Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, der Bundesminister der Finanzen hat unter Bezugnahme auf § 37 Abs. 4 der Bundeshaushaltsordnung mitgeteilt, daß er für das Haushaltsjahr 1974 bei Kap. 2502 Tit. 642 01 in eine überplanmäßige Ausgabe für Wohngeld nach dem Zweiten Wohngeldgesetz eingewilligt habe. Ich schlage vor, diese Unterrichtung der Bundesregierung — Drucksache 7/2944 — nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung dem Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; so beschlossen.
Folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat mit Schreiben vom 113. Dezember 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hauser , Pfeifer, Dr. Gölter, Dr. Probst, Dr. Fuchs, Dr. Hornhues, Hussing, Dr.-Ing. Oldenstädt, Dr. Schäuble, Dr. Waigel, Milz, Schedl, Dr. Jobst, Schmidhuber und der Fraktion der CDU/CSU betr. Richtlinien zur Förderung von überbetrieblichen Ausbildungsstätten — Drucksache 7/2926 —beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/3015 verteilt.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
18. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung
— Drucksache 7/2979 —
aa) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/3012 — Berichterstatter:
Abgeordneter Schröder Abgeordneter Möller (Lübeck)
bb) Bericht und Antrag des Finanzaus-
schusses
— Drucksache 7/3010 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Häfele Abgeordneter Rapp
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes
— Drucksache 7 /2980 —
aa) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/3012 — Berichterstatter:
Abgeordneter Schröder
Abgeordneter Möller
bb) Bericht und Antrag des Finanzausschusses
— Drucksache 7/3011 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Häfele Abgeordneter Rapp
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Investitionszuschüsse für gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsunternehmen
— Drucksache 7/2981 —
aa) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/3012 — Berichterstatter:
Abgeordneter Schröder
Abgeordneter Möller
bb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 7/3006 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Schneider
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Präsident Frau Renger
d) Beratung des Berichts und des Antrags des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
betr. zusätzliche Bundesausgaben zur Förderung der Konjunktur
— Drucksachen 7/2978, 7/3008 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Schröder
Wir haben eine verbundene Aussprache. Das Wort zur Berichterstattung hat der Herr Abgeordnete Häfele.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf die heute nacht angefertigten Berichte aus dein Finanzausschuß in aller gebotenen Kürze mündlich ergänzen.
Die Verhandlungen im Finanzausschuß standen unter einem starken Zeitdruck. Wir hatten in einem Tag zu bewältigen, was innerhalb der Bundesregierung wochenlang beraten werden konnte. Es erhebt sich die Frage, ob ein solches Verfahren sachgerecht ist.
In der Sache selbst wurden die beiden Gesetze, die aus dem Finanzausschuß heute in die zweite und dritte Beratung kommen, schließlich einstimmig verabschiedet.
Ich darf ganz kurz die beiden verschiedenen Grundpositionen, wie sie im Finanzausschuß deutlich geworden sind, noch einmal im Kern umreißen. Die Mehrheit war der Auffassung, daß es jetzt vor allem darauf ankomme, durch eine rasche Belebung der Investitionstätigkeit, namentlich durch kurzfristige, schnell wirksame Maßnahmen — besonders durch diese Investitionszulagen in Höhe von 7,5% für alle privaten Investitionen — etwas zu tun.
Die Minderheit war bereit, das als die zweit- oder drittbeste Lösung hinzunehmen. Sie war aber der Auffassung, daß das notwendige Zukunftsvertrauen weniger durch kurzfristige Maßnahmen, sondern vor allem durch Dauermaßnahmen zu erzielen sei, welche eine durchgreifende Verbesserung des Investitionsklimas und der Investitionsfähigkeit herbeiführen sollten, z. B. durch Maßnahmen wie
— Nichterhöhung der Vermögensteuerbelastung ab 1. Januar 1975,
— Einführung des Verlustrücktrages,
— Fortführung der steuerlichen Förderung der Investitionen, welche der Forschung und Entwicklung dienen,
— Verbesserung von Abschreibungsmöglichkeiten oder
— Verzicht auf die Hinzurechnung von Zinsen auf Dauerschulden zum Gewerbeertrag und der Dauerschulden zum Gewerbekapital. Dabei war die Opposition, die Minderheit, bereit, über Einzelheiten mit sich reden zu lassen.
Demgegenüber betonte die Mehrheit, daß die von der Opposition vorgeschlagenen Maßnahmen nicht
rasch genug wirkten. Sie führten auch im Gegensatz zu ihren kurzfristig wirksamen Maßnahmen zu einer nicht erwünschten fiskalischen Dauerbelastung. Die Minderheit meinte demgegenüber, es käme darauf an, durch die Aussicht auf eine längerfristige Entwicklung auch jetzt schon sofort ein besseres Klima zu erzeugen, dieses Klima aber dauerhafter zu gestalten. Bezüglich der fiskalischen Ausfälle war die Minderheit der Meinung, daß durch eine nachhaltige Belebung der Wirtschaftstätigkeit die Ausfälle nicht höher, sondern eher sogar niedriger würden als nach den Vorschlägen der Koalition.
Nachdem die Mehrheit im Ausschuß nicht bereit war, auf den Boden der Vorschläge der Opposition zu treten, widersetzte sich die CDU/CSU dem Programm der Koalition nicht, so daß schließlich beide Gesetze im Finanzausschuß einstimmig verabschiedet wurden. Der Finanzausschuß schlägt vor, die beiden Gesetzentwürfe so, wie sie aus dem Finanzausschuß hier vorgelegt worden sind, zu verabschieden.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wünscht noch ein Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Möller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den von diesem Haus zu beschließenden Teilen dieses Programms für einen stabilitätsgerechten Aufschwung möchte ich mich auf drei Bemerkungen beschränken, von denen ich meine, daß sich in ihnen die wesentlichen Aspekte dieses Programms zusammenfassen lassen.
Erstens. Das Programm ist in mehrfacher Hinsicht ausgewogen und situationsgerecht.
Zweitens. Es ist uns keine Alternative zur Prüfung und Stellungnahme vorgelegt worden.
Drittens. Dieses Konjunkturprogramm gründet sich auf eine längerfristige Perspektive, die letztlich für seine Wirksamkeit entscheidend sein wird.
Ich sagte, das Programm ist in sich ausgewogen. Das ist es auch deswegen, weil es mit Lohnkostenzuschüssen, Mobilitätszulage und Verlängerungen des Kurzarbeitergeldes unmittelbar auf den Arbeitsmarkt wirkende Maßnahmen enthält. Damit wird erstmals im Rahmen von Konjunkturmaßnahmen ein Beitrag geleistet, gerade in den Wintermonaten Teile der Wirkungsverzögerung zu umgehen, die mit den ökonomischen Mechanismen der Investitionsförderung nun einmal verbunden sind.
Die im Rahmen dieses Programms bewirkten Investitionen beschränken sich nicht auf einen Bereich; öffentliche und private Investitionen werden gleicherweise eingesetzt. Die von manchen kritisierte undifferenzierte Begünstigung aller privaten Investitionen weist bei näherer Betrachtung eine be-
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achtliche strukturpolitische Komponente auf. Gewiß, die Investitionszulage allein ist ein relativ global wirkendes Instrument. Nur ein solches Instrument kann jedoch kurzfristig und auf breiter Front seine Wirkung entfalten, und ohne ein solches Instrument würde ein Konjunkturprogramm entscheidend von seiner tragenden Kraft verlieren. Diese Teilmaßnahme hebt die bisher geltenden, strukturpolitisch motivierten Investitionshilfen, z. B. im Zonenrandgebiet, nicht auf, sondern verstärkt sie in ihrer Wirkung.
Eine strukturpolitische Komponente ist ferner in der zusätzlichen und zeitlich unbefristeten Zulage für energiesparende Investitionen, in der Verbesserung der Absatzmöglichkeiten in der Wohnungswirtschaft, in dem Angebot von Bundesmitteln für den Küstenschutz, in der konzentrierten Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen aus Mitteln des ERP-Sonderprogramms und durch Finanzhilfen der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu sehen. Gerade im mittelständischen Bereich, der in seiner Gesamtheit auf die gebotenen Hilfen relativ flexibel reagieren kann, werden durch die gegenseitige Verstärkung globaler und gezielter Maßnahmen beachtliche Anreize gegeben.
Die Ausgewogenheit bezieht sich auch auf die zeitliche Dimensionierung. Dieses Programm ist kein abruptes Herumwerfen des Ruders, sondern eine verstärkte Fortsetzung der schon seit Ende vergangenen Jahres eingeleiteten Politik, die mit dem Abbau der restriktiven haushalts- und steuerpolitischen Maßnahmen begann und die mit den beiden Strukturprogrammen fortgesetzt worden war.
Es wäre auch falsch, in den eingeleiteten Maßnahmen ein einseitiges Investitionsförderungsprogramm zu sehen. Dieses Programm muß vor dem Hintergrund der Steuerreform gewertet werden, die in ihren globalen ökonomischen Auswirkungen ein Konjunkturprogramm für sich darstellt. Von den drei strategischen Punkten der privaten Konsumnachfrage, der privaten Investitionsneigung und der öffentlichen Haushalte aus wird somit gleichzeitig und in der Tat ausgewogen der Aufschwung eingeleitet.
Daß diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit den zulässigen Umfang einer stabilitätsgerechten Expansionspolitik nicht überschreiten und auch nach dieser Richtung hin ausgewogen sein werden, dafür sorgt die Geldmengenregulierung. Es ist eine notwendige und entscheidende Grundlage für dieses Programm des stabilitätsgerechten Aufschwungs und ein Signal für den Kooperationswillen der Deutschen Bundesbank im Rahmen dieses Konzepts, daß die Bank mit der erklärten Absicht, die Geldmenge um 8 % auszuweiten, genügend Spielraum für die notwendigen expansiven Impulse gibt, gleichzeitig aber auch die Sicherungslinie aufzeigt, die wir brauchen, damit sich die eingeleitete Expansion nicht in ungerechtfertigten Preissteigerungen umsetzen kann. Wir werden die mit harten Maßnahmen errungenen Stabilitätserfolge, gerade auf dem Preissektor, nicht vernachlässigen, auch wenn es jetzt darum geht, die andere wichtige Komponente
der Stabilität, den hohen Beschäftigungsstand, wieder zu sichern.
Mit diesem Programm, meine Damen und Herren, wird deutlich, daß Stabilisierungspolitik nicht einseitig gesehen werden kann. Deshalb bezeichnen wir dieses Programm als ausgewogen.
Die zweite Bemerkung, die ich zu der vorgelegten stabilitätspolitischen Konzeption machen möchte, ist die folgende. Es wird uns keine Alternative zur Prüfung und Stellungnahme vorgelegt. Diese Aussage läßt sich am besten mit den Äußerungen illustrieren, die die Opposition am 13. Dezember gemacht hat. Herr Kollege Strauß erklärte: „Nach unserer Auffassung wären nicht nur kurzfristige, sondern auch Dauermaßnahmen zu treffen." Das heißt aber doch, daß hier das Prinzip der antizyklischen Politik, wie es dem Regierungsprogramm zugrunde liegt, nämlich vorübergehende, zeitlich begrenzte konjunkturglättende Maßnahmen durchzuführen, zunächst und grundsätzlich bejaht wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Darf ich eben den Gedanken zu Ende führen; denn das gehört dazu. Weitere Vorschläge müßten dann zusätzliche Dauermaßnahmen zum Ziel haben. Dafür ist aber jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt.
Wahrscheinlich deshalb hat Herr Kollege Strauß hinzugefügt: „Unsere Vorschläge sollen nicht alle auf einmal kumulativ sofort durchgeführt werden, sondern der Reihe nach." Mit diesen Bemerkungen kennzeichnet Herr Kollege Strauß in der ersten Lesung seine Vorstellungen ganz richtig als das, was sie sind, nämlich kein Programm alternativer konjunkturpolitischer Maßnahmen; sie wollen längerfristig betrachtet tatsächlich eine Korrektur unseres Steuersystems.
Herr Abgeordneter Becker, eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Dr. Möller, ist Ihnen nicht bekannt, daß wir im Finanzausschuß eine ganze Reihe von konstruktiven Anträgen zum Konjunkturprogramm gestellt haben?
Die Tatsache, daß Sie im Finanzausschuß eine Anzahl Anträge gestellt haben, ist mir selbstverständlich bekannt. Darum, Herr Kollege Becker, geht es aber nicht, sondern es geht darum, daß man eine Alternative vorlegen muß, wenn man das Konjunkturprogramm der Bundesregierung in verschiedenen Teilen nicht billigt. Und Sie wissen genausogut wie ich, daß Herr Kollege Strauß — aus welchen Gründen auch immer — in der ersten Lesung nicht die Vorschläge vorgetragen hat, die er einige Tage vorher im „Handelsblatt" veröffentlichen durfte, und die, wie ich
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weiß, bei Ihrer Fraktion verständlicherweise nicht allgemeine Zustimmung gefunden haben.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Becker?
Herr Dr. Möller, ist Ihnen nicht bekannt, daß wir wesentliche Teile der Thesen von Herrn Dr. Strauß im Finanzausschuß als Antrag gestellt haben?
Aber Herr Kollege Becker, es kommt doch nicht darauf an,
was man in den Fachausschüssen unter Ausschluß der Öffentlichkeit in Anträgen einbringt, sondern es kommt darauf an, daß ein Konjunkturprogramm zur Debatte gestellt worden ist und daß sich die Fraktionen in erster Lesung mit den Grundsätzen dieses Konjunkturprogrammes beschäftigen, und selbstverständlich in der ersten Lesung dann auch von der Opposition nicht nur Kritik, sondern ein geschlossener, konstruktiver Beitrag zur konjunkturpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland erwartet. wird.
Wenn Sie, Herr Kollege Becker, auf die Verhandlungen im Finanzausschuß Bezug nehmen, dann fügen Sie doch bitte ergänzend hinzu, daß die verschiedenen Anträge, die von der Opposition eingebracht worden sind, auch nicht immer die einhellige Zustimmung der im Finanzausschuß vertretenen CDU/CSU-Fraktion gefunden haben, am allerwenigsten bei Anträgen, die Sie selbst im Finanzausschuß zu vertreten die Ehre hatten.
Meine Damen und Herren, ich sagte, daß das kein Programm alternativer konjunkturpolitischer Maßnahmen gewesen sei, was Herr Strauß vorgeschlagen hat, sondern längerfristig gesehen eine Korrektur der Reform unseres Steuersystems, im übrigen auch der wesentliche Punkt der Anträge der Opposition im Finanzausschuß. Damit werden die aktuellen konjunkturpolitischen Schwierigkeiten und Probleme zum Anlaß genommen, Vorschläge anzubringen, die in ihrer Summe eine undifferenzierte steuerliche Begünstigung von Unternehmen und Vermögensbesitz bewirken, ohne die gewollten steuerlichen Erleichterungen in irgendeiner Weise von einem konjunkturkonformen Verhalten der Begünstigten abhängig zu machen, ohne Berücksichtigung der Tatsache, ob die begünstigten Unternehmen investieren oder nicht, ob sie Arbeitskräfte einstellen oder freisetzen, und — auch das muß gesagt werden — ohne Rücksicht auf die nach Meinung der Opposition zerrütteten öffentlichen Finanzen.
Zu der dritten Bemerkung, die ich machen wollte, kann ich mich auf den Hinweis beziehen, den die Opposition vorgetragen hat, daß es nämlich darauf ankomme, auf Dauer für ein gutes Investitionsklima zu sorgen. Ein solches Ziel kann man nach unserer Meinung nicht durch eine neue Subventionspolitik erreichen. Eine tragfähige Grundlage für zukunftsorientierte Investitionen wird nur dadurch geschaffen, daß sich die Unternehmen an gesicherten und ausreichenden Absatzchancen orientieren können. Die Nachfrage ist bestimmend für sinnvolle Investitionen, für eine produktiv wirkende Produktion und damit für ausreichende Beschäftigung. Das ist genau die strategische Zielsetzung des wirtschaftspolitischen Konzepts der Bundesregierung, die bereits erkennbar war mit dem Teil der Steuerreform, der mit dem 1. Januar 1975 wirksam wird. Der Sachverständigenrat sagt hierzu — ich darf zitieren —:
Auch aus diesem Grunde ist es ein glücklicher Umstand, daß dauerhafte Steuersenkungen gerade Anfang 1975 in Kraft treten, der größere Teil der vorgesehenen expansiven Impulse der Finanzpolitik also über die Einnahmeseite geht und damit die privaten Ausgaben anregen wird.
So steht es im Jahresgutachten 1974, Textziffer 330.
Eine weitere in diesem Zusammenhang wichtig erscheinende Beurteilung des Sachverständigenrates lassen Sie mich ebenfalls zitieren:
Da es sich um eine dauerhafte und nicht um eine nur vorübergehende, konjunkturpolitisch motivierte Steuersenkung handelt, darf man damit rechnen,
— so sagt der Sachverständigenrat in der Textziffer 325 —
daß die auf diese Weise den Privaten zusätzlich belassenen Einkommen zu einem normalen Anteil für den privaten Verbrauch verwendet werden, und daß auch die Investitionen, die dem privaten Verbrauch dienen, davon mitbestimmt sein werden.
Diese Feststellung des Sachverständigenrats, daß nämlich die Investitionen vom Verbrauch bestimmt werden, ist nach unserer Ansicht der grundlegende und entscheidende Ansatzpunkt der jetzt anzuwendenden konjunkturpolitischen Strategie. Nur wenn eine ausreichende Nachfrage beim Endverbraucher entsteht, können sich die Investitionsplanungen der Unternehmen an gesicherten Absatzchancen ausrichten. Deswegen ergeben die Maßnahmen der Bundesregierung eine optimale Kombination der chancenbietenden Möglichkeiten und des im Gesamtrahmen Vertretbaren. Durch eine unmittelbare und befristete Investitionsförderung wird ein Hinausschieben wirtschaftlich sinnvoller Investitionen verhindert. Dabei bleibt wichtig, daß die Anhebung des Nachfrageniveaus durch die Steuerreform wesentlich und längerfristig wirksam zur Rentabilität der privaten Investitionen beitragen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß auf die internationale Bedeutung der stabilitätspolitischen Erfolge der Bundesrepublik
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Deutschland hinweisen. Durch unsere konsequente Stabilisierungspolitik haben wir uns Reserven geschaffen, die dazu führen, daß wir den schwierigen wirtschaftlichen Problemen, denen sich heute die ganze Welt ausgesetzt sieht, nicht ratlos gegenüberstehen. Mit Reserven meine ich weiter die in Zeiten der Hochkonjunktur stillgelegten Steuereinnahmen, auf die wir jetzt zurückgreifen können. Mit Reserven meine ich auch die hohen Devisenreserven, die uns in ganz beachtlichem Maße vor internationalen Zahlungsproblemen abschirmen. So hat die Bundesregierung für die notwendig gewordenen neuen Konjunkturmaßnahmen eine Ausgangsposition schaffen können, deren Wert unbestritten ist, wenn man die Absatzchancen unserer Wirtschaft und damit die potentielle Rentabilität der Investitionen in unserem Lande mit denen der übrigen Welt vergleicht.
Wenn wir von dem Gesamtaspekt unserer Stabilisierungspolitik ausgehen, müssen wir anerkennen, wie notwendig es für uns war, auch nur den Anschein eines Alleingangs zu vermeiden und deutlich zu machen, daß wir berechtigte Hinweise unserer Verbündeten in Gestaltung und Formulierung unserer Wirtschaftspolitik zu beachten gewillt sind. Es ist für die Bundesrepublik Deutschland wichtig, daß der Bundeskanzler zunächst mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gesprochen hat. Es ist wichtig, daß aus den Gesprächen der europäischen Gipfelkonferenz die letzten konstruktiven Überlegungen in das Programm für einen stabilitätsgerechten Aufschwung einfließen konnten. Wir haben zwar für die Belastungen Verständnis, die durch die Kurzfristigkeit der Beratungen für den Bundestag und den Bundesrat entstanden sind, meinen aber doch, daß wir der Konsultation mit unseren westlichen Freunden den Vorrang einräumen mußten.
Diese Feststellung treffe ich auch im Hinblick auf den uns heute vorgelegten Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vom 18. Dezember. Ich wiederhole, daß der Bundestag nach diesen meinen Feststellungen wohl sicher keine Ursache hat — wie hier gewünscht —, auf das schärfste zu rügen, daß keine ausreichende Zeit gegeben war, die Vorschläge eingehend zu prüfen.
Diese Konsultationen unserer westlichen Freunde waren unerläßlich, vor allen Dingen im Hinblick auf die besondere Position, die die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich ihrer Stabilisierungserfolge, aber auch hinsichtlich ihrer Devisenreserven vorzuweisen hat. Es wäre unvertretbar gewesen, dieses Konjunkturprogramm zunächst einmal hier im Bundestag beraten und beschließen zu lassen und erst dann zu unseren verbündeten Freunden zu gehen,
sie vor vollendete Tatsachen zu stellen und eine unnötige Kritik sowie eine unnötige Belastung unserer freundschaftlichen Beziehungen zu riskieren.
Ich bin überzeugt davon, daß die Opposition ein solches Vorgehen — zu Recht — gerügt hätte, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß es bei dieser besonderen Ausgangsposition der Bundesrepublik Deutschland doch selbstverständlich sei, daß wir zunächst einmal mit unseren Freunden sprechen, um keine unnötigen Belastungen in unserem Verhältnis zueinander heraufzubeschwören.
Meine Damen und Herren, Sie sagen in Ihrem Entschließungsantrag auf Drucksache 7/3013 auch, die Bundesregierung habe keine Kostenangaben gemacht. Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Bemerkung — zumindest gilt dies für den Zeitpunkt der Abfassung des Entschließungsantrags — nicht stimmt. Am 17. Dezember sind die finanziellen Auswirkungen der Gesetzesänderungen im Rahmen des Programms zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum bei Stabilität dargelegt worden, und Sie können für alle finanzwirtschaftlichen Auswirkungen der heute zur Entscheidung anstehenden Vorlagen die genauen Kosten ermitteln, genauso wie dies schon in den Ausschußberatungen der Fall war.
Wenn Sie auf die globale Summe der privaten Förderung der Privatinvestitionen hinweisen und beanstanden — dies geschieht insbesondere seitens des Landes Baden-Württemberg —, daß hier keine Höchstgrenze gesetzt worden ist, so kann ich nur sagen: Ich gebe gern zu, daß man darüber streiten kann. Sie übersehen aber bei einer solchen Feststellung die Auswirkungen, die solche Investitionsförderungsmaßnahmen bei großen Betrieben auch für die Zulieferfirmen haben, und auf Förderungsmaßnahmen für die Zulieferfirmen wird es in den nächsten Monaten ganz besonders ankommen, wenn wir das Beschäftigungsrisiko abbauen wollen. Meine Fraktion ist daher nicht in der Lage, einem solchen Entschließungsantrag, der der Situation nicht gerecht wird, zuzustimmen. Wir bitten das Hohe Haus, diesen Entschließungsantrag abzulehnen.
Ich möchte im Hinblick auf die finanz- und konjunkturpolitische Wertung des Programms auf eine Veröffentlichung der OECD hinweisen, und zwar auf die Prognose der OECD für 1975. In den Zeitungen ist ein Ausschnitt aus dieser Prognose wiedergegeben. Mit Erlaubnis der Frau Präsidentin darf ich eine Absatz zitieren, der sich ganz besonders mit der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt und der höchst aktuell ist. Daß er von der OECD erarbeitet worden ist, erscheint mir doch immerhin wichtiger als der eine oder andere Hinweis der Opposition, die ja nicht anerkennen darf, was anerkennenswert ist. Ich nehme für diese Auszüge die Ihnen nahestehende Zeitung „Die Welt", weil ich davon ausgehe, daß Sie dann einen solchen Absatz aus der Prognose der OECD richtig zu werten in der Lage sind. Was sagt nun die OECD? Nach einer Untersuchung der Wirtschaftslage der verschiedenen OECD-Staaten kommt sie zur Bundesrepublik und bemerkt, die internationale Wettbewerbslage der Bundesrepublik werde sich dagegen 1975 „fühlbar verbessern". — Tragen Sie bitte diese Feststellung mit Würde. — „Außerdem erwartet die OECD eine Wiederbelebung der deutschen Inlandsnachfrage.
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Daher dürfte das Bruttosozialprodukt im nächsten Jahr in der Bundesrepublik um 2,5 Prozent steigen. Damit liegt die Bundesrepublik über dem Durchschnitt aller OECD-Staaten. Das, meine Damen und Herren, ist die realistische und sachliche Beurteilung der Wirtschaftslage, in der wir uns und in der sich die anderen befreundeten Staaten befinden.
Die Bundesrepublik Deutschland, so möchte ich am Schluß sagen, ist international bei der Sicherung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in einer günstigen Situation. Unsere Lage erfordert daher eine sorgfältige Abstimmung mit unseren Partnern, nicht nur im Interesse der anderen Länder, auch in unserem eigenen Interesse und vor allem, um dem Ziel der gemeinsamen Politik näherzukommen, den Aufschwung in Stabilität zu erreichen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie daher, den Vorlagen, so wie sie aus den Ausschüssen herausgekommen sind, Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller-Hermann.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat dem Bundestag und seinen Ausschüssen zugemutet, in nur drei Arbeitstagen ein 10-Milliarden-Kredit- oder besser Krisenprogramm zu verabschieden. Den Ausschüssen standen tatsächlich nur wenige Stunden zur Verfügung.
Eine auch nur halbwegs sorgfältige Beratung der Vorlage wurde dadurch unmöglich gemacht.
In den Ausschüssen wurden zum Teil neue Vorlagen gemacht, und es ist auch zu beanstanden, daß die Regierung nicht bereit war, den Vertretern der Opposition in den Ausschüssen mit Zahlenmaterial die nötige Hilfestellung zu geben.
Herr Kollege Möller, der Hinweis darauf, daß die Verzögerung und die Galoppbehandlung in den Ausschüssen und im Parlament durch die notwendigen vorausgehenden internationalen Gespräche bedingt war, ist in meinen Augen nur ein ganz schwaches Alibi. Das Verfahren, das hier angewandt worden ist, ist skandalös.
Meine Damen und Herren, wie viel dieses Programm nun tatsächlich kostet, wissen wir bis heute nicht. Das ist offenbar ein Staatsgeheimnis des Finanzministers oder dieser Regierung.
Jeder Deckungsvorschlag fehlt. Herr Kollege Möller,
wenn die Opposition bei irgendwelchen Anträgen
das Deckungsverfahren angewandt hätte, das Sie angewandt haben, dann würde man das als unseriös gebrandmarkt haben.
„Die Belastung des Bundes", heißt es so schön bei einer Vorlage, „ist von der Inanspruchnahme der Begünstigung abhängig."
An anderer Stelle: „Diesen unmittelbaren Kosten steht ein erheblicher gesamtwirtschaftlicher Nutzen aus der Einsparung von Energie gegenüber." Und so geht das weiter, meine Damen und Herren. An anderer Stelle heißt es, die Mehrausgaben würden ja irgendwann einmal durch Steuereinnahmen kompensiert werden.
Herr Kollege Müller, auch das, was Sie über die Auskunft des Finanzministers gestern in den Beratungen des Ausschusses gesagt haben, ist nicht gerade sehr erhellend. Da heißt es nämlich zu diesem entscheidenden Punkt: Etwaige haushaltsmäßige Folgerungen werden für den Bundeshaushalt 1975 in der Bereinigungssitzung und für die Jahre ab 1976 bei der Fortschreibung des Finanzplanes zu ziehen sein.
Meine Damen und Herren, allein die Hoffnung, daß irgendwann einmal, 1978 oder 1980, Steuereinnahmen kommen könnten, ist doch kein ernstzunehmender Deckungsvorschlag!
Obwohl die Zerrüttung der Staatsfinanzen von Tag
zu Tag sichtbarer wird, stellt die Bundesregierung
weiterhin ungedeckte Wechsel für die Zukunft aus.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte, Herr Ehrenberg.
Herr Kollege Müller-Hermann, würden Sie so freundlich sein, diesem Hause zu sagen, wie es um die Staatsfinanzen stünde, wenn wir den Vorschlägen Ihres Kollegen Strauß über die Erweiterung der degressiven Abschreibung gefolgt wären?
Herr Kollege Ehrenberg, ich komme auf dieses Thema noch zu sprechen. Der Einwand ist zu dürftig, als daß ich jetzt darauf eingehe.
So überstürzt sind die Dinge nicht gelaufen, daß Sie jetzt das Parlament unter Druck setzen müßten.
Herr Kollege Apel hat als Finanzminister schon im August in Berlin angefangen, Konjunkturpro-
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Dr. Müller-Hermann
gramme anzukündigen. Kaum war die Tinte unter dem ersten Konjunkturprogramm trocken, da fängt die Koalition an, über das nächste Konjunkturprogramm öffentlich zu diskutieren. Ich bin ganz sicher, hinter den Kulissen fangen Sie schon heute an, über das nächste Konjunkturprogramm nachzudenken.
Monatelang, meine Damen und Herren, ging es in den Reihen der Koalition und der Regierung hin her mit Entwicklungen, die man auch gut als Koalitionskrisen brandmarken könnte. Davon ist doch ein gut Teil zusätzlicher Verunsicherungen ausgegangen. Es ist völlig falsch, wenn der Bundeskanzler ausgerechnet der Opposition vorwerfen will, sie treibe Verunsicherungspolitik; die Verunsicherungspolitik geht von dieser Koalition aus!
Jetzt liegt uns ein neues Programm vor. An dessen Erfolg glaubt aber offenbar auch im Regierungslager niemand so recht.
Herr Apel erklärte dieser Tage gegenüber der „Frankfurter Rundschau", ein Erfolg sei nicht sicher, der Staatssekretär Pöhl, immerhin einer der engsten Mitarbeiter und Berater des Bundeskanzlers, bezeichnet das Programm als „für sich allein nicht ausreichend". Kommentar überflüssig.
Meine Damen und Herren, die Bürger im Lande spüren von Tag zu Tag mehr den Ernst der Lage, die uns alle, gleich wo wir stehen, mit ernster und tiefer Sorge erfüllen muß. Der Ernst der Lage äußert sich in der wachsenden Zahl von Arbeitslosen und Kurzarbeitern, in der nicht enden wollenden Kette von Unternehmenszusammenbrüchen vor allem im mittelständischen Bereich und in der noch immer ungebrochenen Inflation. Wenn der Bundeskanzler auf den Jahresvergleich November 1974 mit November 1973 hingewiesen hat, so muß ich das korrigieren, weil die Ausgangsposition in der Vergleichsrelation ein sehr günstiges Bild bietet. Tatsächlich ist im Monatsvergleich Oktober/ November 1974 die Inflationsrate weiter um 0,7 % angestiegen, was zum Ausdruck bringt, daß jedenfalls bisher die Inflation nicht gebrochen ist. Die Bevölkerung spürt jetzt am eigenen Leibe — ich sage das ganz bestimmt ohne jeden Anflug von Schadenfreude —, daß sie in den vergangenen Jahren seit 1969 von der Regierung, von den Regierungsparteien und nicht zuletzt vom heutigen Bundeskanzler systematisch — ich möchte es etwas salopp ausdrücken — für dumm verkauft worden ist.
Jetzt müssen die Arbeitslosen und die Inflationsgeschädigten den Preis dafür zahlen, daß in der Vergangenheit die Warnungen, die Ratschläge, die Alternativvorschläge der Opposition in den Wind geschlagen wurden.
und als Schwarzmalerei, Panikmache, Krisengerede abgetan wurden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Nein.
Dazu kommen die uns von der weltwirtschaftlichen Entwicklung her drohenden Gefahren. Die hohen Exportüberschüsse halfen bisher, Arbeitsplätze und Kapazitätsauslastung zu sichern. Meine Damen und Herren, der Einwand der Koalition, die wachsende Zahl der Arbeitslosen hänge mit internationalen Vorgängen zusammen, ist im Grunde eine Verkehrung des Tatbestandes.
— Ja! Daß wir heute noch eine so relativ günstige Auslastung der Kapazitäten haben, hängt doch damit zusammen, daß wir diese Exportüberschüsse noch zur Verfügung haben.
Nur: als Hauptexporteur und Hauptgläubiger in der Europäischen Gemeinschaft läuft die Bundesrepublik mehr und mehr die Gefahr, einen wachsenden Teil ihrer Exporte schließlich selbst finanzieren zu müssen. Das Abgleiten der Weltwirtschaft in eine Rezession und die wachsende Neigung zum Protektionismus, die sich nicht zuletzt aus unseren hohen Exportüberschüssen ergibt oder ergeben könnte, können im Laufe des Jahres 1975 die deutschen Exportmöglichkeiten empfindlich beschneiden.
Meine Damen und Herren, schon in dem Regierungsprogramm 1969 hatte sich die SPD/FDP-Koalition vorgenommen, ein größeres Gleichgewicht zwischen Export- und Binnennachfrage herzustellen. Ich erinnere mich an die Erklärung der Regierung damals, die Regierung müsse und wolle dafür sorgen, daß ein größerer Teil der deutschen Produktion dem Binnenmarkt zur Verfügung stehe. Das Problem wurde nicht gelöst, es hat sich weiter verschärft. Die Bundesregierung geht nun bei ihrem Konjunkturprogramm offenbar davon aus, daß in der zweiten Jahreshälfte 1975 ein autonomer Wirtschaftsaufschwung in Gang kommt, der es dann möglich macht, eine möglicherweise nachlassende Exportnachfrage durch eine stärkere Binnennachfrage auszugleichen. Das klingt in der Theorie sehr richtig und gut, doch ich weise darauf hin, daß das Ganze eine Rechnung mit vielen Unwägbarkeiten und Risiken ist.
Meine Damen und Herren, mittlerweile hat sich der Erkenntnisstand der Koalition und der Regierung zumindest in einigen Punkten erweitert. Man hat einsehen müssen, wie gefährlich die sich schon seit Jahren abzeichnende Zurückhaltung der Wirtschaft bei den privaten Investitionen ist. Die privaten Investitionen wurden ja lange Zeit aus ideologischen Gründen bewußt zurückgedrängt
— und sie sollten das ja auch werden —, und jetzt
sollen sie nach den Wünschen der Koalition und dem
Willen der Regierung wieder angekurbelt werden.
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Dr. Müller-Hermann
Insofern hat der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD Kühn völlig recht, wenn er jetzt mit der Parole in Nordrhein-Westfalen durch das Land zieht: „Die Probleme von heute sind die Fehler von gestern." Meine Reverenz, eine gute Einsicht!
Meine Damen und Herren, die Krise der privaten Investitionen kommt ja nicht von ungefähr. Sie ist vor allem, meine Damen und Herren auf seiten der SPD, die zwangsläufige Folge der auf Ihrem Steuerparteitag seinerzeit empfohlenen Regierungspraxis, doch die Belastbarkeit der Wirtschaft bis zum äußersten zu erproben.
In Wirklichkeit war diese Erprobung der Belastbarkeit der Wirtschaft ein leichtfertiges Spiel mit der Sicherheit der Arbeitsplätze, meine Damen und Herren.
Nun kann die Wiederbelebung der privaten Investitionen mit Sicherheit nicht allein mit kurzfristig wirkenden Maßnahmen wie der 8 Milliarden-DM-Zulage für ein halbes Jahr erreicht werden. Wer so denkt, verkennt die Zusammenhänge und vor allem die Tatsache, daß diese 8 Milliarden DM nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den enormen Kostenbelastungen stehen, mit denen die Wirtschaft in den letzten Jahren fertig werden mußte.
Wir bedauern außerordentlich, daß die Investitionszulage mit großem Mittelaufwand auch solche Investitionen begünstigt, die ohnehin vorgesehen sind. Dies werden in der Regel Prämien für die Großwirtschaft sein.
Meine Damen und Herren, wenn der Sprecher der SPD in den Ausschußberatungen zu unseren Modifizierungsvorstellungen erklärt, das gehe nicht, weil das eine Diskriminierung der Großwirtschaft wäre,
dann kann man sich nur Gedanken über das neue Bündnis zwischen der SPD und der Großindustrie machen, das sich hier anzubahnen scheint.
Sie werden sich eines Tages den Vorwurf gefallen lassen müssen, wenn wir Erfahrungen gesammelt haben, meine Damen und Herren, daß Sie Steuermilliarden ohne eine entsprechende konjunkturpolitische Wirkung verschleudert haben.
Wir hätten es vorgezogen, daß dieser Teil des Konjunkturprogramms sehr viel gezielter auf die mittelständische Wirtschaft ausgerichtet gewesen wäre,
die steuerliche Erleichterungen und Anreize am dringendsten braucht.
Herr Kollege Möller, Sie haben gesagt, die Regierung wolle sich nicht auf eine neue Subventionspolitik einrichten. Ich würde sagen: Hier wird eine neue Investitionspolitik begonnen. Ich bedaure außerordentlich, daß die vielfältigen Vorstellungen, die von uns auch im Finanzausschuß zur Diskussion gestellt worden sind,
von der Regierungskoalition allesamt — allerdings nicht geschlossen, sondern mit wechselnden Mehrheiten — vom Tisch gefegt worden sind.
Nach Vorstellung der Union wäre es richtiger gewesen, an einen dauerhaften Abbau der Steuerbelastung heranzugehen. Denn, meine Damen und Herren, der wirkliche Grund für den Rückgang der Investitionsneigung, durch den ja auch immer wieder mehr Arbeitsplätze gefährdet werden, liegt vor allem in der, wie Herr Slotosch in der „Süddeutschen Zeitung" gesagt hat, fundamentalen Rentabilitätskrise der Unternehmen. Eine dauerhafte Wiederbelebung der Investitionen über den Tag hinaus ist nur dann zu erreichen, wenn der Wirtschaft durch eine von Grund auf anders gestaltete Politik wieder die Zuversicht vermittelt wird, Herr Kollege Möller, daß es sich lohnt, sich zu engagieren, und daß der Wirtschaft auch so viel an Erträgen belassen wird, daß sie zum Investieren in der Lage ist.
Frau Präsidentin, ich bitte, einige Sätze aus einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung" zitieren zu dürfen, in dem der schon erwähnte Herr Slotosch die Situation, wie ich meine, wirklich sehr treffend charakterisiert, und die „Süddeutsche Zeitung" ist sicherlich nicht gerade ein Blatt, das der Opposition sehr wohl gesonnen ist, sondern ein solches, daß man als der Regierung nahestehend kennzeichnen könnte. Dort heißt es:
Um diese Strukturschwäche der Rentabilität zu überwinden, hätte die konjunkturpolitische Initiative der Bundesregierung auf eine dauerhafte und tragfähige Lösung abgestellt sein müssen. ... Die von der Wirtschaft der Regierung nahegelegten steuerpolitischen Stützungsmaßnahmen zugunsten der Investitionen hätten den Vorteil gehabt, daß sie erstens den Fiskus weit weniger gekostet hätten, und zweitens bestand die Chance, die Investitionstätigkeit auf ein neues, tragfähiges Fundament zu stellen und damit den notwendigen dauerhaften Effekt zu sichern. ... Eine Welle von Pessimismus und Krisenangst geht um die Welt. Es kommt deshalb mehr denn je darauf an, so weit wie möglich den Investoren Sicherheit zu bieten. Mit dem in dieser Woche vorgelegten Konjunkturprogramm der Regierung ist dieses Ziel verfehlt worden.
Ich finde, dieser Artikel kennzeichnet das, was auch wir meinen, sehr treffend.
Meine Damen und Herren, die Rentabilitätskrise ist aber nur eines von mehreren Elementen für die tiefgreifende Vertrauenskrise, ohne deren Überwin-
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dung es nach unserer festen Überzeugung weder einen neuen Wirtschaftsaufschwung noch eine nachhaltige Sicherheit der Arbeitsplätze geben wird. Diese Vertrauenskrise — Herr Ehrenberg, Sie melden sich schon zu Wort — hat ihre tiefgreifenden Wurzeln in den vielen sozialistischen Experimenten der Regierungspolitik,
in der Steuerpolitik, in der Gesellschaftspolitik, in der Ordnungspolitik. Man könnte diesen Katalog beliebig fortsetzen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Müller-Hermann?
Nein, vielen Dank, Herr Kollege Ehrenberg.
Besonders erwähnt werden müssen in diesem Zusammenhang die völlig unausgereiften und unausgegorenen Vorschläge der Regierung zur Mitbestimmung, zur beruflichen Bildung, zur Vermögensbildung.
Dazu kommt die krisenhafte Zuspitzung der Finanzen aller öffentlichen Ausgabenträger, der Finanzen des Bundes, der Länder, der Gemeinden, der Bundesbahn, der Bundespost, der sozialen Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und nicht zuletzt der Rentenversicherung.
— Sie hören das nicht gern, aber während Ihrer Regierungszeit ist diese desolate Situation bei allen öffentlichen Haushalten eingetreten. Das können Sie nicht korrigieren.
Wir müssen uns fragen — und ich frage auch Sie —: Wer kann überhaupt noch mit ruhigem Gewissen langfristige Investitionsentscheidungen treffen,
wenn er ahnt, was auf ihn zukommt, oder wenn er noch gar nicht ahnen kann, was alles auf ihn zukommt?
Wenn die heutige Parlamentsdebatte überhaupt einen Sinn haben soll, dann genügt es nicht, die Regierungsbeschlüsse hier durch Parlamentsmehrheiten im Galopptempo abzusegnen. Vielmehr müssen einige grundlegende Perspektiven für eine verantwortungsvolle Politik, wie wir sie sehen, hier deutlich gemacht werden.
Als erstes gilt es festzustellen: Die tiefere Ursache für die Inflation und alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten liegt darin, daß seit 1969 kein Gleichgewicht zwischen Ansprüchen und Leistungen in unserer Wirtschaft mehr besteht. Die Erwartungen wurden
von SPD und FDP so hoch geschoben, daß sie die Leistungskraft unserer Wirtschaft überfordern mußten. Das von uns allen Erwirtschaftete läßt sich eben nur zu hundert und nicht zu mehr als hundert Prozent verteilen. Was darüber hinausgeht, bezahlen wir heute mit Geldentwertung und Arbeitslosigkeit.
Zusatzansprüche in unserer Gesellschaft — das gilt zumindest für eine Übergangszeit — lassen sich nur befriedigen, wenn an anderer Stelle Ansprüche abgebaut werden. Diese einfache Erkenntnis allen Bürgern klarzumachen ist, ich muß leider sagen: wäre eine Führungsaufgabe dieser Regierung. Zunächst einmal kommt es darauf an, das Leistungsvermögen unserer Wirtschaft wieder auf den Stand zu bringen, der es uns ermöglicht, die schon bestehenden Ansprüche ohne Geldentwertung und ohne vielfältige Risiken zu befriedigen. Das heißt konsequenterweise, meine Damen und Herren, daß wir Leistung wieder anspornen und belohnen müssen, daß wir eher mehr als weniger arbeiten müssen.
Das Thema Arbeitszeitverkürzung sollte derzeit überhaupt nicht zur Diskussion stehen.
Ein Zweites: Die Tatsache, daß sich die öffentlichen Hände 1975 und in den folgenden Jahren in einem gigantischem Ausmaß verschulden, ist das Eingeständnis, daß der Staat in allen seinen Bereichen über seine Verhältnisse lebt — trotz einer enorm hohen Steuerlast- und Abgabenquote. Die Nagelprobe für jeden Neubeginn und für jedes Neubesinnen sind, ob es uns paßt oder nicht, die Staatsausgaben. Der Staat muß mit dem zurechtkommen, was er hat. Deshalb stehen für uns in der gegenwärtigen Situation auch Steuererhöhungen einfach nicht zur Diskussion.
Die Finanzierung der Staatsausgaben hat ihre Grenzen nicht nur in der Beanspruchung der Kapitalmärkte, sondern auch in der Fähigkeit der Wirtschaft, die Steuerlasten zu verkraften. Wir sollten, wie ich meine, aufhören,
bei allem und jedem nach dem Staat zu rufen. — Ich freue mich, von Ihnen dazu Beifall zu erhalten.
Wir sollten vielmehr größere Anstrengungen darauf verwenden, wie und wo wir die freien Kräfte in unserer Gesellschaft mobilisieren und ermutigen können, Aufgaben im Allgemeininteresse statt des Staates zu übernehmen.
Gerade auch in dem breitgefächerten sozialen Be-
reich läßt sich sicherlich vieles billiger, günstiger,
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und wirksamer darstellen, wenn die freien Kräfte statt des Staates eingespannt werden.
Im Konjunkturprogramm der Regierung wird leider auch den Empfehlungen des Sachverständigenrats nicht Folge geleistet, zusätzliche staatliche Investitionen nur dann vorzunehmen, wenn an anderen Stellen, vor allem im konsumtiven Bereich, entsprechende Einsparungen vorgenommen werden. So werden zwar zusätzliche Investitionen von 1,1 Milliarden DM zuzüglich 600 Millionen DM für die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beschlossen; auf den Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, allein für den Haushalt 1975 3 Milliarden DM einzusparen, wird jedoch überhaupt nicht eingegangen.
Wie bei dieser Haushaltslage die Dinge über 1975 hinaus weitergehen sollen, ist bisher eine Unbekannte mit vielen Fragezeichen.
Wir fordern die Regierung daher auch in unserem Entschließungsantrag nachdrücklichst auf, die Finanzplanung über 1975 hinaus angepaßt an die neuen ökonomischen Daten fortzuschreiben.
Ein Drittes. Die Inflation ist in erster Linie kostenbedingt. Neben den hohen Steuerlasten und den Personalkosten wird die Wirtschaft vor allem durch das astronomische Zinsniveau belastet. Davon ist vor allem die unterkapitalisierte mittelständische Wirtschaft betroffen. Der Bundeskanzler hat am Freitag hier vor dem Hohen Hause erklärt, die Bundesregierung würde dafür sorgen, daß die öffentliche Verschuldung nicht zinstreibend wirkt.
Ich halte diese Feststellung hier fest. Ich hielte es für sehr gut, wenn das erreicht würde. Ich sehe aber derzeit nicht, wie die Bundesregierung das erreichen will, wenn sie neben der Nettoneuverschuldung der öffentlichen Hände dieses Konjunkturprogramm finanzieren will, ohne in Widerspruch zu der richtigen Leitlinie der Bundesbank zu geraten, daß die Geldmenge 1975 um nicht mehr als 8 % ausgeweitet werden soll.
— Das ist zunächst Theorie. Ob das die Praxis sein wird, sehr verehrter Herr Kollege Schachtschabel, werden wir sehen. Da haben wir unsere Zweifel anzumelden.
Wie sehr die Zinsen die Wirtschaft drücken, hat Staatssekretär Pöhl kürzlich treffend zum Ausdruck gebracht. Er stellte den 10 Milliarden DM des Konjunkturprogramms die nüchterne Tatsache gegenüber,
daß jedes Prozent Zinsen mehr oder weniger für
die Wirtschaft 6 Milliarden DM ausmacht. Unsere
Sorge ist nach wie vor, daß die übermäßige Inanspruchnahme des Kapitalmarktes durch die öffentlichen Hände die Bundesbank zwingen könnte, das Zinsniveau wieder anzuheben. Wie sehr die Kreditpläne der Bundesregierung die Zinshöhe beeinflussen, hat schon die Entwicklung der letzten Tage angedeutet.
Meine Damen und Herren, ein ganz besonderes Problem ist das Schicksal vieler mittelständischer Betriebe, die mit ihrer schlechten Kapitalausstattung und ohne die Möglichkeit, wie die Großwirtschaft zu günstigen Bedingungen in den Export auszuweichen, um die nackte Existenz ringen müssen. Der Kosten- und der Abgabedruck auf der einen Seite und die nachlassende Binnennachfrage auf der anderen Seite haben sie in eine echte Zangenbewegung gebracht.
Von dem Schicksal dieser Unternehmen, d. h. davon, ob diese Unternehmen auf der Strecke bleiben oder die Durststrecke überstehen, hängt das Schicksal der in diesem Bereich Beschäftigten mit ab. Bundeswirtschaftsminister Friderichs steht diesen Betrieben gegenüber im Wort. Die Betroffenen sind mit Recht erneut tief enttäuscht darüber, daß den Betrieben nicht geholfen wird, die solide finanziert und zukunftsträchtig sind, die aber kaputtzugehen drohen, obwohl wir sie in einer normalisierten Konjunktursituation für die Bedienung der Verbraucher und für einen intensiven Leistungswettbewerb wieder brauchen werden. Ich erinnere mich, daß Herr Bundeswirtschaftsminister Friderichs an dieser Stelle vor wenigen Wochen zugestimmt hat, daß hier ein besonderes Problem ansteht. Zu diesem Problem sagt die Bundesregierung in ihrem Konjunkturprogramm aber nichts.
Deshalb drängen wir darauf, daß — zumindest nach Prüfung im Einzelfall — die Regierung ein Programm vorlegt, das spezielle Zinsverbilligungsmaßnahmen für diesen Bereich der mittelständischen Wirtschaft unterbreitet.
Ein Viertes: Wir möchten auch an dieser Stelle noch einmal den Appell an die Verantwortung der Tarifpartner unterstützen. Es wäre ein Verhängnis — ich hoffe, wir befinden uns alle in Übereinstimmung —, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften aus dem Konjunkturprogramm den Schluß zögen, der Spielraum zur Durchsetzung von Lohn- und Preissteigerungen habe sich damit wieder ausgeweitet. Aber ich füge auch hinzu — ich hoffe nur, wir befinden uns auch da alle in Übereinstimmung —: Umgekehrt wäre es nicht minder verhängnisvoll, wenn die Tarifpartner im Vertrauen auf die neuen Erklärungen der Regierung, die Inflation sei eingedämmt und im Sommer des nächsten Jahres seien wir über dem Berg, jetzt zu maßvollen Tarifabschlüssen kämen, die Arbeitnehmer insbesondere aber im nachhinein feststellen müßten, daß der Bundeskanzler wieder einmal falsche Erwartungen erweckt hat.
Die Tarifpartner müssen sich darüber im klaren sein — ich meine, das muß auch an dieser Stelle einmal gesagt werden —, daß der übermäßige Anteil
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des Sozialprodukts, den der Staat für sich in Anspruch nimmt, den Arbeitnehmern den Spielraum für die Verbesserung ihrer Einkommen in der gegenwärtigen Phase weiter einengt.
Das gilt insbesondere, wenn die Wirtschaft stagniert oder wenn gar zu befürchten ist, daß sich unser Sozialprodukt rückläufig entwickelt. Das ist, glaube ich, die nüchterne Wahrheit, an der sich niemand vorbeidrücken kann.
Sehr verehrter Herr Minister Friderichs, Sie haben vor wenigen Wochen für die Regierung Orientierungsdaten herausgegeben, die das wirtschaftliche Wachstum für das Jahr 1975 in einer Größenordnung von 31/2 0/o einschätzen.
— Das reale Wachstum in einer Größenordnung zwischen 3 und 31/2%. — Wenn wir hier die neuen Orientierungsdaten zugrunde legen würden, sähen wir, daß das auf jeden Fall unerreichbar sein müßte, es sei denn, es geschähe im zweiten Halbjahr 1975 ein Wunder, von dem wir, glaube ich, alle sagen können: es wird nicht eintreten. Die Regierung wäre also gut beraten, auch ihre bisher vorgelegten Orientierungsdaten den neuen volkswirtschaftlichen Entwicklungen wieder anzupassen.
Ein Fünftes: Für die weitere Entwicklung unserer Wirtschaft sind ordnungspolitisch Klarheit und Sauberkeit unentbehrlich. Die CDU/CSU bekennt sich nachdrücklich zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Wir sind fest davon überzeugt, daß auch die gegenwärtigen Probleme nur auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft zu meistern sein werden.
Im Gegensatz dazu bleibt die stärkste Regierungspartei, die SPD, ordnungspolitisch schillernd und vielgesichtig. Bundeskanzler Schmidt versucht, den Eindruck zu erwecken, als seien die Systemüberwinder und Klassenkämpfer in der SPD nur eine unbedeutende Minderheit. Man braucht nur an das Wahlprogramm der SPD in Schleswig-Holstein mit der Handschrift von Jochen Steffen zu denken oder an die jüngsten Hetztiraden der Jusos in Bremen, um sich darüber völlig im klaren zu sein, daß weder Herr Brandt noch Herr Schmidt die SPD und ihre Systemüberwinder unter Kontrolle haben.
Solange über die Zielsetzungen und die ordnungspolitischen Entwicklungen der stärksten Regierungspartei soviel Ungewißheit besteht, die in allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere der Wirtschaft, ein Gefühl der Unsicherheit, der Unsolidität und der mangelnden Zuverlässigkeit auslöst, wird es auch dieser Regierung nicht gelingen, die Vertrauensbasis wiederherzustellen, ohne die alle Konjunkturspritzen Schall und Rauch bleiben werden.
Unser Land hätte einen wirklichen Neubeginn, eine grundlegende Wende dringend nötig. Das spüren im Grunde auch die Wähler im Lande, die, da sie nicht anders können, das mit dem Stimmzettel auszudrücken versuchen.
Sie weisen im Grunde darauf hin, daß sie einen politischen Kurswechsel als den einzigen Ausweg aus den bestehenden Schwierigkeiten sehen.
Wenn der Herr Bundeskanzler Schmidt — vielleicht glaubt er es selbst; ich will das sogar unterstellen — wiederum hier vor diesem Haus und draußen in den Landen mit neuen rosigen Perspektiven für die Zukunft aufwartet, so frage ich doch, meine Damen und Herren, und so fragen ihn die Bürger: Wer soll einem Manne oder einer Partei glauben, die sich so oft geirrt und die so oft die Wähler enttäuscht und getäuscht haben?
Wieweit diese Enttäuschung und Täuschung reicht, läßt sich vielleicht aus einem kleinen Indiz ablesen. Meine Damen und Herren! Ich habe hier vor mir den DGB-Nachrichtendienst vom 1. Februar 1974. Da heißt es an einer Stelle:
Generell ist kaum mit einem Anwachsen der Arbeitslosenzahl um mehr als 50 000 bis 75 000 Personen über den Stand des vorjährigen Hochkonjunkturjahres hinaus zu rechnen, wenn keine ernsthaften wirtschaftspolitischen Fehler gemacht werden.
Ich sehe daraus nur, daß auch der DGB offenbar dieser Regierung nur ein ganz schlechtes Attest ausstellen kann. Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie, wenn ich das in dieser Offenheit ausspreche.
Wir sind fest davon überzeugt, daß diese „verbrauchte", in sich zerstrittene Koalition leider Gottes mit den anstehenden Problemen nicht mehr fertig wird.
Aus all dem Gesagten wird klar, warum wir gegenüber dem Regierungsprogramm und seinen Erfolgsaussichten so außerordentlich große Bedenken haben. Hier wird mit zu großem Aufwand zu wenig an Investitions- und Konjunkturbelebung bewirkt.
Ich darf einen weiteren, sicherlich unbefangenen Zeugen zitieren, Helmut Geiger vom Sparkassenverband, wo es unter anderem heißt:
Sorgen bereitet den Sparkassen der Struktureffekt des Konjunkturprogramms der Bundesregierung, das die Großunternehmen bestimmter Branchen und Gebiete begünstigt, die mittelständischen Formen dagegen benachteiligt.
Es unterstreicht das, was ich besonders an Kritik gegenüber dem Investitionszulagenprogramm verdeutlicht habe.
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Dr. Müller-Hermann
Im Grunde ist das, was Sie hier als Konjunkturprogramm vorlegen, ein kurzatmiger vornehmlich mit dem Blick auf Landtagswahlen ausgerichteter Notbehelf.
Das Übel wird nicht an der Wurzel gepackt, meine Damen und Herren. Mit Geldspritzen allein — das ist eine uralte Erfahrung — ist das für Investitionen notwendige Vertrauensklima nicht herzustellen. Die Regierung behauptet dennoch, mit ihrem Programm kurzfristig die Arbeitsplätze sichern zu können. Das, was an Mobilitätszulagen und an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen vorgesehen ist, sollte auch nach unserer Auffassung nicht behindert werden.
Trotz all dieser Skepsis wird die Opposition der Regierung nichts in den Weg stellen,
um das zu tun, was sie im Interesse der betroffenen Arbeiternehmer zu tun für richtig hält. Die Opposition hätte von dem Instrument der Fristeneinrede Gebrauch machen können. Wir haben das nicht getan aus Verantwortung für die arbeitenden Menschen,
um keine Chance verpassen zu lassen,
so schnell wir möglich helfen zu können, wo die Regierung meint helfen zu müssen und dazu auch in der Lage zu sein glaubt. Wenn wir jetzt, meine Damen und Herren, der Bundesregierung unsere Zustimmung nicht verweigern, dann tun wir das mit der nötigen Distanz zur Regierungspolitik und zu den Mängeln, die das Regierungsprogramm kennzeichnen. Aus Verantwortung gegenüber den arbeitenden Menschen in unserem Land wollen wir jedoch nichts unversucht lassen, um der von der Bundesregierung zu verantwortenden zunehmenden Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Apel.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich fünf kurze Bemerkungen machen!
Bemerkung Nr. 1: Es trifft nicht zu, daß die Bundesregierung, insbesondere das Bundesfinanzministerium in den zuständigen Ausschüssen nicht sehr detailliert die Zahlen, soweit gerechnet werden kann, vorgelegt hat.
— Ich komme gleich darauf. Mir selbst liegt eine entsprechende, sehr detaillierte Vorlage vor, die Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, vorgelegen hat.
Bemerkung Nr. 2: Frau Präsidentin, ich darf aus einem Dokument des Deutschen Bundestages — Drucksache V/1341 vom 27. Januar 1967 — zitieren. Dieses Dokument — die Erste Verordnung über steuerliche Konjunkturmaßnahmen — ist von dem damaligen Bundeskanzler, Herrn Dr. Kiesinger, unterschrieben worden. Ich zitiere:
Diese Wirkungen und Gegenwirkungen lassen sich im einzelnen so schwer abschätzen, daß zahlenmäßige Angaben nicht gemacht werden können. Nach Auffassung der Bundesregierung wird sich die vorgesehene steuerliche Investitionserleichterung im Endergebnis, weil sie auf die Belebung eines allgemeinen Wirtschaftsaufschwungs gerichtet ist, haushaltsmäßig günstig auswirken.
Genau das gleiche, meine Damen und Herren von der Opposition, sagen wir Ihnen heute auch. Genau das, was Sie damals in der Großen Koalition mit der Unterschrift Ihres Bundeskanzlers akzeptiert und unterschrieben haben, wollen Sie uns heute als Kritik vorhalten. Ich denke, man sollte immer an die ökonomischen Realitäten, die hier ausgedrückt sind, aber auch an das eigene vergangene Tun denken und dann in seinen Formulierungen vorsichtiger sein.
Bemerkung Nr. 3: Wenn Sie darauf hingewiesen haben, daß ich in einem ,,Rundschau"-Interview betont vorsichtig argumentiert habe, dann ist das auch völlig richtig. Dies geschah nämlich deswegen, Herr Kollege Müller-Hermann, weil wir bei aller Stützung der binnenländischen Nachfrage — und die wird auf Grund dieses Programmes nachhaltig erfolgen — Fragen haben, was die Weltwirtschaft angeht. Diese Fragen kann man auch nicht, wie der Herr Kollege Strauß das getan hat, mit dem „sogenannten", wie er das nannte, „Ölpreisschock" wegdebattieren. Im übrigen haben Sie, Herr Müller-Hermann, selbst auf diese Probleme hingewiesen. Deswegen gehört zur Konjunkturpolitik der binnenländischen Nachfragestärkung auch die Stärkung der internationalen Solidarität. Die Bundesregierung wird hier konsequent ihre bisher verfolgte Politik fortsetzen.
Bemerkung Nr. 4: Sie haben auf eine Bemerkung von Herrn Staatssekretär Pöhl abgehoben. Ich unterstreiche ausdrücklich, was Staatssekretär Pöhl in diesem Zusammenhang gesagt hat: Die Zinspolitik der Deutschen Bundesbank setzt zentrale Eckdaten für den konjunkturellen Aufschwung. Unser Optimismus richtet sich darauf, daß die Zentralbank die fiskalischen, die antizyklischen Konjunkturbemühungen der Bundesregierung unterstützt. Insofern wird nur dann ein Schuh daraus, wenn das alles zusammenkommt.
Bemerkung Nr. 5: Ich setze mich hier nicht mit den demagogischen Bemerkungen des Herrn Müller-Hermann auseinander,
um so weniger, als er das auch nicht so ganz besonders gut kann; das wäre unfair. Ich kann das besser,
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Bundesminister Dr. Apel
denke ich; aber ich lasse das einmal sein. Ich will dazu nur folgendes sagen, lieber Herr Kollege Müller-Hermann.
Wenn Sie meinen, daß irgendwelche sozialistischen Experimente, wie Sie geruhten, es zu nennen, diese Wirtschaft in Schwierigkeiten gebracht haben
— nun gut, klatschen Sie doch; im Klatschen sind Sie sowieso am besten! —, dann muß ich wirklich zurückfragen, liebe Kollegen von der Opposition, wie Sie sich erklären wollen, daß wir noch im Jahre 1973 in einem Investitionsboom waren, der seinesgleichen gesucht hat, daß wir in einer Überbeschäftigung waren, und wie Sie folgendes Zitat, das ich gerade heute morgen in „Newsweek" gelesen habe, mit Ihren eigenen Behauptungen in Übereinstimmung bringen wollen. „Newsweek" geht die Wirtschaften der westlichen Industrienationen durch und erklärt:
Unter den großen Ölimporteuren haben allein die Deutschen weiterhin einen großen Handelsüberschuß. Die Bundesrepublik ist in guter Form, um die globalen wirtschaftlichen Turbulenzen zu überstehen . . .
— Ach, wissen Sie, Herr Professor Carstens, bleiben Sie doch bei Ihrem Thema der Zwangsernährung der Gefangenen; davon verstehen Sie mehr als von Konjunktur.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Nordlohne?
Meine Damen und Herren, wir hören seit einiger Zeit — —
Meine Damen und Herren, ich höre heute in den Ausführungen des Herrn Müller-Hermann wieder eine interessante Bemerkung, die wir in letzter Zeit auch schon so unter dem Motto gehört haben: „Die Sozialdemokraten Arm in Arm mit der Großwirtschaft". Es wäre vernünftig, wenn Sie vorab erst einmal ihre eigene logische Position klärten; denn wenn Sie auf der einen Seite permanent von sozialistischen Experimenten und Systemüberwindern sprechen und auf der anderen Seite diese Konstruktion herstellen,
dann ist das sehr wohl ein Widerspruch.
Das hieße nämlich: „Systemüberwinder Arm in Arm mit der Großwirtschaft" ; Herr Müller-Hermann, ich würde mir einmal überlegen, ob das zusammenpaßt.
Ich will dazu folgendes sagen. Wenn wir uns das angucken, was 1967 in der damaligen Rezession von uns gemacht worden ist, z. B. die Sonderabschreibung, oder auch das, was Sie gefordert haben, allerdings mit unterschiedlichen Zungen, mit unterschiedlicher Aussage, unterschiedlichen Akzentsetzungen — Herr Kollege Friderichs hat bereits darauf aufmerksam gemacht —, stellt sich hier wirklich die Frage: Wo ist denn eigentlich das Alternativprogramm?
— W o ist denn Ihr Mittelstandsprogramm? Wo ist es denn?
Ich will Ihnen dazu folgendes sagen. Das einzige, worüber ernsthaft debattiert worden ist und was auch ein Bundesland im Finanzausschuß des Deutschen Bundesrates vorgelegt hat, worüber man hätte reden können, wäre eine Kappung der Investitionszulage gewesen. Ich glaube, Herr Becker, Sie haben das auch im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages angeregt.
Nur muß ich die Frage stellen: Wie ist das denn eigentlich mittelstandsfördernd? Im Endeffekt ist eine Begrenzung der Zulage auf eine Investition einer gewissen Größenordnung ein sehr problematisches Unterfangen, weil in der Tat auch Großinvestitionen gebraucht werden, um den Wirtschaftsaufschwung voranzubringen. Im übrigen: Wie soll das administriert werden? Das ist dann die nächste Frage. Kann man die Investitionen dann nicht in verschiedene Pakete aufgliedern, so daß man den gleichen Effekt erreicht? Und zum dritten müssen Sie uns genau nachweisen, wie dies eigentlich mittelstandsfördernd sein soll.
Wir haben uns in unserem Programm verpflichtet, meine Damen und Herren, die Mittel für die Förderung des Mittelstandes in der KW zu fördern, und dies ist Mittelstandsförderung par excellence.
Letzte Bemerkung!
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Dr. Becker?
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Letzte Bemerkung!
Keine Zwischenfrage!
Wir sind Ihnen dankbar, daß Sie — und das gilt für Sie alle, meine Damen und Herren — so schnell dieses Programm haben verabschieden können. Wir geben zu, daß wir Ihnen damit auch etwas zugemutet haben, physisch wie intellektuell wie politisch. Nur ist es keine Ausrede, Herr Müller-Hermann, wenn Sie sagen, wir hätten bis zu den Konsultationen warten müssen. Wir mußten in der Tat warten, bis wir hier zu Hause Politik machen konnten. Ehe wir in der Lage waren, national zu handeln, mußten wir das internationale Bild haben. Dieses hatten wir dann.
Und ein Zweites kommt hinzu. Ich finde es auch angemessen, daß angesichts der unübersehbaren ökonomischen Schwierigkeiten in unserem Lande die deutsche Bevölkerung einen Anspruch darauf hat, daß ihre Volksvertreter vor den parlamentarischen Ferien zum endgültigen Abstimmungsergebnis kommen
und damit der deutschen Bevölkerung sagen, wie es ab dem 1. 1. 1975 weitergeht.
Wir teilen Ihren Pessimismus nicht; wir sind davon überzeugt, daß dies der richtige Schritt ist.
Wir sind aber mit Ihnen in einem Punkte einig: Marktwirtschaft heißt, daß viele soziale Gruppen Verantwortung tragen. Sie von der Opposition erwecken zu gern den Eindruck, als würde Beschäftigungspolitik, Investitionsbereitschaft und Wachstum ausschließlich von der Bundesregierung und ihrer Konjunktur- und Wirtschaftspolitik gemacht. Dieser Eindruck, den Sie erwecken wollen, ist falsch. Tatsache ist, daß wir alle zusammen Verantwortung tragen.
Und insofern gehen wir davon aus, daß die Zeichen, die wir setzen, auch anderswo begriffen werden und wir gemeinsam die nächsten schwierigen Monate durchstehen, damit im Frühsommer der Konjunkturaufschwung erreicht sein wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höcherl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Beitrag von Herrn Finanzminister Apel, den wir soeben genießen konnten, fügt sich nahtlos in die Art und Weise ein, wie wir hier als Parlament behandelt worden sind.
Herr Finanzminister Apel hat uns nie verwöhnt, sein Husarenstil ist bekannt. Was aber hier diesem Parlament zugemutet worden ist mit einer Entscheidung, die über 10 oder mehr Milliarden geht, das dürfte in der Parlamentsgeschichte einmalig sein.
All das, meine Damen und Herren, spielt sich unter dem Oberbegriff „Mehr Demokratie" ab. Ich bin der Meinung, daß mehr Demokratie nicht darin besteht, daß sich pausenlos neue Fernsehauftritte ereignen, sondern darin, wie das Parlament als die Vertretung des Volkes behandelt wird und welches Verhältnis die Regierung zur Opposition hat.
Herr Finanzminister, Sie haben uns zugemutet, in wenigen Stunden — es waren vier bis fünf Beratungsstunden — über ein Programm zu entscheiden, dessen Chancen von keiner einzigen maßgebenden Stelle, weder von der Wirtschaft, noch von den Gewerkschaften, noch von der ernsthaften Wirtschaftspresse, positiv beurteilt worden sind. Bisher haben Sie uns selber erklärt, dieser Haushalt gibt nichts mehr her. Dieser Haushalt war das Massengrab der Reformpolitik.
Von heute auf morgen werden acht bis zehn, elf, zwölf Milliarden auf den Tisch gelegt. Mich würde interessieren, woher Ihr Gesinnungswandel kommt. Wir sind nur mehr auf den „Spiegel" angewiesen, um die Interna zu hören, die sich in diesem Kabinett der „nahtlosen Übereinstimmung" abspielen.
Es waren interessante Einblicke in das Seelenleben dieser Koalition: der Kanzler gegen den Wirtschaftsminister, der Wirtschaftsminister gegen den Finanzminister. Ich muß sagen, eine wirklich weihnachtliche Stimmung herrscht in diesem Kabinett.
Nun zu einigen Sachproblemen, die Sie hier aufgeworfen haben. Sie haben sich damit entschuldigt, Sie hätten jetzt keine Zahlen vorlegen können, weil einige Vorgänge nicht zu berechnen gewesen seien. Sie haben auf ein Beispiel aus der Großen Koalition zurückgegriffen. Sie haben gestern in den wenigen Stunden der Beratung Zahlen als Tischvorlage gebracht. Diese Zahlen hätten Sie ruhig genauso, wie sie gestern vorgelegt wurden, in Ihre Drucksachen aufnehmen können, damit wir uns wenigstens in dieser ganz kurzen Zeit noch hätten mit dem Zahlenspiel auseinandersetzen können.
Sie gestatten eine Zwischenfrage? —
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9575
Herr Kollege Höcherl, ist Ihnen bekannt, daß bei dieser Tischvorlage so schlampig gearbeitet wurde, daß die Zahlen nicht einmal richtig zusammenaddiert worden sind?
Wahrscheinlich ist es so, wie der Herr Kollege Dr. Marx sagt: nicht einmal der einfachste Rechenvorgang ist dieser Regierung gelungen.
Es ist unerhört, Herr Kollege Apel, wenn Sie sagen, wir hätten im Rahmen unserer Gegenvorschläge die Mittelstandskomponente nicht berücksichtigt. Ist Ihnen entgangen, Herr Minister Apel, daß unser Vorschlag nicht nur eine obere Begrenzung, sondern eine ganz maßgebliche Staffelung der Investitionszuschläge, gestaffelt nach den mittelstandspolitischen Notwendigkeiten, enthielt?
Diese ganze Vorlage, wenn man sie überhaupt als Vorlage bezeichnen kann, ist ja ein Sammelsurium, in dem die ganze innere Widersprüchlichkeit zum Ausdruck kommt. Meine Damen und Herren, diese Vorlage geht von einer Erwartung aus, die man geradezu als kühn bezeichnen muß. Ich habe überhaupt den Eindruck, daß es sich hier um ein Kühn-Programm handelt, ein Programm, das auf den 4. Mai 1975 abgestellt ist.
Wenn man, wie das bisher schon oft geschehen ist, solche Vorlagen und solche Entscheidungen angesichts der Arbeitslosigkeit, angesichts der inflationären Entwicklung immer wieder einem kurzfristigen Wahlthema unterordnet, versäumt man, ihnen die Grundlagen einer staatspolitischen Entscheidung zu geben. Sie haben dieses Konjunkturkarussell auch bisher schon gedreht und wieder gedreht. Es wurden vier Sonderprogramme vorgelegt. Jedes Sonderprogramm ist hier mit dem Anspruch vertreten worden — sei es durch den Wirtschaftsminister, sei es durch den Finanzminister oder den Bundeskanzler selbst; wir haben ja eine Sammlung von Ökonomen in diesem Kabinett —:
Das ist nun die Lösung. Die verdammte Wirklichkeit hat sich aber nicht an Ihre Vorschläge und Ihre Erwartungen gehalten. So war es doch.
Wir haben diesem nolens volens aus bitterer und brennender Sorge über die Entwicklung, an der Sie durch Ihre widersprüchliche und falsche Konjunkturpolitik einen maßgebenden und historischen Anteil haben, zugestimmt, und zwar deswegen, weil uns das Anliegen als solches genauso interessiert. Herr Bundeskanzler, wir gehen so weit, zu sagen: Wir wünschen im Interesse der Aufgabe wenigstens einen Teileffekt Ihres Programms. Zu der Art und
Weise, wie Sie hier vorgehen, zu der Kurzsichtigkeit — nicht über den Tellerrand hinaus — kann ich. nur sagen: Das ist keine Regierung, sondern das ist eine Geschäftsführung, die so schnell als möglich abgelöst gehört. Das ist die Alternative.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirst.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe cien Eindruck, daß der Kollege Höcherl, dem ich sonst ganz gern zuhöre,
wenn wir Zeit haben -- heute haben wir keine Zeit —, sich eigentlich nur gemeldet hat, um diesen letzten Satz sagen zu können.
Herr Kollege Stücklen, zu Ihrer Frage „Vor oder nach Weihnachten?" möchte ich sagen: Bekanntlich wird es immer, in jedem Jahr Weihnachten geben.
Es ist also keine genaue Zeitbestimmung, die Sie damit erbitten.
Ich möchte zunächst auch meinerseits den Dank an alle diejenigen — wo auch immer sie stehen — aussprechen, die mit dazu beigetragen haben, daß es uns möglich ist, heute noch zur Verabschiedung und anschließend zur Behandlung dieses Programms im Bundesrat zu kommen. Dafür sollte allen Beteiligten gedankt werden, auch der Opposition insoweit, als sie von den ihr gegebenen geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht hat.
Ich möchte auch hinzufügen — dies ist gestern abend im Haushaltsausschuß sehr deutlich geworden —, daß wir gemeinsam, also alle drei Fraktionen, angesichts des Tempos, mit dem wir dieses Programm in den letzten Tagen hier haben behandeln müssen, natürlich ein erhebliches Unbehagen verspüren. Auf die Zusammenhänge — Zeitzwang einerseits, Abwarten-Müssen des EG-Gipfels andererseits sowie Einbrechen der Weihnachtspause hier — ist ja schon hingewiesen worden. Ein zusätzlicher Tag ist uns dadurch verlorengegangen, daß der Bundesrat in dieser Woche nicht, wie sonst üblich, am Freitag, sondern am Donnerstag tagt. Ich habe Verständnis dafür, daß dies früher einmal so geplant wurde. Wir müssen aber auch sehen: Wenn wir es nicht so gemacht hätten, wäre angesichts der vorliegenden Sitzungspläne eine Verabschiedung des Programms nicht vor Ende Februar möglich gewesen. Das muß man dabei berücksichtigen.
Wir gehen davon aus, daß auch die Bundesregierung dieses Verfahren natürlich nicht als das zukünftig normale Verfahren der Gesetzgebung in
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Kirst
diesem Hause betrachtet. Wir haben auch keinen
Anlaß, anzunehmen, daß sie davon ausgehen wird.
Trotz des Terminzwangs, meine Damen und Herren, ist eine, soweit das den Umständen entsprechend möglich war, gründliche Beratung in den Ausschüssen erfolgt, was sich auch darin zeigt, daß noch zum Teil wesentliche Änderungen in den Ausschußberatungen vorgenommen worden sind. Ich will das im einzelnen hier nicht aufführen. Ich verweise nur insbesondere auf die wesentliche Änderung beim Gesetz über die Investitionszulagen im Wohnungsbau, soweit er vom Artikelgesetz nicht betroffen wird. Das zeigt, daß es möglich war, wichtige und notwendige Änderungen noch durchzuführen, ebenso eine bessere Regelung der Frage, für welche Zeiträume die Inanspruchnahme möglich ist, beispielsweise was als Stichtag gilt.
Lassen Sie mich aber einige grundsätzliche Bemerkungen anläßlich der Verabschiedung dieser Vorlagen machen, bevor ich in einigen Punkten auf das eingehen muß, was Sie, Herr Kollege Müller-Hermann, gesagt haben. Ich möchte zunächst sehr deutlich sagen: dieses Konjunkturprogramm und diese Entscheidungen von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat dürfen draußen im Lande und dürfen auch hier im Hause nach zweierlei Richtungen nicht falsch verstanden werden. In einer Richtung hat es Kollege Müller-Hermann eben schon angesprochen. Ich will das deshalb vorwegnehmen. Das ist die Frage der Tarifpolitik. Ich glaube, gerade in einem solchen Augenblick muß man vielleicht noch mehr als sonst die besondere Verantwortung der Tarifpartner für das weitere wirtschaftliche Geschehen in diesem Lande unterstreichen, damit diese politischen Entscheidungen hier dort nicht falsch verstanden werden.
Die andere Bemerkung geht dahin, daß natürlich diese Entscheidungen auch kein Freifahrschein für Ausgabensteigerungen im öffentlichen Bereich sind. Die Haushaltslage des Bundes zumindest ändert sich durch diese Entscheidungen praktisch nicht. Was unmittelbar zu finanzieren ist, geschieht ja über die vorhandenen Rücklagen, die aufgelöst werden, d. h. es tritt weder eine Verschlechterung noch eine Verbesserung der Haushaltslage des Bundes ein. Bei Ländern und Gemeinden könnte es sich anders auswirken, denn deren Anteile aus der aufgelösten Rücklage aus dem Stabilitätszuschlag sind nicht für bestimmte Programme gebunden.
Ich begrüße im übrigen, was beim Haushalt 1974 aus stabilitätspolitischen Gründen noch nicht möglich war, aber seinerzeit von mir angesprochen wurde, nämlich daß die Stabilitätsanleihe zur Minderung des Nettokreditbedarfs im Jahre 1975 herangezogen werden soll; denn es wäre natürlich finanzpolitisch sehr fragwürdig, wenn man für Geld, das man ohnehin hat, aber nicht ausgeben will, Zinsen zahlt, und zusätzliches, für das man dann wahrscheinlich noch höhere Zinsen zahlen muß, hereinnehmen muß.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf im übrigen dem Finanzministerium für etwas danken, was gestern im Haushaltsausschuß geschehen ist. Wir haben bei dieser Vorlage, bei der es um das 1,7-Milliarden-Programm geht, als Bundestag nur die Möglichkeit, global ja oder nein zu sagen. Wir können keine Änderungen vornehmen. Es ist vorn eine Ermächtigung der Bundesregierung zu Abweichungen bei Übereinstimmung zwischen Bundeswirtschaftsministerium und Bundesfinanzministerium hineingeschrieben. Das Finanzministerium hat zugesagt, solche Abweichungen nur nach Anhörung, wenn ich es einmal so formulieren darf, des Haushaltsausschusses vorzunehmen.
Die Konjunkturpolitik muß — und das kommt in diesem Programm zum Ausdruck — letzten Endes auch mit diesem Programm die Gratwanderung fortsetzen, vor die sie sich seit langem gestellt sieht, eine Gratwanderung zwischen den Zielen mehr Preisstabilität und gleichzeitiger Begrenzung des Beschäftigungsrisikos. Das ist, auf eine einfache Formel gebracht, die Aufgabe und die Absicht der Bundesregierung, wie sie auch in der Formel vom Aufschwung in Stabilität zum Ausdruck kommt. Es sollte ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit sein, daß alle diejenigen, die seit Jahren in Wort, Bild und Ton meinten, diese Regierung stabilitätspolitisch zum Jagen treiben zu müssen, ihre heutige Beurteilung der Situation einmal an ihren eigenen seinerzeitigen Forderungen und Analysen messen.
Vielleicht war es sogar unvermeidlich — weil volkswirtschaftliche Zusammenhänge eben sehr kompliziert sind — damit unsere Bevölkerung die Zusammenhänge begreift und erkennt, daß sie in den letzten Wochen und Monaten erlebt hat, daß der unbezweifelbare Erfolg in der Preisstabilisierungspolitik, wie er sich in den Zahlen der letzten Monate ausdrückt, natürlich mit einer begrenzten Vergrößerung des Beschäftigungsrisikos verbunden ist.
Dabei, meine Damen und Herren, war es nicht unsere Absicht — und es wird nicht unsere Absicht sein —, nach dem Motto Schmückers mit gewollter Rezession zu arbeiten. Das ist vorbei, das ist nicht unsere Absicht. Wir sind uns völlig darüber im klaren, daß das Problem der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigungslosigkeit sowohl ein persönliches als auch ein volkswirtschaftliches ist. Volkswirtschaftlich ist natürlich eine Beschäftigungslosigkeit eine Verschwendung, eine Nichtausnutzung von Kapazitäten. Aber noch entscheidender ist natürlich die menschliche Seite des Problems. Selbstverständlich sehen wir hierbei, daß man es nicht mit den Zeiten vor 40 Jahren vergleichen kann, wenn man die heutige soziale Sicherung derjenigen sieht, die nun von Beschäftigungslosigkeit oder Kurzarbeit getroffen sind. Aber — ich will auch das einmal sehr deutlich sagen —: Gerade wenn wir diese starke soziale Sicherung der Betroffenen sehen, müssen wir natürlich erkennen, daß auch von hier aus — wenn es nicht schon andere Gründe gäbe — der Zwang be-
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steht, ein weiteres erhebliches Anwachsen zu verhindern; denn darüber kann es gar keinen Zweifel geben, daß diese Sicherungen so konstruiert sind, daß sie finanzwirtschaftlich auf die Dauer eigentlich nur funktionieren, wenn das Ausmaß nicht mehr wesentlich steigt. Anders ausgedrückt: Arbeitslosigkeit im Weimarer Maßstab würde dieses System der sozialen Sicherung der Betroffenen praktisch funktionsunfähig machen. Darüber wollen wir uns klarwerden. Aber erfreulicherweise besteht kein Anlaß, solche Entwicklungen anzunehmen. Trotzdem sollte man diese Zusammenhänge sehen.
Zu den Anträgen der Opposition nur so viel: Die Entschließung ist so verfaßt, daß sicher die Verfasser selbst nicht annehmen, daß wir sie annehmen. Wir werden sie also ablehnen.
Bezüglich des Antrages zu dem Gesetz zur Finanzierung des Wohnungsbaues ist nur kurz darauf hinzuweisen, daß die Begrenzung — wir haben das auch im Haushaltsausschuß ausführlich erörtert — in diesem Fall auf Mietwohnungen keinerlei Abstrich von unserer sonstigen positiven Einstellung zur Eigenheimförderung darstellt, daß aber hier zum Beispiel im Rahmen des Artikelgesetzes eine Verbesserung im Falle des Zweiterwerbes und eine Änderung bei der Grunderwerbsteuer, erfolgen. Im übrigen muß man sehen, daß die Schaffung von Familienheimen, die von der Opposition gefordert wird, ohnehin durch gesetzliche Maßnahmen gesichert ist.
Herr Kollege Müller-Hermann, Sie haben einige Bemerkungen gemacht, auf die ich noch kurz eingehen möchte. Sie haben angedeutet, die Koalitionsparteien seien besser informiert als die Opposition. Das ist absolut falsch.
Der Erkenntnisstand bei den Ausschußberatungen ist der gleiche für Sie wie für uns. Sie haben davon gesprochen,
die Kosten seien nicht genau spezifiziert worden. Das hat gestern auch im Ausschuß eine Rolle gespielt. Bei den konkreten Maßnahmen im 1,7-Milliarden-Programm kann man natürlich die Kosten beziffern. Aber wenn ich bestimmte Verhaltensweisen honorieren will, wie z. B. Investitionen, dann kann ich die Kosten natürlich nicht genau vorab-schätzen, weil ich nicht weiß, inwieweit dieses Angebot akzeptiert wird. Im übrigen: wo waren eigentlich Ihre Deckungsvorschläge besserer Qualität bei Ihrem mehrmals vorgelegten sogenannten Inflationsentlastungsgesetz? Da habe ich nie Deckungsvorschläge gesehen.
Was nun die Alternativen der Opposition anlangt — ich muß es kurz machen; der Bundesrat wartet, wie wir hören -, so kann ich mein Urteil
nur so zusammenfassen: Alternativen der Opposition seit 1969 — nichts gewesen außer Worten, wenn überhaupt, dann Widersprüche. Dafür haben Sie auch in den letzten Wochen und Monaten noch viele Beispiele gegeben.
Wenn Sie nun sagen, diese Investitionszulagen sollten ja eigentlich nur für die Investitionen gegeben werden, die zusätzlich unternommen werden, dann wird Ihnen natürlich in der Theorie jedermann recht geben. Nur erwarte ich, daß Sie beim Bundespatentamt einmal das Patent für ein Verfahren anmelden, wie Sie denn feststellen, was sonst nicht gemacht worden wäre. Mit dieser Argumentation beweisen Sie eigentlich selbst, daß es — leider, würde ich sagen — nicht anders geht, als wie wir vorgeschlagen haben.
— Dazu ist eben schon vom Finanzminister das Nötige gesagt worden.
Nun mußte natürlich wieder das alte Schauermärchen von den zerrütteten Finanzen und dem Staatsbankrott in allen möglichen Variationen bei Herrn Müller-Hermann als rhetorische Pflichtübung erscheinen. Das ist ja sonst das Metier des Kollegen Strauß, der heute offenbar nicht da ist. Ich darf Sie nur an eines erinnern das muß man doch wohl sagen —: Ich habe vorhin gesagt: durch diese konjunkturpolitischen Beschlüsse ändert sich die Haushaltssituation im Grunde genommen — für den Bund jedenfalls — nicht. Ich glaube, darin können wir sogar übereinstimmen. Die Haushaltssituation wird dadurch nicht besser und nicht schlechter, und ich sage bewußt: sie wird dadurch nicht weniger schlecht für 1975. Daß sie für 1975 schwierig ist, wird von niemandem bestritten; nur muß man sich die Ursachen immer wieder ehrlich vor Augen führen. Das ist in erster Linie der enorme, von uns allen hier einstimmig beschlossene Ausfall durch die Steuerreform. Hinzu kommt der Rückgang der Steuereinnahmen aus konjunkturpolitischen Gründen. Das sind die wesentlichen Ursachen für die schwierigere finanzpolitische Lage im nächsten Jahr, die unter anderem zu einer Kreditaufnahme von 20 oder 22 Milliarden DM je nachdem, wie wir es rechnen werden — führen muß. Ich sagte eben, wenn überhaupt etwas war, dann Widerspruch. Hier gibt es ja auch nur Widerspruch. Herr Strauß sagt im „Handelsblatt" am 11. Dezember, eine gigantische Verschuldung des Bundes zu kritisieren sei nötig, während Herr Kohl einen Tag später zugibt, daß eine solche Staatsverschuldung in einem Jahr immerhin vertretbar sei. Also auch da gibt es offenbar keine klare Meinungsäußerung der Opposition.
Herr Müller-Hermann, Sie haben noch einmal darauf hingewiesen, die Opposition habe zu Beginn der Haushaltsberatung Einsparungsvorschläge von 3 Milliarden DM gemacht. Nun sind Ihre Kollegen aus dem Haushaltsausschuß im wesentlichen jetzt schon im Haushaltsausschuß. Herr Kollege Müller-Hermann, das war doch nichts anderes als ein fauler
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Zauber, was Sie bzw. Ihre Kollegen da veranstaltet haben.
Bei einigen Positionen, bei denen es um Ausgaben für gesetzlich oder vertraglich festgelegte Verpflichtungen geht - darunter fällt z. B. Wohngeld, darunter fallen auch EG-Zahlungen , Positionen, bei denen die Höhe der tatsächlichen Ausgabe nicht vom freien Willen des Parlaments oder der Regierung, sondern von bestehenden Vertragen oder Gesetzen abhängt, meinten Sie, man könnte damit rechnen, daß dort weniger gebraucht würde, und das meinen Sie dann als Einsparung verkaufen zu können. Ganz abgesehen davon, daß die Berechnungen nicht stimmen, die Sie zugrunde legen, wären Sie nur konsequent gewesen, wenn Sie gesagt hätten: wir wollen hier die gesetzlichen Grundlagen ändern. Aber dazu haben Sie natürlich nicht den Mut, vielleicht auch nicht die Möglichkeiten; das würde uns dann gemeinsam treffen, wenn wir so festgelegt sind, daß wir das nicht können.
Aber Sie haben auch davon gesprochen, man könne das ja alles machen, was wir wollen die Investitionen ankurbeln —, aber das müsse dann zu Lasten der konsumtiven Ausgaben des Staates gehen; so haben Sie sich ausgedrückt. Das spricht sich
alles so schön dahin und daher; nur - man muß
einmal die Dinge durchleuchten -: diese konsumtiven Ausgaben des Staates sind ja kein Selbstverbrauch des Staates. Darüber besteht doch wohl hoffentlich Einverständnis. Das sind — abgesehen von dem großen Block Verteidigung, an dem wir nichts ändern können und wollen -- gesetzliche und vertragliche Leistungen. Und dann erwarten wir eben immer gerne einmal, daß Sie nicht nur reden, sondern daß Sie sagen: Die konsumtiven Ausgaben des Staates müssen da und da eingeschrankt werden. Und dann erwarten wir Ihre Anträge, das Wohngeldgesetz und andere Gesetze zu ändern; denn nur so könnten aus Ihren schönen oder nicht schönen Worten überhaupt Tatsachen werden. Das müssen wir Ihnen immer wieder sagen.
Und schließlich ist es ja lächerlich, wenn Sie sagen, dieses Programm werde im Hinblick auf die Landtagswahlen gemacht. Da will ich Ihnen einmal etwas sagen: Wenn wir das so terminieren würden, dann hätten wir dieses Programm nicht jetzt im Dezember 1974 auf der Tagesordnung, sondern schon im Juni/Juli 1974 auf der Tagesordnung gehabt,
wo es unter den damaligen wirtschaftlichen Gesichtspunkten eben nicht zu vertreten gewesen wäre, wenn wir kurzfristig
— Verehrter Kollege, wirtschaftliche Entwicklungen, konjunkturpolitische Zyklen richten sich nicht
nach Regierungswechseln und Kanzlerwechseln. Das haben wir ja erfahren. Das habe ich Ihnen schon seit Jahren gesagt. Die wirtschaftliche Entwicklung seit 1q69 wäre wahrscheinlich genauso oder, da Sie in den vergangenen Jahren nie etwas Positives hier vorgetragen haben, hinsichtlich der Preise noch schlimmer gekommen, weil Sie sich damals gegen die Aufwertung stemmten.
Aber wir haben uns cinch damals die Frage gestellt: Sollen wir nun eigentlich, nur weil wir wissen, daß die wirtschaftliche Situation schwierig wird, darauf verzichten, nachdem es nun einmal möglich war, unsere politischen Vorstellungen durch die Bildung einer anderen Regierung durchzusetzen? Das werden auch Sie, wenn Sie einmal wieder regieren,
erfahren, daß ihnen der wirtschaftliche Ablauf nicht den Gefallen tut, sich nach Legislaturperioden im Bund oder in Ländern zu richten.
In diesem Zusammenhang noch ein paar Worte zu dem Thema der Verunsicherung. Kollege Müller-Hermann, ich bezweifle nicht, daß es in diesem Lande ein gewisses Maß der Verunsicherung gibt. Nur machen Sie sich, glaube ich, nicht den richtigen Eindruck davon, inwieweit die Politik der Opposition selbst mit zu dieser Verunsicherung beiträgt.
Man müßte hier einmal die Rolle der Opposition untersuchen, wobei ich gar nicht bestreite, daß es auch andere in diesem Lande gibt nicht gerade in der Regierung oder in den Regierungsparteien hier im Parlament —, die zu dieser Verunsicherung beitragen. Darüber sind wir uns völlig klar. Nur machen Sie natürlich immer den Fehler, Randerscheinungen mit Regierungspolitik gleichzusetzen, und dies bewirkt dann die verstärkte Verunsicherung durch Ihre politische Tätigkeit.
Aber die Verunsicherung, das Geschäft mit der Angst, ist doch das Lebenselixier der CDU/CSU, seitdem es sie in diesem Lande gibt.
Schon Reinhold Maier hat von Adenauer als dem großen Angstmacher gesprochen. Da sind Sie eben bewahrte Epigonen in dieser Politik.
Sie haben es für nötig befunden, Kollege MüllerHermann, vor sozialistischen Experimenten zu warnen.
Verehrter Kollege Müller-Hermann, Sie und insbesondere Ihre Kollegen um Herrn Katzer, Herrn Blüm Usw. sollten eigentlich aus Ihrer eigenen Erfahrung wissen, daß wir mit uns sozialistische Experimente
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nicht durchführen lassen. Das war so, das ist so, und das wird so bleiben.
Da brauchen Sie gar nicht zu lachen.
Aber in diesem Zusammenhang vielleicht noch eine Bemerkung: Es ist sicher richtig, daß die Abstinenz im Bereich der Investitionen nicht nur wirtschaftliche Gründe hat, daß sie auch mit bewirkt wird durch die hier schon zitierte Verunsicherung. Das mag zum Teil sogar psychologisch verständlich sein. Aber ich möchte einmal sehr deutlich sagen: Wer meint, über wirtschaftliche Abstinenz politischen Druck ausüben zu können, spielt natürlich auch ein ungeheuer gefährliches Spiel — darüber muß man sich im klaren sein —, bei dem nicht abzusehen ist, wer am Ende Erfolg hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Abschluß noch folgendes zur allgemeinen politischen Würdigung dieser Entscheidungen sagen. Es wird in diesen Wochen und Monaten hier im Lande und draußen in der Welt sehr viel von Weltwirtschaftskrise gesprochen, und es werden viele Assoziationen an die Ereignisse vor gut 40 Jahren geweckt. Ich glaube nicht, daß wir so etwas zu befürchten brauchen, und zwar deshalb nicht, weil natürlich alle Menschen, alle Verantwortlichen in der Welt, aus dem, was damals auf die Weltwirtschaft zukam, wo man solche Erfahrungen noch nicht. hatte, gelernt haben. Gerade in diesem Lande, das ja die bittersten Erfahrungen mit den politischen Folgen der damaligen Lage gemacht hat, ist es, glaube ich, richtig und nötig, daß diese Regierung und die Koalition beweisen, daß sie nicht bereit sind, die Rolle von Brüning zu spielen. Mit dieser Feststellung verbinden wir den Wunsch — dieser Wunsch wird notwendig durch die Art und Weise, wie sich manche von Ihnen hier und draußen im Lande betätigen , daß Sie nicht in die Versuchung geraten, die Rolle anderer Zeitgenossen von damals zu spielen.
Das Wort in der allgemeinen Aussprache wird nicht mehr gewünscht. Wir treten nunmehr in die Einzelberatung ein.
Ich rufe Art. i auf. Wer Art. 1 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Art. 2 auf -- Drucksache 7/2979. Dazu liegt ein interfraktioneller Änderungsantrag auf Drucksache 7/3014 vor. — Das Wort dazu wird nicht. gewünscht. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? Einstimmig angenommen.
Wer Art. 2 in der soeben geänderten Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! Enthaltungen? —
Einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Art. 2 a, 2 b, 3 bis 8 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? Bei 2 Enthaltungen angenommen.
Meine Damen und Herren, wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein. — Das Wort wird nicht begehrt. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei 2 Enthaltungen angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung des Punktes 18 b der Tagesordnung, Drucksache 7/3011. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich rufe Art. 1, 2 und 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — In zweiter Lesung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Meine Damen und Herren, wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich lasse abstimmen über die Ziffern 2 bis 4 des Änderungsantrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/3007. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das zweite ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Damit kommen wir zur Abstimmung über die §§ 1 bis 4 in der Ausschußfassung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
— Enthaltungen wollen Sie wissen?
— Meine Damen und Herren, Zwischenrufe sind hier oben nicht immer zu verstehen. Ich lasse noch einmal abstimmen über die §§ 1 bis 4 in der Ausschußfassung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das erste ist eindeutig die Mehrheit.
Fläche und Besetzung stehen im Hause ungefähr in Übereinstimmung. Es kann also gar keinen Zweifel geben.
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Vizepräsident Dr. Jaeger
Ich komme nunmehr zu Einleitung und Überschrift. Dazu liegt ein Änderungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 7/3007 unter Ziffer 1 vor. Wer begründet ihn?
Er ist schon begründet. Wer wünscht das Wort? — Niemand.
Ich lasse über den Änderungsantrag der CDU/ CSU-Fraktion unter Ziffer 1 abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das zweite ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich lasse abstimmen über Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das erste bleibt die Mehrheit; es ist so angenommen.
Damit kommen wir zur
dritten Beratung.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Mick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wiederhole das, was ich gestern in der Sitzung des zuständigen Ausschusses als Abschluß der Beratungen gesagt habe. Die Beratung dieses Gesetzes und die Methode, mit der es beraten wurde, sind als mieser Stil in diesem Hause unübertroffen.
Begründung: Am vergangenen Freitag, kurz vor Schluß der Plenarsitzung, wurde ein Gesetzentwurf der Koalition zu diesem Thema eingereicht. Von uns wurde keine Fristeinrede erhoben, weil wir der Meinung waren, daß dieses Konjunkturgesetz schnell verabschiedet werden sollte.
Am Dienstag hatten wir das erste Mal Gelegenheit, zu diesem Gesetz in der Fraktion zu sprechen. Wir waren der Meinung, daß wir dieses Gesetz annehmen sollten. Am Mittwoch reichte die Koalition im Ausschuß einen völlig neuen Gesetzentwurf ein, der nicht einmal mehr die Überschrift mit dem alten Gesetzentwurf gemein hatte.
Wir haben im Ausschuß versucht, Motive des ursprünglichen Gesetzentwurfes der Koalition wieder in das Gesetz einzufügen — vergeblich.
Wir stellen weiter fest, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß dem mitberatenden Finanzausschuß bis eine Stunde nach Aufnahme seiner Beratungen nicht einmal die Änderungsanträge bzw. der neue Gesetzentwurf der Koalition vorlagen und man im Finanzausschuß an Hand des alten Koalitionsentwurfs beriet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben es gar nicht nötig, in diesem Fall ideologische Gräben zu ziehen.
Wir haben nur kurz und sachlich festzustellen: Wenn der Kollege Henke davon sprach, daß die Wohnungsbauprämien und die Wohnungsbausparleistung steigende Tendenz haben, dann hätte er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sagen müssen, daß immer weniger dieser Wohnsparbeträge und -prämien auf Dauer in den Wohnungsbau hineinfließen, weil die Bausparer, vor allen Dingen die, die auf Mittel des sozialen Wohnungsbaus angewiesen sind, gar nicht mehr in der Lage sind, ihr Eigenheim, ihre Eigentumswohnung zu bauen.
Wenn das ein Konjunkturgesetz sein soll, dann hätten wir bei Einbeziehung der Eigenheime private Investitionen in weit größerem Umfang anlocken können, als das mit der Regierungsförderung hier der Fall ist. Daß das nicht geschehen ist, hat keine konjunkturellen, sondern ideologische Hintergründe.
Wird noch das Wort gewünscht? — Das ist offenbar nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Wer dem Gesetzentwurf in dritter Beratung in der Schlußabstimmung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. —
Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ohne Enthaltungen mit den Stimmen der Koalition gegen die Opposition angenommen.
Nun gibt es einen Entschließungsantrag auf Drucksache 7/3009. Wird dazu noch das Wort gewünscht? — Herr Abgeordneter Zeyer!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir bitte, den vorliegenden Entschließungsantrag ganz kurz mündlich zu begründen!
Zunächst eine Bemerkung zum Verfahren. Wir sind uns darüber im klaren, daß es sich nicht um die Beratung eines Nachtragshaushaltsplans handelt, sondern um ein Programm nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft. Wir können deshalb auch keine Änderungsanträge stellen, sondern müssen uns darauf beschränken, der Bundesregierung unser Petitum in Form des vorliegenden Entschließungsantrags nahezubringen. Der Bundesregierung steht es allerdings frei, ihr Programm bis zur Zustimmung des Deutschen Bundestags zu ergänzen.
Ich bedauere sehr, daß dieser Antrag im Plenum des Deutschen Bundestags gestellt werden muß. Die Mehrheit von SPD und FDP hat es jedoch gestern im Wirtschaftsausschuß abgelehnt, der Bundesregie-
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Zeyer
rung eine entsprechende Ausschußempfehlung unterbreiten zu lassen.
Im Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie sind u. a. Mittel in Höhe von 108 Millionen DM für eine Fernwärmeschiene Ruhr vorgesehen, außerdem Mittel in Höhe von 50 Millionen DM für eine Demonstrationsanlage für Kohlevergasung. Diese Mittel dienen ausschließlich zur Förderung von Energieprojekten in Nordrhein-Westfalen. Die anderen Bundesländer und auch das Saarland, dessen Wirtschaft viel stärker als die Wirtschaft der Ruhr durch die Steinkohleförderung bestimmt wird, erhalten hiervon keinen Pfennig. Die Bundesregierung darf sich daher nicht wundern, wenn der Eindruck entsteht, daß es sich jedenfalls insoweit in erster Linie um ein Landtagswahlprogramm für Nordrhein-Westfalen handelt.
Sie kann diesen Eindruck nur mildern, wenn sie auch bereit ist, ähnliche Projekte in vergleichbaren Gebieten zu fördern. Ich muß in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß die Arbeitslosenquote im Saarland bereits Ende November 1974 5 % betrug; sie liegt damit erheblich über dem Bundesdurchschnitt. Nach der erklärten Zielsetzung des vorliegenden Programms, die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu entlasten, hätte daher das Saarland wenigstens den gleichen Anspruch auf die Förderung eines solchen beispielhaften Projektes wie das Land Nordrhein-Westfalen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus Zeitgründen verweise ich hinsichtlich der Einzelheiten der geplanten Fernwärmeschiene Saar auf die schriftliche Begründung zu unserem Antrag. Ich kann das Hohe Haus nur bitten, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuschenbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es um Fernwärme, ihre Entwicklung und Förderung geht, laufen Sie bei offene Türen ein. Allerdings bitte ich ganz herzlich darum, nicht mit Unwahrheiten und einer falschen Darstellung der Ausschußberatungen zu operieren.
Wir haben gestern nicht abgelehnt, sondern das genaue Gegenteil getan: Wir seitens des Wirtschaftsausschusses haben dem Haushaltsausschuß empfohlen, sich in seinen Beratungen des Haushalts 1975 dieses Objekts und Projektes anzunehmen. Wir sind recht zuversichtlich, daß dies auch geschieht. Es ist nicht nützlich, Darstellungen aus einer Ausschußsitzung zu geben, die der Wirklichkeit wider- e sprechen und die Zuhörer und Zuschauer täuschen.
—Herr Zeyer, es geht nicht um Meinungsverschiedenheiten über das Objekt — das haben Sie gestern festgestellt , sondern es geht darum, daß Sie auch an dieser Stelle hier bei der Wahrheit bleiben und eine Wiedergabe der Ausschußberatungen geben, die der Wirklichkeit entspricht.
Wir bitten, diesem Antrag nicht zuzustimmen, sondern ihn an den Haushaltsausschuß zu überweisen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! Ich will zu diesem Projekt nur kurz etwas sagen. Sie ersehen aus dem einen Projekt — Energieschiene, Fernwärmeschiene Ruhr —, daß wir uns dieses Problems der Nutzung der Abwärme bei Krafterzeugung annehmen. Es handelt sich bei dem Projekt Ruhr — was Sie schon aus der haushaltsmäßigen Zuordnung ersehen eindeutig um ein Forschungsvorhaben, also nicht um ein normales energiepolitisches Ausführungsvorhaben.
Ich gestehe hier in aller Offenheit, daß mir das Projekt Saar erst durch die gestrigen Ausschußberatungen bekanntgeworden ist
— darf man das denn nicht zugeben, wenn es so ist? --
und daß meine Mitarbeiter und ich — bis jetzt — den Eindruck haben, daß es sich bei diesem Projekt nicht um ein Forschungsvorhaben, sondern um ein energiepolitisches Vorhaben handelt. Da es sich um ein Projekt handelt, das über mehrere Jahre hinweg finanziert werden muß, müßte es daher konsequenterweise auch in den normalen Haushaltsplan 09, also in meinen Haushalt, aufgenommen werden. Hier hat Ihnen der Abgeordnete der sozialdemokratischen Fraktion klar gesagt, daß wir die Sache prüfen.
Nur eines, Herr Zeyer, hätte ich nicht getan: Ich finde, man sollte es sich nicht so einfach machen, zu sagen: Ruhr Wahlen, also macht ihr.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9583
Bundesminister Dr. Friderichs
— Herr Abgeordneter Stücklen, es sind zum selben Zeitpunkt an der Saar auch Wahlen. Dann hätten wir dasselbe also auch dort machen müssen.
— Meine Damen und Herren, es geht im Interesse des Bundesrates viel schneller, wenn Sie mich ausreden lassen. Ich will auch gar keine Polemik, weil die Sache zur Polemik überhaupt nicht geeignet ist.
Nur eines möchte ich sagen: Der Behauptung, wir benachteiligten dadurch das Saarland, muß ich ein Wort entgegensetzen. Wir haben ja mehr als 100 Millionen. nämlich 150 Millionen DM in dem Programm für die Förderung der Investitionen im Steinkohlebereich. Davon geht ein nicht unbeachtlicher Teil, nämlich etwa entsprechend der Kapazität in der Steinkohlenförderung, an die Saar. Und, Herr Abgeordneter Zeyer, ohne dem Ergebnis vorgreifen zu können: Ich habe den Eindruck, daß wir am Ende da landen, daß die Investitionsvorhaben an der Ruhr zu einem Drittel vom Lande Nordrhein-Westfalen mit-
finanziert werden wie wir das bisher immer ge-
macht haben , und daß wir beim Saarland am Ende
auf diese Mitfinanzierung verzichten werden, nicht aus Großmut, sondern weil es angesichts der Haushaltslage des Saarlandes nicht möglich ist, diesen Grundsatz durchzusetzen, den wir bisher hatten, daß sich nämlich Bergbauländer zu einem Drittel an der Finanzierung beteiligen.
Bitte, entnehmen Sie daraus, daß es uns ernst ist um die Sache Energie und daß ich gewillt. bin, zusammen mit meinem Kollegen Apel notfalls auch von diesem Grundsatz der Mitleistung eines Landes abzugehen, wenn wir sehen, daß die Investitionen andernfalls wegen der Unmöglichkeit der Mitfinanzierung des betreffenden Landes nicht zustande kämen. Und dann nimmt es sich eben schlecht aus, wenn man sich hierherstellt, Maßnahmen diffamiert und so tut, als ob das alles auf einen Wahltermin bezogen wäre, obwohl Sie genau wissen, daß in dem anderen Land auch gewählt wird.
Darauf kommt es doch nicht entscheidend an. Es geht bei den 108 Millionen DM für die Nutzung der Abwärme für die Fernwärmeversorgung entscheidend um das Problem, daß hier ein energiepolitisches Vorhaben mit einem hohen Forschungsanteil realisiert wird, und zwar mit dem Ziel, auf Dauer die Abwärme aus Reaktorem, aus Kraftwerken als Wärmeversorgungsguelle zu nutzen.
Aber ich bitte sehr dringend, bei den normalen Haushaltsberatungen zu prüfen, wohin dieses Hans — in dem das Finanzchaos teilweise heraufbeschwört wird -- kommt, wenn wir hier über diese Sache in die Finanzierung eines normalen Energievorhabens einsteigen, die wir bisher nicht vorgenommen haben. Das heißt, hier steht — wenn ich von der Forschung absehe - auch die Grundsatzfrage an, ob der Bund beginnt, derartige Fernwärmeschienen in den Regionen zu finanzieren, wenn sie nicht mehr
zur Forschung gehören, sondern am Ende normale Maßnahmen der Energieversorgung sind. Dies kann man nicht anläßlich der Beratung eines Konjunkturprogramms mitberaten; dies gehört in die Haushaltsberatung. Dort stehe ich Ihnen dafür zur Verfügung.
Wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann, meine Damen und Herren, können wir, da zu Punkt 18 d einschließlich der Entschließung das Wort nicht mehr gewünscht wird, abstimmen.
Ich lasse also abstimmen über den Ausschußantrag zu Punkt 18 d; das ist die Drucksache 7/3008. Wer dem Ausschußantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. Enthaltungen? Mit Mehrheit so beschlossen.
Ich komme zu dem Entschließungsantrag auf Drucksache 7/3009. Es ist beantragt, ihn dem Haushaltsausschuß — federführend — zu überweisen. Ich habe von anderer Seite gehört, daß er dem Ausschuß für Forschung und Technologie zur Mitberatung überwiesen werden soll. -- Ist das Haus mit beidem einverstanden? Es ist so beschlossen.
Es bleibt nunmehr als letztes der Entschließungsantrag auf Drucksache 7/3013, der zu den Punkten a bis cl gemeinsam eingebracht worden ist; es ist ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU. Soli er begründet werden? Er ist schon begründet.
Dann wünscht dazu das Wort der Abgeordnete Offergeld.
Herr .Präsident! Meine Damen und Herren! Wir glauben, nicht über diesen Antrag, über dieses Elaborat abstimmen zu können, ohne daß dazu ein paar Sätze gesagt worden sind. Und wenn für irgend etwas, was heute hier zur Abstimmung steht, das Wort gilt, das von Herrn Mick gebraucht wurde, es sei etwas mies, dann gilt es für diesen Antrag hier.
Hier steht zu lesen, daß die Opposition tief besorgt sei über die ernste Lage auf dem Arbeitsmarkt. Meine Damen und Herren, auch wir sind besorgt über die Lage auf dem Arbeitsmarkt und über die weltwirtschaftliche Situation.
Noch sehr viel mehr sind wir allerdings, Herr Jenninger, besorgt über den Zustand dieser Opposition, der sich hier in dieser Debatte zeigt.
Die Opposition ist nicht willens und in der Lage, hier ernsthaft über eine Analyse der wirtschaftlichen Situation zu diskutieren, auch in den Ausschüssen nicht, und sie ist noch viel weniger in der Lage,
9584 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Offergeld
über die notwendigen Maßnahmen ernsthaft zu diskutieren.
Sie arbeiten hier mit völlig unhaltbaren pauschalen Urteilen, die in der Wirklichkeit nicht zu rechtfertigen sind.
Sie schieben die ganze Schuld an der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Bundesregierung in die Schuhe. Sie tun doch so, als ob die Bundesregierung z. B. für die Explosion der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt zuständig wäre.
Das ist doch nicht nur unser Problem, das ist doch ein weltwirtschaftliches Problem.
Sie haben es hier in der Debatte so dargestellt, als ob z. B. innenpolitische Maßnahmen hier in diesem Lande — von der Steuerreform und von allem Möglichen haben Sie gesprochen— für die wirtschaftliche Situation verantwortlich wären.
Sind denn diese innenpolitischen Maßnahmen für
die Schwierigkeiten in der ganzen Welt draußen
verantwortlich? Sie machen sich doch mit derartigen
) Behauptungen vor jedem lächerlich, der sich die Situation anguckt.
Das sind doch weltwirtschaftliche Probleme, Probleme im Weltmaßstab.
Diese auf innenpolitische Maßnahmen zu reduzieren, ist geradezu lächerlich.
Noch eines muß gegenüber Herrn Müller-Hermann richtiggestellt werden, den wir leider in keiner Beratung der beteiligten Ausschüsse gesehen haben
— wo waren Sie denn, Herr Müller-Hermann? —, der hier behauptet hat, es seien keine Zahlen genannt worden. Die Bundesregierung hat jede Frage, die gestellt wurde, ausgiebig beantwortet.
Ich bitte um etwas mehr Ruhe. Wir kommen dann rascher voran.
Es war auch Zeit für ausgiebige Beratungen. Wir hätten im Ausschuß auch noch einige Stunden mehr beraten können.
— Wir hätten noch eine Stunde mehr beraten können, wir hätten vor allem auch — --
Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal um Ruhe für den Redner bitten. Es ist ja niemandem verwehrt, dem Redner hier von der Tribüne aus zu antworten. Aber ich würde doch bitten, ihm erst einmal zuzuhören.
Es möge einer der Herren von der Opposition, allerdings einer, der bei den Ausschußberatungen dabei war, hier das Gegenteil behaupten. Wir hätten auch noch gern ein paar Stunden mehr beraten, vor allem dann, wenn wir Alternativvorschläge der Opposition zu beraten gehabt hätten.
Was Herr Häfele uns als Alternativvorschläge geboten hat, war zum Teil nicht einmal abstimmungsfähig. Ich stelle hier noch einmal ausdrücklich fest, daß kein einziger Antrag von Oppositionsabgeordneten, der hier zur Diskussion gestellt wurde — da wurde von der Opposition ein Kaninchen nach dem anderen aus dem Zylinder gezogen —,
die Zustimmung aller Abgeordneten der Opposition im Finanzausschuß gefunden hat. Dies muß auch einmal deutlich gesagt werden, um den Zustand der Opposition, was eine Alternative anbetrifft, herauszustellen.
Kurz und gut,
meine Herren, dieser Antrag hier ist ein Elaborat. Wir werden uns an Ihrem Versuch, hier mit Schmutz über die Regierung herzufallen, nicht beteiligen. Darum werden wir nicht der Übung folgen, den Antrag zu überweisen, sondern werden ihn ablehnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller-Hermann.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19, Dezember 1974 9585
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei kurze Bemerkungen. Herr Kollege Offergeld, die Regierung hat für dieses Konjunkturprogramm drei bis vier Monate gebraucht,
und wir werden für die Ausschußberatungen mit vier Stunden abgespeist. Da kommen Sie noch und machen uns hier Vorwürfe.
Das zweite. Wir haben nie geleugnet, daß die Konjunkturentwicklung in der Bundesrepublik auch mit weltwirtschaftlichen Vorgängen zusammenhängt.
Das ist nie bestritten worden. Aber das ändert nichts daran, daß diese Inflation zu einem guten Teil hausgemacht ist, und das ändert nichts daran, daß die Bundesregierung die volle Verantwortung für alles trägt, was hier im Lande vorgeht.
Und das dritte. Hier wird nicht davon gesprochen, daß die Opposition den Ernst der Lage unterstreicht, sondern hier wird gesagt: „Der Bundestag ist tief besorgt über die ernste Lage der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt." Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie sehen sich einer außergewöhnlich loyalen Opposition gegenüber,
die Ihnen auch bei diesem Konjunkturprogramm ebenso wie beim Energiesicherungsgesetz behilflich gewesen ist, in kürzester Frist das zu tun, was Sie für richtig halten. Ich stelle aber erneut fest: Dadurch, daß Sie diesen Entschließungsentwurf mit Ihrer Stimmenmehrheit ablehnen, tragen Sie nicht dazu bei, die Zusammenarbeit mit der Opposition von Ihrer Seite voranzutreiben. Die Regierung scheint immer noch auf dem Standpunkt zu stehen, sie habe die Opposition nicht nötig. Das werden Sie bitter bereuen!
Wird zu diesem Punkt noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Ein Antrag auf Ausschußüberweisung ist nicht gestellt. Ich lasse jetzt also in der Sache über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/3013 abstimmen. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe.
— Das zweite ist die Mehrheit. Der Antrag ist abgelehnt. Ich kann hier doch nicht Wahlergebnisse korrigieren!
— Das Haus ist recht ordentlich besetzt. Auch zum Hammelsprung gibt es keinen Anlaß. Damit ist dieser Punkt der Tagesordnung abgeschlossen.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der NATO-Ratstagung
Ich erteile dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe über das Ergebnis der NATO-Außenministerkonferenz am 12. und 13. Dezember 1974 zu berichten, und ich werde, soweit es in diesem Zusammenhang geboten ist, auch über die Beratungen berichten, an denen mein Kollege Leber teilgenommen hat. Die Konferenz der Außenminister hat sich außer mit einer Reihe von Dauergegenständen mit zwei Hauptthemen befaßt: erstens mit den amerikanisch-sowjetischen Abmachungen von Wladiwostok und zweitens mit dem Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Verteidigungsfähigkeit der Bündnispartner. Die Brüsseler NATO-Konferenz war insoweit mit den bilateralen deutschamerikanischen Gesprächen vom 4. bis 6. Dezember in Washington und der europäischen Präsidentschaftskonferenz der Neun in Paris thematisch verbunden. Darüber ist dem Hohen Hause durch den Bundeskanzler schon berichtet worden. — Man kann heute erneut unterstellen, daß die Konferenzkette der letzten 14 Tage auf das Ergebnis der französischamerikanischen Beratungen in Martinique positiv eingewirkt hat.
Zunächst ein Wort zum Geist der Beratungen in Brüssel. Die zentralen Fragen sind ausführlich und weitgehend in Form eines intensiven Gesprächs im engsten Kreis behandelt worden. Es hat sich erneut gezeigt, daß die Konsultationen im Bündnis seit Verabschiedung der Atlantischen Erklärung wieder ausgezeichnet funktionieren. Meine Damen und Herren, das ist mehr als eine technische Frage, denn auch der Grad der sachlichen Übereinstimmung war hoch.
Die Teilnahme einer Reihe von Verteidigungsministern darunter des Kollegen Leber — am Haupttag der Außenministerkonferenz hat die sachliche Verpflichtung zwischen Außen- und Sicherheitspolitik deutlich betont. Die beiden Teile der Konferenz, nämlich die vorangegangenen Sitzungen der Verteidigungsminister in der Eurogroup, im Verteidigungs- und Planungsausschuß und in der Nuklearen Planungsgruppe und die NATO-Außenministerkonferenz wurden so auch personell miteinander verbunden.
In Brüssel haben wir die verteidigungspolitischen Auswirkungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage umfassend erörtert. Wir sind uns einig, daß wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht nur soziale und auf diese Weise auch politische Schwächungen hervorrufen, sondern auch Gefahren für unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik heraufbeschwören können. Dabei kann es nicht Aufgabe der NATO sein, einzelne wirtschaftliche Lösungen zu erarbeiten
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Bundesminister Genscher
und in die Tat umzusetzen. Dafür gibt es andere Gremien. Es ist aber eine zentrale Aufgabe der Allianz, die möglichen verteidigungspolitischen Folgen zu sehen und abzuwenden.
Gemeinsame Analyse und Solidarität der Verbündeten setzen die Schubkraft der NATO hinter die wirtschaftlichen Lösungsversuche. Wir haben deshalb weitere Konsultationen über die Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen auf Gebieten beschlossen, die in den unmittelbaren Zuständigkeitsbereich des Bündnisses fallen. Die Bundesregierung hat ihren Standpunkt deutlich vertreten, daß die Bewältigung innenpolitischer Probleme nicht auf Kosten der Verteidigungsfähigkeit, der Verteidigungsbereitschaft und des Verteidigungswillens in den Staaten des Bündnisses gesucht werden darf.
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die auch vor dem Hintergrund neuer bedrohlicher Entwicklungen im Nahen Osten gesehen werden müssen, treffen das Bündnis in einer problembeladenen Zeit. Wir befinden uns in einer vielschichtigen komplizierten Phase der Entspannungspolitik. Die amerikanischsowjetischen Absprachen von Wladiwostok enthalten positive Möglichkeiten für die Stabilisierung des Gleichgewichts im Bereich der strategischen Kernwaffen mit einer weiten Ausstrahlung auf das Ost-West-Verhältnis und damit auf unsere Verteidigungs- und auf unsere Entspannungspolitik. Darauf muß sich die multilaterale, aber auch die bilaterale Entspannungspolitik der Bündnispartner einstellen. Der amerikanische Außenminister hat uns das durch einen sehr ins einzelne gehenden Bericht über die fortdauernden Bemühungen der amerikanischen Bemühungen um eine weitere Begrenzung strategischer Offensivwaffen im Lichte der Wladiwostoker Gespräche erleichtert.
Die Bundesregierung und die übrigen Verbündeten der Vereinigten Staaten begrüßen die Chance von Wladiwostok. Ich spreche von einer Chance, denn es handelt sich darum, Vorabmachungen — wenn auch sehr bedeutsame nun in ein befriedigendes SALT-II-Abkommen umzuwandeln. Das eigentliche Abkommen muß also bis zur Unterzeichnungsreife noch verhandelt werden. Dabei können sehr wohl Schwierigkeiten auftreten. Eines ist sicher: Die amerikanische Regierung kann die Verhandlungen im Interesse des gesamten Bündnisses nur dann erfolgreich zum Abschluß bringen, wenn alle Verbündeten auf ihre Weise die Position des Westens abstützen. Daraus ergibt sich eine ganz klare Konsequenz: Die Vorabmachungen von Wladiwostok würden unterlaufen, der Entspannungserfolg würde nicht gefördert, sondern gefährdet, wenn die europäischen Bundesgenossen ihre konventionellen Streitkräfte vernachlässigen würden.
Ich darf an dieser Stelle erwähnen, daß diese Thematik auch in den Sitzungen der Europäischen Gruppe und des Verteidigungsplanungsausschusses behandelt wurde. Das zentrale Thema der europäischen Verteidigungsminister in der Eurogroup war der übereinstimmende Appell, die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung durch konkrete Maßnahmen zu verbessern. Das wurde angesichts der krisenhaften wirtschaftlichen Lage in den meisten Ländern von NATO-Europa einerseits und der wachsenden Rüstungsanstrengungen des Warschauer Pakts andererseits als das Gebot der Stunde bezeichnet.
Um das relative Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West zu erhalten, ist eine Verbesserung der Zusammenarbeit nötig. Dadurch ist eine größere Ausnutzung der beschränkten Mittel, die für die Verteidigung zur Verfügung stehen, möglich. Kooperation setzt aber voraus, daß der dazu notwendige politische Wille in cien Regierungen unserer Länder durchgesetzt wird und daß, davon getragen, konkrete Maßnahmen ergriffen werden. Die Einsicht der Verteidigungsminister in diese Notwendigkeit und die Bereitschaft jedes einzelnen, danach zu handeln, waren erfreulich groß, obgleich Schwierigkeiten verschiedenster Art nicht verkannt werden. Bundesminister Leber hat in beiden Gremien seinen festen Willen erklärt, nationale Sonderinteressen zurückzustellen, um mehr Standardisierung von Waffen und Gerät zu erreichen. Der Eurogroup wird im nächsten Jahr und darüber hinaus eine besondere Rolle dabei zukommen, die Aktivitäten für die praktische Zusammenarbeit zu koordinieren. In ihren Untergruppen müssen die Voraussetzungen dafür, d. h. für Rationalisierung und Standardisierung in den Bereichen Rüstung, Ausbildung, Logistik, um nur einige zu nennen, erarbeitet und entwickelt werden.
Bei der Behandlung der im Frühjahr 1975 zur Verabschiedung anstehenden Ministerrichtlinien für die Verteidigungsplanung der NATO bis zum Jahre 1982 betonen die Verteidigungsminister, daß ein langfristiges Verteidigungsangebot aufgestellt werden müsse, das die gemeinsamen Maßnahmen ermöglicht, die den höchstmöglichen Nutzen aus den verfügbaren Streitkräftestärken und Mitteln gewährleisten. Die Streitkräfteplanung der NATO wird im nächsten Planungszeitraum von fünf Jahren auf der nach wie vor gültigen Strategie der flexiblen Erwiderung und Vorneverteidigung aufbauen. Bestand und Funktionsfähigkeit dieser Strategie setzen das Festhalten an der sogenannten Triade, d. h. der Verzahnung des konventionellen, des taktisch-nuklearen und des strategisch-nuklearen Anteils, voraus. Diese drei Komponenten sind innerhalb des Konzeptes gleichwertig; alle drei sind nötig. Die Minister in Brüssel waren sich deshalb auch einig, auf jeden Fall diese Konzeption beizubehalten. Abschreckung und Verteidigung beruhen wie bisher auf der konventionellen, der taktisch-nuklearen und der strategisch-nuklearen Komponente. Unsere spezielle Aufgabe ist es, an der Aufrechterhaltung einer wirksamen konventionellen Komponente der NATO mitzuwirken. Die Erhaltung der konventionellen Abschreckung das habe ich für die Bundesregierung im Rat der Minister sehr deutlich ausgesprochen — setzt zwei Dinge voraus: daß wir wirtschaftlich stabil bleiben und daß die Völker Europas politisch ihren Willen zur gemeinsamen Veteidigung bewahren und auch bereit bleiben, dafür Lasten auf sich zu nehmen.
Die Bundesrepublik Deutschland handelt entsprechend ihrer Verantwortung auf beiden Gebieten. Wir begrüßen, daß sich nunmehr wenige Tage nach
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Bundesminister Genscher
der Brüsseler Konferenz der amerikanische und der französische Präsident in Martinique über intensive Konsultationen unter westlichen Verbraucherländern zur Vorbereitung eines Dialogs zwischen Produzenten- und Verbraucherländern geeinigt haben.
Was die politischen Voraussetzungen angeht, so würde die beste Verteidigungspolitik wirkungslos bleiben, wenn mit der wirtschaftlichen Stabilität in irgendeinem Land auch seine politische Stabilität verlorenginge. Wir müssen im Gegenteil zeigen, daß die freien Gesellschaften mit allen Problemen unserer Zeit fertig werden. Auch so beweisen wir ihre Verteidigungswürdigkeit. In Brüssel hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß den verbündeten Regierungen eine wichtige Führungsaufgabe in ihren Staaten zufällt. Überall muß das Bewußtsein dafür geschärft werden, daß unser Sicherheitssystem an keiner Stelle geschwächt werden darf.
Das Konzept der NATO verlangt klare Verteidigungsleistungen der Bündnispartner. Nur so kann das Bündnis seine Funktion erfüllen, nämlich die Sicherheit zu schaffen, auf deren fester Grundlage eine realistische Entspannungspolitik allein betrieben werden kann. Eine solche Entspannungspolitik verschweigt nicht die Rüstungsanstrengungen des Warschauer Paktes, sondern sie stellt sich darauf ein. Das hat Herr Kollege Leber in Brüssel deutlich getan, und zwar nicht nur für seine Person, sondern für die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Probleme sind auch die anderen Beratungsgegenstände zu sehen, die bei dieser Ministertagung auf der Tagesordnung standen. Ich meine die Ost-West-Beziehungen, KSZE und MBFR. Was die Ost-West-Beziehungen angeht, so bestand Übereinstimmung, daß in den letzten Monaten Fortschritte, wenn auch — so drückt es das Kommuniqué aus — auf ungleiche Weise, in Richtung auf die Entspannung erzielt wurden. Wir werden unsere Anstrengungen fortsetzen, um in unseren Verhandlungen den Kontakt mit der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Warschauer Paktes das Ost-West-Verhältnis stetig zu verbessern.
Übereinstimmung bestand jedoch auch darin, daß Sicherheit die Voraussetzung für Entspannungspolitik bleibt. Im Hinblick auf das — wie es in dem Kommuniqué heißt — Anwachsen der militärischen Stärke des Warschauer Pakts waren wir uns einig, unsere eigene, auf Verteidigung ausgerichtete militärische Stärke aufrechtzuerhalten.
Zur KSZE haben wir Zwischeninventur gemacht und festgestellt, daß Fortschritte auf verschiedenen Gebieten möglich waren,
andererseits aber noch wichtige Fragen geklärt werden müssen. Die laufende Koordination und Abstimmung innerhalb der NATO über KSZE-Fragen hat sich so gut entwickelt, daß über Einzelheiten eine Diskussion nicht geführt werden mußte. Auf jeden Fall war sich der Ministerrat einig, daß über die dritte Konferenzphase erst entschieden
werden kann, wenn die Substanz der Konferenzergebnisse einen erfolgreichen Abschluß gewährleistet.
Die Qualität der Ergebnisse hat Priorität. Es kommt uns darauf an, praktische Ergebnisse zu erzielen, damit die Entspannung in ihrer Bedeutung für das Leben des einzelnen Menschen sichtbar wird. Das gilt für den Bereich der Verhaltensregeln unter den Staaten, in dem die fortdauernde Zulässigkeit friedlichen Wandels klar zum Ausdruck kommen muß. Das gilt ebenso für die militärischen Aspekte, bei denen die Wechselwirkung zwischen politischer Entspannung und dem Abbau der militärischen Spannungsursachen im Konferenzergebnis zum Ausdruck kommen muß.
Schließlich hat der Bereich der Kommunikation und Information, kurz, der Bereich, der den einzelnen Menschen besonders betrifft, für uns besondere Bedeutung. In der letzten Zeit sind auf diesem Feld zwar Fortschritte erzielt worden, aber immer noch stehen wichtige Fragen offen. Ich darf wiederholen, was ich in diesem Hause anläßlich der Aussprache über die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU über die KSZE gesagt habe: Die Konferenz darf keine Hindernisse für die erklärten Ziele deutscher Politik aufrichten, wie sie z. B. im „Brief zur deutschen Einheit" zum Ausdruck kommen, nämlich auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, und sie darf keine Hindernisse für die Politik aufrichten, die auf die Einigung Europas gerichtet ist.
Deshalb wird die Prinzipiendeklaration der KSZE eine Aussage über die fortdauernde Zulässigkeit friedlicher und einvernehmlicher Grenzänderungen enthalten. Diese Aussage wird klar gefaßt sein, und ich kann hier feststellen, daß die Bundesregierung in dieser für uns so entscheidenden Frage die volle Unterstützung ihrer Partner und Verbündeten hat.
Wenn friedliche, einvernehmliche Grenzänderungen künftig zulässig bleiben, so bedeutet das den Ausschluß gewaltsamer Grenzänderungen. Das entspricht voll und ganz der Politik aller Bundesregierungen, wonach der Gewaltverzicht Grundlage der zwischenstaatlichen Beziehungen sein muß. Deshalb können wir dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen der Prinzipiendeklaration ohne Einschränkung zustimmen.
Zu MBFR haben die Minister ihre Entschlossenheit bekräftigt — ich zitiere aus Ziffer 5 des Kommuniqués —, an der Herbeiführung eines ungefähren Gleichstands in der Form einer vereinbarten übereinstimmenden Höchststärke des Personalbestands der Landstreitkräfte der NATO und des Warschauer Pakts im Raum der Reduzierungen festzuhalten. Das ist eine wichtige Aussage; sie bedeutet: Die NATO hält an diesem eisernen Pfahl ihrer MBFR-Politik fest. Es darf nicht dazu kommen, daß die in Mitteleuropa bestehenden Disparitäten im
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Bundesminister Genscher
konventionellen Bereich festgeschrieben werden. Unser Ziel ist vielmehr, mit MBFR ein ausgewogenes und damit stabileres militärisches Kräfteverhältnis in Mitteleuropa herzustellen, das dem Prinzip der unverminderten Sicherheit für alle Beteiligten Rechnung tragen würde.
Im übrigen hat sich auf dieser NATO-Konferenz gezeigt, daß MBFR als gemeinsame Aufgabe der NATO-Verbündeten betrachtet wird und daß sich alle darin einig sind, daß • die Grundvoraussetzung für einen Erfolg in der Solidarität des Bündnisses liegt. Die Bundesregierung stellt mit Befriedigung fest, daß sich diese Solidarität auch und gerade in den bisherigen Verhandlungen in Wien bewährt hat.
Unter den Verbündeten besteht im übrigen auch völlige Übereinstimmung darüber, daß MBFR weder die bewährte Verteidigungsstruktur im Bündnis noch die Entwicklung einer europäischen Verteidigungszusammenarbeit beeinträchtigen darf. Wir legen deshalb z. B. größten Wert darauf, daß bei künftigen MBFR-Ergebnissen die gemeinschaftliche Rolle des Bündnisses zum Tragen kommt.
Meine Damen und Herren, die Deutschland- und Berlin-Politik war nicht das zentrale Thema in Brüssel. Wir haben keinen Grund, darüber unzufrieden zu sein, denn die Position unserer Partner ist klar und eindeutig. Auf dem traditionellen Vierertreffen am Vorabend der Ratstagung habe ich meine Kollegen aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich über aktuelle Berlin-Fragen und aktuelle Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR unterrichtet. Die Außenminister sind bei allen Themen zu einer übereinstimmenden Wertung gekommen.
Wir haben in der Allianz dann insbesondere den Transitverkehr, die Bindungen zwischen Berlin und dem Bund und die Außenvertretung Berlins durch die Bundesrepublik Deutschland erörtert. Im Schlußkommuniqué bekräftigen alle Partner die Bedeutung des Viermächteabkommens für die Lebensfähigkeit und die Sicherheit der Stadt und betonen, wie schon im Juni in Ottawa, den essentiellen Zusammenhang zwischen der Entspannung in Europa und der Lage in Berlin. Das war auch jetzt wieder eine bedeutsame Aussage des Atlantischen Bündnisses, wichtig für Berlin und wichtig für weitere Fortschritte auf dem Wege zur Entspannung in Europa.
Zum Schluß möchte ich noch auf eine besonders erfreuliche Entwicklung hinweisen. Der neue griechische Außenminister, der zugleich Ehrenpräsident der Ministerkonferenz war, und der türkische Außenminister haben in dieser Konferenz versöhnliche Schritte aufeinander zu getan. Mit unseren Verbündeten sehen wir darin ein gutes Omen für die weitere Entwicklung im südöstlichen Raum des Bündnisses
[CDU/CSU): Atmosphärisch!)
und für die friedliche Beilegung des Zypern-Konflikts. Das ist sicher ein weiterer Beweis für die integrierende Kraft des Bündnisses.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Die NATO-Tagung in Brüssel war sicher eine Tagung ohne Sensationen, ohne Krisenstimmung und ohne Spannungen. Das offenbart, daß sich das Bündnis bei allen Schwierigkeiten politisch in einer guten Verfassung befindet. Auf jeden Fall, meine Damen und Herren, lassen Verlauf und Ergebnisse der Tagung die Erwartung zu, daß die vorhandenen Probleme innerhalb des Bündnisses gemeinschaftlich und solidarisch gelöst werden können.
Das Haus hat die Erklärung der Bundesregierung entgegengenommen.
Bevor ich das Wort weiter erteile, muß ich bekanntmachen: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die Fragestunde unmittelbar nach Abschluß des Punktes 19 der Tagesordnung, also des jetzt behandelten Tagesordnungspunkts, aufgerufen. Im Anschluß an die Fragestunde — ebenfalls unmittelbar — findet eine Aktuelle Stunde statt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Wörner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle stehen unter dem Eindruck, daß die freie Welt vor einer Herausforderung steht, die man ohne Übertreibung als eine Herausforderung geschichtlichen Ausmaßes kennzeichnen darf.
Uns alle bewegen die Fragen ob die Solidarität der Staaten des Westens ausreicht, um die drohende Wirtschaftskrise abzuwenden und besonders gefährdeten Staaten zu helfen, oder ob Inflation, Arbeitslosigkeit, Zahlungsbilanz-Ungleichgewicht nicht eben nur die wirtschaftliche Stabilität, sondern auch die soziale Ordnung und damit die Sicherheit in den Staaten des Westens zerstören, ob die Weitsicht, ob die Kraft im Atlantischen Bündnis ausreichen, um einer neuen Dimension der Bedrohung Herr zu werden, der Bedrohung durch Ölverknappung, durch Rohstoffkrise und Ölwaffe, ob es gelingt, die politische und militärische Erosion des Bündnisses aufzuhalten, und schließlich, ob im Zeichen neuer strategischer Entwicklungen das Bündnis zu einer einverständlichen strategischen Konzeption findet oder ob die Allianz den Anschluß an die Zukunft verliert.
Wer die Ergebnisse der Konferenz in Brüssel an diesen Schicksalsfragen mißt, muß enttäuscht sein. Dies festzustellen heißt nicht, der Bundesregierung die Verantwortung dafür anzulasten. Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich anerkennen, mit welcher Entschiedenheit sich Bundesverteidigungsminister Leber im Kreise seiner Kollegen für die Allianz und ihre Belange eingesetzt hat. Auch der Herr Bundesaußenminister hat auf der Tagung und auch hier in seiner Rede eben Worte gefunden, denen auch wir zustimmen können, wenn ich etwa an seine Warnungen vor der Vernachlässigung der Ver-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9589
Dr. Wörner
teidigungspolitik, der Verteidigungskraft, vor einer Unterschätzung der sowjetischen Rüstungsanstrengungen denke. Ich kann allerdings nicht umhin, zu sagen: Wir von der CDU/CSU hätten uns solche Worte oder, besser gesagt, solche Akzente schon wesentlich früher gewünscht.
Dann wären der Allianz mancher Irrweg und manches Unheil erspart geblieben.
Um so merkwürdiger finde ich es, Herr Bundesaußenminister, daß Sie mit einer sehr optimistischen Feststellung schließen, daß sich das Bündnis nämlich in einer guten Verfassung befinde. Das ist doch einfach nicht wahr. Das ist wieder einmal dieser übliche, amtlich verordnete Konferenzoptimismus, den Ihnen doch nach den Erfahrungen mit der feierlichen Erklärung von Ottawa in diesem Bündnis keiner mehr abnimmt und der uns vor allen Dingen so, wie Sie ihn vortragen, alle nicht weiterbringt.
Jetzt ist nach unserer Auffassung Zeit, die Dinge offen, wenn auch selbstverständlich ohne Übertreibung, anzusprechen und auch von den Schwächen des Bündnisses zu reden, nicht, wie gesagt, um sie zu übertreiben, sondern um einen Ansatzpunkt zu finden, weiterkommen zu können.
Wenn das, was Sie soeben behaupteten, zutrifft — ich habe auf Grund von Informationen, die sogar in der Presse zu lesen waren, gewisse Zweifel daran —, daß die letzte Tagung in Brüssel eine Tagung ohne Sensationen, ohne Krisenstimmung und ohne Spannungen war, dann haben Sie, verehrter Herr Bundesaußenminister, meilenweit an der Wirklichkeit dieses Bündnisses vorbeigelebt und vorbeigeredet. Anders kann man das nicht sagen. Schon allein einer der ersten Sätze des Kommuniqués zeigt doch, daß es im Grunde genommen mit der Allianz nicht ganz so gut stehen kann. Dort ist zu lesen, daß die Minister mit Befriedigung feststellen, daß sich alle Allianzstaaten zu diesem Bündnis bekennen. Wenn alles in Ordnung wäre, warum dann ein solcher Satz schon zu Beginn?
Selbstverständlich gibt es auch in dem Kommuniqué und in den Ergebnissen dieser Tagung das eine oder andere, das auch wir als einen Fortschritt betrachten, als ein Ergebnis, dem wir zustimmen können, so etwa die erneute und klare Bekräftigung der Position bei den MBFR-Verhandlungen. Es bleibt nur zu hoffen, daß wir von diesem Pfad der Tugend nicht abweichen und daß es gelingt, den Westen an diesem Eckstein festzuhalten.
Ich habe Ihrer Erklärung mit Befriedigung entnommen, daß Sie auch bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit offensichtlich nicht oder nicht mehr bereit sind, sich unter Zeitdruck setzen zu lassen. Aber auch hier mache ich darauf aufmerksam, daß nicht alle Erklärungen — etwa die des Bundeskanzlers in Moskau — mit dieser ihrer
jetzigen Feststellung übereinstimmen. Ich kann nur sagen: Halten Sie an dieser Position fest!
Sicher befriedigt auch uns der neuerliche Hinweis in dem Kommuniqué auf den essentiellen Zusammenhang zwischen der Entspannung in Europa und der Lage in Berlin. Aber ansonsten: Wo ist auch nur eine einzige konkrete Entscheidung? Wo ist eine konkrete Verpflichtung etwa zur Aufrechterhaltung der Verteidigungsaufwendungen im Bündnis? Wo ist ein konkreter Beschluß— der dringlichst notwendig wäre — zur Rationalisierung und zur Standardisierung im Bündnis?
Lothar Rühl hat schon recht, wenn er kommentiert: Über die Feststellung hinaus, daß die Verbündeten zusammenhalten müssen, daß die Lage ungünstig, ja, gefährlich und in jedem Fall schwierig zu meistern sei, konnten sich die Minister der 15 Alliierten auf nichts Konkretes einigen.
Gerade in diesem Mangel an Fähigkeit zur gemeinsamen Entscheidung wird das Ausmaß der Krise deutlich, der sich die atlantische Allianz in der Welt gegenübersieht. — Sie aber sagen, das Bündnis sei in guter Verfassung. Ich frage mich: Was verspricht sich die Regierung davon, wenn sie wie auf anderen Feldern — das scheint zum Stil zu werden die Lage auch in diesem Bereich gewaltsam verschönern will?
Ich sage noch einmal: Sie nützten dem Bündnis mehr und Sie nützten vor allen Dingen auch der Sache des Bündnisses in diesem Volk mehr, wenn Sie etwas deutlicher von den Gefahren sprächen, die auf das Bündnis zukommen, wenn es sich nicht auf seine Substanz besinnt.
Auch wir zeichnen ja nicht schwarz. Natürlich ist die NATO immer noch das erfolgreichste Bündnis der freien Welt. Natürlich ist es immer noch eine großartige Sache, daß sich freie Staaten in einem solchen Bündnis zusammengeschlossen haben. Natürlich hat das Bündnis noch — Gott sei Dank noch — die Kraft zur Abschreckung.
Aber Adelbert Weinstein hat nicht Unrecht, wenn er seinen Leitartikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 7. Dezember 1974 überschreibt „Die NATO ist krank". Griechenland ist aus der NATO ausgetreten; der Zypern-Konflikt ist nicht geregelt; der türkisch-griechische Gegensatz paralysiert die Südostflanke des Bündnisses; Italien kann auf Grund seiner wirtschaftlichen Lage nicht mehr die erforderliche Zahl von Soldaten unter Waffen halten; in Portugal sitzen Kommunisten in der Regierung, und der künftige Kurs dieses Allianzpartners ist völlig unsicher.
Dänemark hat seine Verteidigungsleistungen reduziert; auch Holland hat zwar erfreulicherweise von einem Teil seiner Vorhaben Abstand genommen,
9590 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Dr. Wörner
hat aber dennoch seine Verteidigung verringert; Belgien trägt sich mit der Absicht, die Wehrdienstzeit auf sechs Monate herabzusetzen, und auch die Absichten der britischen Regierung sind, auch wenn der Zentralbereich im wesentlichen ungeschoren bleibt, mit der Aufrechterhaltung der Verteidigungskraft im Bündnis einfach nicht zu vereinbaren, allein schon deswegen, weil das Vorhaben der britischen Regierung die globale maritime Präsenz des Westens schwächen muß, weil sie eine Lücke hinterläßt, die entweder von den Amerikanern geschlossen werden muß oder aber in die die Sowjetunion dann eindringen wird.
Was das Vereinigte Königreich vorhat, kann schwerwiegende Folgen auch in den Ländern der Nordflanke haben, etwa in Dänemark und Norwegen,
die im Spannungs- und Krisenfall von Großbritannien Verstärkungen erwarten und erwarten müssen.
Außerdem — das halte ich für den bedenklichsten
Punkt; ich möchte das hier ganz offen aussprechen — muß sich die höchst labile Lage im Mittelmeer weiter verschlechtern. Ich will nicht verhehlen, daß uns von der CDU/CSU-Fraktion die Lage an den Flanken des Bündnisses immer größere Sorgen bereitet.
Ich möchte hier die Hoffnung meiner Fraktion ausdrücken, daß die britische Regierung ihre Absichten noch einmal überprüft, die ja auch im innern Großbritanniens nicht unumstritten sind.
Zu diesen militärischen Schwächen des Bündnisses treten wirtschaftliche Schwierigkeiten und soziale Erschütterungen, welche die demokratischen Ordnungen in den Ländern des Westens harten Bewährungsproben unterwerfen. Kein Zweifel: Europa wird krisenanfälliger. Diesem Europa steht nun eine intensiv und systematisch rüstende Sowjetunion und ein stärker werdender Warschauer Pakt gegenüber, in dessen Selbstbewußtsein und weltweitem Auftreten sich deutlich seine wachsende militärische Macht spiegelt. Es kommt doch nicht von ungefähr, daß in allen Reden, die sowjetische Politiker in letzter Zeit halten, triumphierend darauf hingewiesen wird, daß sich das Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus verschoben habe und daß das die Voraussetzungen für die politischen Erfolge dieses Lager seien.
Dort begreift man noch, meine verehrten Damen und Herren, was man bei uns zu vergessen beginnt: daß der politische Wert eines Bündnisses nicht zuletzt von seiner militärischen Substanz abhängt. Warum rüstet denn die Sowjetunion in einer Zeit, in der alle Welt und auch die sowjetischen Führer von Entspannung reden, in einem Umfang und in einer Konsequenz auf, die doch weit über das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion hinausgehen?
Doch nicht, weil sie morgen einen Krieg führen will,
sondern weil sie sich für Krisenzeiten Einfluß und am Verhandlungstisch Vorteile verspricht.
Ich meine, der Westen ist dabei, mit seinem Zustand der Sowjetunion zusätzliche Chancen für Einflußnahmen einzuräumen. Einer der charakteristischen und der konstanten Züge sowjetischen Politik ist der instrumentale Charakter militärischer Macht im politisch-strategischen Gesamtzusammenhang.
Man muß sich einmal vorstellen, wie eine Krise um Jugoslawien, wie eine Krise um Zypern, um Portugal, um Italien oder irgendwo anders verliefe, wenn es der Sowjetunion wirklich gelänge, sich in eine Position eindeutiger militärischer Überlegenheit hineinzumanövrieren. Die Lage Europas wäre grundsätzlich verändert. Auf der Landkarte Europas würde sich vielleicht keine Grenze verschieben; aber die Dominanz der Sowjetunion im. politischen Geschehen wäre nicht mehr zu beseitigen und nicht anzugreifen.
Darum bleibt die Sicherung militärischen Gleichgewichts in Mitteleuropa eine existentielle Voraussetzung nicht nur für die Politik der Entspannung, sondern für die Handlungsfähigkeit der europäischen Staaten schlechthin.
Diese Zielsetzungen der Sowjetunion zu erkennen und offen anzusprechen heißt nicht, die Sowjetunion zu überschätzen. Natürlich sind auch ihre Möglichkeiten begrenzt; auch sie hat Schwächen. Und darum sage ich: Ob die sowjetische Politik Erfolg hat, hängt in erster Linie von uns ab; das bestimmt der Westen zu einem erheblichen Teil mit seiner Politik selbst.
Gerade das Abkommen von Wladiwostok hat doch gezeigt, daß man dort zu Vereinbarungen auf der Basis der Gleichwertigkeit und der Gleichgewichtigkeit gelangen kann, wo beiden Seiten, also auch der Sowjetunion, klar ist, daß der Versuch, den anderen zu übervorteilen, aussichtslos ist oder zu kostspielig wird. Darum besteht die politisch-strategische Aufgabe des Westens darin, nun den Versuch zu unternehmen, auch im konventionellen Bereich in Europa eine solche Gleichgewichtigkeit zu erreichen. Das aber hängt ganz entscheidend von der Kraft, der Geschlossenheit und der Entschlossenheit
des Westens ab.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9591
Dr. Wörner
Ich meine, eines müßte klar sein: Solange Europa auseinandertreibt anstatt zusammenzuwachsen, solange die Verteidigungsbereitschaft und die Verteidigungskraft in den Ländern des Westens zurückgehen, so lange muß sich doch die sowjetische Strategie in der Richtigkeit ihrer Linie überzeugt sehen, solange gibt es doch keine Chance, die Führer der Sowjetunion von dieser Position und von dieser Politik abzubringen. Erst dann, wenn auch durch die Stärke, Geschlossenheit und Abwehrbereitschaft Westeuropas und des Bündnisses klar ist, daß in diesem Bereich mit militärischen Mitteln, mit Druck, mit Erpressung, mit Drohung nichts zu holen ist, erst dann wird es möglich sein, zu einem klaren, einverständlichen Interessenausgleich zwischen den beiden Fronten zu gelangen.
Sie haben sich zu Wladiwostock geäußert. Ich darf auch für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir zwei Dinge daran als klaren Fortschritt werten. Das eine ist die Festlegung von Höchstzahlen für Waffen im strategischen Bereich. Es ist das erste Mal, daß das gelungen ist.
Das andere ist die Ausklammerung der sogenannten Forward-Based-Systems aus den SALT-Gesprächen. Auch das ist ein Fortschritt.
Dennoch gestatten Sie mir die Bemerkung, daß noch immer — auch nach diesem Abkommen die große Gefahr besteht, daß sich der Rüstungswettlauf im technologischen, im qualitativen Bereich fortsetzt. Es bleibt zu hoffen, daß die weitergehenden Gespräche hier zu einem befriedigenden Ergebnis führen.
Ich meine, es ist an der Zeit, sich in einer solchen Debatte einmal zu fragen, woran die Allianz wirklich krankt. Ich möchte hier vier Ursachen nennen, die nicht erschöpfend sein können, aber von denen ich glaube, daß sie zu einem guten Teil diese Schwierigkeiten bedingen.
Die erste: Die NATO ist ein Verteidigungsbündis, das auf Abwehr militärischer Bedrohung im Ost-West-Konflikt zugeschnitten ist. Nun aber tauchen plötzlich ganz neue Dimensionen der Bedrohung auf, nichtmilitärische Dimensionen der Bedrohung, auf deren Bewältigung das Bündnis nicht eingerichtet ist. Dies gilt von der Wirtschaftskrise, dies gilt von der Ölwaffe, von der Energiekrise, und dies gilt nicht zuletzt auch von den Folgen des Nord-SüdKonfliktes.
Zum zweiten: Das Atlantische Bündnis begrenzt seinen Schutzbereich ausdrücklich auf den geographischen Raurar der Territorien der Allianzstaaten. Lange hat man in der Allianz verständlicherweise gemeint, Krisen außerhalb dieses Bereichs gingen die Atlantische Allianz nichts an. Mit dem Nah-OstKonflikt, mit seinen dramatischen Konsequenzen für das Bündnis wird uns allen auf schmerzhafte Weise bewußt, daß das eine Täuschung war. Die politische Zuständigkeit der Atlantischen Allianz läßt sich nicht auf den militärischen Schutzbereich beschränken.
Die dritte Ursache: Die Schwierigkeiten dieses doch in der Zeit höchster Spannung zwischen Ost und West konzipierten Bündnisses hängen nicht zuletzt damit zusammen, daß im Grunde bis heute das gleichgewichtige Betreiben von Entspannung und Verteidigung geistig wie politisch nicht bewältigt wurde.
Kissinger sah das voraus, als er in seinem Buch „Amerikanische Außenpolitik" schrieb:
Es wird allgemein die Ansicht vertreten, daß die NATO in gleicher Weise ein nützliches Instrument für eine Entspannung wie für die Verteidigung sein kann. Dies ist jedoch zweifelhaft, zumindest solange die NATO in ihrer gegenwärtigen Form besteht. Eine Verwandlung der NATO in ein Instrument der Entspannung könnte ihren Sicherheitsbeitrag reduzieren, ohne zu einem Nachlassen der Spannung zu führen.
Und in der Tat, vieles davon hat sich leider realisiert. Der strategische Zusammenhang von Entspannung und Verteidigung wird zwar im Bündnis verbal immer wieder beschworen, faktisch aber mißachtet.
Entspannung wird in der gegenwärtigen Lage Westeuropas vielerorts auf Kosten der Verteidigung betrieben. Das Bündnis wird auf diese Weise — welch ein Paradoxon zum Opfer seines Erfolgs. Je länger der Frieden andauert, desto mehr Menschen vergessen, worauf er beruht. Dazu tritt häufig eine völlige Fehleinschätzung der sowjetischen Politik und, was uns große Sorgen macht, auch eine Unterschätzung der andauernden ideologischen Konfrontation und Auseinandersetzung zwischen den Blökken.
Der vierte Grund: Mit der strategischen Parität der beiden Supermächte und ihrer Fähigkeit zur wechselseitigen Zerstörung hat sich auch die sicherheitspolitische Landschaft tiefgreifend verändert. Lange hat es gedauert, bis man in den USA und bei uns begriffen hat, daß die strategische Konzeption dieser neuen Sachlage anzupassen ist. Die stärkere Bedeutung konventioneller Verteidigung, die Frage nach der Rolle und dein Einsatz taktischer Nuklearwaffen hissen Gegensätze im Bündnis auftreten, die teils auf eingebildete, teils auf wirkliche Interessenkonflikte zurückgehen.
Was kann und was muß geschehen? Zum ersten: Die NATO muß — so meinen wir — Konsequenzen aus den neuen Dimensionen der Bedrohung ziehen. Sie muß ein umfassenderes Sicherheitsverständnis entwickeln und darf in ihrer Zielsetzung nicht auf den militärischen Bereich begrenzt bleiben.
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Dr. Wörner
Die solidarische Bewältigung der Energie- und Wirtschaftsprobleme durch die Staaten der atlantischen Allianz entscheidet ebensosehr über ihre Zukunft, wenn nicht im Augenblick noch mehr, als ihre militärischen Anstrengungen. Und darum ist gegenwärtig wichtiger als alles andere eine gemeinsame 01-und Energiepolitik des Westens. Auch wir wollen keine Konfrontation mit den ölproduzierenden Staaten, auch wir wollen Zusammenarbeit, wirkliche Zusammenarbeit. Wer aber die Kooperation will, muß in der Lage sein, auch in diesem Bereich eine Konfrontation durchzuhalten.
Das heißt: Das ist nur möglich, wenn es zu einer dauerhaften und gemeinsamen Haltung der NATO-Partner kommt, die dann eine Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit abgeben wird.
Ich sage auch ganz klar: Wir können diese Probleme nicht gegen die USA und auch nicht an ihnen vorbei lösen.
Die jüngsten Beschlüsse der ölproduzierenden Staaten, der sogenannten OPEC, haben wiederum gezeigt, daß es auf die Dauer untragbar ist, dem Preisdiktat dieser Länder hilflos weil ohne Alternativen — ausgesetzt zu sein.
Wir sind sehr dankbar dafür, daß es gelungen ist, eine Verständigung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich zu finden. Wir hoffen, daß sie auch in Krisenzeiten trägt.
Bei der Bewältigung der Wirtschaftsprobleme, der Zahlungsbilanzprobleme in der Allianz ist die Bundesrepublik Deutschland in besonderer Weise gefordert. Wir können und werden uns dieser Verantwortung nicht entziehen, schon deshalb nicht, weil ein Zusammenbruch der Volkswirtschaft irgendeines unserer Nachbarstaaten auch für uns verhängnisvoll wäre. Darum können unsere Verbündeten auch mit Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion nach dem Maße unserer Leistungskraft — mit einem solidarischen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland rechnen. Die Bundesregierung wäre — wenn ich einen Vorschlag unterbreiten darf gut beraten, wenn sie, um ein Beispiel zu nennen, die Initiative meines Kollegen Damm in der Nordatlantischen Versammlung aufgreifen und unterstützen würde, eine Art Marshall-Plan für unsere südosteuropäischen Verbündeten ins Leben zu rufen. Wer allerdings — das muß ich mit aller Deutlichkeit sagen — in einer solchen Situation, in der die westliche Allianz unsere ganzen — auch finanziellen — Kräfte beansprucht, großzügig Kredite nach Osten gibt, schadet nicht nur sich selbst, sondern auch dieser Allianz.
Zweitens. Die NATO hat sich seither — ich sage es mit einem gewissen Bedauern — mehr mit der Bewertung abgelaufener als mit der Vorsorge gegen künftige Krisen beschäftigt. Darum muß die Bundesregierung nach unserer Auffassung darauf drängen,
daß die Krisenplanung und die Krisenvorsorge zu einem künftigen Schwerpunkt der Allianz-Politik werden. Das gilt für mögliche Krisenherde in der Allianz genauso wie für Krisenherde außerhalb der Allianz. Ich nenne etwa Zypern und den Nahen Osten als Beispiel. Wir beobachten — ich glaube, alle — mit großer Sorge, wie sich die Ereignisse im Nahen Osten zuspitzen. Ein neuer Krieg im Nahen Osten, von dem wir hoffen, daß er vermieden werden kann — möglicherweise von einem neuerlichen Ölembargo begleitet —, müßte das Bündnis vor eine Belastungsprobe ohne Beispiel stellen. Auch eine solche Belastungsprobe, meine Damen und Herren, kann nur durchgestanden werden, wenn das Bündnis gerade in der Krise solidarisch bleibt.
Das bedeutet, daß wir auch in einer solchen Lage die Amerikaner nicht im Stich lassen dürfen. Ich sage allerdings ganz klar und deutlich: Dies setzt voraus, daß beispielsweise über die Ölversorgung in einer solchen Lage innerhalb des Bündnisses klare und befriedigende Absprachen getroffen werden.
Auch die Bundesrepublik Deutschland würde ein solcher Konfliktsfall vor unerhörte Probleme stellen. Auch ihre Bewältigung setzt Vorausdenken auf der einen Seite und vernünftiges Zusammenwirken zwischen Regierung und Opposition auf der anderen Seite voraus. Wir sind im Interesse unseres Volkes dazu bereit. Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie die Opposition rechtzeitig an ihren Planungen beteiligen würde. Wir wollen nicht immer nur dann und erst dann Informationen haben, wenn der Regierung das Wasser am Hals steht oder wenn sie unsere Zustimmung braucht. Es wäre gut, wenn wir auch dann informiert würden, wenn es an Vorausdenken und an Planung geht.
Dritter Punkt: Verteidigung und Entspannung müssen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Das heißt nichts anderes, als daß den Verteidigungsanstrengungen in der atlantischen Allianz wieder ein höherer Rang zugemessen werden muß. Die europäischen Staaten müssen aufhören, die Verteidigungsetats als eine Art Reservekasse zu betrachten, aus der man sich in Zeiten der Not für alle anderen Bedürfnisse eben befriedigen kann. Immer noch, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist die Sicherung der Freiheit die erste und wichtigste Voraussetzung jeglicher Sozial- und Gesellschaftspolitik in einer freiheitlich demokratischen Ordnung.
Dazu gehört dreierlei: erstens eine geistig offensive Verteidigung unserer freiheitlich demokratischen Ordnung und ihrer Institutionen und eine eindeutige Absage an jede Art von Wertneutralismus.
zweitens ein klares Ansprechen der Bedrohung und
drittens eine ständige Aufklärung der Bevölkerung
über die Bedeutung der Verteidigung und die Wech-
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Dr. Wörner
selwirkung zwischen Verteidigungskraft und Entspannungsbemühungen.
Wir begrüßen es, Herr Bundesaußenminister, daß Sie dazu in Brüssel wie auch jetzt in Ihrer Rede aufgefordert haben. Und Ihnen nehme ich das ab, genauso wie Herrn Leber. Aber ich kann nur immer und immer wieder sagen: Ihr Bekenntnis wäre wesentlich glaubhafter und Ihre Anstrengungen wären sicher erfolgreicher, wenn Sie endlich einmal auch nur die Mitglieder Ihrer Koalition, die in diesem Hause sitzen, davon überzeugen könnten.
Ich sage Ihnen, lesen Sie einmal die Broschüre „Grundrechte schützen" durch, eine Broschüre, die die Reden, die auf dem Kongreß der Kriegsdienstverweigerer gehalten wurden, zusammenfaßt. Da finden Sie Reden von FDP-Abgeordneten und Reden von SPD-Abgeordneten. Ich lese Ihnen einmal ein paar Sätze vor, etwa des Kollegen Coppik. Da heißt es: „Ich habe keinen Grund, etwa nur hier diese Position darzustellen, denn ich habe nie daran geglaubt, daß Frieden durch Rüstung gesichert werden kann. Ich habe deshalb auch seit meiner Zugehörigkeit zu diesem Bundestag keinem einzigen Wehretat zugestimmt."
Und da kann ich nur sagen: Das ist ein Mitglied Ihrer Partei! Und da wollen Sie das Volk davon überzeugen, daß hier Verteidigungsanstrengungen unternommen werden müssen? Gehen Sie hin und überzeugen Sie Ihre eigenen Leute, dann haben Sie den besten Beitrag dafür geleistet.
Oder was sollen wir davon halten — und auch das ist vor ein paar Wochen passiert; ich könnte diese Beispiele uferlos fortsetzen —, daß der Herr Kollege Möllemann und der Herr Kollege Walkhoff, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Aufruf unterzeichnen, in dem die Auflösung der NATO gefordert wird? Und Sie stellen sich hier und in Brüssel hin und sagen: Wir brauchen die NATO. Ich meine, das geht doch einfach nicht, Sie schaden sich nicht nur sel; ber, Sie schaden uns allen, und Sie schaden der Sache der Verteidigung, wenn Sie nicht endlich über diese wichtigsten Fragen in Ihren eigenen Reihen Klarheit und Geschlossenheit herbeiführen.
Um schließlich einen vierten Punkt zu nennen: Die NATO muß sich auf eine verbindliche und langfristige Strategie verständigen, die auch in Europa das Gleichgewicht der Kräfte als Grundlage ihrer Politik der Verständigungsbereitschaft sichert. Zur Strategie der flexible response gibt es, wir wir alle wissen, keine Alternative; aber diese Strategie muß den veränderten Umständen angepaßt werden. Und das Bündnis insgesamt und besonders die europäischen Staaten — auch darin stimmen wir überein können auf den Dreiklang von konventionellen, taktisch-nuklearen und strategischen Waffen zur Abschreckung und zur Verteidigung nicht verzichten.
Wobei der Gesamtzusammenhang dieser Strategie ebenso wichtig und ebenso unverzichtbar ist, wie die Bedeutung jedes einzelnen dieser Elemente. Keines kann durch ein anderes ersetzt werden. Allerdings hat sich ihre Gewichtigkeit verschoben.
Am dringlichsten ist die Verstärkung der konventionellen Verteidigung. Schlesinger hat es den Europäern in Brüssel ins Stammbuch geschrieben. Er hat ihnen gesagt: Ihr habt in der Vergangenheit eure Verteidigungsetats unter dem Schutz des Atomschirms der Amerikaner anpassen — er meinte: reduzieren — können. Dies ist vorbei, und niemand kann mit einer zukünftigen und dauernden Präsenz der Amerikaner rechnen, wenn die Europäer weiterhin ihre konventionellen Verteidigungsleistungen reduzieren. Die Amerikaner haben es mit Recht satt, mit atomarem Risiko für konventionelle Schwäche in Europa zu bezahlen. Und die nukleare Schwelle wird nicht herabgezogen werden. Auch wir können daran kein Interesse haben. Darum heißt es, alle Mittel darauf konzentrieren, in Europa die konventionelle Verteidigung aufrechtzuerhalten.
Ich glaube, daß man in diesem Licht unseren Antrag wieder aufgreifen muß, das heißt, daß man eben zur Richtschnur seiner Anstrengungen ein Wachstum des Verteidigungsetats machen muß, das sich an dem Durchschnittswachstum des Haushalts orientiert. Ohne Zweifel steht die Bundesrepublik Deutschland in ihren Verteidigungsleistungen besser da als die anderen europäischen Verbündeten. Und, Herr Buchstaller, es wird Sie freuen, was ich jetzt sage, nachdem es schon manchmal Kontroversen im Ausschuß über diese Frage gegeben hat: die Bundeswehr ist insgesamt eine gute und kampfkräftige Armee mit großenteils moderner Bewaffnung. Und dennoch haben auch wir keinen Grund, uns auf die Schultern zu klopfen. Denn auch in der Bundesrepublik Deutschland — Herr Leber, das wissen Sie — geht die Substanz der Verteidigungsleistungen, was den Etat betrifft, allein schon deswegen zurück, weil die Inflationsraten höher sind als die Steigerungsraten. Dies nachzuweisen ist hier nicht die Stunde. Wir sagen noch einmal, jede Minderung der zahlenmäßigen Stärke der Bundeswehr wäre in einer solchen Lage nicht zu verantworten. Das von Ihnen vorgeschlagene Instrument der Verfügungsbereitschaft sollte meinetwegen in Spannungszeiten zur Stärkung der Bundeswehr, aber nicht zu ihrer Reduzierung eingesetzt werden.
Besonders dringlich erscheint uns, wenn ich das in Übereinstimmung mit Ihnen noch sagen darf — Sie haben dazu in Brüssel deutliche Worte gefunden —, die Planung der Standardisierung, Rationalisierung und Spezialisierung im Bündnis auf lange Sicht. Ein konkreter Anstoß wäre hier allerdings fällig. Ich frage: Kann die bestehende Planungsorganisation der Allianz diese Aufgabe kurzfristig lösen? Gibt es eine solche permanente Planungsinstanz, die sich mit den spezifisch europäischen Aspekten der Kooperation der einzelnen europäischen Partner befaßt? Ich erinnere hier an den Vorschlag, den General Steinhoff wiederholt
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Dr. Wörner
gemacht hat und der mir durchaus sinnvoll zu sein scheint. Die Bundesregierung sollte initiativ werden, um im Sinne der von Ihnen geforderten Aktion die NATO-Partner in Europa an die Ergebnisse einer solchen Planung zu binden.
Ehe ich schließe, noch ein kurzes Wort zu den taktisch-nuklearen Waffen. Diese taktisch-nuklearen Waffen stellen als Bindeglied zwischen konventioneller und strategischer Ebene einen unverzichtbaren Bestandteil der Abschreckungslandschaft dar. Ihre Zahl ist sicher kein Dogma. Ihre Modernisierung ist unbestreitbar notwendig. Nur muß jede Veränderung vorher eingehend mit den europäischen Bündnispartnern konsultiert werden, und ihre Zahl muß sich nach rationalen und einverständlichen Kriterien bemessen. Jedenfalls darf eine zahlenmäßige Verringerung auf keinen Fall die Substanz der taktisch-nuklearen Abschreckung in Europa antasten. Bei der Diskussion über eine Einbeziehung dieser taktisch-nuklearen Waffen in die MBFR-Gespräche ist Vorsicht geboten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn die Ereignisse der letzten Monate des letzten Jahres und der Zustand der Allianz eines schlagend bewiesen haben, dann dies: wie dringlich die europäische Einigung politisch, wirtschaftlich und auch militärisch ist. Jetzt wäre an sich die Stunde Europas. Jahrelang haben wir gejammert, es fehle eben der Druck, der uns in den Anfangsjahren zusammengeschweißt hat. Nun ist dieser Druck da. Alles hängt jetzt davon ab, ob Europa in dieser Stunde Staatsmänner von Rang und Regierungen findet, die Kraft, die Mut, die Weitsicht genug haben, um die Vision atlantischer Partnerschaft in die Wirklichkeit umzusetzen, jene Vision, die sich auf eine Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den vereinigten Staaten von Europa gründet. Europa — ich sage das ganz klar — ist heute eine Frage an die Führungskraft der Regierungen geworden. Es mag vermessen erscheinen — leider ist es ja so, daß man sich fast dem Verdacht der Lächerlichkeit aussetzt —, angesichts der auch uns bekannten Schwierigkeiten und Hindernisse auf diesem Weg gerade jetzt von der Vereinigung Europas zu sprechen. Aber angesichts großer Herausforderungen — das ist eine Lehre der Geschichte — vermag nur großes Handeln zu bestehen. Die Lage Europas gestattet uns nicht länger kleinkariertes Handeln, kleinkariertes Denken. Vielleicht gibt uns die Krise die Kraft, die wir im europäischen Alltag der letzten Jahre verloren haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ministertagung des Nordatlantikrates in Brüssel endete mit einem klaren Bekenntnis zum Bündnis. Darüber hatte der Außenminister zuerst zu berichten. Es ist Sache der Diskussion, die Schwierigkeiten aufzuzeigen, in denen sich das
Bündnis zweifelsfrei befindet. Das Bündnis wird sich — darin stimmen wir mit Ihnen überein, Herr Wörner — in den kommenden Jahren in einer politisch veränderten Landschaft bewähren müssen. Wir wissen nur zu gut, daß in den hochentwickelten Industriestaaten Europas die Verteidigungsfähigkeit auf die Dauer von wirtschaftlicher und sozialer Stabilität abhängig ist, denn Demokratien bedürfen bei ihrer Verteidigung des zustimmenden Volkswillens. Europa wäre ohne die Lösung dieser sozialen und wirtschaftlichen Probleme auf die Dauer nur bedingt verteidigungsfähig. Die großen Probleme, die in Brüssel die NATO bedrängt haben, sind also — dies ist im Kommuniqué betont worden — zuerst wirtschaftliche und soziale Probleme.
Ob man, wenn wir nach den Ursachen fragen, mit Ihnen, Herr Wörner, in der Analyse übereinstimmen kann, wage ich zu bezweifeln. Wir müssen es als eine Tatsache hinnehmen, daß eine große Zahl von Bündnispartnern in den letzten Jahren gemeint hat, sie brauchten in den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs notwendige soziale Reformen nicht durchzuführen. Heute ist es so, daß zu diesen fehlenden sozialen Reformen die wirtschaftliche Krise hinzukommt. Dies führt zur politischen Instabilität. Insofern stellt sich die Frage, wie man Gesellschaftspolitik betreibt, um Verteidigungspolitik betreiben zu können. Am besten haben doch die Beispiele von Portugal — und nicht wenige von Ihnen sind ja gern nach Portugal gereist — und von Griechenland — und nicht wenige von Ihnen sind gern nach Griechenland gereist — bewiesen, daß die fehlende demokratische Struktur und die fehlende soziale Struktur unsere Sicherheit gefährden. Nur bei Vorhandensein dieser Strukturen kann unsere Sicherheit garantiert werden.
Gerade deshalb begrüßen wir die Rückkehr Griechenlands zur Demokratie und den Willen Portugals, zur Demokratie zu kommen. Wir begreifen, daß ein Land, das 50 Jahre unter einer sich abendländisch verstehenden Diktatur gelebt hat, dabei größere Schwierigkeiten hat als wir nach zwölf Jahren Diktatur.
Wir haben davon auszugehen, daß die Verteidigungsfähigkeit Europas eng mit einer Lösung der sozialen und der wirtschaftlichen Probleme verknüpft ist. Dies sehen und bejahen heißt, sich auf drei nüchterne Wahrhei ten einzustellen:
1. Das Bündnis erwarten in Europa mehrere Jahre der politischen Instablilität, vor allem im Mittelmeerraum.
2. In dieser Phase darf sich Europa nicht der Panik und der Dynamik der Angst ausliefern. Wir müssen diese Zeit als notwendigen Abschnitt der inneren Erneuerung unserer Demokratien begreifen, denn Europas Einigung ist nur mit wirtschaftlich und sozial gefestigten Demokratien erreichbar. Hier ist entscheidend, ob es in diesem Bündnis Staaten gibt, die für soziale und wirtschaftliche Re- formen ein Beispiel geben können. Dies ist mit eine
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Friedrich
Ursache dafür, daß man heute in Europa auf die Bundesrepublik blickt.
3. In dieser Phase der politischen, der sozialen und der wirtschaftlichen Instabilität hat die Frage der äußeren Sicherheit, der Verteidigungsfähigkeit unter den politischen Prioritäten einen sehr hohen Rang. Hier stimmen wir in diesem Hause überein; denn der Verlust der Balance der Macht würde für unsere Völker mehr bedeuten als Verlust an Lebensstandard.
Wir begrüßen, Herr Außenminister, daß in Brüssel der Zusammenhang vor allem dieser Probleme erkannt worden ist, und wir begrüßen auch die im Kommuniqué zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit, für die Verteidigungsfähigkeit die erforderlichen Opfer zu bringen. Es ist kein Zufall, wenn in der gegenwärtigen Situation unsere Bündnispartner in der Bundesrepublik den nach den USA stärksten Garanten der Sicherheit im Bündnis sehen. Die Bundesrepublik handelt sicher richtig, wenn sie nicht danach strebt, eine Führungsrolle zu übernehmen. Wir werden uns aber auf der anderen Seite einer besonders wichtigen stabilisierenden Rolle im Bündnis nicht entziehen können. Brüssel hat vor allem bestätigt, daß diese sozialliberale Koalition in ihrer Verbindung von wirtschaftlicher Stabilität, sozialer Sicherheit, innerer und äußerer Sicherheit — dieser Vierklang ist notwendig — auf dem richtigen Wege ist. Gerade in diesem Zusammenhang sind Sie von der Opposition her eben nicht kritikfähig.
In der Regierungserklärung der Regierung Schmidt/Genscher steht:
Das Atlantische Bündnis bleibt die elementare Grundlage unserer Sicherheit, und es bleibt der notwendige ... Rahmen für unsere Bemühungen um Entspannung in der Welt.
Wenn ich das Kommuniqué von Brüssel, Herr Außenminister, sorgfältig lese, stelle ich fest, daß Punkt 2, der fundamentale Punkt des Kommuniqués, genau diese Position enthält. Herr Wörner, Sie werden sich mit Reden aus den früheren Jahren nicht an der Tatsache vorbeischleichen können, daß Sie zu den fundamentalen Positionen unseres wichtigsten Bündnispartners kein Verhältnis haben.
Ich darf diesen zweiten Punkt einmal zitieren:
Die Minister prüften die Entwicklungen in den Ost-West-Beziehungen. Sie nahmen Kenntnis von den Fortschritten, die — wenn auch auf ungleiche Weise — in den letzten sechs Monaten in Richtung auf die Entspannung erzielt worden sind. Sie erklärten ihre Bereitschaft, ihre Anstrengungen fortzusetzen, um in ihren Verhandlungen und Kontakten mit der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Warschauer Paktes, die das Ziel verfolgen, das Ost-West-Verhältnis stetig zu verbessern, Fortschritte zu erzielen.
Dies ist der Wille des Bündnisses. —
Indem sie jedoch das Anwachsen der militärischen Stärke des Warschauer Paktes zur Kenntnis nahmen und die Tatsache berücksichtigen, daß Sicherheit die Voraussetzung für die Entspannungspolitik ist, brachten sie ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, ihre eigene, auf Verteidigung ausgerichtete militärische Stärke aufrechtzuerhalten.
Sie haben sich um den fundamentalen Punkt des Kommuniqués einfach herumgeredet. Insoweit wären Sie heute als Regierungspartner nicht bündnisfähig, wenn Sie sich dieser Position nicht anschließen können.
Insoweit von einem Irrweg zu reden, Herr Wörner, und hier so zu tun, als ob wir den Etat in Großbritannien, in den Niederlanden, in Belgien und in Dänemark beschließen könnten, dies kann nur eine Opposition tun, die jahrelang internationale Politik aus parteipolitischem Interesse betrieben und nicht die Notwendigkeit beachtet hat, daß man in der internationalen Politik auch die Interessen und die Möglichkeiten der anderen berücksichtigen muß.
Sie sagen immer: erst dann, erst dann, erst dann! Und nachher — das werden wir vielleicht heute nachmittag in der Aktuellen Stunde hören — sagen Sie: zuwenig, zuwenig, zuwenig! Sie sind hier nicht weit von Herrn Filbinger entfernt
der als Ministerpräsident im Bundesrat den Grundlagenvertrag abgelehnt hat, aber sich zur Imagepflege gerne mit den Ergebnissen des Grundlagenvertrages fotografieren läßt.
Im Grunde genommen leidet die Opposition an einem Knochensyndrom. Sie haben 15 Jahre in der Entspannungs- und Sicherheitspolitik, Herr Marx, immer nur einen Knochen gehabt: es war nichts da! Jetzt, wo die Dinge auf dem Weg sind und etwas Fleisch da ist, sagen Sie: Uns ist zuwenig Fleisch da, zuwenig Fleisch, zuwenig Fleisch!
Sie müssen endlich Ihr Knochensyndrom aus der Zeit des Kalten Krieges überwinden.
Darum müssen Sie sich bemühen.
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Die USA sind es, die in erster Linie mit uns nach Abmachungen streben, die die Gefahr der Konfrontation vermindern, ohne daß eine Seite einseitige Vorteile erzielt. Dies ist doch der Kernpunkt der Entspannung. Dabei ist sowohl den USA als auch der Bundesrepublik Entspannung keine militärische Einbahnstraße. Wie stark sich die Vereinigten Staaten heute darum bemühen,, durch ein Netz von Verträgen auf allen Gebieten der Politik diese militärische Entspannung zu begleiten, erkennt man daran, daß seit 1933, dem Jahr der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, beide Staaten gut 100 Verträge abgeschlossen haben. Allein seit 1971 sind fast 50 Verträge abgeschlossen worden. Sie haben überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, was sich heute in der Welt zwischen den USA und der Sowjetunion in den Fragen der Entspannung und der Normalisierung der Beziehungen tut.
Wie wollen Sie das im Bündnis aufrechterhalten, wenn Sie meinen, wir könnten als Insel des Kalten Krieges in Europa überleben?
Es geht auch nicht um ideologische Annäherung. Herr Wörner, wenn Sie aus irgendeinem Buch Kollegen zitieren, — na, das sind junge Menschen, die auf dem Wege sind.
Wenn der Kanzlerkandidat in spe Strauß von einer „Operettenarmee" spricht: ist das eine Bagatellfrage?
Entspannung ist für uns nicht Schwäche oder Beschwichtigungspolitik, weil wir zu keiner Stunde einer einseitigen Abrüstung das Wort geredet haben. Wir werden es nicht zulassen, daß sich das Gleichgewicht der Kräfte verschiebt.
Die Union tut sich noch immer schwer, diesen Weg der Entspannung zu akzeptieren, und wer eines Beweises bedurfte, der brauchte Ihnen, Herr Kollege Wörner, nur zuzuhören.
Vor allem müssen wir sehen, das SALT, KSZE, MBFR nicht die Preisgabe der NATO sind, sondern Elemente eines neuen Sicherheitssystems, die sich langsam entwickeln. Hier stimmen wir mit unseren Partnern völlig überein, und wir sind auch entschlossen, unsere Position nicht leichtfertig, gerade in Sicherheitsfragen, preiszugeben. Diese Konferenzen sind Teile eines notwendigen Systems von Ost-West-Verhandlungen. Sie sind Teile einer Schritt-um-Schritt-Politik; anders ist Entspannung überhaupt nicht möglich.
Davon ausgehend wissen wir, daß Europa mit konventionellen Waffen allein nicht verteidigt werden kann. Wir bedürfen des taktisch-nuklearen und auch des strategischen Schutzes. Das sind für uns bei den Verhandlungen über MBFR unverzichtbare Ausgangspositionen. MBFR muß langfristig gesehen
werden, und wir müssen MBFR aus der Einigkeit des Bündnisses heraus angehen.
Wer die Situation — und wir wollen uns kritischen Situationen durchaus stellen — bei den MBFR-Verhandlungen am Anfang und heute vergleicht, der kann nicht verschweigen, daß der Westen durch ökonomische Einsparungen in den nationalen Budgets bereits eine gewisse Reduzierung vorgenommen hat. Es wäre ein schlechter Zug, und die Entspannungspolitik würde unglaubwürdig werden, könnte der Eindruck entstehen, daß die Sowjetunion meint, warten zu können, weil sich die Verteidigung des Westens ohnehin reduziert. Das würde Entspannung unglaubwürdig machen, und deshalb erwarten wir, daß bald ein Fortschritt bei MBFR erfolgt.
Was ist denn die Alternative der Union, zu dieser Entspannungspolitik? Der Ministerrat, Herr Wörner, hat das Ergebnis von Wladiwostok ausdrücklich als Chance begrüßt. Sie haben in Ihrem Aufsatz über die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen festgestellt, daß dieser Bilateralismus negative Folgen für das Bündnis habe, und Sie befürchten, daß sich die USA von Europa entfernen. Ich frage mich nur, nachdem ja in jeder Zeitung zu lesen ist, daß Herr Strauß Kanzlerkandidat werden soll, wer nun die Richtung in der Union bestimmt. Wer ist denn zuständig für Sicherheitsfragen, Sie, Herr Wörner, oder Herr Strauß?
Unlängst sind Sie hier ans Pult getreten und haben sich von einer Erklärung des CSU-Vorsitzenden Strauß distanziert. Sie sagten: Wollen wir doch das mit dem Bündnis gemeinsam halten. Aber ich nehme an, Herrn Strauß hat das — —
— Lassen Sie mich ausreden, dann können Sie gleich noch eine Frage stellen, weil ich mich nochmals auf Sie beziehen muß. Nachdem Sie hier gesprochen hatten, Herr Wörner, hat der „Bayernkurier", Herausgeber Franz Josef Strauß
— das ist eine Zeitung, die man niedriger hängen muß, damit jeder weiß, welches Niveau sie hat, Herr Hupka —, einen Artikel veröffentlicht: „Stärkung der NATO durch Teilen". Da heißt es wörtlich — Herr Präsident, wenn ich die CSU-Zeitung zitieren darf —:
Die Gralshüter der reinen NATO-Idee, wie sie nicht einmal vor 25 Jahren in der Gründerzeit ganz realistisch war, verdächtigen die Thesen des Franz Josef Strauß über eine Zweiteilung der Destruktion. Derlei NATO-Pathos
— „NATO-Pathos", Herr Wörner! —
aus der Mottenkiste gibt sich mit Bekundungen und Beschwörungen zufrieden. Es hängt dem Irrglauben an, daß ein mühsam zusammengefügtes Kommuniqué genügt, den inneren Halt
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9597
Friedrich
zu garantieren. Gerade an eine NATO der pathetischen Deklaration will Franz Josef Strauß nicht glauben. In 15 Jahren hat sie die Kluft zwischen amerikanischen Absichten und den europäischen Bedürfnissen nicht zu überbrücken vermocht ... Schlesingers öffentlicher Ausspruch,
— und Sie haben ja nun von Schlesinger gerade gesprochen —
daß den Deutschen eine Führungsrolle im Bündnis zukommt, war nicht ohne zynische Demagogie.
So der „Bayernkurier".
Dieser Köder ist verbunden mit einer ernsthaften Entfremdung mit Frankreich. Mit der verbalen Aufwertung der deutschen Militärmacht will der US-Verteidigungsminister zusätzliche Bewegung in das marode Bündnis bringen. Das amerikanische Kalkül geht dahin, mit dem Lob für Bonn die Deutschenfurcht bei den kleineren Partnern zu wecken, die ihre Verteidigungsbudgets einzuschränken gedenken.
— Ihnen ist es unerträglich, daß man den „Bayernkurier" hier zitiert.
Ich bin auch der Meinung, ich sollte Schluß machen.
— Herr Wörner, Sie müssen mich die Sache zu Ende führen lassen.
Wenn, um dies politisch zu untermauern, Herr Strauß in Frankreich mit der Seidel-Stiftung Komitees gründet, mit ihm als Präsidenten und einigen Spätgaullisten, darunter Herrn Otto von Habsburg als einen der führenden Leute, um diese neue Ara einzuläuten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Über eine solche Vorstellung wird die Geschichte genauso hinweggehen, wie sie über jene hinweggegangen ist, die in Portugal ein Beispiel für das Abendland errichten wollten.
Dies ist doch nicht der Weg Europas in die Zukunft. Hier möchte ich ein weiteres Zitat bringen: Ihr Versuch, die NATO hier zweizuteilen, schlägt Gott sei Dank in Frankreich selbst fehl. Raymond Aron, der kein unwichtiger Mann ist, hat zum Ergebnis von Martinique erklärt — wenn ich zitieren darf —:
Das Ergebnis des Martinique-Treffens ist hervorragend, doch war es vorhersehbar, und es ist von einem doppelten Aspekt gekennzeichnet: erstens der Aspekt der persönlichen Beziehungen, die nun entspannter wurden, und zweitens das formelle Problem, das Frankreich und die USA trennte. Man erreichte einen Kompromiß, der im übrigen teilweise im voraus durch den deutschen Bundeskanzler Schmidt vorbereitet worden war ... Das Ergebnis des Martinique-Treffens scheint mir wichtig zu sein;
denn in erster Linie sind wir Mitglieder der Atlantischen Allianz.
Die Zeit des Spätgaullismus, Herr Wörner, ist zu Ende; sagen Sie das einmal Ihrem Kanzlerkandidaten Strauß.
Herr Abgeordneter, es haben sich inzwischen drei Abgeordnete gemeldet, die Sie mit Zwischenfragen erfreuen wollen, als erster Herr Abgeordneter Dr. Wörner. Sind Sie bereit?
Ja, natürlich!
Herr Abgeordneter Dr. Wörner.
Herr Kollege Friedrich, ich möchte Ihr bayerisches Trauma, das ja verständlich ist, nicht unterbrechen. Ich habe lediglich die Frage, weil Sie schon etwas von mir zitiert haben, und zwar völlig verdreht, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls im Protokoll des Deutschen Bundestages nachzulesen, daß ich bei dieser Intervention, auf die übrigens dann der Herr Kollege Mischnick geantwortet hat, nichts anderes getan habe, als die Frage an Sie und an die FDP zu richten, ob die von Herrn Strauß vertretene Überzeugung, daß atlantische Partnerschaft auf zwei Säulen ruhe, nicht das gleiche ist, was Kissinger, was Präsident Kennedy, was Amerikaner und Deutsche und was Bundesregierungen, auch der SPD, nun seit Jahren fordern.
Herr Wörner, was Herr Strauß in seiner Zeitung nach Ihrer Erklärung hier hat schreiben lassen, zeugt von einer anderen geistigen Auffassung. Dies können Sie doch einfach nicht umgehen.
Es wäre für uns wichtig, zu erfahren, welche Verteidigungskonzeption und Sicherheitskonzeption sie als CDU/CSU haben; die des Herrn Strauß oder die des Herrn Wörner. Das ist das Problem.
Allein die Worte „Teilung der NATO" müssen doch die Isolationisten in den USA beflügeln. Hier wird doch das Bündnis auseinandergerissen in einer Zeit, in der Geschlossenheit am dringensten notwendig wäre.
Frankreichs Staatspräsident hat dies in Martinique begriffen, und wir begrüßen das.
Ich möchte noch etwas zur Bundeswehr sagen — —
9598 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, weitere Zwischenfragen entgegenzunehmen?
Nein, danke schön. Ich möchte weiterreden. Wenn Sie nicht weiterwissen, dann kommt bei Ihnen immer das Stichwort Jusos.
Das ist Ihr letzter Strohhalm. Eigentlich sind Sie nur dank der Jusos oppositionsfähig, offensichtlich, nur dank der Jusos;
sonst ist nichts da.
Herr Abgeordneter Friedrich, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt weitersprechen.
Keine Zwischenfragen. Ich bitte die Herren, wieder Platz zu nehmen.
Ich komme mit meiner Zeit
sonst nicht mehr aus ich bitte um Verständnis.
Die Bundeswehr befindet sich in einem guten Zustand Herr Wörner, Sie haben dies ja auch hier über mehrere Passagen hin bestätigt —, weil, seitdem die sozialliberale Koalition regiert,
die Bundeswehr über Jahre skandalfrei geblieben ist, weil unter dem Verteidigungsminister Schmidt eine moderne Reform eingeleitet worden ist und weil sich die Bundeswehr unter dem Verteidigungsminister Leber konsolidieren konnte.
Dies ist eine Leistung, und insoweit können Sie heute zustimmen. Sie haben ja Herrn Weinstein zitiert. Ich hätte ihn nicht zitiert, jetzt will ich es. Herr Weinstein hat vor zehn Tagen — lesen Sie es nach auf der ersten Seite der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" — geschrieben: Die Bundeswehr war noch nie in einem so guten Zustand wie jetzt.
Wir begrüßen, daß in Brüssel in der Frage Berlins volle Übereinstimmung erzielt worden ist. Wir wissen auch, daß allein schon der Gedanke der Teilung der NATO die Situation Berlins gefährden müßte. Das muß hier hinzugefügt werden. Das rasche Ab-
flauen des Streits um das Umweltamt beweist, daß die Sowjetunion den Berlin-Vertrag nicht gefährden will.
Eine außenpolitische Diskussion kann an der Situation im Nahen Osten nicht vorbeigehen. Dieser Konflikt ist längst nicht mehr ein nur regionaler Konflikt. Kommt es nicht bald zu einer friedlichen Lösung, dann kann die mögliche Katastrophe uns mit erfassen. Wir sind hier nicht Zuschauer im Logenplatz Europas.
Der israelische Staat sieht seine Existenz bedroht, vor allem auch deshalb, weil heute zu sehen ist, daß auch bei militärischen Erfolgen Israel allein aus ökonomischen Gründen einen ständigen Spannungszustand nicht ertragen kann. Die PLO ist zweifelsfrei durch die Entscheidung von Rabat und durch Arafats Auftreten vor den Vereinten Nationen heute als politischer Faktor vorhanden, auch anerkannt. Nur, sie ist ein für uns noch unberechenbarer Faktor, und wir wissen nicht, ob sie in diesem gefährlichen Spannungsraum ihrer Verantwortung gerecht werden kann, ob sie jene Reife erreicht hat, die ein Partner heute haben muß.
Die Bundesregierung hat in der Debatte der Vereinten Nationen durch die Rede des Botschafters von Wechmar versucht, dieser neuen Situation gerecht zu werden. Dabei räume ich ein, Herr Außenminister, daß, wenn man im Einvernehmen inil den Neun handelt und manche Positionen sieht, bestimmte Einzelpositionen aus unserer deutschen Situation heraus nicht so deutlich werden können. Wenn wir also dieses Einvernehmen mit den Neun bejahen, ist es, meine ich, Sache des Parlaments, auch einzelner Parlamentarier — ich möchte sogar sagen: es muß ihre Pflicht sein —, bestimmte Dinge zu klären und zu erkunden. Ich möchte in diesem Zusammenhang vier Positionen ganz klar herausstellen.
Erstens. Soweit es um Israel geht, kann Europa, kann vor allem Deutschland der Zukunft Israels nicht gleichgültig gegenüberstehen. Das jüdische Schicksal — von Dreyfus bis Auschwitz — legt Europa eine große Verpflichtung auf, die nicht nur eine moralische, sondern auch eine politische ist. Ich sage dies im Wissen darum, daß dies für uns sehr schwerwiegen kann. Aber würden wir Israel in einem Konflikt seiner möglichen Auslöschung überlassen, würden wir in unserem eigenen humanistischen Selbstverständnis fragwürdig werden müssen.
Zweitens. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein traditionell gutes Verhältnis zu den Arabern und zu den arabischen Staaten, und wir wollen nicht, daß es über dem Israel-Konflikt zerbricht. Wir wissen, daß die Palästinenser-Frage heute eine Frage ist, die politisch gelöst werden muß und nicht allein karitativ gelöst werden kann.
Drittens. Ein Konflikt im Nahen Osten entscheidet möglicherweise über unsere wirtschaftliche Existenz. Denn mehr als die USA sind die europäischen Industriestaaten ohne die Energie des Nahen Ostens nicht lebensfähig. Deshalb haben wir an einer end-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9599
Friedrich
gültigen Friedensregelung ein vitales Interesse. Aus Existenzgründen Europas kann für uns der Nahe Osten nicht nur ein den Großmächten vorbehaltener Raum sein.
Viertens. Wer von einem Lebensrecht der Palästinenser in einem Staat spricht, kann nicht mehr nur noch von einer politischen Garantie für die Existenz des Staates Israel sprechen. Eine glaubwürdige Sicherheitsgarantie der Grenzen ist notwendig. Sicherheitsgarantie heißt militärische Garantie, und sie kann heute, so, wie der Zustand der Vereinten Nationen ist, nicht mehr von den Vereinten Nationen glaubwürdig gegeben werden. Das heißt, hier — und man wird anfangen müssen, darüber zu sprechen — sind die Großmächte gefordert, und hier ist möglicherweise auch Europa gefordert.
Vor diesem Hintergrund sehen und beurteilen wir die Reise des CDU-Abgeordneten Dr. Schröder. Wir haben zur Sache gestern kein Wort gesagt. Wir waren nur überrascht. Ich habe gestern früh Herrn Stücklen in seiner ganzen Vitalität gehört. Da habe ich immer gedacht: Jetzt ist der Kollege Schröder einer wie ein Sozialdemokrat vor zwei Jahren bei den Ost-Verträgen.
Da wird sichtbar, in welche Schwierigkeiten Sie kommen, wenn Sie bestimmte Dinge nur aus parteipolitischem Interesse heraus behandeln. Ich will das nicht der CDU und nicht Ihnen, die Sie den Kopf schütteln, unterstellen, aber lesen Sie doch bitte einmal nach — das ist doch möglich , was Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender gestern morgen gesagt hat.
Die Union ist ein wenig in Schwierigkeiten gekommen. Sie werden sich eben doch daran gewöhnen müssen, daß man Außenpolitik, vor allem in so schwierigen Situationen, nicht nur unter parteipolitischen Interessen behandeln kann. Sie sind vielleicht auf dem Weg. Die Regierung ist durch die Stärke der Koalitionsfraktionen in der Außenpolitik handlungsfähig.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir über den Nordatlantischen Verteidigungspakt sprechen, dann befassen wir uns mit einem der wesentlichsten Probleme in der Aufrechterhaltung jener freiheitlichen Grundordnungen, nach denen die in diesem Pakt zusammengeschlossenen Staaten ihre innere Ordnung gestaltet haben.
Damit sind wir an einem der ganz entscheidenden Punkte für die Politik innerhalb der westlichen Welt und die Bewahrung jener Werte, von denen ich eingangs andeutend gesprochen habe. Nur, Herr Wörner: Wenn hier vorhin in Ihren Ausführungen davon die Rede war, der Bundesaußenminister habe einen bei Konferenzen üblichen Zweckoptimismus angewandt, dann frage ich mich, Herr Wörner, ob Sie nicht genau das Gegenteil tun, nämlich den
Pessimismus zum Stil der politischen Auseinandersetzung zu machen.
Ich will versuchen, das an einigen Beispielen aus Ihren eigenen Ausführungen zu belegen.
Sie haben zunächst einmal zitiert falsch zitiert
— aus den Ausführungen des Bundesaußenministers, indem Sie gesagt haben, der Bundesaußenminister habe hier erklärt, daß sich das Bündnis in einer guten Verfassung befindet. Ich darf Sie daran erinnern, daß der volle Wortlaut dieses Satzes lautet:
Das offenbart, daß sich das Bündnis bei
allen Schwierigkeiten politisch in einer
guten Verfassung befindet.
Das, so meine ich, ist gerade eine exakte Darstellung der Situation, in der sich das Bündnis befindet.
Das sollte nicht aus der Welt geredet und durch unvollständige Zitate als Zweckoptimismus bezeichnet werden.
Sie haben weiter mit einer sehr leichten Formulierung gesagt, Griechenland sei aus dem Atlantikpakt ausgetreten — Punkt. Meine Damen und Herren, wenn wir die tatsächliche Situation Griechenlands ins Auge fassen, können wir nicht sagen, Griechenland sei aus dem Atlantikpakt ausgetreten. Zum NATO-Bündnis gehört auch der Atlantikrat. Ich brauche Ihnen, Herr Wörner, ja wohl nicht zu sagen, daß Griechenland nach wie vor an den Debatten dieses Paktes teilnimmt und daß die Frage eines endgültigen Austritts zumindest noch offen ist. Deswegen wehre ich mich gegen solche Darstellungen, die die Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft des Atlantischen Bündnisses in einer Weise in Frage stellen, die politisch von uns allen aus gesehen nicht gut und nicht wünschenswert sein kann.
Wenn Sie dann eine Reihe von negativen Aspekten in anderen Partnerländern aufgeführt haben, dann würde ich doch auch gerne einmal nüchtern dagegengestellt sehen, was gerade in einer solchen Aufzählung von negativen Aspekten gleichzeitig an Lob für die Bundesregierung und ihre Verteidigungspolitik in diesen letzten sechs Jahren enthalten ist.
Es ist doch nicht so, daß man das einfach aus der Welt reden kann. Fragen Sie doch einmal die anderen Mitglieder des Paktes und lesen Sie auch die jüngsten Presseveröffentlichungen über die NATO-Tagung in Brüssel, was über den Zustand der Bundeswehr und über die Bereitschaft der Bundesrepublik unter dieser sozialliberalen Koalition zur Leistung ihres Verteidigungsbeitrages gesagt worden ist.
Das schaffen Sie, Herr Wörner, auch damit nicht aus der Welt, daß Sie einzelne Abgeordnete dieses Hauses zitieren und meinen, Sie könnten mit solchen Zitaten darauf hinweisen, daß diese Regierung —
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weder nach außen noch nach innen — nicht in der Lage sei, von ihrer festen Absicht zu überzeugen, vollgültiges und voll wirksames Mitglied dieses Verteidigungspaktes zu bleiben.
Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang einen Fehler nachweisen. Sie haben aus meiner Fraktion den Abgeordneten Möllemann zitiert und gesagt, er habe eine Erklärung unterschrieben, die auf die Auflösung der NATO abziele. Ich sage Ihnen dagegen: Es gibt eine Erklärung des Abgeordneten Möllemann, daß er nach sorgfältiger Prüfung nachträglich eingereichter Unterlagen seine Teilnahme an dem Kongreß für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit zurückziehe, und zwar, weil er nicht glaube, Herr Wörner, daß der Kongreß den Zielsetzungen der Friedenssicherung und Abrüstung in dem Sinne diene, wie er sie als liberaler Abgeordneter im Bundestag unterstütze.
— Aber würden Sie bereit sein, Herr Wörner, mir abzunehmen, daß Herr Möllemann diese seine Bereitschaft zur Teilnahme an diesem Kongreß und damit auch seine Unterschrift unter diesen Aufruf zurückgezogen hat?
Aber das alles sind ja gar nicht die entscheidenden Fragen. Die entscheidende Frage ist doch die, ob diese Koalition, ob diese Bundesregierung eine Verteidigungs- und Entspannungspolitik betrieben haben, die ihrer Aufgabe auch im Atlantischen Bündnis gerecht geworden ist. Das ist nun schlechterdings nicht zu bestreiten; das ist eine Tatsache, die von allen unseren Verbündeten anerkannt wird. Ich meine, auch die Opposition dieses Hauses sollte bereit sein, das in einer solchen Situation einmal nachdrücklich zuzugestehen.
— Herr Kollege, ich habe Ihre Ausführungen sehr genau gehört, die nämlich an bestimmten Punkten widersprüchlich, an bestimmten Punkten ein Zugeständnis waren an die Politik dieser Regierung, die Sie aber, Herr Wörner, an anderen wie an dem eben zitierten Punkt — Punkten dann wieder zurückgenommen haben. Seien Sie einmal so ehrlich und lesen Sie Ihre Ausführungen noch einmal nach, um das selbst feststellen zu können.
Ich meine, daß die jüngste Tagung des NATO-Rates in Brüssel drei ganz bestimmte Aspekte ergeben hat, die ich für wesentlich halte: die Betonung der Verteidigungsbereitschaft; das Bekenntnis zu den Leistungen, die die Verteidigungsfähigkeit ermöglichen; aber auch das Bezugnehmen auf Dinge, die die Verteidigungswürdigkeit jener Werte enthalten, zu deren Verteidigung sich dieses Bündnis zusammengefunden hat.
Wenn ich von der Verteidigungsbereitschaft spreche, dann meine ich, ist es auch eine falsche Darstellung der Situation, Herr Wörner, wenn Sie versuchen, den ersten Abschnitt des Kommuniques negativ auszudeuten, nämlich die Formulierung — wie es dort heißt : „stellten die Minister mit Befriedigung fest"; nämlich die Bereitschaft, an diesem Bündnis festzuhalten, wie das in der Erklärung von Ottawa feierlich zum Ausdruck gebracht wurde. Ich meine, es ist doch keine negative Erklärung, wenn das mit Befriedigung festgestellt wird. Es ist ja zwischen uns unbestritten und soll auch gar nicht aus der Welt gebracht werden, daß es vor der Tagung von Brüssel gewisse Äußerungen und offenbar nicht unbegründete — Befürchtungen gegeben hat, daß sich diese Feststellung nicht würde so treffen lassen, wie das nun tatsächlich möglich gewesen ist. Ich halte es nicht für negativ, sondern ich halte es für positiv, daß das erreicht worden ist.
Wenn ich die gesamte Entwicklung im Bündnis und übrigens auch in der Europäischen Gemeinschaft einmal ins Auge zu fassen versuche, dann läßt sich doch wohl in beiden Bereichen eine parallele Entwicklung feststellen, nämlich größere Schritte in der Richtung auf eine politische Union, größere Schritte in der Abstimmung politischer Zielsetzungen, sowohl z. B. in Genf bei der KSZE, von Helsinki bis nach Genf hin, wie auch in Wien bei der MBFR. Herr Wörner, wir sind in Europa von der Reihenfolge ausgegangen: vom wirtschaftlichen Zusammenschluß hin zur politischen Union. Ich glaube, wir können heute feststellen, daß es größere Schwierigkeiten bereitet, die wirtschaftliche Übereinstimmung zu finden, als zu jener politischen Übereinstimmung zu kommen, über die wir uns heute hier unterhalten. Hier von einer Erosion des Bündnisses zu sprechen, halte ich für absolut verfehlt. Für diese größere Möglichkeit politischer Gemeinsamkeiten war ja nun wohl zweifellos auch die Ost- und Deutschlandpolitik, die auf Entspannung gerichtete Politik dieser Koalition eine der notwendigen Voraussetzungen.
In Brüssel ist es nun zu diesem Bekenntnis zum Bündnis, zur Aufrechterhaltung der militärischen Stärke gekommen. Ich möchte die Opposition fragen, ob eigentlich die Bundesregierung die richtige Adresse für die Frage ist, warum ein solches Bekenntnis nicht früher erfolgt sei. Denn die Bundesregierung hat dieses Bekenntnis nicht nur verbal, sondern auch mit ihrer Verteidigungspolitik in diesen ganzen Jahren unter Beweis gestellt.
In Brüssel ist, meine ich, eindeutig festzustellen gewesen: Die Verteidigungsbereitschaft des Bündnisses ist offenbar größer, als manche innerhalb und außerhalb dieses Hauses geglaubt haben. Aber auch die Verteidigungsfähigkeit findet eine neue Dimension, und zwar in dem Einschließen — entgegen allen möglichen Befürchtungen der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Voraussetzungen sozialer Stabilität, wirtschaftlicher Stabilität, einer gemeinsamen Energiepolitik. Ich glaube, daß gerade auch die Betonung der sozialen Komponente, der Frage nach einer sozialen Gerechtigkeit in einer freiheitlichen Ordnung, mit zu den wesentlichen Grundlagen dieses Bündnisses gehört.
Herr Wörner, man kann natürlich Forderungen stellen. Aber das eine sage ich Ihnen: Dieses Bünd-
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nis, der Nordatlantische Verteidigungspakt, ist über die rein militärische Dimension bereits weit hinausgewachsen gewesen, ehe Sie heute morgen die Forderung danach erhoben haben. Dies ist nicht mehr ein rein militärisches Bündnis, sondern das ist ein Bündnis, das sich schon lange auf die Gesamtverteidigung unserer westlichen Welt in allen ihren Dimensionen ausgedehnt hat.
Natürlich ist es richtig, daß wir uns keine Illusionen über die Schwierigkeiten, gerade auf wirtschaftlichem Gebiet, machen sollten, denen sich die einzelnen Partnerstaaten gegenübersehen, und daß wir verhindern müssen, daß sich aus diesen Schwierigkeiten etwa ein Rückgang der Verteidigungsleistungen, der Verteidigungsbereitschaft ergibt. Hier ist — ich sage das in voller Übereinstimmung mit dem Herrn Bundesaußenminister die Allianz als Initiator gemeinsamer Bemühungen im Bereich der wirtschaftlichen Konsolidierung nicht zur Erarbeitung einzelner wirtschaftlicher Lösungen — gefragt. Aber dieser Nachdruck, der von dem Verteidigungsbündnis ausgeht, sollte nicht unterschätzt werden. Ich meine, daß gerade auch auf diesem Gebiet die seit der atlantischen Deklaration von Ottawa erfolgten Konsultationen ihre Auswirkungen bereits durchaus gezeigt haben und daß das Klima, in dem in Brüssel verhandelt worden ist, von dieser Übereinstimmung über den Atlantik hinweg geprägt worden ist.
Ich will hier die Frage nach Teilung des Bündnisses oder nach Formulierungen, die in diesem Zusammenhang gefallen sind, nicht noch einmal aufgreifen. Aber die selbstverständliche Feststellung, daß der Nordatlantikpakt eine Einheit über den Atlantik hinweg sein muß, sollte in diesem Hause doch wohl unbestritten sein. Ich glaube, Herr Wörner, zumindest in diesem Punkt werden auch wir beide übereinstimmen.
Was die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit angeht, so scheint mir in diesem Zusammenhang ein Satz wichtig zu sein, der sich auf die Ablehnung von Maßnahmen mit der möglichen Folge neuer Preisschübe bezieht. Die wirtschaftliche Entwicklung soll also auf der Basis der Stabilität erfolgen, wie das auch in dem heute verabschiedeten Programm der Bundesregierung noch einmal nachdrücklich zum Ausdruck kommt.
Die Chance von Wladiwostok ist hier bereits mehrfach erwähnt worden. Ich möchte dem nur noch hinzufügen, daß, gerade wenn die Chance von Wladiwostok eine Realität werden sollte, ein noch größeres Gewicht als bisher auf der konventionellen Komponente der Verteidigung liegen muß. Der Abbau oder die Einschränkung auf der strategischnuklearen Ebene darf nicht etwa mit einem Abbau konventioneller Verteidigungsvorbereitungen einhergehen. Ich glaube, wir sollten uns über folgendes im klaren sein. Von daher gesehen kann Wladiwostok für uns bedeuten, daß ein stärkerer Anteil der gemeinsamen Verteidigungsleistungen von den USA her auf Europa übergehen könnte und notfalls
muß. Dies nüchtern zu sehen, bedeutet sicherlich auch,
daß wir bereit sein müssen, unsere Verteidigungsleistungen zumindest in dem bisherigen Umfang aufrechtzuerhalten. Ich bin Herrn Leber auch dankbar dafür, daß er dies in aller Deutlichkeit herausgestellt hat. Daß auch die Erwägungen, die für die Verteidigung vorhandenen Mittel in Zukunft rationeller einzusetzen, in Brüssel eine große Rolle gespielt haben und daß es hier nun doch zu ganz konkreten Verabredungen gekommen ist, kann niemand übersehen, der das Kommuniqué dieser Tagung aufmerksam durchgelesen hat.
Ich möchte im weiteren Verlauf meiner Ausführungen vor allen Dingen aber auch noch auf das eingehen, was auch bei Ihnen, Herr Wörner, eine ganz bestimmte Rolle gespielt hat: das ist die Frage der Verteidigungswürdigkeit, die Frage, was eigentlich in diesem Bündnis verteidigt werden soll. Hier, meine ich, sollte man auch einmal bereit sein, aus dem Kommuniqué herauszulesen, daß hier nicht nur von militärischen Dingen, nicht nur von der Ausrüstung der Streitkräfte und ihrem Zustand die Rede ist, sondern daß auch eine ganze Reihe anderer Komponenten mit aufgenommen worden sind.
Ich möchte dabei besonders darauf hinweisen, daß es bei diesem Problem nach meiner Meinung um die innere Solidarität des Bündnisses geht und daß nach dieser Solidarität und nach dem gemeinsamen Bekenntnis zu den Werten einer freiheitlichen Ordnung, die zu verteidigen es sich lohnt, hier gefragt werden muß. Denn die Stabilität des Bündnisses wird sicherlich davon abhängig sein, ob man in den Völkern aller Partnerstaaten diese Bereitschaft wecken kann und ob man deutlich machen kann, daß es sich lohnt, für diese Dinge auch die Lasten auf sich zu nehmen, die mit der Verteidigungsbereitschaft zweifellos verbunden sind.
Ich darf in diesem Zusammenhang auch auf Zypern hinweisen. Man mag zwar beklagen, daß es hier an der Südostflanke des Bündnisses zu einer solchen Spannung gekommen ist; aber ich meine, man sollte sich zugleich darüber im klaren sein, daß ohne das Bündnis wahrscheinlich dieser Konflikt zwischen Zypern und Griechenland ganz andere Ausmaße angenommen haben würde, als das jetzt tatsächlich der Fall war. Insofern hat das Bündnis schon eine positive Rolle gespielt.
Bei dieser Frage nach der inneren Aufgabenstellung des Bündnisses ist ja wohl auch der Hinweis auf jene Passagen in Punkt 7 des Kommuniqués angebracht, in denen es um Berlin und Deutschland geht. Ich meine, daß gerade diese gemeinsamen Aussagen aller Partner hier ein deutliches Bekenntnis zur Verteidigung jener Grundwerte enthalten, auf die ich soeben versuchte hinzuweisen. Dies ist nun mit Sicherheit mehr als ein verbaler Akt, denn hier, meine Damen und Herren, entscheidet sich auf die Dauer die Frage nach der Stabilität dieses Bündnisses
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Ronneburger
Im übrigen wird dies auch deutlich, wenn man berücksichtigt, was sonst noch bei dieser Tagung eines ursprünglich militärischen Bündnisses behandelt worden ist. Denken Sie an die Fragen der Umwelt und alles das, was unter Punkt 10 des Kommuniqués erwähnt worden ist und was teilweise bereits erwähnt — zur wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit und Entwicklung gesagt worden ist. Dies alles, meine Damen und Herren, wird nicht gesagt, um die Probleme zu verschweigen, vor denen dieses Bündnis und seine einzelnen Mitgliedstaaten stehen.
Gestatten Sie, Frau Präsidentin, daß ich noch einige Sätze anfüge.
Nahost Herr Kollege Friedrich ist darauf ein-
gegangen; ich brauche das nicht zu wiederholen.
Mit den vorhandenen Rüstungsanstrengungen des Warschauer Pakts und der Frage der politischen Potenz, die hinter einer solchen Rüstung steht, und auf die wir uns einzustellen haben, können wir sicherlich nicht fertig werden -- wie es im Zuge der gesamten Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung immer und immer wieder gesagt worden ist , wenn wir nicht unsere eigene Verteidigungsbereitschaft immer wieder deutlich machen, unter Beweis stellen und sie auch tatsächlich verwirklichen. Denn dies ist die Grundlage für diese Politik der Entspannung, und dies ist die Grundlage dafür, daß nicht von der östlichen Seite auf Grund einer sich steigernden Rüstung politische Ziele durchgesetzt werden können, die mit dem, was dieses Bündnis im Grunde vereint, nicht in Übereinstimmung gebracht werden können. Ich meine, daß dieses Bündnis trotz all dieser Schwierigkeiten politisch tatsächlich in einem guten Zustand ist.
An dieser Stelle ist es wohl angebracht, dem Bundesaußenminister auch dann, wenn er meiner eigenen Partei angehört — ausdrücklich Dank zu sagen, einmal für seinen realistischen Bericht, aber auch für seinen unverkennbaren Anteil am positiven Ablauf der Tagung in Brüssel und damit an der Stärkung eines Bündnisses, das seine Aufgabe -- Friedenssicherung durch Verteidigungsbereitschaft — in seinen ersten 25 Jahren erfüllt hat und das in Zukunft mit unserer vollen Beteiligung dieser Aufgabe weiter erfüllen soll mit dem Ziel der Entspannung zwischen Ost und West und damit einem höheren Ziel als lediglich der Abwesenheit eines Krieges, dem Ziel eines wirklichen Friedens.
Meine Damen und Herren! Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wie interfraktionell vereinbart, rufe ich jetzt den Punkt 1
Fragestunde
— Drucksache 7/2982 —
auf, und hierbei zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Zander zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Kiechle auf. — Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Ich wäre dankbar, wenn es ein bißchen Ruhe gäbe, damit der Herr Staatssekretär antworten kann.
— Der Herr Abgeordnete Kiechle ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 62 — des Abgeordneten Gansel — soll auf Bitten des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe auf die Frage 63 des Herrn Abgeordneten Fiebig:
Treffen die in der Deutschen Apotheker-Zeitung vom 5. Dezember 1974 wiedergegebenen Äußerungen des Ministerialdirigenten Dr. Dr. Walter aus dem Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zum Entwurf des Arzneimittelgesetzes zu, daß er selbst die politische Verantwortung für dieses Gesetz nicht übernehme, daß das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in der Tat ein Verkehrsgesetz für den Verkehr mit Arzneimitteln gemacht und den Menschen nicht einbezogen habe, daß heute der Gesetzgeber andere Überlegungen anstelle als vor zwei Jahren und daß der Vorwurf, das Gesetz sei nicht modern, zu Recht bestehe, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung gegebenenfalls aus dieser Äußerung eines der maßgeblichen Verfasser des Regierungsentwurfs zur Reform des Arzneimittelgesetzes?
Die Bundesregierung sieht in dem Bericht der Deutschen Apothekerzeitung über die Tutzinger Tagung eine einseitige Darstellung mit einer Reihe von Fehlinterpretationen. Dies zeigt sich auch daran, daß das Referat des Beamten über den Gesetzentwurf mit einer Dauer von 45 Minuten inhaltlich voll übergangen wird, während alle anderen Referate kurz wiedergegeben sind. Dieses Referat, inzwischen abgedruckt in der Deutschen Apothekerzeitung vom 12. Dezember, Seite 1973, gibt eine objektive Sachdarstellung. Die Äußerung des Beamten, daß nicht er, sondern das Parlament letztlich die politische Verantwortung für ein Gesetz übernimmt, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Im übrigen hat der Beamte selbst in der genannten Zeitschrift den Abdruck einer Gegendarstellung verlangt.
Eine Zusatzfrage? — Nein.
Die Frage 64 des Abgeordneten Rollmann und die Frage 65 des Abgeordneten Dr. Zimmermann sollen auf Bitten der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus diesem Geschäftsbereich beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung ist Herr Staatsminister Moersch anwesend. Zunächst rufe ich die Frage 105 des Herrn Abgeordneten Blumenfeld auf:
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Vizepräsident Frau Funcke
Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um die unter Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien erfolgte Freisetzung der vier arabischen Terroristen und Mörder eines Bürgers der Bundesrepublik Deutschland durch die tunesische Regierung zu verhindern, da Entscheidungen wie die der tunesischen Behörden auf Grund früherer Erfahrungen in anderen Fällen einer Freistellung von Strafverfolgung gleichkommt?
Herr Abgeordneter, nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen sind die vier Terroristen, die den deutschen Staatsbürger Werner Kehl ermordet haben, nicht freigelassen, sondern der PLO überstellt worden. Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß damit praktisch eine Freistellung der Mörder von der Strafverfolgung erfolgt ist. Die Bundesregierung rechnet vielmehr damit, daß die Mörder von der PLO bestraft werden, wie dies ein Sprecher der Organisation in Aussicht gestellt hat.
Zu einer Zusatzfrage, bitte Herr Abgeordneter Blumenfeld.
Herr Staatsminister, ich habe gefragt, welche Schritte die Bundesregierung gegenüber der tunesischen Regierung unternommen hat, als die Mörder des deutschen Staatsbürgers noch im Gewahrsam der tunesischen Behörden waren. Sie haben hier allgemeine Ausführungen gemacht.
Herr Abgeordneter, Sie haben zwei Fragen gestellt, ich habe bisher nur eine beantwortet.
Auf die erste Frage beziehe ich mich, Herr Staatsminister, wenn ich noch richtig lesen kann. — Sie haben vielleicht eine kleine Verwechslung der Ihnen von Ihrem Referat ausgearbeiteten Antworten vorgenommen.
Nein, Herr Abgeordneter. Ich bin gern bereit, das auf die Frage 106 und auf Ihre Zusatzfragen zu antworten, wenn Sie das wollen. Ich dachte, es sei vielleicht sinnvoll, daß zunächst beide Fragen beantwortet und dann die Zusatzfragen gestellt werden.
Frau Präsident, ich bin einverstanden, wenn ich dann noch die Möglichkeit habe, meine Fragen zu stellen.
Sie haben selbstverständlich für jede Frage zwei Zusatzfragen.
Dann bitte zu der Frage 106:
Hat die Bundesregierung Schritte eingeleitet, um ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren für die Mörder des Bundesbürgers von der palästinensischen Befreiungsorganisation zu erwirken?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hält es nicht für angebracht, sich um eine Einflußnahme auf die Regeln zu bemühen, die innerhalb der PLO für die Durchführung von Strafverfahren gelten.
Was Ihre Zusatzfrage zu der ersten Frage betrifft, so hat die Bundesregierung diese Möglichkeiten, eine Auslieferung zu beantragen, geprüft. Sie ist hierbei zu dem Ergebnis gekommen, ein solches Auslieferungsersuchen nicht zu stellen. Einem solchen Antrag wäre nicht entsprochen worden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich mir mal die Grundsatzfrage erlauben, ob die Bundesregierung wirklich vor der Öffentlichkeit in diesem Hause den Standpunkt vertritt, daß es nicht sinnvoll wäre, die Strafverfolgung gegenüber Mördern durchzuführen, weil sie die Erfahrung gemacht hat, daß das in der Vergangenheit nicht geklappt hat.
Herr Abgeordneter, nach den internationalen Erfahrungen ist es so, daß, wenn bei Straftaten, die auf dem Boden eines Staates verübt worden sind, von einer anderen Regierung ein Auslieferungsantrag gestellt wird — auch wenn ein Auslieferungsabkommen vorhanden ist —, diesem Antrag nicht stattgegeben wird. Normalerweise erfolgt die Auslieferung vielmehr nur dann, wenn die Straftat auf unserem Boden stattgefunden hat.
Herr Staatsminister, meinen Sie nicht, daß ein gegenüber einer Regierung eines Staates, zu dem die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhält und zudem gute und freundschaftliche Beziehungen hat, mit Nachdruck gestellter Antrag auf Auslieferung zumindest beantwortet worden wäre und damit der Respekt vor dem menschlichen Leben auch einmal dokumentiert worden wäre? Es handelt sich hier ja auch um den Schutz von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland.
Herr Abgeordneter, das letztere ist völlig unbestritten. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir alle diese Fragen geprüft haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, das ich Ihnen mitgeteilt habe. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen — ich bin kein Jurist; dieser Sachverhalt müßte im einzelnen von seiten des Justizministerium dargelegt werden —, daß wir, wenn an uns Ersuchen um Auslieferung wegen Straftaten, die auf unserem Boden geschehen und von Bürgern anderer Staaten begangen worden sind, gestellt werden, normalerweise solchen Auslieferungsersuchen nicht nachgeben. Solche Überlegungen müßten wir anstellen.
Herr Staatsminister, ich möchte dann noch folgende Frage an Sie stellen: Warum unternehmen Sie angesichts der Tatsache, daß die PLO, die gewiß keinen Regierungscharakter hat, erklärt hat, daß sie sich von diesem schlimmen Verbrechen distanziere, jetzt nicht die geeigneten Schritte, um in einem Stadium, in dem das Ver-
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Blumenfeld
fahren, von dem Sie in Ihrer Antwort gesprochen haben, noch gar nicht angelaufen ist, die Auslieferung der Mörder eines deutschen Bürgers zu erwirken?
Herr Abgeordneter, in der Sache selbst haben wir — das habe ich im Auswärtigen Ausschuß vorgetragen — Schritte unternommen. Ich bin gern bereit, Ihnen diese Einzelheiten im Auswärtigen Ausschuß noch einmal mitzuteilen. Wir haben bei einer ganzen Reihe von Staaten demarchiert. Ich habe das dem Auswärtigen Ausschuß ausdrücklich mitgeteilt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Professor Schweitzer.
Herr Staatsminister, ist dem Auswärtigen Amt schon bekannt, ob der CDU-Kollege Dr. Schröder in seinem Gespräch mit Arafat die von dem Kollegen Blumenfeld hier angesprochene Frage erörtert hat?
Herr Abgeordneter, das Auswärtige Amt ist bisher nicht über dieses Gespräch unterrichtet. Der Kollege Dr. Schröder hat in Aussicht gestellt, den Bundesaußenminister über dieses Gespräch persönlich zu unterrichten. Ich möchte dieser Unterrichtung nicht vorgreifen. Ich unterstelle aber, daß Herr Dr. Schröder bei diesem Gespräch alle gemeinsam interessierenden Fragen behandelt hat.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 107 des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 108 des Herrn Abgeordneten Dr. Schachtschabel auf:
Sind die vorhandenen „Basisfunkstellen", die gegenwärtig bei 25 Botschaften eingerichtet sind, derart im Ausland glaciert, daß alle sonstigen Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland bei Ausrüstung mit einem Krisensprechfunkgerät an das Basisnetz angeschlossen werden können, und kann die Bundesregierung detaillierte Auskünfte über die pro Basisfunkstelle veranschlagten Investitionskosten von 150 000 DM geben?
Herr Kollege, wenn die Basisfunkstelle bei einer deutschen Vertretung im mittelamerikanischen Raum, die vorübergehend stillgelegt werden mußte, den Betrieb wieder aufnimmt, womit im Frühjahr 1975 zu rechnen ist, verfügt das Auswärtige Amt über ein weltweites Netz solcher Basisfunkstellen, an das alle sonstigen Auslandsvertretungen bei Ausrüstung mit einem Krisensprechfunkgerät angeschlossen werden können.
Für die Einrichtung einer Basisfunkstelle sind folgende Investitionskosten zu veranschlagen: Funksender: zirka 64 000 bis 135 000 DM, je nach Leistung; Funkempfänger: zirka 13 500 bis 18 000 DM, je nach Gerätetyp; Antennen: zirka 7 000 DM;
Tastgerät: zirka 6 000 DM; Fehlerkorrekturgerät — ein Gerät, das im Bundestag leider nicht installiert werden könnte —: zirka 22 000 DM; Fernschreiber: zirka 16 000 DM.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, sind Sie der Meinung, daß eine ausreichende Ausrüstung der genannten technischen Art besteht oder baldigst vorgenommen wird, um zu verhindern, daß bekannte Vorgänge sich wiederholen?
Herr Abgeordneter, das ist eine Frage, die auch an das Haus selbst gerichtet ist. Soweit es dem Auswärtigen Amt möglich war, hat es immer versucht, die Auslandsvertretungen auf einem möglichst hohen technischen Stand der Nachrichtenübermittlung zu halten. Ich habe den Eindruck, daß gerade die jüngsten Ereignisse die Durchsetzung unseres Petitums künftig erleichtern. Es sind im Rahmen der Haushaltsberatungen ja auch schon entsprechende Maßnahmen vorgesehen worden.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 109 des Herrn Abgeordneten Schachtschabel auf:
Welche weiteren Botschaften beabsichtigt die Bundesregierung mit Krisensprechfunkanlagen auszustatten, und zu welchem Zeitpunkt wird dies geschehen?
Das Auswärtige Amt setzt bereits seit Jahren an besonders gefährdeten Dienstorten in Südamerika, Afrika und Asien sogenannte Krisenfunkgeräte ein. Die Zahl der Einsatzorte wird unter Berücksichtigung festgelegter Prioritäten im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten, nämlich etwa zur Verfügung stehender Haushaltsmittel für den Ankauf der Geräte und des technischen Zubehörs, ferner der langen Lieferfristen der Herstellerfirmen laufend erhöht. Es ist außerdem dafür Sorge getragen, daß eine ausreichende Zahl von Funksprech-Sende- und -Empfangsanlagen zur Verfügung steht, um in kürzester Frist bei Vertretungen an solchen Dienstorten installiert werden zu können, die plötzlich in den Bereich einer krisenhaften Entwicklung geraten, in deren Verlauf eine Gefährdung der üblichen der Vertretung zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel befürchtet werden muß. Die Bundesregierung kann darüber weitere Einzelheiten gerne dem Auswärtigen Ausschuß berichten. Sie werden verstehen, daß ich nicht gut etwa Orte nennen kann, bei denen wir künftig Krisen erwarten und deshalb Vorsorge getroffen haben.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 110 des Abgeordneten Dr. Arndt auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
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Vizepräsident Frau Funcke
Ich rufe die Frage 111 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Ist die Bundesregierung bereit, eindeutig zu erklären, daß die Annexion Ostdeutschlands jenseits von Oder und Neiße durch Polen und Sowjetrußland wie jeder „Erwerb von Gebiet durch Gewaltanwendung" völkerrechtswidrig und somit Unrecht ist und solange Unrecht bleibt, bis durch einen demokratisch ausgehandelten Friedensvertrag unter Zustimmung aller Betroffenen über die Grenzen entschieden worden ist?
Herr Abgeordneter, Sie haben den ersten Teil Ihrer Frage bereits in der Fragestunde vom 5. Dezember 1974 als Zusatzfrage zur Frage 137 gestellt. Ich darf insoweit auf meine damalige Antwort Bezug nehmen.
Was Ihre Frage nach einem Friedensvertrag anlangt, so ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland ihr eigenes Verhältnis zur Westgrenze der Volksrepublik Polen im Warschauer Vertrag verbindlich festgelegt hat. Wie Sie wissen, ist dies in einer auf die Zukunft gerichteten Weise geschehen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, Sie haben in der Antwort, auf die Sie sich berufen, absichtlich davon Abstand genommen, daß die Bundesregierung die Annexion nicht bewertet habe. Ist das vielleicht jetzt möglich, Herr Staatsminister, daß nun endlich seitens der Bundesregierung ein klares Wort zur Annexion Ostdeutschlands gesprochen wird?
Herr Abgeordneter, diese Fragen sind in der Ratifikationsdebatte zum Warschauer Vertrag hier ausdrücklich behandelt worden. Ich möchte auf die Ausführungen vom 5. Dezember nicht nur zurückkommen, sondern darf vielleicht noch ein paar Anmerkungen dazu machen. Ich glaube, Herr Abgeordneter, Sie müssen, wenn Sie diese Fragen erörtern, sich die historische und politische Entwicklung vor Augen halten, die der Diskussion über Rechtsfragen überhaupt zugrunde liegt. Die Bundesregierung hat hierzu in ihrer Denkschrift zum Warschauer Vertrag zur Behandlung der Grenzfrage ausgeführt — ich darf auch dies in die Erinnerung zurückrufen, weil es offensichtlich gelegentlich übersehen wird —:
Sie
— die Bundesregierung —
ist dabei von einer nüchternen Einschätzung der Lage ausgegangen, die als Folge des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage des Deutschen Reiches entstanden ist. Der Vertrag beruht auf der Erkenntnis, daß nur auf dieser Grundlage Versöhnung und eine konstruktive Entwicklung der Beziehungen mit Polen möglich sind.
Ich glaube, was dazu in der Debatte gesagt worden ist, kann hier nicht mit weiteren Neuigkeiten angereichert werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie grundsätzlich dem zustimmen, daß Annexion völkerrechtswidrig ist und, daraus folgend, auch die Annexion Ostdeutschlands?
Herr Abgeordneter, was die grundsätzliche Frage betrifft, ist hier sicherlich kein Meinungsunterschied. Aber es wird Ihnen ja nicht entgangen sein, daß bei Friedensverhandlungen — schon im vergangenen Jahrhundert war das so, und es wird künftig sicher auch nicht anders sein — eben immer die Frage entsteht, wer angefangen hat und wie man den Anfang datiert. Da bisher das eigentliche Weltgericht, das diese Fragen beantworten könnte, noch nicht erfunden ist, werden diese Fragen am Ende immer als Machtfragen behandelt werden.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatsminister, steht nicht nach den Erklärungen zum Warschauer Vertrag inzwischen die Erklärung der Bundesregierung, und zwar auf internationaler Ebene, aber auch hier im Bundestag, im Raum, daß jeder Gebietserwerb durch Gewalt in allen Fällen unzulässig und rechtsunwirksam ist, und sind Sie nicht auch der Auffassung, daß die Bundesregierung Friedensverhandlungen nicht präjudizieren kann?
Was das Letzte betrifft, so hat die Bundesregierung nichts präjudiziert. Ich weiß aber nicht, zur Geschichte welches europäischen Staates Ihre Frage gestellt war. Da wären ja sicherlich viele Staaten betroffen, nicht zuletzt auch das Deutsche Reich.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Staatsminister, da Sie auf Kriege und Friedensschlüsse in vergangenen Jahrhunderten Bezug genommen haben, darf ich fragen: Ist Ihnen der Unterschied in der Rechtsqualität zum modernen Völkerrecht bewußt, zumindest seitdem es eine Satzung der Vereinten Nationen gibt?
Herr Abgeordneter, die Satzung der Vereinten Nationen ist mir bekannt. Mir ist auch die Entstehungsgeschichte der Vereinten Nationen bekannt.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 112 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Vertritt die Bundesregierung, wie aus ihrer Antwort — Stenographischer Bericht über die 134. Sitzung, Seite 9179 — hervorzugehen scheint, den Standpunkt, daß Ostdeutschland jenseits
9606 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Vizepräsident Frau Funcke
von Oder und Neiße nicht mehr als zum Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 gehörend betrachtet wird, und befindet sie sich mit diesem Standpunkt noch in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, der Begründung zum Karlsruher Urteil vom 31. Juli 1973 und zu der gemeinsamen Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1973?
In der Beantwortung der Mündlichen Anfrage des Kollegen Dr. Franz hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Grüner in der 134. Sitzung am 5. 12. 1974 ausgeführt:
Mit Inkrafttreten des deutsch-polnischen Vertrages über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 bestreitet die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr, daß die Gebiete, auf die Ihre Frage abzielt, polnisches Staatsgebiet sind.
Diese Aussage entspricht der Rechtslage, wie sie durch den Warschauer Vertrag geschaffen worden ist. Zu dem Warschauer Vertrag gehört bekanntlich auch der Notenwechsel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten vom 19. 11. 1970. Dieser Notenwechsel ist, wie Sie wissen, von der polnischen Regierung vor Abschluß des Warschauer Vertrages notifiziert worden. In diesem Notenwechsel heißt es:
Die Bundesregierung hat ferner
— das bezieht sich auf den Verlauf der Verhandlung —
darauf hingewiesen, daß sie nur im Namen der
Bundesrepublik Deutschland handeln kann.
Der Warschauer Vertrag steht in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, und die von Ihnen zitierte Antwort enthält auch keinen Widerspruch zu der gemeinsamen Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. 5. 1972 oder der Begründung zum Karlsruher Urteil vom 31. 7. 1973. Letzteres, Herr Abgeordneter, bezog sich im übrigen konkret nicht auf den Warschauer Vertrag, sondern auf den Grundvertrag.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gilt also nach wie vor der zweite Absatz der Gemeinsamen Entschließung vom 17. Mai 1972, daß die Verträge von Moskau und Warschau eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland als Ganzes nicht vorwegnehmen?
Herr Abgeordneter, es gilt die Gesamtheit der Entschließungen, und es gilt selbstverständlich der Vertrag und alles, was der Vertrag enthält, einschließlich des Notenwechsels.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, haben wir auf Grund der Begründung zu dem Karlsruher Urteil vom 31. Juli 1973 nicht allen Grund, nach wie vor zu behaupten, daß zum Deutschen Reich, das in den Grenzen von 1937 fortexistiert, auch Ostdeutschland zählt?
Herr Abgeordneter, ich glaube, Sie übersehen bei dieser Frage, daß lange Debatten im Rechtsausschuß, im Auswärtigen Ausschuß und, glaube ich, auch im Plenum geführt worden sind über das, was nämlich wirklich in der Präambel des Grundgesetzes steht und welchen Bezug das hat.
Ich darf aber noch einmal wiederholen, daß sich das Verfassungsgerichtsurteil auf den Grundvertrag und nicht auf den Warschauer Vertrag bezieht. Es ist im Bundestag sehr konkret ausgeführt worden, wo die Probleme in dieser Frage liegen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatsminister, stimmen Sie — im Zusammenhang mit Ihrer ersten Antwort — mit mir darin überein, daß auch die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtungen gegen zwingendes Völkerrecht, beispielsweise gegen die Stimson-Doktrin, den Kellogg-Pakt und die Normen, die in der Sicherheitsrats-Resolution 242 niedergelegt sind, eingehen kann?
Herr Abgeordneter, Sie haben mir einige Themen genannt, die mit der Frage nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen.
Ich bin gerne bereit, entsprechend darauf einzugehen, wenn Sie mir die Fragen schriftlich einreichen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten von Fircks.
Herr Staatsminister, wollten Sie damit, daß Sie bei der Beantwortung der Zusatzfrage des Herrn Kollegen Hupka auf den Grundvertrag zurückgingen, sagen, daß für die Bundesregierung das Karlsruher Urteil mit seiner Begründung in seiner Substanz nicht auch für alle anderen Verträge einschließlich des Warschauer Vertrages gilt?
Herr Abgeordneter, ich habe sehr konkret gesagt, daß sich dieses Urteil nicht auf den Warschauer Vertrag, sondern auf den Grundvertrag bezogen hat; wenn Sie Einzelheiten wissen wollen, wo sich das Urteil auch auf den Warschauer Vertrag oder auf unsere Politik beziehen könnte, dann bitte ich Sie, diese Frage im einzelnen zu formulieren. Erst dann kann ich sie im einzelnen beantworten.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9607
Keine Zusatzfrage? — Dann rufe ich die Frage 113 des Herrn Abgeordneten Lattmann auf:
Gelten nach Auffassung der Bundesregierung auch in den Einrichtungen und Programmen der auswärtigen Kulturpolitik die Freiheitsrechte für Kunst, Literatur und Wissenschaft nach Grundgesetz Artikel 5, so daß eine Zensur nicht stattfindet?
Herr Abgeordneter, für die Bundesregierung ist es eine Selbstverständlichkeit, daß auch für die von ihr geförderten kulturellen Einrichtungen und Programme im Ausland die im Art. 5 des Grundgesetzes verankerten Freiheitsrechte für Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre Gültigkeit haben. Gerade diese Bundesregierung legt hierauf besonderen Wert. „Eine Zensur findet", so heißt es in der Verfassung, „nicht statt". Hier muß allerdings ferner unterschieden werden zwischen den von Art. 5 des Grundgesetzes garantierten Rechten und den für die Förderung von kulturellen Einrichtungen und Programmen im Ausland maßgeblichen Verfahren. Aus Art. 5 des Grundgesetzes läßt sich keinerlei Verpflichtung der Bundesregierung zur Förderung bestimmter Projekte ableiten. Dies ist vielmehr, wie übrigens auch in allen anderen vergleichbaren Staaten, in das Ermessen der Regierung gestellt. Der Grund hierfür ist die bekannte Tatsache, daß außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes bei einer Förderung von kulturellen Projekten zusätzliche, manchmal auch andere Gesichtspunkte als bei einer Förderung in unserem eigenen Lande Gewicht haben. Dazu gehören unter anderem die Rücksichtnahme auf die internen Verhältnisse im jeweiligen Partnerland und die Berücksichtigung der internationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung nutzt den ihr mit dieser Verantwortung gegebenen Ermessensspielraum voll im Sinne des Art. 5 des Grundgesetzes aus und wird dies auch weiterhin tun.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß es über die Aktion „Deutscher Monat" in England, eine Kunstausstellung, die von englischer Seite veranstaltet wurde und in der politische aktuelle Kunst aus der Bundesrepublik ausgestellt wurde, eine Korrespondenz zwischen Mitgliedern dieses Hauses und dem Bundesaußenminister gab und daß diese Korrespondenz zum Teil in der Presse kritisch so kommentiert wurde, als gäbe es doch Einschränkungen der Meinungsfreiheit?
Herr Abgeordneter, das beruht offensichtlich darauf, daß die Kommentare in der Presse dadurch an Wirksamkeit gewonnen haben, daß sie auf mangelnder Information beruhten. Ich darf das im einzelnen hier ausführen.
Es ist richtig und ich bedanke mich, daß Sie
mir Gelegenheit geben, den Sachverhalt hier noch einmal darzustellen —, daß das Auswärtige Amt die Zahlung eines Zuschusses zu den Druckkosten des Katalogs der Ausstellung gerügt hat. Die Bundesregierung tat dies, da es zu ihren Prinzipien gehört, die im Rahmen ihrer auswärtigen Kulturpolitik durchgeführten Förderungsmaßnahmen von parteipolitischen Kontroversen freizuhalten — also nicht von künstlerischen; das ist doch wohl ein Unterschied. Die von Ihnen erwähnten Plakate waren zwar in der Ausstellung als Kunstwerke ausgestellt, jedenfalls nach der Überschrift des Katalogs; sie waren und blieben gleichzeitig aber auch eindeutige Mittel des Parteienkampfes. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß eine Kunstausstellung im Ausland der falsche Platz für innerpolitische Auseinandersetzungen oder Angriffe ist.
Demgemäß hielt sie in diesem Falle eine Förderung aus öffentlichen Mitteln nicht für gerechtfertigt.
Was nun in diesem Zusammenhang den Kunstbegriff selbst betrifft, Herr Abgeordneter, den Sie ja sicherlich genauso wie ich hochhalten, so muß man, glaube ich, sagen, daß gerade bei diesen Plakaten, die dort als Kunstwerke deklariert worden sind und das sicherlich nach Meinung ihres Schöpfers und moglicherweise nach Meinung vieler auch sind, eine Abgrenzung zwischen dem, was ein Kunstwerk ist, und dem, was keines mehr oder noch keines ist, auch schon kompetenteren Leuten, als wir es sind, Kopfzerbrechen bereitet hat.
Lassen Sie mich es so sagen: Ich bestreite nicht, daß innenpolitische Auseinandersetzungen gelegentlich als Kunst betrieben werden können, woraus dann auch folgt, daß manche Kunstwerke innenpolitische Bedeutung haben. Dennoch wird man bezweifeln müssen, ob ein kunstvolles innenpolitisches Nahkampfmittel auch im Ausland als solches gewürdigt wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lattmann.
Herr Staatsminister, ich bin dankbar für die Ausführlichkeit dieser Auskunft, bitte Sie aber, mir doch noch eine weitere Frage zu beantworten: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß, wenn namhafte Politiker, die ja doch durch ihren Beruf Gegenstand von öffentlicher Kritik auch mit Mitteln der Kunst sind, außerordentlich empfindlich auf solche Kritik reagieren, dann einfach durch das Faktum dieser Reaktion politische Druckverhältnisse geschaffen werden könnten, die auf dem Wege von Haushalt und Administration praktisch dann doch eine im Kern nicht beabsichtigte Eingrenzung der Grundrechte ergeben könnten?
Herr Abgeordneter, dieses Problem und diese Gefahr müssen wir sehen, aber wir müssen auch sehen — und das mache ich denen, die an dieser Veranstaltung im Ausland mitgewirkt haben, zum Vorwurf —, daß gerade diejenigen, die für eine völlige Freiheit der Kunst eintreten, und diejenigen, die für eine
9608 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Staatsminister Moersch
klare innenpolitische Auseinandersetzung eintreten, in ihrer Wirkungsmöglichkeit im Inland beeinträchtigt werden, wenn versucht werden sollte, innenpolitische Auseinandersetzungen direkt oder indirekt im Ausland stattfinden zu lassen.
Ich kann Ihnen sagen, daß auch die Kommentare wichtiger englischer Zeitungen, die sicherlich nicht in dem Verdacht stehen, die beiden dort ausgestellten Politiker besonders zu schätzen, eine gewisse Skepsis zum Ausdruck brachten, offensichtlich unter dem Rubrum des politischen Geschmacks. Je mehr wir darauf bedacht sind, daß das, was wir zu Hause auszumachen haben, auch mit künstlerischen Mitteln zu Hause ausgemacht werden kann, um so größer wird der Respekt auch im Ausland vor unseren Künstlern sein, was gewiß nichts gegen politische Kunst sagt. Die Frage ist doch, ob jemand Mittel der Regierung und des Staates für diesen Zweck im Ausland in Anspruch nehmen kann oder nicht. Diese Frage ist in der Tat nicht generell zu entscheiden. Das hängt auch davon ab, ob es in erster Linie zu verstehen war oder ist als ein Kunstereignis oder in erster Linie als ein politisches Ereignis. Hier waren ganz offensichtlich die Meinungen der Beteiligten unterschiedlich. Wenn es darüber bereits einen Streit gib dann ist genau das eingetreten, was Sie mit Ihrer Zusatzfrage zum Ausdruck bringen wollten, nämlich eine Verschiebung der Diskussionsebene, die nicht im Sinne der betroffenen Künstler sein kann.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Staatsminister, wenn wir uns mit der Bundesregierung in diesem Hause sicher alle einig sind, daß der Art. 5 seine volle Geltung hat und haben muß, wenn weiter von den Befürwortern dieser Londoner Ausstellung betont wird, sie habe in England den Eindruck verstärkt, es in der Bundesrepublik mit einem besonders freien Staat zu tun zu haben, der zur Selbstkritik fähig sei: teilen Sie meine Ansicht, daß eine einseitige Herabsetzung der Opposition, selbst schärfste Kritik an der Opposition — soweit diese sich überhaupt äußern kann —, in jeder Diktatur erlaubt ist und daß dem freien Staat mit seiner kritischen Selbstdarstellung nur gedient wäre, wenn wir uns nach draußen dann auch gegenüber der Regierung kritisch darstellen?
Herr Abgeordneter, was die Kritik an der Bundesregierung im Ausland betrifft, so hat die Opposition sicher ihren Teil schon dazu geleistet. Da wäre die Parität nicht gefährdet — leider, muß ich sagen.
Es geht aber hier konkret um die Frage des Art. 5; die hat der Kollege Lattmann gestellt. Es geht um die Frage, ob etwas, was hier als Kunstwerk deklariert wird, von allen nur unter dem Gesichtspunkt des Kunstwerks betrachtet wird oder nicht. Und hier sind offensichtlich die Meinungen verschieden. Daß es über den Begriff der Kunst im übrigen immer Kontroversen gegeben hat, und zwar vor allem unter
Politikern, das hat ein großer Bayer, nämlich Ludwig Thoma, seinem Abgeordneten Jozef Filser schon, wie Sie wissen, in den Mund gelegt, und das ist ein gültiger Satz offensichtlich für diese Art der Kunstbetrachtung. Er hat Filser nämlich sagen lassen, die Malerei sei eine Kunst, aber bloß bis zum Nabel, unterm Nabel sei es eine Sauerei.
Eine Frage der Frau Abgeordneten von Bothmer.
Herr Staatsminister, wäre es denn nicht — auch nach Ihrer Meinung — eine viel souveränere Haltung der Bundesregierung, wenn sie Karikaturen, die den einen oder anderen vielleicht lächerlich machen, einfach in einer solchen Ausstellung beließe, ohne weiteren Kommentar, und auch nicht einginge auf Einwendungen dieser Art, sondern sich auf den Standpunkt stellte, das sind Kunstwerke, ob man sie nun akzeptiert oder nicht; denn schließlich sind wir doch wohl gemeinsam der Ansicht, daß man nicht irgendwo einen Strich ziehen kann, wo Kunstwerk aufhört und Politik anfängt. Politik und Kunst sind miteinander verwoben; man kann sie nicht unbedingt auseinanderklauben.
Das ist eine große Frage, die Sie hier aufrühren. Ob die Beziehung von Kunst und Politik nicht gelegentlich eine Einbahnstraße ist, wäre erst einmal zu prüfen. Aber hier geht es um einen ganz anderen Vorgang. Erstens einmal hat die Bundesregierung überhaupt keine Einwendungen erhoben gegen die Ausstellung — das ist gar nicht ihre Sache gewesen —, sondern die Frage war, ob aus dem Bundeshaushalt Druckkostenzuschüsse gegeben werden können. Das ist eine ganz andere Frage. Und zum zweiten ist doch nicht die Souveränität der Bundesregierung hier in Frage gestellt, sondern offensichtlich die Souveränität der Betroffenen; denn d i e haben sich beschwert. Und die Bundesregierung kann da ja wohl nicht souveräner sein, als es die Betroffenen in einem solchen Fall sein wollen.
Keine Zusatzfrage.
Wir kommen zur Frage Nr. 114 des Herrn Abgeordneten Schweitzer — —
Frau Präsidentin, diese Frage ist dem Bundesminister der Justiz zugewiesen worden. Ich habe hier als nächste Frage die Frage Nr. 115. Vielleicht ist das nicht mitgeteilt worden.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9609
Hier steht das nicht. Aber dann würde ich bitten, die Frage Nr. 115 zu beantworten.
Welche Bedeutung mißt die Bundesregierung dein sogenannten Fulbright-Programm heute für die Entwicklung unserer engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten insbesondere im Hinblick auf die Vermittlung noch besserer Kenntnisse über die jeweilige politische Gesamtlage in beiden Ländern bei?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung mißt dem gemeinschaftlichen deutsch-amerikanischen Programm des Studenten- und Dozentenaustauschs, dem „Fullbright-Programm", eine große Bedeutung für die Entwicklung unserer engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten bei. Dieses Programm hat sich als wichtigstes Instrument eines einvernehmlich zwischen den Regierungen beider Länder durchgeführten wissenschaftlichen Austausches ausgezeichnet bewährt. Der durch das entsprechende Regierungsabkommen abgesteckte weite Rahmen ermöglicht eine flexible Handhabung und damit eine Berücksichtigung der verschiedensten deutschen und amerikanischen Zielgruppen, die im Rahmen des deutsch-amerikanischen Wissenschaftsaustauschs relevant sind. Sowohl die breite Skala der Zielgruppen, nämlich Studenten und Dozenten aller Fachrichtungen einschließlich Politologie und Soziologie, Sekundarlehrer, Bildungsexperten, Gewerkschaftler, Rechtsreferendare usw., als auch die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Förderungsmaßnahmen — etwa die Betonung der allgemeinen Deutschland- bzw. Amerikakunde, die vorrangige Förderung aktueller, gegenwartsbezogener Forschungsvorhaben im Rahmen der Stipendienvergabe, Berlin-Seminare als besonderes Ergänzungsprogramm für alle amerikanischen Fulbright-Stipendiaten in der Bundesrepublik Deutschland usw. — bieten die Gewähr dafür, daß das deutschamerikanische Programm für den Studenten- und Dozentenaustausch auch zur Vermittlung besserer Kenntnisse über die jeweilige politische Gesamtlage in beiden Ländern wesentlich beiträgt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß ein sogenannter Antiamerikanismus entgegen anderslautenden demagogischen Parolen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland an den Schulen und Universitäten eigentlich schon wieder im Abklingen ist?
Herr Abgeordneter, diese Frage kann man sicherlich bejahen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Welche zusätzlichen Maßnahmen hält die Bundesregierung für denkbar, Herr Staatsminister, um eine weitere Vertiefung eines realitätsbezogenen Amerika-Bildes im wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Bereich in der Bundesrepublik herbeizuführen?
Herr Abgeordneter, ich habe gerade dargestellt, welches Programm hier besteht. Sie wissen, daß im Zusammenhang mit der Vorbereitung des großen amerikanischen Verfassungsjubliläums auch weitere direkte Veranstaltungen vorgesehen sind.
Keine weitere Zusatzfrage. Herr Staatsminister, ich glaube, bezüglich der Frage 114 liegt ein Irrtum vor.
Ja, da ist ein Irrtum geschehen. Ich habe das soeben entdeckt.
Der Justizminister ist überhaupt nicht damit befaßt. Ich darf daher jetzt die Frage 114 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer aufrufen:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Entwicklung im Bereich der Besuchsreisen und des Austausches von Wissenschaftlern zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland seit Abschluß des Warschauer Vertrags?
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Abgeordneter, die Entwicklung im Bereich des deutsch-polnischen Wissenschaftsaustausches ist als äußerst positiv zu bezeichnen. Polen hat an unserem gesamten internationalen Wissenschaftsaustausch einen hohen prozentualen Anteil. Dies gilt insbesondere für die Einladung polnischer Wissenschaftler aus allen Disziplinen, d. h. auch Geisteswissenschaftler, zu Studienaufenthalten durch den DAAD und die Vergabe von Stipendien durch die Alexander von Humboldt-Stiftung. Im Bereich der Einladungen zu Studienaufenthalten steht Polen, weltweit gesehen, mit Abstand an der Spitze aller Länder.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wäre die Bundesregierung bereit, diese im ganzen doch sehr positive Bilanz der Entwicklung unserer Beziehungen zur Volksrepublik Polen einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen, damit auf diese Weise einseitig negativen Propagandamanövern in der Bundesrepublik Deutschland von seiten gewisser interessierter Kreise besser entgegengewirkt werden kann?
Die Bundesregierung wird das gerne tun.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka.
9610 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
In welchem Maße, Herr Staatsminister, werden umgekehrt als Antwort darauf deutsche Wissenschaftler von der Volksrepublik Polen eingeladen?
Herr Abgeordneter, ich will das gerne nachprüfen und Ihnen das im einzelnen darlegen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr von Fircks.
Herr Staatsminister, können Sie aber aus Ihrer jetzigen Kenntnis schon sagen, ob den deutschen Wissenschaftlern in Polen die gleiche Möglichkeit öffentlichen Auftretens und Wirkens durch Vorträge usw. gegeben ist wie den polnischen Wissenschaftlern hier bei uns?
Herr Abgeordneter, ich nehme an, daß der Fragesteller einer dieser Wissenschaftler war, die öffentlich in Polen aufgetreten sind.
— Entschuldigen Sie, ich unterstelle, daß selbstverständlich die Wissenschaft hier auf ihrem Felde völlig frei ist; denn der Austausch hat im Jahre 1969 106 Personen umfaßt und im Jahre 1973 575. Das bezieht sich wohlgemerkt auf den Austausch. Davon waren durchschnittlich je die Hälfte Deutsche und Polen. Die Gegenseitigkeit ist also durchaus gewahrt. Das ist eine Teilantwort auf die Frage des Herrn Dr. Hupka. Daß sie als Wissenschaftler wissenschaftsöffentlich auftreten, unterstelle ich. Ich habe noch nie etwas Gegenteiliges gehört.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Handelt es sich bei den Zahlen, die Sie soeben genannt haben — z. B. die Zahl 575 — um Wissenschaftler?
Jedenfalls um Leute, die unter diesem Rubrum ihre Reisespesen abgerechnet haben, Herr Abgeordneter.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 116 des Herrn Abgeordneten Dr. Franz auf:
Ist es richtig, daß bei der Willensbildung, die zu dem in völliger Übereinstimmung mit der Bundesregierung gefaßten Beschluß des Senats von Berlin führte, für aus Osteuropa stammende Israelis, bei denen keine besonderen Voraussetzungen vorliegen, die Aufenthaltserlaubnis auf höchstens sechs Monate zu beschränken, Rücksichtnahmen auf sowjetische und arabische Wünsche eine Rolle gespielt haben, und um welche Wünsche handelte es sich — bejahendenfalls —?
Herr Abgeordneter, die Durchführung des Ausländergesetzes und damit die Entscheidung über den Aufenthalt von Ausländern in seinem Geltungsbereich ist Sache der Länder. Der Senat von Berlin hat im Rahmen seiner eigenen Zuständigkeit am 3. Dezember 1974 beschlossen, die bis zu diesem Tage nach Berlin eingereisten jüdischen Personen in Berlin aufzunehmen und ihnen Aufenthaltserlaubnis und, soweit erforderlich, deutsche Fremdenpässe zu erteilen; die nach dem 3. Dezember unter Verletzung der Einreisevorschriften eingereisten oder noch einreisenden Personen sollen dagegen keine Aufenthaltserlaubnis erhalten und zur Rückkehr nach Israel aufgefordert werden.
Die Bundesregierung ist nach der Beschlußfassung unterrichtet worden. Die Bundesregierung ist jedoch überzeugt, daß Rücksichtnahme auf sowjetische oder arabische Wünsche bei der Entscheidung des Senats keine Rolle gespielt haben. Der Bundesregierung ist über angebliche Wünsche dieser Art nichts bekannt.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 117 des Herrn Abgeordneten Sauer auf:
Was hat die Bundesregierung unternommen, nachdem lt. Pressemeldungen bekannt ist, die Regierung der Volksrepublik Polen beabsichtigte, ab 1975 den Sonderkurs für Devisengeschenke aus der Bundesrepublik Deutschland von bisher 23,6 Zloty für eine Deutsche Mark auf nur noch 12,6 Zloty für eine Deutsche Mark herabzusetzen und damit die in den deutschen Ostgebieten lebenden Deutschen, insbesondere alte Menschen, in harte Bedrängnis gebracht werden, zumal diese Entscheidung bedeutet, daß ein Hundertmarkschein, mit dem man bisher fast ein polnisches Durchschnittseinkommen von 2 300 Zloty überweisen konnte, künftig nur 1 260 Zloty wert sein wird, also kaum mehr als die Hälfte?
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bisher nur inoffiziell bekanntgeworden, daß die polnische Bank PKO ab 1. Januar 1975 alle konvertierbaren Währungen im Verhältnis von 33,20 Zloty für 1 US-Dollar tauscht. Damit würde bei privaten Geldüberweisungen aus der Bundesrepublik Deutschland der bisherige Sonderkurs von etwa 23 Zloty für eine Deutsche Mark auf etwa 13 Zloty für eine Deutsche Mark herabgesetzt. Dieser Kurs ist immer noch günstig, da der Spezialkurs — für kommerzielle Überweisungen — von 7,89 Zloty für eine Deutsche Mark um die Touristenprämie von 66,7 % erhöht wird. Im übrigen bleibt die bisherige Umtauschrate für konvertierbare Währungen in Warenbons der polnischen Bank PKO unverändert, mit denen aus dem westlichen Ausland importierte Waren und für den Export bestimmte polnische Waren gekauft werden können.
In Polen lebenden Deutschen, die Geldüberweisungen aus der Bundesrepublik Deutschland erhalten, ist zur Vermeidung von Kursverlusten zu raten — wie übrigens bisher in ganz überwiegendem Maße üblich —, Deutsche Mark nicht in Zloty, sondern zum unveränderten Kurs in Warenbons der Bank PKO einzutauschen.
Die Festsetzung der Devisenkurse ist eine souveräne Angelegenheit der polnischen Regierung. Der Bundesregierung stehen insoweit keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9611
Eine Zusatzfrage.
Ich habe Sie also richtig verstanden, Herr Staatsminister, daß hier keine Ausnahmeregelung nur für die Bundesrepublik Deutschland besteht?
Sie haben mich richtig verstanden. Es ist offensichtlich eine Regelung, die unter anderem ganz besonders die Überweisungen aus den USA betrifft; deswegen auch die Angabe in Dollar. Sie wissen, daß solche Überweisungen eine große Rolle spielen.
Keine Zusatzfrage.
Wir kommen dann zur Frage 68 des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn. — Der Her Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Nun darf ich das Haus um Zustimmung dazu bitten, daß wir Herrn Dr. Arndt noch die Gelegenheit zur Frage 110 geben. Durch das Vorziehen der Fragestunde konnte er nicht rechtzeitig aus dem Ausschuß kommen, in dem er tätig war. Ich glaube, ich darf die Frage 110 noch einmal aufrufen:
Womit begründet die Bundesregierung die in ihrer Antwort auf meine Frage in der 131. Sitzung des Bundestages am 14. November 1974 mitgeteilte ungleiche Behandlung der Mitglieder der obersten Verfassungsorgane des Bundes — insbesondere des Bundesverfassungsgerichts — bei der Ausstellung amtlicher Pässe?
Bitte schön!
Eine ungleiche Behandlung der Mitglieder der obersten Verfassungsorgane — insbesondere des Bundesverfassungsgerichts — bei der Ausstellung amtlicher Pässe vermag die Bundesregierung nicht zu erkennen.
Amtliche Pässe sind nur zur Wahrnehmung dienstlicher Aufgaben im Ausland bestimmt. Dem Charakter der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechend fallen dienstliche Aufgaben seiner Mitglieder im Ausland im allgemeinen nicht an. Die geltenden Bestimmungen geben jedoch die Möglichkeit, für Auslandsreisen, die „im amtlichen Auftrag oder im besonderen deutschen Interesse" stattfinden, amtliche Pässe zur Verfügung zu stellen, wenn anderenfalls die Erfüllung des Reisezwecks wesentlich erschwert wäre. Von dieser Möglichkeit wird auch bei Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts Gebrauch gemacht.
Zusatzfrage!
Herr Staatsminister, darf ich aus Ihrer Antwort schließen, daß die Bundesregierung bei der Ausstellung amtlicher Pässe die Entscheidung dieses Hauses in der 4. Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, die Bundesverfassungsrichter in allen notwendigen Punkten den Bundestagsabgeordneten gleichzustellen — etwa freie i Fahrt auf der Eisenbahn usw. —, beachtet hat?
Herr Abgeordneter, Sie kennen die Richtlinien — ich habe sie Ihnen kürzlich mitgeteilt —, die zur Ausstellung solcher Pässe dienen. Ich habe eben in meiner Antwort gesagt, daß, wenn aus dienstlichen Gründen oder im Interesse der Bundesrepublik Deutschland Auslandsreisen unternommen werden — die besser unternommen werden können, wenn amtliche Pässe da sind —, selbstverständlich amtliche Pässe ausgestellt werden. Es gibt übrigens auch Inhaber von amtlichen Pässen an diesem Gericht.
Keine Zusatzfrage.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Staatsminister.
Wir kommen dann zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haehser zur Verfügung.
Die Frage 19 soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe dann die Frage 20 des Herrn Abgeordneten Baier auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Beiträge nach dem Kommunalabgabengesetz, z. B. zum Bau einer Gemeinschaftskläranlage, von den Grundstückseigentümern nicht als Betriebsausgaben abgesetzt werden können, sondern im Gegenteil noch eine Erhöhung der Grund-, der Vermögens- und der Gewerbekapitalsteuer zur Folge haben, und ist sie bereit, dem Bundestag eine Gesetzesnovellierung vorzulegen, wonach gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen für den Umweltschutz steuerlich als Betriebsausgaben abgesetzt werden können, um damit unangemessene finanzielle Belastungen der Grundstückseigentümer zu vermeiden und andererseits einen Anreiz zur Erstellung von Einrichtungen des Umweltschutzes zu geben?
Herr Kollege, die Anschaffung oder Herstellung von abnutzbaren Wirtschaftsgütern, die ausschließlich und unmittelbar dem Umweltschutz dienen, wird im geltenden Recht durch Gewährung von Sonderabschreibungen gefördert. Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, diese Abschreibungsbegünstigung mit Wirkung ab 1975 zu erweitern und zu verstärken. Über den Vorschlag der Bundesregierung hat der Deutsche Bundestag noch zu entscheiden.
Kanalanschlußgebühren, die für gemeindliche Abwasseranlagen entrichtet werden müssen, stellen jedoch Aufwendungen für ein nicht abnutzbares Wirtschaftsgut dar. Sie werden steuerlich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Aufwendungen auf den Grund und Boden behandelt, bei dem Absetzungen für Abnutzung nicht zulässig sind. Die Bundesregierung teilt die Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs.
Im übrigen trifft es nicht zu — jedenfalls, Herr Kollege Baier, nicht in der in Ihrer Fragestellung unterstellten Allgemeinheit —, daß die Kanalanschlußgebühren zu einer Erhöhung der Grund-,
9612 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer führen. Eine Erhöhung dieser Steuer könnte sich allenfalls wegen der mit einer Erschließung oder besseren Erschließung des Grundstücks verbundenen Werterhöhung, nicht aber wegen der Zahlung des Anschlußbeitrags ergeben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie trotz der zitierten Urteile, die unbestritten sein mögen, doch ausdrücklich fragen, ob es die Bundesregierung nicht für sinnvoll und notwendig hält, dem angesichts des hohen Stellenwertes des Umweltschutzes neben Gesetzen und Verordnungen, die herausgegeben werden, auch dadurch Rechnung zu tragen, daß sie die steuerliche Absetzbarkeit dieser Umweltschutzmaßnahmen für diejenigen, die sie bezahlen müssen, generell einführt.
Herr Kollege Baier, ich nehme an, daß Sie sich auf den zweiten Teil meiner Antwort beziehen. Hier ist die Bundesregierung eben der Meinung, daß es sich nicht um Aufwendungen für den Umweltschutz handelt. Deswegen unterstützt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesfinanzhofs und die ergangenen Urteile.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, dann eine Frage dazu, die in den konkreten Bereich geht: Wie erklären Sie sich den Widerspruch, daß beispielsweise private Hauskläranlagen steuerlich abgeschrieben werden können, hingegen Beiträge zu Gemeinschaftskläranlagen, die ja die privaten Kläranlagen ersetzen, steuerlich weder absetzbar noch abschreibbar sind?
Herr Kollege Baier, ich brauche mir den Widerspruch nicht zu erklären, weil ich das nicht für einen Widerspruch halte.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 21 des Abgeordneten Dr. Schöfberger soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haar zur Verfügung. Die Fragen 66 und 67 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Jahn ist soeben in einem anderen Ressort behandelt worden.
Ich rufe die Frage 69 des Herrn Abgeordneten Gerlach auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 70 des Abgeordneten Egert soll auf Bitte des Fragestellers ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 71 des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Weshalb wurde die Kücheneinrichtung des modernsten Elektrotriebwagenzugs der Deutschen Bundesbahn, der als IC-Zug „Hermes" verkehrt, mit einem Mikrowellenherd ausgestattet, der die Zubereitung nur einer äußerst geringen Anzahl von Gerichten zuläßt?
Bitte schön!
Herr Kollege, wie mir die Deutsche Bundesbahn auf Anfrage mitgeteilt hat, ist die Kücheneinrichtung des Schnelltriebwagens ET 403 von der Deutschen Bundesbahn im Benehmen mit der Deutschen Schlafwagen- und Speisewagengesellschaft nach modernsten Gesichtspunkten konzipiert worden. In der Küche des Speisetriebwagens werden drei verschiedene Herdtypen vorgehalten, die sich bereits an anderer Stelle gut bewährt haben.
Im einzelnen handelt es sich um zwei Mikrowellenherde, einen Auftauherd und einen Elektroherd mit vier Platten und mit eingebautem Auftauofen.
Beschwerden über längere Wartezeiten bei der Warmessenbestellung sind der Bundesbahn nach den mir vorliegenden Informationen bisher nicht bekannt geworden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, was sagen Sie zu der mir zugegangenen Mitteilung, daß die Hauptverwaltung der Deutschen Schlafwagen- und Speisewagengesellschaft durch die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn überhaupt nicht von dem Bau dieser Küche unterrichtet worden ist?
Das ist meinem Hause bislang nicht bekannt. Ich greife diese mir heute zugegangene Information gerne auf, um sie zu prüfen, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht einen Widerspruch zwischen Ihrer ursprünglichen Antwort und der Mitteilung des
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9613
Dr. Arndt
Chefstewards dieses Zuges, daß er auf seinem Herd nicht einmal Bratkartoffeln herstellen könne?
Herr Kollege, ich kann bezüglich der Inbetriebnahme dieser Einzelgeräte im Einzelfall natürlich keinen Zusammenhang mit der Anschaffung feststellen. Aber ich schließe nicht aus, daß es in der Bedienung auch Unterbrechungen gibt, die andere Gründe haben als die Frage der Abstimmung der Anschaffung selbst.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe auf die Frage Nr. 72 des Herrn Abgeordneten Flämig:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, den Einsatz von Streusalz wegen der schädlichen Wirkung auf Pflanzen und Tiere im kommenden Winter zu unterbinden oder zumindest einzuschränken?
Bitte schön!
Herr Kollege! Nach dem heutigen Stand der Technik lassen sich Straßen nur dann den Winter über mit finanziell vertretbaren Aufwendungen für den Verkehr offenhalten, wenn zur Bekämpfung der Winterglätte Streusalz verwendet wird. Dabei muß in Kauf genommen werden, daß Gehölze auf Mittel- und Seitenstreifen durch die salzhaltigen Sprühfahnen Kontaktschäden erleiden können. Dies ist zu vermeiden, indem salzresistente Gehölze angepflanzt werden. Im übrigen sind Pflanzen nur wenig und Tiere überhaupt nicht gefährdet.
Mit Rücksicht auf die Erfordernisse des Straßenverkehrs, insbesondere auch der Verkehrssicherheit, sieht daher die Bundesregierung keine Möglichkeit, die Streusalzverwendung auf Straßen zu verhindern. Auch eine Einschränkung ist nicht möglich, weil sich der Umfang der Salzstreuung auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß durch Streusalz nicht nur Pflanzen und Tiere beschädigt oder belästigt werden, sondern daß insbesondere auch die Straßendecken dadurch sehr stark beschädigt werden? Und warum nimmt man nicht andere abstumpfende Mittel als Salz?
Ich will Ihre Anregung gerne aufgreifen. Ich schließe nicht aus, daß da und dort auch Brücken durch das Salzstreuen gewisse Schäden erleiden oder daß sich zumindest über Jahre hinweg Wirkungen zeigen.
Weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß nicht nur Bundesstraßen, sondern auch Gemeindestraßen gegen Glätte geschützt werden müssen? Und trifft auch auf Gemeindestraßen Ihre Aussage zu, daß Tiere nicht belästigt werden? Im allgemeinen ist doch bekannt, daß gerade Tiere unter dem Salz sehr zu leiden haben.
Ich kann Sie im Augenblick nur darauf hinweisen, daß wir für nachhaltige Schäden an Tieren im Vergleich zu dem Aufwand unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit kein Beispiel nennen können, das es nicht rechtfertigt, auch künftig im Winter aus den Gründen, die ich in der Beantwortung Ihrer ersten Frage dargelegt habe, weiterhin Salz zu streuen.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 73 bittet der Fragesteller schriftlich zu beantworten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 74 des Herrn Dr. Enders:
Trifft es zu, daß die Arbeiterwochenkarten der Deutschen Bundeshahn nur von Montag bis Samstag gelten und die Arbeitnehmer, die am Sonntag zur Arbeit fahren, sich eine zusätzliche Einzelkarte kaufen müssen, und ist die Bundesregierung bereit, darauf hinzuwirken, daß im Hinblick auf die gleitende Arbeitswoche und die zunehmende Sonntagsarbeit die Gültigkeit der Arbeiterwochenkarte der DB auch auf den Sonntag ausgedehnt wird, damit den betroffenen Arbeitnehmern keine zusätzlichen Fahrkosten entstehen, zumal sie ihre Karte nicht an allen Wochentagen benützen?
Herr Kollege, es trifft nach Auskunft der Deutschen Bundesbahn zu, daß die Wochenkarten der Bundesbahn von Montag bis Samstag gelten. Arbeitnehmer, die im Hinblick auf eine gleitende Arbeitswoche auch sonntags zwischen Wohn- und Arbeitsort pendeln müssen, brauchen keine zusätzliche — übrigens ebenfalls ermäßigte — Einzelfahrkarte für Berufstätige zu lösen, wenn sie sich der im Fahrpreis günstigeren Monatskarten bedienen, die an allen Tagen der Woche gelten. Unter diesen Umständen besteht nach Auffassung der Deutschen Bundesbahn keine Veranlassung dazu, die Geltungsdauer der Wochenkarten zu ändern, zumal dies mit einer Verteuerung verbunden sein müßte.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen in dieser Frage die Schwierigkeit bekanntgeworden, die darin beruht, daß die Arbeitnehmer, die sonntags arbeiten müssen, nicht an allen Wochentagen mit der Deutschen Bundesbahn fahren können? Gerade deswegen bitten sie darum, daß die Ausdehnung der Gültigkeit der Arbeiterwochenkarte auf den Sonntag erfolgt. Mit Ihrem Hinweis, daß eine Monatskarte billiger sei als die Wochenkarte, kann ich mich nicht zufriedengeben. Denn die ausgefallenen Wochentage würden bei der Monatskarte bezahlt werden müssen; so käme sie letzten Endes teurer.
9614 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Herr Kollege, ich habe schon auf die Möglichkeit des Ausweichens zum Lösen einer Monatskarte für diesen betroffenen Kreis der Arbeitnehmer hingewiesen.
Vielleicht interessiert Sie das Ausmaß der Ermäßigung bei den Wochenkarten und den Monatskarten. Ich glaube, damit hat die Bundesbahn durchaus eine Alternative anzubieten. Bei einer Entfernung bis zu 15 Kilometern ist bei Wochenkarten das Preisverhältnis zu den Normalfahrkarten eine 37,5 %ige Verringerung, bei Monatskarten ist eine Ersparnis von 47,5 % festzustellen. Bei einer Entfernung bis zu 25 Kilometern wird das noch höher, von 51,9 % bei der Wochenkarte auf 59,2% bei der Monatskarte. Bei einer Entfernung bis zu 50 Kilometern geht es von 58,3% auf 65 %. Das heißt: Der Arbeitnehmer, der zum Teil auch an Sonntagen arbeitet, kann, wenn er sich entscheidet, eine Monatskarte zu lösen, auch hier mit besonderen Vergünstigungen rechnen.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 75 und 76 des Abgeordneten Gerster sowie die Frage 77 des Abgeordneten Tillmann sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haar. Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Herold zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Baier auf:
Ist in den Gesprächen mit der DDR einmal danach gefragt worden, aus welchen Gründen bei Geschenksendungen in die DDR jeweils eine vom Landesgesundheitsamt amtlich ausgestellte „Desinfektionsbescheinigung" erforderlich ist?
Frau Präsidentin, Herr Kollege Baier, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten.
Die DDR verlangt schon seit 1961 Desinfektionsbescheinigungen für gebrauchte Textilien und Schuhe — sowohl beim Versand in Postpaketen als auch bei der Mitnahme im Reiseverkehr. Dieses Erfordernis ist mit hygienischen Notwendigkeiten begründet worden und gilt gegenüber allen Staaten.
In den Verhandlungen mit der DDR über ein Abkommen auf dem Gebiete des Gesundheitswesens ist von unserer Seite großer Wert auf den Wegfall der Desinfektionsbescheinigung gelegt worden. Eine entsprechende Einigung für die Mitnahme im Reiseverkehr ist erzielt und wird mit dem Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens wirksam werden.
Der Wegfall der Desinfektionsbescheinigung beim Versand von Postpaketen ist bei Gelegenheit der Postverhandlungen mit der DDR besprochen worden. Bei einem erfolgreichen Abschluß der Postverhandlungen mit der DDR dürfte auch dieses Problem eine befriedigende Regelung erfahren. Ich verweise hierzu auf meine Antwort vom 31. Oktober 1974 auf die Frage des Kollegen Dr. Köhler . In der Sache selbst hat sich nichts geändert.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die DDR im Paketverkehr von allen Staaten, also auch von den Ostblockstaaten, eine derartige Bescheinigung verlangt?
So ist es.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kreutzmann.
Herr Staatssekretär, warum besteht die DDR darauf, daß die Desinfektionsbescheinigungen von den Landesgesundheitsämtern ausgestellt werden müssen?
Auch diese Frage ist geklärt. Die Ausstellung der erforderlichen Desinfektionsbescheinigungen durch die Landesgesundheitsämter ist nicht mehr notwendig; die Bescheinigungen können heute auch vom örtlichen Gesundheitsamt ausgestellt werden.
Keine Zusatzfrage?
Ich rufe dann die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Werner auf:
Inwieweit hat die Bundesregierung während der Verhandlungen mit der Regierung der DDR über Verlängerung und Ausweitung des Überziehungskredits im innerdeutschen Handel auf eine Gleichbehandlung der Benützer der Straßen und Wege in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR hingewirkt, bzw. wird die Bundesregierung in zukünftigen Verhandlungen eine Gleichbehandlung im Bereich der Straßenbenutzungsgebühren anstreben?
Frau Präsident, Herr Kollege Werner, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten.
Über den Wegfall der Straßenbenutzungsgebühren, die die DDR erhebt, ist im Zusammenhang mit der Verlängerung des Swing nicht gesprochen worden. Da auf dem Gebiet der Wegekostenerstattung gegenüber der DDR bisher keine Gegenseitigkeit besteht, ist beabsichtigt, im Rahmen der Steuerreform auch DDR-Fahrzeuge grundsätzlich in die Kraftfahrzeugsteuer einbeziehen. Dabei wird, wie auch gegenüber anderen Ländern, die Möglichkeit bestehen, auf der Basis der Gegenseitigkeit auf die Erhebung von Wegegebühren zu verzichten, wie das im übrigen gegenüber anderen Ländern im Westen bereits der Fall ist.
Eine Zusatzfrage.
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Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß es sich aus Sinn und Inhalt des Grundlagenvertrages und der darauf notwendigerweise aufbauenden Folgeverträge ergeben muß, daß in diesem Bereich möglichst rasch konkrete Verhandlungen aufgenommen werden und daß es hier wenig zweckdienlich ist, zunächst auf Regelungen im Bereich steuerrechtlicher Art zu warten?
Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß es hier auch um ein Politikum geht. Wir haben DDR-Fahrzeuge bisher als „inländische Fahrzeuge" betrachtet und sie von der Steuer freigestellt. Eine Änderung unserer Haltung muß daher wohl bedacht werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Halten Sie dementsprechend die Erhebung von besonderen Straßenbenutzungsgebühren seitens der DDR für rechtlich begründet?
Das habe ich nicht sagen wollen.
Eine Zusatzfrage, bitte schön!
Herr Staatssekretär, würden Sie mir folgende Frage beantworten: Warum sind Gespräche mit der DDR wegen einer Verminderung oder Begrenzung der Straßenbenutzungsgebühren nicht schon längst aufgenommen worden?
Ich habe bereits erklärt, daß wir auch dieses Problem angehen wollen, und ich glaube, daß wir im Rahmen der Steuerreform auch hier eine vernünftige Lösung finden werden.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 80 des Herrn Abgeordneten Dr. Warnke auf. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, ebenfalls Frage 81. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 82 des Herrn Abgeordneten Dr. Abelein auf.
Wie hat die Bundesregierung bei den jüngsten Gesprächen des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland, Staatssekretär Gaus, mit der DDR sichergestellt, daß in Zukunft nicht erneut durch vertragswidrige Erhöhung der Zwangsumtauschsätze seitens der DDR Druck auf die Bundesregierung zur Erreichung abermaliger Gegenleistungen ausgeübt werden kann?
Frau Präsidentin! Herr Professor Abelein, die Bundesregierung vertritt die Auffassung, daß jede Maßnahme der DDR, die den Reiseverkehr zwischen den beiden deut-
schen Staaten grundsätzlich einschränkt, einen Wegfall der Geschäftsgrundlage der bisher mit der DDR geschlossenen Verträge bedeutet. Aus gutem Grunde hat die Bundesregierung jedoch nicht mit der Regierung der DDR über den Mindestumtausch verhandelt, um diese einseitig von der DDR verfügte Maßnahme nicht seitens der Bundesregierung anzuerkennen und zum Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen zu machen. Deshalb kann auch nicht die Rede davon sein, daß die Reduzierung der Mindestumtauschsätze oder die Herausnahme der Rentner aus der Pflicht zum Mindestumtausch auf einer Gegenleistung der Bundesregierung beruht.
Die Bundesregierung hat es allerdings nicht für richtig gehalten, in dem Augenblick, da die Regierung der DDR im wesentlichen zur Geschäftsgrundlage der bisher geschlossenen Verträge zurückgekehrt war, die Aufnahme von Verhandlungen über beide Seiten interessierende Fragen zu verzögern. Sollte die Regierung der DDR allerdings die Geschäftsgrundlage der bisherigen Vereinbarung erneut verletzen, so wird die Bundesregierung die von ihr zugesagten Erleichterungen nicht aufrechterhalten können.
Zusatzfrage.
Ergibt sich daraus, Herr Staatssekretär, daß der zumindest zeitliche Zusammenhang zwischen der Unterzeichnung des Swing-Abkommens und der teilweisen Rückgängigmachung des Zwangsumtausches rein zufälliger Art ist?
Herr Professor Abelein, Ihnen sollte die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers erinnerlich sein. Er hat hier eindeutig den chronologischen Hergang dargestellt, aus dem ersichtlich wird, daß der Zusammenhang, den Sie vermuten, nicht besteht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, bedeutet das nicht geradezu eine Einladung an die Regierung der DDR, erneut derartige Einschränkungen des Besucherverkehrs vorzunehmen, wenn die Bundesregierung — wie jetzt geschehen — weitreichende Abmachungen mit der DDR trifft, ohne daß die DDR zur vollen Geschäftsgrundlage zurückgekehrt ist?
Ich verstehe nicht, was Sie meinen mit „erneut . . . Einschränkungen . . . vorzunehmen". Das ist doch im Augenblick gar nicht aktuell. Die DDR hat einen gewichtigen Teil ihrer Einschränkungen zurückgenommen. Und wir werden auch bei den künftigen Gesprächen und Ver-
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Parl. Staatssekretär Herold
handlungen weiterhin auf einer völligen Zurücknahme bestehen. Oder sind Sie der Meinung, daß wir so lange nicht weiterverhandeln sollten, bis der Rest der Einschränkungen ebenfalls zurückgenommen ist? Ich glaube, daß das für uns ein Rückschritt wäre. Es ist doch nicht zu bestreiten, daß sich in allen Bereichen einiges entwickelt hat, worüber wir uns gemeinsam freuen können.
Nun eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Abelein.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bewußt, daß Sie sich gerade in einen eklatanten Widerspruch verwickelt haben, weil Sie davon sprachen, daß Sie auf die Rücknahme des Zwangsumtausches in Verhandlungen eingehen wollten, was Sie doch nach Ihrer ersten Auskunft doch gerade nicht tun wollten?
Ich habe auch von Gesprächen — ich bitte, das im Protokoll nachzulesen —,
— ja, von Verhandlungen und Gesprächen gesprochen. Gerade in dieser Frage habe ich ausdrücklich auch die Gespräche genannt. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Ich glaube, Herr Professor Abelein, das werden Sie mir zugeben müssen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Arndt.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß die Einräumung des Swing ein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist und daß infolgedessen auch ein großes Interesse der westdeutschen Wirtschaft an der Inanspruchnahme von Swing-Krediten besteht?
Diese Frage kann ich nur mit einem glatten Ja beantworten. Sie wissen, es handelt sich im abgelaufenen Jahr um eine Summe von 600 bis 700 Millionen DM. Diese Zahl ist, wie ich glaube, auch für die bundesrepublikanische Wirtschaft sehr interessant.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Kreutzmann.
Di. Kreutzmann Herr Staatssekretär, können Sie einmal sagen, welche Erfahrungen frühere Bundesregierungen mit dem Versuch gemacht haben, den innerdeutschen Handel als politischen Hebel zu benutzen?
Herr Kollege Dr. Kreutzmann, ich könnte hier konkrete Aussagen
zitieren, möchte dies aber im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit nicht tun. Eines steht aber fest: 1960 gab es einen Versuch, den Swing als Hebel zu benutzen — ohne Erfolg. Schon 1961 beim Mauerbau hat man darauf verzichtet. Nehmen wir die Große Koalition 1968, ein paar Monate nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei. Auch da hat man die Vereinbarung über den Swing nicht als politisches Instrument betrachtet, ihn nicht als politischen Hebel benutzt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gradl.
Herr Staatssekretär, sind Sie wirklich der Meinung, daß man so pauschal, wie Sie es soeben getan haben, erklären kann, das frühere Regierungen, ganz gleich, wie sie zusammengesetzt waren, den Interzonenhandel nicht als Instrument für Verbesserungen in anderen Bereichen benutzt haben? Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß z. B. die wesentliche Erleichterung, die 1964 erreicht worden ist, nämlich die Freigabe der Rentnerreisen von Ost nach West, durchaus auch in einer Verbindung — allerdings nicht formal — mit dem Interzonenhandelsgeschäft stand. Das vollzog sich damals alles nur nicht spektakulär. Ich nenne auch nur dieses eine Beispiel; es gab noch mehr.
Herr Kollege Dr. Gradl, ich kann diese Zusammenhänge exakt nicht bestätigen. Dazu fehlt mir heute die Detailkenntnis. Es war nicht meine Absicht. diese Dinge pauschal darzustellen. Ich habe vielmehr drei markante Beispiele genannt, die klar belegen, daß man den innerdeutschen Handel nicht als politischen Hebel benutzt hat.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Höhmann.
Herr Staatssekretär, können Sie nicht auch bestätigen, daß eine frühere, von der CDU geführte Bundesregierung durchaus schon einmal den Versuch unternommen hat, den innerdeutschen Handel als politischen Hebel zu benutzen, und dabei furchtbar auf den Bauch gefallen ist?
Herr Kollege, ich würde nicht sagen: auf den Bauch gefallen. Aber man hat sich mit anderen westlichen Ländern ins Benehmen setzen müssen, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren.
Keine Zusatzfrage. — Dann rufe ich die Frage 83 des Herrn Abgeordneten Dr. Abelein auf:
Hat die Bundesregierung bei ihren Gesprächen mit der DDR-Regierung durch Staatssekretär Gaus sichergestellt, daß auch
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Vizepräsident Frau Funcke
die vertragswidrige Verdoppelung der Zwangsumtauschbeträge wieder vollständig zurückgenommen wird, und wenn ja, warum hat die DDR-Regierung dies nicht in ihr aide memoire aufgenommen?
Herold, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen? Frau Präsidentin! Herr Professor Abelein! Ich möchte an das anknüpfen, was ich bei der Beantwortung Ihrer ersten Frage gesagt habe, und betonen, daß die Bundesregierung sich weiterhin um eine Senkung und langfristig um den völligen Wegfall der einseitig von der DDR verfügten Pflicht zum Mindestumtausch bemüht. Die Bemühungen um den völligen Wegfall der Pflicht zum Mindestumtausch werden allerdings kurzfristig kaum einen Erfolg zeitigen; darüber sind wir uns wohl alle im klaren. Ich darf bei dieser Gelegenheit in Ihr Gedächtnis rufen, daß auch andere Staaten des Warschauer Paktes die Pflicht zum Mindestumtausch kennen.
Keine Zusatzfrage.
Wir kommen zur Frage 84 des Herrn Abgeordneten Lagershausen. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die von dem Herrn Abgeordneten Lagershausen eingebrachten Fragen 84 und 85 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 86 des Herrn Abgeordneten Jäger auf:
Warum hat sich die Bundesregierung entgegen ihrer bisherigen Haltung auf die Paraphierung eines Abkommens-Textes über die Verlängerung des Überzichungskredits im innerdeutschen Handel eingelassen, ehe die DDR-Regierung öffentlich die Rücknahme des Zwangsumtauschs für Rentner ankündigte, und warum hat die Bundesregierung nicht die schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit mit Vor-Papieren dieser Art berücksichtigt?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Jäger! Ich beantworte Ihre Frage wie folgt. Es erscheint mir notwendig, zur Beantwortung Ihrer Frage noch einmal den Ablauf der Ereignisse insgesamt darzustellen.
Bekanntlich ist seit dem Sommer dieses Jahres mit der DDR über eine Reihe von Fragen gesprochen worden. Die formalisierten Ergebnisse dieser Gespräche hatten folgende Reihenfolge. Am 5. November hat die DDR in ihrem Gesetzblatt die Senkung der Tagessätze des Mindestumtausches auf 13 DM bzw. 6,50 DM mit Wirkung vom 15. November bekanntgegeben. Ende November hat sie sich intern gebunden, die Rentner wieder vom Mindestumtausch zu befreien. Nach dreitägigen Verhandlungen ist am 6. Dezember der Briefwechsel über die Verlängerung des Swing paraphiert worden. Am 9. Dezember hat die DDR formell mitgeteilt, daß sie die Rentner mit Wirkung vom 20. Dezember 1974 vom Mindestumtausch befreit und zu weiteren Reiseerleichterungen sowie zu Verhandlungen über Wirtschafts- und Verkehrsfragen bereit ist. Danach ist am 12. Dezember der Briefwechsel über den Swing unterschrieben worden. Am 16. Dezember hat die Bundesregierung nach genauer Prüfung der Mitteilungen formell erklärt, daß sie das Verhandlungsangebot annimmt.
Wenn man sich diesen Ablauf vor Augen hält, wird ganz deutlich, daß die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt Vorleistungen erbracht hat, auch nicht im Lichte des Entschlusses der DDR vom 7. Dezember, einseitig die Paraphierung des Briefwechsels vom 6. Dezember bekanntzugeben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie mit Ihrer historischen Darstellung meine Frage wenigstens insofern positiv beantwortet haben, als nun klargestellt ist, daß bereits vor einer öffentlichen Ankündigung der DDR über den Wegfall des Mindestumtausches für Rentner die Zusage der Bundesregierung für die Verlängerung des Swing ergangen ist, frage ich Sie, ob sich die Bundesregierung mit dieser Darstellung, die Sie gegeben haben, nicht zu dem in Widerspruch gesetzt hat, was bisher gesagt wurde, daß nämlich die DDR erst zur Vertragstreue zurückkehren müsse und erst dann über die übrigen Dinge verhandelt werde.
Ich habe, glaube ich, hier eindeutige Erklärungen abgegeben. Ich habe außerdem auf die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers verwiesen und möchte dies noch einmal tun. Von Vorleistungen kann keine Rede sein, und der Ablauf ist so gewesen, wie ich ihn hier dargestellt habe.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, auch wenn Sie davon sprechen, daß es keine Vorleistungen gegeben habe: Ist hier nicht ein klarer Widerspruch zu der bisherigen Haltung der Bundesregierung zu sehen, die erklärt hat, erst müsse dieser Zwangsumtausch vom Tisch sein — das bedeutet, daß die Verordnung der DDR geändert sein muß —, ehe über alles Weitere mit der DDR verhandelt werde?
Der Zwangsumtausch ist zu zwei Dritteln zurückgenommen worden. Des weiteren ist die Befreiung der Rentner vom Zwangsumtausch erfolgt. Wir können damit feststellen, daß auf Grund langer und zäher Gespräche ein wesentlicher Fortschritt erreicht wurde. Dies wird für mich besonders deutlich, wenn ich daran denke, was hier in Fragestunden im November vergangenen Jahres, als über die Erhöhung der Zwangsumtauschsätze gesprochen wurde, alles gesagt worden ist. Natürlich ging es langsamer, als wir angenommen haben. Wir sind heute aber einen deutlichen Schritt weiter. Ich würde den Erfolg, der hier erreicht worden ist, nicht negativ bewerten, wie Sie das getan haben, Herr Kollege Jäger.
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Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schachtschabel.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Lieferungen der deutschen Industrie in die DDR von 1973 auf 1974 um 800 Millionen oder um rund ein Drittel gestiegen sind, und teilen Sie die Meinung, daß ohne Swing auch nachteilige Konsequenzen für unseren Arbeitsmarkt eingetreten wären?
Ich glaube, Herr Kollege Schachtschabel, ich konnte das bereits an anderer Stelle bestätigen. Die neuesten Berichte des Bundeswirtschaftsministeriums belegen Ihren Hinweis außerdem.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Höhmann.
Herr Staatssekretär, da man davon ausgehen darf, daß der sogenannte Swing keine sozialdemokratische Erfindung ist, frage ich: Sind Sie der Meinung, daß die Einräumung des Swing von Anfang an in jedem Falle eine politische Vorleistung von CDU-Regierungen gewesen ist?
Ich glaube, das kann man sagen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Staatssekretär, können Sie mir darin zustimmen, daß die DDR-Regierung immer noch nicht auf die alte Geschäftsgrundlage zurückgekehrt ist, nachdem der Zwangsumtausch immer noch um ein Drittel höher als vor Abschluß des Grundvertrages ist?
Herr Kollege Hupka, Sie hören doch immer gut zu. Ich habe das bereits bestätigt.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Mende.
Herr Staatssekretär, können Sie Ihren Kollegen aus den Akten Ihres Hauses mitteilen, daß alle Regierungen jeglicher Koalition in der Vergangenheit selbstverständlich den innerdeutschen Handel auch mit politischen Konsequenzen überdacht haben, daß beispielsweise schon das Hinausschieben der Saldierung über den 30. Juni mit Gegenleistungen der anderen Seite honoriert wurde und daß im Gesamtdeutschen Ausschuß unter Vorsitz Herbert Wehners immer Einstimmigkeit bestand, daß Leistung und Gegenleistung im innerdeutschen Handel adäquat sein müßten?
Herr Kollege Dr. Mende, ich sehe da ja keinen Widerspruch, im Gegenteil, die Gemeinsamkeit, die Sie ansprechen, die damals vorhanden war, vermissen wir heute, und das bedauern wir sehr. Das möchte ich hier offen sagen.
Keine Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Jäger auf:
Trifft die Äußerung im Kommentar des SED-parteiamtlichen „Neuen Deutschland" vom 11. Dezember 1974 zu, in dem auf die zeitliche Reihenfolge: Verlängerung des Swing im innerdeutschen Handel und erst danach Angebote der DDR über menschliche Erleichterungen hingewiesen wurde und daß schon vor der offiziellen Unterzeichnung der Vereinbarung über die Verlängerung des Swing von „sehr konkreten Vereinbarungen" gesprochen wurde?
Frau Präsidentin, Herr Kollege Jäger! Der Kommentar im „Neuen Deutschland" vom 11. Dezember 1974 kann nichts am Ablauf und am inneren Zusammenhang der Ereignisse ändern, wie ich sie hier in meiner Antwort bereits dargestellt habe.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, muß ich aus dieser Antwort schließen, daß dieser Kommentar in der Sache zutreffend ist?
Ich beziehe mich nicht auf den Kommentar, sondern auf die Feststellungen, die dort veröffentlicht worden sind. Ein Kommentar ist nicht Feststellung. Schreiben kann jeder, was er will.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, muß ich aus diesem neuerlichen Ausweichen auf meine Frage den Schluß ziehen, daß es der Bundesregierung vollständig gleichgültig ist, wie das offizielle Zentralorgan der Regierung, mit der sie verhandelt, diese Dinge kommentiert?
Entschuldigen Sie, sollen wir aus Kommentaren des Zentralblattes der SED vielleicht besondere Instruktionen entnehmen? Wir nehmen es zur Kenntnis und werten es aus.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9619
Parl. Staatssekretär Herold
Ich weiß nicht, was Sie sich vorstellen, Herr Kollege Jäger. Wenn Sie die Antwort nicht bekommen, die Sie erwarten, zweifeln Sie an der sachgemäßen Beantwortung der Frage. Ich muß das zurückweisen.
Keine Zusatzfrage mehr.
Ich rufe die Frage 88 des Herrn Abgeordneten Böhm auf:
Hat die Bundesregierung bei ihren jüngsten Verhandlungen mit der DDR Auskunft über die Verwendung der Straßenbenutzungsgebühren verlangt und erhalten, die im Rahmen der jährlichen Pauschalsumme von 234,9 Millionen DM gemäß Art. 18 des Transitabkommens derzeit jährlich an die DDR von der Bundesrepublik Deutschland entrichtet werden?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Böhm.
Ich wollte die Beantwortung eigentlich an die Antwort auf die Frage des abwesenden Kollegen Lagershausen anschließen, darf aber hier nun folgendes bemerken: Die Transitpauschale ist in Artikel 18 des Transitabkommens geregelt. Artikel 18 Absatz 4 lautet — ich darf zitieren —:
Die Höhe der ab 1976 zu zahlenden Pauschalsumme und die Bestimmung des Zeitraumes, für den diese Pauschalsumme gültig sein soll, werden im zweiten Halbjahr 1975 unter Berücksichtigung der Entwicklung des Transitverkehrs festgelegt.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß auf Grund der neuen Angebote der DDR im kommenden Jahr Verhandlungen über zahlreiche Verkehrsfragen aufgenommen werden. Bei diesen Verkehrsverhandlungen wird sich die Frage stellen, wofür die bisher eingenommenen Straßenbenutzungsgebühr verwandt worden ist und welche Auswirkungen sich durch eventuelle neue Maßnahmen auf bestehende Zahlungsregelungen ergeben werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich daraus schließen, daß es die Bundesregierung bis heute noch nicht ein einziges Mal für richtig und notwendig gehalten hat, sich nach der Verwendung der bisher gezahlten Straßenbenutzungsgebühren in der DDR zu erkundigen?
Herr Kollege Böhm, ich glaube, daß Sie in der Fragestunde anwesend waren, in der ich diese Frage gegenüber Herrn Kollegen Wohlrabe beantwortet habe. Ich wiederhole sinngemäß: Ich glaube, es wäre eine Anmaßung, wenn wir uns zum Rechnungsprüfer der Verantwortlichen in Ost-Berlin machen würden, und verlangten, daß diese nachweisen, wofür sie ihre Mittel ausgeben. Auch andere Staaten lehnen solche Kontrollen ab. Ich bitte, dies zu berücksichtigen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es nicht eigentlich selbstverständlich, daß man, wenn an die DDR Straßenbenutzungsgebühren gezahlt werden, auch Wert darauf legt, daß die dafür aufgewandten Steuergelder der Bürger der Bundesrepublik Deutschland für den bestimmten Zweck ausgegeben werden und nicht für irgendwelche andere Dinge,
die die DDR damit betreibt, vielleicht kommunistische Infiltration und Agitation innerhalb der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Kollege Böhm, ich weiß nicht, was diese Polemik in Ihrer Frage soll. Sie würden sich wahrscheinlich davor hüten, über die Ausgabe von Beträgen, die wir im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zu leisten haben, in dieser Form Rechenschaft zu verlangen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Höhmann.
Herr Staatssekretär, könnten Sie Herrn Kollegen Böhm nicht noch mal eine eingehende Lektüre dieses Abkommens empfehlen, woraus ganz klar hervorgeht, daß es sich um Zahlungen für erbrachte Leistungen handelt, bei Postverkehr wie auch bei Straßenbenutzungsgebühren? Die Straßenbenutzungsgebühren hat es auch schon gegeben, bevor die Sache pauschaliert gewesen ist.
Ich danke Ihnen für diese Ergänzung. Ich kann mir dadurch eine weitere Beantwortung ersparen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, bietet nicht der Straßenzustand der Transitwege von der Bundesrepublik Deutschland nach Berlin Anlaß genug, die DDR danach zu fragen, was sie mit dieser Pauschale bisher angefangen hat?
Herr Kollege Jäger, Sie verfolgen doch die politischen Ereignisse sehr aufmerksam. Gerade in den letzten Wochen ist eine neue Situation entstanden, in der uns Angebote der
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Parl. Staatssekretär Herold
anderen Seite über den Ausbau von Verkehrswegen gemacht worden sind.
Daß hier entsprechend verhandelt werden wird, ist doch klar.
Keine Zusatzfrage? — Wir kommen zu der Frage 89 des Herrn Abgeordneten Dr. Marx:
Wie hoch beliefen sich in den Jahren 1973 und 1974 die einzelnen Zahlungen an die DDR?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Dr. Marx, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten:
Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Wohlrabe und anderer und der Fraktion der CDU/CSU am 17. Januar 1974 ausführlich und detailliert die Zahlungen an die DDR in den Jahren 1970 bis 1973 dargelegt. Ich darf Sie dazu an die Drucksache 7/1554 des Deutschen Bundestages erinnern. Sie können daraus die von Ihnen gewünschten Zahlen für das Jahr 1973 im einzelnen entnehmen. Ich sehe wenig Sinn darin, sie hier noch einmal zu verlesen. Die Zahlen von 1974 liegen leider noch nicht vor. Ich bin aber gerne bereit, Herr Kollege Dr. Marx, sie Ihnen so bald wie möglich zur Verfügung zu stellen, kann aber sagen, daß sie in der Größenordnung etwa die gleichen geblieben sind.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, diese Zahlen — ich will sie jetzt gar nicht eigens haben, wenn das Schwierigkeiten macht — in den Bericht über die Lage der Nation einzuarbeiten und vielleicht auch gleich zu berücksichtigen, was ich in der nächsten Frage gefragt habe?
Die Zahlen sind zu erarbeiten, sie können in der geeigneten Form zu gegebener Zeit veröffentlicht werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder!
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung schon einmal ausgerechnet, welche finanziellen Belastungen sich aus einer eventuellen Verwirklichung der Vorschläge der DDR, die Mitte dieses Monats unterbreitet wurden, ergeben?
Das steht zwar nicht in Zusammenhang mit den vorliegenden Fragen, aber die Vorschläge der DDR werden geprüft. Dazu zählt auch die Ermittlung der Kosten.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 90 des Herrn Abgeordneten Dr. Marx auf:
Kann die Bundesregierung mitteilen, für welche Aufgaben und Tätigkeiten die verantwortlichen Stellen der DDR, die ihr aus der Bundesrepublik Deutschland zufließenden Gelder verwendet haben?
Herr Kollege Marx, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
In der Beantwortung der Anfrage des Herrn Kollegen Wohlrabe ist diese Frage nach meiner Auffassung ebenfalls bereits beantwortet worden. Ein Teil der Zahlungen, die die DDR erhält, z. B. die Pauschalzahlungen der Deutschen Bundespost und der Saldenausgleich der Deutschen Bundesbahn, werden auf Konten des innerdeutschen Handels geleistet und können von der DDR nur für Bezüge im innerdeutschen Handel verwandt werden. Soweit die DDR unmittelbare Bareinnahmen hat, z. B. bei Visagebühren und Straßenbenutzungsgebühren, gibt es keine Verwendungskontrolle, ebensowenig bei Zahlungen auf andere Konten als die des innerdeutschen Handels. Das gilt z. B. für die Transitpauschale und auch für die abgerechneten Einreisegenehmigungsgebühren für Westberliner. In diesen Fällen sind frühere Bargeldeinnahmen der DDR pauschaliert worden. Die DDR war nicht bereit, hier, was die Verwendungsmöglichkeiten angeht, schlechtergestellt zu werden als früher.
Herr Kollege Schröder, bitte eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung einen Überblick, wieviel von diesen Geldern für Zwecke innerhalb der Bundesrepublik, sozusagen heimisch verwandt wird?
Das kann ich nicht sagen.
Ich rufe die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Kunz auf:
Bezieht sich die Tatsache, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin auf der Jahrestagung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland am 6. Dezember 1974 erklärte: „Über Überziehungskredite im innerdeutschen Handel darf und wird erst verhandelt werden, wenn die Westberliner Rentner wieder ohne Zwangsumtausch nach drüben fahren können!", obwohl die Verhandlungen über die Verlängerung des Überziehungskredites längst abgeschlossen waren, darauf, daß er von der Bundesregierung nicht unterrichtet war?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Kunz, ich darf die Frage 91 wie folgt beantworten:
Die mit der DDR seit geraumer Zeit geführten Gespräche fanden auf der Basis von grundsätzlichen Beratungen statt, an denen angesichts der Bedeutung der behandelten Fragen für Berlin selbstverständlich der Regierende Bürgermeister oder sein Vertreter
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Parl. Staatssekretär Herold
teilnahmen. Es ist bereits erklärt worden, daß sich die DDR Ende November uns gegenüber gebunden hat, von Rentnern wie früher keinen Mindestumtausch zu fordern. Damit war auch die Voraussetzung für Verhandlungen zwischen der Treuhandstelle und dem Ministerium für Außenhandel der DDR über den sogenannten Swing gegeben. Die Gespräche fanden zwischen dem 4. und 6. Dezember 1974 statt und führten zur Paraphierung eines entsprechenden Briefwechsels. Das Ergebnis der Gespräche über die Befreiung der Rentner vom Mindestumtausch und der Verhandlungen über den Swing sollten zusammen bekanntgegeben werden. Von seiten der DDR wurde das zeitlich später erzielte Ergebnis der Swing-Gespräche früher veröffentlicht als ihre Anordnung zur vorher gegebenen verbindlichen Zusage über die Befreiung der Rentner vom Mindestumtausch.
Da der Bundeskanzler, der sich Entscheidungen in dieser Sache vorbehalten hatte, zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten war, entstand jene Informationslücke, die Ihrer Frage zugrunde liegt. Unmittelbar nach erfolgter Unterrichtung hat sich der Regierende Bürgermeister über die auf der Basis der grundsätzlichen unter seiner Beteiligung geführten Gespräche, von denen ich bereits berichtet habe, mit den inzwischen erzielten Ergebnissen voll einverstanden erklärt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie halten Sie es mit dem Grundsatz der Bundestreue, der in besonderem Maße zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Bundesland Berlin Beachtung verdient, für vereinbar, daß nicht das Notwendige unternommen wurde, um den Regierenden Bürgermeister zu informieren? Denn das, was Sie hier ausgeführt haben, ist geradezu eine Art Beweis dafür, daß eine Informationslücke beabsichtigt worden sein könnte.
Ich beantworte diese Frage mit einem entschiedenen Nein und bitte Unterstellungen zu vermeiden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie kann insbesondere bei künftigen, vielleicht ähnlichen Anlässen verhindert werden, daß der Senat von Berlin mit dem Regierenden Bürgermeister an der Spitze Informationen in dringenden, wichtigen Fragen zunächst durch das „Neue Deutschland" erhält?
Die DDR hat die Veröffentlichung vorzeitig vorgenommen. Davor ist man nicht gefeit. Sie mußten sich ja gerade in den letzten Tagen auch damit abfinden, daß eine Informationslücke zwischen Herrn Schröder und Ihrer
Fraktion bestand. Ich bitte hier also nicht zu dramatisieren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höhmann.
Herr Staatssekretär, hat es seit Bestehen der Bundesrepublik zu irgendeinem Zeitpunkt ein besseres Verhältnis zwischen dem Senat von Berlin und einer deutschen Bundesregierung gegeben als gegenwärtig?
Nein.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, woher konnte — nach dem, was Sie uns hier gesagt haben — der Regierende Bürgermeister von Berlin die Sicherheit nehmen, zu sagen, darüber wird erst verhandelt, wenn die Rentner wieder ohne Zwangsumtausch nach drüben fahren können, das heißt also, wenn die Zusage der DDR bereits das Stadium der konkreten Verwirklichung erreicht hat, wenn er, wie Sie sagen, in die Vorverhandlungen bereits eingeschaltet bzw. darüber unterrichtet war?
Ich habe Ihnen gesagt, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin und Vertreter des Senats in die Vorbereitungen eingeschlossen waren, daß mit ihnen gemeinsam die Marschroute festgelegt worden ist und daß die Informationslücke zufällig zustande kam. Ich bitte, da jetzt keine Differenzen zwischen der Regierung und dem Senat zu konstruieren.
Keine Zusatzfrage mehr.
Ich rufe die Frage 92 des Herrn Abgeordneten Kunz auf:
Welche Regelung hat die Bundesregierung mit der DDR über die Verwendung des über ein Jahr lang zu Unrecht von den Reisenden aus der Bundesrepublik Deutschland erhobenen Zwangsumtauschbeträge in D-Mark getroffen?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat aus gutem Grund überhaupt keine vertraglichen Vereinbarungen mit der Regierung der DDR über den Mindestumtausch abgeschlossen. Ich verweise hierzu auf das, was ich in meiner Antwort auf die Fragen des Herrn Kollegen Abelein ausgeführt habe und wiederhole, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, diese einseitig von der DDR verfügten Maßnahmen durch vertragliche Vereinbarungen anzuerkennen. Darüber hinaus wäre ein Vertrag über die Verwendung der Mindestumtauschsätze deshalb gar nicht möglich
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Parl. Staatssekretär Herold
gewesen, weil es sich dabei nicht um einseitig zu entrichtende Abgaben oder Gebühren handelt, sondern um die Pflicht zum Umwechseln bestimmter Geldbeträge, deren Gegenwert in der DDR ausgegeben werden kann. Dies ändert aber nichts daran, daß die Bundesregierung die Tatsache einer Pflicht zum Mindestumtausch sehr bedauert.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich diese Ihre Antwort im Zusammenhang mit der damaligen Aussage von Herrn Bahr sehen, mit keinem Staat der Welt könne man über Gebühren verhandeln, demgemäß auch nicht über die Verwendung zu Unrecht erhobener Gelder?
Ich weiß nicht, warum Sie diese angebliche Äußerung von Minister Bahr jetzt zitieren.
Keine Zusatzfrage mehr.
Als letzte Frage rufe ich die Frage 93 des Herrn Abgeordneten Schröder auf:
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die Regelung der Grenzfrage von dem Elbeabschnitt zwischen Lauenburg und Schnackenburg gehört nicht zu den Aufgaben der in Artikel 3 des Zusatzvertrags zum Grundvertrag vorgesehenen gemeinsamen Kommission", und wenn nein, aus welchen Gründen nicht?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Schröder. Das Interview in der „Lüneburger Landeszeitung" mit Bundesminister Franke vom 17. November 1972 fand vor Abschluß des Grundlagenvertrages und vor Beginn der Arbeiten der Grenzkommission statt.
Die Schwierigkeit einer Antwort in der Öffentlichkeit besteht heute darin, daß hier unmittelbare Wirkungen auf die Verhandlungen der Kommission anzunehmen sind, die gerade im Hinblick auf den Elbeabschnitt zwischen Lüneburg und Schnackenburg noch nicht abgeschlossen werden konnten.
Ich bitte darum um Verständnis, wenn ich mich hier auf folgende Feststellungen beschränken muß.
Die Bundesregierung hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die Grenzkommission nicht befugt ist, Grenzregelungen vorzunehmen. Sie hat nach dem Wortlaut des Zusatzprotokolls zum Grundlagenvertrag die Aufgabe, die Markierung der zwischen den beiden Staaten bestehenden Grenze zu überprüfen und, soweit erforderlich, zu erneuern oder zu ergänzen sowie die erforderlichen Dokumentationen über den Grenzverlauf zu erarbeiten. Gleichermaßen soll sie zur Regelung sonstiger, mit dem Grenzverlauf im Zusammenhang stehender Probleme beitragen.
In der Erklärung zu Protokoll über die Aufgaben der Grenzkommission durch die beiden Delegationsleiter ist definiert, was unter der im Zusatzprotokoll genannten „bestehenden Grenze" zu verstehen ist. Ziffer 1 erster Absatz dieser Erklärung stellt fest, daß sich der Verlauf der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik nach den diesbezüglichen Festlegungen des Londoner Protokolls vom 12. September 1944 sowie späterer Vereinbarungen der damaligen Besatzungsmächte bestimmt. Die Grenzkommission stellte dementsprechend in ihrer bisherigen Arbeit den Verlauf der von den ehemaligen Besatzungsmächten entweder im Londoner Protokoll oder in späteren Vereinbarungen gezogenen Grenzen lediglich fest. Sie kann keine Grenzregelungen treffen.
Im übrigen verweise ich darauf, daß sich die zuständigen Ausschüsse gerade in den letzten beiden Wochen erschöpfend mit diesem Thema befaßt haben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie daran erinnern, daß das Interview mit Herrn Bundesminister Franke in der Woche vor der Bundestagswahl des 19. November 1972 erschienen ist, d. h. mehrere Wochen nach Paraphierung des Grundvertrags? Wenn der Sachverhalt so sein sollte, wie Sie ihn jetzt auf einmal dargestellt haben, aus welchem Grunde hat man dann nicht sofort eine Richtigstellung in einer so fundamentalen Aussage vorgenommen?
Ich habe dieses Interview hier vor mir. Die Aussagen von Minister Franke sind eindeutig so, wie ich es dargestellt habe. Ich kann Ihnen gerne den Wortlaut seiner Erklärungen zeigen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Aussagen von Herrn Bundesminister Franke unter Hinzufügung von Anführungsstrichen wörtlich zitiert worden sind, und darf ich im übrigen aus dem weiteren Teil Ihrer Antwort die Schlußfolgerung ziehen, daß die Grenzkommission die Grenze so markieren wird, wie sie sich im Jahre 1945 dargestellt hat?
Das ist bereits in meiner Aussage und ebenso vor den Ausschüssen festgestellt worden. Ich stelle Ihnen gern das Interview zur Verfügung, das Herr Minister Franke damals gegeben hat. Wir können das anschließend ohne weiteres durchgehen; dann wird sich zeigen, daß sich die Äußerungen korrekt an die Sachlage halten.
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Eine Frage des Herrn Abgeordneten Arndt.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen die hier gestellte Frage bereits in einer Sitzung des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen beantwortet hat, daß der Herr Kollege Schröder an dieser Sitzung jedoch nicht teilgenommen hat, daß aber andererseits die Bundesregierung und der niedersächsische Innenminister, Groß, den Herrn Kollegen Schröder in mehrfachen, mehrstündigen Gesprächen über die genaue Sach- und Rechtslage orientiert haben?
Das erstere habe ich bereits erklärt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, darf ich aus der Beantwortung der Frage des Kollegen Schröder durch Sie schließen, daß jener andere Satz, den Herr Bundesminister Franke in jenem Interview gesagt hat, zutreffend ist, nämlich daß in dieser Grenzangelegenheit die ganze Breite der Elbe zwischen Lauenburg und Schnackenburg zum Territorium der Bundesrepublik Deutschland gehöre?
Vielleicht habe ich mich mißverständlich ausgedrückt. Ich wiederhole: Das, was Sie hier in den Raum stellen, hat Minister Franke nicht gesagt.
Keine weitere Zusatzfrage. Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Herold.
Die Frage A 102 ist vom Fragesteller zurückgezogen. Die übrigen nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Von der CDU/CSU-Fraktion ist eine aktuelle Stunde über das Thema Verhandlungen und Gespräche mit der DDR beantragt worden. Der Antrag ist hinreichend unterstützt.
Aktuelle Stunde
Das erste Wort hat Herr Abgeordneter Abelein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die Erfolgsmeldungen der Bundesregierung in der letzten Woche unter die
Lupe nimmt, muß zu dem Ergebnis kommen: Von Erfolgen auf dem Gebiet der Deutschlandpolitik oder auch nur von einer Rückkehr zur Geschäftsgrundlage kann leider überhaupt keine Rede sein. In Wirklichkeit hat diese Bundesregierung jetzt unter Bundeskanzler Schmidt erneut ein mieses Geschäft abgeschlossen.
Was wurde erreicht? Die DDR erhält einen zinslosen Kredit von jährlich 850 Millionen DM.
— Daß Ihnen das sehr unangenehm ist, kann ich verstehen.
Die DDR erhält einen Kredit von 850 Millionen DM mit einer jährlichen Zinsersparnis von zirka 80 bis 100 Millionen DM. Das ist in der Tat ein schönes Weihnachtsgeschenk. Die Frage ist nur, wer dieses Geschenk zu bezahlen hat.
Wo liegen die Vorteile für die Bundesrepublik Deutschland? Die DDR hat noch nicht einmal ihren willkürlichen und einseitig verdoppelten Zwangsumtausch für Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin wieder voll reduziert. Es wurde also noch nicht einmal der Zustand aus der Zeit des Abschlusses der Verträge 1972 erreicht. Das heißt, es kann auch keine Rede davon sein, daß man zur Geschäftsgrundlage zurückgekehrt sei. Das Negieren der Zusammenhänge zwischen Kredit und reduziertem Zwangsumtausch heute in der Fragestunde ist völlig unglaubhaft. Wenn es zutreffen sollte, zeigt es, wie stümperhaft — ich habe keinen anderen Ausdruck dafür — diese Politik von seiten der Bundesregierung betrieben wird.
Man stelle sich nur einmal vor: Für die nur teilweise Rücknahme einer vertragswidrigen Erhöhung hat die DDR von der Bundesregierung ein saftiges Honorar kassiert.
Das läuft geradezu auf eine Einladung an die DDR hinaus, es künftig durch Rechtsverletzungen erneut zu versuchen, von dieser Bundesregierung Geld und Konzessionen auf Kosten der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten.
Dieses Bild wird nicht besser, wenn man die Zusagen der DDR über ihre Verhandlungsbereitschaft zu einer Reihe von Themen in die Betrachtungen einbezieht. Hier handelt es sich leider wieder nicht um verbindliche Abmachungen, sondern um unverbindliche Zusagen. Im Kern — bei meinen Kollegen wird nachher noch die Sprache auf die Einzelheiten kommen — handelt es sich bei all dieser Gesprächsbe-
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Dr. Abelein
reitschaft über den Ausbau von Verkehrswegen, über die Eröffnung von Kanälen und Schleusen, über die Verkürzung von Fahrzeiten, darum, daß die heruntergekommene Autobahn Helmstedt—Berlin und die einspurig bestehende Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland — einspurig deswegen, weil die Sowjets als Reparation nach Ende des Zweiten Weltkriegs die eine Linie abgebaut haben — instandgesetzt werden sollen. Es liegt wieder eine völlige Unausgewogenheit vor. Wir zahlen doch bereits großenteils für diese Dinge.
Ich finde die Antwort der Bundesregierung auf die einschlägigen Fragen heute nachmittag erschütternd. Haben Sie denn jemals die DDR gefragt, was mit den Hunderten von Millionen geschieht, die wir bereits für den Verkehr auf den Straßen bezahlen? Sie sagen, Sie seien nicht der Rechnungshof der DDR. Das kennzeichnet die Nachlässigkeit, mit der Sie an diese Verhandlungen herangehen.
Nach den Schätzungen betragen die von uns für die Vorschläge der DDR erneut zu erbringenden Leistungen 3 bis 8 Milliarden DM.
Ich komme zum Fazit.
Es wurde ein Geschäft gemacht, das hauptsächlich der DDR nützt. Die Vorteile liegen zu 80 % im Interesse der DDR. Die Bundesregierung hat erneut eine Vorleistung erbracht, ohne entsprechende sichere Gegenleistungen von der anderen Seite zu erhalten. Die Bundesregierung hat sich leider wieder auf die Taktik der DDR eingelassen, das Gesamtpaket in eine Vielzahl von Einzelpaketen aufschnüren zu lassen, anstatt in einem Paket alle Fragen zu verhandeln. Eine ganze Reihe von Fragen, gerade auf dem Gebiet der menschlichen Erleichterungen, wurden in den jüngsten Abkommen überhaupt nicht behandelt.
Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Wir alle haben geglaubt, unter Bundeskanzler Schmidt würde eine nüchternere und realistischere Politik betrieben werden. Wir sehen uns alle enttäuscht;
denn Schmidt betreibt Deutschland- und Ostpolitik im Stil der Herren Bahr und Brandt.
Das ist die große Desillusionierung für die Deutschen an der Jahreswende von 1974 auf 1975.
Das Wort hat der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Herr Franke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser letzten Parlamentsstunde vor Weihnachten erhalten wir von der Opposition endlich klaren
Unterricht darüber, was man tun muß, um die Probleme zu lösen.
— Ja, warten Sie nur! — Nach Auffassung der Opposition dürfen wir mit der DDR so lange nicht weiterverhandeln, bis der Mindestumtauschsatz nicht mindestens auf 2,50 DM bzw. 5 DM oder eigentlich, Herr Kollege Abelein, auf 0 DM zurückgeschraubt ist. Das ist Ihre Darstellung.
Alle weiteren Verhandlungen sollen wir nach Meinung der Opposition aussetzen, selbst wenn dadurch auch keine weiteren Erleichterungen bei den Reise- und Begegnungsmöglichkeiten für die Menschen zustande kommen; selbst wenn dadurch die Aussichten auf eine Einigung in den Postverhandlungen in die Brüche gehen; selbst wenn der innerdeutsche Handel zurückgeht; selbst wenn dadurch unserer Wirtschaft Aufträge in Höhe von mindestens 3 Milliarden DM entgehen. Ich erinnere an die Äußerung Wolffs von Amerongen hierzu.
Das ist auch egal angesichts der Arbeitslosigkeit. Auch die Impulse für die Berliner Wirtschaft sind anscheinend belanglos, solange nicht Maximalforderungen, die Sie erheben, entsprochen wird. Überhaupt: Bevor nicht Mauer und Stacheldraht beseitigt sind, gibt es überhaupt keine Leistungen, über die zu verhandeln sich lohnt. Das ist das Bild, das Sie entwickeln.
Hier zeigt sich wieder das Grundübel, das die Diskussion um die Deutschlandpolitik schon seit Jahren belastet: Die Opposition überschätzt regelmäßig unsere Verhandlungsposition,
cl. h. aber das Mögliche und das Verhältnis von Leistungen zu Gegenleistungen.
Um was geht es denn jetzt wirklich? Die DDR hat die Erhöhung der Mindestumtauschsätze zum größeren Teil wieder zurückgenommen,
und ab 20. Dezember sind die Rentnerinnen und Rentner wieder völlig aus der Umtauschpflicht befreit.
— Nur die? Daß in dieser großen Zahl Reisen durchgeführt werden konnten, ist mit das Ergebnis der Vertrags- und der Verhandlungspolitik.
Die werden wir fortsetzen, selbst wenn Sie auch in Zukunft in dieser Weise, wie Sie das jetzt tun, meinen, Ihre Rolle in der Deutschlandpolitik spielen zu sollen. Ich muß immer wieder sagen: Ich bin erschüttert, wenn ich sehe, in welcher Weise sich das entwickelt hat. Ich habe das seit Anbeginn miterlebt. Ich muß in der Tat sagen: Es gab eine weite Wegstrecke, die wir gemeinsam zurückgelegt ha-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9625
Bundesminister Dr. Franke
ben, auf der wir diese Probleme nicht in dieser Art behandelt haben. Aber es ist Ihr Verdienst, daß Sie überhaupt nicht bereit sind, diese zähflüssige Problematik zu erkennen und die geringen Erfolge, wie Sie es darstellen, wenigstens in den Größenordnungen, soweit es um die menschlichen Erleichterungen geht, anzuerkennen.
Ebenfalls — das gehört dazu —: Am 20. Dezember 1974 werden weitere Reiseerleichterungen für Westdeutsche und Westberliner bei Reisen in die DDR wirksam. Der innerdeutsche Handel wird wie bisher über 1975 hinaus durch den zinslosen Überziehungskredit weiter gefördert. Einzige Änderung — und das ist für uns wesentlich —: Der 25% der DDR-Lieferungen betragende Kredit wird auf maximal 850 Millionen begrenzt. Bisher war er nicht begrenzt, sondern er entsprach 25 % der Leistungen der DDR. Die natürliche Entwicklung war, daß wir bereits im Jahre 1975 auf diesen Betrag gekommen wären. Bei der rasanten Entwicklung des innerdeutschen Handels können wir wahrscheinlich im Jahre 1976 erstmals von der Begrenzung auch wirklich Gebrauch machen. Die DDR hat sich bereit erklärt — das gehört mit zu den Dingen, um die es jetzt geht —, über eine Reihe von Fragen wirtschaftlicher und verkehrstechnischer Natur, die von beiderseitigem Interesse sind, Verhandlungen aufzunehmen bzw. solche Verhandlungen, sofern sie bereits laufen, zu einem guten Ende zu führen. Das ist der Stand der Dinge, um die es geht. Wir tun damit einen weiteren Schritt im langwierigen und mühsamen Prozeß der Normalisierung auf der Basis der geschlossenen Verträge.
Ich weise die Behauptung zurück, beim Mindestumtausch habe die Bundesregierung für die befriedigende Wiederherstellung des Zustandes, wie er vor dem 15. November 1973 bestand, eine wie auch immer geartete Leistung erbracht. Diese Behauptung ist falsch. Sie vorzubringen ist unredlich, vor allem nachdem der Herr Bundeskanzler am letzten Mittwoch hier schon den Hergang der Dinge haargenau nachgezeichnet hat.
Im übrigen muß ich feststellen, daß die Opposition auch jetzt wieder nichts Besseres zu tun weiß, als ihr notorisch schlechtes Augenmaß in Sachen Deutschlandpolitik vorzuführen.
Wie anders sind die ganz und gar realitätsblinden Forderungen zu erklären, die auch jetzt wieder, und zwar ausgerechnet im Zusammenhang mit dein Swing, volltönend erhoben werden? Ich sage „ausgerechnet". Denn beim innerdeutschen Handel haben auch früher CDU-geführte Bundesregierungen genügend eigene Erfahrungen gemacht, um den politischen Tauschwert richtig einzuschätzen.
— Noch wenige Sätze, Herr Präsident.
— Meine Damen und Herren, Sie veranlassen uns
doch, immer wieder in dieeser Weise die Dinge be-
handeln zu müssen. Und da muß ich doch wenigstens
sachlich antworten können, und dazu gehört auch eine Ubersicht.
— Ich habe den Herrn Präsidenten gebeten, mir noch einige Sätze zu gestatten. Er hat es getan, aber Sie haben mich unterbrochen. Ich werde diese Sätze, zu denen ich die Erlaubnis habe, noch sagen.
Zum richtigen Augenmaß gehört auch, meine Damen und Herren, daß man sich Rechenschaft über unser eigenes, nicht zuletzt auch politisches Interesse am innerdeutschen Handel ablegt. Ganz so einseitig, nämlich bei der DDR, wie manche sich das vorgaukeln, ist das Interesse am Handel und am Swing nicht. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die Verhandlungsposition aus.
Meine Damen und Herren, das darf man doch ausführen, daß im Grunde genommen alle Bemühungen, die wir anstellen, zusammengehören, um Dinge zu bewegen, an denen wir gemeinsam interessieert sein sollten. Wir werden jedenfalls diese Politik fortsetzen.
Herr Professor Schachtschabel, bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits in der Debatte zur Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers in der vorigen Woche ist die Swing-Regelung angesprochen worden. Sie steht auch heute im Mittelpunkt der Erörterungen über die Deutschland-Politik. Allerdings hat die Opposition schon voraus und auch in der Zwischenzeit doch sehr merkwürdige Verlautbarungen an die Öffentlichkeit gegeben. Auch Herr Abelein hat sich in die Reihe der Mar-schierer eingeordnet. Denn wir haben in Presseverlautbarungen gelesen, diese Swing-Regelung sei „eine höchst skandalöse Politik", die allein dazu diene, die „Abgrenzungspolitik der Zonenmachthaber zu honorieren". Des weiteren hat auch Herr Kollege Carstens in der letzten Woche lediglich das „Lehrstück für Stümperei" angeführt, dabei aber übersehen, daß in der FAZ, aus der er offenbar zitiert hat, auch andere Meinungen standen.
Meine Damen und Herren! Die aus der Opposition stammenden Beurteilungen der Swing-Regelung zeigen aber, daß es den Vertretern der Opposition allein darum geht, Verunglimpfungen in die Welt zu setzen oder entsprechend zu zitieren. Zugleich beweisen aber diese Äußerungen, daß man sich in der Opposition nicht einmal die Mühe gemacht hat, den tatsächlichen Verhältnissen nachzugehen und den Vorgang des Swing-Kredits sachlich zu überprüfen.
Ich darf darauf aufmerksam machen, daß die Bundesregierung lediglich daran angeknüpft hat, daß die Swing-Regelung auf der bewährten Grundlage im gesamtdeutschen Interesse fortgesetzt und fortgeführt wird. Es geht allein um den Ausbau des innerdeutschen Handels und die Intensivierung des
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Dr. Schachtschabel
Warenaustauschs mit der DDR, und zwar in beiderseitigem Interesse. Der innerdeutsche Handel hat ganz enorme Kontakte mit der DDR zur Folge. 9 000 Firmen des Bundesgebiets sind an diesem innerdeutschen Handel beteiligt und wickeln im Jahre etwa 40 000 Verträge ab.
Das ist, meine Damen und Herren, eine Brücke seit rund 25 Jahren, die sich in allen Zeiten wirklich als echt erwiesen hat. Vergessen wir dabei auch nicht, daß die neue Regelung auch einen anderen Aufhänger gefunden hat, und zwar eine Regelung, die vorsieht, daß selbst bei Fortentwicklung des Warenbezugs der DDR die Höchstgrenze bei 850 Millionen Verrechnungseinheiten bleibt. Der DDR ist deutlich erklärt worden, daß vor Ablauf der nunmehr in Aussicht genommenen Verlängerungsfrist, nämlich 1981, über die weitere Gestaltung der Regelung mit dem Ziel der Reduzierung des Swings verhandelt werden wird, und zwar mit dem Ziel, ab 1982 den Swing auf den Sockelbetrag zurückzuführen.
In diesem Zusammenhang darf ich darauf aufmerksam machen: Man soll doch nicht so tun, meine Herren von der Opposition, als ob eine Entwicklung des innerdeutschen Handels allein den Interessen der DDR zugute käme. Vielmehr ist es eine im wohlverstandenen Interesse beider deutschen Staaten getroffene Regelung, die allein aus den Bemühungen resultiert, den innerdeutschen Handel zu intensivieren, und damit natürlich, wie bereits vorhin in der Fragestunde schon angeklungen, auch wesentliche Wirkungen innerhalb unserer Wirtschaft erzeugt und zugleich unseren Arbeitsmarkt entlastet. Es sollte doch von der Opposition erkannt werden — auch wenn es ihr schwerfällt —, daß der Ausbau des Handels für die Bundesrepublik Deutschland wie für die DDR gleichermaßen von großer Bedeutung ist. Dazu, meine Damen und Herren, ist der Swing ein durchaus geeignetes und brauchbares Mittel.
Es ist außerordentlich erfreulich, daß sich der innerdeutsche Handel nach einer Angabe des Wirtschaftsministeriums in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 22,5 %, auf 4,854 Milliarden Verrechnungseinheiten ausgedehnt hat. Wie das Bundeswirtschaftsministerium hinzugefügt hat, ist ein Teil dieser Zuwachsrate ganz gewiß auf die Preiserhöhungen zurückzuführen, aber, meine Damen und Herren, wir sollten die Gesamtausdehnung sehen und auch erkennen, daß es dabei wesentliche und bedeutsame Produkte gibt, die für unsere Wirtschaft im Sinne der konjunkturellen Entwicklung von großer Bedeutung sind.
Lassen Sie mich mit einem Zitat — es war vorhin schon ein Zitat angeführt worden — abschließen. Ich zitiere Otto Wolff von Amerongen, der sagt: „Der Swing hat seit Jahrzehnten eine beachtliche
Bedeutung." Ich brauche dieser Aussage, meine Damen und Herren, aus berufenem Munde
eines Unternehmers hier nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehört schon ein gehöriges Maß an bewußt zur Schau getragener Naivität dazu — man könnte auch sagen: Unverfrorenheit —,
das Thema Deutschlandpolitik mit Interzonenhandel und Swing so abzuhandeln, wie die Opposition das tut.
Meine Damen und Herren, als die Regierung der Großen Koalition 1968 den dynamisierten Swing einführte, wollte sie die handelspolitisch unerwünschten Schrumpfungstendenzen ins Gegenteil verkehren.
Damals hat die SED-Führung ihre Wirtschaft störungsfrei machen wollen. Das bedeutete im Sinne der Kommunisten die Einschränkung des innerdeutschen Handels.
Deshalb war die Entscheidung der Großen Koalition richtig. Die CDU/CSU hatte damit aber einer Erhöhung des Swings zu einer Zeit zugestimmt, in der auch an der Mauer geschossen wurde,
vielleicht noch schneller und häufiger als heute, und in der die Zahl der politischen Gefangenen in der DDR bestimmt nicht niedriger war. Dennoch, meine Damen und Herren, hat sich die FDP damals davor gehütet, die öffentliche Meinung dagegen zu mobilisieren. Die Bereitschaft dazu war damals sicher noch stärker als heute. Denn die Erregung über den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR war keineswegs abgeklungen.
Meine Damen und Herren, nach den Erfahrungen der 50er und 60er Jahre bestand bei allen Parteien des Bundestages Klarheit darüber, daß mit dem innerdeutschen Handel allenfalls ein kooperatives Verhalten erreicht werden kann, dies allerdings auch erreicht werden sollte und erreicht werden muß. Wenn sich die CDU jetzt von dieser Erkenntnis löst, verdrängt sie bewußt einen Teil gemeinsamer Erfahrungen. Offensichtlich paßt es ihr für eine Politik der reinen Stimmungsmache so besser in den Kram.
Die Öffentlichkeit, meine Damen und Herren, wird
sich aber kaum für dumm verkaufen lassen. Die
Dreistigkeit, mit der die Opposition dies dennoch
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9627
Hoppe
versucht, ist gerade bei einer Partei verblüffend, deren Deutschlandpolitik nun nicht gerade als besonders erfolgreich gerühmt werden kann.
Ich halte nichts davon, solche Rechnungen aufzumachen. Aber wer glaubt, die Bundesregierung mit ihrer Deutschlandpolitik ständig prügeln zu können, muß sich auch die Entwicklung jener Jahre vor Augen halten lassen, in der er selbst politische Verantwortung getragen hat.
Meine Damen und Herren, das ChruschtschowUltimatum 1958 führte mit einer aggressiven Berlin-und Deutschlandpolitik der Sowjets zum Bau der Mauer. Die Sowjetunion eröffnete sodann eine neue Offensive zur Durchsetzung ihrer Drei-Staaten-Theorie. Unter Androhung von Repressalien wandten sich die UdSSR und die DDR massiv gegen die Repräsentanz des Bundes in Berlin und setzten dabei den Hebel an den gefährdeten Zugangswegen an. Gleichzeitig mußten wir mit der Einführung der Straßenbenutzungsgebühr, des Visumszwangs, der VisaGebühren und der Beförderungsteuer durch die DDR Rückschlag um Rückschlag hinnehmen. Vor willkürlichen Selektionen im Personenverkehr war niemand mehr sicher. Der Zugang der Berliner in ihre natürliche Umgebung nach Ost-Berlin und in die DDR war so gut wie völlig unterbunden. Meine Damen und Herren, damals wurden die Forderungen nach einer umfassenden politischen Lösung immer lauter. Erst die Politik der sozialliberalen Koalition hat dem Rechnung getragen.
Die Opposition bastelt nun mit Eifer an einem Zerrbild der Deutschlandpolitik dieser Regierung. Meine Damen und Herren, Sie selbst reden zwar ständig vom Verfassungsauftrag und zitieren die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts bis zum Überdruß,
aber sie stehen abseits, wenn es darum geht, handfeste Maßnahmen für die Menschen in beiden deutschen Staaten zu ergreifen!
Sie weigern sich, meine Damen und Herren, jene Politik zu betreiben, die allein in der Lage ist, den Willen zur Einheit der Nation zu bewahren.
Was Herr Abelein dagegen an Deutschlandpolitik praktiziert, zeugt von einem nicht mehr zu überbietenden Zynismus!
Das Wort hat der Abgeordnete Kunz
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Der innerdeutsche Handel war
stets ein Instrument; der innerdeutsche Handel ist besonders im Zusammenhang mit politischen Erwägungen zu sehen. Der innerdeutsche Handel hat stets seine Gewichte gehabt, der innerdeutsche Handel hat stets auch unseren Interessen, aber insbesondere den Interessen der DDR gedient. Und dies ist heute wiederum der Fall.
Wenn ich mir, Herr Minister Franke, Ihre Ausführungen noch einmal vor Augen halte, habe ich den Eindruck, daß die DDR, in dem sie bereit war, einer Verlängerung des Überziehungskredits zuzustimmen, uns geradezu ein Geschenk gemacht hat,
und zwar ein Geschenk von beachtlichem Ausmaß. (Zurufe von der SPD)
Richtig ist folgendes: Richtig ist, daß ein Instrument nicht genutzt wurde, und daß darüber hinaus die DDR den bekannten Vertragsbruch bei der rechtswidrigen Verdoppelung der Zwangsumtauschsätze ihrerseits mehr als gut genutzt hat. Die Ergebnisse dieser Nutzung sind folgende, und diese vier Feststellungen möchte ich hier treffen.
Erstens. Die Vereinbarung über die Verlängerung des Überziehungskredits im innerdeutschen Handel wurde unterschrieben, ohne daß die DDR zuvor die vertragswidrige Verdoppelung der Zwangsumtauschsätze rückgängig gemacht hat.
Zweitens. Auch nach der Vereinbarung über die Verlängerung des Überziehungskredits, die zudem mit einer erheblichen Erhöhung des Kredits auf 850 Millionen verbunden ist, haben Besucher, die in die DDR fahren, höhere Umtauschsätze zu zahlen als vorher. Herr Kollege Hoppe, inzwischen - Sie haben das ja gerühmt, und die Koalition hat dies geradezu hymnisch gerühmt — ist der Grundvertrag abgeschlossen. Sie haben uns gesagt: Jetzt haben wir berechtigte Aussichten, daß sich die Dinge entscheidend bessern. Und gerade jetzt muß mehr gezahlt werden als vorher. Dies ist geblieben, dies haben Sie nicht rückgängig gemacht. Hier liegt einer der Hauptvorwürfe.
Dann wird uns immer wieder gesagt: Dies allein kann man nicht würdigen, man muß die Zusatzbereitschaftserklärungen sehen. Herr Präsident, erlauben Sie mir, aus einer Zeitung, die uns nicht sonderlich nahesteht, diese Zusatzbereitschaftserklärungen der DDR zu würdigen. Die „Stuttgarter Zeitung" schreibt in diesem Zusammenhang — ich zitiere —:
Was die DDR außerdem durch ihre Beauftragten unterbreiten ließ, sind nichts weiter als Wechsel auf die Zukunft. Sie zeigt sich nur bereit, über alles Mögliche zu verhandeln, oder stellt es als Zugeständnis hin, wenn sie eine Reihe dringend
9628 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Kunz
benötigter Waren sich von uns bezahlen läßt und bei uns einkauft.
Dies ist die Qualität dieser Zusatzvereinbarung. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß Substanz noch kommt.
Aber bei der Verhandlungsart, wie sie geübt wurde, wird man das leider kaum erwarten können.
— Herr Kollege Wehner, ich freue mich immer, wenn Sie mir die Ehre Ihrer Zwischenrufe erweisen. Ich hoffe, daß das noch recht oft und recht kräftig der Fall ist.
Ich möchte eine vierte Feststellung treffen. Der Berliner Senat war über die Verhandlungen, die nicht zuletzt die Berliner Interessen erheblich berühren, überhaupt nicht unterrichtet. Ich muß sagen, hier hat der Minister Franke, — nein, sein Staatssekretär Herold — ich korrigiere — die Stirn gehabt, von einer Informationslücke zu sprechen, die innerhalb von drei Tagen nicht behoben werden konnte. Hier wird man weiter nach den Hintergründen fragen müssen. Herr Bundeskanzler, wir fragen Sie. Wir fragen Sie, was konkret geschehen kann, um wenigstens künftig zu gewährleisten, daß die gerade in dem Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Berlin besonders notwendige Bundestreue genügend beachtet wird und daß sich wenigstens in Zukunft derartige Verletzungen der Berliner Informationsinteressen nicht mehr ereignen, so daß der Senat von Berlin seine Kenntnis über die Paraphierung aus dem „Neuen Deutschland" erlangen muß.
Ich stelle abschließend fest, daß erneut einmal und wiederum für Vertragsbrüche bezahlt wurde. Vertragsbrüche sollten und dürften nicht verhandlungsfähig sein. Gleichwohl wurde darüber verhandelt. Ich fürchte, die DDR wird hierin ein Beispiel sehen, um erneut Forderungen an uns zu stellen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe volles Verständnis für diese Stunde Formalopposition des Herrn Professor Carstens,
der heute morgen nicht umhin konnte, mit seiner ganzen Fraktion einem konjunkturpolitischen Paket der sozialliberalen Koalition zuzustimmen,
und der jetzt das dringende Bedürfnis empfindet, doch wenigstens auf einem anderen Gebiet einen Gegensatz herauszustellen.
— Ich nehme an, Herr Präsident, daß mir die Zeit, die für die Zwischenrufe verlorengeht, gutgebracht wird. — Ich verstehe auch sehr gut, daß, nachdem es in Ihrer Fraktion schwere Auseinandersetzungen über die Verhandlungen Ihres Schattenaußenministers mit dem Vertreter einer bestimmten Organisation im Mittleren Osten gibt, Sie sich nunmehr Mühe geben, in unsere Reihen Zwiespalt hineinzuinterpretieren.
— Ich darf annehmen, Herr Präsident, daß mir die Zeit, die für die Zwischenrufe der Opposition verlorengeht, —
— Ich halte mich an das Grundgesetz.
Und wenn Sie fünf Minuten lang brüllen, habe ich anschließend immer noch das Recht, fünf Minuten für die Regierung zu sprechen, meine Damen und Herren.
Aber vielleicht sind Sie bereit, wenigstens zuzuhören. Ich bin ja darüber unterrichtet worden, daß der Herr Professor Carstens sich zwecks Ausübung der Formalopposition geweigert hat, vor dem Bundeskanzler zu reden, um auf ihn zu antworten.
Ich nehme an, daß er dann wenigstens vorher bereit ist, zuzuhören.
— Die gesamtdeutsche Gesinnung dieser Bande von Zwischenrufern wird durch die Qualität ihrer Zwischenrufe deutlich.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß wir über einen ernsten Gegenstand zu einer aktuellen Zeit beraten.
Alle Seiten des Hauses werden gebeten, auf diesen Gegenstand in dieser Zeit Rücksicht zu nehmen. Herr Bundeskanzler, darf ich Sie bitten, fortzufahren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Aufklärung eines sagen. Die Bundesregierung hat sich, genau wie alle Mitglieder des Hauses, an Redezeiten von fünf Minuten zu halten.
— Nein, das ist kein Irrtum.
Auf der anderen Seite werden die Redezeiten der Bundesregierung nicht in Ansatz gebracht. Insofern gehen sie den Mitgliedern des Hohen Hauses nicht verloren.
Herr Bundeskanzler!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir liegt am Herzen, die Aufmerksamkeit der Opposition für folgende Feststellungen zu gewinnen.
Erstens. Ich stimme mit Herrn Honecker voll überein, wenn er öffentlich sagt, daß er jegliche Konzessionen an ideologische Koexistenz ablehnt. Das ist voll und ganz auch die Auffassung der Bundesregierung.
Zweitens stimme ich mit Herrn Honecker darin überein, daß es trotzdem im beiderseitigen Interesse liegt und möglich gemacht werden muß, soweit es geht, zu Kooperation, zu Zusammenarbeit zu gelangen.
Drittens will ich Ihnen, Herr Abelein sagen: Wenn Sie die Behauptung aufstellen, über menschliche Erleichterungen sei nicht gesprochen worden, so ist das eine unzutreffende Behauptung. Ich
nehme an, Herr Abelein weiß das und spricht bewußt die Unwahrheit.
In diesem Zusammenhang will ich auch eine Bemerkung über den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg machen, der sich neulich öffentlich damit gebrüstet hat,
mit einem Brief an Herrn Honecker in einem Einzelfall alleine eine dringend notwendige menschliche Erleichterung herbeigeführt zu haben. Hier im Hause sitzen mehrere Kollegen, die früher das Amt eines gesamtdeutschen oder, wie man es heute nennt, eines Ministers für innerdeutsche Beziehungen ausgeübt haben. Sie alle wissen, daß menschliche Erleichterungen — das ist einer der Punkte, in denen wir mit der Führung in der DDR nicht übereinstimmen — zu keinem Zeitpunkt umsonst zu haben gewesen sind. Herr Filbinger hätte dies wissen können, wissen müssen. Man kann diesen Sachverhalt bedauern, aber man sollte nicht so tun, als ob es im Falle eines Augenblickserfolges für die eigene Person anders wäre, eines Erfolges, den in Wirklichkeit andere, die hier in Bonn arbeiten, zustande gebracht haben.
Vierter Punkt: der Swing. Der Herr Kollege Carstens war zu dem Zeitpunkt, als der Swing-Kredit das letzte Mal geändert wurde, Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Er müßte mir recht geben, wenn er in der Lage wäre,
das zu sagen, was er weiß. Er müßte mir recht geben, wenn ich sage, daß wenige Monate nach der Beteiligung der DDR an dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Tschechoslowakei die damalige Regierung Kiesinger/Brandt mit voller Zustimmung der Sozialdemokraten den damaligen Swing erweitert hat. Er müßte mir zweitens recht geben, daß er durch die von Herrn Kiesinger gebilligte Verfügung in der Höhe unbegrenzt war und daß der Swing diesmal zum erstenmal zum Zwecke des späteren Ausgleichs des Überziehungskredits der Höhe nach begrenzt worden ist.
Fünfter Punkt: Der Vorwurf, wir hätten vorweg etwas aus der Hand gegeben.
Ich wiederhole zur Kenntnis der Opposition ein zweites Mal, daß die Führung der DDR sich uns gegenüber in Schriftform gebunden hatte, was die Rentnerfrage anging, ehe wir ein Wort über den Swing haben sprechen lassen. Die Wiederholung unzutreffender Behauptungen, Herr Kollege Abelein, kann ich nur entweder als Verstocktheit oder als bewußten Willen zur Unwahrheit empfinden.
9630 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Bundeskanzler Schmidt
In Wahrheit hat sich die Führung der DDR für die jetzige Swing-Vereinbarung überhaupt nichts eingehandelt, außer sehr viel internationalem Arger in den Jahren 1973 und 1974. Das ist alles, was dabei herausgekommen ist.
Sechster Punkt: Wir, die Bundesregierung —
Verehrter Herr Bundeskanzler, einen Augenblick.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Ich habe infolge der Unruhe hier im Hause etwa drei Minuten in Abzug gebracht, und ich darf Sie bitten, daß Sie zu einem Schluß kommen. Sie können sich später jederzeit wieder melden. Wir müssen die Redezeit einhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde das tun, Herr Präsident.
Ich möchte gerne am Schluß Herrn Carstens noch ein Stichwort geben. Die gestrige Mitteilung der CDU/CSU-Fraktion, im Namen von Herrn Dr. Abelein ergangen, erstens habe die Bundesregierung einen jährlichen zinslosen Kredit bereitgestellt — als ob es ihn vorher von Ihnen und von uns gemeinsam nicht gegeben hätte —, ist unwahr und irreführend; zweitens, wir hätten neue Milliardensummen in Aussicht gestellt — dies ist unwahr und erfunden; drittens, es sei über die Freilassung der politischen Häftlinge noch nicht einmal geredet worden — dies ist unwahr.
Insgesamt ist Ihre Einlassung unwahr, schädlich und auch unanständig.
Das Wort hat der Abgeordnete Carstens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat soeben die Geschäftsordnung verletzt, indem er sich an die ihm zugemessene Redezeit von fünf Minuten nicht gehalten hat.
Zweitens hat der Bundeskanzler die ersten vier Minuten der ihm zugemessenen Redezeit dazu benutzt, um wenig geistreiche und außerdem noch beleidigende Bemerkungen an die Adresse der Opposition zu machen.
Ich weise diese Bemerkungen zurück, Herr Bundeskanzler. Ich weiß nicht, wem Sie damit einen Ge-
fallen tun wollen. Sich selbst und Ihrer Politik tun Sie damit bestimmt keinen Gefallen.
Drittens haben meine Kollegen Abelein und Kunz zur Sache Ausführungen gemacht,
die den gesamten Sachverhalt erschöpfend darstellen. Diese Darstellungen waren richtig und zutreffend. Die Versuche des Bundeskanzlers, eine Art Nebelschleier über diesen klaren Sachverhalt zu ziehen, sind vergeblich.
Sie kommen doch um die Tatsache nicht herum, daß der Swing erhöht ist, daß der Swing einen zinslosen Kredit darstellt.
Sie wollen doch wohl nicht den Versuch machen, dem deutschen Volke einzureden,
daß derjenige, der einen zinslosen Kredit gibt, davon den Vorteil hat, und womöglich derjenige, der ihn empfängt, die Nachteile in Kauf nehmen muß.
Das ist doch so absurd, meine Damen und Herren, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß es selbst in Ihren Köpfen Platz findet.
Aber ich möchte schließlich noch die Aufmerksamkeit —
— Beruhigen Sie sich doch, meine Damen und Herren, Sie kriegen keinen anderen, und damit werden Sie sich für den Rest der Legislaturperiode abfinden müssen.
Ich möchte auf eine Frage eingehen, die hier bisher nicht behandelt worden ist, die mir aber von außerordentlicher Wichtigkeit zu sein scheint. Die Verhandlungen der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR sind auf seiten der Bundesregierung völlig unzulänglich organisiert. Das ist einer der Gründe für die schweren Rückschläge und Fehler, die wir in diesen Verhandlungen am laufenden Band erleben.
Das Wirtschaftsministerium verhandelt über den Swing. Das Innenministerium verhandelt über die Grenzziehung an der Elbe. Das Verkehrsministerium verhandelt über Verkehrsfragen, das Postministerium über das Telefon.
— Hören Sie doch mal einen Augenblick zu, Herr Kollege Mattick! Sie dienen doch der Sache nicht, wenn Sie nicht einmal zuhören können. — Das einzige Bundesministerium, das mit diesen Verhandlun-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9631
Dr. Carstens
gen offensichtlich überhaupt nichts zu tun hat, ist das
Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen!
Meine Damen und Herren, das ist ein grotesker Zustand! Die Verhandlungen der Bundesrepublik Deutschland mit jedem anderen Land der Welt werden zentral gesteuert; die Verhandlungen der DDR mit uns werden drüben zentral gesteuert; und hier bei uns herrscht vollständige Konfusion und vollständiges Durcheinander!
Mir wird gesagt, die zentrale Steuerung obliege einem Ministerialdirektor und Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt. Gegen den habe ich persönlich nicht das mindeste einzuwenden. Aber er ist angesichts der Tatsache, daß er noch viele andere Aufgaben wahrzunehmen hat, völlig außerstande, diesen schwierigen und für die Politik der Bundesrepublik Deutschland außerordentlich wichtigen Komplex zentral zu steuern. Infolgedessen steuert ihn niemand zentral.
Infolgedessen kommt es zu diesen außergewöhnlichen Informationslücken und Pannen im Verhältnis zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat. Wir alle sind die Leidtragenden davon.
Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen einschließlich der ihr nachgeordneten Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben sind 590 Mitarbeiter verzeichnet. Ich fordere Sie auf, Herr Bundeskanzler, diese Mitarbeiter endlich einer nützlicheren Beschäftigung zuzuführen und dafür zu sorgen, daß die Verhandlungen mit der DDR — ich sage es noch einmal: sie gehören zu den wichtigsten Verhandlungen, die die Bundesrepublik Deutschland überhaupt zu führen hat in einer Weise organisiert und geführt werden, die ihnen angemessen ist, und nicht in einer Weise, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Professor Carstens hat an ihn gerichtete Fragen nicht beantworten wollen. Statt dessen hat er neue Behauptungen in die Welt gesetzt.
Ich habe drei Feststellungen zu treffen.
Erstens. Herr Professor Carstens, Ihren Vorwurf an die Bediensteten des Ministeriums Franke — 590
haben Sie genannt — weise ich mit Entrüstung zurück !
Zu behaupten, daß diese Beamten und Angestellten keine nützliche Arbeit verrichteten, ist eine Perfidie, Herr Professor!
Zweitens. Ich weise Sie darauf hin, daß die Verhandlungen — wer auch immer sie auf welchen fachlichen Ebenen im einzelnen führt — hier in Bonn „zentral gesteuert" werden, wie Sie es nennen,
erstens durch den dafür zuständigen Bundesminister Franke —
— Ich möchte mal wissen, welches Gelächter Sie erwarten, wenn das Herr Abelein machen würde! Das möchte ich mal wissen.
Zum anderen: Ich habe doch Herrn Barzel in diesem Amt erlebt, ich habe von Ihnen viele erlebt, aber ich habe niemals eine gesamtdeutsche Rede erlebt wie die von Herrn Abelein heute nachmittag.
Im übrigen bedient sich der Herr Minister Franke dabei des Rats der zuständigen Minister, der Ministerrunde und des Bundeskanzlers.
Nächste Feststellung. Sie haben davon geredet, wir hätten der DDR einen Gefallen getan. Ich empfehle dem Kollegen Abelein und dem Kollegen Professor Carstens, in West-Berlin in Rentnerversammlungen zu gehen, um herauszufinden, wem hier eigentlich ein Dienst erwiesen worden ist.
Letzter Punkt: Der Herr Professor Carstens hat erneut die Unwahrheit gesprochen.
Er hat hier behauptet, der gesunde Menschenverstand könne erkennen, wir hätten den Swing erhöht. Ich stelle noch einmal fest, Herr Professor Carstens, daß dies unwahr ist. Wahr ist, daß die geltende Swing-Vereinbarung, die bis zum 31. Dezember 1975 in Geltung ist und die zur Zeit Ihrer Cheftätigkeit im Kanzleramt abgeschlossen wurde, unbegrenzt ist und daß hier zum erstenmal die Höhe des Swings von uns verabredungsmäßig begrenzt worden ist.
9632 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Bundeskanzler Schmidt
Und Herrn Abgeordneter Jäger weise ich auf seinen Zwischenruf darauf hin, daß die 25%ige Begrenzung, bezogen auf das Vorjahr, damals wie auch in Zukunft gilt. Das ist leider in den Zeitungen übersehen worden, aber es ist so, und ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Richtig wäre höchstens die Behauptung von Herrn Professor Carstens, wenn er sie aufstellen würde — ich gebe ihm Stichworte für seine zweite Intervention —,
daß wir den Swing zwar nicht erhöht, sondern im Gegenteil begrenzt haben, daß wir ihn aber zeitlich verlängert haben. Darüber könnten Sie sich dann hier in Vorwürfen auslassen.
Ich will Ihnen nur sagen: Unabhängig von allem ideologischen Streit, den wir mit der DDR und ihrer Führung durch die SED weiterhin haben werden, und unabhängig von vielen Rückschlägen, die wir weiterhin erleben werden und denen sich wieder Fortschritte anschließen werden, liegt es heute und in Zukunft wie bisher, auch zu der Zeit, wo Sie die Regierung stellten, im Interesse der Arbeitnehmer und der Konsumenten und der Unternehmungen in beiden Teilen dieses Vaterlandes, daß der innerdeutsche Handel nicht stranguliert, sondern ausgeweitet wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es dürfte in der nächsten Woche den einen oder den anderen unter Ihnen geben, der etwas nachdenklicher darüber sinnt, wie Sie diese Stunde, die letzte des Plenums vor Weihnachten, zugerichtet haben.
Es hat, meine Damen und Herren, in den Auseinandersetzungen über die Politik im geteilten Deutschland immer Streitfragen gegeben; in dieser Art wie heute sind sie nie von Ihrer Seite geführt worden und nie von einer anderen Opposition, die wir 17 Jahre lang gewesen sind, nie, bei aller Schärfe.
Sehen Sie, es gab bei Ihnen immer eine Schule, die der Meinung war, man müsse die deutsche Wunde offenhalten, die Wunde der Trennung. Ich habe darüber nie gespottet, ich habe es nur für einen schweren Fehler gehalten, weil man jahrzehnte- und wer weiß wie lang dies nicht kann, ohne selbst
krank zu werden. Was Sie heute machen, das ist deutsche Selbstverstümmelung.
Herr Carstens, ich will die nicht schelten, die Ihnen das eingeblasen oder aufgeschrieben haben, was Sie hier über Wirtschaftsfragen gesagt haben. Jedenfalls war die Rolle von Wirtschaftsbeziehungen im Verkehr zwischen Staaten nie Ihre starke Seite.
Daß in einem getrennten Land Wirtschaftsbeziehungen auch eine verbindende Rolle spielen, wollen Sie heute mit Ihrem affektgeladenen Auftreten wohl wegwischen.
In Wirklichkeit haben die Kanzler, denen Sie gedient haben, das bei allen Unterschieden in der Bewertung der Deutschlandfrage wohl gewußt.
Diese Kanzler würden sich von dem, der heute hier geeifert hat, in dieser Frage abwenden, verehrter Herr!
Im übrigen sage ich Ihnen: Sie haben in der Fragestunde und Sie haben jetzt Spott und Hohn über Anstrengungen auszugießen, auszupissen versucht.
— Jawohl, sage ich Ihnen! Auf einen Schelmen anderthalbe!
Herr Abgeordneter Wehner, ich glaube, daß das kein parlamentarischer Ausdruck gewesen ist.
Ich sage Ihnen , das wird Sie noch gereuen! Denn mit einem solchen Haufen können andere, von denen Sie eben sagten, bei denen sei alles zentralisiert, phantastisch spielen. Und das ist Ihnen ja wahrscheinlich egal, weil Sie den Kalten Krieg an sich mit seinen inneren Erhitzungen wünschen.
Sie haben heute hier wiederholt den Regierenden Bürgermeister ins Gespräch gebracht. Warum — —
— Nun quatschen Sie doch nicht dazwischen, Sie nachgemachter Berliner!
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9633
Wehner
Der hat seine Erklärungen, die ich jetzt nicht mehr vorlesen kann, obwohl sie wörtlich vor mir liegen, mit einer Bewertung der Vorgänge geschlossen, die Sie heute hier mit Schmutz bewerfen, indem er nämlich gesagt hat: Insgesamt bewerte ich den Vorgang, mit dem wir uns seit einiger Zeit beschäftigen und der heute öffentlich geworden ist, mit dem notwendigen Abstand und in realistischer Distanz; aber gemessen an den Informationen, die ich in den sieben Jahren als Regierender Bürgermeister aus oder von der Führung der DDR erhalten habe, ist dies das bisher Positivste; es ist jedenfalls das erste, was mich seit dem Viermächteabkommen auf diesem Gebiet mit Befriedigung erfüllte.
Stecken Sie sich das an den Hut oder an den Christbaum!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine kurze Vorbemerkung zu der Oppositionsbeschimpfung des Herrn Kollegen Wehner,
auf die einzugehen sonst nicht lohnt. Wer diese Stunde, Herr Kollege Wehner, so zugerichtet hat, das ist der Chef einer Bundesregierung, die von der Baader-Meinhof-Gruppe redet und die parlamentarische Opposition als Bande von Zwischenrufern bezeichnet.
Herr Bundeskanzler, wenn Ihre Politik in ihrem Erfolg diesem Stil treu bleibt, dann wird das, was wir in den letzten Wochen in der Deutschlandpolitik erlebt haben, uns auch noch in den kommenden Monaten weiter so begleiten, fürchte ich.
Herr Minister Franke, Sie haben den Kollegen Abelein dafür angegriffen, daß er gefordert hat, zunächst einmal auf die Geschäftsgrundlage in der Frage des Mindestumtausches zurückzukehren, ehe über die weiteren Fragen der innerdeutschen Beziehungen verhandelt wird. Herr Bundesminister, damit haben Sie Ihren eigenen Regierungschef eine Ohrfeige verpaßt; denn der Herr Bundeskanzler Schmidt sagte doch in der vergangenen Woche hier im Plenum — ich darf zitieren —:
Im Juni dieses Sommers hat ein Kreis von Bundesministern zusammen mit dem Präsidenten der Bundesbank und dem Vertreter des Regierenden Bürgermeisters über die Prioritäten für unsere Verhandlungsvorstellungen beraten. Nach jeder Beratung bestand unter anderem Übereinstimmung darüber, daß die Wiederherstellung der Geschäftsgrundlage beim Mindestumtausch die Voraussetzung aller weiterführenden Verhandlungen sein müsse.
Herr Bundeskanzler, nachdem Sie dies gesagt haben, haben wir uns gefragt: Warum haben Sie sich an diese Marschrichtung nicht gehalten? Der ganze Mißerfolg, den wir heute feststellen müssen, ist diesem Umstand zuzuschreiben, daß nicht verlangt wurde, daß zuerst zur klaren Geschäftsgrundlage seitens der DDR zurückgekehrt wird.
Daß Sie darüber hinaus, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Rede von der vergangenen Woche nicht einmal den ernsthaften Versuch gemacht haben, von der DDR zu verlangen, auch den Rest dessen zu beseitigen, was sie an Vertragsbruch begangen hat, das erfüllt uns mit Sorge.
Mit Sorge erfüllt uns in diesem Zusammenhang auch ein weiterer Satz dieser Ihrer Regierungserklärung, in dem Sie sagten:
In diesem Sinne wird die Bundesregierung auch zukünftig an der Ausfüllung des Grundlagenvertrages arbeiten, auch wenn es in Zukunft abermals dann und wann Rückschläge oder sogar schwere Rückschläge geben sollte.
Herr Bundeskanzler, wenn in diesem Sinne weiter gearbeitet wird, werden Sie nichts als Rückschläge und schwere Rückschläge erleben.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ist doch die Frage zu stellen: Wie hat sich die Bundesregierung dagegen abgesichert, daß nicht auch künftig dieses Spiel der DDR von vorne beginnt? Ich erinnere an das Wort des Bundesministers Bahr, der gesagt hat, es handle sich hier um interne Verwaltungsakte der DDR, in die wir nicht eingreifen könnten und auf die wir keinen Einfluß hätten. Und was wir heute in bezug auf den Rechnungshof von Herrn Staatssekretär Herold gehört haben, geht doch in die gleiche Richtung: Wir könnten hier im Grunde der DDR keine Vorschriften machen. Wenn das die Meinung der Bundesregierung ist, dann hätte es um so näher gelegen und es wäre um so wichtiger gewesen, bei diesen Gesprächen eine klare Vereinbarung darüber zu treffen, daß künftig nicht mehr ohne Konsultation und Zustimmung der Bundesregierung an dem Mindestumtausch und an den Fragen im Zusammenhang mit der Einreise von Bewohnern der Bundesrepublik Deutschland in die DDR gedreht werden kann. Das haben Sie versäumt, und das ist in meinen Augen einer der schwersten Fehler im Zusammenhang mit dieser Regelung.
Ich darf daran erinnern, meine Damen und Herren — ich sage das zum wiederholten Male —, daß Sie in diesem Zusammenhang auch keinen Gebrauch von der im Grundlagenvertrag vorgesehenen Konsultationsvereinbarung gemacht haben,
die die DDR verpflichtet, die Bundesregierung zu konsultieren, was nicht geschehen ist.
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Jäger
Herr Bundeskanzler, Sie haben uns am Anfang Ihrer Rede gesagt, auch wir, die Opposition, hätten es Ihnen nicht leichtgemacht, zu besseren Beziehungen mit der DDR zu kommen. Herr Bundeskanzler, nehmen Sie zur Kenntnis und verlassen Sie sich darauf: Wenn die Verbesserungen der Beziehungen, wie Sie sie betreiben, auch künftig nur eine Verbesserung der Beziehungen mit dem Regime drüben bezweckt und nicht eine Verbesserung zugunsten der Menschen bedeutet,
dann werden wir uns auch in Zukunft mit Entschiedenheit dagegen wehren, daß Sie diese Politik so weiterführen. Wir werden unseren Auftrag im Sinne des Grundgesetzes erfüllen und werden versuchen,
Sie daran zu hindern, auch in Zukunft eine Politik zu machen, die den Interessen der Menschen und den Interessen der Bundesrepublik abträglich ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden uns, Herr Kollege Jäger, auch in Zukunft nicht davon abhalten lassen, eine Politik zu betreiben, die die Kontakte der Menschen aus beiden Teilen Deutschlands über jene schmerzliche Grenze hinweg verstärkt und damit die Grundlage dafür bietet, daß das Reden von der deutschen Nation und die Hoffnung auf den Tag, an dem diese deutsche Nation wieder einmal in einem gemeinsamen deutschen Staat zusammenleben kann, keine Illusion bleiben werden. Daran werden wir uns nicht hindern lassen.
— Ich komme darauf zurück.
Wir sprechen heute über den Interzonenhandel und über den Swing-Kredit. Ich verstehe allmählich nicht mehr, wie die Redner der Opposition immer wieder darauf abstellen können, dies sei ein politischer Hebel zur Durchsetzung bestimmter Forderungen. Sehen wir doch einmal in die Geschichte dieses Instruments zurück! Der Interzonenhandel wird in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 interpretiert. Es heißt dort, daß der Interzonenhandel und der ihm entsprechende innerdeutsche Handel kein Außenhandel und ein Merkmal für die besonderen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten sei. Genau dem haben ja auch die früheren Bundesregierungen Rechnung getragen, z. B. bei der Einführung des Swing seinerzeit, ohne daß man damals eine Gegenleistung von seiten der DDR herausgeholt hätte. Man hat ihn vielmehr eingeführt, um den innerdeutschen Handel nicht weiter schrumpfen zu lassen.
Aber lassen Sie mich auch noch auf einen anderen Umstand hinweisen: Die politische Grenze der Belastbarkeit des Interzonenhandels als Mittel der Politik wurde doch 1960 schlagartig deutlich. Die Ostblockstaaten erkannten damals die Bundespässe für Westberliner nicht mehr an, und die DDR führte gleichzeitig jene Tagespassierscheine für westdeutsche Besucher in Ost-Berlin ein, die bis heute gelten. Die Bundesregierung kündigte darauf das Abkommen am 30. September 1960, und sie verlängerte es am 29. Dezember des gleichen Jahres, ohne ihre Forderungen durchgesetzt zu haben.
Meine Damen und Herren, das geschah unter einer Bundesregierung mit einem CDU-Kanzler. Ich meine, die Erfahrung von damals sollten Sie als Opposition zumindest so weit zur Kenntnis nehmen, daß Sie heute nicht von der Bundesregierung verlangen, sie könne mit dem innerdeutschen Handel oder mit dem Swing politische Forderungen durchsetzen, was Ihnen in der Vergangenheit nicht gelungen ist.
Aber ich glaube, es geht hier in dieser Auseinandersetzung zwischen Opposition und Koalition um etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich um die Frage: Was treiben wir eigentlich für eine Politik, wenn wir mit der DDR verhandeln?
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie zwingen uns, etwas, was an sich in einen Ausschuß gehörte, hier einmal mit aller Deutlichkeit nun auch vor dem Plenum des Bundestages festzustellen. Wenn wir mit der DDR verhandeln, so verhandeln wir mit einer Regierung, deren Interessen den unseren zwangsläufig entgegengerichtet sind. Wir haben ein Interesse daran, so viele Menschen wie möglich aus beiden Teilen unseres Vaterlandes in Kontakt miteinander kommen zu lassen. Das Interesse der anderen Seite liegt doch genau umgekehrt. Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis, daß wir, wenn wir die Einheit der deutschen Nation erhalten wollen, nicht an dem politischen Hebel sitzen, der es uns leicht macht, das zu erreichen.
Von „deutscher Nation" in Sonntagsreden zu sprechen ist einfach; aber in mühsamen Verhandlungen mit jener Regierung, die nun einfach die Regierung für einen Teil unseres deutschen Volkes ist, dafür zu sorgen, daß die Einheit der deutschen Nation nicht auseinanderfällt, ist eben schwerer, als Sie sich offenbar vorzustellen vermögen.
Ihre Deutschlandpolitik hat bis zum Jahre 1969 nicht zu einer Vermehrung dieser Kontakte geführt, sondern zu einer Verringerung.
Daß diese Politik der sozialliberalen Koalition seit 1969 nicht nur das freie Berlin mit seinen Zugangswegen sicherer gemacht hat, mit der Möglichkeit für die Westberliner, nach Ost-Berlin und in die DDR zu reisen, und daß die Zahl der Kontakte zwischen deutschen Menschen größer geworden ist, können Sie nicht bestreiten. Darum haben wir mehr für die deutsche Nation getan als Sie in 20 Jahren.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9635
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kreutzmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem, was sich auf dem Sektor der innerdeutschen Politik bei der Opposition abspielt, könnte man langsam Schallplatten auflegen. Man würde dann immer wieder folgendes hören: Diese Regierung ist weich; sie läßt sich dauernd nur auf den Leim locken;
sie zahlt doppelt und dreifach; alles, was sie erreicht und geschaffen zu haben glaubt, ist nichts als Einbildung; eigentlich geht es uns heute in den innerdeutschen Beziehungen wesentlich schlechter als vor 1969.
So haben Sie auch heute wieder diese Platte abgespielt. Dabei haben Sie es doch jahrelang mit Ihrer Masche versucht. Herr Professor Carstens, wenn Sie vorhin sagten, daß die Koordination schlecht und unzureichend sei: Das war zu Ihrer Zeit kein Problem, weil es damals keine Verhandlungen mit der DDR in diesem Umfang gab.
Mir ist aus jenen Jahren auch nicht bekannt, daß Sie gefordert hätten, vor einer Verlängerung des Swings cien Schießbefehl abzuschaffen und etwa die Todesstreifen einzueggen. Von dieser Regierung aber verlangen Sie, sie soll all das tun, was Sie nicht einmal versucht haben.
Sehen Sie, das ist doch eigentlich eine politische Unredlichkeit. Sie wissen ganz genau, daß die Dinge, wenn man in der Regierungsverantwortung steht, wesentlich anders aussehen als in der Sicht der Opposition.
Als wir vor einigen Tagen die große Deutschlanddebatte vorbereiteten, die ja nun auf den Januar verschoben worden ist, habe ich mir einmal eine ganze Reihe von Äußerungen von Säulenheiligen Ihrer Politik hervorgeholt und sie mir angesehen. Manche von ihnen sitzen ja noch heute in diesem Haus. Wenn man das, was Sie damals sagten, dem gegenüberstellt, was Sie von dieser Regierung verlangen, wird einem erst deutlich, wie Sie in vielen Dingen die Rolle der Opposition überdrehen.
Sagen Sie nicht, das sei eine gottgegebene Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition. Sie können sich damit nicht herausreden. Sie hatten ja die Erfahrung der Regierung hinter sich, die die SPD als Opposition nicht gehabt hat. Sie wissen, wie viele Rücksichten eine Regierung nehmen muß, was sie sagen kann und was nicht. Und trotzdem wollen Sie diese Regierung immer wieder zwingen, auf die Marktplätze zu gehen und damit ihre eigene Politik zu unterlaufen. Ob das der richtige
Stil in der Frage des geteilten Deutschlands ist, Politik für die Menschen zu machen, sollten Sie sich, glaube ich, gerade in diesen Tagen einmal überlegen.
Ich meine, der Zeitpunkt ist richtig gewählt. Die Angebote, die in diesem Aide-mémoire vorliegen, sind doch für uns nicht uninteressant: Verhandlungen über die Öffnung des Teltow-Kanals, Ausbau des Touristenverkehrs, Ausbau der Autobahn vom Berliner Ring bis nach Marienborn, Ausbau der Berliner Eisenbahnanlagen, Verkürzung der Fahrzeiten. Ich glaube, daß in diesen Vorschlägen auch eine ganze Menge wirtschaftlich interessanter Angebote enthalten sind. Sie sehen in all dem nur einen Versuch, die DDR-Wirtschaft auf Kosten der Bundesrepublik gesundzustoßen und D-Mark aus der Bundesrepublik herauszupressen.
Daß die Gefühle der DDR-Führung gegenüber der Bundesrepublik keineswegs nur freundliche sind, wird niemand leugnen.
Daß es zu Verstößen gegen früher getroffene Abmachungen gekommen ist, wird auch niemand bestreiten, obwohl längst nicht in dem Umfang, wie
Sie es immer darzustellen pflegen.
Innerdeutsche Politik ist nun einmal ein hartes Geschäft, und niemand verkennt, daß die DDR zu jedem Schritt der Verbesserung sowohl von uns als auch von manchem ihrer eigenen Verbündeten gedrängt werden muß. Wenn diese Bundesregierung aber zur Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen auch zu finanziellen Zugeständnissen bereit war und ist, so doch nicht deshalb, weil sie dieses Regime nicht richtig einzuschätzen wüßte oder gar ideologisch verblendet wäre, sondern einfach deshalb, weil dort drüben nicht nur das Regime zu sehen ist, sondern auch die Menschen, denen wir, wenn wir innerdeutsche Politik machen wollen, doch zu helfen verpflichtet sind.
Es hat einmal eine Zeit gegeben, da hat man mit dem Gedanken gespielt, das Regime dort drüben durch wirtschaftliches Abdrosseln politisch auf die Knie zu zwingen. Ich habe es auch erlebt, daß ein aus der DDR geflüchteter Unternehmer zu Regierungsstellen kam und forderte, seinem ehemaligen Betrieb, der inzwischen verstaatlicht war, die Einfuhr zu drosseln, um sich eine lästige Konkurrenz vom Hals zu schaffen. Ich glaube, wir haben sehr bald erfahren, wo das hingeführt hat.
Deshalb meine ich — damit möchte ich Sie zum Schluß ansprechen und Sie herzlich bitten -, doch einmal zu versuchen, Deutschlandpolitik losgelöst von Emotionen und ideologischen Vorurteilen zu sehen. Es geht doch in dieser Frage nicht nur um das Schicksal einer Regierung und ihrer Erfolge. Es geht um die Menschen in dem anderen Teil Deutschlands, denen wir mit dieser Politik helfen müssen.
9636 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kunz .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin gesagt, daß Sie sich an das Grundgesetz halten.
Wir erwarten, daß Sie sich in der Ostpolitik mehr an das Grundgesetz halten, als Sie es als Finanzminister bei der Haushaltspolitik getan haben.
Die Hektik und der Erfolgszwang, unter dem diese Bundesregierung heute steht, hat bereits zu einem weiteren Fiasko geführt, das in der Öffentlichkeit noch gar nicht so richtig bekannt und ihr noch nicht bewußt geworden ist, nämlich die Tatsache, daß die eindeutige Vertragsverletzung der DDR gar nicht zurückgenommen wurde. Zudem hat sich die Bundesregierung — obschon bestritten, aber de facto doch — darauf eingelassen, über den Preis zu verhandeln, den sie für die Rücknahme dieser Vertragsverletzung zu bezahlen bereit ist. Es steht heute schon so gut wie fest, daß der deutsche Steuerzahler erneut riesige Summen an die DDR wird zahlen müssen; denn die DDR möchte, daß die Bundesrepublik das Eisenbahn- und Straßennetz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin ausbaut und finanziert. Da sollen Eisenbahnstrecken in der DDR zweigleisig ausgebaut werden, deren zweites Schienenpaar nach 1945 mit maßgeblicher Beteiligung der SED zugunsten der Sowjetunion demontiert wurde, inzwischen aber von der DDR größtenteils wieder ersetzt ist. Auf diese Weise wird die Bundesrepublik noch im nachhinein auch für diese Reparationen an die Sowjetunion eingespannt.
Nach den ersten Bonner Schätzungen sollen dabei Kosten von über 3 Milliarden DM anfallen. Der Berliner Senat, der durch die Bonner Verschleierungsaktion mit eingenebelt und damit von den Konzessionen dieser Bundesregierung gegenüber der DDR ebenso überrascht wurde wie die wieder einmal getäuschte deutsche Öffentlichkeit, kam bei seiner Kalkulation sogar auf 6 Milliarden DM. Die SED-Führung, die nach allen bisherigen Erfahrungen gegenüber der Bundesregierung nicht nur das letzte Wort behält, sondern zumeist auch recht bekommt, lacht sich bereits jetzt über den zu erwartenden Gewinn von 8 Milliarden DM ins Fäustchen.
Wie kommt diese Bundesregierung überhaupt dazu, Hoffnungen auf derartige Zahlungen zu machen, obschon sie daneben noch jährlich 235 Millionen DM bezahlt und damit zu rechnen ist, daß die Straßenbenutzungsgebühren nach 1975 weiter erhöht werden? Seit dieser sogenannten neuen OstPolitik von Brandt und Bahr gibt es bisher leider
kaum ein Geschäft zwischen der Bundesrepublik und einem kommunistischen Staat, das tatsächlich ausgewogen gewesen wäre.
Überall haben wir ein Aufgeld zu bezahlen. Und ein Ende dieser Politik ist überhaupt nicht abzusehen. Die Bundesrepublik gerät auf diese Weise in eine immer engere Verzahnung, die zu einer wachsenden politischen Abhängigkeit führen wird, ja zum Teil schon geführt hat.
Diese unheilvolle Politik wurde durch Brandt und Bahr begonnen, und bereits Schmidt ist ihr Gefangener. Die Forderungen der kommunistischen Staaten werden eher größer und das Ausmaß unserer Zahlungspflicht immer unheimlicher. Wir bezahlen einen politischen Mehrpreis mit der regierungsamtlichen Begründung: „Für menschliche Erleichterungen".
Aber wie steht es denn in Wirklichkeit? Was hat die Bundesregierung getan, um die SED zur Erfüllung des Postabkommens von 1971 zu bewegen,
mit dem die DDR die Einführung des vollautomatischen Fernsprechverkehrs zwischen der Bundesrepublik und der DDR zugesagt hat? Warum hat die Bundesregierung — um nur einige unserer Forderungen zu nennen nicht auf einer vollständigen Zurücknahme der vertragswidrigen Verdoppelung des Zwangsumtausches bestanden? Hat die Bundesregierung auf einer Entlassung der Tausende von politischen Häftlingen bestanden?
Hat die Bundesregierung in ihren Verhandlungen endlich einmal den Bezug von westdeutschen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern in der DDR als Forderung erhoben? Hat die Bundesregierung eine wesentliche Senkung des Alters für die Ausreisegenehmigung gefordert?
Hat die Bundesregierung mit Nachdruck über den Schießbefehl gesprochen, durch den an der DDR-Grenze, mitten in Deutschland, nach wie vor gemordet wird?
All dies hat die Bundesregierung natürlich nicht getan. Statt dessen hat sie lediglich die teilweise Zurücknahme von eindeutigen Vertragsverletzungen mit der Hoffnung auf Milliarden honoriert.
Ich schließe mit der gleichwohl nüchternen wie wahren Feststellung der FAZ von vorgestern: „Diese Runde ging eindeutig an Erich Honecker." Und ich füge hinzu: auch wenn der Herr Bundeskanzler anderes glauben machen will.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Dezember 1974 9637
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die letzte Aufzählung hört, muß man das Gefühl haben, daß wir bedauerlicherweise hier in diesem Haus doch eine große Zahl von Gehörgeschädigten haben.
Denn anders ist es nicht zu erklären, daß man einfach nicht zur Kenntnis nehmen will, was hier alles tatsächlich gesagt worden ist, was die Fakten sind.
Ich wundere mich auch, daß Kollegen aus dem innerdeutschen Ausschuß hier Dinge beklagen, die sie beispielsweise bei den Bereisungen Schleswig-Holsteins, als es um die Frage des Autobahnbaus von Hamburg nach Berlin ging, ausgesprochen positiv beurteilt haben, nun aber plötzlich das Ganze nur noch als eine Finanzfrage sehen. Ich wundere mich darüber, daß man in Berlin dieselben Fragen positiv beurteilt, aber in diesem Hause oder draußen, wenn es um den Wahlkampf geht, plötzlich das Gegenteil verkündet.
Eigentlich hätte ich sagen müssen: Ich wundere mich nicht mehr, weil das ja Ihre Taktik in allen Fragen ist: Da, wo man glaubt, mit einer positiven Beurteilung Stimmen gewinnen zu können, tut man dies; da, wo das Gegenteil der Fall ist, redet man in umgekehrter Richtung frisch drauflos, auch wenn man sich selbst widerspricht. Das ist doch die Taktik, mit der Sie hier ständig operieren.
Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin gesagt, Sie seien über die Rede des Kollegen Abelein verwundert gewesen. Ich kann nur sagen: ich war nicht verwundert. Leider sind seine Reden hier immer so gewesen wie die heutige.
Wenn der Kollege Jäger glaubt, das, was positiv erreicht worden ist, herunterspielen, abwerten zu sollen, dann kann ich nur sagen: Das ist eine ganz miese Tour, die gegen und nicht für die Interessen der Menschen spricht.
Herr Kollege Gradl hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Anfang der 60er Jahre, 1964, 1965, in diesen Fragen eine andere Einstellung vorhanden war, und dies auch bei der damaligen Opposition; das ist der entscheidende Unterschied. Heute müssen wir feststellen, daß man diese Fragen leider nicht dazu benutzt, um den Dingen durch sachgerechtes Abwägen zu nützen, sondern sie ausschließlich unter dem Gesichtspunkt sieht: Wie kann man damit irgendwann irgendwo Punkte sammeln? Und das ist das Schlimme für die Deutschlandpolitik.
Herr Bundeskanzler Schmidt hat vorhin darauf hingewiesen, daß es das erste Mal war, daß ein prominenter Politiker die Möglichkeit, Menschen zu helfen, schlagzeilenmäßig verwertet hat. Ich hätte
erwartet, daß sich der Kollege Carstens — auch im Interesse seiner eigenen Kollegen, die hier sitzen und die sich genauso wie Kollegen aus den Fraktionen der FDP und SPD ständig im gleichen Sinne bemühen und nie einen Ton öffentlich dazu gesagt haben — von dieser Verhaltensweise von Herrn Ministerpräsident Filbinger distanziert.
Uns allen wird doch — quer durch alle Fraktionen — diese Arbeit erschwert. Das mindeste, was nach dieser Debatte als Gemeinsamkeit bestehen sollte, wäre doch, daß wir wenigstens in diesem Hause einig sind, von der Praxis, diese Einzelfälle propagandistisch nicht auszuwerten, nicht abzugehen. Vielleicht wäre es möglich, daß der eine oder der andere der Kollegen der CDU, der dem Parteivorsitzenden der CDU, Herrn Kohl, besonders nahesteht, diesen bittet, daß er seinem Stellvertreter sagt, er möge doch in Zukunft solche Dinge unterlassen, weil sie der Humanität nicht nützen, sondern ihr schaden.
Meine Damen und Herren, die Geschäftslage sieht folgendermaßen aus. Vor Abschluß der Aktuellen Stunde mit 60 Minuten hat sich der Herr Bundeskanzler gemeldet und kann daher das Wort bekommen, weil diese Redezeit bei der Gesamtzeit außer Anrechnung bleibt.
Damit aber wird eine neue Runde eröffnet, und ich bitte, sich darauf einzustellen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Es wurden im Laufe der Debatte noch ein paar Sachpunkte aufgeworfen, auf die ich seitens der Bundesregierung zurückkommen möchte. Einer der Herren Kollegen hat gesprochen von der zukünftigen Finanzierung des erhofften Ausbaus von Verkehrswegen zwischen der Bundesrepublik und Berlin. Die Bundesregierung ist dazu der Meinung, daß es fair und angemessen wäre, wenn die Verhandlungen zu dem Ergebnis führten, daß die Finanzierung des Ausbaus der Verkehrswege von und nach Berlin in dem Maße geteilt würde, in dem voraussichtlich die Benutzung dieser Verkehrswege erfolgt.
Zweiter Punkt. Es hat einer der Kollegen — ich glaube, der Herr Jäger war das — von der Konsultation gesprochen. Ich darf Ihnen sagen, Herr Kollege, daß wir die DDR in einem Ausmaß und in einer Tiefe in gegenseitige Konsultationen hineingezogen haben, wie es vorher nicht erreichbar gewesen war.
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, daß im Gegensatz zu Ihrem Sprachgebrauch und dem anderer Kollegen es zu keinem Zeitpunkt ein Abkommen zwischen Ost-Berlin und Bonn über
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Bundeskanzler Schmidt
Mindestumtausch irgendeiner Kategorie gegeben hat. Wir haben auch in Zukunft nicht die Absicht, solche Abkommen zu schließen. Wir halten im Grunde das System des Mindestumtausches, genau wie das andere System, von dem ich vorhin sprach, als von menschlichen Erleichterungen die Rede war, für nicht gerechtfertigt.
Drittens. Ich darf darauf hinweisen, auch wenn sich der Herr Professor Carstens bisher standhaft geweigert hat, sich darauf einzulassen, daß in Sachen Swing die gegenwärtige Bundesregierung eine Politik verfolgt, die von dem damaligen Bundeskanzler Adenauer begonnen worden ist, die wir zu jedem Zeitpunkt für richtig gehalten haben. Wir wollten allerdings dieses Mal den Swing erstmalig der Höhe nach begrenzt wissen — dies haben wir auch erreicht , weil wir auf die Dauer zu einem Ausgleich des innerdeutschen Handels kommen wollen.
Übrigens für den Kollegen, der gemeint hat, dies zahle der Steuerzahler — ich glaube es war Herr Kunz —: Das ist nicht einwandfrei, sondern es handelt sich um einen Zinsverzicht der Deutschen Bundesbank.
— Das ist etwas durchaus anderes, und ich habe es deswegen zurückweisen müssen, weil die Insinuation, dem Steuerzahler werde hier etwas weggenommen, zurückgewiesen werden mußte.
Was bei alledem zurückbleibt, Herr Professor Carstens, ist dies: Es ist eine Reihe von unmittelbaren Verbesserungen für die Menschen in Berlin und der DDR jetzt schon eingetreten; über andere wird verhandelt. Zum zweiten, und dies ist der einzige Punkt, in dem Sie wirklich von mir aus gesehen legitimerweise eine andere Meinung haben könnten:
In bezug auf die Mindestumtauschregelungen, wie sie früher gegolten haben — die ich übrigens auch zu einem früheren Zeitpunkt nicht anerkannt hätte —, ist, Jugendliche und Rentner betreffend, eine hundertprozentige Wiederherstellung erfolgt; eine Zurückführung auf den ursprünglichen Zustand in bezug auf übrige Personen ist in der Weise erfolgt, daß die Verteuerung von 200 auf 130 zurückgenommen wurde.
Der Bundesregierung ist vorgeworfen worden, daß sie in diesem Punkt nachgegeben und darauf nicht weiter insistiert habe. Diesen Vorwurf, wenn es wirklich einer ist,
muß die Bundesregierung in Kauf nehmen; sie ist allerdings der Meinung, daß niemals in der Welt in Verhandlungen, sei es zwischen Fraktionen in einem Ausschuß, sei es im Parlament, sei es international, sei es zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, im Endergebnis beide Seiten das herausbekommen können, was sie als Ausgangspositionen ihrerseits zunächst öffentlich vorgetragen haben.
— Die DDR hat es außerordentlich schwierig gehabt, und wenn Sie es mir abnehmen wollen — ich will es nicht im Detail vertiefen —: Die DDR hat außerordentliche innere Verdauungsschwierigkeiten. Bei uns werden diese im Deutschen Bundestag öffentlich vorgetragen. Die DDR hat selber außerordentliche Schwierigkeiten, mit diesem Ergebnis, das heute im Verordnungsblatt der DDR steht, fertig zu werden.
Letzter Punkt, was Herrn Kunz angeht: Verehrter Herr Kollege, nicht alles, was in der Politik Geld kostet, ist allein deswegen schon falsch.
Ich darf daran erinnern, daß wir mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland einen Vertrag über den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften haben, einen Vertrag, der völkerrechtskräftig ratifiziert worden ist, und die Römischen Verträge. Trotzdem macht heute eine britische Regierung die Honorierung dieses Vertrags aus Gründen, die nicht zu solcher Beschimpfung führen, wie wir sie soeben gehört haben, davon abhängig, daß gewisse finanzielle Regelungen verändert werden. Dies wird die deutschen Steuerzahler sehr viel Geld kosten. Sie, Herr Professor Carstens, sind damit einverstanden. Was nach der einen Richtung richtig ist, muß nicht von vornherein in der anderen Richtung falsch sein.
Wenn uns das Zusammenhalten der deutschen Nation nur Geld kosten sollte, dann allerdings bin ich bereit, es dafür zu zahlen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Carstens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal klarstellen, worum es geht. Jeder von uns begrüßt, daß die Rentner jetzt, ohne einem Umtauschzwang zu unterliegen, wieder Besuche in der DDR durchführen können.
Wir werfen aber der Regierung vor, daß Sie für diese politische Leistung der DDR zweimal einen Preis gezahlt hat,
einmal beim Grundvertrag und jetzt wieder bei
der Erhöhung des Swing. Es kann doch alles Drum-
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Dr. Carstens
herumreden nichts an der Tatsache ändern, daß von dem neuen Kreditabkommen mit der DDR die DDR einen größeren Vorteil als wir hat, weil nämlich — es ist besonders wichtig, daß wir das festhalten — hier leider Gottes eine Erpressungssituation gegeben ist. Leider Gottes befindet sich die DDR in einer Lage, in der sie zumindest die Versuche machen kann, unsere Seite zu erpressen. Das Nachgeben gegenüber Erpressungsversuchen werfen wir dieser Regierung vor.
Ich möchte aber auch noch ein paar Bemerkungen zum Verlauf dieser Debatte machen. Herr Bundeskanzler, Ihre zweite Intervention war in der Tonlage wesentlich ruhiger und abgewogener als Ihre erste.
Aber ich möchte Sie noch einmal sehr dringend um
folgendes bitten — ich habe das schon in verschiedenen Formen getan —: Mäßigen Sie sich bitte,
wenn Sie als Bundeskanzler hier am Rednerpult stehen.
Mäßigen Sie sich bitte in den Worten, die Sie gebrauchen. Ich habe ja nichts gegen eine scharfe Auseinandersetzung. Ich bin selber dafür, daß die Dinge scharf ausgesprochen werden. Aber gebrauchen Sie keine Worte, die ihrem Charakter nach beleidigender Natur sind.
Dann möchte ich noch ein Wort an den Kollegen Wehner richten. Es ist uns allen bekannt, daß Herr Kollege Wehner es liebt, Vergleiche zu wählen, die mit Vorgängen des menschlichen Unterleibs zusammenhängen. Herr Kollege Wehner, ich möchte an Sie appellieren: Schlagen Sie sich einmal an die Brust; vielleicht kommen dann etwas bessere Töne bei Ihnen heraus.
Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren, die Art und Weise, wie führende Politiker der SPD in den letzten Tagen polemisiert haben, die wirklich herabwürdigende Weise, in der Sie polemisieren,
läßt nur den einen Schluß zu, da sich nämlich die SPD in der verzweifelten Lage einer Partei sieht, deren Chancen mehr und mehr dahinschwinden und daß ihr das Wasser bis zum Halse steht.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, ein Ertrinkender, der um sich schlägt, wird desto sicherer untergehen. In dieser Lage befinden Sie sich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Löffler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Opposition hat sich erwartungsgemäß, wie ich leider feststellen muß, am heutigen Nachmittag mit ihrer Attacke in dem Staub völlig verloren, den sie vorher aufgewirbelt hat. Dabei hat sie Ziel, Richtung und Sinn dieser Debatte völlig aus den Augen verloren.
Nur eines hat sie bei dieser Debatte allerdings nicht verlieren können, nämlich die Führung; die war von vornherein überhaupt gar nicht gegeben,
obwohl in dieser Staubwolke irgendwo der große Vorsitzende vermutet wurde.
Kommandiert haben jedenfalls die Unterleutnants, die nichts zügeln können, am allerwenigsten ihren Ehrgeiz,
und die ganz offensichtlich auch bereit sind, diesem ihrem Ehrgeiz einiges von dem zu opfern, was ich einmal als nationale Gemeinsamkeit in denjenigen Fragen, auf die es uns allen ankommen sollte, bezeichnen möchte.
Dadurch sind am heutigen Nachmittag einige Dimensionen durcheinandergekommen. Eine Wahrung der Dimensionen hätte bedeutet, die Vorgänge danach zu bewerten, inwieweit sie einen Fortschritt in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten darstellen, inwieweit sie zur Lösung praktischer Probleme beitragen und inwieweit sie den Menschen in beiden deutschen Staaten helfen. Statt dessen haben wir so lichtvolle Ausführungen wie die von Herrn Kunz hören müssen, daß der Bau eines zweiten Eisenbahngleises in der DDR faktisch ja so etwas wie die Beteiligung an Reparationszahlungen an die Sowjetunion sei.
— Sehr geehrter Herr Dr. Kunz, wer so denkt, soll
einmal sagen, wie er eine vor allen Deutschen zu
verantwortende innerdeutsche Politik betreiben will.
Ich will Ihnen das eine sagen: Daraus spricht ein bestimmtes Denken
— das ist ein Problem, das Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, lösen müssen —, nämlich das Denken des reichen Wohlstandsbürgers: Swing — da muß doch die „arme" DDR in die Knie
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Löffler
gehen, wenn wir ihr noch ein bißchen mehr Kredit gewähren.
Da ist kein echter Versuch, zu Regelungen zu kommen, die für beide Seiten nützlich sein können.
Es tut mir leid, daß zu diesen Staubaufwirblern auch zwei meiner sonst so hochverehrten Berliner Kollegen gehörten, die offensichtlich den Versuch unternehmen wollten, mit einigen Bemerkungen einen Keil zwischen Bundesregierung und Berliner Senat zu treiben.
Dieser Versuch, lieber Jürgen Wohlrabe, ist völlig verfehlt. Die Berliner wissen, daß sie nicht verraten worden sind, und die Berliner sind auch nicht stocksauer, wie es Ihr großer Vorsitzender aus Berlin in New York oder in Washington verkündet hat. Die Berliner wissen aus einer leidvollen 25jährigen Erfahrung, wie man politische Realitäten im geteilten Deutschland einschätzen kann, einschätzen muß und was man auf der Grundlage dieser Realitäten tun kann.
Und das ist Gott sei Dank sehr viel mehr, als hier nur kluge Worte im Parlament zu sprechen, wie Sie es heute getan haben.
Es muß hier nämlich einmal festgehalten werden, daß die Bundesregierung in diesen Gesprächen mit der DDR völlig selbstverständlich z. B. auch über Probleme gesprochen hat, die nur die Westberliner unmittelbar berühren. Welch ein großer Erfolg! Wie lange haben Sie das eigentlich immer wieder gefordert? Dieser Erfolg ist heute hier völlig untergegangen. Es muß auch festgehalten werden, daß die DDR zum erstenmal eine Maßnahme — wenn auch nur größtenteils — zurückgenommen hat, die sie bereits verkündet und praktiziert hatte. Das hat es doch bisher nicht gegeben. Herr Kollege Hoppe hat hier doch die verschiedenen Maßnahmen aufgeführt, die man früher nicht rückgängig machen konnte. Herr Professor Carstens muß es doch noch aus dem Staatssekretärsausschuß wissen, daß man die andere Seite nicht zwingen konnte, etwas zurückzunehmen. Daß in diesem Fall eine Zurücknahme erreicht worden ist, ist eben ein Erfolg der Politik, die darauf abgestellt war, die Beziehungen auf gesicherte Grundlagen zu stellen.
Es wurde des weiteren gesagt, die verbindlichen Abmachungen fehlten. Der Berliner Senat hat bereits einige verbindliche Abmachungen im Rahmen dieses Gesamtpaketes unter Dach und Fach. Sie werden demnächst unterzeichnet werden. Es handelt sich dabei um den Bau einer wichtigen großen Schleusenkammer in Berlin, durch die erhebliche Verbesserungen im Verkehr auf den Berliner Gewässern hergestellt werden. Es handelt sich dabei um die langfristige Abnahme von Abwässern und Müll aus West-
Berlin. Das sind Probleme, mit denen es die Berliner zu tun haben.
Auf diese Probleme wollen sie eine Antwort haben; sie wollen hier im Deutschen Bundestag nicht irgendwelche Staubwolken sehen.
Ich komme zum Ende. Herr Professor Carstens sagte, alles sei nicht geregelt und nicht zentral gesteuert; es herrsche eine große Konfusion. Dazu kann ich nur sagen: Es gibt nur eine Sache hier in Bonn, die nicht geregelt und nicht gesteuert ist, und das scheint die Opposition zu sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Oppositionsführer hat auch heute nicht auf die Unterstellung verzichten wollen, die Regierung habe für die Befreiung der Rentner vom Zwangsumtausch doppelt gezahlt.
Meine Damen und Herren, wenn die Regierung der DDR es nötig hat, diesen Eindruck bei ihrer Bevölkerung zu vermitteln, erscheint das noch verständlich. Sie treibt schließlich eine Prestigepolitik und kann auf eine Entschuldigung für die Korrektur eines Vertragsbruchs, den sie auf Raten vollzieht, nicht verzichten. Die CDU sollte eine solche Praxis dagegen nicht nötig haben. Wenn Sie sich dennoch, meine Damen und Herren von der Opposition, dieser Praktiken bedienen, ist die Methode erschreckend.
Meine Damen und Herren, mit ihrer heute bekundeten Haltung knüpft die Opposition an jene unpersönliche und unbewegliche Politik an, mit der sie in all den Jahren jeden konstruktiven Beitrag zur Lösung der deutschen Frage unmöglich gemacht hat.
So wie die CDU/CSU 1963 in Berlin eher bereit war, ein Regierungsbündnis mit der SPD aufzulösen, als auch nur ein Gespräch mit dem damaligen Regierungschef der Sowjetunion über die Probleme der gefährdeten Stadt zu führen, so versagt sie sich auch heute wieder der beschwerlichen und mühsamen Aufgabe, die Grundlagen für die Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten auf dem Prinzip der Gleichberechtigung zu formen. Dies ist zu beklagen, denn es schwächt unsere gemeinsame Position. Im Interesse der Menschen in beiden deutschen Staaten werden wir diese Politik dennoch unbeirrt fortsetzen, wenn es sein muß, auch ohne oder gegen die CDU/CSU.
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Hoppe
Das jetzt erreichte Zwischenergebnis ist aber noch kein Grund zum Jubeln. Die erkennbar erreichten Verbesserungen werden uns nicht vergessen machen, daß die DDR bis heute noch nicht voll zur Vertragsgrundlage zurückgekehrt ist. Dennoch ist das Erreichte Veranlassung, mit dieser verbesserten Ausgangslage in harten Verhandlungen die Angebote der DDR zu prüfen, urn zu praktischen Ergebnissen für die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten zu kommen.
Meine Damen und Herren, die deutsche Politik ist jedenfalls endlich wieder in Bewegung gekommen. Vernünftige Regelungen im Bereich der Wirtschaft, des Verkehrs und der technischen Zusammenarbeit scheinen erreichbar. Gehen wir ohne Illusionen mit Zähigkeit und Härte in die neue Verhandlungsrunde! Die Menschen in unserem Volk werden es uns danken.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Professor Carstens hat in seiner letzten Intervention die Schärfe einiger Ausdrücke gerügt, die ich benutzt hätte. Das hat mich daran erinnert, daß nächste Woche Weihnachten ist, Herr Professor.
Ich möchte einen der Ausdrücke, die ich benutzt habe, korrigieren, weil ich verstehe, daß Sie ihn in eine falsche Nachbarschaft gerückt haben: ich habe da so Zwischenrufe wie „Baader-Meinhof" registriert. Ich will Ihnen das in der Vorweihnachtszeit nachsehen. Daß es nicht so gemeint war, wissen Sie auch, wie ich annehme. Deswegen will ich diesen Ausdruck „Zwischenruferbande" korrigieren und sagen: Sie sind natürlich eine höchst ehrenwerte Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aktuellen Stunde angelangt.
Nach Abschluß der Aktuellen Stunde hat der Abgeordnete Professor Abelein das Wort zu einer persönlichen Bemerkung nach § 35 unserer Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte mir gerade überlegt, als Herr Bundeskanzler Schmidt hierher kam, ob ich nicht meine Wortmeldung zu einer persönlichen Bemerkung zurückziehen sollte. In der Art, wie Sie das hier ausgesprochen haben, sehe ich allerdings keine Veranlassung, und deswegen gebe ich sie jetzt dennoch ab.
Ein fassungsloser Bundeskanzler warf mir hier vor, ich würde bewußt die Unwahrheit sagen.
Weitere Verbalinjurien seiner damit vollgestopften Auslassungen waren „Verstocktheit" und — wozu Sie sich gerade geäußert haben — die Opposition sei eine „Bande". Ich bat hier nicht um das Wort, um mich zu rechtfertigen; denn in dieser Art kann dieser Bundeskanzler mich ohnehin nicht beleidigen. Aber ich finde es für das Amt des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland unerträglich, daß sich ein Träger dieses Amtes derart unkontrolliert und ausfällig gegenüber einzelnen Parlamentariern und der Opposition benimmt. Dies ist der Opposition eines deutschen Parlaments von einem Kanzler schon seit Jahrzehnten nicht mehr widerfahren!
Darin sehe ich einen schlimmen Verfall des Ansehens und der Würde unseres wichtigsten politischen Amtes.
Darüber bin ich betroffen, und dieser Betroffenheit wollte ich Ausdruck geben.
Wir sind am Ende der heutigen Tagesordnung angelangt. Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Weihnacht, einen guten Beginn des neuen Jahres, einige Tage der Erholung im Kreise Ihrer Familie und ein bißchen Abstand von der heutigen Aktuellen Stunde.
Ich berufe die nächste Sitzung auf Mittwoch, den 15. Januar, 13.30 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.