicht des Staates und kennen Ihre Pflichten nicht. Sie sprechen von Diskriminierung und diskriminieren selbst.
Sie haben am 5. Januar 1976 eine weitere Kleine Anfrage eingebracht, betreffend — laut Überschrift — wachsende Sorge um schwerbehinderte Arbeitnehmer.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stutzer?
No, nein, danke. — Damals, als Sie diese Anfrage einbrachten, waren 32 000 Schwerbehinderte arbeitslos. Wie sieht denn Ihre „wachsende Sorge" heute aus, da wir 42 000 arbeitslose Schwerbehinderte haben? Dadurch, daß allein die 1,3 Millionen betriebsgebundener Ausbildungsplätze Ihrem Antrag gemäß bei der Berechnung der Stellen pauschal weggestrichen würden, würden bis zu 80 000 Pflichtplätze für Schwerbehinderte vernichtet.
Welche Auswirkungen würde das haben? Der verbesserte Kündigungsschutz der Schwerbehinderten würde -es zwar verhindern, daß diejenigen entlassen werden, die jetzt auf den von Ihnen zu streichenden Pflichtplätzen beschäftigt sind. Diejenigen aber, die eine Arbeitsstelle suchen, würden weniger Aussicht haben, einen Arbeitgeber zu finden, der einen Schwerbehinderten einstellen will, um die für den unbesetzten Pflichtplatz fällige Ausgleichsabgabe zu sparen. Sie würden also die Vermittlung arbeitsloser Schwerbehinderter schwerstens behindern.
Sie würden auch keine zusätzlichen Ausbildungsplätze garantieren können; denn eine allgemeine Ausbildungspflicht kennen sie nicht, und wo es eine besondere gibt, z. B. im Schwerbehindertengesetz für behinderte Jugendliche, erkennen sie sie nicht an,
weil sie nicht mit finanziellen Sanktionen verbunden ist.
Sie würden auch kleinen und mittleren Betrieben nicht gezielt helfen, denn Ihr Antrag bezieht sich auf alle Arbeitgeber, große und kleine, private und öffentliche. Sie würden auch nicht die gesetzestreuen Betriebe honorieren, die nämlich alle Pflichtplätze mit Schwerbehinderten besetzt haben. Nein, von Ihrer Gesetzesänderung würden nur die Arbeitgeber profitieren, die für jeden unbesetzten Pflichtplatz die gesetzliche Ausgleichsabgabe von 100 DM monatlich zu entrichten haben.
Die Beschäftigung Schwerbehinderter ist Pflicht; § 4 des Gesetzes. Wer sie verletzt, begeht eine Ordnungswidrigkeit; § 57 des Gesetzes. Die Zahlung der Ausgleichsabgabe hebt die Pflicht zur Beschäf-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4659
Gansel
tigung Schwerbehinderter nicht auf; § 8 Abs. 1. Es ist keine Unsitte, sondern Unrecht, wenn manche Arbeitgeber lieber die Ausgleichsabgabe zahlen, als Behinderte zu beschäftigen. Die übelste Form der Diskriminierung arbeitsloser Schwerbehinderter wäre deshalb eine Prämiierung rechtswidrig handelnder Arbeitgeber, indem ihre Zahlungsverpflichtung herabgesetzt wird.
Bis zu 80 000 vernichtete Arbeitspflichtplätze bedeuten — jetzt komme ich wohl zu Ihrem eigentlichen Thema — eine Entlastung privater Arbeitgeber von der Ausgleichsabgabe in Höhe von 100 Millionen DM jährlich. Geht es Ihnen um eine pauschale Entlastung für Große und Kleine, Gerechte und Ungerechte? Nein, nicht für Gerechte, sondern nur für Ungerechte; siehe oben.
Sagen Sie nicht, das sei für die Klimaverbesserung in der deutschen Wirtschaft notwendig. Allein die steuerlichen Entlastungen vom 1. September 1977 und vom 1. Januar 1978 betragen 3,5 Milliarden DM für die Privatwirtschaft,
d. h. fünfunddreißigmal soviel wie Ihr Änderungsantrag zum Schwerbehindertengesetz. Man kann doch mit der Gießkanne keine Klimaverbesserung erreichen.
Deshalb, meine Damen und Herren, lautet mein Vorschlag: Wenn wir über das Problem zusätzlicher Ausbildungsplätze reden wollen, ist im Ausschuß reichlich Gelegenheit dazu. Aber diesen Ihren Gesetzesantrag sollten Sie zurückziehen. Sie haben hier noch eine Chance.
In der Vergangenheit ist allerdings auch von den Unionen ein weniger radikaler oder — genauer — weniger extremer Vorschlag gemacht worden, und zwar sollte die Bundesregierung prüfen, ob sie von der Möglichkeit Gebrauch machen kann, gemäß § 8 Abs. 6 durch Rechtsverordnung die Ausgleichsabgabe bei Betrieben unter 30 Beschäftigten zu erlassen. Das wäre zwar eine gezielte mittelstandsfördernde Maßnahme. Aber es fragt sich, ob die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, daß nämlich „die Zahl der unbesetzten Pflichtplätze die Zahl der unterzubringenden Schwerbehinderten so erheblich übersteigt, daß die Pflichtplätze dieser Arbeitgeber nicht in Anspruch genommen zu werden brauchen".
Wie ist denn die Situation? Nach den letzten statistischen Erhebungen haben wir 985 000 Pflichtplätze und auf diesen nur 620 000 behinderte Arbeitnehmer. Vom L Oktober 1975 bis zum 31. März 1977 sind allein 1,2 Millionen Anerkennungsanträge gestellt worden. Das die. eine wirklich dramatische Zahl über Ausbeutung, Fahrlässigkeit, Leichtsinn, Selbstverschulden, Schicksal, jedenfalls von Leid in unserer Gesellschaft. Etwa 300 000 Arbeitnehmer werden allein auf Grund dieser Anträge in den nächsten Monaten als Schwerbehinderte noch anerkannt werden. Das bedeutet: Die Zahl der Pflichtplätze und der unterzubringenden Schwerbehinderten ist in etwa ausgeglichen. — Würde die Bundesregierung den § 8 Abs. 6 des Schwerbehindertengesetzes voll ausschöpfen, so würden 54 000 Pflichtplätze verlorengehen, von denen zur Zeit keine 20 000 besetzt sind, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem wir 42 000 arbeitsuchende Schwerbehinderte zählen. Wer nicht nur die Rentabilität dieser Betriebe, sondern auch die Interessen der Schwerbehinderten vertritt, kann nicht verlangen, daß an der Ausgleichsabgabe zurückgesteckt wird.
Es gibt allerdings ein paar problematische Fälle — die kennen wir aus Gesprächen mit Inhabern kleiner Betriebe —, in denen die Ausgleichsabgabe ausbildungshemmend wirken könnte. Herr Schedl, über den Punkt kann man diskutieren, dann nämlich, wenn gleichzeitig den Schwerbehinderten, die selbst Arbeit suchen, nicht geschadet wird. Wenn nämlich ein Betrieb mit 15 oder 23 Beschäftigten bereit ist, nur eine zusätzliche Ausbildungsstelle zur Verfügung zu stellen, könnte er dadurch in die gesetzliche Pflicht geraten, für einen Schwerbehindertenplatz Ausgleichsabgabe zu zahlen. Darauf, Herr Stutzer, reduziert sich das Problem.
Man könnte daran denken, in solchen Fällen auf die Ausgleichsabgabe zu verzichten, aber nur in diesen. Darüber kann man reden. Allerdings ist der bürokratische Aufwand relativ groß, und es bestehen auch juristische Bedenken, ob das Schwerbehindertengesetz zur Ausbildungsplatzförderung benutzt werden kann. Politische Bedenken bestünden gewiß auch, wenn der Eindruck entstehen könnte, arbeitslose Jugendliche und arbeitslose Schwerbehinderte sollten gegeneinander ausgespielt werden. Wir sind aber bereit, über dieses Problem, das allerdings mit dem Wortlaut Ihres Gesetzentwurfes überhaupt nichts zu tun hat, im Ausschuß zu diskutieren.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht mit dem Schwerbehindertengesetz gespielt, sondern es mit Taten erfüllt. Durch das Sonderprogramm für Schwerbehinderte haben wir mit Zuschüssen von 100 Millionen DM, die übrigens aus der Ausgleichsabgabe finanziert wurden, im vergangenen Jahr 7 600 arbeitslose Schwerbehinderte und 950 behinderte Jugendliche in Arbeits- und Ausbildungsplätze gebracht — übrigens 12 000 D-Mark pro Arbeitsplatz.
Dieses Programm wollen wir erneut auflegen.
Ich komme zum Schluß: Auch für dieses neue Programm, das tatsächlich Ausbildungsplätze für Schwerbehinderte Jugendliche bringt, brauchen wir die 100 Millionen DM Ausgleichsabgabe, um die die Antragsteller der Unionen die Arbeitgeber pauschal und ohne Auflagen entlasten wollen. Ich habe mir einmal angesehen, wer Ihren Gesetzentwurf unterschrieben hat. Dort sind 34 Kolleginnen und Kollegen namentlich aufgeführt. Von diesen 34 sind 26 Arbeitgeber oder Angestellte von Arbeitgeberverbänden. Weiterer Kommentar überflüssig!
4660 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hölscher.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns mit der Opposition einig, Herr Kollege Schedl, daß es aller Maßnahmen bedarf, um Ausbildungsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Es bedarf vor allen Dingen Anreize, um Ausbildungsplätze zu schaffen. Hier würden wir uns über Ihre Lippenbekenntnisse hinaus einmal eine konstruktivere Haltung zu Fragen der Ausbildungsplatzförderung im Rahmen von Umlagefinanzierung und vielem anderen mehr wünschen. Ich glaube, daß hier die ganz entscheidenden Anreize für die kleinen und mittleren Unternehmen liegen, damit es in der Ausbildungslandschaft besser wird.
Wir sind auch nicht erst seit heute — wir sind schon lange an der Lösung dieses Problems — mit Ihnen der Meinung, daß überprüft werden muß, wo der Schaffung von Ausbildungsplätzen entgegenstehende Regelungen abgebaut werden müssen. Hierbei bedarf es auch einer Überprüfung des Schwerbehindertengesetzes. Damit sind wir einverstanden. Nach diesem Gesetz ist tatsächlich ein kleiner Betrieb, der 15 Leute beschäftigt und der beabsichtigt, einen Auszubildenden einzustellen, vor die Frage gestellt, ob er dies tun soll, weil er dann in die Pflicht des Gesetzes hineinkommt und Ausgleichsabgaben zahlen muß, wenn dieser Auszubildende kein schwerbehinderter Jugendlicher ist. In solchen Grenzfällen — und geben wir zu, es sind Grenzfälle — kann es auch vorkommen — dies ist nicht zu bestreiten —, daß man auf den Ausbildungsplatz verzichtet.
Andererseits tritt dieses Problem nur an zwei Schnittpunkten auf. Auch dies sollte einmal deutlich festgestellt werden. Das ist einmal der Übergang von 15 auf 16 Beschäftigte und noch einmal der Übergang von 24 auf 25 Beschäftigte, weil dort die Pflicht zur Beschäftigung von zwei Schwerbeschädigten entsteht. Für den Betrieb, der diese Grenzen überschritten hat, stellt sich die Frage eigentlich nicht. Ihm kann es gleich sein, weil er ohnehin bereits in der Verpflichtung entsprechend den Quoten steht.
Meine Damen und Herren, auch wenn wir nicht wissen, wieviel Betriebe an diesen Grenzen liegen — es gibt hier keine statistischen Unterlagen —, und auch wenn wir nicht genau wissen, ob Unternehmer tatsächlich vor dem Überschreiten dieser Hürden wegen der Einbeziehung der Auszubildenden in die Arbeitsplatzzählung zurückschrecken, möchten wir nicht, daß Ausbildungsplätze verlorengehen. Wir suchen selbst seit einiger Zeit nach einer Lösung für dieses meiner Meinung nach mehr psychologisch zu wertende Problem.
Vor uns liegt ein Entwurf der CDU/CSU-Fraktion. Herr Kollege Schedl, ich fand es auch parlamentarisch sehr gut — so etwas erleben wir nicht oft —, daß Sie mitten in der Beratung zur ersten Lesung erklärt haben, daß Sie Ihren Gesetzentwurf substantiell ändern wollen, nachdem der Kollege Gansel
hier — wie ich glaube, überzeugend — dargelegt hat, daß in der konsequenten Anwendung Ihres Entwurfs mit dem Schwerbehindertengesetz etwas geschähe, was Sie sich eigentlich nicht wünschen können.
— Ich komme hierauf noch zurück. Sie werden verstehen, daß für uns nur das schriftlich Vorliegende Verhandlungsgrundlage zu sein hat. Ihr Gesetzentwurf hätte, wenn wir ihn so verabschieden, in der Anwendung verheerende Konsequenzen für die Förderung schwerbehinderter Jugendlicher, die einen Ausbildungsplatz suchen.
Wir haben doch alle gemeinsam 1974 diesen Gesetzentwurf verabschiedet. Ein ganz wichtiges Ziel dieses Gesetzes war, schwerbehinderten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu verschaffen. Deshalb — und nur deshalb — wurden ja die Auszubildenden in das Gesetz mit einbezogen. Damit wollen Sie, Herr Schedl — ich nehme wieder Ihren Gesetzentwurf wörtlich —, Schluß machen. Indem Sie das Gesetz nur noch auf Beschäftigte global angewandt wissen wollen, schaden Sie natürlich den schwerbehinderten Jugendlichen. Nach dem Gesetz zählen Ausbildungsplätze nicht nur bei der Ermittlung der Beschäftigtenzahl mit; schwerbehinderte Auszubildende werden auch auf die Pflichtplätze angerechnet.
Was Sie sicher übersehen haben — ich glaube, derjenige, der Ihren Auftrag erfüllt und diesen Entwurf erarbeitet hat, sollte sich wirklich einmal ernsthaft mit dem Schwerbehindertengesetz befassen —, ist: Wir haben als Förderungskriterium für schwerbehinderte Jugendliche noch hineingeschrieben, daß sogar eine Mehrfachanrechnung erfolgen kann. Auch damit wäre Schluß gemacht, wenn Ihr Gesetzentwurf so, wie Sie ihn eingebracht haben, beschlossen würde.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stutzer?
Bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie mit mir der Meinung, daß Sie den schwerbehinderten Jugendlichen allein dadurch helfen, daß Sie die schwerbehinderten Jugendlichen, die sich in der Ausbildung befinden, wenn sie im Betrieb beschäftigt werden, auf das Pflichtplatzsoll anrechnen?
Ich glaube, Sie kennen Ihren eigenen Entwurf nicht.
Ich darf es noch einmal im Klartext sagen. Ihr Entwurf sieht nicht etwa eine Differenzierung vor, die man sich vorstellen könnte, nämlich daß bei der Ermittlung der Beschäftigtenzahlen die Auszubildenden nicht mitgerechnet werden. Das steht bei Ihnen
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Hölscher
zwar. Aber Sie gehen weiter, weil Sie es undifferenziert eingebracht haben. Das heißt, daß nach Ihrem Entwurf auch bei der Einstellung eines schwerbehinderten Auszubildenden keine Anrechnung auf die Pflichtquote erfolgt,
so daß sich ein Arbeitgeber, vor die Entscheidung gestellt, einen erwachsenen schwerbeschädigten Arbeitnehmer einzustellen oder einen Jugendlichen, für den erwachsenen Schwerbeschädigten entscheiden wird. Er wird keinesfalls einem schwerbeschädigten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz geben, weil dieser im Sinne des Gesetzes durch Ihre Änderung kein Schwerbehinderter mehr wäre.
— Herr Kollege Burger, Sie bestreiten das. Ich will hier nicht noch einen ganzen Katalog von Paragraphen anführen, die als Schlußfolgerung aus der von Ihnen vorgeschlagenen Änderung des § 6 auf schwerbehinderte Jugendliche keine Anwendung mehr fänden. Nur ein Beispiel; das ist § 11. § 11 regelt die Pflichten der Arbeitgeber gegenüber Schwerbehinderten im Sinne dieses Gesetzes. Wenn Sie aber den Auszubildenden aus § 6, wo der Schwerbehinderte definiert wird, streichen, kann auch § 11, der die Pflichten des Arbeitgebers gegenüber den Schwerbehinderten im Sinne dieses Gesetzes definiert, keine Anwendung mehr finden. Das heißt konkret: Für schwerbehinderte Auszubildende gibt es in den Betrieben bei internen Fortbildungskursen keine Bevorzugung mehr, bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes gibt es keine Rücksichten mehr und vieles andere mehr. Herr Kollege Burger, ich gestehe insbesondere Ihnen persönlich zu, daß Sie das nicht gewollt haben. Aber Sie können mir nicht vorwerfen, daß ich auf die Konsequenzen hinweise, die eine Verabschiedung Ihres Gesetzentwurfes bedeuten würde. Dann ändern Sie den Gesetzentwurf, so daß er jedenfalls nicht die sozialpolitisch verheerenden Folgen hat, die er in dieser Fassung haben muß.
Wenn wir möglicherweise vorhandene Ausbildungsplatzhemmnisse, die im Schwerbehindertengesetz liegen, abbauen wollen, bedarf es eigentlich keines Gesetzentwurfes; denn wir sollten hier schnell handeln. Ein Gesetzentwurf erfordert, wie wir ja wissen, ein relativ zeitraubendes Beratungsverfahren. Ich möchte für meine Fraktion in aller Offenheit einige Alternativvorschläge machen und die Bundesregierung bitten, in dieser Richtung einmal Überlegungen anzustellen. Ein Gesetzentwurf — wenn ich das noch einschieben darf — wäre zu diesem Zeitpunkt eigentlich auch nicht förderlich; denn wir sind als Sozialpolitiker wohl alle der Meinung, daß es einer weitergehenden Novellierung des Schwerbehindertenrechtes bedarf. Das sollten wir im nächsten Jahr ernsthaft in Angriff nehmen. Nur fehlen uns bis jetzt noch die entsprechenden statistischen Entscheidungsgrundlagen. Sie wissen selbst, daß es 300 000 unentschiedene Fälle vor den Behörden gibt. Erst wenn wir wissen, wie die Situation im Schwerbehindertenbereich aussieht, können wir uns erneut mit der sehr wichtigen Frage der
Höhe der Quoten usw. befassen. Wir sollten das in diesem Zusammenhang sehen und nichts vorziehen, was hinterher nicht mehr in den Gesamtzusammenhang einzubauen ist.
Deshalb bitte ich die Bundesregierung — weil eben der Weg der Rechtsverordnung der schnellere, der praktikablere ist —, als Alternative einmal zu . überlegen, ob nicht durch den Erlaß einer Rechtsverordnung nach § 8 Abs. 6 die Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber mit weniger als 30 Arbeitsplätzen erlassen werden kann. Hierdurch werden alle die Handwerksbetriebe und kleinen Unternehmen begünstigt, die heute in der Grenze bei 16 Beschäftigten ein Hindernis für zusätzliche Ausbildungsarbeitsplätze sehen. Durch eine solche Verordnung blieben die Anreize bestehen — und darauf kommt es uns als Sozialpolitiker doch auch an
schwerbehinderten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anzubieten, weil eben die Auszubildenden selbst sowohl im Positiven, bei der Begünstigung, als auch im Negativen, wenn Sie so wollen, beim Mitzählen, im Gesetz berücksichtigt blieben.
Eine andere Alternative wäre — der Kollege Gansel sprach sie an — eine Rechtsverordnung, die vorsieht, die Ausgleichsabgabe nur bei der Einstellung von Auszubildenden zu erlassen. Auch das wäre wohl ein Weg, der genau dem Petitum der Verbände Rechnung trägt; denn Kritik an der Grenze von 16 wurde ja nicht aus allgemeinen beschäftigungspolitischen Gründen laut, sondern diese Grenze wurde dezidiert als ausbildungsplatzhemmende Regelung angeführt.
Dann gäbe es natürlich noch den dritten Weg. Das wäre der Weg eines Gesetzentwurfs, allerdings eines ganz anderen Gesetzentwurfs, als Sie ihn eingebracht haben. Ich habe schon gesagt, ich halte diesen Weg für zu zeitraubend und auch zeitlich nicht für angebracht, weil wir uns mit dem Schwerbehindertengesetz einmal umfassend befassen sollten. Meine Fraktion ist auch der Meinung, daß die Rechtsverordnung die praktikablere Lösung ist.
Lassen Sie mich zum zweiten Teil Ihres Gesetzentwurfes kommen. Jetzt muß ich etwas sagen, was dem Kollegen Gansel sicher nicht gefallen wird. Ich meine die Anrechnung des schwerbehinderten Arbeitgebers auf die Pflichtzahl. Für uns — ich denke, für uns alle — ist ein Schwerbehinderter zunächst einmal, gleich ob er ein Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ist, ein Bürger, dem geholfen werden muß. Wir haben als FDP auch öffentlich gesagt, daß gerade der Handwerker — es dreht sich ja hier um die Kleinen —, daß der Ingenieur, der Architekt es zumindest emotional als unbillig empfindet, daß er zwar als schwerbehinderter Selbständiger genauso wie ein schwerbehinderter Arbeitnehmer mit den Beschwernissen seiner Behinderung am Arbeitsplatz kämpfen muß, das Schwerbehindertengesetz aber für ihn nicht gilt. Ich denke, wir sollten sehr wohl gemeinsam eine Regelung finden können, die den schwerbehinderten Arbeitgeber eines Kleinbetriebes — vielleicht kann man das eingrenzen auf die Kleinbetriebe — auch als 'Schwerbehinderten sieht, da doch auch — und das wird vielleicht emo-
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tional als Unbilligkeit angesehen —, die hohen Chefs des öffentlichen Dienstes in die Pflichtquote ihrer Behörden eingerechnet werden, z. B. ein deutscher Oberbürgermeister einer Großstadt und — mein Parteifreund wird es mir verzeihen — auch der Bundeswirtschaftsminister.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel?
Bitte schön.
Herr Kollege Hölscher — weil Sie mich angesprochen haben; ein Blick ins Gesetz wirkt ja immer Wunder —: darf ich Sie ganz kollegial darauf -aufmerksam machen, daß das Schwerbehindertengesetz doch eine Bestimmung für den schwerbehinderten Arbeitgeber vorsieht, nämlich über die Förderung der selbständigen Tätigkeit, daß die Hauptfürsorgestellen z. B. schwerbehinderten Arbeitgebern Kapitalhilfe geben können und daß sie bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt werden sollen? Es ist also nicht so, daß wir die restlos vergessen hätten, sondern diese Bestimmungen gibt es.
Herr Kollege Gansel, niemand bestreitet, daß es für alle Schwerbehinderte, unabhängig davon, in welcher Funktion sie stehen, Fördermaßnahmen gibt. Wir haben die beste Kriegsopferversorgung der ganzen Welt. Auch dies ist eine Förderung für Schwerbeschädigte, Kriegsbeschädigte, die unabhängig von dem Status stattfindet, den der einzelne in der Gesellschaft hat. Aber, Herr Kollege Gansel, auch Sie können nicht bestreiten, daß der kleine Handwerker, der 15 Beschäftigte hat; schwerkriegsbeschädigt ist, es nicht ganz einsieht, warum er, der oft auch die gleiche Arbeit macht wie sein Arbeitnehmer, nun nicht in die volle Begünstigung durch das Gesetz kommt. Sehen wir es doch ruhig auch einmal emotional! Er weiß, daß sein Oberbürgermeister — vielleicht ist er in der Stadt — in die Pflichtquote eingerechnet wird, und er weiß, wenn er sich für Bundespolitik interessiert, daß auch die Quote des Wirtschaftsministeriums durch den Chef mit erfüllt wird. Hier treten zumindest Gefühle der Unbilligkeit auf. Ich halte diese Forderung auch nicht für das Kardinalproblem dieses Volkes, dieses Parlaments, der Wirtschaft. Hier sollten wir großzügig sein. Es handelt sich nur um die Kleinbetriebe. Es dreht sich hier nicht um den Mehrheitsaktionär -eines großen internationalen Konzerns.
Im übrigen, Herr Kollege Gansel, sollten wir auch verhindern, daß sich ein solcher Arbeitgeber etwa als Arbeitnehmer bei seiner Ehefrau einstellen läßt oder eine komplizierte GmbH-Konstruktion wählt, bei der es in bestimmten Fällen möglich ist, sich als Geschäftsführer anrechnen zu lassen.
Zum Schluß möchte ich folgendes sagen. Es bedurfte nicht des Gesetzentwurfs, der zweifellos
mangelhaft ist. Demjenigen, der ihn gemacht hat, würde ich, wenn ich in Ihrer Fraktion wäre, einmal einige Dinge aus dieser Debatte vorlesen und ihm in schwarzem Einband zu Weihnachten das Schwerbehindertengesetz schenken. Herr Schedl, Sie waren es sicher nicht, schon gar nicht war es Frau Hürland.
Wir sind selbst seit geraumer Zeit dabei einen praktikablen Weg zu finden, Ausbildungsplatzhemmnisse abzubauen. Der Gesetzentwurf der CDU wird hoffentlich ohnehin überflüssig, weil wir mit dem baldigen Erlaß einer Rechtsverordnung rechnen. Jedenfalls wäre die generelle Herausnahme der Auszubildenden aus dem Schwerbehindertengesetz eine behindertenfeindliche Handlung, und die kann die Opposition wohl auch nicht gewollt haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schedl.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wollte eigentlich nur noch wegen der Ausführungen des Kollegen Gansel ganz kurz hierher kommen. Vorab zu dem, was der Kollege Hölscher gesagt hat. Herr Kollege Hölscher, wenn ich es richtig beurteile, ist der zweite Teil, die Unternehmer im kleinen und mittleren Bereich, ein Problempunkt, den Sie genauso sehen wie wir und den Sie ebenso behandelt wissen wollen. Über den Weg wird man sich einigen können.
Aber jetzt zum ersten Punkt, Herr Kollege Gansel. Sie werden doch nicht glauben, daß Ihnen irgend jemand in diesem Haus oder auch draußen, der die sehr geschickte Anlage der Debatte durch Sie sieht, abnimmt, daß das, was Sie uns unterstellen, wirklich unser Wille war. Sie haben generell festgestellt: Sie, die CDU/CSU, beurteilen die Lage nach der Rentabilität der Betriebe und nicht nach der Situation der Schwerbehinderten, und hier haben 26 Unternehmer unterschrieben. Herr Kollege Gansel, Gott sei Dank gibt es bei uns wie bei Ihnen noch einige Unternehmer in der Fraktion. Nur finde ich unter den Unterzeichnern beim besten Willen nicht 26 Unternehmer. Selbst wenn es so wäre, wäre das auch nicht schlimm. Aber allein diese Feststellungen zeigen, daß Sie hier etwas tun, was man an dieser Stelle nicht tun sollte: Sie unterstellen uns, wir wollten Politik gegen Behinderte, für Unternehmer betreiben und damit wieder einmal die Kapitalisten bevorzugen und sozial Schwache schwächen. Das wollen wir nicht, Herr Kollege Gansel.
Daß hier in der Technik der Gesetzesformulierung ohne Zweifel ein Mangel vorliegt, mag durchaus zugestanden werden; aber dieser Mangel kann uns nicht als Gesetzeswille, als Absicht unterstellt werden, weil wir an Dutzenden von Stellen erklärt haben: Natürlich wollen wir nicht nur dafür sorgen, daß der schwerbehinderte Auszubildende mehr und bessere Ausbildung bekommt, sondern auch
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Schedl
dafür, daß dies im Rahmen des Gesetzes auch angerechnet wird.
Herr Gansel, wir sind selbst daran schuld, weil Sie eine Lücke geschickt gefunden, sofort hineingestoßen haben und dann daraus eine breite unsoziale Haltung in unserer Fraktion hergeleitet haben. Herr Hölscher, nicht nur die Formulierer sind schuld, sondern auch wir. Aber Sie haben ein Heer von Formulierern, im Vergleich zu uns, die wir solche Dinge mit einigen wenigen Mitarbeitern formulieren müssen. Wir wollen, daß die Zahl der Auszubildenden nicht angerechnet wird, wenn mit einer zusätzlichen Einstellung die Zahl 16 überschritten wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Selbstverständlich, Herr Kollege Glombig.
Herr Kollege Schedl, ist Ihnen inzwischen der ganze Widerspruch zwischen dem Antrag auf weitere Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte und den Ausführungen vor allem Ihres CSU-Kollegen Geisenhofer dazu auf der einen Seite und der Herabsetzung der Möglichkeiten für Schwerbehinderte, vor allem für jugendliche Schwerbehinderte, d. h. zu diesem Antrag, der von Ihnen jetzt zum zweitenmal begründet wird, auf der anderen Seite deutlich geworden?
Herr Kollege Glombig, vielen Dank für diese Frage. Es mag sich hier, wenn man es so will und vereinfachend betrachtet, um einen Widerspruch handeln. Ich glaube aber nicht, daß es sich in Wirklichkeit um einen Widerspruch handelt. Der Antrag, der vorher hier eineinhalb Stunden behandelt worden ist, wurde von Ihnen mit dem Hinweis überwiesen: Wir wollen das nicht jetzt, sondern im nächsten Jahr erledigen. Der Antrag ist nicht zuletzt wegen der großen finanziellen Bedenken, die Sie haben, überwiesen worden. Diesen Antrag kann man auf gar keinen Fall als eine soziale Schlechterstellung der Schwerbehinderten betrachten. Ihre Feststellung würde aber nur stimmen, wenn dieser Antrag eine Schlechterstellung mit sich brächte. Nur ist hierin keine soziale Schlechterstellung der Schwerbehinderten enthalten.
Herr Kollege Gansel, er könnte nur dann eine Schlechterstellung mit sich bringen, wenn damit z. B. die Behindertenabgabe entfällt. Aber die entfällt jedoch nicht, weil sie nicht anfällt.
Sie müssen die Praxis sehen.
— Sofort, Herr Gansel. Der Sechzehnte — das ist der Auszubildende — wird nicht eingestellt, wei] der Arbeitgeber sonst die Abgabe zahlen muß Wenn er ihn nicht einstellt, zahlt er die Abgabe also nicht. Jetzt sagen Sie mir bitte, wo dort etwas entfällt!
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Schedl, darf ich Ihnen sagen, daß ich jetzt tatsächlich fast den Eindruck habe — —
Ich darf Sie bitten, eine Frage zu stellen.
Ich habe gesagt: „darf ich Ihnen sagen ...?”
Na ja — okay!
Darf ich Ihnen sagen, daß ich jetzt doch fast den Eindruck habe, daß Sie nicht wissen, was Sie beantragt haben, da Ihre Gesetzesformulierung dazu führt, daß pauschal 1,3 Millionen Ausbildungsplätze allein in der betriebsgebundenen Ausbildung bei der Berechnung der Pflichtabgabe ausfallen, was, wenn diese Plätze nicht besetzt sind — und sie sind zum großen Teil nicht besetzt —, einen Ausfall von 100 Millionen DM Ausgleichsabgabe jährlich bedeuten würde, also genau so viel, wie wir für ein Sonderprogramm brauchen? Haben Sie das nicht gewußt? Dann ziehen Sie Ihren Antrag zurück, und ich nehme meine Ausführungen zurück, Dann können wir uns einigen, dann können wir einen Kompromiß schließen. Nehmen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und ich nehme meine Rede zurück! Das ist ein Angebot — obwohl ich dabei zusetze.
Herr Kollege Gansel, für dieses Angebot möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Nur werden Sie sicherlich davon ausgehen, daß wir dieses Angebot nicht annehmen, weil es das Problem nicht löst, das wir alle miteinander lösen müssen.
Das Problem besteht ganz einfach in folgendem. Wenn wir diese Schranke nicht in irgendeiner Form gemeinsam aus der Welt schaffen, dann werden Sie, ganz gleich, mit welchen Vorstellungen, die Bewältigung der Zahl der Auszubildenden in den nächsten Jahren nicht schaffen. Herr Hölscher, da hilft keine Umlagefinanzierung, da hilft kein irgendwie geartetes Modell wie „Knüppel aus dem Sack". In diesem Bereich müssen Sie Reglementierungen abschaffen.
Jetzt muß ich eines sagen. Herr Gansel, was mich sehr wundert, sind die Widersprüche zwischen Ihren Einlassungen heute hier und den Einlassungen Verantwortlichster Ihrer Fraktion, die man in bestimmten Kreisen draußen hören kann. So habe ich gestern abend eine Einlassung gehört, in der erklärt
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Schedl
wurde: Wir müssen in allernächster Zeit in Richtung ausbildungshemmende Vorschriften einiges miteinander regeln, damit sich diese Dinge noch besser darstellen lassen und wir die Auszubildenden unterbringen.
Noch einmal: Es trifft zu, daß die Formulierung dieses Gesetzentwurfs nicht absolut richtig ist und unseren Willen nicht absolut klarmacht. Das sei zugestanden. Das liegt ganz einfach daran, daß wir, wie ich schon gesagt habe, kein Heer von Formulierern haben, sondern auf andere Weise da herangehen müssen als Sie. Das werden Sie mir auch zugestehen.
Was wir wollen, wissen Sie. Wir wollen — und hier trifft ein Teil Ihrer Bemerkungen zu — die Auszubildenden aus der Zählung herausnehmen, um damit über der 15er-Schranke Möglichkeiten zur Einrichtung zusätzlicher Ausbildungsplätze zu haben. Wir wollen die Vergünstigung für schwerbehinderte Auszubildende weiterhin aufrechterhalten. Herr Gansel, das ist nicht auf die Rentabilität der Betriebe angelegt, sondern ist von der Sorge um viele Jugendliche und ihre Ausbildungsplätze getragen.
Deswegen sage ich erneut: Überlegen auch Sie noch einmal, ob es hier nicht Möglichkeiten gibt, sich zu treffen. Sie sollten nicht sagen, wir wollten schon wieder etwas am Netz der sozialen Sicherheit kappen. Was nutzt denn dies alles, wenn Tausende auf der Straße stehen, die keinen Ausbildungsplatz haben! Denen schaden wir mehr, wenn wir uns hier nur über Prinzipien streiten.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Buschfort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der das erst 1974 verabschiedete neue Schwerbehindertengesetz in einem wichtigen Punkt, nämlich bezüglich der Ausbildungsplätze für schwerbehinderte Jugendliche, ändern soll. Eine Regelung, die vor drei Jahren nach eingehender Erörterung des Für und Wider mit Zustimmung aller Fraktionen dieses Hohen Hauses verabschiedet werden konnte, soll nun wieder rückgängig gemacht werden.
Damit erreichen die Bemühungen einen Höhepunkt, die schon kurz nach Verabschiedung des neuen Schwerbehindertengesetzes von seiten der Wirtschaft eingesetzt haben und nunmehr seit drei Jahren andauern.
Ich muß hier auch ganz ernsthaft die Frage wiederholen, die mein Kollege Gansel schon gestellt hat: Warum ist dieser Gesetzentwurf eigentlich z. B. nicht von Herrn Burger, nicht von Herrn Geisenhofer, nicht von Herrn 'Blüm, nicht von Herrn Zink, nicht von Herrn Katzer, nicht vom Kollegen Müller unterschrieben worden? In der Tat sollten sich insbesondere die Sozialpolitiker der Opposition sehr wohl überlegen, ob sie zu diesem Gesetz ihre Hand reichen wollen.
1974 hat die Regelung, daß die Stellen Auszubildender als Arbeitplätze im Sinne des Schwerbehindertengesetzes gelten, auf Vorschlag der Bundesregierung Eingang in das Gesetz gefunden. Ziel des Vorschlages war es, die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber zugunsten Schwerbehinderter auch auf die schwerbehinderten Auszubildenden auszudehnen.
In diesem Punkte darf ich auf Ihre Einlassungen, Herr Stutzer, eingehen. Sie haben natürlich recht, wenn Sie hier sagen, es gehe nicht nur um die Frage der Anrechnung, die ja auch Sie wollen. Ich sage, es geht um die Ausbildungspflicht und um die unterschiedliche Erfassung der einzelnen Gruppierungen, wie wir sie bei den Schwerbehinderten vorfinden. Von daher ist es mit der Anrechnung nicht getan; es geht hier um die Ausbildungspflicht, die gänzlich aufgehoben würde, wenn der Personenkreis der Auszubildenden aus dem Gesetz herausgenommen würde. Ich komme darauf aber gleich noch einmal zurück.
Ich will auch hinzufügen, daß man diese Frage zur Zeit natürlich vor dem Hintergrund des enger gewordenen Umfangs der angebotenen Ausbildungsstellen beurteilen muß. Wir wissen, daß es auch schon damals sehr schwierig war, Schwerbehinderte in Ausbildungsstellen zu vermitteln.
— Jawohl, darauf komme ich gleich noch einmal. Vielleicht hören Sie aufmerksam zu; ich habe zu diesem Fragenkomplex drei Vorschläge vorzubringen.
Die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber sollte deshalb auch die Pflicht umfassen, Ausbildungsplätze für Schwerbehinderte zur Verfügung zu stellen, soweit diese nicht wegen besonderer Behinderung auf überbetriebliche oder außerbetriebliche Ausbildungsstätten angewiesen sind. Heute will die Opposition das pauschal über Bord werfen, obwohl die schwerbehinderten Jugendlichen doch gerade jetzt — in Zeiten geburtenstarker Jahrgänge und eines verschärften 'Wettbewerbs auf einem engen Ausbildungsstellenmarkt — auf einen besonderen Schutz angewiesen sind.
Die Opposition bestreitet in der Begründung ihres Gesetzentwurfes auch, daß der § 6 des Schwerbehindertengesetzes den gewünschten Effekt gehabt habe; die Regelung des Gesetzes bringe nicht nur keinen Nutzen für die Ausbildung schwerbehinderter Jugendlicher, sondern sei sogar ausbildungshemmend, was ja wohl heißen soll, sie sei schädlich für die Situation Auszubildender. — Bei dieser Einschätzung sollte man eigentlich erwarten, daß die Opposition Vorschläge dazu macht, wie das mit § 6 verfolgte Ziel des Schutzes auszubildender Behinderter auf andere Weise besser erreicht werden kann. Aber danach muß man in diesem Gesetzentwurf vergeblich suchen.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hasinger?
Bitte!
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Herausnahme behinderter Jugendlicher aus der Anrechnung ein redaktionelles Versehen bei der Abfassung dieses Gesetzentwurfes war und daß dies hier von den Sprechern der CDU/CSU-Fraktion bereits mehrfach erklärt worden ist?
Wenn Ihre Äußerung eine Antwort für die Opposition ist, kann ich in meiner Rede einiges überschlagen. Ich möchte dann nur noch dazu etwas sagen, wie man Veränderungen — die dann möglicherweise weitgehend mit den Ihren übereinstimmen — vornehmen kann. Ich kann dann insbesondere darauf verzichten, noch einmal auf all die Unzulänglichkeiten in ihrem Gesetzentwurf einzugehen.
Meine Damen und Herren, das Thema der heutigen Debatte sollte nicht sein: „Wie beseitigt man Schutzregelungen zugunsten behinderter Jugendlicher?", sondern: „Wie verbessert und verstärkt man die Regelungen des Schwerbehindertengesetzes, damit diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis geholfen werden kann?" Ich meine, es lohnt sich, darüber nachzudenken. Im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung wird an der Lösung dieses Problems gearbeitet. Eine Maßnahme, die einen sehr wichtigen Beitrag dazu leisten soll, wird das neue, das zweite 100-Millionen-DM-Sonderprogramm für Schwerbehinderte sein, das voraussichtlich Anfang des Jahres 1978 in Kraft treten kann und das der Förderung des Ausbildungsplatzangebotes für Schwerbehinderte besondere Aufmerksamkeit schenkt. Über weitere Maßnahmen wird bei der Vorbereitung der Ausgleichsabgabeverordnung gesprochen werden.
Ich darf auch daran erinnern, daß wir mit § 8 Abs. 6 des Schwerbehindertengesetzes die Möglichkeit haben, auf dem Verordnungswege Klein- und Mittelbetriebe von der Ausgleichsabgabe zu entlasten. Diese Maßnahme würde gerade die ausbildungsintensiven Betriebe erfassen. Ob von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden kann, wird bereits in Kürze absehbar sein, nämlich dann, wenn die noch für diesen Monat angekündigte Auswertung der Betriebserhebung für 1976 durch die Bundesanstalt für Arbeit vorliegt.
Erlauben Sie mir, daß ich jetzt noch wenige Bemerkungen zur Frage der Anrechnung schwerbehinderter Arbeitgeber auf einen Schwerbehindertenplatz mache. Dieser Vorschlag ist sozialpolitisch nicht überzeugend. Das geltende Gesetz ist ein Gesetz zur Sicherung der Eingliederung schwerbehinderter Arbeitnehmer. In diesem Zusammenhang möchte ich auch eine Bemerkung zu der Rede meines Kollegen Hölscher machen. Es ist fraglich, ob der Herr Minister als schwerbehinderter Arbeitnehmer im Sinne des Gesetzes gilt, denn er ist ja auch wohl kein lupenreiner Beamter im Sinne des Gesetzes. Es ist also zweifelhaft, ob Ihr Beispiel stimmte.
— Auch der Oberbürgermeister kann nur dann angerechnet werden, wenn er — wie in bestimmten Städten — als Vollbeamter gilt. In anderen Städten gilt der Oberbürgermeister nicht als Vollbeamter. Ich muß auch hier sagen, daß dieses Beispiel nicht ganz zutreffend ist.
Insgesamt gesehen ist es mit der Zielsetzung des Schwerbehindertengesetzes nicht vereinbar, die Anrechnung schwerbehinderter Arbeitgeber auf einen Pflichtplatz für Schwerbehinderte zuzulassen. Daraus hat der Gesetzgeber des Jahres 1974 die Konsequenzen gezogen. Deshalb ist diese Möglichkeit im Schwerbehindertengesetz mit Zustimmung aller Fraktionen dieses Hohen Hauses und aller Länder nicht mehr vorgesehen. Auch in diesem Punkte kann der Opposition nicht gefolgt werden.
Meine Damen und Herren, es ist sicher unsere Aufgabe, die Wirkungen der bisherigen Sozialpolitik zu hinterfragen; bessere Lösungen müssen das Ergebnis sein. Um diese Aufgabe geht es der Bundesregierung anläßlich der heutigen Debatte. Es geht nicht um eine schlechtere, sondern um eine bessere Eingliederung schwerbehinderter Jugendlicher in das Berufs- und Arbeitsleben. Dazu wird die Bundesregierung demnächst die bereits angekündigten Vorschläge unterbreiten.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.
Der Ältlestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und dem Ausschuß für Wirtschaft — mitberatend — sowie dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. Mai 1969 über die an Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen
— Drucksache 8/490 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 8/1257 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Wittmann Abgeordneter Sieglerschmidt
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Vizepräsident Frau Renger
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Einzelberatung in zweiter Lesung. Ich rufe die Artikel 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung erfolgt zusammen mit der Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Punkt 7 der Tagesordnung wird heute nachmittag im Anschluß an die Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses aufgerufen.
Ich rufe nunmehr Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schulte , Straßmeir, Dreyer, Feinendegen, Hanz, Frau Hoffmann (Hoya), Dr. Jobst, Lemmrich, Milz, Pfeffermann, Sick, Tillmann, Dr. Waffenschmidt, Weber (Heidelberg), Ziegler und der Fraktion der CDU/CSU
Mehrfachtäter-Punktsystem für Kraftfahrer gem. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 15 b der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 3. Januar 1974
—Drucksache 8/1122 —
Uberweisungsvorsdilag des Ältestenrates:
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen
Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Schulte .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt in unserem Land 25 Millionen Kraftfahrer. Dies bringt erhebliche Probleme für die Verkehrssicherheit mit sich. Eine so große Zahl an Kraftfahrern verursacht aber auch eine erhebliche Zahl an Verkehrsverstößen. Dies stellt naturgemäß jede Rechtsordnung vor schwierige Fragen.
Es ist deshalb verständlich, daß man nach einer Vereinheitlichung und nach einer Vereinfachung gesucht hat, daß man versucht hat, zu schematisieren. Der Versuch dieser Schematisierung der Behandlung von Verkehrsverstößen hatte als Produkt den sogenannten Flensburger Punktekatalog.
Diese Schematisierung verlangt eine besondere Skepsis. Mittlerweile ist bei uns jeder fünfte Kraftfahrer in Flensburg eingetragen. Der Punktekatalog ist also inzwischen zu einem Problem für Millionen von Bürgern in unserem Land geworden.
Als vor vier Jahren die Diskussion über den Punktekatalog stattfand, hat ein Journalist geschrieben, beim Punktekatalog handle es sich um die Findung der Gerechtigkeit nach dem Computer. Dieser Begriff ist sicherlich richtig; denn die Automatik, die hier eingeführt wurde, rasiert Gerechte und Ungerechte gleichermaßen oder bringt sie gar um ihre Existenz. Die Umstände des Einzelfalles werden in der Praxis nicht oder kaum geprüft. Es kann passieren, daß jemand als Kavalier der Straße öffentlich ausgezeichnet wird und daß er kurz danach wegen 18 Punkten in Flensburg seinen Führerschein verlieren soll. Dieses ist passiert und hat das Verwaltungsgericht in Koblenz jüngst beschäftigt.
Es ging darum, daß der Kraftfahrer wegen dreier Verstöße 18 Punkte bekommen hat. Er hat — so meldet die „Bonner Rundschau" — einem Arbeitskollegen sein Moped ausgeliehen, obwohl dieser keine Fahrerlaubnis besaß. Das gab sechs Punkte. Er hat das Moped selbst gefahren, obwohl es nicht versichert war. Er hat es also offensichtlich nach dem Winter vom Boden heruntergeholt und ausprobiert ob es noch knattert und ob er es verkaufen kann. Das gab auch sechs Punkte. Er hat dann als drittes — ebenfalls mit einer Ahndung von sechs Punkten — einen ihm geschenkten alten „Käfer" auf einem Feldweg ausprobiert, obwohl das Fahrzeug nicht zugelassen war.
Dieser Kavalier der Straße, meine Damen und Herren, stand vor dem Verwaltungsrichter in Koblenz. Der Richter hat ihm den Führerschein nicht entzogen. Wäre es nicht eine unzulässige Einmischung in die dritte Gewalt, dann müßte man von dieser Stelle aus dem Richter danken.
Meine Damen und Herren, der Punktekatalog oder die Praxis mit diesem Punktekatalog enthält eine Reihe von Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten. Da geht es z. B. um die Bewertung einzelner Verkehrsverstöße mit einer bestimmten Punktzahl. Es heißt, „im Interesse der einheitlichen Behandlung gleichliegender Fälle" müsse nach dem Punktekatalog vorgegangen werden. Ich stelle einmal ein paar Fälle gegenüber, damit wir entscheiden können, ob hier wirklich eine einheitliche Behandlung gleichliegender Fälle vorliegt. Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir handeln.
Meine Damen und Herren, man bekommt in Flensburg sechs Punkte eingetragen, wenn man auf der Autobahn mit einem 38-Tonnen-Zug fährt und dieser nicht versichert ist. Man bekommt aber die gleichen sechs Punkte, wenn man ein nicht versichertes Moped auf einem Feldweg ausprobiert. Man bekommt sechs Punkte, wenn man als Unternehmer anordnet, daß ein Omnibus oder ein Lkw ohne Führerschein gefahren wird. Man bekommt aber die gleichen sechs Punkte, wenn man zuläßt, daß ein Arbeitskollege ohne Führerschein das Moped ausprobiert, um zu prüfen, ob er dieses seinem Sohn schenken kann. Man bekommt fünf Punkte, wenn man durch leichte Fahrlässigkeit oder durch leichtes Mitverschulden einem anderen ein paar Kratzer beibringt. Genauso bekommt man fünf Punkte, wenn man einen anderen Autofahrer grob fahrlässig zum Krüppel macht. Die Liste solcher Beispiele ließe sich fortsetzen. Wenn vorher von Gerechtigkeit aus dem Computer gesprochen wurde, so muß man jetzt bereits sagen: Hier kommt die „Gerechtigkeit" aus einem offensichtlich falsch programmierten Computer.
Der Punktekatalog und die im Punktekatalog vorgenommene schematische Addition von Punkten auf Grund von Verkehrsverstößen berücksichtigen auch nicht die tatsächliche Fahrleistung, berücksichtigen nicht, ob jemand im Jahr 5 000 km fährt oder als
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4667
Dr. Schulte
Berufskraftfahrer 100 000 km hinter sich läßt. Gewiß kann man sagen, der Berufskraftfahrer bringe die größere Erfahrung mit. Auf der anderen Seite ist aber sein Risiko, bei 100 000 km Fahrleistung im Jahr beim Überholen eines Lkw einmal ein Verkehrsschild zu übersehen, ungleich größer. Der Punktekatalog und die Praxis der Handhabung dieses Punktekatalogs berücksichtigen dies nicht. Hier muß versucht werden, dem Einzelfall gerechter zu werden.
Es geht aber nicht nur darum, wieviel Punkte ausgegeben werden. Es geht nicht nur darum, wie man addiert. Wir müssen uns vielmehr auch einmal die Wirkung des Führerscheinentzugs nach dein Erreichen von 18 Punkten ansehen. Einem Sonntagsfahrer wird der Entzug des Führerscheins lange nicht so viel ausmachen wie z. B. einem Taxifahrer, einem Handelsvertreter oder einem kleinen Selbständigen, der darauf angewiesen ist, den Lkw selbst zu fahren. Es sollte also auch ein Unterschied zwischen Sonntagsfahrern und Berufskraftfahrern gemacht werden, wenn es um die Wirkung geht. Der Führerscheinentzug hat die Wirkung einer Strafe, auch wenn es im juristischen Sinne nicht um eine Strafe geht. Oftmals sieht der Betroffene den Führerscheinentzug im Vergleich zu einer Geldstrafe oder anderen Eingriffen sogar als die härtere Maßnahme an. Nach unserer Rechtsordnung überprüfen wir bei jedem Kriminellen, ob es strafmindernde oder strafschärfende Umstände gibt. Bei jedem Kriminellen überlegt man sich, ob man eine Strafe nicht zur Bewährung aussetzen sollte. Ich meine, daß den Kraftfahrern ein solches Bemühen nicht länger vorenthalten werden darf.
Bei den Vorschriften über die Verjährung, d. h. über die Löschung von Punkten, die sich Kraftfahrer eingehandelt haben, war man besonders einfallsreich. In der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung heißt es, daß die Tilgung von eingetragenen Bußgeldentscheidungen gehemmt wird, wenn während einer zweijährigen Frist weitere Ordnungswidrigkeiten eingetragen werden. Das bedeutet: Wenn man zwei Jahre lang eine weiße Weste behält, dann findet eine Tilgung statt. Wenn man aber nach 23 Monaten einen weiteren Verkehrsverstoß begeht, auch wenn dieser nur mit einem einzigen Punkt geahndet wird, gibt es eine Verjährung oder eine Tilgung nicht, so daß sich also das Punktekonto über Jahre hin summiert. Das wirkt sich vor allem bei Berufskraftfahrern aus.
Nach unserer Ansicht kann dies so nicht bleiben. Irgendwann muß auch mit dem Eintrag in Flensburg Schluß gemacht werden. Irgendwann muß auch für den Kraftfahrer das gelten, was auf allen anderen Feldern des Rechts gilt. Hier müßte auch auf die Schwere des Verstoßes Rücksicht genommen werden, indem man z. B. die Tilgungszeit staffelt, je nachdem, um wie viele Punkte es bei dem Eintrag gegangen ist. Hier muß gehandelt werden. Wir wollen nicht den Verkehrssünder auf Lebenszeit.
Neben all diesen Fragen muß einem weiteren Gedanken nähergetreten werden. Unser Verkehrsrecht zeichnet sich immer mehr durch Reglementierung, Gebote, Verbote und Strafandrohungen aus. Wir haben eine Unmenge Verkehrsschilder. Auf der anderen Seite spielt — ich beklage dies — die Verkehrserziehung immer noch eine untergeordnete Rolle, vor allem wenn es um die Kraftfahrer geht.
Wir sollten deshalb bei einer Änderung des Punktekatalogs, die wir ja hier beantragen, in die Überlegungen einbeziehen, ob man nicht eine Regelung vorsehen sollte, wonach man Punkte tilgen kann, indem man sich einer Nachschulung unterzieht, indem man also einen Kursus in Zusammenarbeit mit den Verkehrsverbänden, der Verkehrswacht, dem ADAC oder anderen mitmacht, wie dies bereits im Freistaat Bayern versucht wird.
Was wir wollen, ist also ein System der Verkehrserziehung und ein System der Bewährung. Strafen und andere Eingriffe haben wir in unserem Verkehrsrecht genug.
Dieser Antrag darf nicht mißverstanden werden, als stehe er unter dem Motto: Freie Fahrt für Verkehrsrowdies. Dieser Antrag darf auch nicht mißverstanden werden, als liege uns die Verkehrssicherheit nicht am Herzen. Was wir wollen, das ist eine gerechtere Ahndung von Verkehrsverstößen; das ist, daß persönliche Umstände besser berücksichtigt werden; das ist, daß nicht unbesehen Existenzen vernichtet werden. Wir wollen Gerechtigkeit auch für den Autofahrer. Das Recht nach Katalog muß verbessert werden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daubertshäuser.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Man muß wohl feststellen, daß die Forderung der Opposition nach einem Erfahrungsbericht nicht neu ist und auch keine originäre Idee der Opposition darstellt. Bei der Verabschiedung des Mehrfachtäterpunktsystems in der 7. Wahlperiode war es übereinstimmende Auffassung, nach einer gewissen Zeit der Praxis mit diesem System zu einem ausführlichen Erfahrungsaustausch zu kommen.
Nach drei Jahren Laufzeit ist dieser Zeitpunkt nun da.
Daß es bei diesem Erfahrungsaustausch in erster Linie darauf ankommt, die Erkenntnisse der Basis zu verarbeiten, dürfte für alle einleuchtend sein. Deshalb haben die Bundesländer, auf deren Verantwortung ich hier ausdrücklich hinweise, bereits Anfang dieses Jahres die Stellungnahmen ihrer unteren Straßenverkehrsbehörden eingeholt. Daraus ersehen Sie, daß die Regierung bereits seit einem dreiviertel Jahr arbeitet. Der erste Gedankenaustausch auf der Ebene des Bundesministers für Verkehr mit den zuständigen Ressorts der Länder hat bereits Anfang Oktober dieses Jahres stattgefunden. Daraus mögen Sie ersehen, daß die Opposition mit ihrem Antrag offene Türen einrennt.
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Daubertshäuser
Ich halte es für sinnvoll, auch noch einmal die Gründe in Erinnerung zu rufen, die zum jetzt gültigen System führten. Es geht darum, eine einheitliche Verwaltungspraxis bei der Entziehung der Fahrerlaubnis und bei den vorausgehenden Maßnahmen zu erreichen. Dabei sollten auch die Gleichbehandlung der Kraftfahrer erzielt werden sowie durch ein abgestuftes Maßnahmensystem in präventiver Weise die Verkehrssicherheit gestärkt werden. Ein weiteres, grundsätzliches Anliegen war es, durch objektive Kriterien das Verfahren für den einzelnen Kraftfahrer durchschaubarer und auch vorhersehbarer zu machen.
Nun, nach einer über dreijährigen Erfahrung mit diesem System, sind wir der Auffassung, daß es eine Reihe von Möglichkeiten gibt, zu einer wesentlichen Verbesserung zu kommen. Wenn wir diese Schwachstellen nun abklopfen, möchte ich jedoch vor dem falschen Eindruck warnen, wir seien grundsätzlich gegen die Absicht, Mehrfachtäter auf ihre Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu überprüfen und diese gegebenenfalls auch von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen. Es sind insbesondere vier Bereiche, die nach unserer Auffassung einer Überprüfung wert sind, nämlich die Bewertung von Verkehrsverstößen, die Tilgung oder auch — im Zusammenhang mit der Nachschulung — die Rabattgewährung bei Eintragungen im Verkehrszentralregister, die Gewährleistung von flexiblen Maßnahmen zur sachgerechten Beurteilung des jeweils konkreten Einzelfalles und die Nachschulung für Mehrfachtäter.
Ich möchte nun einige Beispiele nennen, bei denen es nach unseren Informationen zu Spannungen gekommen ist. Es ist zu überlegen, ob bei der Bewertung einzelner Verkehrsverstöße zwischen kriminellem Unrecht und bloßem Ordnungsunrecht differenziert werden muß. Wesentlich erscheint uns bei der Frage nach der Eignung als Kraftfahrer die Bewertung nach dem Kriterium der Verkehrsgefährdung und der Verkehrsgefährlichkeit. Das heißt im konkreten, daß z. B. bei fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung als Folge eines Verkehrsverstoßes weniger auf Grund der bedauerlichen Folge als vielmehr der Verkehrsverstoß als solcher qualifiziert und dann natürlich auch bepunktet werden muß. In diesem Zusammenhang ist auch zu überlegen, ob die noch als Bagatellverstöße anzusehenden Zuwiderhandlungen in den Verwarnungsgeldbereich einbezogen und diese damit von der Eintragung in das Verkehrszentralregister ausgenommen werden.
Aber, meine Damen und Herren, wenn man dieses System praktikabel halten will, dann dürfte es allerdings sehr schwer werden, von einer pauschalen Gesamtbetrachtung abzugehen. Auch die hier kompetenten Verbände sind der Auffassung, daß angesichts der Massenhaftigkeit der Verstöße im Bereich des Straßenverkehrs auf eine Generalisierung bei der Bewertung nicht verzichtet werden kann. Das bedingt nach unserer Auffassung aber auch, nach Wegen zu suchen, die eine verstärkte Einzelfallprüfung zulassen. Dies gilt dann insbesondere
für die Maßnahmen, die bei 18 Punkten einsetzen. nämlich mit dem Entzug.
Bei den Entscheidungen über Maßnahmen gegen Mehrfachtäter ist auch das Problem der Berücksichtigung der tatsächlichen Fahrleistung überdenkenswert. In den weiteren Verhandlungen im Ausschuß muß ausgelotet werden, wie das ohne Zweifel bestehende Spannungsverhältnis zwischen Berufskraftfahrern und den sogenannten Sonntagsfahrern praktikabel gelöst werden kann. Wir könnten uns durchaus vorstellen, daß bei der Entscheidung über Maßnahmen nach 18 Punkten der Umstand der höheren Fahrleistung gebührend berücksichtigt werden sollte.
Ein ähnliches Spannungsverhältnis besteht in den Fällen, bei denen durch Entzug der Fahrerlaubnis der Arbeitsplatz bzw. die Arbeitsexistenz verlorengeht. Bei allem Verständnis für die durch die Entziehung der Fahrerlaubnis eintretenden wirtschaftlichen und damit auch sozialen Schwierigkeiten darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß es zu einer Abwägung dieser privaten Interessen gegenüber dem Erfordernis des öffentlichen Interesses an Verkehrssicherheit kommen muß. Wir sind der Auffassung, daß diesem öffentlichen Interesse, nämlich Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten und unfähigen Kraftfahrern, immer noch die höhere Priorität eingeräumt werden muß.
Ein schwieriger Punkt in den späteren Ausschußberatungen dürfte auch die Frage sein, ob die sogenannten Halterverstöße für sich allein die Fahrerlaubnisentziehung rechtfertigen. In der bisherigen Rechtsprechung ist dies uneinheitlich beurteilt worden. Nach unserem jetzigen Informationsstand neigen wir dazu, bei ausschließlich begangenen Halterverstößen statt der Fahrerlaubnisentziehung eine gewerberechtliche Lösung anzustreben, die allerdings wirkungsvoll genug sein muß, um die Verkehrssicherheit zu stärken.
In den Veröffentlichungen zu diesem Gesamtfragenkomplex bildete die Tilgungsregelung einen besonderen Schwerpunkt. Das hierbei häufig zu lesende Schlagwort, wonach die jetzt gültige Tilgungsregelung Verkehrssünder auf Lebenszeit schaffe, scheint mir doch etwas überspitzt, ja, polemisch. Wenn man sich nämlich einmal die realen Zahlen anschaut, wird man sehr schnell feststellen, daß z. B. 1976 im Verkehrszentralregister über 1,2 Millionen Personen gelöscht wurden. Das ist immerhin ein Viertel des Gesamtbestandes derer, die dort eingetragen wurden. Bei dem häufig zur Untermauerung genannten Beispiel für die Verkehrssünder auf Lebenszeit handelt es sich um ausgesprochene Ausnahmefälle. Bei der künftigen Diskussion dürfte Übereinstimmung darüber herrschen, daß diese Ausnahmefälle nicht der Maßstab für eine an den Prinzipien der Verkehrssicherheit orientierte Tilgungsregelung sein dürfen. Es ist ja gerade Aufgabe dieser Regelung, sicherzustellen, daß der häufig auffallende und damit in aller Regel auch unfähige Kraftfahrer auf seine weitere Eignung als Kraftfahrer überprüft werden kann. Meine Damen und Herren, gleichwohl sind auch wir bereit, die jetzt gültige Tilgungsregelung zu überprüfen. Dabei muß man al-
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Daubertshäuser
lerdings beachten, daß das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17. Dezember 1976 auch die Erwartung an den Gesetzgeber ausgesprochen hat, daß er die Tilgungsbestimmungen in besonderen Fällen verschärft.
Das unter Punkt 6 des Oppositionsantrages auftauchende Stichwort Nachschulung ist ja wohl auch nicht mehr so taufrisch, wie mancher glauben mag, denn bereits im Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung vom 28. November 1973
— ich sage etwas dazu; Sie wissen das sehr genau, Herr Dr. Schulte — ist dieses Programm und dieses Instrument sehr breit dargestellt worden. Es geht nun darum, daß wir nach der vergleichenden Gesamtauswertung — wir haben zur Zeit fünf Modelle in der Praxis am Laufen — eine Entscheidung treffen müssen, welches von den fünf Modellen bundesweit angewandt werden kann. Wir können uns durchaus vorstellen, daß dieses Instrument der Nachschulung mit Gewährung eines Punkterabatts wirkungsvoll in das bisherige Gesamtsystem eingebaut werden könnte.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend möchte ich feststellen, daß wir eine Beseitigung von Schwachstellen für dringend erforderlich halten. Das dürfte jedoch wohl kaum eine grundlegende Reform des Punktesystems notwendig machen. Wir erkennen jedoch an, daß die von mir nur teilweise angesprochenen Probleme schwierig und komplex sind und auch in einer sehr engen Berührung mit anderen Rechtsinstitutionen stehen. Deshalb halten wir den im Oppositionsantrag genannten Termin 31. April 1978 für sehr bedenklich. Wir sollten alle gemeinsam ein Interesse daran haben, möglichst umfassend informiert zu werden, um dann von einer gesicherten Grundlage aus auch im Detail diskutieren zu können.
Deshalb, meine Damen und Herrren, sollten wir auch das Motto eines jeden verantwortungsbewußten Kraftfahrers für unsere Weiterarbeit in der Beratung beachten, nämlich: Qualität geht vor Schnelligkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoffie.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die mit recht anschaulichen Beispielen unterlegten Ausführungen des Kollegen Dr. Schulte können, wie ich meine, nicht darüber hinwegtäuschen, daß an dem Antrag der Oppositionsfraktion zum sogenannten Mehrfachtäter-Punktsystem für Kraftfahrer am meisten wohl der unnötige Versuch von Selbstdarstellung irritiert; denn in Ihrem vordergründig unbändigen Drang zur Aktion haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, diesmal wieder auf dem Gebiet der Verkehrspolitik und einmal mehr ein Thema aufgegriffen, das ja schon längst Zug um Zug in Bearbeitung ist.
Sie wollen von der Bundesregierung zugunsten der Autofahrer Taten sehen, die gewisse, von allen
bereits erkannte Schwachstellen in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 15 b der StraBenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 3. Januar 1974 beseitigen, obwohl die Exekutive schon ganz solide Tätigkeit zeigt, an Hand der in nunmehr dreijähriger Praxis mit dieser Verwaltungsvorschrift gewonnenen Erfahrungen Unebenheiten und Widersprüchlichkeiten zu beseitigen und Verbesserungsmöglichkeiten ganz fair und vernünftig zu realisieren. Sie wollen die grundsätzliche Richtung für diese Tätigkeit vorzeichnen, obwohl diese Stoßrichtung bereits expliziert ist.
Sie hätten nicht diese Initiative vom Stapel lassen müssen, um uns zu demonstrieren, daß die Kommunikation zwischen der CDU/CSU-Fraktion in Bonn und Ihren Länderverkehrsministern halbwegs funktioniert. Sie wissen, was auf der Bund-Länder-Ebene innerhalb der Verwaltung auf verkehrspolitischem Gebiet in der Mache ist. Es ist auch keine tüchtige Leistung, nur flugs in einem Antrag nachzuvollziehen, was als Arbeitsauftrag an zwei Bund-LänderArbeitsgruppen vergeben worden ist. So lebt man fürs Showgeschäft, und so liebt man eben den Showeffekt. Etwas anderes wäre es, wenn Sie dem Publikum etwas Neues, etwas Eigenständiges, etwas Originelles böten.
Von Ihrer derzeitigen psychologischen Struktur her ist Ihr Vorstoß sehr wohl verständlich, jedoch ist eine intensive Sachdiskussion über das Mehrfachtäter-Punktsystem im Deutschen Bundestag nach Meinung der Freien Demokraten heute noch verfrüht und deshalb zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich auch überflüssig.
Man täte besser daran, Herr Kollege, bei aller Relevanz, die die zu behandelnde Thematik natürlich für die einzelnen Kraftfahrer hat, erst einmal -die Ergebnisse dieser beiden Arbeitsgruppen abzuwarten, um dann an Hand deren Änderungs- und Ergänzungsempfehlungen diesen oder jenen Punkt im Mehrfachtäter-Punktsystem zu überdenken und gegebenenfalls natürlich auch abzuändern.
Befürchtungen daß die Diskussion über die Frage, Herr Dr. Schulte, ohne Ihren Antrag am Bundestag vorbeiliefe, sind sicher überhaupt nicht gerechtfertigt, da der Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages, obgleich ja nur informell beteiligt, bei der ausführlichen Aussprache über das MehrfachtäterPunktsystem vor dem seinerzeitigen Erlaß der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 15 b der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung im Jahre 1973 mit vielen seiner Änderungsvorschläge erfolgreich war. Damals bestand Einmütigkeit darüber, daß auch künftige Entwürfe bzw. Änderungsvorschläge aus diesem Bereich im zuständigen Bundestagsfachausschuß behandelt werden sollen, wenn es sich — wie hier — um Grundsatzfragen handelt. Auch wenn die Verantwortung für den Erlaß solcher Verwaltungsvorschriften nach dem Straßenverkehrsgesetz beim Bundesverkehrsminister und beim Bundesrat liegt,
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erwartet der Verkehrsausschuß, daß er von der Bundesregierung nicht nur unterrichtet wird, sondern daß seine Stellungnahmen auch gewürdigt und nach Möglichkeit berücksichsichtigt werden; denn der Ausschuß ist ja für die gesamte Verkehrspolitik mit verantwortlich.
Außerdem ist das von Ihnen geforderte Timing — der Termin 31. März 1978, bis zu welchem die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen umfangreichen und detaillierten Erfahrungsbericht über das Mehrfachtäter-Punktsystem vorlegen soll — so knapp bemessen, daß der Termin schlechterdings objektiv nicht haltbar ist.
— Aber Herr Schulte, Sie selbst und die Ländervertreter haben doch einen gemeinsamen Erfahrungsbericht nach drei Jahren gefordert. Dann ist dieser Termin 31. März 1978 eben nicht haltbar, oder aber Sie setzen sich auch in Widerspruch zu Ihren eigenen Länderministern. Nachdem von Anfang an sowohl der Bund als auch die Länder beabsichtigt hatten, nach dreijährigem Vollzug des neuen Mehrfachtäter-Punktsystems in einem ausführlichen Bericht die Erfahrungen und die Bewertungen auszutauschen, hatten die Länder seit Anfang dieses Jahres die Stellungnahmen ihrer Straßenverkehrsbehörden eingeholt, die die Grundlage für einen ersten Gedankenaustausch auf der Bund-Länder-Ebene am 4. und 5. Oktober dieses Jahres waren. Bei grundsätzlich positiver Beurteilung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift durch die Straßenverkehrsbehörden und durch die Länder, insbesondere im Hinblick auf das Erreichen der wesentlichen Zielsetzung, bestand ja Übereinstimmung darin, daß das MehrfachtäterPunktsystem nicht ohne Schwachstellen ist und Änderungen sowie Neuerungen bedarf.
Diese Vorberatungen haben aber auch gezeigt, daß zur Formulierung von Änderungs- sowie Ergänzungsempfehlungen wegen der schwierigen und komplexen Probleme umfangreiche Vorbereitungen notwendig sind und die Bildung von zumindest zwei Bund-Länder-Arbeitsgruppen sinnvoll ist. Diese "Arbeitsgruppen, die vor allem die Bepunktung und den Maßnahmenkatalog überarbeiten sollen, werden die Arbeitsergebnisse auf Grund der umfangreichen Datenerhebung realistischerweise erst gegen März/ April 1978 vorlegen können. Die sich daran anschließenden Beratungen zwischen Bund und Ländern sind mit Sicherheit nicht vor der nächsten parlamentarischen Sommerpause zu beenden, wie Sie sich ja selbst leicht ausrechnen können.
Das bedeutet als Fazit, daß ein fundierter Bericht, ein Bericht, der nicht nur über das Knie gebrochen sein soll, dem Bundestag frühestens erst nach der Sommerpause 1978 zugeleitet werden kann. Wollen Sie sich denn in Anbetracht dieser Lage nicht dazu verstehen — das müssen Sie sich fragen lassen —, diesen Bericht nun wirklich erst einmal abzuwarten und von einem der uns alle interessierenden Sache nicht dienlichen Parforceritt abzusehen?
Ohne der ausführlichen Diskussion über den kommenden Bericht vorgreifen zu wollen, möchte ich, an-
knüpfend an die in Ihrem Antrag formulierten Forderungen, einige kurze Feststellungen treffen. Die Punkte beim Mehrfachtäter-Punktsystem, die immer wieder im Mittelpunkt der kritischen Betrachtung stehen, sind allen, die auf dem Gebiet der Verkehrspolitik tätig sind, bekannt und haben auch in den Katalog der Opposition Eingang gefunden. Inwieweit diese und darüber hinausgehende Kritik berechtigt ist, ist ein Teil des Untersuchungsauftrags, der den beiden schon genannten Arbeitskreisen erteilt worden ist.
Immer wieder wird angegriffen, daß Verkehrsstraftaten grundsätzlich höher bepunktet werden als Verkehrsordnungswidrigkeiten, die mit einem Bußgeld belegt werden. Meine Fraktion bedauert, daß in dieser Frage die dogmatischen Erwägungen der Justizverwaltungen bisher im Vordergrund standen und die dem Mehrfachtäter-Punktsystem zugrunde liegende Frage der Eignung als Kraftfahrer, die viel wichtigere Bewertung des Kriteriums der Verkehrsgefährdung und der Verkehrsgefährlichkeit in den Hintergrund gedrängt wurde. Wir teilen den Verbesserungsvorschlag beispielsweise des ADAC, innerhalb der Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte, d. h. an der Verkehrsgefährlichkeit orientierte Relation herzustellen und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß eine Angleichung der Bußgeldregelsätze und der Punktebemessung erfolgt. Genauso scheint es sinnvoll zu sein, gewisse bepunktete Ordnungswidrigkeiten in den eintragungsfreien Verwarnungsgeldbereich herunterzustufen, andere umgekehrt heraufzustufen.
Der FDP erscheint es ebenfalls fraglich, ob die sogenannten Halterverstöße wie bisher verfolgt werden sollen, mit dem Ergebnis, daß eine Fahrerlaubnis durch die zuständige Verwaltungsbehörde ausschließlich wegen Halterverstößen entzogen werden kann. Wir begrüßen wegen unserer Vorbehalte gegen diese Praxis ausdrücklich die neuere Tendenz in der Rechtsprechung, die eine Ungeeignetheit im Sinne des § 4 des Straßenverkehrsgesetzes wegen Halterverstößen eben nur dann annimmt, wenn diese entweder zugleich die Unzuverlässigkeit des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen offenbaren oder wenn sie Eignungsbedenken auf Grund von Führerverstößen zusätzlich verstärken, aber ansonsten wegen schlechter Betriebsüberwachung die Halter nur über das Gewerberecht bestrafen möchte. Der gewerberechtlichen Lösung, Herr Dr. Schulte, gibt die FDP den Vorzug, da sie wirkungsvoll genug zu sein scheint, um die der Verkehrssicherheit abträglichen Halterverstöße einzudämmen und auch adäquat zu verfolgen.
Aber überzogen erscheint meiner Fraktion der auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, heute wieder gebrauchte Slogan der „Verkehrssünder auf Lebenszeit". Die Fakten widerlegen diesen Vorwurf. Gemäß der geltenden Tilgungsregelung wurden 1976 im Verkehrszentralregister mehr als 1,2 Millionen Eintragungen gelöscht. Das macht etwa ein Viertel aller eingetragenen Personen aus. Das ist ein hoher Umschlag. Überschläglich hochgerechnet ergibt sich daraus, daß nur ein geringer Anteil immer kurz vor Tilgungsreife der letzten Eintragung einen weiteren bepunkteten Verkehrsverstoß begeht und somit auf Dauer,
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also auf Lebenszeit, eingetragen bleibt. Solche Ausnahmefälle, die hierdurch vielleicht die kritische Punktzahl erreichen, können und dürfen nicht der Maßstab für eine an den Prinzipien der Verkehrssicherheit orientierte Tilgungsregelung sein. Ob von dem zum Strafregister analogen Tilgungsgrundsatz beim Verkehrszentralregister abgewichen werden soll, möchte ich heute ebensowenig abschließend beurteilen wie die Frage einer Reduzierung der bisherigen Tilgungsfristen in bestimmten Fällen. Darüber wird uns der Bericht der Bundesregierung sicherlich mehr Aufschluß geben. Diese Frage könnten wir jetzt nicht so leichtfertig entscheiden. Beachtet werden sollte in diesem Zusammenhang aber auch, meine Damen und Herren von der Opposition, daß das Bundesverwaltungsgericht sich, wie hier schon erklärt wurde, in einer erst jüngst veröffentlichten Entscheidung aus dem Jahre 1976 für eine Verschärfung der Vorschriften über die Tilgungsfristen in bestimmten Fällen ausgesprochen hat.
Bei allem Verständnis für die durch den Entzug der Fahrerlaubnis entstehende schwierige Situation im beruflichen wie im privaten Bereich sollte nach Auffassung der FDP wie bisher der Gesichtspunkt im Vordergrund stehen, daß wirtschaftliche Nachteile, im Zweifel auch ein Berufsverlust infolge der Entziehung, gegenüber dem Erfordernis der Verkehrssicherheit, gegenüber dem öffentlichen Interesse nach dem Schutz der Allgemeinheit vor wirklich ungeeigneten Kraftfahrern zurückzutreten haben.
Inwieweit eine Korrektur der Bewertung im Einzelfall, um der tatsächlichen Schwere eines Verkehrsverstoßes besser Rechnung zu tragen, und inwieweit die Berücksichtigung der tatsächlichen Fahrleistungen bei den Entscheidungen über Maßnahmen gegen Mehrfachtäter möglich sind, werden wir an Hand des Berichtes sicher besser erörtern können, als es heute bei dieser Debatte oder auch bei den Ausschußberatungen möglich ist. Vielleicht ergibt sich ein Weg über die wünschenswerte Erweiterung des Ermessensspielraums der Verwaltungsbehörden bei dem Verfahren zum Entzug der Fahrerlaubnis.
Unbestritten hat die Frage des verstärkten und effektiven Einbaus des Instruments der Nachschulung in das Mehrfachtäter-Punktsystem ganz besonderes Gewicht. Entsprechende Nachschulungsmodelle sind schon heute in verschiedenen Bundesländern auch mit wissenschaftlicher Koordinierung durch die Bundesanstalt für Straßenwesen in Erprobung und Entwicklung. Die ausstehenden Wirksamkeitsuntersuchungen über die einzelnen Modelle werden etwa gegen Ende 1978 vorliegen, so daß der Verkehrsausschuß dieses Thema dann eingehend beraten kann. Davon unabhängig wird nach dem Arbeitsauftrag für die Arbeitsgruppe 2 dieses Gremium schon jetzt die rechtlichen Grundlagen erarbeiten, durch die das Instrument der Nachschulung in das Mehrfachtäter-Punktsystem eingeführt werden kann. Ein effektives Nachschulungsmodell bietet vielleicht mehr als viele Bußgeldtatbestände die Gewähr dafür, die Autofahrer, die sich teilweise so leichtfertig bewußt über die Verkehrsgebote und -verbote hinwegsetzen und damit sich und andere Ver-
kehrteilnehmer ernsthaft gefährden, zu einem adäquaten Verhalten im Straßenverkehr zu bringen.
Der Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages ist sicher der bessere Ort- um Ihren, wie wir meinen, überflüssigen Antrag weiter zu behandeln,
sofern Sie ihn nicht, was wir begrüßen würden, Herr Kollege Straßmeir, zurückzögen, um später an Hand des schon in Arbeit befindlichen Berichts der Bundesregierung in die Sachdiskussion einzutreten.
Herr Kollege, die Vertreter der von Ihnen geführten Bundesländer haben diesen Zeitplan mit aufgestellt. Der Bericht ist zu dem in Ihrem Antrag jetzt genannten Termin überhaupt nicht möglich; aber wir werden die kurze Zeit von zwei bis drei Monaten, um die die Frist verlängert wird, noch abwarten können, um dann auf einer soliden Grundlage diskutieren zu können. Dann braucht das nicht so mit der linken Hand zu geschehen, wie das heute hier der Fall sein muß.
Herr Kollege Schulte, ansonsten bleibt resümierend das zu wiederholen, was gestern der Mitherausgeber der Ihnen sicherlich gewogenen, recht konservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Johann Georg Reißmüller, hinsichtlich Ihrer Rolle, Arbeit und Qualität der Opposition mit den Worten ins Stammbuch geschrieben hat:
Sie
— die Opposition —
zerfasert sich in tausend Aktionen, Vorstößen, Rückzügen ... Diese Opposition erweckt den Eindruck, als fehlten ihr die Themen .. .
Aus ihrer seltsamen Konturlosigkeit kann die Union nicht mit einer Flucht ins Personelle und Taktische herausfinden, ... mit Geschäftigkeit im Nebensächlichen, .. .
Das sind nicht meine Ausführungen, sondern das ist ein Zitat, das ich mit Genehmigung zitiert habe und zitieren darf. Dem ist, was dieser Antrag erneut sehr deutlich beweist, aus unserer Sicht nichts hinzuzufügen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.
Der Ältestenrat schlägt vor, diesen Antrag an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu überweisen. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schulte , Milz, Lemmrich, Tillmann, Pfeffermann, Straßmeir, Weber (Heidelberg), Dreyer, Dr. Jobst, Haberl, Dr. Waffenschmidt, Hanz, Ziegler, Sick, Frau
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Vizepräsident Frau Renger
Hoffmann , Würzbach, Friedmann, Biechele, Dr. Möller, Bühler (Bruchsal) und der Fraktion der CDU/CSU
Bundesfernstraßenbau — Drucksache 8/1139 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Milz. Ich bitte alle herzlich, sich kurz zu fassen, damit wir damit noch vor der Mittagspause fertig werden.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, Ihrer Bitte soweit wie möglich Rechnung zu tragen. Ich hoffe auf mildernde Umstände, wenn ich zunächst wenige Sätze zum Auftritt unseres Kollegen Hoffie sage. Wenn ein Antrag von der Union kommt, muß er von Anfang an schlecht sein. Deshalb muß er in billiger Polemik abgeputzt werden.
Ich hoffe, daß es dem zweiten Antrag nicht so ergeht, da er nicht nur durch eigenes Erleben begründet ist, sondern auch durch Aussagen potenter Vertreter der Bundesregierung geradezu notwendig geworden ist.
— Ich sage dies sehr wohlwollend, Herr Kollege, obwohl wir davon ausgehen, daß es die kaum noch gibt.
Meine Damen und meine Herren, dieser Antrag ist, wie ich schon sagte, u. a. auf Grund von Aussagen verschiedener Mitglieder der Bundesregierung entstanden. Beispielsweise sagte Herr Staatssekretär Schlecht am 7. September dieses Jahres, der Investitionsstau im Bereich des Straßenbaus habe die Höhe von 15 Milliarden DM erreicht.
Diese Summe wurde dann zwar nach unten etwas verändert, aber immerhin durch den Bundeskanzler mit ca. zehn Milliarden DM beziffert.
Selbst wenn wir davon ausgehen, daß es nur zehn Milliarden sind, muß alles getan werden, nach Mitteln und Wegen zu suchen, diesen Investitionsstau — aus vielen Gründen, auf die ich nachher noch zurückkommen möchte — abzubauen.
Meine Damen und Herren, die Union hat in einem Antrag mit fünf Einzelpunkten den Versuch unternommen, Ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie man das machen kann. Wir hoffen, daß Sie, wenn Sie einsichtig sind — daran glauben wir hin und wieder noch —,
diesem Antrag folgen. •
Ich darf zu den einzelnen Punkten ganz wenige Bemerkungen machen.
Meine Damen und Herren, wir stellen fest, daß in der Ausbaustufe I a eingestufte Straßenbauprojekte häufig nicht ausgeführt werden können und daß in den einzelnen Ländern nicht ausreichend ausführungsreife Maßnahmen zur Verfügung stehen, die an deren Stelle treten könnten. Wir verkennen dabei nicht, daß schon heute in Einzelfällen auch die Ausbaustufe I b herangezogen werden kann. Dies geschieht aber, wie wir glauben, nicht in dem Maße, daß die zur Verfügung stehenden Mittel ohne große Schwierigkeiten abgebaut werden.
Wir halten es für notwendig, die Bundesregierung aufzufordern, hier einen Schritt weiterzugehen, mehr Mut zu zeigen, um auf diese Weise die zur Verfügung gestellten Mittel zügiger abfließen zu lassen.
Zum zweiten Punkt unseres Antrages möchte ich auf einen redaktionellen Fehler aufmerksam machen; hier ist ein Druckfehler vorgekommen. Es darf in der vorletzten Zeile nicht „Planungs v e r -lauf", sondern muß „Planungs v o r lauf" heißen.
— Natürlich ist das etwas anderes.
Meine Damen und Herren, die Punkte 1 und 2 stehen miteinander in einem engen Zusammenhang, weil häufig festgestellt werden muß, daß die Landesplanungsbehörden keine ausreichenden Möglichkeiten haben, sogenannte Schubladenpläne zu entwickeln, auf die sie, wenn — aus welchen Gründen auch immer — Schwierigkeiten auftreten, zurückgreifen können, um sie in den Genehmigungsgang zu geben und auf diese Weise in den einzelnen Bundesländern zum Abbau des Investitionsstaus beizutragen. Es ist notwendig, daß auch die Bundesregierung das Ihre dazu beiträgt, den Landesplanungsbehörden die Möglichkeit zu geben, den Planungsvorlauf zu vergrößern, um dazu beizutragen, daß das Übel, von dem ich mehrfach sprach, beseitigt wird.
Eine der Ursachen, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, ist — darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen — die Tatsache, daß der Schallschutz im Bereich des Straßenbaus bisher überhaupt nicht geregelt ist. Die Bundesregierung hat zwar im Ausschuß mehrfach erklärt, sie werde uns in absehbarer Zeit einen Vorschlag machen; auf diesen Vorschlag warten wir bis heute noch. Auch die Bürger und die Straßenbaufirmen warten darauf. Eine der Ursachen, weshalb es notwendig ist, den Planungsvorlauf zu vergrößern, ist also auch in der Untätigkeit der Bundesregierung auf dem Gebiet des Schallschutzes zu sehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum dritten Punktkommen und feststellen, daß in einer Zeit, die mit der heutigen nicht vergleichbar ist, die Bundesregierung zu der durchaus vernünftigen Auffassung gelangt war, daß man — zur Streckung der Mittel und um wenigstens eine teilweise Befriedi-
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Milz
gung der berechtigten Forderungen der Bürger zu erreichen — zunächst einmal zu einem teilweise einstreifigen Ausbau kommen müßte. Wir haben diese Auffassung damals mitgetragen. Nicht mit der heutigen vergleichbar ist sie insofern, als damals Mittel in zu geringem Maße zur Verfügung standen, während heute auf Grund der Umstände, von denen ich sprach, mehr Mittel, als abfließen können, zur Verfügung stehen. Deshalb sollte die Bundesregierung aufgefordert werden, darüber nachzudenken, ob man nicht von diesem ehemals richtigen Beschluß in der Weise herunterkommt, daß man schon heute die Straßen komplett baut, die zunächst nur einstreifig vorgesehen waren, zumal ja auch für diese Straßen schon beim einstreifigen Ausbau Kosten in Höhe von ca. 70 bis 85% der Gesamtkosten entstehen.
Sehr wichtig, ist auch das, was im Anhang zum Ausbauplangesetz in der Rubrik „Möglicher weiterer Bedarf" aufgeführt ist. Hier knüpfen wir an das an, was die Union zur Situation der Kommunen gesagt hat, denn hier sind die Gemeinden, zum Teil aber auch die Länder betroffen.
Wir haben im Ausbauplangesetz diese Rubrik „Möglicher weiterer Bedarf". Sie führt dazu, daß dann, wenn der Bund sein Interesse am Ausbau einer Trasse bekundet hat, andere Baulastträger nicht mehr tätig werden können oder nicht mehr tätig werden wollen. Wir meinen, es sei unerträglich, diesen Zustand fortbestehen zu lassen, und möchten die Bundesregierung animieren, diese Rubrik schneller abzubauen, schneller zu sagen, was denn nun wirklicher Bedarf ist, damit mögliche andere Baulastträger, damit die Länder, damit die Gemeinden in die Lage versetzt werden, in eigener Verantwortung notwendige Straßenbaumaßnahmen durchzuführen.
Meine Damen und Herren, schließlich zum letzten Punkt, der nicht weniger wichtig ist als die bisherigen. Alles das, was wir begehren, zielt auch darauf ab, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dazu zunächst ein paar Zahlen: Es hat beispielsweise der Vorsitzende der IG Bau, Steine, Erden, der ja eher der SPD/FDP als uns nahesteht, erklärt, daß allein in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1977 6 000 Arbeitsplätze im Straßenbau gefährdet seien, weil die Straßenbaumittel nicht abfließen. Wir alle wissen, meine Damen und Herren, daß seit 1970 im Bereich des Straßenbaus insgesamt 52 000 Arbeitsplätze verlorengegangen sind. Wir sollten eigentlich auch wissen, daß in der Vergangenheit im Straßenbau gerade die nicht voll ausgebildeten Arbeitskräfte sehr stark beschäftigt wurden, und wir wissen auch, daß diese Arbeitskräfte bei der heutigen Struktur der Arbeitslosigkeit sehr viel schwerer als ausgebildete Arbeitskräfte vermittelt werden können. Dann aber, wenn dies so ist, meinen wir, sei es notwendig, auch um der Arbeitslosen willen, auch um des Abbaus dieser unerträglichen Zahlen von Arbeitslosen willen unserem Antrag zu folgen, da wir davon ausgehen, daß dann im Bereich der ungelernten Arbeitskräfte die notwendige Linderung der Not eintritt.
Meine Damen und Herren, wir appellieren an Ihren guten Willen und an Ihren Sachverstand. Hier geht es nicht darum, darüber zu diskutieren, ob ein Antrag der Union richtig oder falsch ist, sondern in erster Linie darum, das Problem des Straßenbaus in den Griff zu bekommen. Mir laden Sie zu objektiver Mitarbeit ganz herzlich ein.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Topmann.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag einiger Abgeordneter — insoweit, Herr Milz, dürfen Sie davon ausgehen, daß wir wirklich guten Willens sind, uns jedem Antrag, von wo er auch immer kommen mag, mit allem Nachdruck zuzuwenden —
verfolgt nach unserer Auffassung — sicherlich nach sehr wohlwollender Einstufung unsererseits — scheinbar drei Ziele, nämlich die Sicherung der Kontinuität im Bundesfernstraßenbau,
Einsatz blockierter Mittel an sinnvoller anderer Stelle und schließlich schnelle Abwicklung von Sonderprogrammen für Konjunktur und Wachstum. Ich nehme an, daß ich insoweit mit Ihnen noch voll übereinstimme. Inhaltlich, meine Dame und meine Herren von der Opposition, knüpft dieser Antrag an die Diskussion im Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen im April 1976 an über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 bis 1985 — Drucksache 7/5090. Ich glaube, es ist ganz interessant, Herr Milz, wenn wir uns einmal den Verhandlungsverlauf und das damalige Ergebnis dieser Beratung aus dem Jahre 1976 noch einmal vor Augen führen, weil zum damaligen Zeitpunkt der Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen des Deutschen Bundestages weitergehende Forderungen des Bundesrates einmütig zurückgewiesen hat.
— Weil Herr Lemmrich damals Schriftführer war und weil das im Protokoll so wiedergegeben wurde.
Ich bedauere es an sich, daß Herr Lemmrich heute nicht unter uns weilt,
denn er war in der Tat Berichterstatter. — Sie bedauern das auch, na sehen Sie, hier besteht heute wiederum eine Übereinstimmung zwischen uns.
Ich meine, zunächst einmal müßte geprüft werden, ob die in Abs. 1 Ihres Antrages, meine Damen
4674 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Topmann
und Herren von der Opposition, gestellte Forderung, die im weitesten Sinne mit der damaligen Forderung des Bundesrates identisch ist, den § 6 des Gesetzes über den Ausbau von Bundesfernstraßen wie folgt neu zu formulieren:
Innerhalb eines Landes können in begründeten Ausnahmefällen die Straßenbaupläne im Einzelfall auch Maßnahmen enthalten, die nicht der im Bedarfsplan festgelegten Dringlichkeitsstufe entsprechen.
— Entschuldigung, ich bin ja nur dabei, die Entwicklung chronologisch aufzuzeigen. Damals waren auch Sie, die Vertreter der CDU/CSU im Ausschuß, der Auffassung, daß man das im Interesse der Kontinuität der Priorität im Bundesfernstraßenbau nicht würde tun können. Jetzt frage ich mich: Was hat sich seit 1976 nun wirklich so Entscheidendes geändert?
Wir wissen — ich hoffe, Sie wissen es auch, Herr
Milz; aber davon gehe ich aus —, daß die Minder-
ausgaben der Jahre 1976 und — vorausschauend
— 1977 nicht oder nicht wesentlich höher sind als in den vorausgehenden Jahren, also in den Jahren, die ja doch maßgeblich dafür Pate gestanden haben, daß wir zu unserer einmütigen Auffassung gekommen sind.
In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal festzustellen, daß keinerlei Anhaltspunkte vorliegen, nach denen der Bundesregierung vorgeworfen werden könnte, die Möglichkeiten des § 3 und des § 6 des Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen nicht flexibel genug ausgelegt zu haben. Dafür gibt es nach unserer Überzeugung keine Anhaltspunkte.
Meine Damen und Herren von der Opposition, eigentlich hätten Sie im Wissen um die bestehenden gesetzlichen Regelungen — ich komme gleich noch einmal darauf zurück — hier nicht nur einen Antrag stellen, sondern eine Gesetzesänderung beantragen müssen; denn Sie könnten Ihre in Ihrem Antrag zum Ausdruck kommenden Vorstellungen zu § 1 und § 3 des Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen nur mit einer Gesetzesänderung verwirklichen, weil das derzeitige Gesetz Ihre Vorstellungen in der Tat nicht mehr abdeckt.
Für meine Meinung, daß die Bundesregierung die Dinge sehr flexibel gehandhabt hat, spricht — ich erwähnte es eben schon — der Umstand, daß wir 1976 und 1977 eben nicht zu dem von Herrn Milz zitierten hohen Investitionsstau gekommen sind. Das ist nicht der Fall.
Herr Milz, ich könnte mir vorstellen, daß möglicherweise Sie und einige andere, die dazu Stellung bezogen haben, nicht zwischen „Investitionsstau" und „Projektstau" differenziert haben. Das müssen wir sauber auseinanderhalten. Es mag durchaus sein, daß der Projektstau in den letzten Jahren sehr viel größer war als der Investitionsstau. Nur dank der Flexibilität unserer Bundesregierung, die im Einvernehmen mit den Ländern und unter ihrer Mitarbeit für eine vernünftige Auslegung der von mir eben zitierten Paragraphen Sorge getragen hat, ist es bisher nur zu einem tragbaren Investitionsstau gekommen.
Eine sicherlich auch für Sie unverdächtige Zeitschrift wie „Straße und Wirtschaft" hat am 7. November 1977, also vor wenigen Wochen, ganz eindeutig auf diesen Unterschied hingewiesen und dabei zum Ausdruck gebracht, daß man das nicht zusammenwerfen dürfe.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Milz?
Ja.
Herr Kollege, sind Sie mit mir einer Meinung — ohne darüber zu streiten, ob „Projektstau" oder „Investitionsstau" —, daß beides Arbeitslosigkeit verursacht?
Nein, ein Projektstau muß nicht unbedingt Arbeitslosigkeit zur Folge haben, Herr Milz. Wenn die Flexibilität in den Verhaltensweisen der Bundesregierung und der Landesregierungen auch fürderhin — wer wird schon daran zweifeln wollen — gegeben ist, dann wird immer gemäß § 3 und § 6 des Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen und einer sinnvollen Fortschreibung des Bedarfsplans dafür Sorge getragen werden, daß aus dem Projektstau kein Investitionsstau wird. Das ist doch der Punkt.
— Ich habe doch gesagt, daß es die zehn Milliarden nicht gibt. Soweit der Bund betroffen ist, sieht es doch so aus, daß wir im vergangenen Jahr etwa 150 bis 180 Millionen DM hatten und in diesem Jahr nicht sehr viel mehr haben. Das sind Mittel, die seit Jahren mit einer Steigerungsrate zwischen 3 und 4 °/o — wenn Sie so wollen — von einem Jahr zum anderen weitergegeben worden sind. Das ist doch die ganze Wahrheit.
— Herr Milz, wenn man mir die Zeit anrechnet, bin ich gern bereit, Ihre Zwischenfrage zuzulassen. Wenn nicht, dann muß ich zum Ende kommen. Ich würde Ihnen gern die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben, weil ich weiß, daß Sie interessante Zwischenfragen zu stellen in der Lage sind.
Es gibt ja noch weitere Beratungen. Ich kann Ihnen die Zeit nicht anrechnen.
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Wenn ich die Zeit nicht angerechnet bekomme, kann ich die Zwischenfrage nicht zulassen.
— Herr Schulte, ich komme noch darauf zurück.
Von daher gesehen spricht nach unserer Auffassung nichts dafür, ohne Not die sicherlich von uns allen gewünschte Kontinuität der Prioritäten im Bundesfernstraßenbau aufzugeben.
Im übrigen hoffe ich, daß auch Sie die von der Bundesregierung praktizierte flexible Anwendung der §§ 3 und 6 des schon mehrfach zitierten Gesetzes im Interesse der regionalen Ausgewogenheit nur auf den Bereich innerhalb der Ländergrenzen bezogen wissen wollen. Die gestrige Debatte im Verkehrsausschuß — das darf ich hier einmal ganz deutlich sagen — bestätigt diese unsere Hoffnungen. Hoffentlich bleibt es dabei, meine Damen, meine Herren. Alles andere, nämlich das Abgehen von den sogenannten Länderkontingenten, würde den unter nicht leichten Bedingungen gefundenen Grundkonsens zwischen der Bundesregierung und den Länderregierungen in Frage stellen und neue erhebliche Schwierigkeiten herausfordern.
— Es gibt ja noch einen weiteren Antrag, über den wir uns demnächst — zunächst im Ausschuß und dann im Plenum — sicherlich unterhalten werden. Es steht also noch einiges im Raum. Herr Milz, wenn Sie richtig zugehört hätten, hätten Sie gehört, daß ich eben noch einmal gesagt habe: Nach dem gestrigen Verlauf der Ausschußsitzung bin ich der Meinung, daß wir hier gemeinsam guter Hoffnung sein können. Das hat sich, wie ich meine, vorhin schon erledigt.
Unter Ziffer 2 Ihres Antrags beantragen Sie, sicherzustellen, „daß — in Anbetracht der großen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Planungen — der Planungsverlauf" — Sie haben sich mittlerweile korrigiert und richtiggestellt, daß es „Planungsvorlauf" heißen muß — „wesentlich verbessert wird". Wir gehen mit Ihnen in der Meinung einig, daß es in einigen Ländern dringend notwendig erscheint
— z. B. in Nordrhein-Westfalen —, die Planungskapazitäten im Sinne der Ausweitung zu verbessern. Meine Damen und Herren, ich nehme an, daß Sie früher im Erdkundeunterricht nicht gefehlt haben, als dieses Problem behandelt wurde. Das Land Nordrhein-Westfalen war schon damals das am dichtesten besiedelte Land der Bundesrepublik.
— Nun hören Sie doch einmal zu, Herr Milz. Ich habe mir eben doch auch die Geduld abgezwungen, ruhig zu sein.
Es unterliegt, wie ich glaube, keinem Zweifel, daß im Lande Nordrhein-Westfalen nach der Entwicklung berechtigter Bürgeranliegen dann und wann die größten Schwierigkeiten entstanden. Es gibt ja auch niemanden, der bereit ist, abzustreiten, daß im Lande Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahren — bedingt durch all die Schwierigkeiten, die auch Sie eben schon angesprochen haben — ein gewisses Planungsloch entstanden ist.
— Entschuldigung, das wissen wir doch alle. Weil wir das wissen, sind wir der Auffassung, daß es in erster Linie an den Ländern als den für die Planung zuständigen Auftragsverwaltungen liegt, dafür Sorge zu tragen, daß mehr als in der Vergangenheit ein schnellerer Planungsdurchlauf erfolgt.
— Natürlich, überall! Wem sagen Sie das? Sie laden hier laufend Kanonen mit Luftballons. Das knallt zwar ein bißchen, aber es kommt nicht viel heraus. Merken Sie das eigentlich gar nicht? Ich verstehe das nicht.
Das Land Nordrhein-Westfalen — ich bin sogar ein wenig stolz darauf, Ihnen das sagen zu können — hat aus diesen Schwierigkeiten schon die richtigen Konsequenzen gezogen. Es hat dafür Sorge getragen, daß die Planungskapazitäten bei den Landschaftsverbänden Westfalen/Lippe und Rheinland erheblich aufgestockt worden sind. Man ist dort guten Mutes, daß das von mir eben zitierte Planungsloch, das vor zwei Jahren zu entstehen begann, im nächsten bzw. übernächsten Jahr geschlossen werden kann. Man wird in diesem Sinne weiterarbeiten.
Lassen Sie mich zu diesem Punkt ein Letztes sagen. Sie haben nicht ganz ohne Grund — weil es in Ihrem Antrag ja nicht „Planungsverlauf", sondern „Planungsvorlauf" heißen sollte — in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Bedeutung eines Lärmschutzgesetzes bzw. einer Lärmschutzverordnung hingewiesen. Herr Milz, Sie wissen genausogut wie wir, daß es nicht die Schuld der Bundesregierung ist, daß wir diesen Gesetzentwurf bis zum heutigen Tage nicht auf dem Tisch liegen haben. Schon vor Monaten bestand Einvernehmen zwischen der Bundesregierung und den Fraktionen des Deutschen Bundestages, daß eine Lärmschutzverordnung erlassen werden sollte. Die Verordnung lag im Entwurf bereits vor.
Herr Kollege, Sie haben noch eine Minute Redezeit zur Verfügung.
Dann aber haben die Ministerpräsidenten — Herr Dr. Schulte, das wissen Sie doch auch —, vielleicht aus der Motivation heraus,
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Topmann
für den Bereich der Länder und der Gemeinden nicht die entsprechenden Läumschutzwerte festsetzen zu können
— natürlich stimmt das —, dieser Lärmschutzverordnung nicht die nötige Unterstützung gegeben, so daß wir jetzt auf ein neues Läumschutzgesetz hinarbeiten müssen. Ich bin im Wissen um die Flexibilität unserer Regierung auch insoweit der Überzeugung, daß uns der Entwurf eines solchen Gesetzes in den nächsten Wochen vorgelegt wird und daß es für die Länder mit einem solchen Gesetz in der Tat leichter werden wird, die Planungsvorläufe zweckmäßiger zu gestalten.
Würden Sie zum Ende kommen, Herr Kollege!
Ja; ich werde das versuchen.
Zu Punkt 3 gilt im wesentlichen das, was ich zu Punkt 1 gesagt habe. Wir verkennen dabei nicht, daß es von Fall zu Fall durchaus zweckmäßig sein kann, im Sinn Ihrer Forderung Überlegungen anzustellen, unter den Voraussetzungen des § 6 über den Ausbau der Bundesfernstraßen oder aber in Fortschreibung des Bedarfsplans über den Ausbau von Bundesfernstraßen in Abweichung von der bisherigen Einstufung in bestimmten Bereichen sofort die Voraussetzungen für einen zweibahnigen Ausbau zu schaffen. Lassen Sie mich —
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen!
Zu Punkt 5, Herr Milz, — —
Nein, nein, Herr Abgeordneter! Ich bitte um Verzeihung; aber Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Nur noch einen Schlußsatz, Frau Präsident! Ich glaube,
daß die Bundesregierung sehr zufrieden dieser Diskussion zuhören konnte,
weil sich doch eindeutig herausgestellt hat, daß sich die Bundesregierung in ihrem Handeln bestätigt fühlen kann, zumal .. .
Jetzt ist es zu Ende, Herr Abgeordneter! Jetzt gibt es wirklich keine Verlängerung mehr.
.. . zumal sie doch mit ihrem Handeln schon zu einem viel früheren Zeitpunkt das erledigt hat, meine Damen und Herren von der Opposition, ...
Herr Kollege, ich bitte, jetzt das Rednerpult zu verlassen!
... was Sie in Ihrem Antrag erst verlangen. — Herzlichen Dank!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Keine Sorge: Ich werde nicht erst einer Aufforderung bedürfen, um zu einem erträglichen Ende zu kommen.
Herr Kollege Milz, Sie hatten vorhin den Eindruck — Sie haben es jedenfalls nach der Rede meines Kollegen Hoffie so dargestellt —, als seien wir von vornherein der Auffassung, alles, was die Opposition an Anträgen einreicht, sei schlecht.
— Ja, Herr Milz, das war wirklich ein falscher Eindruck. Ich möchte da meinen Kollegen Hoffie in Schutz nehmen. Er wird genauso wie ich versuchen, die Dinge sehr sachlich und sachbezogen zu sehen.
Ich muß zu Ihrem Antrag sagen: Dieser Antrag, den wir jetzt zu behandeln haben, ist nicht schlecht; er ist, wie man in der Wetterkunde sagt, wechselhaft. Es sind einige Teile drin, denen ich frohgemut zustimmen kann, und einige Punkte, zu denen ich schlicht und einfach nein sagen muß,
wenn ich meine früheren Handlungen oder meine früheren Überlegungen nicht ad absurdum führen will.
Zuerst zu den guten Dingen. Ich bin mit Ihnen der Meinung, es muß sichergestellt werden, daß der Planungsvorlauf wesentlich verbessert wird, damit wir nicht in die Situation hineingeraten, in der wir nicht nur im Verkehrsbereich, sondern auch andernorts stecken: daß zwar die finanziellen Mittel vorhanden sind, aber auf Grund zurückhängender Planungen nicht sachgemäß und zweckbestimmt eingesetzt werden können. Hier sind wir mit Ihnen der Meinung, daß es nachzudenken gilt, ob die Zeiten nicht wesentlich verkürzt werden können.
Ihr Punkt 5 findet die Zustimmung des ganzen Hauses, nehme ich an. Wir stellen fest, daß die Bundesregierung sich ja bemüht, die Chancen für die Strukturpolitik konsequent zu nutzen, um so einen wichtigen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Wir haben ja Flexibilität im Straßenbau. Das kann doch nicht abgestritten werden. Auch die Maßnahmen der Dringlichkeitsstufe I a vollziehen sich ja in einem Zeitraum bis 1985. Ich meine, zehn Jahre sind doch ausreichend Zeit, um Flexibilität auch bei den durchzuführenden Maßnahmen zu er-
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Ollesch
reichen. Das ist unser Ziel. Hier sagen auch wir ungehemmt ja.
Den Punkt 3 Ihres Antrags, zu überprüfen, welche der zunächst einbahnig vorgesehenen Autobahnen in Anbetracht der hohen Kosten einer nur teilweisen Bauausführung voll ausgebaut werden kann, unterstütze ich voll und ganz.
Ich bin auch der Meinung, daß dort, wo ein Finanzüberhang besteht, weil Projekte nicht realisiert werden können, die im Bau befindlichen, zunächst einmal nur unzulänglichen Teilstrecken sofort ausgebaut werden sollten. Das gilt beispielsweise für Brükken; denn Brücken, die zwar im Unterbau für den Vollausbau vorgesehen sind, aber dann im Oberbau nur zur Hälfte ausgeführt werden, werden nachher natürlich im Vollausbau entschieden teurer, als wenn sie in einem Zuge gebaut werden. Es gibt Beispiele — ich selbst habe in meinen Erklärungen in der Öffentlichkeit auch darauf hingewiesen —, wo man von dem ursprünglich geplanten zweibahnigen Ausbau sofort auf den vierbahnigen übergehen sollte, weil Verkehrsbedarf vorhanden ist,
und der zweibahnige Ausbau nur deshalb gewählt wurde, weil die Finanzdecke knapp war.
Ich bin der Meinung, dies sollte überprüft werden. Wir haben in den Auseinandersetzungen um den Straßenbaubedarfsplan in der Vergangenheit im Ausschuß einige der zweibahnig vorgesehenen Strecken gleich auf Vollbahnen gebracht, und zwar einstimmig. Ich erinnere an die A 57 von Krefeld nach Goch, die auf Grund unseres Votums nun vierbahnig voll ausgebaut wird.
Aber nun komme ich zum Punkt 1. Dem kann ich ganz und gar nicht zustimmen. Ich möchte es in der Hand des Verkehrsausschusses, des Deutschen Bundestages lassen, welche der Straßenbaumaßnahmen, die erst nach 1985 geplant sind, vorgezogen wird. Herr Kollege Milz, die Abstimmung mit den Bundesländern bei Projekten, die wir im vergangenen Jahr zurückgestuft haben, wäre sehr schnell zu erreichen, und dann würden wir nicht mehr gehört. Das könnte z. B. dazu führen, daß der Südabschnitt der A 31, der sich nach dem Willen des Landes Nordrhein-Westfalen und des Verkehrsministeriums zunächst in der Dringlichkeitsstufe I a befand und den wir dann in die Dringlichkeitsstufe I b heruntergestuft haben, wieder in der Dringlichkeitsstufe I a erscheint. Ich möchte ganz und gar nicht, daß das alles automatisch geschehen kann, ohne daß wir dazu gehört werden, Herr Kollege Milz.
— Nein, aber so steht es hier.
Wir haben ja die Möglichkeit, die Klassifizierung zu ändern. Sie haben einen Antrag eingereicht — er liegt im Verkehrsausschuß —, zu einer an-
deren Einstufung einer bestimmten Autobahn zu kommen, nämlich der A 7 in bezug auf den Mittelabschnitt. Hier finden Sie meine volle Zustimmung, weil ich dieses Verkehrsband für äußerst notwendig halte. Die Umstufung wäre auch nach § 6 des Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen möglich. Aber wenn wir, der Gesetzgeber, für diese Strecke eine Änderung der Ausbaustufung vornehmen, scheint mir das noch sicherer zu sein, und deshalb sollten wir das tun. Wir sollten aber sehr sorgfältig überlegen, wo wir das tun, damit wir nicht zu einer uferlosen Veränderung kommen. Es war nicht ganz einfach, im vergangenen Jahr die I a-Durchstufung im Ausschuß vorzunehmen. Damals mußten wir einige Wünsche der Länder im Hinblick auf die Notwendigkeit ablehnen, für die Finanzierung der vordringlich zu bauenden Strecken zu sorgen. Aber darüber werden wir im Ausschuß im einzelnen reden.
Punkt 4 findet auch nicht meine Zustimmung, denn das sind Maßnahmen für den weiteren Bedarf, die erst für die Zeit nach dem Jahre 2000 zur Ausführung kommen. Jetzt schon Rangfolgen für die Zeit nach dem Jahre 2000 festzulegen, scheint mir einfach unmöglich zu sein. Denn im Laufe der nächsten 23 bzw. 22 Jahre können noch viele Veränderungen in den Verkehrsströmen stattfinden, so daß eine Entscheidung über die Reihenfolge der dann zu realisierenden Projekte heute noch nicht herbeigeführt werden kann.
— Eine endgültige Entscheidung! — Es gibt Strecken in der weiteren Bedarfsplanung, da kann ich schon jetzt nein sagen. Aber zum größten Teil der Strecken, die als weiterer Bedarf ausgewiesen sind kann man heute noch nichts sagen, auch sicherlich in zwei oder drei Jahren noch nicht.
Herr Kollege, wir sind schon über die Zeit. Bitte, stellen Sie Ihre Zwischenfrage zurück.
Ich nehme das zur Kenntnis. Wir sind über 13 Uhr hinaus. Wir hatten uns das als Grenze gesetzt.
Wir werden also im Ausschuß eingehend darüber sprechen.
Ich darf für die Freien Demokraten sagen:, Einige Ihrer Wünsche finden unsere Unterstützung. Bei denen, wo ich hier Kritik ausgesprochen und Bedenken vorgetragen habe, werden wir uns noch sehr eingehend über den Sinn und die Zweckmäßigkeit zu unterhalten haben.
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Ollesch
Wir sind mit der Überweisung an den Verkehrsausschuß einverstanden.
Damit schließe ich die Debatte. Der Überweisungsvorschlag liegt Ihnen vor. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch; so beschlossen.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. Wir beginnen dann mit der Fragestunde.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 8/1288 —
Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatssekretär Bölling zur Verfügung.
Der Herr Abgeordnete Engelsberger hat um schriftliche Beantwortung der Fragen 98 und 99 gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 100 des Herrn Abgeordneten Voigt auf:
Welche Konsequenzen beabsichtigt die Bundesregierung aus der im Bericht des Presse- und Informationsamts über das „Auslandsecho auf die Entführung von H. M. Schleyer und die Folgen" erwähnten Beschäftigung mit der „vermeintlichen NS-Nostalgie" und Zweifeln an der „Verwurzelung und Dauerhaftigkeit der Demokratie in Deutschland" zu ziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es gibt im Ausland einige besorgte und ernst zu nehmende Stimmen. Wir nehmen diese Kritik nicht auf die leichte Schulter. Dennoch, so denke ich, sollten wir allgemein bei den Maßnahmen der politischen Öffentlichkeitsarbeit und der auswärtigen Kulturpolitik vermeiden, mit übertriebenen Gegenaktionen oder gar mit förmlichen Kampagnen zu reagieren. Dadurch würde nur die in unserer Analyse, auf die Sie sich in Ihrer Frage, Herr Abgeordneter, bezogen haben, vermerkte Tendenz dramatisiert.
Im Sinne Ihrer Fragestellung darf ich daran erinnern, daß der Bundeskanzler in diesem Hohen Hause wiederholt darauf hingewiesen hat — und das ist für unsere Arbeit eine verbindliche Richtlinie —, daß wir überzogene oder auch bösartige Polemik in ausländischen Medien wohl besser mit Gelassenheit ertragen, daß wir uns aber die Sensibilität für sachliche und begründete Kritik bewahren sollten.
Es ist und bleibt unerfreulich, daß hier und da in der Bundesrepublik Deutschland Geschäfte mit der Nazi-Nostalgie gemacht werden, was erst kürzlich der Vorsitzende der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Herr Wehner, unterstrichen hat. Es
sollte kein Zweifel daran sein, daß die Bundesregierung das Geschäft mit dem Hitler-Faschismus mißbilligt.
Im Vordergrund unserer Bemühungen, Herr Abgeordneter, wird auch künftig die Vermittlung eigener Erfahrungen durch Einladungen im Rahmen des Besucherprogramms der Bundesregierung und im Rahmen kultureller Veranstaltungen stehen. Der Möglichkeit, die ausländischen Besucher unmittelbar und individuell mit den Verhältnissen, insbesondere natürlich mit den politischen Verhältnissen, in der Bundesrepublik Deutschland vertraut zu machen, kommt gerade in der gegenwärtigen Situation besondere Bedeutung zu.
Daneben werden sich die zuständigen Stellen der Bundesregierung, vor allem das Presse- und Informationsamt und das Auswärtige Amt, auch künftig um ein gründliches Informationsangebot bemühen, damit im Ausland ein realitätsnahes, objektives Deutschlandbild vermittelt werden kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Bölling, teilen Sie meine Auffassung, daß es über die von Ihnen genannten Maßnahmen hinaus sinnvoll ist, z. B. bei der Bundeszentrale für politische Bildung einen Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit dieser NS-Nostalgie zu setzen, um im Ausland glaubwürdig zu machen, daß wir auch im Inland versuchen, bei der heranwachsenden Jugend und auch bei den Erwachsenen uns weiter mit diesem Problem auseinanderzusetzen?
Bölling, Staatssekretär: Ich glaube, Herr Abgeordneter Voigt, daß das eine gute Anregung ist, will aber anmerken, daß die Bundeszentrale schon in der Vergangenheit dazu wichtige Beiträge geleistet hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatssekretär, warum spricht die Bundesregierung und warum sprechen Sie von „Hitler-Faschismus" statt von „Nationalsozialismus", nachdem gerade die wirklich oder angeblich sozialistische Komponente der Nationalsozialistischen Deutschen ArbeiterPartei Millionen von Deutschen im Jahre 1933 unter dieser Flagge dem Nationalsozialismus zugeführt hat?
Bölling, Staatssekretär: Ich glaube, Herr Abgeordneter Dr. Mertes, daß dies eben eine der großen Manipulationen und Irreführungen durch die Hitler-Partei gewesen ist; denn in Wahrheit war diese Partei weder national noch war sie eine Arbeiterpartei, noch hatte sie etwas mit Sozialismus zu tun.
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Herr Staatssekretär, wird das Geschäft mit der NS-Nostalgie, von dem Sie sprachen, in einigen ausländischen Staates nicht um ein Vielfaches übertroffen im Vergleich zu unserem eigenen Land?
Bölling, Staatssekretär: Es ist richtig, Herr Abgeordneter, daß es Geschäftemacher auch jenseits der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland gibt. Aber zu ihnen habe ich im Zusammenhang mit der Frage des Abgeordneten Voigt nicht Stellung zu nehmen. Das ist bedauerlich. Wir können uns nur um das kümmern und zu dem Stellung nehmen, was in den Grenzen unseres eigenen Landes geschieht.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Herr Staatssekretär, ordnen Sie den Film von Joachim Fest über Hitler und seine Diktatur in die sogenannte vermeintliche Nazi-Nostalgie ein?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Hupka, ich habe das Handicap, daß ich diesen Film, obwohl ich mir das vorgenommen hatte, noch nicht selber habe sehen können. Insofern habe ich nicht die Kompetenz zu einem Urteil. Ich habe darüber nur Rezensionen gelesen. Aber ich unterstelle, daß sich der Autor sicherlich nicht an einer Nostalgie beteiligen wollte. Ob der Film politisch opportun gewesen ist, kann ich Ihnen aus eigener Anschauung als Urteil nicht sagen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Holtz.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung es für empfehlenswert, den Geschichtsunterricht an den Schulen wieder stärker in den Vordergrund treten zu lassen?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Holtz, Sie wissen natürlich genau wie ich, daß die Möglichkeiten der Bundesregierung hier auf Anregungen beschränkt sind, weil das eine originäre Kompetenz der Bundesländer ist. Aber sicherlich teilt die Bundesregierung, vor allem auch der Bundeskanzler, die Meinung, daß hier etwas versäumt worden ist und daß gerade das, was in den letzten Wochen und Monaten in unseren befreundeten Ländern an kritischen Urteilen geäußert und geschrieben worden ist, Anlaß wäre, im Sinne Ihrer Bemerkung darüber kritisch nachzudenken.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, dem Kollegen Dr. Mertes Quellen nachzuweisen, aus denen er sich unterrichten kann, damit er nicht wieder zu einer solch ungeheuerlichen Geschichtsklitterung kommt wie die, die in seiner Frage steckte?
Bölling, Staatssekretär: Ich glaube, Herr Abgeordneter Hansen, daß der Abgeordnete Dr. Mertes zu solchen Quellen auch Zugang findet, ohne daß ich sie ihm vermittle. Das, worauf es mir politisch ankam, habe ich mir erlaubt, ihm zu sagen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Dr. von Dohnanyi zur Verfügung.
Die Frage 105 des Abgeordneten Dr. Schwencke ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 101 des Abgeordneten Dr. Corterier auf:
Trifft es zu, daß der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Chile den früheren Militärattaché, Christian Ackerknecht, dem brutale Folterverbrechen angelastet werden und dessen Zurückziehung aus Bonn erwirkt wurde, zu einem offiziellen Empfang eingeladen hat und diesen — nach der Darstellung des „Spiegels" vom 28. November — sogar für „unschuldig" hält, und welche Schritte gedenkt die Bundesregierung gegebenenfalls zu unternehmen?
Herr Kollege, die deutsche Botschaft in Santiago hatte bei der Einladung formale Kriterien angelegt, so daß unter 500 Eingeladenen auch Herr Ackerknecht einbezogen wurde. Im übrigen möchte ich mich an die Regel halten, auch über einen abberufenen Diplomaten an dieser Stelle kein Urteil abzugeben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Corterier.
Herr Staatsminister, hält es denn die Bundesregierung für richtig, wenn die deutsche Botschaft in einem Land wie Chile bei einer derartigen Einladung lediglich nach formalen Kriterien vorgeht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wir können aus der Zentrale des Auswärtigen Amtes heraus natürlich nicht die einzelnen Einladungen bestimmen. Insofern läßt sich kein allgemeines Urteil fällen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Marx.
Herr Staatsminister, stimmen Sie meiner Auffassung zu, daß es in allen Ländern den jeweiligen Botschaftern und ihrer Verantwortung überlassen bleiben muß, wen sie zur Gewinnung von Informationen und zur Förderung der Politik der Bundesregierung zu Empfängen einladen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Marx, ich habe eben gesagt, daß es dem Auswärti-
4680 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Staatsminister Dr. von Dohnanyi
gen Amt nicht möglich ist, im Einzelfall Einladungen zu bestätigen oder zu überwachen. Insofern hat natürlich die einzelne Botschaft eine große Bandbreite bei der Einladung derjenigen, die sie für einen Empfang für richtig hält.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, namens der Bundesregierungs zu bestätigen, daß der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de Chile sich im Sinne seiner beamtenrechtlichen Pflichten wie stets auch in diesem Falle völlig korrekt und loyal zur Bundesregierung verhalten hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, ich habe ja gerade gesagt, daß es mir von hier aus nicht möglich ist und daß es dem Auswärtigen Amt nicht möglich ist, die Einzelfälle einer solchen Einladung zu überwachen. Deswegen kann man eine solche Frage nicht in der von Ihnen vorgesehenen Weise beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Graf Huyn.
Herr Staatsminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß bei der Beurteilung von Personen allgemein der internationale Rechtsgrundsatz zu beachten ist, daß Anschuldigungen, wie immer und von wem immer sie erhoben worden sind, erst dann als feststehend betrachtet werden, wenn sie auch bewiesen und gerichtlich festgestellt sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Graf Huyn, ich würde gern zurückkommen auf die Formulierung, die ich hier benutzt habe. Ich habe gesagt, daß ich mich an die Regel halten möchte, auch über einen abberufenen Diplomaten von dieser Stelle kein Urteil abzugeben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jahn.
Herr Staatsminister, kann man annehmen, daß ein hochrangiger Beamter der Bundesrepublik Deutschland — und so ist ein Botschafter ja wohl einzuordnen — auch bel dem Aussprechen von Einladungen in eigener Verantwortung Kenntnis von den Auffassungen seiner Regierung hat, daß er sich über Meinungen der Regierung, die ihn entsandt hat, und des Parlamentes des Landes, dem er zu dienen hat, orientiert?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Jahn, selbstverständlich kann man das unterstellen. In diesem Fall sind auf der Grundlage formaler Kriterien 500 Personen eingeladen worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, den Botschafter in Santiago de Chile, damit sich ähnliche Vorkommnisse nicht wiederholen, darauf hinzuweisen, daß Herr Ackerknecht als Stadtkommandant von Rancagua nach vorliegenden und nicht widersprochenen Dokumenten für die Folterung von mindestens 500 politischen Häftlingen verantwortlich war, selber folterte und bei seinen Methoden auch vor Folterungen von Frauen und Kindern nicht zurückschreckte?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, durch Ihre Fragestellung würden Sie mich zwingen, von dem Grundsatz abzugehen, den ich eben darzulegen versucht habe: daß nämlich die Bundesregierung von dieser Stelle aus kein Urteil über einen akkreditierten Diplomaten — auch nicht über abberufene — abgeben kann. Infolgedessen kann ich zu der materiellen Frage, die Sie gestellt haben, keine Antwort geben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Herr Staatsminister, ist aus Ihrer Antwort an den Kollegen Dr. Mertes zu schließen, daß sich unsere Botschaft in Santiago. de Chile nicht loyal verhalten hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, die Botschaft hat bei der Einladung zu die-sein Empfang formale Kriterien angelegt. Die Einladung ist durch die Botschaft erfolgt. 500 Personen sind eingeladen worden. Es geht also nicht um die Loyalität des Botschafters.
Vizepräsident-Stücken: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Althammer.
Herr Staatsminister, wenn Sie sich schon einer Äußerung in der Sache enthalten — zu diesem ausländischen Diplomaten —, würden Sie dann angesichts der Behauptungen, die Shier aufgestellt worden sind, wenigstens zugestehen, daß einem ausländischen Diplomaten dasselbe Recht zusteht, das jedem deutschen Staatsbürger zusteht: daß er als unschuldig zu gelten hat, solange keine Beweise vorliegen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Dies ist sicherlich richtig, Herr Kollege Althammer.
Ich rufe die Frage 102 — Abgeordneter Corterier — auf:
Hat der deutsche Botschafter in Chile — wie durch die Presse verbreitet wurde — dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß zu seinen später in der Bundesrepublik Deutschland umstrittenen Äußerungen gratuliert?
Bitte, Herr Staatsminister.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4681
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Der deutsche
Botschafter in Santiago hat dienstlich versichert, daß er dem CSU-Vorsitzenden nicht gratuliert, sondern ihm nach seiner Ansprache bei der akademischen Feierstunde lediglich die Hand gegeben habe.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Corterier.
Herr Staatsminister, können wir nach dieser, wie ich offen sagen möchte, nicht sehr befriedigenden Auskunft wenigstens davon ausgehen, daß sich der Botschafter in Chile in Zukunft beim Händeschütteln mehr Zurückhaltung auferlegen wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Corterier, ich wiederhole: Der Botschafter hat versichert, er habe nicht gratuliert, sondern er habe lediglich die Hand gegeben. Er hat hinzugefügt, man möge eventuell den hier anwesenden Abgeordneten Strauß danach fragen.
Herr Staatsminister, es ist nicht üblich, daß von Abgeordneten Fragen an Abgeordnete gestellt werden, sondern hier wird die Regierung gefragt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung gewillt, einem Botschafter, der die ganze Bundesrepublik Deutschland vertritt, nur deshalb den Maulkorb des Herrn Kollegen Corterier umzuhängen, weil er ausnahmsweise einmal ein Mitglied der Opposition beglückwünscht oder diesem gratuliert?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann nicht bestätigen, daß eine solche Gratulation vorgelegen hat. Der Botschafter hat gesagt, er habe lediglich die Hand geschüttelt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jahn.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, ob der Herr Botschafter etwa zu spät zu dem Vortrag von Herrn Strauß gekommen ist, so daß er keine Gelegenheit hatte, ihm vorher rechtzeitig die Hand zu schütteln?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Jahn, ich kann das nicht bestätigen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Marx.
Herr Staatsminister, haben Sie ein Gefühl für die Unerhörtheit dieses Vorganges, daß in diesem Hause Fragen der Art gestellt werden, ob ein Botschafter einem frei gewählten Abgeordneten dieses Hauses, der seit 28 Jahren für Freiheit und Recht eintritt und am Aufbau der Bundesrepublik Deutschland wesentlich mitgewirkt hat, für eine Rede die Hand schüttelt oder gratuliert?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Marx, Sie wissen, ich würde von dieser Stelle aus niemals Fragen qualifizieren, die von Abgeordneten gestellt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, gibt es unter Anlegung der von Ihnen soeben zitierten formalen Kriterien zwischen dem Fall der Anschuldigungen gegen den noch amtierenden Ständigen Vertreter der DDR in Bonn und dem Fall der Anschuldigung gegen den nicht mehr amtierenden chilenischen Militärattaché Parallelen, und, wenn ja, worin bestehen diese Parallelen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, ich erinnere an eine bravouröse Fragestunde von Herrn Wischnewski in diesem Hause, in der er auf entsprechende Fragen darauf hingewiesen hat, daß er von dieser Stelle keine Urteile über ausländische Diplomaten abgeben werde.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ey.
Herr Staatsminister, sind Sie mit mir der Auffassung, daß im westlichen Europa der freundschaftliche Handschlag noch als Ausdruck freundschaftlicher Zugeneigtheit gewertet werden kann?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin nicht in der Lage, den Handschlag des Herrn Botschafters zu werten. Er hat lediglich festgestellt, er habe die Hand geschüttelt und nicht gratuliert.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatsminister, welche Richtlinien hat das Auswärtige Amt für das Händeschütteln von Diplomaten in Ostblockstaaten, insbesondere beim Verkehr mit den Staatssicherheitsministern und NKWD-Chefs erlassen?
4682 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wie Sie meiner Antwort entnehmen können, gibt es gerade für das Händeschütteln keine Richtlinien.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatsminister, vor dem Hintergrund der aktuellen innenpolitischen Diskussion über individuellen Terror möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es sehr wohl gute Gründe dafür geben kann, jemandem, der staatlich organisierten Terror in einem anderen Land verherrlicht, nicht die Hand zu schütteln.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, dieser generellen Feststellung, die Sie hier treffen und die sich nicht auf bestimmte Personen bezog, kann man natürlich immer zustimmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Strauß.
Herr Staatsminister, vermögen Sie auf Grund eigener Urteilskraft zu erkennen, daß Fragen auch so gestellt werden können, daß ihre Formulierung schon eine Lüge bedeutet, z. B. wenn ich Sie fragen würde, ob Sie Ihre Frau immer noch schlagen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Strauß, selbstverständlich ist einer so abstrakten Feststellung zuzustimmen. Nur würde ich doch niemals einen Abgeordneten des Hauses, der Fragen an die Bundesregierung stellt, auf diese Weise qualifizieren.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Graf Huyn.
Herr Staatsminister, da Sie mir sicher zustimmen, daß Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Mertes nicht Herrn Michael Kohl betreffen konnte, weil dieser wohl nicht als ausländischer Diplomat bezeichnet werden kann, möchte ich die Frage des Abgeordneten Mertes wiederholen und um eine Antwort bitten.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Graf Huyn, Sie geben mir Gelegenheit, meine vorangegangene Antwort zu verdeutlichen. Ich hatte hier gesagt, daß es die Bundesregierung ablehnt, von dieser Stelle aus Urteile über ausländische Diplomaten abzugeben. Im Rahmen dieser Grundhaltung der Bundesregierung hat Herr Staatsminister Wischnewski in einer Fragestunde diesen Grundsatz auf den Ständigen Vertreter der DDR angewandt. Nichts anderes wollte ich sagen und nichts anderes habe ich gesagt.
Ich bin der Meinung, daß die Hintergründe hier nicht völlig aufgeklärt wer-
den können. Aber es muß sich um einen sehr langen Händedruck gehandelt haben, wenn man die Zahl der zu diesem Vorgang gestellten Zusatzfragen bedenkt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, gibt es irgendeine Passage in der Rede des Abgeordneten Strauß bezüglich der Menschenrechte von Gefangenen in Chile, die eine Hingeneigtheit oder ein freundschaftliches Beglückwünschen irgendwie gerechtfertigt hätte?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Voigt, ich will Ihre Frage konkret und präzise beantworten. Einen besonderen Hinweis auf das Vorhandensein oder die Lage politischer Gefangener in Chile gab es meines Wissens in der Rede des Abgeordneten Strauß in Chile nicht.
Ich rufe die Frage 103 des Abgeordneten Dr. Schmude auf:
Teilt die Bundesregierung die verschiedentlich vertretene Auffassung, daß in Chile hinsichtlich der Fragen der Menschenrechte und der Demokratie eine Entwicklung eingetreten sei, die eine Änderung der Haltung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Chile rechtfertigen könnte?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Die Bundesregierung stützt sich in ihrer Beurteilung der innenpolitischen Lage in Chile in erster Linie auf den Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen vom 29. September 1977. Die Bundesregierung begrüßt im übrigen alle Bemühungen einzelner Persönlichkeiten, in Chile zur Wiederherstellung der Demokratie beizutragen. Derartige Bemühungen werden neben der Feststellung einer fortdauernden Verletzung der Menschenrechte in dem zitierten Bericht ebenfalls angedeutet.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schmude.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung außerhalb dieses Berichts der UNO-Kommission bekannt, daß es in Chile noch im Laufe der letzten zwei Monate zahlreiche Verhaftungen politisch Verfolgter und dabei zum Teil das Verschwinden solcher Personen gegeben hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, der UNO-Bericht verweist an einer Stelle auf bestimmte Praktiken im Jahr 1977 und sagt, daß auch in letzter Zeit monatlich noch etwa 10 bis 15 Personen auf diese Weise verschwunden sind oder verhaftet wurden. Wir haben keine Hinweise darauf, daß dies in den allerletzten Monaten nicht fortgesetzt worden sei.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schmude.
Herr Staatsminister, hätte die Bundesregierung nach ihrem Stand der Erkenntnisse Veranlassung, die Auffassung zu teilen, derjenige,
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4683
Dr. Schmude
der dem chilenischen Militärregime Menschenrechtsverletzungen, Folter und Terror vorwerfe, betreibe Heuchelei und Verleumdung, gegen die man Chile in Schutz nehmen müsse?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich sagte Ihnen, Herr Kollege, die Bundesregierung stützt sich in erster Linie auf das Urteil des Berichts, den ich zitiert habe. Nach diesem Bericht sind solche Tatsachen in Chile in der Tat nachweisbar. Insofern kann man nicht von Heuchelei sprechen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Althammer.
Herr Staatsminister, nachdem Sie in Ihrer ersten Antwort eben erklärt haben, Sie begrüßten es sehr, wenn sich Personen für die Wiederherstellung der Demokratie in Chile einsetzten, frage ich Sie, ob Sie es für richtig halten, daß auch der Mann, der sich in Chile für die Wiederherstellung der Demokratie in wiederholten öffentlichen Erklärungen eingesetzt hat, Franz Josef Strauß, hier einer Verherrlichung des Terrorismus geziehen wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wenn die Äußerungen des Kollegen Strauß in Chile insgesamt betrachtet werden, so gibt .es neben den Erklärungen zur Demokratie, auf die Sie eben Bezug genommen haben, den Tatbestand, daß sich die chilenische Regierung trotz der in dem UNO-Bericht festgestellten Tatsachen durch diese Äußerungen in ihrer gegenwärtigen Existenz bestätigt fühlen mußte.
Aus diesem Grunde, Herr Kollege, bin ich sicher, daß diese sicherlich auch gemachten Äußerungen des Kollegen Strauß aus der Sicht der Bundesregierung nicht ausreichend waren, um die Demokratie in Chile voranzutreiben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatsminister, können Sie, nachdem Sie über durch ein UNO-Gremium festgestellte Menschenrechtsverletzungen in Chile im Jahre 1977 referiert haben, dem Hause über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 1972 und 1973 Auskunft geben, wie sie in der Deklaration des frei gewählten chilenischen Parlaments vom 22. August 1973 festgehalten sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube nicht, daß es zweckmäßig ist, Verletzungen, die in einer früheren Zeit geschehen sein mögen und die, wie Sie sagen, durch das Parlament bestätigt worden seien,
als eine Art Ausgleich für Verletzungen der Menschlichkeit, die noch heute in Chile geschehen, zu betrachten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Strauß.
Herr Staatsminister, ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Bundesregierung dem Regime Allende mit seinen ebenfalls nachgewiesenen notorischen Menschenrechtsverletzungen zu dieser Zeit noch automatische Waffen für den Bürgerkrieg geliefert hat,
also ganz abgesehen davon — Sie kennen den Vorgang —
— das ist unangenehm, das glaube ich Ihnen —, aber abgesehen davon — darüber werden wir uns ein anderes Mal unterhalten —,
haben Sie klare Informationen oder zuverlässige Beweise dafür, daß der UNO-Bericht über Chile auf bessere Informationen zurückgreift als der UNO-Bericht, der schließlich zur Verurteilung der Bundesrepublik wegen Waffenlieferungen nach Südafrika und nuklearer waffentechnischer Zusammenarbeit geführt hat, zu einer Verurteilung mit großer Mehrheit?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Strauß, ich muß Ihnen Ihre Frage leider mit Ja beantworten. Denn so gerne die Bundesregierung bestätigen würde, daß es Menschenrechtsverletzungen in Chile nicht gibt
oder der UNO-Bericht in dieser 'Beziehung nicht glaubwürdig wäre,
muß ich doch leider feststellen, Herr Kollege Strauß, daß in diesem Bericht — und ich würde Sie bitten, das doch einmal nachzulesen — einzelne Personen benannt sind, die Zeugnis von dem, was ihnen geschehen ist, abgelegt haben. Ich habe, offen gesagt, den Eindruck, daß Sie, Herr Kollege Strauß, diesen Bericht nie gelesen haben; sonst würden Sie die Frage nicht stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, ist es in diesem Zusammenhang auch nach Ihrer Auffassung wichtig, daran zu erinnern, daß es allein in den letzten Jahren verschiedene
4684 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Dr. Mertes
Fälle gab, in denen Länder, die von nichtkommunistischen oder antikommunistischen autoritären oder totalitären Regimen beherrscht wurden, zur Rechtsstaatlichkeit und zur Freiheit zurückgefunden haben, daß es aber kein kommunistisches Land gibt, das diesen Weg zurück in die Rechtsstaatlichkeit und die Freiheit gefunden hätte?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, die Frage, über die wir hier diskutieren und zu der die Bundesregierung Auskunft geben soll, ist die nach der Lage in Chile. Zu dieser Lage in Chile habe ich mich auf den Bericht der UNO-Kommission bezogen, der zu unserem Bedauern eine eindeutige Auskunft über die Menschenrechtslage in Chile gibt. Nur dazu habe ich hier gesprochen.
Meine Damen und Herren, der Präsident kann die Bundesregierung nicht zwingen, die Antwort zu geben, die die Abgeordneten erwarten. Das steht außerhalb der Möglichkeiten der Reglementierung durch den Präsidenten bei Fragestunden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Conrad! : Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Qualifizierung des Vorsitzenden der Chilenischen christ-demokratischen Partei, Frei, als eines „verschlissenen, greinenden Typs" der Wiederherstellung der Demokratie und der Menschenrechte in Chile dienlich ist?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Conradi, ich möchte das, was Sie soeben gefragt haben, nur verneinen. Dies ist der Herstellung der Demokratie in Chile sicherlich nicht dienlich gegewesen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Riedl.
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß der von Ihnen erwähnten Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen auch Kuba und Uganda, also das von Idi Amin geführte Uganda, angehören?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Kommission, der auch — —
— Herr Präsident, wenn ich die Chance bekomme, hier zu antworten, will ich das gerne tun.
Herr Staatsminister, sowenig ich Sie veranlassen kann, die Antwort zu geben, die Abgeordnete erwarten,
sowenig kann ich die Abgeordneten daran hindern, Zwischenrufe zu machen.
— So ist es, Herr Abgeordneter Wehner.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, ich war dabei, die Frage zu beantworten, und lief Gefahr, von den Kollegen der Union nicht mehr verstanden zu werden.
— Ja, es ist richtig.
— - Nein ich habe die Frage bestätigt. Zugleich möchte ich unterstreichen, daß die Vereinten Nationen in ihrer Generalversammlung gestern eine Resolution mit den Stimmen der Vereinigten Staaten, aller Länder der Europäischen Gemeinschaft und mit den Stimmen auch z. B. der Sowjetunion verabschiedet haben, die einheitlich die besondere Menschenrechtslage in Chile bestätigt.
Insofern wird damit dieser Bericht in seinem Inhalt bestätigt. Denn auch die Resolution nimmt Bezug auf die Fortdauer der Verletzung von Menschenrechten, um die es hier doch geht. Oder ist jemand für die Fortdauer der Verletzung von Menschenrechten in Chile?
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin gesagt, Sie wollten Äußerungen von Abgeordneten nicht qualifizieren. Ich frage Sie, ob das auch für Äußerungen von Abgeordneten der Opposition gilt. Denn soeben haben Sie dem Abgeordneten Strauß hier unterstellt — das ist eine reine Vermutung Ihrerseits —, daß er die Dokumente nicht einmal gelesen habe. Ist das Ihres Amtes?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, es ist sicherlich nicht meines Amtes, den Kollegen Strauß zu bitten, etwas zu lesen. Nur, ich hatte auf Grund seiner Fragestellung den Eindruck, daß
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4685
Staatsminister Dr. von Dohnanyi
I er die Einzelheiten, nach denen er mich ja gefragt hat und die in dem Kommissionsbericht enthalten sind, nicht kannte. Sonst, so habe ich vermutet, hätte er nach solchen Einzelheiten nicht gefragt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung, damit die Zweifel der Abgeordneten Strauß und Riedl ausgeräumt werden, bereit, den von Ihnen erwähnten Bericht des Sozialausschusses der UNO bekanntzumachen, in dem der Regierung in Chile auf Antrag der USA und der UdSSR ständige und flagrante Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen werden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, der Bericht und die von mir zitierte Resolution sind natürlich bekannt. Ich gehe davon aus, daß sie auch in den Unterlagen der Opposition vorhanden sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möllemann.
Herr Staatsminister, gibt es neben der Dokumentation, auf die Sie abgehoben haben und die hier auf Grund der Tatsache in' Zweifel gezogen wird, weil an ihrer Erstellung auch Vertreter totalitärer Staaten mitgewirkt haben könnten, andere Dokumente, etwa von Bündnispartnern, Berichte aus deren Botschaften in dem Land, von dem wir hier sprechen, die an Kritik das untermauern, was gegenüber Chile erhoben wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Möllemann, es gibt solche Berichte. Auch in diesen Berichten, z. B. in einem Bericht der neun EG-Botschaften, wird darauf hingewiesen, daß es weiterhin einen Umgang mit aus politischen Gründen Verhafteten gibt, der unseren Vorstellungen von Menschenrechten nicht entspricht.
Eine weitere Zusatzfrage, Abgeordneter Graf Huyn.
Herr Staatsminister, ist die — gelinde gesagt — einseitige Beantwortung der in diesem Hause gestellten Fragen, die sogar so weit geht, daß die Sowjetunion zum Zeugen in Fragen der Menschenrechtsverletzungen aufgerufen wird, vielleicht durch die Befangenheit zu erklären, der die Bundesregierung unterliegen muß, da sie sich gestern vor diesem Hohen Hause dazu gezwungen sah, zugeben zu müssen, daß auf Kosten des deutschen Steuerzahlers drei Anhänger einer Organisation in Chile, die vom Verfassungsschutz als — ich zitiere — „extremistisch und terroristisch" bezeichnet wurde, in die Bundesrepublik Deutschland verbracht wurden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Graf Huyn, wenn ich Ihre Frage richtig verstanden
habe, so könnte ich sie kurz und knapp mit Nein
beantworten. Aber ich bin nicht sicher — die Frage
war lang —, ob Ihnen diese Antwort genügen würde.
Lassen Sie mich bestätigen, daß die Resolution, die gestern verabschiedet wurde und die der Regierung in Santiago erneut ständige und flagrante Verletzung der Menschenrechte vorwirft, mit 98 gegen 12 Stimmen bei 28 Enthaltungen verabschiedet worden ist. Mir lag nicht daran, die Sowjetunion als Zeuge anzurufen, sondern auf die breite Basis der Verurteilung in den Vereinten Nationen hinzuweisen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Herr Staatsminister, sind Sie der Auffassung, daß es einer besonders kritischen Haltung gegenüber Menschenrechtsverletzungen entspricht oder daß es auch nur dem Bemühen, die Demokratie in Chile wieder einzuführen, dient, wenn sich ein Abgeordneter dieses Hauses als Mitglied der Strauß-Delegation in Chile über die Anwälte, die sich im Auftrag des katholischen Vikariats der Solidarität unter anderem auch für die Opfer der Menschenrechtsverletzungen einsetzen, äußert, daß die über ihr Land nur so redeten wie Croissant über die Bundesrepublik?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Frau Kollegin,
Vergleiche, die aus Chile im Zusammenhang mit bestimmten Vorgängen in der Bundesrepublik oder in Europa zu uns herübergeklungen sind, waren insgesamt für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland nachteilig.
Dies gilt natürlich auch für diesen Vergleich.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Marx.
Herr Kollege von Dohnanyi, da mir die Zerstörung der Menschenrechte, gleichgültig wo, persönlich sehr nahegeht, frage ich Sie, ob die Bundesregierung bereit ist, in den Vereinten Nationen darauf hinzuwirken, daß diese einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen und die Art dieser Menschenrechtsverletzungen in vielen anderen Ländern der Welt erstellen lassen und ob Sie hoffen, daß es, wenn es solch einen Bericht gäbe, ähnliche Zahlen von Ja-Stimmen, Nein-Stimmen und Enthaltungen gibt, wie die, die Sie eben vorgetragen haben.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Marx, die Bundesregierung hat sich in den Vereinten Nationen wiederholt — zuletzt durch den Bundesaußenminister — für das allgemeine Durchsetzen der Menschenrechte eingesetzt.
— Herr Kollege Strauß, ich darf doch die Frage weiter beantworten?
4686 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Staatsminister Dr. von Dohnanyi
Hierzu gehört selbstverständlich auch eine ausreichende Information. Die Information aus einem Bericht kann für die Feststellung der Verletzung von Menschenrechten dienlich sein. Soweit solche Berichte vorliegen, wird sie die Bundesregierung auf ihren sachlichen Inhalt prüfen und ihnen, wenn sie sie sachlich für richtig hält, zustimmen und die Durchsetzung der Menschenrechte auch mit Hilfe solcher Berichte unterstützen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Corterier.
Herr Staatsminister, trifft es zu, daß an der Arbeit der Ad-hoc-Gruppe, die für die Vereinten Nationen den Bericht, von dem hier die Rede ist, erstellt hat, kein einziger Vertreter eines totalitären Staates mitgewirkt hat, sondern — ich zitiere aus dem Bericht —: Herr Allana als Vorsitzender aus Pakistan, Herr Benetis aus Ekuador, Herr Diéye aus Senegal, Herr Kamara aus Sierra Leone und der bekannte österreichische Jurist Ermacora. Glauben Sie, daß angesichts dieser Zusammensetzung der Kommission die Zweifel, die die Opposition an der Objektivität des Berichtes hat, gerechtfertigt sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Corterier, für uns ist der Bericht der Vereinten Nationen — ich sagte das — die wesentliche Grundlage für die Beurteilung der Lage in Chile. Selbstverständlich gehen wir nach Prüfung davon aus, daß die beteiligten Persönlichkeiten die Lage in Chile objektiv und sachlich geprüft haben. Dies ist der Grund, warum wir uns auf diese Informationen und auf die angegebenen Details stützen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Herr Staatsminister, indem ich bei Ihnen die Kenntnis der Gulag-Trilogie von Solschenizyn voraussetze, frage ich Sie, ob Sie bereit sind, dem Hohen Hause mitzuteilen, woher die Sowjetunion ihre Aktivlegitimation bezieht, um über Diktaturen und deren Praktiken in anderen Erdteilen zu urteilen.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, es steht der Bundesregierung nicht an, das Verhalten anderer Staaten in der UNO zu begutachten oder zu kritisieren.
Sie haben mich vorhin auch nicht dazu gehört, als es um die Feststellung ging, wer sich bei der Abstimmung der Stimme enthalten und wer zugestimmt hat. Wir gehen davon aus, daß die Sowjetunion in diesem Falle einem berechtigten Anliegen der Vereinten Nationen zugestimmt hat und damit die breite Basis der Verurteilung Chiles in der Menschenrechtsfrage hat offenkundig erscheinen lassen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Becher. Es liegen noch Wortmeldungen zu weiteren zwei Zusatzfragen vor. Mit Rücksicht auf die anderen Fragen und die sich anschließende Aktuelle Stunde wollen wir die Behandlung dieser Frage danach abschließen. Herr Abgeordneter Becher!
Herr Staatsminister, warum hat die Bundesregierung in Anbetracht der schlechten Beurteilung, die Sie offenbar der Regierung Pinochet geben, genau diese Regierung Pinochet gebeten, sich nicht an der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland zu beteiligen, die von der UNO wegen angeblicher Waffenlieferungen an Südafrika ausgesprochen wurde?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wir gehen davon aus, daß es darauf ankommt, die Verletzung von Menschenrechten, wo immer wir auf diese Tatbestände stoßen, zu beseitigen, soweit dies in unserer Kraft liegt, und der Respektierung der Menschenrechte zum Durchbruch zu verhelfen.
Insofern besteht kein Widerspruch zwischen den beiden Verhaltensweisen: einerseits die auf Grund des Berichtes festgestellte Verletzung von Menschenrechten zu rügen und andererseits alle Staaten dazu aufzurufen, in der Frage der Beurteilung der Bundesrepublik Deutschland der Wahrheit zu folgen. Mehr haben wir gegenüber der Regierung in Santiago nicht getan.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, trifft es zu, daß der Bundesregierung bei der Sicherheitsüberprüfung, die der Aufnahme der genannten chilenischen Flüchtlinge vorausgegangen ist, genau bekannt war, daß selbst die chilenischen Behörden den Genannten keine terroristischen Handlungen vorgeworfen haben, und daß insofern die Vorwürfe, die hier von dem Abgeordneten Huyn gegenüber diesen chilenischen Emigranten erhoben worden sind, nicht einmal von den chilenischen Behörden gegenüber diesen Emigranten erhoben worden sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann im Augenblick dazu keine Auskunft geben, weil mir der Tatbestand im Einzelfall in Chile
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Staatsminister Dr. von Dohnanyi
nicht bekannt ist. Sicher ist nur, daß die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht gestattet worden wäre, wenn es sich um „Terroristen" gehandelt hätte.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Staatsminister, im Anschluß an die Frage des Kollegen Becher frage ich Sie: Wann, wo und durch wen hat sich die Bundesregierung bei ihren zahlreichen Reisen in den Ostblock dort öffentlich für die Wiederherstellung der Menschenrechte eingesetzt, was doch die Voraussetzung dafür wäre, um Äußerungen anderer Politiker bewerten und würdigen zu können?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte an Stelle vieler anderer Feststellungen
— ja, mir liegt daran, Ihnen dies in Erinnerung zu rufen — nur eine einzige derartige Feststellung zitieren,
weil sie seit Beginn der Entspannungspolitik unsere Position so deutlich macht. Ich zitiere aus der Erklärung des damaligen Bundeskanzlers Brandt beim Treffen mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph, in Erfurt:
Es muß Ziel und Sinn unserer Bemühungen sein, Fortschritte zu erzielen, die mehr Freizügigkeit bringen und den Menschenrechten Raum schaffen. Wir werden jedenfalls unsere Auffassung hierzu weiter vertreten.
Deutlicher konnte das nicht gesagt werden.
Ich rufe die Frage 104 des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude auf:
Hat die Bundesregierung aus den bisherigen Erörterungen über die Verwirklichung der Bestimmungen der KSZE-Schlußakte den Eindruck gewonnen, daß der Behandlung der Menschenrechtsproblematik nicht genügend Raum gegeben wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Die Frage der Menschenrechte ist in Belgrad mit hoher Intensität behandelt worden. Dabei hat auch die deutsche Delegation eine wichtige Rolle gespielt. Sie hat am 2. Dezember einen von Botschafter Goldberg eingebrachten Vorschlag für das Abschlußdokument mitgestaltet und mitunterzeichnet. Neben diesen nötigen Klarstellungen im prinzipiellen Bereich der
Menschenrechte sind für die Bundesrepublik Deutschland konkrete Verbesserungen zugunsten der Menschen von besonderer Bedeutung.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude.
Können Sie bestätigen, Herr Staatsminister, daß die angesprochene Rolle der Bundesrepublik in der Zusammenarbeit mit den westeuropäischen Staaten und den Vereinigten Staaten von Amerika eine aktive Rolle in voller Übereinstimmung ist und gewesen ist?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich kann das bestätigen, Herr Kollege Schmude. Ich habe vor wenigen Tagen in Belgrad ein Gespräch mit dem Leiter der Delegation der Vereinigten Staaten, Herrn Goldberg, gehabt und dabei feststellen können, daß es in diesen Fragen eine volle Übereinstimmung gibt.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude.
Hätte sich die Delegation der Bundesrepublik Deutschland für die Verwirklichung von Menschenrechten bei dieser Nachfolgekonferenz erfolgreicher einsetzen können, wenn sie als amtliches Dokument eine Dokumentation über die Verletzung von Menschenrechten an Deutschen und in Deutschland mit der Verpflichtung zur Verfügung gehabt hätte, dieses im einzelnen dort einzuführen und zu erläutern?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Schmude, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa greift ja nicht ohne Grund über das deutsch-deutsche Verhältnis hinaus. Wir gehen davon aus, daß nur durch eine Aussöhnung zwischen beiden Seiten Europas auch das deutschdeutsche Verhältnis schrittweise normalisiert werden kann. Insofern wäre eine Verengung der Debatte auf der Seite der Bundesrepublik allein auf das deutsch-deutsche Verhältnis sicher nicht nützlich gewesen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder .
Herr Staatsminister, welche konkreten Vorschläge sind eigentlich in Belgrad von der sowjetischen Regierung auf den Tisch gelegt worden, mehr Menschenrechte, beispielsweise das Recht der freien Rede und die Freizügigkeit, in ihrem Hoheitsbereich einzuführen und damit der KSZE-Schlußakte von Helsinki nachzukommen?
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Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Schröder, Ihnen ist doch so gut wie der Bundesregierung bekannt, daß es zu diesen Fragen und ihrer Bedeutung für die Gesellschaften in Ost und West unterschiedliche Auffassungen gibt. Es ist doch unbestritten, daß die Sowjetunion in diesen Fragen weniger Initiativen ergreift als z. B. in Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit oder in anderen Fragen der Schlußakte von Helsinki.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, war bei der Behandlung der Menschenrechtsproblematik in Belgrad auch die der deutschen Staatsangehörigen unter polnischer Verwaltung, für die ja unmittelbare Schutzpflicht besteht, deutscherseits so klar angesprochen worden, wie das im halbjährlichen Rechenschaftsbericht des Präsidenten Carter erfolgte, der nach der Meldung des Nachrichtenspiegels der Bundesregierung vom 6. Dezember 1977 Polen als das Land tadelte, bei dem es von allen Ländern die größten Härten in der Ausreise gebe?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, Sie wissen, daß die Bundesregierung diese Probleme nicht nur im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und nicht nur in Belgrad, sondern an vielen anderen Stellen anspricht. Wir werden ja nachher bei Fragen nach der Reise des Bundeskanzlers darauf eingehen können, daß diese Härtefälle ausdrücklich auch vom Bundeskanzler angesprochen worden sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Herr Staatsminister, in welcher Weise hat die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland während des Überprüfungstreffens in Belgrad die Dokumentation der CDU/CSU zur Wahrung der Menschenrechte in ihre Verhandlungen. mit einbeziehen können?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, die Dokumentation, die erst jetzt zur Verfügung steht, wurde ja von Ihren Kollegen — ich habe nicht genau in Erinnerung, ob nicht sogar von Ihnen selbst — in Belgrad verschiedenen Delegationen zur Verfügung gestellt. Selbstverständlich hat auch die Bundesregierung Sachverhalte zur Kenntnis genommen und nimmt Sachverhalte zur Kenntnis, die sich in dem besonderen deutsch-deutschen Verhältnis niederschlagen. Nur unterstreichen wir, daß die Konferenz in Belgrad eben nicht eine Konferenz über die besonderen deutsch-deutschen Verhältnisse ist, sondern eine Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz .
Herr Staatsminister, wegen der unauflösbaren Verbindung zwischen Entspannung und Menschenrechten und wegen der Unmöglichkeit, die Menschensrechtsproblematik nur abstrakt zu erörtern, frage ich Sie, welche konkreten Fälle, welche Schicksale von Menschenrechtsverletzungen an Deutschen die Bundesregierung bisher in Belgrad vorgetragen hat.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Kunz, ich kann Ihnen jetzt
Einzelfälle nicht nennen. Aber ich unterstreiche noch einmal, daß es der Bundesregierung wie auch den übrigen Partnern bei der Konferenz darum geht, das Schicksal der Menschen in Europa und damit im anderen Teil Deutschlands zu erleichtern, die Entspannung und die Sicherheit in Europa zu fördern, und daß dabei Einzelfälle, soweit sie hierfür eine Rolle spielen, selbstverständlich auch in den Beratungen mit herangezogen- werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung im Hinblick auf Ihre soeben getroffene Aussage über die Mitverwendung der Dokumentation der CDU/CSU jetzt bereit, auf dem Wege einer Mitteilung diese Dokumentation in die Drucksachen des Deutschen Bundestages einzubringen, zumal damit der beschämende Eindruck abgewehrt werden könnte, den ich darin erblicke, daß sich ein Mitglied des amerikanischen Kongresses bereit erklärt hat, diese Dokumentation in die Drucksachen des amerikanischen Kongresses einzubringen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Zunächst, Herr Kollege, möchte ich Sie berichtigen: Eine solche Erklärung gibt es nicht. Auch in den Vereinigten Staaten, wo die Drucklegungspraxis für Vorgänge im Kongreß sehr viel weiter ist als bei uns, ist eine solche Drucklegung nicht vorgesehen.
Im übrigen habe ich auch vorhin nicht „Verwendung" gesagt, sondern ich habe erklärt, daß für die Bundesregierung Einzelfälle auch im deutsch-deutschen Verhältnis eine Rolle spielen, weil diese ja einen Teil des Entspannungsprozesses in Europa darstellen und die Konferenz sich - auf diesen ganzen Entspannungsprozeß bezieht. In diesem Rahmen werden selbstverständlich auch Einzelfälle, die aus einere solchen Dokumentation erkennbar werden, mit einbezogen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ehmke.
Herr Staatsminister, in welchem Ausmaß sind die Glaubwürdigkeit und die Position der Bundesrepublik und des Westens in der Diskussion der Menschenrechtsfrage in Belgrad da-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4689
Dr. Ehmke
durch geschwächt worden, daß Herr Kollege Strauß und andere Mitglieder der Opposition in der Welt herumgereist sind und Regierungen Lob gespendet haben, von denen wir wissen, daß sie Menschenrechte mit Füßen treten?
Das trifft für Südafrika eben so zu wie für Chile.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Ehmke, ich möchte jetzt nicht auf einzelne Äußerungen in Chile eingehen, die eine negative Wirkung auf diese Darstellung der Bundesrepublik haben könnten. Aber ich gehe davon aus, auch wenn ich die deutsche Presse hierzu lese, und zwar in ihrer ganzen Breite, daß aus den Äußerungen eine negative Wirkung auf die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland in Menschenrechtsfragen abgeleitet werden kann. Ich bedauere das; aber ich sehe es so.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, können Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß die CDU/CSU-Fraktion weder in Ausschußberatungen noch im Plenum des Deutschen Bundestages jemals eine Verengung der Menschenrechtsfrage auf die betroffenen Deutschen vogeschlagen oder angeregt hat, sondern daß sie ihr Weißbuch verstanden hat als einen Beitrag zu einer Teilproblematik des KSZE-Überprüfungstreffens, die der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland besonders am Herzen liegt, weil wir das einzige zwischen Ost und West, zwischen Freiheit und Unfreiheit geteilte Land in Europa sind, und wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir in der Einleitung unseres Weißbuches über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa ausdrücklich erklärt haben: „Unsere menschliche Solidarität gehört allen Menschen in aller Welt, gleichgültig unter welchem politischen System sie leben, die in ihren Menschenrechten verletzt sind"?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, die Einleitung zu Ihrer Dokumentation ist mir bekannt. Insofern kann ich Ihnen bestätigen, daß dies so in der Einleitung geschrieben steht.
— Herr Kollege, ich dachte, ich dürfte hier immer nur eine Zusatzfrage beantworten, nicht zwei.
Herr Abgeordneter Mer- tes! — Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möllemann.
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Delegation meiner Fraktion, die sich ebenfalls in Belgrad vor Ort informiert hat, von den Vertretern der Delegationen der Staaten des Ostens, des Westens und der Neutralen erklärt wurde, daß ihnen die in der CDU-Dokumentation enthaltenen Fälle bereits von der Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bekanntgemacht worden seien, daß es also eines solchen Anstoßes nicht bedurft hätte?
Dr. von Dohnanyi, Staátsminister: Herr Kollege Möllemann, ich habe ja darauf hingewiesen, daß Einzelfälle, soweit sie für diesen Gesamtprozeß relevant sind, von der Delegation der Bundesregierung dort angesprochen werden. Ich habe versucht, die Kollegen der Union damit zu beruhigen, daß damit die Interessen, die die Union offenbar wahrnehmen will, auch wahrgenommen sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wittmann.
Herr Staatsminister, da die Bundesregierung offenbar weder die Dokumentation der Opposition noch die Dokumentation des Bundes der Vertriebenen in irgendeiner Weise in Belgrad einzubeziehen gewillt ist, möchte ich Sie allgemein fragen, in welcher Weise sich die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nachfolgekonferenz überhaupt an den Menschenrechtsdiskussion in Belgrad beteiligt hat.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Wittmann, wenn ich diese Einzelpunkte alle aufzählen sollte, könnten wir den Rest der Fragestunde damit füllen. Das begann mit der Eingangserklärung des Delegationsleiters, Staatssekretär van Well. Und ich zitierte eben, vor wenigen Tagen — ich glaube, es war am 2. Dezember — haben wir ebenfalls einen Schritt getan durch die Zustimmung und die Unterschrift unter einen von Herrn Botschafter Goldberg vorgebrachten Vorschlag für die Abfassung der Abschlußdokumentation. Hier gibt es also eine Viel- zahl von Initiativen zu berichten, die ich nicht alle aufzählen kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hennig.
Herr Staatsminister, hatte die deutsche Delegation in Belgrad bereits Gelegenheit, die Zusage des Bundesaußenministers wahrzunehmen, die Dokumentation des BdV, die in der
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Dr. Hennig
vorigen Frage angesprochen worden ist, dort in die Debatte einzuführen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann dies im Augenblick nicht ausdrücklich bestätigen. Ich müßte nachfragen. Ich unterstreiche aber noch einmal: Es geht darum, all die auf diese Weise bekanntwerdenden Einzelheiten einzubeziehen, und ich gehe davon aus, daß auch diese Einzelheiten einbezogen worden sind.
Meine Damen und Herren, ich werde noch vier weitere Zusatzfragen zulassen. — Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, dem Bundestag eine Dokumentation vorzulegen, aus der hervorgeht, wieviel konkrete Menschenrechtsfälle die Bundesregierung gelöst hat im Vergleich zu anderen westlichen Teilnehmerstaaten der KSZE, insbesondere im Hinblick auf die Lösung von Aussiedlerproblemen, Problemen der Familienzusammenführung und Schaffung von Reisemöglichkeiten, was einerseits ein Ausdruck der besonderen innerdeutschen Problematik ist, andererseits aber ein Ausdruck der besonders qualifizierten Behandlung der Menschenrechtsproblematik durch die Bundesregierung sein könnte und dies bestätigen könnte? Sind Sie bereit, dem Bundestag eine solche vergleichende Ubersicht vorzulegen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Voigt, selbstverständlich wäre ich dazu bereit. Ich weiß nicht, ob es erforderlich ist; denn dem Hause sind von mir und von anderen in den Fragestunden, in den Debatten und in den Ausschüssen die Zahlen über die Entwicklung der Familienzusammenführung, der Umsiedlung usw. immer wieder vorgetragen worden. Es kann überhaupt gar keinen Zweifel an dem Erfolg dieser konkreten Menschenrechtspolitik der Bundesregierung bestehen.
Ein Vergleich mit anderen westlichen Staaten in der Quantität allein wäre natürlich wegen der besonderen Lage der Bundesrepublik Deutschland nicht relevant.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Marx.
Herr Staatsminister, darf ich noch einmal nachfragen, ob Sie sich in allem immer klar darüber waren, daß unsere Absicht — auch schriftlich niedergelegt im Weißbuch — immer darin bestand, einen Teil des großen und umfassenden Problems, und zwar den uns am nächsten liegenden, den deutschen Teil, darzustellen, und daß der erkrankte Herr Außenminister dem Vorsitzenden unserer Fraktion in einem Schreiben hat mitteilen lassen, daß er diese Dokumentation mit großem Inter-
esse aufgenommen habe, sie sei im Auswärtigen Amt sofort mit Sorgfalt ausgewertet worden? Ich darf nur einen Satz abschließend zitieren: „Dabei wurde festgestellt, daß es sich um eine zutreffende Sammlung von Fakten handelt, die, soweit sie die Implementierung der Schlußakte von Helsinki betreffen, sich mit den Erkenntnissen der Bundesregierung deckt."
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Marx, gerade weil sie sich mit den Erkenntnissen der Bundesregierung deckt, geht die Bundesregierung zwar davon aus, daß Ihr Weg eines besonderen Einbringens möglicherweise mit der Absicht verbunden war, die Diskussion über die Menschenrechte nicht einzuengen; aber eben diese Absicht wäre nach unserer Auffassung durch ein Einbringen, wie Sie es vorgeschlagen haben, nicht realisierbar gewesen. Wir sind der Meinung: Wir müssen die Diskussion breit halten; wir beziehen die Einzelfälle ein, die uns bekannt sind. So verfährt die Bundesregierung, und ich meine, so verfährt sie sehr erfolgreich.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jung.
Herr Staatsminister, unabhängig von der Tatsache, daß die Bundesregierung ja die einzelnen Fälle, die in der Dokumentation enthalten sind, bereits aufgenommen hatte und auch die Delegation dies in ihren Unterlagen hatte: Ist Ihnen bekannt, warum die CDU/CSU ihre Dokumentation erst 14 Tage nach Abschluß der Implementierungsphase in Belgrad vorgelegt hat und daß auf die Frage, warum das so spät geschehen sei, geantwortet wurde, dies sei deshalb geschehen, weil ja andere innenpolitische Ereignisse die Vorlage zu einem früheren Zeitpunkt nicht ermöglicht hätten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Jung, es steht mir nicht an, von dieser Stelle aus die Terminpläne der Opposition zu beurteilen. Wann die Opposition einen solchen Vorgang einbringen möchte, ist Entscheidung der Opposition. Die Bundestagsfraktionen der Koalition haben ja hierzu ihre Meinung geäußert.
Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatsminister, hat es die Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft der menschenrechtlichen Argumente der Bundesregierung bei dem Folgetreffen in Belgrad eigentlich gestärkt, daß sich die Bundesregierung entgegen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
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Jäger
31. Juli 1973 und dem dort niedergelegten ausdrücklichen Auftrag auch nach der Unterzeichnung in Helsinki geweigert hat, die DDR aufzufordern, in Gespräche über den Abbau von Terror und Unmenschlichkeit an der innerdeutschen Grenze einzutreten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, wie Sie wissen, dienen die drei Körbe der Schlußakte von Helsinki dem Ziel der Sicherheit, der Zusammenarbeit und der Entspannung in Europa. In der Diskussion um Korb III geht es eben um alle Bereiche in Europa, um die Auseinandersetzung, die wir um die Menschenrechte führen. Damit geht es selbstverständlich auch um die Problematik im Zusammenhang mit der DDR. Insofern wird Ihrem Anliegen durch die Teilnahme der Bundesregierung an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entsprochen.
Ich rufe die Frage 106 des Herrn Abgeordneten Friedrich auf:
Sind nach dem bisherigen Stand der KSZE-Nachfolgekonferenz in Belgrad Fortschritte in Richtung auf eine positive Weiterentwicklung der Entspannungspolitik erkennbar?
Die Frage 107 steht in unmittelbarem Zusammenhang damit. Wenn Sie den Wunsch äußern sollten, Herr Staatsminister, beide Fragen zusammen zu beantworten, hätte, wie ich glaube, der Fragesteller keine Einwendungen.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich möchte die Fragen doch gerne getrennt beantworten.
Bitte sehr.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Das Ministertreffen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit am 22. November 1977 hat den bisherigen Verlauf des Belgrader Folgetreffens positiv gewürdigt. Es ist zu erwarten, daß sich die Ministertagung der NATO, die gerade in Brüssel stattfindet, dieser Wertung anschließen wird. Die Schlußakte von Helsinki hat sich als ein wesentlicher Beitrag zur Fortführung der Entspannungspolitik erwiesen. Die Belgrader Folgekonferenz verspricht heute positiv zu enden und weitere Schritte der Entspannung in Zukunft zu erleichtern.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Friedrich.
Herr Staatsminister, nach Helsinki war aus den Ländern Osteuropas zu hören, daß sich die Situation vieler, vor allem der Kirchen, verbessert hat. Können Sie bestätigen, daß diese Aussage richtig ist und daß das ausgebaut wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Es gibt sicherlich Beweise für diese Entwicklung, Herr Kollege Friedrich.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, da sowohl Sie in Ihrer Antwort wie der Kollege Friedrich in seiner Frage von „der Entspannungspolitik" sprechen, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir bestätigen können, daß die inhaltlich-konkrete Auslegung des Begriffes „die Entspannungspolitik" im Osten und im Westen sehr verschieden oder gar gegensätzlich ist, und ob Sie dem Hohen Hause einige Beispiele für diese Unterschiedlichkeit oder Gegensätzlichkeit der Auslegung in Ost und West geben könnten.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, weil es unterschiedliche Auffassungen gibt, ist die Schlußakte von Helsinki so wesentlich; und weil es Unterschiede gibt, ist die Begegnung in Konferenzen wie eben in Belgrad von so großer Bedeutung.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, können Sie mir darüber Auskunft geben, ob es irgendeine westliche Regierung oder eine relevante gesellschaftliche Gruppierung innerhalb der westlichen Staaten gibt, die Zweifel an der Notwendigkeit der Fortsetzung des Entspannungsprozesses auch im Zusammenhang mit der KSZE hegen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Voigt, ich glaube, heute nicht mehr.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatsminister, Sie haben eben von Fortschritten bei allen drei Körben gesprochen, und das heißt für mich: auch Fortschritte in der Frage der Menschenrechte. Darf ich Sie fragen, was sich in der Frage der Menschenrechte in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang konkret verbessert hat? Gibt es beispielsweise in der Sowjetunion jetzt keine psychiatrischen Anstalten mehr, in denen politische Gegner inhaftiert werden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Schröder, zu solchen Verbesserungen gehören nicht nur die bereits zitierten Umsiedlungen, Reisen und Begegnungen, die durch die Schlußakte sicherlich erleichtert worden sind — das ist wohl unbestritten —, sondern dazu gehört wahrscheinlich auch eine gewisse Praxis in den Staaten auf der östlichen Seite, mit denjenigen, die anderer Meinung sind
— die man auch Dissidenten nennt —, anders zu verfahren, als das früher häufig der Fall war. Wir betrachten auch diese veränderte Praxis als einen
— wenn auch immer noch unzureichenden — Fortschritt in der Frage, um die es Ihnen geht. So
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Staatsminister Dr. von Dohnanyi
könnte ich eine Vielzahl von solchen Entwicklungen nennen, die allerdings immer nur Schritte in die Richtung sind, die wir anstreben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ehmke.
Herr Staatsminister, wird die Auffassung der Bundesregierung, daß das Dokument von Helsinki nur ein Ausgangspunkt sein konnte, den es auch in der Frage der Menschenrechte mit Nachdruck und mit Geduld weiterzuverfolgen gilt, wenn man wirklich Fortschritte erreichen will, von unseren Verbündeten und auch von den neutralen Staaten in Belgrad geteilt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Ehmke, ich glaube, daß es niemanden gibt, der diese Auffassung nicht teilt. Der Fortschritt, der in der Schlußakte seine Grundlage hat, kann nur schrittweise möglich gemacht werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Staatsminister, wertet die Bundesregierung auch offensichtlich noch fehlende Fortschritte bezüglich der Beachtung des durch Prinzip VII der Schlußakte von Helsinki ebenfalls bekräftigten Art. 27 des Weltpaktes für Menschenrechte positiv, also bezüglich der Gruppenrechte und der muttersprachlichen Rechte Deutscher, die nach Aussage der Bundesregierung vor dem Bundesrat konstant umfassend und schwerwiegend verletzt werden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, ich habe eben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Ehmke gesagt, daß die Schlußakte ein Ziel darstellt, das selbstverständlich noch nicht vollkommen realisiert ist. Sie haben Beispiele dafür genannt, wo es noch an der Verwirklichung der Zielsetzung fehlt. Die Bundesregierung hat das niemals bestritten. Wir wären ja in der vollkommensten aller Welten, wenn alles das, was in der Schlußakte von Helsinki vorgesehen ist, heute in Ost und West schon Wirklichkeit wäre.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Herr Staatsminister, Sie haben eben in Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Friedrich behauptet, die Situation der Kirchen im Ostblock habe sich gebessert. Können Sie dem Hohen Hause Beweise für Ihre Behauptung vorlegen, daß sich die Situation der Kirche etwa in Rußland, in Litauen, in der Ukraine und in der Tschechoslowakei seit der Verabschiedung der KSZE-Schlußakte in Helsinki gebessert hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Zunächst einmal, Herr Kollege Hupka, möchte ich unterstreichen, daß die Frage des Kollegen Friedrich allgemeiner formuliert war und daß in ihr nicht einzelne Länder herausgehoben wurden. Ich begründe meine Antwort z. B. damit, daß ganz offenbar die Begegnung zwischen Herrn Gierek und Kardinal Wyszyński andeutet, daß sich die Lage der Kirche in Polen vereinfacht hat. Nur um solche Schritte in die richtige Richtung, Herr Kollege Hupka, kann es gehen. Selbstverständlich gibt es noch immer deutliche Beweise für den Mangel an Religionsfreiheit in Ländern Osteuropas oder in der Sowjetunion.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmude.
Herr Staatsminister, ist nach Ihrer positiven Darstellung des Verlaufs der Entspannungspolitik auch der Umkehrschluß gerechtfertigt, daß ein Scheitern der Konferenz von Helsinki vor zwei Jahren für Entspannungspolitik und Menschenrechte gleichermaßen verhängnisvoll gewesen wäre wie ein Scheitern der jetzigen Nachfolgekonferenz etwa infolge von Überfrachtung mit einzelnen Punkten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Meine Antwort ist uneingeschränkt ja, Herr Kollege Schmude.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möllemann.
Herr Staatsminister, die Verwirklichung der Schlußakte mit allen ihren Bestimmungen soll ja schrittweise erfolgen. Darüber waren sich die Unterzeichner, darunter auch der Vatikan - der Draht scheint nicht so ganz zu klappen —, ja klar. Dazu sollen Folgekonferenzen durchgeführt werden. Teilen Sie meinen Eindruck, daß man mit der zeitlichen Anordnung weiterer Folgekonferenzen so vorgehen sollte, daß überhaupt die Chance bleibt, Verabredungen in den teilweise etwas schwerfälligeren Bürokratien der einzelnen beteiligten Staaten umzusetzen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Möllemann, ich glaube, daß es jetzt zunächst darauf ankommt, diese Überprüfungskonferenz abzuschließen. Dafür sind ja bestimmte Terminvorstellungen vereinbart worden. Es wird auf dieser Konferenz darauf ankommen, einen Beschluß über das Datum einer darauffolgenden Konferenz zu fassen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mattick.
Herr Staatsminister, nachdem die Opposition uns dringend davor gewarnt hat, die
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Mattick
KSZE-Akte mit zu unterschreiben, und uns heute klarmacht, wie wichtig die KSZE-Akte war — denn sonst würde die ganze Diskussion hier nicht möglich sein —, sieht sich die Regierung einmal in der Lage, eine Synopse zu erstellen, was wäre, wenn es die KSZE nicht gäbe, damit wir deutlich machen können, wie wichtig es ist, daß die Opposition Opposition bleibt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mattick, ich will gerne — ich wurde ja vorhin schon einmal danach gefragt — den Versuch machen, zu überlegen, auf welche Weise die Vielfalt der Fortschritte im Gefolge der Schlußakte von Helsinki dargestellt werden können. Aber es besteht ja kein Zweifel, daß die Opposition, die damals gegen eine Unterzeichnung war,
heute, Herr Kollege Mertes, wohl sicherlich auch sieht, daß es zweckmäßig war, die Schlußakte zu unterzeichnen und diese Möglichkeiten für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu öffnen. Aber das alte deutsche Sprichwort „Man lernt nie aus" gilt eben auch für die Opposition.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatsminister, wie ist es mit dem von Ihnen hier skizzierten Verfahren des Versuchs der schrittweisen Verwirklichung der einzelnen Bestimmungen der KSZE- Schlußakte vereinbar, daß die Bundesregierung nach der Unterzeichnung im Sommer 1975 keine Versuche unternommen hat, in großen und weiten Bereichen, vor allem des Korbes III, zu konkreten Gesprächen und Verhandlungen mit den Staaten des Ostblocks auf diesen Gebieten zu kommen, und daß sie es selbst jetzt bei den innerdeutschen Gesprächen nicht unternimmt, in diese Gespräche, die Staatssekretär Gaus führt, wesentliche Erleichterungen aus dem Korb III ausdrücklich einzubeziehen, wie wir gestern vom Minister für innerdeutsche Beziehungen in Berlin hören mußten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, ich kann zunächst Ihre Feststellung nicht bestätigen. Die Bundesregierung bemüht sich auf allen Ebenen, im Rahmen ihrer Gesamtpolitik und in Verfolg der Schlußakte von Helsinki, um die Realisierung der Rechte und Chancen aus dem Korb III. Ich kann nicht bestätigen, daß dies nicht erfolge.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Holtz.
Herr Staatsminister, wird die Entspannungspolitik nicht zu. häufig verengt, zur einseitigen Tribunalisierung gewisser Länder genutzt, und vergißt man dabei nicht, daß zur Entspannungspolitik etwa auch der Handel, die Wirtschaft und der soziale Bereich gehören?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Holtz, die Bundesregierung umfaßt mit dem Begriff „Menschenrechte" eine breite Palette der Rechte des einzelnen, zu denen selbstverständlich auch z. B. die Freiheit von Not gehört. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir die Menschenrechte nicht einengen, sondern breit in ihrer Gesamtwirkung für den einzelnen definieren.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatsminister, hat die Bundesregierung schon Vorstellungen über Daten, Themenstellungen, Teilnehmer, eventuell auch über den Ort der von Ihnen angesprochenen Folgekonferenzen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Teilnehmer sind diejenigen, die die Schlußakte gezeichnet haben. Über das Datum wird wohl im Zusammenhang mit dem Abschluß der Überprüfungskonferenz in Belgrad zu entscheiden sein. Ich möchte mich deswegen hier zu dem noch offenen Beratungsprozeß jetzt nicht im einzelnen äußern.
Ich rufe die Frage 107 des Herrn Abgeordneten Friedrich auf:
Welche sachlichen Fortschritte bei der Erörterung der Detailfragen im Bereich der drei Körbe der KSZE-Vereinbarung gibt es auf der Belgrader Nachfolgekonferenz?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: In Belgrad wurde bisher das Hauptgewicht auf einen gründlichen Meinungsaustausch über die bisherige Verwirklichung der Schlußakte gelegt. Die Aussprache über die konkreten Vorschläge, die die Beteiligten eingebracht haben, hat erst begonnen. Es ist noch zu früh, Aussagen über die Einzelergebnisse zu machen. Das Ziel der Beiträge durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland besteht darin, solche konkreten Vorhaben, im Rahmen der Schlußakte, zu vereinbaren, die die Basis des Entspannungsprozesses verbreitern würden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Friedrich.
Herr Staatsminister, kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, welcher der drei Körbe in der Schlußerklärung ein besonderes Gewicht haben wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Friedrich, wir gehen wie immer davon aus, daß diese drei Körbe nebeneinander stehen und gleichgewichtig sein werden. .
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Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, welche konkreten Vorschläge in bezug auf die drei Körbe von der Bundesregierung bisher in der Nachfolgekonferenz eingebracht worden sind und welche bisher ein gewisses positives Echo erfahren haben?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich möchte noch einmal den konkreten Vorschlag zitieren, von dem ich bereits sprach, den wir mit unterzeichnet haben und der von Botschafter Goldberg vorgelegt worden ist. Im übrigen gibt es eine vielfältige Palette von einzelnen Punkten; aber ich möchte dem Ergebnis nicht vorgreifen, indem ich einzelne so herauswähle, als seien sie wichtiger als andere. Ich möchte Sie bitten, sich mit der umfassenden Beantwortung dieser Frage noch etwas zu gedulden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmude.
Herr Staatsminister, da unsere Aufmerksamkeit immer wieder sehr stark auf den Korb III der KSZE-Schlußakte konzentriert wird, frage ich Sie, ob es auch in den anderen Bereichen der KSZE-Schlußakte wichtige Punkte gibt, in denen eine Weiterentwicklung der Entspannungspolitik möglich ist, und ob Sie in der Lage sind, den einen oder anderen Punkt, in dem eine Vertiefung und eine Erweiterung aussichtsreich versucht werden könnten, hier zu nennen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Schmude, ich unterstreiche noch einmal: Die drei Körbe stehen nebeneinander und sind gleichgewichtig. Die Bundesregierung hat zu allen Bereichen Vorschläge überdacht und zum Teil auch begonnen zu diskutieren, um so eine Konkretisierung in dem von mir zitierten Sinne möglich zu machen. Aber ich würde Sie bitten, es mir hier zu erlassen, die eine oder andere dieser Überlegungen zu konkretisieren, weil damit eine Auswahl getroffen würde, die den Eindruck erwecken könnte, als wäre das eine bedeutender als das andere. Ich möchte das wirklich dem Beratungsergebnis und auch der Abstimmung unter den Partnern in Belgrad überlassen.
Ich rufe die Frage 108 des Abgeordneten Böhm auf:
Hat sich Bundeskanzler Schmidt bei seinem jüngsten Besuch in Polen dort öffentlich und nichtöffentlich für die Herstellung eines freiheitlich-demokratischen und parlamentarischen Systems in diesem Land eingesetzt, und bei welcher Gelegenheit und in welcher Form ist dies gegebenenfalls geschehen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Der Besuch des Bundeskanzlers diente der von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gewünschten Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk sowie der Behandlung konkreter Fragen der
Beziehungen zwischen beiden Staaten und internationaler Fragen. Im Urteil aller Beteiligten war die Reise des Bundeskanzlers im Rahmen dieser Aufgabenstellung des offiziellen Besuchs ungewöhnlich erfolgreich.
Im übrigen ist, was Ihre Frage betrifft, den Gesprächspartnern in Polen die Auffassung der Bundesregierung über die Grundlagen der Demokratie bekannt. Die von der Bundesregierung, allerdings nicht von der Opposition, maßgeblich mit beeinflußte Schlußakte von Helsinki dient der Verständigung über diese bekannten gegenteiligen Meinungen hinweg und der Ermöglichung humanitärer Lösungen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Böhm.
Herr Staatsminister, darf ich Ihre Antwort als Bestätigung dafür ansehen, daß es Bundeskanzler Schmidt vermieden hat, in Polen öffentlich oder nichtöffentlich auf die Herstellung freiheitlich-demokratischer Verhältnisse und eines parlamentarischen Systems zu drängen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, wenn der Bundeskanzler im Zeichen der Versöhnung zwischen beiden Völkern nach Polen reist, wird wohl niemand hier oder in Polen auf den Gedanken kommen, daß der Bundeskanzler durch diese Reise das kommunistische Verfassungs- oder Gesellschaftskonzept als solches bestätigen oder gutheißen wollte.
Diese Gegensätze — ich unterstreiche es noch einmal — sind bekannt. Es bedurfte zur Bestätigung dieser unterschiedlichen Auffassungen keiner zusätzlichen Äußerungen.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Böhm.
Herr Staatsminister, wie können Sie dann dem Hohen Hause die Dreistigkeit des Bundeskanzlers Schmidt erklären,
— die Dreistigkeit des Bundeskanzlers erklären, der dem Vorsitzenden der CSU, Franz Josef Strauß, vorgeworfen hat, er habe es satt, daß Strauß im Ausland die Diktaturen gesundbeten möchte, wenn einerseits der Bundeskanzler beim Besuch einer Diktatur nicht auf die Wiederherstellung oder die Herstellung freiheitlicher Verhältnisse drängt, es andererseits aber der CSU-Vorsitzende Strauß — das kann ich persönlich bezeugen — in Chile getan hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, es ging dem Herrn Bundeskanzler bei diesen Fest-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4695
Staatsminister Dr. von Dohnanyi
Stellungen sicherlich um die Tatsache, daß durch die Äußerungen 'des Vorsitzenden der CSU, Franz Josef Strauß, in Chile mindestens Mißverständnisse darüber entstehen könnten, ob eine demokratische Partei in der Bundesrepublik Deutschland die Regierung, ich sage: die Diktatur in Chile als solche gutheißt.
Meine Damen und Herren, ich darf bitten, in der Fragestunde mit Zwischenrufen ein bißchen mehr Zurückhaltung zu üben. Wir kommen ohnedies mit den Fragen nicht zurecht.
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, es war keine Zusatzfrage gestellt; es waren viele Zwischenrufe. Ich warte auf die Zusatzfrage.
Dann Herr Abgeordneter Friedrich, bitte.
Herr Staatsminister, würden Sie in der Bewertung unserer Möglichkeiten, auf die polnische Regierung einzuwirken, eher dem zustimmen, was das CDU-Präsidiumsmitglied Dr. Walther Leisler Kiep am 14. Juni 1976 in Warschau gesagt hat, als es erklärte:
Es empfiehlt sich insbesondere in dem schwierigen Bereich der Ost-West-Beziehungen die Machtverhältnisse und Machtpotentiale nüchtern einzuschätzen getreu dem alten Sprichwort: Man soll die List und Schlauheit des Fuchses nicht noch dadurch vergrößern, daß man ihr die Dummheit der Hühner hinzufügt.
So die Bewertung von Herrn Kiep.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Friedrich, ich kann dem zustimmen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lagershausen.
Herr Staatsminister, können Sie mir sagen, was den Herrn Bundeskanzler in Warschau davon abgehalten hat, angesichts der zur gleichen Zeit in Chile möglichen öffentlichen Veranstaltung der Deutschen in Chile von der polnischen Regierung die gleichen Rechte für die Deutschen in Polen zu verlangen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, Sie wissen, daß sich der Bundeskanzler auf vielen
Ebenen — auch in diesen Gesprächen und durch frühere Gespräche — intensiv für die Interessen der Deutschen in Polen eingesetzt hat.
Da Ihre Frage den Vergleich noch einmal herausfordert, so will ich doch sagen, daß die Äußerungen des Vorsitzenden der CSU, Franz Josef Strauß, nach der Einschätzung auch unserer Botschaft in Santiago weit über das hinausgehen. Ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus einem Bericht einige wenige Zeilen verlesen.
— Darf ich die Antwort beenden, Herr Kollege! Es heißt hier:
Seine
— des Kollegen Franz Josef Strauß —
ausdrückliche Zustimmung zu der Beseitigung der Volksfrontregierung durch das Militär und seine Kritik an den chilenischen Christdemokraten als „Steigbügelhalter der Kommunisten" muß den chilenischen Militärs und ihren Freunden
wohl in den Ohren geklungen haben.
Um diese Bestätigung ging es hier in der Unterscheidung der beiden Fälle.
Ich bitte, die Fragen und die Antworten auf den aufgerufenen Punkt zu beziehen.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, ich habe es, wenn hier in einer Nachfrage beide Themen, Polen und Chile, zusammengebracht werden, etwas schwer, meinerseits nicht die Perspektive der Bundesregierung deutlich zu machen, warum diese beiden Vorgänge eben nicht miteinander verglichen werden können. Mehr, Herr Präsident, habe ich nicht versucht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, trifft es zu, daß Bundeskanzler Schmidt in der Volksrepublik Polen sehr wohl öffentlich die Problematik der Menschenrechte im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland bzw. Deutschland insgesamt und Polen in der gemeinsamen Geschichte angesprochen hat, indem er in seiner Rede in Auschwitz
4696 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Voigt
darauf hingewiesen hat, wie weit die Verletzung der Menschenrechte nicht nur durch die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, sondern auch durch das Leiden der Deutschen in der Nachkriegszeit das deutsch-polnische Verhältnis auch in der Gegenwart belasten kann?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich kann das bestätigen, Herr Kollege Voigt.
Meine Damen und Herren, weitere Zusatzfragen sind nicht möglich; lediglich die bereits gemeldeten kommen noch zum Zuge. Bitte, Herr Abgeordneter Schröder .
Herr Staatsminister, unter Bezugnahme auf Ihre Antwort auf die Ursprungsfrage möchte ich Sie fragen: Wann und bei welchen Ländern gelten Reisen von deutschen Politikern als Anerkennung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung und wann nicht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, daß alle Abgeordneten, Parteivorsitzenden und Politiker der Bundesrepublik Deutschland das Recht haben — ja, vielleicht sogar die Pflicht —, sich vor Ort über die wirklichen Verhältnisse zu informieren. Es gibt also keine Kritik an der Tatsache der Reise. Meine Feststellung vorhin bezog sich auf das, was auf dieser Reise gesagt und wie sie verstanden worden ist.
In einem Pressebericht, zu dem ich jetzt komme, wird festgestellt, daß Franz Josef Strauß mit seiner Entscheidung, Chile zu besuchen, Mut bewiesen habe und mit seiner Unterstützung des Staatsstreichs vom 11. September 1973 ein beachtliches Risiko auf sich genommen habe.
Dies sagt-„El Mercurio", eine Zeitung, der Sie, wenn ich richtig informiert bin, Herr Kollege Strauß, ein Interview gegeben haben.
Dieser Punkt, das offenbare — ich sage das einmal so — Mißverständnis — denn das kann es ja wohl nur sein —, daß der Kollege Strauß diese Regierung sogar in ihrem Staatsstreich hat stützen und bestätigen wollen, ist doch das, was die Kollegen aus der SPD und FDP, wenn ich es richtig verstehe, hier kritisieren.
— Herr Präsident, darf ich auf einen Einwurf des Herrn Abgeordneten Strauß eingehen?
Nein, das war keine Zusatzfrage. Wir behandeln nur Zusatzfragen. — Ich
mache noch einmal darauf aufmerksam, daß sich die Zusatzfrage auf die aufgerufene Frage zu beziehen hat.
Ich bitte, darauf Rücksicht zu nehmen. Sonst kann ich die weiteren Zusatzfragen nicht mehr zulassen.
Herr Abgeordneter Czaja.
Mit Bezug auf die Frage 109 — Staatsbesuch des Bundeskanzlers in Polen — stelle ich die Frage, Herr Staatsminister: Hat der Bundeskanzler bei seiner Reise nach Warschau in irgendeiner Weise sein Mitgefühl für die polnischen Bürgerrechtler und die Vertreter des Komitees zur Verteidigung der Rechte der Arbeiter, Adam Mich-nik und Jacek Kuron, wobei letzterer auch auf Grund eines hervorragenden Interviews im Deutschlandfunk Repressalien ausgesetzt war, zum Ausdruck gebracht, so wie z. B. der niederländische Außenminister in Prag die Verfasser der „Charta 77" besucht hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, erstens habe ich vorhin schon einmal ein Zitat aus dem Jahre 1970 gebracht, um zu zeigen, wie Mitglieder der Bundesregierung seit Beginn der Entspannungspolitik zu diesem Thema Stellung genommen haben.
Zweitens möchte ich bestätigen, daß der Bundeskanzler und auch andere Mitglieder der Koalition, wenn sie in diese Länder fahren, diese Fragen aufwerfen. Und, Herr Kollege, es kann kein Zweifel daran bestehen, daß nach einer solchen Reise wie der des Bundeskanzlers niemand auf die Idee kommen würde, daß wir das Problem der Dissidenten nicht als ein menschliches, als ein menschenrechtliches Problem sähen. Niemand von uns würde, wenn darüber hier in der Presse frei diskutiert wird, dies als Heuchelei bezeichnen. Das ist doch wiederum der. Gegensatz zwischen beiden Fällen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ehmke.
Herr Staatsminister, hat die Reise des Bundeskanzlers nach Polen zusätzliche Anhaltspunkte dafür erbracht, daß die sich abzeichnende Annäherung zwischen polnischer Regierung und katholischer Kirche im Gesamtzusammenhang der Entspannungspolitik zu sehen ist, und wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß beim Besuch von Herrn Gierek in Rom auch Kardinal Wyszyński am Abend zu dem Galaempfang gekommen ist, den Ministerpräsident Andreotti für den polnischen Gast gegeben hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Ehmke, ich habe bereits bestätigt, daß die Beziehung zwischen Kirche und Partei oder Regierung in einigen Ländern Osteuropas durch den von Hel-
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4697
Staatsminister Dr. von Dohnanyi
sinki ausgelösten Entspannungsprozeß ganz sicherlich positiv beeinflußt worden ist. Der Vorgang, den Sie soeben angesprochen haben, ist gewissermaßen symbolisch für die Fortschritte, die in dieser Richtung gemacht werden konnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Geschäftsordnung zwingt mich, die Fragestunde jetzt abzubrechen. Ich weise noch darauf hin, daß die Fragen 42, 43, 60, 91, 92, 124 bis 127 von den Fragestellern zurückgezogen wurden. Die übrigen nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
Aussprache gemäß Anlage 4 Nr. 1 der Geschäftsordnung zum Thema Verwirklichung der Menschenrechte
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schmude.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Übermorgen, am 10. Dezember 1977, begehen wir den 30. Jahrestag der allgemeinen Menschenrechtserklärung. Wir können aus Anlaß dieses Tages feststellen, daß mit dem Fortgang der Entspannungspolitik, vor allem mit der Festlegung der KSZE-Schlußakte von Helsinki und dem Bemühen um die darin enthaltenen Prinzipien der Menschenrechte, den Menschenrechten verstärkt Geltung und Nachdruck verschafft worden ist.
Zugleich müssen wir zur Kenntnis nehmen — und können es im wesentlichen nur bestätigen —, was Amnesty International, die Gefangenenhilfsorganisation, die übermorgen den Friedensnobelpreis verliehen bekommen wird, heute festgestellt hat, daß nämlich in den meisten Ländern der Welt Menschenrechtsverletzungen immer noch in irgendeiner Form geschehen.
Diese Situation und auch die einstimmige Empfehlung der IPU in ihrer Herbstkonferenz dieses Jahres in Sofia geben uns Anlaß, in Übereinstimmung mit der FDP-Fraktion zum Thema Verwirklichung der Menschenrechte hier heute eine Aktuelle Stunde durchzuführen.
Für uns Sozialdemokraten ist der Kampf um die Menschenrechte die Quelle unseres politischen Handeins.
Deshalb lassen wir in der Bewertung, in der Wertschätzung der Menschenrechte ebensowenig irgendwelche, Abstriche zu wie in der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen. Zur Durchsetzung von Menschenrechten mag es unterschiedliche Formen des Vorgehens geben, und es gibt sie nach den Umständen des einzelnen Landes, des einzelnen Falles. Dieses Vorgehen darf sich nicht in Deklamationen zur Selbstberuhigung erschöpfen. Es muß an der Wirksamkeit des Handelns zugunsten der Betroffenen orientiert sein.
Konkrete Handlungen, die helfen, müssen immer den Vorrang vor bloßen Erklärungen oder gar bloßer Propaganda haben.
Keine Zurückhaltung in diesem Sinn kann es aber rechtfertigen, daß Menschenrechtsverletzungen, und gar in der schwersten Form der Tötung, des Terrors und der Folter, verharmlost oder gar gerechtfertigt werden.
Wir müssen sehen, welcher Schaden der Geltung der Menschenrechte dadurch angetan wird, daß das etwa aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit geschieht, weil es sich z. B. um ein Regime handelt, das gegen den Kommunismus kämpft oder es vorgibt.
Menschenrechte haben einen Selbstwert, .der die Einschränkung durch solche Zweckmäßigkeitserwägungen nicht zuläßt,
der es andererseits aber auch nicht zuläßt, Menschenrechte als Instrument in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung einzusetzen und schon damit zu verbrauchen.
Ich habe geglaubt, daß wir uns in diesem Hause in dieser Auffassung einig seien, zu der ich jetzt von einigen Kollegen aus der Opposition Zustimmung sehe. Äußerungen aus den letzten Monaten aber, z. B. die Formulierung des Herrn Kollegen Zimmermann, die Menschenrechte könnten als Vehikel zur Durchsetzung westlicher Politik eingesetzt werden,
und mehr noch das Verhalten des Kollegen Strauß in Chile, haben uns Grund zu starker Irritation und Sorge gegeben.
Wir fragen uns, ob wirklich in Ziel und Wertmaßstab noch Übereinstimmung besteht. Wir haben Sorge, daß die Glaubwürdigkeit unseres Eintretens für die Menschenrechte im Inland wie im Ausland in Gefahr gerät. Wir fürchten, daß der ohnehin schwierige Zugang zum internationalen Verständnis für unsere Sicht der Menschenrechte durch solche Vorgänge verschüttet werden kann.
Natürlich wollen wir das in Gang gekommene so positive und erfolgsträchtige internationale Gespräch über Menschenrechte durch solche Vorgänge weder abbrechen noch abbiegen lassen. Deshalb unternehmen wir heute den Versuch einer Klärung in dieser Aktuellen Stunde, den Versuch, darauf hinzuweisen, welche weitgehende Verantwortung wir haben, die ernstgenommen und durch tatsächliches Handeln unterstrichen werden muß.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Marx.
4698 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat den Eindruck, daß der Antrag, der dieser Aktuellen Stunde zugrunde liegt, auf den Versuch abzielt, eine Debatte nachzuholen, die wir in diesem Hause anläßlich der Vorlage unseres Weißbuches gerne geführt hätten
und vor der wir gewünscht hätten, Herr Kollege Wehner, sie hätte das erbracht, was Herr Schmude im ersten Teil seiner Rede eben durchblicken ließ, als er von seiner Hoffnung sprach, es gäbe wenigstens im Hinblick auf die Verwirklichung der Menschenrechte, im Kampf um sie, auch anläßlich des Tages der Menschenrechte am 10. Dezember, den er angezogen hat, in diesem Hause noch eine Gemeinsamkeit. Dies hätten wir gern nicht nur in einer Aktuellen Stunde und nach einer Fragestunde, in der Sie ja eine klägliche Rolle gespielt haben, bestätigt bekommen.
Herr Schmude sagte, die Verwirklichung der Menschenrechte sei Ausgangspunkt der Politik. Wir, die Christlich Demokratische Union, haben unser Bemühen immer so verstanden, dafür zu sorgen, die dem einzelnen Menschen unwiederholbar und unverwechselbar innewohnenden unveräußerlichen Rechte zu begreifen, zu erkämpfen und ihnen überall dort, wo sie gefährdet sind, zum Durchbruch zu verhelfen und sie zu verteidigen.
Herr Schmude hat eben Herrn Kollegen Zimmermann zitiert. Dazu muß ich sagen, daß es leider richtigt ist, daß die Verteidigung der Menschenrechte eine typisch westliche, im westlichen Kulturkreis herangewachsene und von den parlamentarischen Demokratien besonders hervorgehobene Aufgabe ist. Gerade deshalb, Herr Kollege Wehner, ist es so schmerzlich sehen zu müssen, daß es — ich wiederhole es — unter uns nicht zumindest in dieser Frage eine gewisse Zusammenarbeit und Verständigung geben kann.
Herr Kollege Schmude, ich sagte: Menschenrechte für alle, für alle Gruppen, zu aller Zeit und überall. Ich sage das in Ihrer Richtung, weil ich es als ein Abweichen von Ihren eigenen Postulaten empfunden habe, wenn Sie in einer Ihrer früheren Reden z. B. die Überlegung der Schaffung eines Volksgruppenrechtes für Deutsche in den Gebieten ostwärts von Oder und Neiße, in Polen als eine „fünfte Kolonne" diffamiert haben.
Ich habe jetzt nicht über das Godesberger Programm gesprochen — darüber könnte man stundenlang sprechen —,
sondern ich habe über das gesprochen, was der Kollege Schmude zum gleichen Thema zu anderer Zeit hier gesagt hat. Ich nehme mir das Recht heraus, darauf zu antworten.
Meine Damen und Herren, ich komme noch einmal auf das Thema zurück, das ich vorhin angesprochen habe. Eben hat es in der Fragestunde zu verschiedenen Themen eine lange Diskussion gegeben. Ich habe vorhin drei Sätze aus einem Brief, den Staatssekretär van Well im Auftrag des erkrankten Außenministers an unseren Fraktionsvorsitzenden geschrieben hat, in die Debatte im Rahmen der Fragestunde eingeführt. Das Weißbuch unserer Fraktion ist, ich kann sagen, ein Bestseller geworden. Wir sind gerade dabei, das 40 000. Exemplar drucken zu lassen.
Vielleicht, Herr Kollege Wehner, haben wir es Ihrer ungezügelten Polemik dagegen zu verdanken, daß in der deutschen Öffentlichkeit der Sinn dafür geschärft worden ist und daß die deutsche Öffentlichkeit auch begreift, daß es in diesem Hause eine Partei,
nämlich die Christlich Demokratische Union und die Christlich-Soziale Union, gibt, die für die Verwirklichung der Menschenrechte hier im Parlament,
in den Ausschüssen und draußen ihre Pflicht tut.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen.
Es ist heute sehr- oft gesagt worden, man müsse bei der Verwirklichung der Menschenrechte nach gewissen Himmelsrichtungen sehen. Ich habe vorhin gesagt, daß ich für mich ein sehr betontes Engagement in dieser Frage empfinde. Ich möchte keine Himmelsrichtung auslassen. Aber ich wäre dankbar, wenn Sie sich dann nicht auf einem Auge, nämlich auf dem linken Auge, als blind erweisen würden
und bei Ihren Reisen und Ihren Gesprächen und Diskussionen mit kommunistischen Staaten einmal nicht feige wären, sondern wagen würden, was Strauß in Chile wagte,
nämlich darauf hinzuweisen, daß er hoffe und wünsche und daß wir alle daran arbeiten, daß es sich bei der gegenwärtigen Diktatur um ein vorübergehendes System handle, dem eine parlamentarische plurale Demokratie, die unsere Hilfe verdient, folgen könne.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4699
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschenrechte sind etwas Grundsätzliches. Ohne Menschenrechte kann es keine Sicherheit, keine Freiheit, keinen vertrauenswürdigen Frieden geben. Dementsprechend verfolgt die sozialliberale Koalition mit der Friedens- und Ostpolitik seit 1969 eine aktive Menschenrechtspolitik.
Diese heutige Debatte — zwei Tage vor dem Tag der Menschenrechte — muß uns an das eigentliche Problem der Menschenrechte führen, wie wir es auch von den KSZE-Nachfolgekonferenzen erwarten, wenngleich die KSZE-Vereinbarungen nicht einklagbar sind.
Dies kann die einäugige und verengte Sicht, die ich leider auch in dem Beitrag des Kollegen Marx feststelle, nicht leisten.
Da ist z. B. die von Ihnen als Bestseller bezeichnete Menschenrechtsdokumentation der Unionsparteien, die ich als solche gar nicht kritisieren will, Herr Kollege Marx,
die aber — und nun hören Sie gut zu — erst 14 Tage nach Abschluß der Implementierungsphase in Belgrad vorgelegt wurde.
Für die außenpolitische Nutzung — Herr Kollege Mertes, Sie sagen: Das trifft zu —
wurde sie also zu spät vorgelegt.
Auf die Frage, warum die Vorlage so spät erfolgte, gab es die entlarvende Erklärung, das Thema wäre wegen anderer, innenpolitischer Schwerpunkte. — die ich hier nicht anzuführen brauche —
sonst untergegangen..
Meine Damen und Herren, Sie sollten sich wirklich ernsthaft überlegen, ob diese — um es vorsichtig zu formulieren — sehr durchsichtige Haltung das vorgebliche Anliegen nicht völlig entwertet.
Hier wird nämlich deutlich, daß diese Dokumentation in erster Linie eine innen- und parteipolitische Zielsetzung hat und erst in zweiter Linie den Betroffenen wirklich hilft.
Demgegenüber möchte ich die FDP-Haltung ver deutlichen, indem ich mit Genehmigung des Präsidenten meinen Parteifreund Außenminister Genscher zitiere, der bei unserem Parteitag deutlich gemacht hat:
Die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte ist für uns Liberale in unserem Selbstverständnis verwurzelt. Deshalb treten wir überall für die Menschenrechte ein. Es ist kein Zufall, daß die Forderung nach einem Menschenrechtsgerichtshof der Vereinten Nationen ein einstimmiger Beschluß unseres Parteitages in Freiburg ist. Dahinter steht die Forderung nach einer Objektivierung dieser Frage. Gerade weil für uns die Menschenrechte von so zentraler Bedeutung sind, müssen wir in der politischen Diskussion unseres Landes verhindern, daß sie als Instrument zu einer Neuauflage des Kalten Krieges oder als Mittel zur innenpolitischen Profilierung mißbraucht wird.
Weil wir weltweit für die Menschenrechte eintreten, hüten wir uns vor jener ideologischen Einäugigkeit, die erst fragt, wer die Menschenrechte verletzt, und dann erst entscheidet, ob man dagegen auftritt oder nicht.
Wir fragen nach dem Verletzten und kämpfen für sein Recht, gleichgültig wo.
Die Regelungen in Prinzip 7 sowie Korb III der Schlußakte haben bisher immer dann zu Erfolgen geführt, wenn der mühselige Weg kleiner Veränderungen beschritten wurde.
Natürlich hat der westlich-demokratische Freiheitsbegriff keinen Eingang in die Ideologien kommunistischer Systeme gefunden, ebensowenig wie in die Doktrinen anderer Diktaturen. Schließlich be deutet unser Freiheitsbegriff dort Systemveränderung. Diese ist nicht aufzwingbar, das wissen Sie; sie führt eher zur verschärften Abgrenzung.
Die zugegeben mühselige Praxis hat dennoch zu zählbaren Erfolgen geführt. Während z. B. bis 1966 in 17 Jahren 532 000 Aussiedler aus Ostblockstaaten kamen, in den folgenden zehn Jahren bis zum Abschluß des Helsinki-Abkommens nur noch 200 000, waren es in den knapp zwei Jahren nach Helsinki bereits über 100 000. Das bedeutet also seit Helsinki 50 000 Zuwanderer aus diesen Gebieten pro Jahr.
Ich sehe bereits die rote Glocke.
4700 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1973
Die rote Lampe.
Die rote Lampe! Das war eine kleine Fehlleistung, weil zur gleichen Zeit die Glocke kingelte. Ich habe beides zusammengefaßt.
Herr Präsident, ich bin nicht mehr in der Lage, die vielen positiven Zahlen vorzutragen, die sich aus den Zureisen aus dem Osten, aus der Familienzusammenführung, aus den Begegnungen mit Bürgern der DDR, aus den Rentnerreisen usw. ergeben. Aber ich möchte hier abschließend deutlich machen, daß wir auch weiterhin Menschenrechtsverletzungen in aller Welt bekämpfen, uns aber mit aller Kraft dagegen stellen werden, daß uns einseitige, aus politisch-ideologischen Motiven veranlaßte Menschenrechtskampagnen um die notwendige Glaubwürdigkeit bringen.
Das Wort hat der Abgeordnete Riedl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fragen, mit denen wir soeben in der Fragestunde konfrontiert waren, und Äußerungen wie beispielsweise die des Kollegen Schmude kommen fast alle aus der äußersten linken Ecke dieser SPD-Fraktion.
Ihren Fragestellern und Ihren Rednern geht es einzig und allein darum, die Reise des Vorsitzenden der CSU nach Chile zum Gegenstand einer innenpolitischen Hetzkampagne zu machen.
Dieser Versuch, meine Damen und Herren, ist schäbig, ist diskriminierend und ist ausschließlich auf Unwahrheiten aufgebaut.
— Herr Kollege Wehner, im Gegensatz zu Ihnen
— Sie sind schon abgestiegen, Herr Wehner — habe ich an dieser Reise teilgenommen.
Ich bin Zeuge aller öffentlichen Äußerungen von Herrn Strauß gewesen, und ich bin Zeuge fast aller internen Gespräche gewesen. Deshalb habe ich mich auch hier zu Wort gemeldet.
Die Wahrheit ist, meine Damen und Herren, daß Franz Josef Strauß nach Chile gefahren ist, um
sich — wie in den meisten anderen Ländern der Welt in all den Jahren zuvor auch — einen persönlichen Eindruck von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in diesem Land zu machen.
Er ist hingefahren als Demokrat,
er hat dort gesprochen als Demokrat,
und er ist von vielen Hunderten und Aberhunderten von Chilenen auch als Demokrat verstanden worden,
nur nicht von Ihnen, meine Damen und Herren.
Was müssen die vielen Tausende von Zuhörern in Chile eigentlich von dieser Bundesrepublik Deutschland halten, wenn sie jetzt in den Zeitungen lesen und im Rundfunk hören müssen, wie Sie die Äußerungen von Herrn Strauß, die er in Chile gemacht hat, in diffamierender Weise entstellen?
Die Wahrheit ist, meine Damen und Herren, daß sich Franz Josef Strauß in vier großen Reden in Chile für die parlamentarische Demokratie, für die Wiedereinführung der Menschenrechte, für die Soziale Marktwirtschaft und für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hat.
Jawohl, meine Damen und Herren, lassen Sie sich doch die Tonbandabschriften vorlegen und lassen Sie sich vor allen Dingen den Bericht des deutschen Botschafters geben, der dem Auswärtigen Amt vorliegt. Warum lesen Sie denn diesen Bericht nicht vor? Weil Sie Angst haben, daß Ihre Unwahrheiten aufgedeckt werden.
Meine Damen und Herren, Wahrheit ist,
daß Franz Josef Strauß in Llanquihue — das muß ich mir von Ihnen, Herr Wehner, als junger Politiker überhaupt nicht sagen lassen, was Wahrheit ist, überhaupt nicht —
den deutschen Einwanderern seinen Dank und die Anerkennung für ihre 125jährige Aufbauarbeit in Chile ausgesprochen hat. Meine Damen und Herren, es ist eine Schande,
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4701
Dr. Riedl
daß an dieser 125-Jahr-Feier aus Anlaß der deutschen Einwanderung kein einziger offizieller Vertreter der deutschen Bundesregierung teilgenommen hat.
Die Reise von Franz Josef Strauß nach Chile hat zur gleichen Zeit stattgefunden wie die Reise von Bundeskanzler Helmut Schmidt nach Polen. Wir haben in Chile unter einer Militärdiktatur mit einem
autoritären Staatssystem, mit vielen, vielen Menschen frei, ungezwungen, ohne Aufsicht und ohne Zensur gesprochen. So hat Helmut Schmidt in Polen mit den dort lebenden Deutschen nicht gesprochen, meine Damen und Herren.
So hat Helmut Schmidt wahrscheinlich auch gar nicht sprechen können. Ich werfe ihm das persönlich nicht einmal vor.
Meine Damen und Herren, wer sechs Tage lang durch Chile gereist ist, kann sicherlich nicht sagen, daß er nun alles über dieses Land, seine politischen, seine wirtschaftlichen, seine sozialen Verhältnisse weiß. Eines ist aber sicher, er kann jetzt eher fragen, und zwar auch jene, die hier im Plenum sowie in Presse, Funk und Fernsehen vier Jahre nach dem Putsch in Chile noch immer in sehr scharfer und leider meist verzerrender Weise Darstellungen über dieses Land verbreiten. Wenn wir hier mehr tun wollen, als uns nur innenpolitisch gegenseitig zu verteufeln, dann müssen jene Kritiker aber auch ihrerseits — und da sind Sie angesprochen, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion — deutliche und detaillierte Beweise über die Zustände in Chile in die öffentliche Debatte einführen.
— Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Ehmke, haben wir mit den Christdemokraten in Chile gesprochen. Sie reden mit den Kommunisten und Sozialisten.
Meine Damen und Herren, Franz Josef Strauß und seine Begleiter sind nicht nach Chile gefahren — damit Sie auch das deutlich wissen —, um Menschenrechtsverletzungen dieses Regimes zu entschuldigen oder zu verniedlichen.
Ich wünschte mir, daß Helmut Schmidt und auch sein sozialdemokratischer Amtsvorgänger Willy Brandt bei all ihren Reisen, die sie in den letzten Jahren wahrlich gemacht haben, vor allen Dingen in den totalitären Staaten, ein so klares Bekenntnis für die parlamentarische Demokratie abgegeben hätten, wie es Franz Josef Strauß in Chile getan hat.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Corterier.
Herr Kollege Riedl, Ihre Rede war so schlecht wie der Tabellenstand von 1860,
und im Verdrehen von Tatsachen sind Sie beinahe schon so gut wie der Herr Strauß. Ich werde dem einiges entgegenzustellen haben.
Meine Damen und Herren, zunächst möchte ich sagen, wie sehr ich mich darüber freue, daß der frühere Bischof der lutherischen Kirche in Chile, —
Meine
sehr geehrten Damen und Herren, sosehr der Tabellenstand der Fußballbundesliga interessiert, bitte ich doch jetzt einmal dem Redner zuzuhören.
Meine Damen und Herren, ich wollte sagen, daß ich mich sehr darüber freue, daß Helmut Frenz, der frühere Bischof der lutherischen Kirche in Chile, der 1975 ausgewiesen worden ist wegen seiner Unterstützung der politischen Gefangenen nach dem Militärputsch, auf der Tribüne Platz genommen hat.
Wir müssen uns heute über die Menschenrechte und über die Chilereise von Herrn Strauß aus folgendem Grund unterhalten. Er hat sich mit dem,, was er dort geäußert hat, völlig außerhalb der Solidarität all derjenigen gestellt, die für eine Verteidigung der Menschenrechte — sei es im Osten, sei es im Westen — eintreten.
Diese Feststellung des Hauptgeschäftsführers 0 der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, Heribert Scharrenbroich, habe ich mir sehr gerne zu eigen gemacht.
Das Bild, das durch die Erklärungen von Franz Josef Strauß über die menschenrechtliche Lage in Chile in der Öffentlichkeit entstanden ist, stellt eine schlimme Verharmlosung der wirklichen Verhältnisse in dieser Militärdiktatur dar.
4702 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Dr. Corterier
Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, aus einem Interview mit dem Deutschen Fernsehen vom 25. November, in dem Herr Strauß sagte: „Es ist einfach Unsinn, davon zu reden, daß in Chile gemordet und gefoltert würde." Mord und Folterungen in Chile sind für Strauß schlicht und einfach Legenden. Die FAZ konnte am 25. November berichten: „Für Strauß funktioniert in Chile die rechtsstaatliche Ordnung ungeschmälert."
Der „Bayernkurier" maßt sich sogar an, zu empfehlen, wir könnten von Strauß in diesem Zusammenhang durchaus noch lernen.
Ich muß mit aller Schärfe sagen, daß wir die Verharmlosung von Folter, Terror, Mord und politischer Unterdrückung schlimmsten Ausmaßes nicht dulden werden.
Wer in eine Militärdiktatur reist und sich von dem „inneren Frieden" und der „politischen Stabilität"' dort so außerordentlich beeindruckt zeigt wie Herr Strauß, der verhöhnt Tausende von Menschen, die um ihrer Freiheit willen Verfolgung, Verhaftung und schlimmsten Druck auf sich nehmen müssen.
Gestern ist im Wirtschafts- und Sozialausschuß der Vereinten Nationen eine Resolution zu Chile verabschiedet worden, die klar zum Ausdruck bringt,
daß in Chile weiterhin, und zwar konstant und offenkundig — wie es dort heißt —, Menschenrechte und fundamentale Freiheitsrechte verletzt werden. Dieser Entschließung — und das sollten Sie sich einmal ansehen, meine Damen und Herren von der Opposition —
haben alle westlichen Staaten zugestimmt. Als einziges Land hat sich Spanien der Stimme enthalten.
In dem Bericht der Ad-hoc-Arbeitsgruppe der UNO, von dem heute schon die Rede war, über die Situation in Chile ist von körperlichen Mißhandlungen von Gefangenen, von Stromstößen, von Verbrennungen und schlimmsten Mißhandlungen, von Bedrohung von Angehörigen usw. die Rede.
Unserer Meinung nach ist in Chile keine wirkliche Besserung abzusehen, selbst wenn man sich wie Herr Strauß damit zu trösten versucht, daß numerisch die Zahl der Verfolgten abgenommen hat. Dies hängt schlicht und einfach damit zusammen, daß die Opposition in Chile inzwischen auf grausamste Weise durch Mord und Vertreibung dezimiert worden ist.
Ich möchte abschließend folgendes sagen, meine Damen und Herren. Wir Sozialdemokraten müssen heute die Frage an die CDU und vor allem an ihren Vorsitzenden richten: Wollen Sie, daß sich nur einzelne Christdemokraten von Herrn Strauß distanzieren, oder sind auch Sie endlich bereit, ein klares Wort zu sprechen?
Wenn dieses Wort heute nicht kommt, wäre dies ein schwerer Schlag gegen die Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Lande, von der in diesen Wochen soviel die Rede ist.
Sehr viele auf allen Seiten dieses Hauses versuchen doch, dieser Gemeinsamkeit der Demokraten einen konstruktiven Inhalt zu geben.
Sie, Herr Strauß, haben in letzter Zeit wohlweislich nicht davon geredet. Mit dem Persilschein für Herrn Pinochet
und dem, was Sie schon bei vielen Gelegenheiten etwa über Südafrika sagten, haben Sie sich vor der demokratischen Öffentlichkeit dieses Landes und der Welt als Sympathisant von Diktatoren erwiesen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schröder .
— Ich bitte noch einmal dem Redner die Möglichkeit zu geben, sich im Hause verständlich zu machen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schmude sprach von Irritation und Sorge in bezug auf die Verwirklichung der Menschenrechte. Ich greife diese Aussage auf. Herr Schmude, in der Tat: Irritation und Sorge erfüllen mich und meine Fraktion seit Anbeginn über die Haltung der SPD-Fraktion in der Frage der Menschenrechte, insbesondere was die doppelgleisige Behandlung dieser Frage weltweit anbelangt.
Mit Irritation und Sorge kann ich es nur zur Kenntnis nehmen, wenn sich Herr Schmidt hinstellt und wörtlich erklärt: Wir haben kein Interesse daran, daß bei der Nachfolgekonferenz in Belgrad irgend jemand auf die Anklagebank gesetzt wird, selbst dann, wenn die Menschenrechte nicht eingehalten worden sind. Mit Irritation und Sorge kann es mich nur erfüllen, wenn Herr Wehner wörtlich
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 19/7 4703
Schröder
erklärt: Es wäre verantwortungslos, den sogenannten Dissidenten mit wortreicher Kraftmeierei beizuspringen und dadurch in Wirklichkeit die Entspannungspolitik zu zerstören.
Mit Irritation und Sorge kann es mich nur erfüllen, wenn sich Herr Ehmke hinstellt und wörtlich erklärt: Wer versucht, die Belgrader KSZE-Nachfolgekonferenz zu einem Anklageforum umzufunktionieren, strebt eine Rückkehr zur Konfrontation des Kalten Krieges an.
Das alles ist doch in der Praxis eine Absage an die Verwirklichung von Menschenrechten hinter dem Eisernen Vorhang, weil Sie nicht gewillt sind, den Fehlweg Ihrer sogenannten Entspannungspolitik einzusehen.
Mit Irritation und Sorge kann es mich auch nur erfüllen, wenn die Spitzen der SPD es ablehnen, die sogenannten Dissidenten aus der Sowjetunion und hinter dem Eisernen Vorhang zu empfangen, und auf der anderen Seite Gespräche mit palästinensischen Terroristen führen.
Mit Irritation und Sorge kann es mich auch nur erfüllen, wenn der Herr Bundeskanzler nach seiner Rückkehr aus Polen von einem freundschaftlichen Verhältnis spricht, das ihn mit dem polnischen Parteichef Gierek verbindet.
Ich möchte nicht wissen, wohin wir gekommen wären, wenn sich etwa Herr Strauß hingestellt hätte und von einem freundschaftlichen Verhältnis mit Herrn Pinochet gesprochen hätte.
Mit Irritation und Sorge kann es mich nur erfüllen, daß dieser Bundeskanzler es unterlassen hat — das ist in der Fragestunde deutlich geworden —, in Polen dafür einzutreten, was uns Deutschen zunächst einmal am allermeisten unter den Nägeln brennt, nämlich für die Verwirklichung der Menschenrechte, d. h. auch für die Volksgruppenrechte unserer eigenen deutschen Landsleute.
Und mit Irritation und Sorge muß es mich erfüllen, wenn Sie zwar rundum in der westlichen Welt Politiker beschimpfen, aber Herrn Breschnew mit Bruderküssen und Umarmungen empfangen.
Mit Irritation und Sorge muß es mich erfüllen, daß Ihre Helfershelfer draußen im Lande jahrelang das Problem Vietnam, Kambodscha und Laos zu einem Fetisch hochstilisiert haben, und seitdem die Kommunisten dort die Macht ergriffen haben, wird darüber der Mantel des Schweigens gedeckt.
Mit Irritation und Sorge kann es mich nur erfüllen,
daß Sie Mozambique und Angola monatelang zum Gegenstand politischer Attacken gemacht haben, und seitdem die Kommunisten dort das Heft in der Hand haben, wird der Mantel des Schweigens auch dort heruntergelassen.
Mit Irritation und Sorge kann es mich nur erfüllen, wie doppelbödig Ihre Moral in bezug auf die Menschenrechte in Chile ist. Denn wo waren Sie denn, meine Damen und Herren, als 1972 und 1973 in diesem Lande unter einem marxistischen Regime die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden?
Ich darf mit Genehmigung des Präsidenten aus dem Beschluß des frei gewählten chilenischen Parlamentes vom 22. August 1973 zitieren, in dem es wörtlich heißt
— als Schlußsatz, Herr Präsident
Es ist erwiesene Tatsache, daß die gegenwärtige Regierung
— damit waren Ihre Freunde des Herrn Allende gemeint —
von allem Anfang an auf die Eroberung der totalen Macht ausgegangen ist in der offenkundigen Absicht, die gesamte Bevölkerung der rigorosesten politischen und wirtschaftlichen Kontrolle durch den Staat zu unterwerfen und auf diesem Wege ein Regime zu errichten, welches dem System der repräsentativen Demokratie diametral entgegengesetzt ist.
Meine Damen und Herren, dieses alles erfüllt mich mit Irritation und Sorge.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die Diskussion über die Außenpolitik und deren entscheidenden Prinzipien zum Kampfinstrument der parteipolitischen inneren Auseinandersetzung erklärt wird — und dies ist offenkundig nach diesem etwas irritierenden Beitrag des Kollegen Schröder der Fall —,
dann muß das dieser Außenpolitik, d. h. unserer Handlungsfähigkeit auf internationaler Ebene, nicht unbedingt — um es ganz vorsichtig auszudrücken — nützlich sein.
Dem Ansehen dieses Parlaments aber und darüber hinaus dem Ansehen der deutschen Außen-
4704 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Möllemann
politik schadet es ganz sicher, wenn eine Diskussion über das Thema „Menschenrechte" unter das Motto gestellt wird: Haust du meinen Chile-Reisenden, haue ich deinen Polen-Besucher.
Abgesehen davon, daß eine solche Verfahrensweise außer Emotionen — wie man ja hier erleben kann — kaum etwas anderes bewirkt, halte ich den Versuch der Union, die Kritik am skandalösen Auftreten des Dr. h. c. Strauß in einem Land, in dem auch Christdemokraten in Konzentrationslagern sitzen, mit dem Verweis auf ein Land zu kontern, das unter deutschen Konzentrationslagern unsäglich gelitten hat, für eine grobe Geschmacklosigkeit.
Der CDU-Abgeordnete Wissmann für die Junge Union, der Vorsitzende des Rings Christlich Demokratischer Studenten, Herr Pflüger, der Geschäftsführer und der Bundesvorsitzende der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerausschüsse, die italienischen Christdemokraten, die belgischen Konservativen und schließlich der Vorsitzende der chilenischen Christdemokraten, sie alle haben so eindeutig Stellung bezogen, haben den erneuten Strauß-Eklat so unmißverständlich gebrandmarkt, daß jeder weitere Kommentar sich erübrigt.
Ihre Entschuldigungen und Ihre Versuche der Rechtfertigungen sind nur noch peinlich. Chile ist eine faschistische Diktatur, deren Verharmlosung Sie, Herr Dr. Strauß, nur kennzeichnet.
— Da ich Ihre Heiterkeit erlebe, Herr Dr. Kohl: wie ist es denn Ihnen ergangen? Sie, Herr Kohl, dürfen ja noch nicht einmal mehr kritische Briefe an Herrn Pinochet schreiben.
Wie lange eigentlich — aber das werden Sie in Ihrem stillen Kämmerlein schon viel schlimmer erlebt haben, als wir uns das überhaupt vorstellen können —, wie lange werden Sie sich von Franz Josef Strauß noch düpieren lassen müssen?
Die deutsche Außenpolitik tritt unter der Federführung von Hans-Dietrich Genscher glaubwürdig und entschlossen für folgende drei Prinzipien ein. Erstens. Wir sind weltweit für die Verwirklichung der Menschenrechte.
Zweitens. Wir bemühen uns weltweit um den Abbau von Spannungen, um friedliche Entwicklungen zu ermöglichen.
— Sie sagen jetzt gerade: „Das sagen Sie". Herr Kollege, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Fairneß besäßen, sich bei solchen Kollegen zu unterrichten, mit denen ich zusammen auf internationalen Konferenzen bin, wo ich sehr eindeutig und unmißverständlich Kritik auch an die Staaten richte, an die Sie sich allerdings ganz einseitig und allein mit Ihrer Kritik richten.
Drittens. Wir nehmen auch natürlich weltweit unsere eigenen Interessen wahr.
Diese Prinzipien lassen sich bedauerlicherweise — hier im Hause weiß das doch eigentlich jedermann — nicht überall in vollem Umfang durchsetzen. In der Mehrzahl der Staaten der Welt werden die Menschenrechte nicht oder nicht voll respektiert. In vielen Gebieten gibt es gravierende militärische und soziale Spannungen. Häufig haben wir aber gerade in solchen Ländern sehr handfeste Interessen wahrzunehmen. Solche Konflikte, die sich daraus ergeben, hat unsere Außenpolitik zu bewältigen. Genau das leistet die Außenpolitik, die Hans-Dietrich Genscher prägt, mit gutem Erfolg. Dies findet seinen Niederschlag in der geachteten und geschätzten Position der Bundesrepublik Deutschland im Weltsicherheitsrat. Dies ist in der wachsenden Anerkennung unserer Politik in den Staaten der Dritten und Vierten Welt zu beobachten. Das drückt sich schließlich natürlich darin aus, daß wir mit der Schlußakte von Helsinki, die 35 westliche, östliche und neutrale Staaten Europas und Nordamerikas gegen Ihren Rat unterzeichnet haben, eine Dokumentation des Willens dieser Staaten erreicht haben, die Menschenrechte überall zu verbessern.
Daß dies noch nicht so ist, wissen wir genauso gut wie Sie. Nur versuchen wir mit konkreten praktischen Schritten, den Menschenrechten weltweit Schritt für Schritt näherzukommen, statt mit sturer, einseitiger Polemik das Klima für einen weiteren Wandel zu vergiften.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Althammer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte ist unser Kollege Franz Josef Strauß schon wiederholt zitiert worden.
Ich möchte ein offizielles Kommunque vom 23. November 1977 wiedergeben und mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten Franz Josef Strauß zitieren.
Franz Josef Strauß hat in Chile erklärt:
Ich sehe in Chile eine starke Jugendbewegung, die bereit ist, auf moralischen Grundlagen eine solide Demokratie zu errichten. Das ist das Wichtigste.
In einer Ansprache vor der Fachhochschule Frederico Santa Maria erklärte Strauß, die parlamentarische Demokratie sei die beste Gewähr für ein Gleich-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4705
Dr. Althammer
gewicht zwischen den Gewalten der Exekutive und Legislative sowie den Rechten jedes einzelnen Bürgers.
Strauß fuhr fort:
Ich möchte an die Jugend Chiles, an die chilenischen Männer und Frauen appellieren, mitzuarbeiten an der Gestaltung einer neuen Verfassung und einer neuen Demokratie, einer Ordnung auf der Grundlage von Moral und christlichen Gesetzen, einer Ordnung, die im Dienst des Landes steht und im Rahmen der Toleranz und menschlichen Würde gestaltet wird.
Diese Erklärungen haben in Chile überall größten Beifall gefunden. An Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir die Frage zu stellen, wo es seitens der SPD oder irgendwelcher Regierungsmitglieder derartige Erklärungen aus Diktaturen gibt, in die Sie gereist sind.
Herr Kollege Marx hat schon erklärt, daß die CDU/CSU für die Wahrung der Menschenrechte überall in der Welt ist. Wir wenden uns gegen die Heuchelei, die bei der SPD angewendet wird.
Das beginnt bereits bei der Wortwahl. Wenn man in den Osten fährt, wird nicht von Diktaturen gesprochen; im Westen heißt es da ganz anders. Diese doppelte Moral ist besonders verwerflich, wenn es um die Situation in Deutschland geht. Die Bürger in Deutschland wären dankbar, wenn die SPD nur mit dem halben Engagement, mit dem sie hier über Chile diskutiert, über die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland selbst spräche.
Zu der Frage, wie es sich anhört, wenn über Deutschland gesprochen wird, möchte ich ein Zitat des Herrn Kollegen Schmude bringen. Er sagt über die Dokumentation der CDU/CSU:
Fast unbemerkt bleibt dabei die aus dem vorgelegten Text der Großen Anfrage ersichtliche politisch bedenkliche Absicht, die Bundesregierung zum Vortrag des Inhalts der Dokumentation auf der KSZE-Nachfolgekonferenz in Belgrad zu veranlassen. Dabei kann auch die Opposition nicht im Zweifel darüber sein, daß die Bundesregierung bei einem derartigen Vorgehen in Belgrad als Störenfried wirken würde, auch gegenüber den westlichen Teilnehmern.
Wiederholt ist die UNO-Erklärung zu Chile angesprochen worden. Ich frage Sie: Warum hat diese Bundesregierung keinerlei Maßnahmen getroffen, damit die Menschenrechtsverletzungen im anderen Teil Deutschlands vor die UNO kommen?
Wahrscheinlich befürchtet die SPD, daß sich dann zeigen würde, mit welcher Einseitigkeit manche Dinge in der UNO behandelt werden.
Ich darf, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch die Frage stellen, warum die SPD diese Dinge so einseitig behandelt hat.. Hier kommt die Wut vieler Marxisten darüber zum Ausdruck, daß die Rechnung in Chile nicht aufgegangen ist.
Es gibt in Chile nicht die U-Boot-Stützpunkte der Sowjetunion, die schon geplant waren.
Es gibt nicht die totale Machtübernahme, die in Chile ebenfalls geplant war.
Herr Kollege Wehner, lassen Sie mich folgendes sagen. Wir haben es satt, daß ein Politiker, der seit 30 Jahren eine maßgebende Rolle im Aufbau und Ausbau unserer parlamentarischen Demokratie gespielt hat, der zwölf Jahre Minister war und drei Jahre mit Ihnen, Herr Wehner, in einem Kabinett gesessen hat, in dieser Weise diffamiert wird.
Wir haben es auch satt, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß man diesen Politiker in jeder schwierigen Situation, wenn der Krisenstab zusammentritt oder in anderen Fällen, ruft, aber wenige Wochen später denselben Mann hier zu diffamieren versucht.
Herr Kollege Althammer, Sie haben sich soeben über die Wortwahl beklagt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn auch Sie bei Ihren Worten sorgfältig wägen würden. Die Einführung des Wortes „Heuchelei" war in dieser Weise auch nicht angemessen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist eine Aktuelle Stunde zum Tag der Menschenrechte. Der Deutsche Bundestag sollte dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit des zweiten Versuchs einer deutschen Demokratie nicht dadurch Schaden zufügen — und ein solcher Schaden ist denkbar —, daß er den Tag der Menschenrechte in einen Tag deutscher Menschenrechthaberei umwandelt. Dies wäre eine schlimme Sache.
Soweit es um die Bemerkungen des Kollegen Althammer geht, kann ich Ihnen da ganz ruhig und rasch antworten. Verehrter Kollege Althammer, heute morgen war in den Nachrichten zu höhren, daß die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten bei der UNO gemeinsam eine Resolution eingebracht haben, um das Pinochet-Regime zu verurteilen.
Aber ich möchte hier etwas ganz anderes anfügen, nachdem Ihre Fragen in der Fragestunde heute nicht zum Zuge gekommen sind, was ja nicht unsere Schuld ist. Wer als Deutscher — ich sage jetzt etwas zu Polen und zu den Fragen von vorhin — nach 1945 einmal den Weg in Auschwitz-Bir-
4706 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Friedrich
kenau von der Rampe bis hin zum Denkmal geschritten ist, wo Millionen vorangegangen sind, die mit Giftgas und Krematorium ausgelöscht worden sind, der wird im Zusammenhang mit dem Wort „Menschenrechte" mit Polen sehr behutsam umgehen müssen. Niemand in diesem Hause sollte versuchen, Polen über Menschenrechte von uns aus zu belehren. Er würde nicht nur von Edward Gierek und dem Kardinal-Primas Wyszynski, er würde auch von jedem katholischen Bauern und kommunistischen Industriearbeiter zurückgewiesen werden.
Zum Tage der Menschenrechte haben wir nicht zu vergessen, daß das Ausland in den letzten Wochen sehr kritisch auf uns geschaut hat. Viele von uns waren zwar zu Recht empört, aber selbstgefällig sollten wir auch nicht sein.
Wenn es heute in der Bundesrepublik Mode sein darf, daß zur Verherrlichung Hitlers Schallplatten mit. dem Ziel der Vergiftung unserer Jugend produziert werden,
dann ist es die Pflicht dieses Parlaments, am Tag der Menschenrechte der Schande und der Opfer der Nazibarbarei zu gedenken.
Dies wäre nach meiner Auffassung heute ein wichtiger Auftrag. Wenn es in diesem Zusammenhang für die Politiker der Bundesrepublik Deutschland ohne Unterschied der Parteien so etwas wie eine geschichtliche Aufgabe gibt, dürfen wir nicht zulassen, daß die Diffamierung kritischer Geister einhergeht mit Sympathie für Rassismus und mit Verständnis für Menschen folternde Diktatoren.
Insoweit ist die Frage besorgter Nachbarn berechtigt, wohin dieses heute wieder so mächtige Land geriete, wenn in ihm, in dieser Bundesrepublik, Franz Josef Strauß mehr Macht hätte.
Es ist uns — und wir sind bereit, mit Ihnen darüber ganz offen zu diskutieren — nicht verwehrt, kommunistische Regime zu kritisieren, weil wir 'einen Hitler hatten. Aber wir sollten, wenn wir über Chile sprechen, doch auch daran erinnern, daß die Menschenrechte vor allem in Lateinamerika das ganze soziale Dasein des Menschen umfassen, und wir sollten einmal prüfen, warum in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas Kommunisten Zulauf haben. Auch darüber müßte heute diskutiert werden.
Menschenrechte sind zu wichtig, als daß sie als Instrument der Propaganda mißbraucht werden dürften.
Soweit es um Europa geht, sollten wir als Deutsche im übrigen anderen Völkern das gleiche Recht der Wandlung zubilligen wie uns selbst. Oder, um es als Sozialdemokrat für eine Partei zu sagen, in der Menschen ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Freiheit für die Menschenrechte geopfert haben:
Wir sind der Meinung, die wirksamste Menschenrechtspolitik ist eine aktive Friedenspolitik.
Das Wort hat Herr -Staatsminister von Dohnanyi vom Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will auf einige Punkte eingehen.
Der Kollege Schröder hat sich negativ darüber geäußert, daß der Bundeskanzler gesagt hat, er empfinde Freundschaft zu Herrn Gierek.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist der Meinung, daß es darauf ankommt, Freundschaft mit Polen zu suchen. Wir dürfen dies von Ihnen nicht zerstören lassen!
Als das Wort von der Freundschaft fiel, habe ich aus
Ihrer Fraktion den Zwischenruf „Pfui!" gehört. Ich finde, dies ist eine schlimme Sache.
Herr Strauß hat zwischendurch eingeworfen, er wolle wissen, was denn Herr Moersch auf seiner Reise gesagt habe. Herr Kollege Strauß, ich muß sagen, ich habe mir angesehen, was Karl Moersch berichtet hat. Er hat immer an erster Stelle berichtet, er habe sich — mit konkretem Erfolg — darum bemüht, die Frage der Hunderte von Gefangenen mit den dort zuständigen Leuten zu besprechen und sogar einige zu befreien. Ich muß leider sagen, daß Sie, zweimal von Herrn Loewenthal befragt, was Sie denn konkret bezüglich des Problems der politischen Gefangenen getan hätten, darauf keine Antwort gegeben haben. Ich muß das feststellen!
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sieht wie alle ihre Vorgängerinnen eine besondere Verpflichtung aller Deutschen, besonders der politisch verantwortlichen, die Menschenrechte, die Rechte des einzelnen Menschen in das Zentrum der Politik zu stellen.
Wir — und ich bin sicher, auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition — vergessen nie den Ausgangspunkt 1949, als wir noch vor den Trümmern und noch nahe an der Schande der Verbrechen, der Folter und des Mordes des Dritten Reiches standen. Deswegen haben wir die Grundrechte in das Grundgesetz geschrieben, und des-
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Staatsminister Dr. von Dohnanyi
wegen sagen wir, daß die Prinzipien, die dahinter stehen, eben nicht nur für uns allein gelten.
Wir müssen nun sorgfältig darauf schauen, daß durch Äußerungen drinnen und draußen keine Mißverständnisse entstehen. Ich bin hier vorhin aufgefordert worden, doch aus dem Bericht der deutschen Botschaft zu verlesen. Meine Damen und Herren, ich will das hier tun; ich lese vor aus einem Bericht vom 23. November von der zweiten Seite.
— Ich lese die „Wertung" vor. Da heißt es:
Obwohl Strauß sich stets zur parlamentarischen Demokratie bekannte
und damit eine andere Position bezog als manche Vertreter und Anhänger der chilenischen Militärregierung, war der Besuch des CSU-Vorsitzenden für die chilenische Regierung ein großer Erfolg. Strauß war der prominenteste Politiker aus der westlichen Welt, der Chile seit dem Umsturz von 1973 besucht hat.
Seine ausdrückliche 'Zustimmung zu der Beseitigung der Volksfrontregierung durch das Militär und seine Kritik an den chilenischen Christdemokraten als Steigbügelhalter der Kommunisten muß den chilenischen Militärs und ihren Freunden wohl in den Ohren geklungen haben.
Dies ist das Problem.
Und, Herr Strauß: Wenn die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" — Ihnen doch weiß Gott nicht abgeneigt — in einer Überschrift schreibt „Für Strauß funktioniert in Chile die rechtsstaatliche Ordnung ungeschmälert", dann sehen Sie doch, wohin das Mißverständnis Sie getragen hat.
Daß Sie bagatellisieren, ergibt sich doch aus solchen Äußerungen wie denen der „Süddeutschen Zeitung", in denen es heißt: Nach den Worten des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß ist das Ansehen Chiles im Ausland durch eine internationale Kampagne von Lügen und Verleumdungen schlimm entstellt, während doch, meine Damen und Herren, alle, die sonst nach Chile reisen, über die Zustände dort berichten. Und, Herr Strauß: Wenn Sie der „BildZeitung" sagen: „als ob in Chile wahllos gemordet und gefoltert werde", so muß ich ehrlich sagen, daß ich die Einfügung des Wortes „wahllos" an dieser Stelle geschmacklos finde.
Meine Damen und Herren, der Anlaß heute gibt uns Gelegenheit, alle politisch Verantwortlichen —
alle! — zu bitten, sich ihrer Verantwortung für das Bild, das sich die Welt von uns macht, bewußt zu sein. Wir können unsere Geschichte, meine Damen und Herren, doch nur dann hinter uns lassen, wenn wir heute keinen Zweifel darüber entstehen lassen, daß Rassismus und Faschismus für uns in jeder Form verwerflich sind und bleiben.
Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Alle, die über Südafrika und Chile sprechen, müssen sich dieser Verantwortung bewußt sein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege von Dohnanyi, Sie haben uns nicht überzeugen können. Denn Sie weichen der eigentlichen Fragestellung aus, nämlich der Frage nach dem doppelten moralischen Maß bei der Behandlung von Menschenrecht und Freiheit. Heute hat in diesem Hause ein Gespräch zwischen Helmut Kohl, Franz Josef Strauß und Eduardo Frei stattgefunden. Ich möchte aus dem Kommuniqué nur folgendes zitieren, um Ihnen im. entscheidenden Punkt zu widersprechen:
Herr Strauß erklärte Herrn Frei, daß er nicht nur in diesem Gespräch, sondern auch in seinen öffentlichen Reden in Chile und im Gespräch mit dem Staatspräsidenten Pinochet die Notwendigkeit der Rückkehr zur Demokratie in Parlament und politischen Parteien betont und als Voraussetzung dafür funktionsfähige politische Parteien und verantwortungsbewußte freie Gewerkschaften genannt habe.
Demgegenüber bezeichnet Ihr Parteivorsitzender Willy Brandt, wenn er als deutscher Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen spricht, die Diskussion über die Deutschlandfrage — und das heißt nun einmal über die Menschenrechte in Deutschland — als querelles allemandes, als deutsches Gezänk, das nicht vor dieses Weltforum gehöre. Andererseits verweisen Sie heute immer wieder auf die Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Chile just durch die UNO. Dieser Widerspruch ist es, den wir nicht begreifen können, den wir immer wieder angreifen müssen und auch angreifen werden.
Dem sehr bibelfesten Bundeskanzler dieses Landes muß einmal ins Stammbuch geschrieben werden, was er beim weisen König Salomo findet: „Zweierlei Gewicht und zweierlei Maß ist beides dem Herrn ein Greuel..., und ein falsche Waage ist nicht gut." Diese falsche Waage, dieses doppelte Maß, dieses doppelte Gewicht ist es, was wir wegen der Glaubwürdigkeit des Ringens um die Menschenrechte anprangern müssen.
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Dr. Mertes
Ein weiteres: Herr Kollege Friedrich, wie können Sie es wagen, eine Partei, deren führende Gründungspersönlichkeiten — genau wie die Ihrigen — aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus hervorgegangen sind und deren politisch-moralische Grundlagen eine einzige Absage an jegliche Form und Begründung der Unterdrückung von Menschenrecht und Freiheit bleibt, wie sie es seit ihren Anfängen war, in einen Zusammenhang, auch nur in einen entfernten Zusammenhang oder auch nur in einen subtil andeutenden Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu stellen?
Kennen Sie denn nicht Namen wie den von Jakob Kaiser? Kennen Sie denn nicht den Namen des Vaters unserers Kollegen Graf Stauffenberg? Ich bitte Sie: Wollen wir denn die letzten grundlegenden Gemeinsamkeiten in diesem Hohen Hause durch dieses doppelte Maß zerstören? Müssen wir uns nicht verneigen vor den Opfern jeglicher — ich sage: jeglicher — Form totalitärer Herrschaft in unserem deutschen Vaterlande?
Nun ein Wort zu unserem Weißbuch über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa, weil die entscheidenden Dinge hier mit Hilfe von Unterstellungen immer wieder falsch dargestellt werden.
Nach unserer Verfassungsordnung hat die jeweilige Bundesregierung in der Außenpolitik die Prärogative. Wir haben Verständnis dafür, daß die Bundesregierung als Exekutive auf die Bedeutung und den Nutzen der diplomatischen, der diskreten Verhandlungsmethode hinweist und ihrerseits als Regierung dieser Methode auch bei dem Bemühen um die Verwirklichung der Menschenrechte den Vorzug gibt. Nur, wenn sie glaubt, so verfahren zu müssen — wir finden übrigens, daß das nicht immer richtig ist —, dann sollte sie als Exekutive vom Parlament nicht verlangen, daß die Wahrnehmung der wenigen außenpolitischen Rechte und Pflichten, die diesem Hause obliegen, voll auf die Bundesregierung ausgerichtet sein müßte. Wir haben Gewaltentrennung. Das ist ein Wesen der Demokratie.
Auch dieses Parlament muß sich auf seine spezifische Weise außenpolitisch artikulieren können. Wenn die Koalition glaubt, sich in allem und jedem hinter die Regierung stellen zu müssen — bis hin zu den Methoden —, dann wird eben die Opposition zum Treuhänder der parlamentarischen Rechte in der Außenpolitik.
Wenn Sie unser Weißbuch unvoreingenommen lesen, dann müßten Sie anerkennen, meine Damen und Herren, daß dieses Weißbuch eine parlamentarische, also eine betont öffentliche Unterstützung der Position des Westens und der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad ist. So ist es von allen unseren westlichen Gesprächspartnern in Belgrad auch verstanden worden. Diese haben uns doch gesagt, daß die Regierungen, daß die Belgrader Delegationen dieses Kernproblem Europas und dieses Kernproblem unseres deutschen Vaterlandes nicht ohne den Rückenwind einer breiten Offentlichkeit und ohne die Stimme der Parlamente, die frei reden dürfen und müssen, behandeln könnten.
Wenn Sie als Koalitionsfraktionen glauben — aus Gründen, die ich hier nicht diskutiere —, daß Sie samt und sonders, in allem und jedem, zu Stil und Methode der Bundesregierung stehen müßten, dann lassen Sie doch die Opposition als die Treuhänderin der parlamentarischen Rechte in der Außenpolitik die Stimme frei erheben, so, wie es die deutsche Frage verlangt. Diese Deutschland-Frage ist natürlich auch eine Machtfrage. Diese Frage ist eine staatsrechtliche und eine völkerrechtliche Frage. Diese Frage ist in ihrem Wesen vor allem aber eine Frage der Verwirklichung oder der Verletzung der Menschenrechte in dem einzigen Lande, das in Europa zwischen West und Ost, zwischen Freiheit und Unterdrückung, gewaltsam geteilt ist.
Alle frei gewählten Abgeordneten in diesem Hause sollten die Kraft haben, sich hier zusammenzufinden und endlich dieses zweierlei Gewicht und dieses zweierlei Maß zu verdammen, das auf die Dauer doch zur Unglaubwürdigkeit dieses Parlaments führen muß.
Nach rechts und nach links gelten die gleichen Maßstäbe. Das aber heißt: Sie dürfen nicht gegenüber dem Osten — weil er Nuklearwaffen hat und unter Umständen den Frieden gefährden könnte — schweigen und gegenüber einem Land wie Chile, in dem die Menschenrechte ebenfalls verletzt werden — weil es in unserem außenpolitischen Aktionsfeld einen anderen, einen geographisch ferneren und machtpolitisch schwächeren Platz einnimmt — eine völlig andere Sprache sprechen. Ich kann dem bibelfesten Herrn Bundeskanzler, seiner Regierung wie seiner Koalition nur noch einmal Salomos Spruch mit allem Nachdruck vors Gewissen führen:
Zweierlei Gewicht und zweierlei Maß ist beides dem Herrn ein Greuel, und eine falsche Waage ist nicht gut.
Meine Damen und Herren, nach den strengen Regeln der Aktuellen Stunde verbleiben für die folgende Rednerin, Frau Abgeordnete Erler, noch drei Minuten. Sie haben das Wort.
Meine Damen und Herren, nachdem heute dauernd von Heuchelei und Einseitigkeit die Rede gewesen ist, möchte ich Ihnen nur ein kurzes Erlebnis erzählen, das ich vor einem halben Jahr gehabt habe. Ich habe einige Kollegen von der CDU und CSU gebeten, eine Petition für einen politichen Gefangenen in Uruguay zu unterschreiben. Er war von Amnesty als nicht Gewalt befürwortender Gefangener anerkannt. Er saß dort ohne Urteil. Er wurde seit Jahren schwer gefoltert. Es bestand die
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Frau Erler
dokumentierte Gefahr, daß er in den nächsten Tagen völlig verschwinden würde. Ein einziger der Kollegen von der CDU hat ohne zu fragen unterschrieben.
Alle anderen wollten erst versichert haben, daß dies kein Kommunist sei. Offensichtlich dürfen Kommunisten gefoltert werden und verschwinden.
— Entschuldigung, ich habe mich, als ich in Bulgarien war, dort für politisch Verfolgte eingesetzt.
Meine
Damen und Herren, ich bitte, sich freundlicherweise so zu verhalten, daß die Rednerin ungestört sprechen kann.
Warum haben denn die Äußerungen von Strauß in Chile und die von Dregger in Südafrika eine solche Empörung in der Öffentlichkeit ausgelöst? Weil dort die Grundwerte, auf denen unsere Gesellschaft beruht, verhöhnt worden sind, die Rechte des einzelnen Menschen und die Rechte auf politische Beteiligung der Bevölkerung.
Eben hat das Herr Kollege Althammer noch bestätigt, indem er wiederum die Demokratie in Chile beschimpft und Vorwände zur Rechtfertigung des Putsches in Chile geliefert hat.
Glauben Sie, daß es unserer Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die Vertretung der Menschenrechte — auch gegenüber den Ostblockstaaten — nützt, wenn Herr Dregger den Iran, eine der schlimmsten Folterdiktaturen, als eines der stabilsten Länder der freien Welt bezeichnet oder wenn Herr Todenhöfer die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika als Terroristen diffamiert und gleichzeitig kein einziges Wort dazu sagt, wenn Rhodesien in Mozambique einfällt?
Oder glauben Sie, daß es unserer Glaubwürdigkeit nützt, wenn diverse Kollegen von der CDU oder der CSU das Apartheidsregime in Südafrika unterstützen, indem sie dauernd rassistisch behaupten, die Schwarzen seien noch nicht reif, sich selber zu regieren.
Alles dieses aber ist auf einen gemeinsamen Nenner
zu bringen: Hier werden kurzsichtige deutsche Wirtschaftsinteressen in den Ländern der Dritten Welt
vertreten. Offensichtlich wird die Freiheit deutscher Investitionen mit der Freiheit von Menschen verwechselt.
Ich
schließe die Aussprache im Rahmen der Aktuellen Stunde.
Zu einer persönlichen Bemerkung gemäß § 35 der Geschäftsordnung erteile ich dem Herrn Abgeordneten Friedrich das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Mertes hat hier Ausführungen gemacht, denen ich entnehmen mußte, daß er den Eindruck hat, ich hätte Mitglieder des Hauses mit dem Nationalsozialismus identifiziert. Ich möchte feststellen: Das Protokoll wird ergeben, daß dies nicht geschehen ist. Ich hielt es allerdings für meine Pflicht, an diesem Tag der Menschenrechte der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zum Gesetz zur Regelung zusätzlicher Fragen der Ausbildungsplatzförderung
— Drucksache 8/1235 — Berichterstatter: Senator Steinert
Herr Senator, Sie haben als Berichterstatter das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesrat hat in seiner 451. Sitzung am 4. November 1977 zu dem vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetz zur Regelung zusätzlicher Fragen der Ausbildungsplatzförderung die Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen.
Einziger Anrufungsgrund war das Begehren, in § 1 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 die Einzugsstellen für die Abgabe nach dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz im Gesetz selbst konkret zu benennen. In der Gesetzesfassung des Bundestagsbeschlusses sieht der § 1 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 vor, daß der zuständige Bundesminister durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates den Einzug der Berufsausbildungsabgabe auf selbständige Bundesoberbehörden oder bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts überträgt.
Der Bundesrat weist in seinem Vermittlungsbegehren darauf hin, daß eine Übertragung durch Rechtsverordnung nur dann zulässig sei, wenn die in Betracht kommenden Einzugsstellen im Gesetz selbst konkret genannt sind.
Der Vermittlungsausschuß hat am 23. November 1977 das Anrufungsbegehren erörtert, aufgenom-
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Senator Steinert
men und folgenden Beschluß gefaßt, der Ihnen in der Bundestagsdrucksache 8/1235 vorliegt.
Der Vermittlungsausschuß hat zur Konkretisierung der Einzugsstellen in § 1 die Absätze 2 und 3 geändert und einen neuen Absatz 5 eingefügt.
Der § 1 des Gesetzes sieht jetzt insgesamt für die Einziehung der Berufsausbildungsabgabe folgende Regelung vor:
1. für den Bereich der bundesunmittelbaren und bundesweit zuständigen Berufsgenossenschaften: die Berufsgenossenschaften selbst;
2. für den Bereich, in dem der Bund und die Bundesanstalt für Arbeit Träger der Unfallversicherung sind: das Bundesamt für Finanzen;
3. für den Bereich der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften mit Ausnahme des Bereichs Gartenbau: das Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft;
4. für den Bereich der „Metallberufsgenossenschaften" : die (bundesunmittelbare) Maschinenbau- und Kleineisenindustrie-Berufsgenossenschaft;
5. für den Bereich der „Bauberufsgenossenschaften" : die (bundesunmittelbare) Bauberufsgenossenschaft Wuppertal;
6. für den Bereich der Länder und Gemeinden: die durch die Landesregierungen bestimmten Stellen.
Durch den in § 1 eingefügten Absatz 5 wird sichergestellt, daß die bundesweit zuständigen Einzugsstellen die Berufsausbildungsabgabe zentral für das ganze Bundesgebiet einschließlich Berlins ein- ziehen müssen. Damit wird auch für den Bereich der an sich nur regional zuständigen Metall- und Bauberufsgenossenschaften den Anforderungen des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG Genüge getan.
Durch diesen Vorschlag des Vermittlungsausschusses sind Rechtsverordnungen insoweit nicht mehr erforderlich.
Der Vermittlungsausschuß hat damit dem Anrufungsbegehren des Bundesrates voll entsprochen.
Ich bitte Sie deshalb namens des Vermittlungsausschusses um Ihre Zustimmung.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort zu einer Erklärung hat Frau Abgeordnete Benedix.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die parlamentarische Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung zusätzlicher Fragen der Ausbildungsplatzförderung nicht verfolgte, dem muß der Gesamtzusammenhang auch nach den Darlegungen des Herrn Senators Steinert verschlossen bleiben — bei dieser Verästelung von Ergänzungen für die Ergänzung eines ergänzten Gesetzestorsos.
Deshalb kurz eine Erklärung zum Stammbaum. Er hieß Berufsbildungsgesetz. Er scheiterte 1976 im
Bundesrat. Um diese Hürde zu umgehen, vollzog die Regierungskoalition das Kunststück der Aufspaltung in einen zustimmungsbedürftigen und in einen nichtzustimmungsbedürftigen Gesetzesteil. Der nichtzustimmungsbedürftige Teil nennt sich Ausbildungsplatzförderungsgesetz. Der zustimmungsbedürftige wurde nochmals gespalten, und zwar in den Teil, der die Steuerfreiheit der Zuschüsse betrifft — er wurde bereits durch das Steuerentlastungsgesetz geregelt —, und in den Gesetzesteil, der uns vom Vermittlungsausschuß noch einmal zur parlamentarischen Abstimmung zugeleitet worden ist und der das Verfahren der Einziehung der Berufsausbildungsabgabe betrifft.
Frau Kollegin, einen Augenblick! Ich möchte die Damen und Herren nochmals darum bitten,. die Gespräche so zu führen, daß in jedem Fall die Rednerin voll verständlich bleibt.
Bitte, Frau Kollegin.
So ist die Zustimmung der Länder — auch der meisten von der CDU/CSU regierten Länder — zu erklären. Die Länder befinden sich hier sozusagen im Vollzugszwang, seit das Ausbildungsplatzförderungsgesetz gegen unser Votum verabschiedet worden ist. Die Zustimmung zu diesem Ergänzungsgesetz seitens der Länder bedeutet also nicht automatisch die Zustimmung zum Stammgesetz und ganz bestimmt nicht zu seinen Intentionen.
Die Regelung des Einziehungsverfahrens der Berufsausbildungsabgabe, die uns heute hier vorliegt, soll das Ausbildungsplatzförderungsgesetz in seinem wesentlichen Teil, nämlich der betrieblichen Umlage, überhaupt erst wirksam machen. Die Gründe, die uns, die CDU/CSU-Fraktion, damals zwangen, dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz die Zustimung zu verweigern, machen es uns auch heute unmöglich, der vorliegenden Ergänzung zum Zweck der Praktizierung dieses Gesetzes zuzustimmen.
Die steuerrechtliche Problematik und das mehr als angreifbare Gesetzgebungsverfahren bei diesem Ergänzungsgesetz hat mein Kollege Dr. Pfennig am
7. Oktober in diesem Hohen Haus überzeugend angesprochen. Ich beschränke mich deshalb auf die nochmalige kurze Darlegung der Ablehnungsgründe, die in unserer bildungspolitischen Überzeugung liegen.
Auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, bekennen sich heute zum dualen System. Sie sagen heute auch, für die duale Ausbildung gebe es keine Alternative.
Angesichts dieser erfreulichen, aber relativ jungen Erkenntnis ist dies nicht überzeugend genug. Es fehlen die Taten. Was tun Sie, um in dieser schwierigen Situation die enormen Anstrengungen der Ausbildungsbetriebe anzuerkennen und zu unterstützen? Wir honorieren Sie die schon seit einigen Jahren laufende Rekordleistung der Wirtschaft, das persönliche Engagement der Präsidenten, der Geschäftsführer, die Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze zu erhöhen? 20 000 zusätzliche Ausbildungs-
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Frau Benedix
plätze allein im Handwerk, meine Damen und Herren, trotz ungünstiger Wirtschaftslage, trotz langer Diffamierungskampagnen! Ich möchte sagen, das ist eine Leistung der Wirtschaft, für die es bisher beim Staat noch kein Beispiel gibt. Das beweist doch, daß es für die Kräfte der Eigenverantwortung keinen Ersatz gibt. Das beweist, daß eigenes Wollen zu allen Zeiten noch die stärksten Antriebskräfte entwickelt hat, viel stärkere, als sie jede noch so perfekte Bürokratie entwickelt hat. Aber wer ein marxistisches Grundverständnis hat, kann das natürlich nicht begreifen.
Frau Kollegin, ich habe nur eine Bitte. Zu Anträgen des Vermittlungsausschusses werden Erklärungen abgegeben. Sie kommen allmählich zu einer Art Debattenbeitrag. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu Ihrer Erklärung zurückkehrten.
Meine Damen und Herren, ich sagte: Sie bekennen sich zur Dualität, worüber wir uns sehr freuen. Aber ich meine, Sie müßten deutlich machen, daß dahinter eine echte Überzeugung steht. Ich möchte Sie fragen: Wo tun Sie das, wo haben Sie z. B. einmal die enge Verzahnung zwischen Theorie und Praxis betont, die sehr wichtig ist, oder wo haben Sie sich einmal dazu geäußert, daß es für das Lernen im Betrieb keinen Ersatz gibt? Wo haben Sie einmal begründete Antworten auf diese Fragen gegeben? Wo haben Sie einmal geschrieben, daß der junge Mensch in der unmittelbaren Verbindung von Betrieb und Schule die Notwendigkeit von Präzision und Konzentration, die Notwendigkeit absoluter Verläßlichkeit erfährt? Wo habe ich einmal aus Ihrem Munde gehört, daß sich im Betrieb am besten die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung entwickelt, auch die Fähigkeit, sich in das Sozialgefüge einzufügen? Wo haben Sie einmal mit Verve dargelegt, daß es bei der Ausbildung eben nicht nur um Fertigkeiten und Kenntnisse geht, sondern daß das Einüben von Verhaltensweisen und bestimmten Eigenschaften für den Ernstfall mindestens ebenso wichtig ist? Wo sind hier Ihre Fragen, Ihre Antworten?
Ihre Antwort lautet heute: Ergänzungsgesetz zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz. Für uns ist dieses Ausbildungsplatzförderungsgesetz eine Art Damoklesschwert, das Sie über die ausbildenden Betriebe hängen, das Damoklesschwert der zusätzlichen Kostenbelastung und des staatlichen Hineinwirkens in die betriebliche Ausbildung. Mit diesem Ergänzungsgesetz lösen Sie gleichsam die Halterungen dieses Schwertes, so daß es zu jeder Zeit nach Ihrer Berechnung der sogenannten Überhangquote auf die Betriebe heruntergelassen werden kann. Dies ist für uns keine überzeugende Art, Engagement zu fördern,
Die dadurch bewirkte Unsicherheit der Ausbildungsbetriebe kann kurzfristig zur Lähmung, langfristig sogar zur Aufgabe des persönlichen opfervollen Einsatzes aus engagiertem Interesse führen.
Dies wäre — ich glaube, das Wort ist hier nicht zu
hoch gegriffen — in der Tat ein nationales Unglück
— jawohl —, denn unsere duale Ausbildung ist eine in der ganzen Welt anerkannte spezifische Kraft, die wir uns im Interesse unserer Jugend nicht kaputtmachen lassen dürfen. Diese spezifische Ausbildung ist es vornehmilch, die den jungen Menschen zu dem Facharbeiter, dem Techniker, dem Kaufmann und dem Verwaltungsfachmann macht, der in der Welt anerkannt, gesucht und gefragt ist.
Das sogenannte Wirtschaftswunder verdanken wir vornehmlich dieser Ausbildung. Darum müssen wir Ihrer verschiedenen Reformansätze nachhaltig kritisch begleiten und durchleuchten. Leider müssen wir immer wieder befürchten, daß Sie direkt oder indirekt den Abbau des dualen Systems bewirken.
Meine Damen und Herren, eine praxisgerechte Ausbildung liegt nicht nur im unmittelbaren Interesse der jungen Menschen, die ja in einem bestimmten Alter die theoretische Schulung satt haben; sie liegt auch im unmittelbaren Interesse einer zukunftsweisenden Volkswirtschaft mit ausreichendem Wachstum. Sie können deshalb darauf bauen, daß wir alles tun werden, um unsere in der Welt anerkannte deutsche Ausbildungsart zu stärken, sie nicht aushöhlen zu lassen. Deshalb unser Widerstand und deshalb heute hier auch die Ablehnung dieses Ergänzungsgesetzes zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zur Kollegin Frau Benedix will ich ,nur eine kurze Erklärung abgeben und kein Grundsatzreferat halten.
Die heute zur Diskussion stehende Drucksache 8/1235 regelt ausschließlich das Verfahren des Einzuges der Berufsausbildungsabgabe. Meine Fraktion hat bereits in den Ausschußberatungen die Auffassung vertreten, daß die vom Bundesrat vorgeschlagene Beauftragung der Berufsgenossenschaften mit dem Einzug der Abgabe die rationellste und auch die kostengünstigste Lösung darstellt. Eine bundeseinheitliche Beauftragung der Berufsgenossenschaften war deshalb nach unserer Meinung nur konsequent. Eine länderbezogene Regelung hätte die bundeseinheitliche Erfassung der Lohnsummen nicht möglich gemacht und zu völlig unnötigen Verwaltungsschwierigkeiten und vermeidbaren Kosten geführt. Es geht also hier nur um ein praktikables Verfahren, das kostengünstiger, unaufwendiger und damit auch besser funktioniert.
Die Bedenken des Bundesrates sind auch weitgehend ausgeräumt worden, nachdem wir die Möglichkeit des Ministers für Bildung und Wissenschaft entfernt haben, per Verordnung zu bestimmen, welche Maßnahmen weiterhin getroffen werden sollen, um Einzugsstellen zu beauftragen, die Ausbildungs-
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Wüster
abgabe zu kassieren. Wir meinen nun, daß den Wünschen des Bundesrates voll entsprochen worden ist; wir begrüßen, daß wir zustimmen können, und erbitten auch die Zustimmung der Opposition.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schuchardt.
Meine Damen und Herren! Das Ergebnis der Beratungen im Vermittlungsausschuß stellt zunächst einmal einen Abschluß, wenn nicht das Ende der Diskussion in dieser Frage dar. Das sogenannte Ergänzungsgesetz stellt sicher, daß für den Fall des Inkrafttretens der Umlagefinanzierung nach dem Ausbildungsförderungsgesetz das Verwaltungsverfahren bundeseinheitlich und möglichst unaufwendig gehandhabt werden soll.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich den Ausführungen von Herrn Wüster insoweit inhaltlich anschließen und nur noch eines hinzufügen: Ich darf daran erinnern — und vielleicht sollte das die CDU vor ihrer Stimmabgabe auch noch einmal erwägen —, daß sie selbst 1969 einhellig in diesem Hause mit den anderen Fraktionen festgestellt hat, daß wir unbedingt ein Umlagefinanzierungssystem brauchten. Wir haben dafür eine Kommission im Deutschen Bundestag eingesetzt, die sogenannte Edding-Kommission, die dazu Vorschläge gemacht hat. Wir stehen jetzt am Ende einer sehr aufwendigen Diskussion und hoffen, daß wir mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz und vor allem mit diesem Ergänzungsgesetz die Voraussetzungen für die junge Generation geschaffen haben, in den nächsten Jahren ein hinreichendes Ausbildungsplatzangebot herzustellen.
Ich möchte die Union bitten, diesem Kompromiß des Vermittlungsausschusses zuzustimmen. Wir sind dem Bundesrat entgegengekommen, und ich meine, auf dieser Ebene kann man sich sehr wohl einigen.
Meine
Damen und Herren, das Wort wird nicht weiter begehrt. Wer dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Vorschlag ist mit sehr großer Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe nunmehr Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1977
hier: Einzelplan 12
Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr
— Drucksachen 8/639, 8/1227 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller
Meine Damen und Herren, es liegt ein Bericht des Herrn Abgeordneten Müller vor. Ich frage, ob der Herr Berichterstatter zusätzlich das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall. Wird in der Aussprache das Wort gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.
Wer der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Meine Damen und Herren, dem Beschluß des Haushaltsausschusses ist mit sehr großer Mehrheit entsprochen worden.
Ich rufe nunmehr Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes Änderung des Wehrsoldgesetzes
— Drucksache 8/1266 —
Das Wort zur Begründung der Vorlage wird nicht gewünscht.
In der Aussprache erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Biehle.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung. Wir haben heute eine Tagesordnung mit insgesamt 26 Punkten. Die Bundesregierung und die Koalition sprudeln nur so vor Initiative und Tatkraft, so daß bis jetzt zur Behandlung des Punktes 10 noch kein einziger von Ihnen geschickt werden konnte. Dagegen stammen alle bisher beratenen Gesetzesentwürfe des heutigen Tages von der CDU/ CSU-Opposition, von der die SPD/FDP-Koalition ja immer sagt, daß es mangelnde Initiative sei, durch die sie sich auszeichne.
— Die Tatsachen sind anders, Herr Wehner, auch wenn Sie dies nicht wahrhaben wollen. Wenn es heute auf die Koalition angekommen wäre, hätte der Bundestag pausieren müssen.
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf zur Wehrsolderhöhung, der mit leider allzu großer Verspätung von der Regierung vorgelegt worden ist. Meine Fraktion hat hier schon seit langer Zeit die Erhöhung des Wehrsoldes und des Entlassungsgeldes gefordert, um einmal der inflationistischen Entwicklung in ihrer Auswirkung auch gegenüber den Wehrpflichtigen Rechnung zu tragen, zugleich aber in der Frage der Wehrgerechtigkeit einer Tendenz entgegenzutreten, die immer mehr eine ungleiche finanzielle Belastung der Dienenden gegenüber den zu Hause Weiterverdienenden mit sich bringt.
Mit dieser Forderung nach Erhöhung standen wir auch bisher nicht allein. Ich darf nur daran erinnern, daß vom Bundeswehrverband bis zum Deutschen Gewerkschaftsbund immer deutlicher darauf hingewiesen wurde, daß — so z. B. der DGB am 21. Oktober 1977 — die Preisentwicklung trotz Kantinenreform endlich eine rasche und positive Entscheidung für die Wehrpflichtigen im Lande erfordere, zumal seit der letzten Wehrsolderhöhung,
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4713
Biehle
die am 1. Januar 1974 stattfand, vier Jahre vergangen seien. Beim Entlassungsgeld gab es leider sogar seit fünf Jahren keine Anhebung mehr. So erfreulich es ist, daß der Bundesverteidigungsminister diese Erhöhung unter dem Druck der Öffentlichkeit endlich im Kabinett durchsetzen und seine wiederholten Ankündigungen auch mit einem Gesetzentwurf in die Tat umsetzen konnte, so bedauerlich ist es, daß — wie 1973 auch diesmal erst nach monatelangem Feilschen im Regierungs- und Koalitionslager um den ehrlich verdienten Wehrsold — die Erhöhung nicht schon zum 1. Juli 1977, sondern erst zum 1. Januar 1978 erfolgt. Dennoch begrüßt meine Fraktion grundsätzlich die Gesetzesvorlage.
Lassen Sie mich nochmals unterstreichen, warum wir schon vor geraumer Zeit eine Erhöhung des Wehrsoldes als besonders notwendig ansahen. Seit der letzten Wehrsolderhöhung am 1. Januar 1974 ist z. B. der Preisindex für die Lebenshaltungskosten aller privaten Haushalte nach Angaben der Bundesregierung um 19 °/o gestiegen. Selbst wenn ich einen Teil davon für Verpflegung, Bekleidung und Unterkunft in Anrechnung bringe, verbleibt noch ein beachtlicher Prozentsatz von Mehrkosten zuungunsten der Wehrpflichtigen. Seit 1974 sind außerdem auch die Löhne und Gehälter — dies ebenfalls nach Angaben der Regierung — brutto um 23,6 v. H. und netto um 18,8 v. H. gestiegen. Die vielen Vorteile der zu Hause verbleibenden, weil nicht eingezogenen Wehrpflichtigen oder auch der Wehrdienstverweigerer — unter anderem durch höhere Verdienste — liegen auch hier klar auf der Hand.
Schließlich ist auch der Teilindex für Verkehr und Nachrichtenübermittlung seit 1974 um 22,1 % gestiegen. Davon sind besonders viele Wehrpflichtige betroffen, da die infolge der steigenden Zahl von Wehrdienstverweigerern immer häufiger werdende heimatferne Einberufung auch eine stärkere finanzielle Belastung durch die höheren Kosten für die Heimfahrt verursacht.
Auch die Kantinenreform hat sich nicht als der große Wurf zur finanziellen Entlastung der Soldaten erwiesen.
Alles in allem besteht also eine volle Berechtigung für die rasche Anhebung von Wehrsold und Entlassungsgeld. Die besondere Zuwendung ist dabei eine automatische Folge der Wehrsoldanhebung, da sie in ihrer Höhe dem Monatsbetrag des Wehrsoldes der Gruppe 2 entspricht; das ist die Gruppe der Gefreiten.
Daß die mit der Wehrsolderhöhung ab 1. Januar 1978 verbundene Umstellung von halbmonatlicher Zahlung auf monatliche Zahlung eine Verringerung des Verwaltungsaufwandes mit sich bringt, ist eine begrüßenswerte Nebenerscheinung.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur einheitlichen Anhebung des Wehrsoldes um 1 DM in allen 13 Wehrsoldgruppen. Vom Inkrafttreten des ersten Wehrsoldgesetzes am 1. April 1957 an gab es bis 1971 bei den zwischenzeitlich durchgeführten vier Erhöhungen differenzierte bzw. gestaffelte Anhebungen entsprechend den Funktionen bzw. den Dienstgraden. Lediglich zum 1. Januar 1974 wurde der Wehrsold erstmals einheitlich in allen Gruppen um 1 DM angehoben. Der damalige Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, der Kollege Schmidt , hat noch am 25. September 1973 in einer Vorlage gegenüber dem Verteidigungsausschuß zur Wehrsolderhöhung 1971 erklärt — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:
Mit dieser Anhebung sollte nicht nur die 1970 eingetretene und für 1971 zu erwartende allgemeine Einkommensentwicklung berücksichtigt werden; die Verbesserung sollte auch dazu dienen, den bewährten Soldaten, die auf Grund der Übernahme von Funktionen befördert werden, einen stärker als bisher leistungsbezognen Wehrsold zu gewähren.
Dieser hier angesprochene leistungsbezogene Wehrsold hatte 1971 die Wirkung, daß beim Grenadier die Anhebung 20 % ausmachte, beim Gefreiten 331/3 %, beim Obergefreiten 44 °/o, beim Hauptgefreiten 662/30/o, und beim Unteroffizier gar 80 °/o. Die heutige nivellierende Anhebung um einheitlich 1 DM für die 13 Wehrsoldgruppen bringt ab 1. Janurar 1978 eine Erhöhung — man höre jetzt — um 18,2% beim Grenadier, um 14,3 % beim Gefreiten, um 131/s % beim Obergefreiten, um 11,7 % beim Hauptgefreiten, um 10 % beim Unteroffizier, Stabsunteroffizier und Fahnenjunker und um 9 % bei allen Feldwebeldienstgraden. Dies wäre fortzusetzen: beim Hauptmann z. B. beträgt sie 7,1 °/o. Das ist also genau das Gegenteil von dem, was damals gesagt wurde; es handelt sich, so meine ich, um eine leistungsfeindliche bzw. nicht funktionsgerechte Wehrsolderhöhung. Man muß sich dabei fragen, wann bei dieser Nivellierungstendenz der Feldwebel den gleichen Wehrsold wie der Grenadier bekommt.
Wir wünschen dringend, daß dieser Entwicklung Einhalt geboten und der funktions- und leistungsbezogene Wehrsold wieder in den Vordergrund gestellt wird.
Die Gesetzesvorlage der Bundesregierung vom 4. November 1977 ist am 25. November dieses Jahres vom Bundesrat beraten worden; sie fand dort volle Billigung.
Damit die wehrpflichtigen Soldaten, wie es vorgesehen ist, zum 1. Januar 1978 in den Genuß dieser Erhöhung kommen, sagen wir ja zum Gesetz und stimmen der Ausschußüberweisung zu. Der Verteidigungsausschluß wird morgen darüber beraten. Der Innenausschuß hatte das Gesetz bereits gestern, am Mittwoch, dem 7. Dezember, auf der Tagesordnung.
Ich darf unsere Bitte wiederholen, dem Antrag auf Ausschußüberweisung zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horn.
4714 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Vorlage über die Erhöhung des Wehrsoldes liegt uns vor. Die sozialdemokratische Fraktion wird dem zustimmen. •
Wir wissen, daß die Wehrpflichtigen ein Opfer für uns bringen. Dies ist uns bekannt. Wir wissen andererseits aber auch, daß sie nicht in ein allgemeines Tarifgefüge einzubinden sind. Ich glaube, darin besteht Übereinstimmung bei allen politischen Parteien hier im Bundestag. Infolgedessen wissen wir — wir wollen der Bundesrepublik Deutschland eine Wehrpflichtarmee erhalten —, daß sich auf Grund ihrer Aufgaben dort Ungerechtigkeiten und auch Schwierigkeiten ergeben. Wir bürden sie dem jungen Menschen auf, weil es für seinen Staat, für unseren Staat geschieht, für den er sich einsetzen soll. Wir haben versucht, über ein gewisses soziales Netz, in das auch er einbezogen wurde, Ungerechtigkeiten zu mildern Darüber hinaus müssen wir noch im Bundestag und in den Ausschüssen beispielsweise über eine Ausweitung der freien Wochenendfahrten von einer Wochenendfahrt im Monat auf mehrere sprechen. Ich erinnere daran, daß wir das System heimatnaher Einberufung noch verbessern müssen,
um hier die Schwierigkeiten zu verringern. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben in den letzten Jahren eine vorbildliche Leistung im Sinne dessen erbracht, daß sie Ausbildung und Bildung und zugleich auch den Rüstungsbereich für unsere Soldaten adäquat ausgestaltet haben, so daß sie ihre Aufgabe erfüllen können.
Ich bin der Auffassung, daß für die nächsten Jahre der Soldat selber in seinen sozialen Bindungen und auch in seinen persönlichen Rechten im Mittelpunkt stehen muß. Aus diesem Grunde sehen wir den Gesetzentwurf als einen Anfang an. Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei stimmt der Vorlage zu.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sehe mich in der glücklichen Lage, den Argumenten meines Vorredners und auch dem Fazit des Vorvorredners, nämlich der Zustimmung zur Überweisung, zustimmen zu können. Ich halte es wie der Kollege Horn für notwendig, daß wir in der Tat dafür sorgen, daß die menschlichen Belange auch innerhalb der Bundeswehr im nächsten Haushaltsansatz stärker berücksichtigt werden. Wir alle haben bei den jetzt ja schon relativ zahlreichen Debatten über das Thema Sicherheitspolitik in dieser Legislaturperiode Gelegenheit genommen, diese Problemfelder aufzuzählen.
Ich kann also für meine Fraktion der Überweisung zustimmen und ankündigen, daß wir uns mit den übrigen Fraktionen um eine Besserstellung der
Wehrpflichtigen wie der Berufssoldaten kümmern werden.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich schlage Ihnen vor, die Vorlage dem Innenausschuß — federführend —, dem Verteidigungsausschuß — mitberatend — und dem Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 GO — zu überweisen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Strafvollzugsgesetzes
— Drucksache 8/1283 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ich frage zunächst, ob die Vorlage begründet werden soll. — Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hartmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der zur Beratung anstehende Gesetzentwurf des Bundesrates hat zum Gegenstand die Schaffung einer wirksamen Möglichkeit zur Überwachung des Besuchsverkehrs der Untersuchungsgefangenen und Strafgefangenen aus terroristischen Vereinigungen mit Verteidigern sowie die Verbesserung der Überwachung des schriftlichen Verteidigerverkehrs. Eine richterliche Besuchsüberwachung soll unter den gleichen Voraussetzungen möglich sein, unter denen nach geltendem Recht eine Überwachung des Schriftverkehrs stattfinden kann.
Wir wollen im Rahmen dieser ersten Lesung nicht die große Debatte zum Thema „Unterbindung der Verteidigerkonspiration" führen. Dies wird in der zweiten und dritten Lesung unserer Gesetzentwürfe zur Bekämpfung des Terrorismus geschehen. Ich beschränke mich heute auf die Erklärung, daß und aus welchen hauptsächlichen Gründen wir, die CDU/ CSU-Fraktion dieses Hohen Hauses, die Gesetzesinitiative des Bundesrates unterstützen und ihr zustimmen werden, und zwar auch insoweit, als der vorliegende Entwurf über unsere bisherigen Vorschläge hinausgeht.
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Besuchsüberwachung ist verfassungskonform und rechtsstaatlich unbedenklich. Sie ist zur Unterbindung hochgefährlicher Konspiration sowohl notwendig als auch geeignet und stellt deshalb eine nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Rechtsgüterabwägung angemessene Maßnahme dar. Ich kann der Verlockung nicht widerstehen, dies mit den eigenen, wenn auch früheren Worten der Bundesregierung, insbesondere des Herrn Bundeskanzlers und des Bundesministers der Justiz zu begründen. Das liegt
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4715
Hartmann
nicht daran, daß mir keine eigene Begründung einfiele, aber es erscheint mir besonders apart, die neuerlichen Gegner der Besuchsüberwachung mit ihren eigenen früheren befürwortenden Argumenten zu konfrontieren. Eine Chronik der widersprüchlichen Behandlung des Themas hat Herr Kollege Dr. Zimmermann bereits am 28. Oktober dieses Jahres von dieser Stelle aus dargelegt.
Zur verfassungsmäßigen und rechtsstaatlichen Unbedenklichkeit darf ich Herrn Bundesjustizminister Vogel zitieren, der am 18. Dezember 1974 vor diesem Hohen Hause folgendes mit der ihm eigenen Überzeugungskraft ausgeführt hat. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten wie folgt zitieren:
So ist einerseits die Behauptung unrichtig, die von der Bundesregierung zunächst vorgeschlagene Überwachungsregelung sei rechtsstaatlich bedenklich und mache frühere Reformen rückgängig.
Diese rechtliche Würdigung läßt sich substantiell auch auf den jetzigen Bundesratsvorschlag anwenden, und zwar auch insoweit, als dieser über den damals zur Debatte stehenden Vorschlag hinausgeht.
In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf die Überwachungsregelungen in anderen freiheitlichdemokratischen Rechtsstaaten, wie sie auch der Präsident des Deutschen Anwaltvereins jüngst zitiert hat. Ich kann darauf aus Zeitgründen jetzt nicht näher eingehen.
Zur Notwendigkeit der vorgeschlagenen Gesetzesregelung berufe ich mich ebenfalls auf die Bundesregierung, die in der Begründung ihres früheren Gesetzentwurfes Drucksache 7/5401 die damals vorgeschlagene Besuchsüberwachung damit gerechtfertigt hat — auch hier darf ich mit Genehmigung wieder wörtlich zitieren —, „daß sich die Anzeichen dafür verstärken, daß gerade Beschuldigte, die schwerer Straftaten im Terrorbereich verdächtig sind, ihr Recht auf ungehinderten Verkehr mit ihren Verteidigern zum Zusammenhalt der kriminellen Vereinigung und zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit mißbrauchen und daß die Überwachung ein geeignetes Mittel sei, den spezifischen Gefahren zu begegnen, die sich aus der Konspiration inhaftierter Mitglieder krimineller Vereinigungen mit ihren Komplizen in der Freiheit ergeben". In der Begründung des Regierungsentwurfs eines Strafverfahrensänderungsgesetzes spricht die Bundesregierung selbst von der „immensen Gefahr, die von einem Verteidiger ausgeht,' der seine Position als unabhängiges Organ der Rechtspflege zum Zusammenspiel mit dem Beschuldigten ausnutzt oder gemeinsame Sache mit diesem macht".
Es liegt eine Überfülle von gesicherten Erkenntnissen darüber vor, daß diese Gründe fortbestehen. In einem Bericht des Bundeskriminalamts vom Juli 1977 über das Info-System der RAF heißt es, daß dieses Info-System der inhaftierten Terroristen über bestimmte Anwälte besser denn je funktioniert und daß die frühere postalische Kommunikation mit hoher Wahrscheinlichkeit weitgehend durch eine mündliche Kommunikation bzw. durch die unmittelbare Weitergabe von Schriftstücken während nicht überwachter Verteidigerbesuche ersetzt worden sein
dürfte. Von den in Stammheim gewonnenen Erkenntnissen sei nur genannt, daß die dort einsitzenden Gewalttäter seit 1974 nur 206 Privatbesuche, aber 2 210 Verteidigerbesuche empfangen haben
und daß niemand bestreiten kann, daß es anläßlich einer solchen Vielzahl unüberwachter Verteidigerbesuche ohne weiteres möglich war, nicht nur mündliche Informationen, sondern auch Kassiber und andere Gegenstände auszutauschen.
Die Zweckmäßigkeit einer Besuchsüberwachung ergibt sich aus folgenden Überlegungen. Selbstverständlich vermag auch die Besuchsüberwachung eine Konspiration nicht völlig auszuschließen. Kein Paragraph irgendeiner Rechtsordnung, sei er noch so rigoros, vermag letztlich irgendein inkriminiertes Handeln auf die Quantität null zu reduzieren. Zwischen totaler Rigorosität einerseits und untätigem Gewährenlassen andererseits aber liegen viele präventive Möglichkeiten unterschiedlichen Wirkungsgrades.
Eine Besuchsüberwachung ist wirkungsvoller als der selbst durch Herabsetzung der Verdachtsschwelle erweiterte Verteidigerausschluß, weil zu erwarten ist, daß ein in Konspirationsverdacht geratener Verteidiger nach seinem Ausschluß umgehend durch ein unbeschriebenes Blatt als sogenannter „Vertrauensanwalt" — ich setze dieses Wort bewußt in Anführungszeichen — ersetzt wird, der die Konspiration fortspinnt.
Die optische und akustische Besuchsüberwachung durch einen Richter ist auch wirkungsvoller als eine optisch und akustisch transparente Trennscheibe im Besucherraum, weil eine solche allenfalls die Übergabe von Gegenständen zu verhindern vermag, nicht aber den mündlichen Austausch von Informationen oder das Zeigen von Unterlagen, Zeichnungen oder etwa Tatortskizzen durch die Trennscheibe; das ist sehr einfach.
Dann kommt der Einwand der vom Überwachungsrichter nicht zu entschlüsselnden Codesprache. Fest steht auf alle Fälle, daß durch die Überwachung relevante Klartextinformationen abgefangen und unterbunden werden können. Das Ausweichen auf eine Codesprache beschränkt unbestreitbar die Kommunikationsmöglichkeiten und erschwert die Erörterung kompletter und detaillierter Tatpläne ganz erheblich bzw. schließt diese weitestgehend aus. Auch dieses Argument, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat der amtierende Bundesminister der Justiz früher für eine Besuchsüberwachung ins Feld geführt.
Auch der Herr Bundeskanzler und sein Vizekanzler haben die Besuchsüberwachung als rechtsstaatliches, notwendiges und geeignetes Mittel zur Unterbindung der Konspiration befürwortet
4716 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Hartmann
— der Bundeskanzler tat es zuletzt noch nach dem Mord an Generalbundesanwalt Buback und seinen Begleitern —, bevor sie unter Vorschützen angeblich neuer Erkenntnisse, die uns bis heute vorenthalten werden, vor den Linken in ihren Parteien in die Knie gegangen sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Vorwurf, wir wollten mit der Besuchsüberwachung allzu unbedenklich die freie Verteidigung beeinträchtigen, trifft uns ebensowenig, wie die Besuchsüberwachung auf die Anwaltschaft schlechthin oder auf den integren Verteidiger zielt. Die Besuchsüberwachung soll ja nicht zur Regel gemacht werden. Die Regel bleibt weiter der unüberwachte Verteidigerverkehr, wie er in § 148 Abs. 1 StPO beschrieben steht. Die Besuchsüberwachung kann nach dem vorliegenden Vorschlag angeordnet werden. Kein Richter wird von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn es ihm nicht zwingend geboten erscheint.
Wir nehmen die Bedenken, die von fachlicher Seite gegen eine Besuchsüberwachung vorgebracht werden, sehr ernst. Wir kommen aber nach einer verantwortungsvollen Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter zu dem Ergebnis, daß Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit gegenüber einem ungehinderten Verteidigerverkehr
— so hoch dieses Prinzip im liberalen Rechtsstaat auch zu veranschlagen ist — die höherwertigen Rechtsgüter sind. Wer anders gewichtet, wer die Besuchsüberwachung ablehnt, sollte sich vergegenwärtigen, wie er vor den Fragen und Vorhalten möglicher künftiger Opfer und ihrer Angehörigen bestehen will, wenn nach möglichen weiteren terroristischen Gewalttaten nicht nur der Verdacht, sondern auch der unwiderlegliche Beweis dafür zutage treten sollte, daß diese Gewalttaten anläßlich unüberwachter Verteidigerbesuche geplant, vorbereitet und gesteuert worden sind. Wir entscheiden uns jedenfalls dafür — ich gebrauche die Worthülsen des Herrn Bundeskanzlers —, nichts zu versäumen und nichts zu verschulden.
Noch auf ein Wort, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Vertreter der Koalition im Rechtsausschuß haben mit ihrer Mehrheit gestern unsere
— in einem noch einvernehmlich aufgestellten Prioritätenkatalog zusammengefaßten — Vorschläge zur besseren Bekämpfung des Terrorismus ausnahmslos abgelehnt,
man könnte sagen: abgeschmettert.
Sie haben die totale Ablehnung so weit getrieben, daß Sie sogar gegen die heraufgesetzte Verdachtsstufe aus unserem früheren Vorschlag zum Verteidigerausschluß gestimmt haben, den wir Ihnen nochmals angeboten haben, um zu testen, wie weit Sie die merkwürdige Solidarität der Demokraten, wie Sie sie verstehen, nämlich die Unsolidarität oder die Solidarität im Ablehnen treiben. Dies ist, so scheint
es mir, der Vozug des von Herrn Conradi auf dem Parteitag der SPD artikulierten Geistes, daß es hier mit der CDU/CSU keine Gemeinsamkeit geben darf. Hören Sie doch endich auf mit Ihrem Gemeinsamkeitsgerede!
Das Wort „Heuchelei" habe ich soeben verschluckt.
-Herr Kol-
lege, das ist natürlich auch eine Methode, aber damit kommen Sie nicht durch.
So geht es nicht!
Hören Sie doch endlich auf mit dem Gemeinsamkeitsgerede! Sie reden davon, wenn es Ihnen in den Kram paßt, wenn Sie Verantwortung umverteilen wollen. Aber dann, wenn es zum Treffen kommt, ist Fehlanzeige! Ein Dreivierteljahr herumfilibustern, uns dann hinunterbügeln — anders kann man das nicht bezeichnen — und dann vielleicht unsere Stimmen als Lückenbüßer reklamieren wollen, wenn Ihre linken Parteifreunde, die gegen den Terrorismus gesetzgeberisch überhaupt nichts tun wollen, Sie selbst bei der Durchsetzung Ihres zur wirksamen Bekämpfung des Terrorismus untauglichen gesetzgeberischen Sparprogramms im Stich lassen. So können Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mit den Problemen und mit der Opposition,
einer konstruktiven und erwiesenermaßen zur Solidarität bereiten Opposition, nicht umspringen.
Das Wort
hat der Herr Abgeordnete Dr. Schöfberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Forderung nach Einführung der Überwachung des mündlichen Verteidigergesprächs hatten Sie ja — zugegeben — früher einmal einige Partner, mittlerweile aber stehen Sie mit der Mehrheit des Bundesrates völlig allein auf weiter Flur, Herr Kollege Hartmann.
Die Bundesrechtsanwaltskammer, immerhin eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, spricht sich nachhaltig gegen die Überwachung des mündlichen Verteidigerverkehrs aus, ebenso der Deutsche Anwaltverein. — Sie werden sagen, wenn man die Sümpfe austrocknen will, darf man die Frösche nicht fragen. Man dürfe deswegen auf das Urteil der Verteidigerorganisationen keinen allzu großen Wert legen. Aber das Interessante ist, daß auch der Deutsche Richterbund die Verteidigerüberwachung ablehnt. 31 prominente Strafrechtsprofessoren nahezu
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4717
Dr. Schöfberger
aller deutschen Universitäten lehnen die Überwachung des mündlichen Verteidigerverkehrs ab.
Sechs namhafte Bundesrichter lehnen sie nicht nur ab, sondern unterzeichnen und veröffentlichen eine Protesterklärung, was ja bei Bundesrichtern nicht gerade an der Tagesordnung ist. Der Generalbundesanwalt lehnt in einem vorgestern gegebenen Interview die Überwachung des mündlichen Verteidigerverkehrs als völlig unnütz und überflüssig ab. Wie gesagt, mit Ihren Vorschlägen werden Sie also sicher noch an Stammtischen Gehör finden, aber in der ganzen Fachwelt treffen Sie rundum auf Ablehnung,
und das sollte doch auch zu denken geben.
Nun wird immer wieder behauptet, es gebe ja in anderen europäischen Ländern die Verteidigerüberwachung schon längst. Wie verhält es sich damit genau? Keine Überwachung gibt es in Belgien und in Großbritannien; dort gibt es allerdings eine Sichtkontrolle. Keine Überwachung gibt es in Frankreich, keine Überwachung gibt es in Italien — auch dort wieder nur Sichtkontrolle —, und in Schweden können nur Wahlverteidiger überwacht werden, nicht jedoch Pflichtverteidiger. Auf der anderen Seite gibt es eine Überwachung des mündlichen Verteidigerverkehrs: in Dänemark bis zum Beginn der Hauptverhandlung, in den Niederlanden höchstens sechs Tage lang und nur bis zum Abschluß der. Tätigkeit des Untersuchungsrichters, also nicht während einer laufenden Hauptverhandlung, in Osterreich bis zu drei Monaten, längstens jedoch bis zur Zustellung der Anklageschrift, also nicht während einer laufenden Hauptverhandlung, und in der Schweiz nur so lange, bis der Zweck der Untersuchung erreicht ist, also auch nicht während einer Hauptverhandlung.
Das heißt also: Wenn wir die Verteidigerüberwachung ablehnen, befinden wir uns in guter Gesellschaft. Wenn Sie die Verteidigerüberwachung vor der Hauptverhandlung fordern, befinden Sie sich auch in guter europäischer Gesellschaft. Wenn Sie aber, wie Sie uns im Entwurf vorschlagen, eine Verteidigerüberwachung während einer laufenden Hauptverhandlung fordern, stehen Sie auch im europäischen Vergleich völlig allein da und kommen in die Nähe kommunistischer und faschistischer Systeme. Denn sicher hat es bei Baskenprozessen eine Verteidigerüberwachung während des Hauptverfahrens gegeben, ja, schlimmer noch: es hat überhaupt keine rechtsstaatliche Verteidigung gegeben. Und das ist ja der Punkt: daß Sie uns — weit hinter 1964 zurückgehend — eine Verteidigerüberwachung während eines laufenden Hauptverfahrens ansinnen.
Hierzu habe ich doch folgende Fragen an Sie zu stellen: Wollen Sie die Überwachung dann nur in der Besucherzelle oder auch im Gerichtssaal? Und wenn sie sich nicht im Gerichtssaal abwickeln soll, was soll dann die in der Besucherzelle praktizierte erbringen? Wenn Sie aber die Überwachung
in den Gerichtssaal hineintragen wollen, wie können Sie dann noch eine rechtsstaatliche Verteidigung gewährleisten? Das sind die Fragen, die Sie beantworten müssen.
Der Bundeskanzler und der Bundesjustizminister wollten, solange sie für eine Überwachung eingetreten sind, niemals eine Überwachung während der laufenden Hauptverhandlung — zu keinem einzigen Zeitpunkt. Im übrigen sind das nicht nur Menschen, die überzeugend wirken, sondern die sich gelegentlich auch von Argumenten überzeugen lassen. Denn sie nehmen ja nicht Anteil an der pathologischen Lernunwilligkeit anderer.
Im übrigen, Herr Kollege Hartmann, meine Damen und Herren, sind wir ja nicht mit Blindheit geschlagen. Wir wissen genausogut wie Sie, daß es unter den 31 000 zugelassenen deutschen Rechtsanwälten und unter den 120, die als Wahl- oder Pflichtverteidiger in sogenannten Terroristenprozessen tätig sind, eine eingrenzbare, überschaubare Zahl sogenannter Rechtsanwälte gibt, die ihre Stellung und ihr Mandat schamlos mißbrauchen und mit den beschuldigten oder angeklagten Terroristen unter einer Decke stecken. Davon gehen wir aus. Schließlich haben ja die zuständigen Oberlandesgerichte schon fünf solcher Anwälte aus dem Verkehr gezogen, weil wir zum 1. Januar 1975 die gesetzlichen Möglichkeiten dazu geschaffen hatten.
Darüber hinaus gibt es jetzt noch eine begrenzte Zahl — man tut sich hier beim Schätzen sehr schwer —, etwa ein halbes Dutzend oder ein Dutzend Verteidiger, die auf Grund bestimmter Tatsachen in Verdacht stehen, mit den Angeklagten gemeinsame Sache zu machen. Wer als Verteidiger in eineinhalb Jahren 585 Besuche abstattet — da teilen wir Ihre Beurteilung —, geht über das in einem „normalen" Strafverfahren Übliche weit hinaus und setzt sich damit schon einem gewissen Verdacht aus.
Wenn wir nun gemeinsam die Tatsachen feststellen und gemeinsam die Gefährlichkeit dieser Vorgänge einschätzen, worin liegt dann der wesentliche Unterschied zwischen der Auffassung der Opposition und der der Koalition? Der Unterschied liegt wohl in der Reaktion. Statt die wenigen Verdächtigen, die wir alle erkannt zu haben glauben, gezielt aus dem Prozeß und nachfolgend aus der Anwaltschaft herauszuholen und in ihrer Wirkung unschädlich zu machen, geben Sie mit der nach freiem Ermessen zu handhabenden Schrotflinte der Überwachung ungezielte Streuschüsse auf die gesamte Anwaltschaft ab
— ohne zu zielen.
— Herr Kollege Hartmann, Ihre Freunde in Baden-Württemberg haben nach dem Stammheimer Landrecht schon monatelang Verteidigergespräche abgehört, wenn auch illegal. Würden Sie uns sagen,
4718 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977
Dr. Schöfberger
was dabei außer an Elektrikerkosten und an Verletzungen einiger Grundrechte, z. B. des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes, herausgekommen ist?
Glauben Sie wirklich, daß die legale Verteidigerüberwachung — eine etwa von uns beschlossene — mehr zutage fördern könnte als- eine illegale Verteidigerüberwachung?
- Wer künftig als Anwalt — und jetzt kommt unsere Alternative — auf Grund bestimmter Tatsachen verdächtig ist, mit Terroristen unter einer Decke zu stecken, den wollen wir durch ein schnelles justizförmiges Verfahren aus dem Prozeß ausschließen lassen. Wer ausgeschlossen ist, Herr Kollege Hartmann, braucht nicht überwacht zu werden.
Wer dagegen als Anwalt nicht im Verdacht der Kollaboration steht, braucht weder ausgeschlossen noch überwacht zu werden. Wozu dann eigentlich die Überwachung des mündlichen Verteidigerverkehrs noch dienen soll, möchte ich Sie fragen.
Ursprünglich haben Sie Ihren Vorschlag damit begründet, daß die Übergabe von Sachen während des Verteidigergesprächs verhindert werden sollte. Diese Argumentation ist nach den Erfahrungen in Stammheim etwas brüchig geworden, weil es andere Kommunikations- und Übergabemöglichkeiten gibt und auch in Zukunft geben wird. Um dem zu begegnen, wollen wir Trennscheiben einführen. Ich frage mich, warum Sie sich, wenn Sie so sehr auf die Verhinderung solcher Übergaben erpicht sind, gestern im Rechtsausschuß bei der Abstimmung über die Einführung der Trennscheiben der Stimme enthalten haben, warum Sie nicht mit aller Konsequenz mit uns gegangen sind.
Eine Trennscheibe muß der rechtsstaatliche Strafprozeß ertragen können. Bequem ist sie sicher nicht. Aber er muß sie ertragen können. Eine Überwachung des vertraulichen Verteidigergesprächs in die Hauptverhandlung hinein erträgt der rechtsstaatliche Strafprozeß jedoch nicht.
Nun kann man nicht sagen, daß eine solche Überwachung gänzlich untauglich wäre. Ich räume Ihnen gern ein, daß man bei dieser Gelegenheit die eine oder andere verbotene' Kommunikation aufdecken und daraufhin das Gespräch unterbinden könnte.
Aber es kommt auf den Preis an, den man für einige Mücken zahlen muß, die man bei dieser Gelegenheit einfangen könnte. Stammheim hat doch gezeigt, daß es eine Fülle von Kommunikationsmöglichkeiten gibt, nicht nur das Verteidigergespräch. Wer sagt uns denn, daß Gefängnisärzte, Gefängnispersonal, Kalfaktoren, auch sächliche Dinge wie elektrische Leitungen, Transistoren, Radioempfänger, Sendemöglichkeiten, nicht geeignet seien, Kommunikation herzustellen? Woher nehmen Sie eigentlich nach Stammheim noch den übersteigerten Glauben, mit einer Verteidigerüberwachung das alles abdichten zu können?
Wir sind der Auffassung, daß der Preis dafür zu hoch ist. Wir sind der Meinung, daß die Überwachung des mündlichen Verteidigerverkehrs ein tiefer Eingriff in den Strafprozeß sein würde. Wir wollen nicht sagen, daß das alles verfassungswidrig wäre. Aber wir befürchten, daß sich dadurch die rechtsstaatliche Qualität unseres Strafprozesses deutlich wahrnehmbar verschieben würde.
Aus meiner Praxis weiß ich, daß man mit einem Beschuldigten oder Angeklagten als erstes Gespräche über ein mögliches Geständnis oder ein mögliches Teilgeständnis führen muß, daß man als zweites darüber sprechen muß, ob er in der Hauptverhandlung schweigen oder sich offenbaren soll, daß man über die mögliche Verunsicherung von Belastungszeugen und die Herbeischaffung von Entlastungszeugen sprechen muß, daß man sich darüber unterhalten muß, ob es für die Verteidigung günstig oder ungünstig ist, wie man Zeugen aus dem
Zeugenstand bringt, indem man sie auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinweist, daß man das gesamte Verhalten des Angeklagten gegenüber Mitangeklagten besprechen muß, daß man die gesamte Prozeßstrategie und die Justizförmlichkeit des Verfahrens — nicht nur Schuld und Nichtschuld — mit dem Angeklagten besprechen muß.
Glauben Sie, Herr Kollege Hartmann und diejenigen, die Sie die Überwachung fordern, denn wirklich, daß bei einer Überwachung, also in Anwesenheit eines Richters noch ein vertrauliches, unbeeinflußtes und ungezwungenes Gespräch im Sinne des Rechtstaates möglich ist? Sie können dem Angeklagten, den Sie zu verteidigen haben, dann ein dutzendmal und hundertmal sagen, er brauche keine Scheu zu haben, sich zu äußern, denn der Richter, der danebensitze, sei mit dem Prozeß nicht befaßt und dürfte auch nichts weitersagen. Es wird doch einem normalen Angeklagten überhaupt nicht bei-
' zubringen sein, daß er angesichts einer dabeisitzenden Justizperson seine Scheu ablegt. Er wird halt mit seinen Offenbarungen nicht nur zurückhaltend sein, sondern sie unterdrücken. Dadurch leidet ein ordentlicher Strafprozeß. Ich sage das nicht nur im Interesse der Angeklagten, sondern genauso im Interesse der Verteidigung und des gesamten Strafverfahrens.
Ich komme zum Schluß. Herr Kollege Hartmann, das deutsche Strafprozeßrecht ist die Magna Charta des Angeklagten. Die Qualität einer rechtsstaatlichen Strafprozeßordnung bemißt sich ja nicht nur danach, wie sie mit einem schuldig zu Sprechenden umgeht, sondern auch danach, wie sie mit einem Unschuldigen verfährt, der ohne sein Zutun in die Mühle der Justiz gelangt ist. Auch für letzteren wollen wir hier doch Gesetze machen. Wir gehen davon aus, daß gerade er eine ordentliche Verteidigung braucht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hartmann?
Ja.
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Herr Kollege Schöfberger, bevor Sie zum Schluß kommen: Sind Sie bereit, Ihre vorhin gemachte — objektiv falsche — Aussage, die Bundesregierung habe niemals eine Verteidigerüberwachung vertreten, die nicht durch den Beginn der Hauptverhandlung limitiert gewesen sei, angesichts des Wortlautes der Bundestagsdrucksache 7/4005 vom 1. September 1975 zurückzunehmen, die einen Vorschlag enthalten hat, der zeitlich in keiner Weise limitiert ist?
Ich lasse mich gern belehren, Herr Kollege Hartmann. Ich bin bisher gutgläubig davon ausgegangen, daß es zu einer Verteidigerüberwachung während der Hauptverhandlung und im Gerichtssaal nicht kommen sollte. Zum anderen möchte ich Ihnen entgegenhalten, daß die Äußerungen des Bundesjustizministers vom 18. Dezember 1974, die Sie heute zitiert haben, in einer Zeit gefallen sind, in der es noch keine gesetzliche Möglichkeit des Verteidigerausschlusses gegeben hat und in der die Problematik eine ganz andere war als heute, da es diese Möglichkeit gibt. -
Wir sind also der Meinung — damit komme ich zum Schluß —, daß das freie, unbeeinträchtigte Verteidigergespräch mit dem Angeklagten das Kernstück des rechtsstaatlichen Strafprozesses ist. Daran knüpfen wir unsere herzliche Bitte an Sie, noch einmal gründlich zu überlegen, ob Sie wirklich in dieses Kernstück eingreifen wollen. Wir würden Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie von diesem Vorhaben Abstand nehmen, denn die Problematik ist in der Tat so schwierig, daß man sich wechselseitig eine Änderung des Standpunktes zubilligen muß. Wir sind entschlossen, den Verteidigerausschluß auf die Fälle des durch Tatsachen begründeten einfachen Verdachts zu erstrecken und im übrigen den Austausch von Sachen durch die Einführung der Trennscheibe zu unterbinden. Wir laden Sie herzlich ein, während der Beratungen in den Ausschüssen nach Kräften mitzuhelfen, in dieser Richtung zu arbeiten.
Ich möchte nicht nur für die hier besprochene Problematik, sondern für die innere Sicherheit ganz allgemein mit dem Grundsatz schließen, nach dem wir Sozialdemokraten handeln. Wir Sozialdemokraten tun alles, was notwendig, zweckmäßig und rechtsstaatlich ist, um terroristische Gewaltverbrechen wie alle anderen Arten von Schwerverbrechen energisch und effektiv zu bekämpfen. Wir werden aber auch alles unterlassen und abwehren, was die Qualität unseres Rechtsstaats in Richtung zum Unrechtsstaat auch nur verschieben könnte. Darüber besteht in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion ausnahmslose Einmütigkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Vorredner hat bereits eingehend
die Argumente genannt, die gegen die Überwachung des Gesprächs zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger sprechen.
In der Argumentation sind wir mittlerweile ja ein gutes Stück vorangekommen. Wir stellen nicht mehr allein die Frage: Ist es rechtsstaatlich überhaupt möglich, die Überwachung der Verteidigergespräche vorzusehen? Die Frage ist ja auch nicht allein: Wird mit der Entscheidung über diese Frage gleichzeitig entschieden, ob wir ein Rechtsstaat sind oder nicht? Wir sind dem Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins als dem Vorsitzenden der größten deutschen Anwaltsorganisation ausdrücklich dafür dankbar, daß er neulich mit allem Nachdruck darauf hingewiesen hat, daß sich alles, was wir• zur Bekämpfung des Terrorismus bisher beschlossen haben, im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung gehalten hat.
So allein stellt sich also die Frage nicht. Aber wir werden natürlich immer sehen müssen, meine Damen und Herren von der Opposition, daß nicht alles, was nicht verfassungswidrig ist, rechtsunbedenklich ist und daß nicht alles, was sich in den Grenzen der Verfassung bewegt, auch klug und für die Praxis nützlich ist.
Wir haben ja mittlerweile eine ganze Fülle von Erfahrungen und Erkenntnissen gesammelt. Auch die Opposition sollte sich diesen Erkenntnissen, die ihr ja ebenso bekannt sind, nicht verschließen.
Es ist bereits auf den Sinneswandel des Deutschen Richterbunds hingewiesen worden. Es handelt sich ja nicht um eine Furcht der Richter, über Gebühr mit neuen Aufgaben belastet zu werden. Sie haben wie viele andere Berufe ihr spezielles Risiko zu tragen. Aber sie sehen wohl sehr deutlich, daß ihnen durch die Überwachung der Gespräche etwas aufgehalst werden soll, was der einzelne überhaupt nicht zu leisten vermag.
Wenn Sie, Herr Kollege Hartmann, die Frage stellen, wie wir von der Koalition nach einem neuen Anschlag dastehen werden, wenn die Verwandten eines Opfers uns fragen werden, ob wir frei von Schuld sind und alles Notwendige getan haben, dann muß ich Ihnen die Frage stellen: Was würden nach Einführung der Überwachung jene sagen, denen Sie, obwohl Sie die Tatsachen besser kennen, zunächst vorgegaukelt haben, jetzt sei tatsächlich alles geschehen, um im Rahmen des Menschenmöglichen jedes Loch zu stopfen?
Der Justizminister des Landes Baden-Württemberg hat im Bundesrat am 4. November erklärt, ein Teil der Publizistik habe bei Würdigung der Stammheimer Vorgänge die Aussage getroffen, das Land Baden-Württemberg habe den Anspruch verwirkt, schärfere Maßnahmen bei der Terroristenbekämpfung zu verlangen. Das sagen wir von der Koalition nicht. Wir sind bestürzt über die Vorgänge in Stammheim. Wir können darüber hinaus keine Schadenfreude empfinden, auch wenn von dieser Stelle einmal hervorgehoben werden muß, daß es immer wieder der Ministerpräsident eben dieses Landes war,
4720 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1973
Engelhard
der in einer besonders hämischen Weise alle jene, die seine Meinung in diesem Bereich nicht zu teilen vermochten, herabzusetzen und zu rügen gewußt hat.
Wir müssen doch sehen, daß gerade in den in Stammheim zutage getretenen Vorgängen eine ganz beträchtliche Differenz zwischen der Fülle der immer neuen Gesetzesinitiativen und dem gewissenhaften, sorgfältigen Vollzug der Gesetze deutlich wird, die wir seit langem haben.
Wenn man das sieht, braucht man sich nicht nur über die Frage zu unterhalten: Werden Richter, die Gespräche zu überwachen haben, Codesätze und Codeworte verstehen? Wie ist es mit den ständig wechselnden Richtern, die bei denselben Beschuldigten überwachend tätig werden müssen? Wird man bei der Fülle der Anwaltsbesuche, die auch ich sehr negativ beurteile und die ein schlechtes Licht auf die betreffenden Anwälte werfen, deswegen zu einer zeitlichen und mengenmäßigen Kontingentierung der Besuche schreiten müssen, und wie soll dies im einzelnen geschehen, wenn genügend Richter zur Überwachung vorhanden sein sollen?
Nein, wir werden uns auch noch mit anderen Fragen auseinandersetzen müssen. Wenn in Stammheim die Untersuchung der wenigen weiblichen Häftlinge, nachdem sie Besuch erhalten hatten, deshalb nicht möglich war, weil weibliches Justizpersonal in der Abteilung nicht immer vorhanden war, dann will ich einmal die Frage stellen: Wer gibt uns die Gewähr dafür, daß künftig immer genügend Richter vorhanden sein werden, um die Gespräche zu überwachen?
Wir kennen alle die anderen Fragen. Was soll der Richter unternehmen, wenn der Codesatz gefallen ist, der ihm verdächtig erscheint? Er wird das Gespräch abbrechen; aber seinen Adressaten hat dieses Codewort bereits erreicht. Wann kann ein solcher Besuch fortgesetzt werden? Sie werden natürlich bei einem überwachten Gespräch auch die Stellung und
Körperhaltung der beiden Beteiligten seitens des Richters vorschreiben müssen. Der Händedruck muß unterbleiben, weil bereits bei diesem Händedruck ein zusammengerollter kleiner Kassiber übergeben werden kann.
Wir sind zunächst einmal mehr für den gewissenhaften Vollzug der Gesetze, die wir haben.
Wir sind z. B. für die Trennscheibe, die nach Auffassung der Bundesregierung bereits im geltenden § 148 der Strafprozeßordnung vorgesehen ist. Denn ob ein Schriftstück vom Richter durchgesehen wird, darf ja nicht davon abhängig sein, ob man sich für die Übermittlung der Deutschen Bundespost oder eines Boten bedient oder ob es von einem Anwalt bei einem Besuch mitgebracht und übergeben wird. Deswegen haben wir gestern im Rechtsausschuß diesen § 148 Abs. 2 der Strafprozeßordnung zusätzlich klargestellt und die Bestimmung aufgenommen, daß
Vorrichtungen geschaffen werden können, um zu verhindern, daß nicht vom Richter durchgesehenes Schriftmaterial beim Besuch des Anwalts übergeben werden kann.
Zum anderen bemühen wir uns — wir haben das • auch gestern wieder im Rechtsausschuß getan — um einen wirksameren Verteidigerausschluß. Wir haben jetzt vorgesehen, die Verdachtsschwelle dort, wo es notwendig ist, zu senken, auf einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht zu gehen. Darüber hinaus gibt es die Initiative der Freien Demokraten, die es für notwendig halten, auch das Anklagemonopol der Generalstaatsanwaltschaften dadurch anzureichern, daß hier die Ehrengerichte als Standesgerichtsbarkeit leichter tätig werden können, um jene ständigen gegenseitigen Anschuldigungen, der eine oder der andere habe nicht rechtzeitig gehandelt, aufzulösen und in einem intensiven Zusammenwirken dazu zu kommen, daß jene Anwälte, die sich nicht als Organe der Rechtspflege darstellen, aus dem Prozeß herausgenommen werden können.
Aber das alles ist bekannt. Daß wir uns hier so ernst unterhalten, ist vielleicht gar nicht richtig, weil die Union den Vorschlag des Bundesrates so ernst nun auch wieder nicht nimmt.
Dieser weitestgehende Vorschlag, wie wir ihn noch nie hatten, soll lediglich an die Voraussetzungen geknüpft sein, daß es sich um ein Strafverfahren handelt, das eine terroristische Gewalttat zum Gegenstand hat, sonst keine weitere Voraussetzung. Dies hatten wir noch in keinem Vorschlag. Daß das so hart gekommen ist, hat wohl den Grund, daß es sich hier um Spielmaterial handelt. Man weiß genau, dies wird vom Deutschen Bundestag nie verabschiedet werden, aber man hofft, im Bereich der Gesetzgebung dafür etwas einhandeln zu können.
Dann mußte natürlich auch Herr Dr. Kohl den Beweis antreten, bei dieser Sache alle von einem CDU-Ministerpräsidenten geführten Länder einmal hinter der Fahne sammeln zu können. Das wirft dann ein gewisses Schlaglicht auf kommende Ereignisse, wo sich die beiden Unionen versammeln werden, um sich über schwierige Fragen ihres inneren Betriebs auseinanderzusetzen. Eine gewisse Morgengabe von seiten der CDU mag hier eine günstige Stimmung erzeugen. Wir sind bei aller Bereitwilligkeit natürlich kein Hilfsorgane Ihrer Strategiekommission.
Herr Kollege Hartmann, der Staatsminister der Justiz des Landes Bayern, Herr Dr. Hillermeier, hat im Bundesrat abschließend am 4. November 1977 gesagt, er bitte, den Entwurf gleich zu verabschieden und nicht an die Ausschüsse zu überweisen. Dies sei nicht notwendig, weil man über diese Frage bereits jüngst und auch schon früher sehr ausführlich beraten habe. Wir könnten hier ebenso verfahren. Wir tun das nicht. Wir werden diesen Antrag dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages zur Be-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4721
Engelhard
ratung überweisen. Sie werden aber nicht verwundert sein, wenn ich Ihnen abweichend vom sonst Gewohnten schon bei der ersten Lesung ankündigen kann, daß wir uns auch bei noch so eingehenden Beratungen mit dem Thema im Sinne der von Ihnen gewünschten Entscheidung nicht werden anfreunden können.
Weitere
Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache und schlage Ihnen vor, den Entwurf an den Rechtsausschuß zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts des Finanzausschusses zu der von der Bundesregierung erlassenen aufhebbaren Verordnung über die Beseitigung der Depotpflicht
— Drucksachen 8/979, 8/1170
Berichterstatter:
Abgeordneter Rapp
Eine mündliche Ergänzung des 'schriftlichen Berichts wird nicht gewünscht. Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Ein Antrag aus der Mitte des Hauses liegt nicht vor, so daß wir nur Kenntnis nehmen und keine Beschlußfassung erfolgt.
Ich rufe die Punkte 13 und 14 der Tagesordnung auf:
13. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der von der Bundesregierung vorgelegten
zustimmungsbedürftigen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksachen 8/897, 8/1184 —
Berichterstatter: Abgeordneter Reuschenbach
14. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der von der Bundesregierung vorgelegten
zustimmungsbedürftigen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksachen 8/898, 8/1198 — Berichterstatter: Abgeordneter Wissmann
Ich danke den Herren Berichterstattern für die vorgelegten Berichte. Eine mündliche Ergänzung wird nicht gewünscht. Das Wort zur Aussprache wird nicht begehrt. Ich frage, ob das Haus damit einverstanden ist, daß wir über beide Vorlagen gemeinsam abstimmen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahre ich so.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 8/1184 und 8/1198. Wer zustimmen will, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Punkte 15 bis 26 unserer Tagesordnung auf:
15. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung Nrn. 1408/71 und 574/72 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Anhänge zu den Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
— Drucksachen 8/767, 8/1174 —Berichterstatter: Abgeordneter Sybertz
16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für andere Gewebe aus Baumwolle der Tarifnummer 55.09 des Gemeinsamen Zolltarifs mit Ursprung in Malta (für das Jahr 1977)
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Festsetzung von Plafonds und zur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Malta (1978)
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur vollständigen oder teilweisen Aussetzung der Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte Erzeugnisse der Kapitel i bis 24 des Gemeinsamen Zolltarifs mit Ursprung in Malta (1978)
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte Spinnfasern der Tarifnummer 56.04 des Gemeinsamen Zolltarifs mit Ursprung in Zypern (1978)
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für Oberbekleidung für Männer und Knaben der Ta-
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
rifnummer 61.01 des Gemeinsamen Zolltarifs mit Ursprung in Zypern
— Drucksachen 8/949, 8/964, 8/965, 8/966, 8/1183 —
Berichterstatter: Abgeordneter Angermeyer
17. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung
Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für ein erstes Programm für Forschungsaktionen im Bereich Forschung in Medizin und Gesundheitswesen
Vorschlag eines Beschlusses des Rates zur Festlegung einer konzertierten Aktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet „Registrierung angeborener Abnormitäten"
Vorschlag eines Beschlusses des Rates zur Festlegung einer konzertierten Aktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet „Zellalterung und Verminderung der Funktionsfähigkeit der Organe"
Vorschlag eines Beschlusses des Rates zur Festlegung einer konzertierten Aktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet „Extrakorporale Oxygenation"
—Drucksachen 8/753, 8/1172 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Stockleben Abgeordneter Lenzer
18. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für ein Vierjahresprogramm zur Förderung der Datenverarbeitung in der Gemeinschaft
— Drucksachen 8/37, 8/1173 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Steger
Abgeordneter Dr. Freiherr S pies von Büllesheim
19. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag eines Beschlusses des Rates zur Festlegung einer konzertierten Aktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der physikalischen Eigenschaften der Lebensmittel
— Drucksachen 8/863, 8/1220 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Grunenberg Abgeordneter Dr. Riesenhuber
20. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Richtlinie des Rates über Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung für den Fall der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen
— Drucksachen 8/740, 8/1228 —
Berichterstatter; Abgeordneter Dr. Kreile
Abgeordneter Rapp
21. Beratung -der Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Anpassung der in Artikel 13 Abs. i und 9 des Anhangs VII des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften vorgesehenen Sätze der Tagegelder für Dienstreisen
— Drucksachen 8/1119, 8/1242 — Berichterstatter: Dr. Wernitz
22. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 3164/76 über das Gemeinschaftskontingent für den Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten
— Drucksachen 8/868, 8/1243 — Berichterstatter: Abgeordneter Paterna
23. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Feststellung einheitlicher Grundsätze für die Kostenrechnung der Eisenbahnunternehmen
— Drucksachen 8/735, 8/1244 —Berichterstatter: Abgeordneter Wiefel
24. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG vom 6. Februar 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Be-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1977 4723
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
triebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger
— Drucksachen 8/60, 8/1245 —
Berichterstatter: Abgeordneter Tillmann
25. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Entscheidung des Rates zur Änderung der Entscheidung über die Harmonisierung bestimmter Vorschriften, die den Wettbewerb im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr beeinflussen
— Drucksachen 8/25, 8/1246
Berichterstatter: Abgeordneter Feinendegen
26. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Scheibenwischer und Scheibenwascher von Kraftfahrzeugen
Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Entfrostungs- und Trocknungsanlagen von Kraftfahrzeugen
Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Innenausstattung der Kraftfahrzeuge
— Drucksachen 7/5923, 8/1247 —
Berichterstatter: Abgeordneter Feinendegen
Ich danke zunächst den Herren Berichterstattern für die vorgelegten Berichte und frage, ob eine Ergänzung gewünscht wird. — Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Ich frage, ob das Wort zur Aussprache verlangt wird. — Auch das ist nicht der Fall.
Ich schlage Ihnen vor, daß wir der Einfachheit halber gemeinsam über die Vorlagen abstimmen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahre ich so.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen der Ausschüsse auf den Drucksachen 8/1174, 8/1183 , 8/1172, 8/1173 (neu), 8/1220, 8/1228, 8/1242, 8/1243, 8/1244, 8/1245, 8/1246 und 8/1247.
Meine Damen und Herren, wer hier zustimmt, gebe bitte .das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit sind die Beschlußempfehlungen einstimmig gebilligt.
Wir stehen somit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. Dezember 1977, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.