Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die folgenden vier in der Ihnen vorliegenden Liste aufgeführten Vorlagen ergänzt werden:1. Beratung des Antrags des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, FDP betr. Verfahren gemäß §§ 76 ff. BVerfGG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des 5. StrRG— Drucksachen 7/2353 , 7/2546 —Berichterstatter: Abgeordneter Erhard , Abgeordneter GnädingerAufruf 9 Uhr2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes— Drucksache 7/2379 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Zweiten Gesetzes zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern
— Drucksache 7/2442 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß , Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO4. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes — Drucksache 7/2468 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit— Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist einverstanden. Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen.Es ist des weiteren vorgeschlagen, den ersten dieser Punkte als ersten Punkt der Tagesordnung zu behandeln, die übrigen Punkte am Ende der Tagesordnung. — Ich höre auch hier keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Die Fraktion der SPD schlägt für den Abgeordneten Kahn-Ackermann, der seine Mitgliedschaft in der Beratenden Versammlung des Europarates und der Westeuropäischen Union niedergelegt hat, den Abgeordneten Mattick vor. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Der Abgeordnete Mattick ist als Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates und der Westeuropäischen Union gewählt.Es liegt Ihnen, meine Damen und Herren, folgende Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:Betr.: Tagung der Beratenden Versammlung des Europarates vom 6. bis 10. Mai 1974 in Straßburg— Drucksache 7/2314 —zuständig: Auswärtiger Ausschuß , Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitBetr.: Entschließung des Europäischen Parlaments über die Wirtschaftslage der Gemeinschaft— Drucksache 7/2344 —zuständig: Ausschuß für Wirtschaft , FinanzausschußBetr.: Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Ausführung des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte— Drucksache 7/2346 —zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung , Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenBetr.: Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitsnehmerüberlassungsgesetzes — AUG— Drucksache 7/2365 —zuständig: Ausschuß für Arbeit und SozialordnungBetr.: Entschließung des Europäischen Parlaments zu den am 28. März 1974 vom Gemischten Parlamentarischen Ausschuß EWG—Türkei in Berlin angenommenen Empfehlungen— Drucksache 7/2370 —zuständig: Ausschuß für Wirtschaft , Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Ausschuß für Arbeit und SozialordnungBetr.: Entschließung des Europäischen Parlaments über die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen— Drucksache 7/2371 —zuständig: Rechtsausschuß , Ausschuß für Verkehr und für das Post- und FernmeldewesenBetr.: Entschließung des Europäischen Parlaments überI. den Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Richtlinie über Beihilfen für den SchiffbauII. die Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat betreffend die Modalitäten einer Aktion auf dem Gebiet des Schiffbaues— Drucksache 7/2372 —zuständig: Ausschuß für Wirtschaft , Ausschuß für Verkehr und für das Post- und FernmeldewesenBetr.: Jährlichen Bericht über den Fortgang des Bundesfernstraßenbaues — Straßenbaubericht für das Jahr 1973— Drucksache 7/2413 —zuständig: Ausschuß für Verkehr und für das Post- und FernmeldewesenBetr.: Bericht NATO-Truppenstatut und Zusatzvereinbarungenhier: Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Kanada und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland über die Durchführung von Manövern und anderen Übungen im Raum Soltau-Lüneburg vom 3. August 1959— Drucksache 7/2443 —zuständig: Innenausschuß , Auswärtiger Ausschuß, Verteidigungsausschuß
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Vizpräsident Dr. JaegerBetr.: Über- und außerplanmäßige Ausgaben im 2. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1974Bezug: § 37 Abs. 4 BHO— Drucksache 7/2463 —zuständig: HaushaltsausschußBetr.: Außerplanmäßige Ausgabe bei Kap. 08 06 Tit. apl. 83109
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO— Drucksache 7/2492 —zuständig: Haushaltsausschuß— Gegen die beabsichtigte Überweisung erhebt sichkein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Der Bundesminister für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 18. September 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wohlrabe, Frau Berger und der Fraktion der CDU/CSU betr. Lage der Wirtschaft West-Berlins — Drucksache 7/2514 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/2548 verteilt.Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen hat mit Schreiben vom 17. September 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Leicht, Höcherl, Dr. Althammer, Dr. Häfele und der Fraktion der CDU/CSU betr. propagandistische Maßnahmen der Bundesregierung im Zusammenhang mit der sogenannten Steuerreform — Drucksache 7/2509 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/2551 verteilt.Überweisung von EG-VorlagenDer Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Rückwärtsgang und den Geschwindigkeitsmesser in Kraftfahrzeugen— Drucksache 7/2529 —überwiesen an den Ausschuß für Verkehr mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in der Bundesrepublik dienstlich verwendet werdenüberwiesen an den Innenausschuß mit der Bitte um Berichterstattung innerhalb eines Monats, wenn im Ausschuß Bedenken gegen den Vorschlag erhoben werdenVerordnung Nr. 1967/74 des Rates vom 23. Juli 1974 zur Einführung eines Prämiensystems für eine geregelte Vermarktung bestimmter ausgewachsener Schlachtrinderüberwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Berichterstattung innerhalb eines Monats, wenn im Ausschuß Bedenken gegen den Vorschlag erhoben werdenÜberweisung von Zoll-VorlagenDer Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 23. Februar 1962 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:Aufhebbare verkündete Zweiunddreißigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnungüberwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte umVorlage des Berichts rechtzeitig dem Plenum am 15. Januar 1975Aufhebbare verkündete Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig dem Plenum am 18. Dezember 1974Ich komme damit zum ersten Zusatzpunkt, der vorweg beraten werden soll:Beratung des Antrags des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SDP, FDP betr. Verfahren gemäß §§ 76 ff. BVerfGG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des 5. StrRG— Drucksachen 7/2353 , 7/2546 — Berichterstatter:Abgeordneter Erhard Abgeordneter GnädingerAls Berichterstatter hat der Abgeordnete Erhard das Wort.
— Will das Haus keinen Bericht entgegennehmen?— Gut, das Haus verzichtet auf die Berichte der Abgeordneten Erhard und Gnädinger.Damit treten wir in die Aussprache ein. Als erster spricht der Abgeordnete Gnädinger.
— Ich bitte Sie um etwas mehr Ruhe und Aufmerksamkeit für den Redner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion zum vorliegenden Antrag in zwei Sätzen kurz Stellung nehmen. Wir halten es für erforderlich und geboten, daß sich der Deutsche Bundestag im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Normenkontrolle zur Reform des § 218 äußert. So wie es das Recht der Opposition war, dieses Normenkontrollverfahren anzustrengen, so muß es auch das Recht der Mehrheit dieses Bundestages sein, dort an geeigneter Stelle ihre Auffassung darzustellen.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dem vorgelegten Antrag zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Erhard .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU- Fraktion bedauert, daß die Koalition diesen Antrag gestellt hat. Mit ihm wird eine 20jährige Tradition gebrochen. Es ist kein guter Stil, so meinen wir, wenn sich der Bundestag als solcher vor dem Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren äußert, das zum Schutz der qualifizierten Minderheit von mehr als einem Drittel der Mitglieder des Bundestages geschaffen wurde.
Bundestag ist auch die Minderheit. Früher genügte es der parlamentarischen Mehrheit, wenn die von ihr getragene Regierung die Mehrheitsmeinung vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat. Da aber die Mehrheit im jetzt anstehenden Verfahren sich offenbar selber vor dem Gericht äußern will, geht dies nur auf dem eingeschlagenen Wege. Wir haben Verständnis für diesen Willen, und zwar auch dafür, daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP, sich in diesem Verfahren durch die eigene Regierung nicht hinreichend vertreten fühlen.
Da der Antrag in seiner Zielrichtung gegen die Vorstellungen der CDU/CSU gerichtet ist, können wirihm nicht zustimmen. Wir fühlen uns vor dem Bun-
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Erhard
desverfassungsgericht auch ganz sicher nicht durch Frau Funcke und Herrn Ehmke vertreten.
Da es sich aber mehr um Stil- und Verfahrensfragen handelt, wollen wir diese nicht zu einem Streit aufblasen. Wir meinen deshalb, wir sollten uns in diesem Fall, da wir andere Möglichkeiten nicht haben und auf keinen Fall zustimmen können, der Stimme enthalten; einige Kollegen werden aber auch dagegen stimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns zuletzt vor vier Jahren hier im Hause anläßlich des Antrags der CDU-Fraktion über eine Beteiligung des Bundestages an einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unterhalten. Es handelte sich seinerzeit um Artikel 10 des Grundgesetzes, hessische Klage. Wir haben damals festgestellt, daß uns eine Vertretung nicht notwendig erschien, daß damit aber überhaupt nichts für spätere Fälle präjudiziert sein solle und daß immer dann, wenn zu erwarten ist, daß es wegen der Bedeutung der Diskussion auch auf die geringste Nuance, die dem Gericht noch zusätzlich vorgetragen werden kann, ankommen könnte, eine solche Vertretung des Bundestages stattfinden solle. Darüber bestand seinerzeit zumindest im Grundsatz Einigkeit.
Wir verfahren heute entsprechend diesem Grundsatz, weil insbesondere die Fraktion der CDU/CSU diese Angelegenheit zu einer Sache von ganz besonderer Bedeutung — zum Teil sind sogar Äußerungen gefallen, daß sie von Bedeutung für das Bestehen und die Einigkeit dieses Landes sein könnte — hochdiskutiert hat. Wenn das so ist, wie Ihre Freunde hier und insbesondere draußen gesagt haben, dann ergibt sich daraus geradezu selbstverständlich, daß sich die Mehrheitsfraktionen in diesem Rechtsstreit vor dem Gericht selbst vertreten,
und zwar in vollem Respekt vor der Institution. — Diese Betonung, Herr Professor Klein, im Hinblick auf den etwas zur Erheiterung gemachten Einwurf des Herrn Kollegen Erhard, daß wir uns durch die Bundesregierung nicht richtig vertreten fühlten. Wenn ein Recht des Bundestages zur Stellungnahme vorgesehen ist, dann spielt unser Verhältnis und unser Vertrauen zu dieser Bundesregierung nicht die geringste Rolle für unsere Entscheidung, sondern maßgeblich ist ausschließlich unsere Gewichtung der Frage. In dieser Frage haben wir entschieden, und wir werden entsprechend abstimmen.
Das Wort wird nicht mehr gewünscht.
Ich komme zur Abstimmung. Wer dem Antrag des Rechtsausschusses zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? —
Das erstere war die Mehrheit. Der Antrag ist angenommen.
— Es bleibt dem amtierenden Präsidenten leider verborgen, was die Quelle der Heiterkeit ist, aber ich freue mich immer, meine Damen und Herren, wenn Sie schon in so früher Morgenstunde guten Mutes sind.
Wir fahren nunmehr in der Aussprache zu Punkt 3 der Tagesordnung fort.
Es liegt nur eine einzige Wortmeldung vor. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Zeitel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verlauf der gestrigen Debatte gibt Anlaß zu dem Versuch, noch einmal zu verdeutlichen, worin zwischen der Fraktion der CDU/CSU und der Regierungskoalition in der Beurteilung der Lage, der Entwicklungstendenzen und der Therapie Unterschiede bestehen.
Gestatten Sie mir zunächst einige Bemerkungen zur Lagebeurteilung. Um das Wesentliche vorwegzunehmen: Wir haben weniger Differenzen in der Lagebeurteilung, so wie sie von der Regierung in bezug auf die Konjunktur vorgenommen wird, im engeren Sinne. Wir meinen aber, daß es eine gefährliche Blickwinkelverengung ist, wenn man mit dem überkommenen Analyseschema an die Beurteilung der Lage herangeht. Die Besonderheit der gegenwärtigen Situation besteht nach unserem Dafürhalten in dem Überlappen von konjunkturpolitischen, strukturpolitischen und ordnungspolitischen Einflußfaktoren.
Meine Damen und Herren, ich darf Sie noch einmal um etwas mehr Ruhe im Saal bitten, damit die Verhandlungen ruhig ablaufen können.
Ich lasse dahingestellt, ob die Prognosen in bezug auf die Preisentwicklung, die hier gestern von Graf Lambsdorff mit 6,5 % oder 7 % bis zum Jahresende abgegeben worden sind, zutreffen werden. Die Regierungskoalition hat sich wahrlich nicht als Meister der Prognose herausgestellt,
sondern sie hat mehr Fehlprognosen als richtige Prognosen geliefert.Die fundamentalen Differenzen beziehen sich — ich will das wenigstens an einem Beispiel deutlich machen — auf den Sektor der Strukturpolitik. Wenn wir den Wirtschaftsminister richtig interpretieren, dann stilisiert er gewissermaßen das, was sich gegenwärtig an Anpassungsvorgängen vollzieht, zu einer normalen Strukturbereinigung herunter. Davon kann indessen keine Rede sein, wie etwa das
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Dr. ZeitelBeispiel der Bauwirtschaft zeigt. Die Regierung hat noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein die hohen Zahlen der Bauwirtschaft als Erfolge ihrer Politik gepriesen. Unter diesen Umständen kann sie jetzt nicht einfach sagen, daß hier Überkapazitäten entstanden seien, die nun normal abgebaut würden. Wir glauben, daß die Strukturprobleme eben auch eine Folge der Inflationspolitik, die die Regierung betrieben hat, sind. Insofern handelt es sich nicht um eine normale Strukturbereinigung, sondern es handelt sich um Strukturprobleme im Gefolge einer bestimmten Politik dieser Regierung.Wir meinen auch — das ist der zweite Punkt der Differenz in der Beurteilung der Lage —, daß es nicht angängig ist, die ordnungspolitische Verunsicherung in der Gesamtanalyse außer Betracht zu lassen. Konjunkturpolitik und Ordnungspolitik sind auf das engste miteinander verbunden. Ohne eine Übereinstimmung in beiden Bereichen helfen einzelne konjunkturpolitische Maßnahmen nicht sehr viel. Die Regierung erklärt ausdrücklich, daß sie eine Politik der Kontinuität betreibe; das heißt, sie hält unverändert an einem ganzen Bündel ordnungspolitischer Strangulierungsmaßnahmen fest, die eben das bewirkt haben, was mit der „Angstlücke" in unserem Lande bezeichnet wird. Ohne ein Schließen dieser „Angstlücke" werden sich einfache konjunkturpolitische Maßnahmen nicht als besonders wirksam erweisen.
Wir können auf diesen zentralen Sachverhalt nur immer wieder hinweisen, weil wir anders mit den Schwierigkeiten, die entstanden sind, nicht fertig werden werden.Aus den Differenzen, die sich für die Beurteilung der Lage im struktur- und ordnungspolitischen Bereich ergeben, ergibt sich auch eine etwas abweichende Bewertung der eingetretenen Entwicklungstendenzen. Wir meinen eben, daß das Problem der Arbeitslosigkeit eine andere Dimension hat, als es mit Bemerkungen aus dem Regierungslager abgetan worden ist.
Der Arbeitsminister hat gestern damit begonnen, den Versuch zu unternehmen, den wir aus anderen Bereichen kennen, diese Frage erneut zu relativieren. Nunmehr wird begonnen zu versuchen, wie man aus 530 000 möglicherweise nur 200 000 Arbeitslose ausweisen kann. Wir sollten auch damit aufhören, den Eindruck zu erwecken, als wenn es sich hier um grundsätzliche andere Probleme handle als im Jahre 1966/67, als von Regierungsvertretern bei einer ungleich günstigeren Situation die Lage ganz anders dramatisiert worden ist, als wir sie heute darstellen.
Von einer anderen Bewertung der Arbeitslosigkeit ausgehend, haben wir auch eine etwas andere Bewertung der Ursachen der gegenwärtigen Entwicklung, Herr Kollege Graf Lambsdorff. Wir streiten nicht darüber — niemand in der CDU/CSU-Fraktion hat das getan —, daß die deutsche Wirtschaft entscheidend in den internationalen Verbund eingebettet ist, von dem wir abhängen und den wir bejahen. Wir bestreiten auch nicht, daß wir im internationalen Vergleich eine ungewöhnlich günstige Position haben. Diese Position ist freilich nicht ganz so neu, wie Sie sie darstellen. Nur meinen wir, daß dies eben nur die halbe Wahrheit ist. Und das Schlimme in der ganzen Diskussion sind die halben Wahrheiten, die gegenwärtig in dieser Hinsicht verbreitet werden.
Der Herr Wirtschaftsminister hat gestern erfreulicherweise gesagt — und Herr Ehrenberg, da stimmen wir nun endlich überein —, daß er etwa 50 % der Inflation als hausgemacht bezeichne. Wenn wir dies doch einmal festhalten wollten, wären wir schon ein Stück weiter.
Denn dann stellt sich die Frage, woher denn eigentlich dieser hausgemachte Teil kommt. Hier knüpfen wir wiederum an das an, was wir in diesem Hohen Hause ausgeführt haben, daß die wesentliche Wurzel der inflationären Fehlentwicklung im Bereich einer zu expansiven Finanzpolitik liegt. Herr Kollege Graf Lambsdorff, verweisen Sie doch nicht nur auf den Bundesbankausweis vom Jahre 1973. Die Wurzeln liegen vielmehr in den Jahren 1970, 1971 und 1972. Das ist das Urteil der Bundesbank ein anderes, als Sie es aus dem Jahre 1973 zitieren. Wir sollten doch in der Beurteilung der Lage ein bißchen Kontinuität wahren.Was mir aber noch entscheidender zu sein scheint, ist der Tatbestand, daß die CDU/CSU-Fraktion im Mai des Jahres 1973 hier erklärt hat, daß wir die Stabilitätspolitik voll bejahen, daß wir aber das vorgelegte Programm als einseitig ausgerichtet betrachten. Und ich habe wörtlich hinzugefügt: Dies wird zu schwerwiegenden strukturellen Verwerfungserscheinungen in unserer Wirtschaft führen.
Herr Abgeordneter Zeitel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Herr Professor Zeitel, wenn Sie schon von dieser 50 %-Rechnung ausgehen, die Sie ja soeben selber vorgetragen haben, müßten Sie dann nicht darauf verzichten, die Finanzpolitik als eine wesentliche Ursache zu bezeichnen? Denn wenn 50 % aus dem Ausland kommen und es im Inland sicher eine ganze Facette von Gründen und Motiven gibt, kann ja die wesentliche Ursache nicht mehr bei der Finanzpolitik liegen. Und würden Sie darüber hinaus mit dieser 50 %-Rechnung auch zugeben, daß sich diese 50 %, die verbleiben, im guten Durchschnitt Erhardscher Zeiten bewegen?
Herr Ehrenberg, um mit dem letzten zu beginnen: man kann nicht immer — genau das werfe ich Ihnen vor — so lange rechnen, bis man hingerechnet hat, was man gern
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Dr. Zeitelmöchte. Und was die 50 % angeht, Herr Ehrenberg, so habe ich ja gesagt: Für den Teil der hausgemachten Inflation, der verbleibt, ist unseres Erachtens die Finanzpolitik die wesentliche Ursache. Und nun weiß ich nicht, warum Sie darüber groß diskutieren, nachdem Ihr Bundeskanzler in der Finanzpolitik genau den Kurs einschlägt, den wir immer gefordert haben.
Herr Abgeordneter Dr. Zeitel, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Dohnanyi?
Herr Kollege Zeitel, ist Ihnen bekannt, daß der Ausdruck „hausgemachte Inflation" vom Sachverständigenrat im Gutachten 1970 zum erstenmal verwandt wurde für die Nichtaufwertung im Jahre 1969, daß der ganze Begriff zum erstenmal in der Kritik des Verhaltens der Großen Koalition und damit des Verhaltens von Franz Josef Strauß und des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger in die Debatte kam? Ist Ihnen das bekannt?
Herr Dohnanyi, der Begriff der hausgemachten Inflation ist kein neuer, und daß ihn der Sachverständigenrat einmal aufklebt, ist für unsere Analyse völlig belanglos.
Ich würde bitten, daß wir keine Kriegsgeschichte treiben. Ich dachte, Sie wollten die Zukunft meistern und nicht die Vergangenheit.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. von Dohnanyi?
Bitte!
Herr Kollege Zeitel, geben Sie mir damit zu, daß die Debatte über die Vergangenheit, die Sie hier führen, entweder sachlich geführt werden muß — das heißt: „hausgemacht" geht wesentlich auf das Jahr 1969 zurück --,
oder aber wir sehen nach vorn, und dann, Herr Kollege Zeitel, sollten Sie nicht die ganze Zeit in der Debatte über die Vergangenheit reden. Geben Sie mir das zu?
Herr Dohnanyi, ich habe nicht groß von der Vergangenheit gesprochen, ich habe von der Entwicklungstendenz der Jahre 1973/74 gesprochen. Ich kann mir gut denken, daß sie eher in der Vergangenheit stecken. Aber dies ist im Augenblick nicht mein Anliegen, sondern es geht darum — lassen Sie mich auf den wesentlichen Punkt zurückkommen —, daß wir meinen, daß die Stabilitätspolitik der Regierung die Investitionen in einer Phase, in der sie konjunkturell gerade in der Belebung waren, heruntergepeitscht hat. Eine Politik, die so verfährt, legt die wesentlichen Schwungkräfte einer Wirtschaft und einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung lahm. Denn die Sicherheit der Arbeitsplätze in Verbindung mit notwendigen Strukturbereinigungen ist nur dann zu realisieren, wenn sie in einer entsprechenden Investitionspolitik ihren Ausdruck findet, und hier sind die Aussichten nicht rosig. Dies müssen wir festhalten.
Gestatten Sie mir nun einige Hinweise zu den Folgewirkungen im strukturellen Bereich. Ich finde es wirklich merkwürdig, und es erinnert fast ein wenig an Rumpelstilzchen, wenn der Wirtschaftsminister die Schwierigkeiten, die hier für den Mittelstand entstanden sind, so darstellt, als wären sie quasi selbstverschuldet. Es ist nachweisbar, daß die mittelständische Wirtschaft, die die wesentliche Grundlage unserer marktwirtschaftlichen Ordnung bildet, die auch ein Stück der besonderen Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern darstellt, von der Politik der Regierung einseitig getroffen worden ist. Das sollte nicht einfach zu einer Normalisierungskrise herabstilisiert werden.
Herr Abgeordneter Dr. Zeitel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Herr Kollege Zeitel, können Sie uns darüber aufklären, wo Sie die Basis finden, um unsere mittelständische Wirtschaft mit Rumpelstilzchen zu vergleichen?
Offensichtlich, Graf Lambsdorff, sind Sie nicht aufmerksam gefolgt; das kann bei Ihnen vorkommen. Ich habe mit Rumpelstilzchen jemand anders gemeint und nicht den Mittelstand, nämlich Ihren Wirtschaftsminister, der im pathetischen Ton immer so tut, als lege er eine seriöse Analyse vor, und das Wesentliche überhaupt nicht sagt. Das geht in diesem Bereich eben nicht.
Was die Therapie angeht, so hat meine Fraktion erklärt, daß wir den neuen Ansatz in der Finanzpolitik begrüßen. Ich möchte jedoch nicht in eine nähere Analyse des Streites hier eintreten, ob das 8,7 % sind oder 13%. Lassen Sie mich nur festhalten: Wir sind leider in einer Entwicklungsphase, in der es auch einem einigermaßen Sachverständigen im Haushaltswesen wegen dauernder methodischer Änderungen in den Berechnungen, die nicht sorgfältig am Rande ausgewiesen werden, schwerfällt, die genauen Zahlen bereitzustellen. Lassen Sie mich das hier ganz deutlich sagen.Ich darf aber eine Bemerkung hinzufügen über das, was der Finanzminister zur Finanzplanung hier gesagt oder besser: nicht gesagt hat. Was ist das eigentlich für eine Finanzplanung, in der, wenn man jahrelang weiß, daß die Steuerreform ein Defizit von mindestens — und ich bleibe bei den Zahlen der Regierungseckwerte — 10 bis 11 Milliarden DM
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Dr. Zeitelverursacht, keine entsprechende Vorsorge getroffen wird?
Man tue doch jetzt nicht so, als wenn dies der überraschend hereingekommene Einbruch in der Finanzpolitik sei, als wenn dies der Haushalt der Steuerreform sei, obwohl in allen zuständigen Gremien die Untergenze des Ausfalls seit Jahren bekannt ist und eigentlich in die Dispositionen hätte mit einbezogen werden sollen!
Was ist dies für eine Finanzplanung, wenn sich der Finanzminister unter Bezugnahme auf Vorgänge im Bankwesen zum Anwalt der Sparer macht, aber in der Finanzplanung — und Graf Lambsdorff hat das gestern als richtig bestätigt — bis 1978 mit einer durchschnittlichen Preissteigerungsrate von 5 bis 6 O/0 gerechnet wird? Wenn wir mit diesem Satz in den nächsten vier Jahren leben müssen, dann verschwinden alle Bankprobleme im Augenblick hinter jener Vertrauenseinbuße, die die Sparer als Folge einer solchen Inflationspolitik zu erleiden haben. Hier liegen die Hauptprobleme des Vertrauensschutzes für den Sparer und nicht in anderen Bereichen.
Wir teilen die Besorgnis über die Vorgänge im Bankwesen. Lassen Sie mich nur hinzufügen, damit wir nicht immer nur auf einem Auge sehen: Es gibt spektakuläre Vorgänge im privaten Bereich, es gibt spektakuläre Vorgänge auch im öffentlichen Bankensektor. Ich darf in diesem Zusammenhang nur an den Fall der Hessischen Landesbank erinnern, bei dem laufend auch neue Tatsachen zutage gefördert werden. Wir werden als CDU/CSU-Fraktion in dieser die Bevölkerung beunruhigenden Frage unseren Beitrag zu einem vermehrten Einagenschutz sicher leisten unter Berücksichtigung aller Einflußfaktoren, die hier eine Rolle spielen.Ich möchte auch hinzufügen, daß wir hier in diesem Hause keinen guten Debattenstil haben werden, wenn über die Steuerreform so gesprochen wird, wie das der Finanzminister anläßlich seiner Antrittsrede zum Haushalt hier getan hat.
Dies ist nichts anderes als politische Brunnenvergiftung, und ich glaube, daß wir davon in der Auseinandersetzung nicht sehr viel haben.
Es ist bedauerlich, daß der Finanzminister offensichtlich keine Kenntnis vom Gang der Beratung im Finanzausschuß hat. Ich finde es noch bedauerlicher, daß er offensichtlich überhaupt nicht in der Lage ist, sachverständig das Ergebnis des Kompromisses zu werten; denn da stimmt so gut wie nichts.
— Sie sollten wissen, daß der Hauptstreitpunkt die Abzugsfähigkeit der Sonderausgaben war.
Hier ist genau das Gegenteil von dem richtig, was Sie dauernd in der Öffentlichkeit deutlich zu machen versuchen.
Der Vorschlag der Regierungskoalition wäre nicht den Armen zugute gekommen, nicht den sozial Schwachen, sondern Ihr Vorschlag war eine Regelung zugunsten der Hochverdienenden.
Wir meinen, daß das nicht haltbar ist.
Sie müssen schon mit den richtigen Zahlen operieren; offensichtlich haben Sie sich die Dinge nicht näher angesehen. — Es stimmt nicht, was der Bundesfinanzminister über die Entstehungsgeschichte des Familienlastenausgleichs und die Tarifgestaltung sagt. Diese Fragen sind im Ausschuß weitgehend einvernehmlich behandelt worden. Wenn es sich um einen politischen Kompromiß handelt, dann sollte man in der öffentlichen Darstellung auch konsequent argumentieren
und nicht so einseitig verfahren, wie das der Finanzminister tut.
Aber vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, daß wir dies auch noch ein wenig mehr ausdiskutieren. Mir jedenfalls scheint: So sollten wir die Ergebnisse politischer Abstimmungen nicht interpretieren; denn das hat Folgewirkungen, die Sie jetzt bereits an anderen Stellen nachlesen können.Nun zu einem letzten Kreis von Fragen, auf den ich kurz eingehen möchte: Er bezieht sich auf die Konsequenzen, die sich aus dieser Beurteilung der Lage, der Ursachen der Entwicklungstendenz für die Therapie ergeben. Hier stimmen wir in den Ansätzen — soweit sie sich auf die Finanzpolitik beziehen — überein. Wir werden freilich zu prüfen haben, ob das, was hier groß progammiert wird, auch tatsächlich realisiert wird.Wir meinen, daß eine Alternative zu dieser Politik der Regierung in zwei wesentlichen Punkten ansetzen muß. Das eine ist der Bereich der Investitionen, und das zweite ist der ordnungspolitische Bereich. Wir werden nicht nachlassen in dem Hinweis darauf, daß die Sicherheit der Arbeitsplätze von den Investitionen abhängig ist und daß die Investitionspolitik eine bestimmte Ertragsgestaltung der Unternehmungen voraussetzt, ohne die es eben kein entsprechendes Verhalten gibt. Solange man nicht aufhört, diesen Sachzusammenhang zu verteufeln, so lange darf man sich über die Ergebnisse hinsichtlich des Verhaltens derjenigen, die davon betroffen werden, nicht wundern.
Dabei geht es uns nicht primär um Unternehmungen und Unternehmer, sondern um die Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze eben nur mit Investitionen zu sichern sind.
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Dr. ZeitelDer zweite und grundlegende Unterschied bezieht sich auf die anderen ordnungspolitischen Zielvorstellungen, die wir haben. Wir meinen, daß das Bündel von Reformvorhaben zur Vermögensbildung, zur Bodenwertpolitik, zur Steuerreform bis hin zur Bildungspolitik im ganzen — nicht im einzelnen — den Weg zu einer anderen Republik eröffnen hilft. In diesem Bereich trennen uns nicht nur kleine Differenzen, sondern hier trennen uns Abgründe in der Zielrichtung und in der Ausgestaltung einer zukunftsweisenden Wirtschaftspolitik.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Tag der Haushaltsdebatte hat ganz offensichtlich ein Formtief bei der Opposition gezeigt.
Das war, so scheint mir, der Grund dafür, daß Sie gestern eine Spielunterbrechung beantragt haben oder, wie es bei einer Sportart heißt, eine Outside nahmen. Sonst hätten wir ja dieses Thema schon gestern zu Ende bringen können.
Nach dem ersten Debattenbeitrag, der offenbar „Abgründe auftun sollte", hat sich dieser Eindruck nur noch verstärkt. Aber, Herr Kollege Carstens, Sie müssen das nun alles wieder herausreißen.
Meine Damen und Herren, ich muß, nachdem Sie die Debatte heute fortsetzen wollten, auf einige kritische Bemerkungen zurückkommen, die gestern von Ihren Sprechern gemacht worden sind und bei denen unrichtig oder mit Unterstellungen argumentiert worden ist.
Es tut mir leid, Herr Kollege Althammer, daß ich mich da zunächst an Sie wenden muß; denn bei Ihnen ist es ganz ungewöhnlich, daß Sie sich einer solchen Methode bedienen. Ich nehme deshalb an, daß es wahrscheinlich ein Irrtum oder mangelnde Aufmerksamkeit war, was Sie dazu verleitet hat, dem Bundeswirtschaftsminister zu unterstellen, er habe mit seinen Ausführungen den Willen der Regierung bekundet, mit Arbeitslosigkeit und mit Arbeitsplätzen politisch spielen zu wollen. Sie werden sich inzwischen davon überzeugt haben — und ich lege Wert darauf, das hier zu sagen —, daß der Bundeswirtschaftsminister mit keinem Wort davon gesprochen hat. Vielmehr ist von der Bundesregierung stets versichert worden, daß sie zu keiner Zeit und unter keinen Umständen die Absicht hat, die Arbeitsplätze zum Mittel ihrer Stabilitätspolitik zu machen. Es erscheint mir wichtig, daß wir uns hier miteinander wieder in Übereinstimmung befinden. Gerade in diesem wichtigen wirtschaftspolitischen Bereich sollte die Ausgangslage der Debatte eindeutig und klar sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Aber bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hoppe, ist Ihnen erinnerlich, daß ich mich auf den von Ihrem Minister angezogenen Gegensatz zwischen Inflationsentwicklung und Beschäftigungsrisiko bezogen habe, und ist Ihnen erinnerlich, daß der Minister ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die Regierung nicht eine weitere Inflationsentwicklung zugelassen hat, so daß sich die logische Folge ergibt, daß dann wegen überhöhter Lohnforderungen nur das Beschäftigungsrisiko als Konsequenz bleibt? Dies war die Bezeichnung.
Herr Kollege Althammer, ich habe Ihren Beitrag sehr gut in Erinnerung, muß aber annehmen, daß Sie die Ausführungen des Bundeswirtschaftsministers nur schlecht und mangelhaft in Erinnerung hatten und deshalb zu Ihrer falschen Schlußfolgerung gekommen sind. Ich wäre dankbar, wenn wir das durch dieses Zwischenspiel nunmehr ausgeräumt hätten.In dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf des Haushaltsplans sind Licht und Schatten gleichermaßen verteilt, und damit spiegelt der Plan die Problematik unserer gegenwärtig schwierigen finanzpolitischen Situation nüchtern wider. Er zeigt kein geschöntes Bild der Fiskalpolitik, sondern er läßt die haushaltspolitischen Risiken deutlich werden, stellt damit aber gleichzeitig die ernsthaften Bemühungen der Bundesregierung dar, vor dem ständigen Zielkonflikt zwischen Stabilität und Erfüllung der öffentlichen Aufgaben im Interesse des Gemeinwohls mit Anstand zu bestehen.In einer parlamentarischen Aussprache ist nun keineswegs überraschend oder gar sensationell, wenn sich die Opposition in ihrer kritischen Wertung dieser Finanzpolitik nicht auf die Butterseite stürzt, sondern sich der finanzpolitischen Problematik, der haushaltspolitischen Risiken mit „besonderer Liebe" annimmt und sich dabei manchmal auch in überzeichnender Schwarzmalerei übt. Auf diesem Gebiet ist insbesondere Kollege Strauß kein Anfänger. Nein, ich habe manchmal den Eindruck, er hat diese Art der Auseinandersetzung geradezu zu einer kabarettistischen Kunstform entwickelt, und das ganz gewiß nicht wirkungslos, wenn auch wegen der sich ständig wiederholenden Vortragsleistung mit abschwächender Tendenz.Aber, meine Damen und Herren, wenn er der Regierung Märchenerzählung vorwirft, will er ihr damit doch wohl das Etikett „unseriös" aufkleben. Nicht vom Bundesfinanzminister ist dem Grimm-schen Märchen ein neuer Abschnitt zugefügt worden, dagegen braucht der Kollege Strauß mit dem literarischen Anspruch selbst nicht so bescheiden zu sein. Tatsächlich ist er es ja, der hier zum großen Märchenerzähler wird, und sein Metier sind Grusel- und Schauergeschichten.
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7834 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
HoppeWennschon in Figuren der Märchen- und Sagenwelt gedacht werden muß, dann — ich bitte, es so abzunehmen — stellt sich beim Kollegen Strauß eher der Gedanke an Rübezahl im Gruselkabinett ein.Das Bild, das Herr Strauß hier in seiner Haushaltskritik von der Bundesrepublik entworfen hat als einem Land mit hohen Inflationsraten, mit sich ständig vermehrenden Arbeitslosenzahlen, sinkenden Investitionen, einem Land, das am Rande des Abgrunds dahintaumelt und alsbald in einem Meer von Schulden versinkt, wirkt wie eine christlichsoziale Version der Apokalyptischen Reiter, die Sie als Tagtraum immer wieder neu vor der staunenden Bevölkerung ausbreiten. Wir sollten mit diesen Spukgeschichten endlich aufhören und uns den tatsächlich bestehenden Problemen zuwenden, die niemand aus dieser Welt verdrängen kann und die niemand verharmlosen will.
Herr Abgeordneter Hoppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ?
Herr Kollege Hoppe, wenn Sie den Kollegen Franz Josef Strauß mit der Märchengestalt Rübezahls vergleichen, ist Ihnen dann in Erinnerung, daß Rübezahl eine Gestalt ist, die im Bewußtsein unseres Volkes vor allen Dingen die Bösen geschreckt, aber den Guten immer wieder aus der Not geholfen hat?
Verehrter Herr Kollege Jäger, ich wäre durchaus dankbar, wenn das auch bei dem Kollegen Strauß geschähe. Nur ist er der Meinung, daß er sich mit dem Schreckensteil begnügen kann.
Wir sollten nicht leugnen, daß der uns vorliegende Haushaltsentwurf mit den Mitteln der Fiskalpolitik versucht, den anstehenden Problemen gerecht zu werden. Neben den finanziellen Risiken auf der Ausgabenseite — und dazu ist vielleicht noch kurz ein Wort zu sagen — ist in der Tat das Problem der Inanspruchnahme des Kapitalmarkts zum zentralen Punkt der Auseinandersetzungen geworden. In einer für den Bund bisher unbekannten Höhe müssen Mittel am Kapitalmarkt aufgenommen werden. Der Vorgang ist ganz gewiß nicht unproblematisch, aber anders, als von den Sprechern der Opposition dargestellt, ist er nun keineswegs Ausdruck eines finanziellen Bankrotts der Bundesregierung.
Herr Kollege Zeitel, jetzt nehme ich das auf, was Sie als Forderung nach Wahrhaftigkeit der Argumentation und als Appell an die Bereitschaft des Bekenntnisses zum gemeinsamen Tun an die Regierung und die Koalitionsfraktionen eben angesprochen haben. Ich darf daran anknüpfend feststellen: Was wir auf der Einnahmenseite des Haushalts an Problematik mit der Inanspruchnahme des Kapitalmarkts vor uns haben, ist eine zwingende Folge des mit der Steuerreform verbundenen Einnahmeverzichts. Und bestimmte unumstößliche Fakten sollte man nicht wegdiskutieren wollen. Schließlich bestand bei allen Fraktionen dieses Hauses ein edler Wettstreit um den Inhalt und damit um die fianzielle Auswirkung der Steuerreform. Letztlich ist es dann gerade die Opposition gewesen, die das Volumen des Steuerausfalls durch den gefundenen Steuerkompromiß entscheidend bestimmt und gegenüber den Vorstellungen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen ausgeweitet hat. Deshalb müßte sich die Opposition auch der daraus resultierenden Verpflichtung bewußt sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Zeitel?
Bitte sehr, Herr Dr. Zeitel!
Herr Kollege Hoppe, wäre es dann nicht richtig gewesen — wenn man jahrelang weiß, was an plötzlichen Ausgaben als Folge der Steuerreform entsteht —, diesen Tatbestand zu berücksichtigen und nicht, wie der Bundeskanzler, auf Fragen im Finanzausschuß das Dekkungsproblem in der Hoffnung auf zufällige Lösung offenzulassen?
Verehrter Herr Kollege Professor Zeitel, hier ist nicht mit Hoffnung und Glauben gearbeitet worden, sondern hier ist stets — das machen der Etat und die Rede des Bundesfinanzministers deutlich —, ganz nackt an die neuen Fakten mit sinnvollen Mitteln praktischer Politik herangegangen worden.Meine Damen und Herren, niemand wird leugnen, daß dem Kapitalmarkt zur Deckung des Bundeshaushalts jetzt einiges zugemutet werden muß. Für ein Parlament, daß sein Budgetrecht ernst nimmt, bedeutet dies die fortwährende Verpflichtung, den Umfang des Finanzbedarfs an Kapitalmarktmitteln möglichst zu senken, und das geht, wie wir alle wissen, nur dann, wenn die Ausgabenseite weiter verringert wird. Wir sollten in den Anstrengungen dazu nicht nachlassen, auch dann nicht, wenn der Finanzminister die Möglichkeiten der Ausgabenkürzung für nicht sehr realistisch hält. Aber was sollte er auch anderes sagen, wenn er sich nicht selber zu großer Nachgiebigkeit gegenüber den Ressortwünschen zeihen wollte? Das Parlament aber wird beweisen müssen, daß es für ändernde Haushaltsbeschlüsse bei der Beratung den Willen und die nötige Kraft hat. Der Haushaltsausschuß wird dazu sachkundige Ratschläge gern entgegennehmen. Der Kollege Kirst hat in seinem Beitrag die zuständigen Fachausschüsse — wie ich meine, mit Recht — zur Aktivität ermuntert.Auf der anderen Seite werden die Länder bei ihrem Marsch an dem Kapitalmarkt hoffentlich einmal kürzertreten. In den vergangenen Jahren hat der Bund hier Zurückhaltung geübt. Die Länder könnten dies im nächsten Jahr einmal honorieren
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7835
Hoppeund damit ein Stück gemeinsamer Finanzverantwortung von Bund und Ländern praktizieren.
Meine Damen und Herren, in den verschiedenen Diskussionsbeiträgen ist mehrfach auf das Verhältnis von investiven und konsumtiven Ausgaben hingewiesen worden. Eine sich verändernde Relation zum Nachteil des investiven Bereichs muß in der Tat sorgfältig beobachtet werden. Gewiß sind Investitionen solide nur in dem Umfang zu finanzieren, in dem die volkswirtschaftlichen Erträge das zulassen. Andererseits darf die Kraft der öffentlichen Finanzen nicht über Gebühr in die Personalkosten abfließen. Die Alimentierung der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes muß unter allen Umständen angemessen sein. Das darf aber nicht umgekehrt dazu führen, daß die Bediensteten des öffentlichen Dienstes die Finanzkraft dieses Landes aufzehren.Ohne an dieser Stelle die Diskussion um Orientierungsdaten und Lohnleitlinien erneut beleben zu wollen — der auf der Grundlage des Bekenntnisses zur Marktwirtschaft dazu gegebenen Antwort des Bundeswirtschaftsministers ist nichts hinzuzufügen —, möchte ich aber ganz eindeutig anmerken, daß der Haushalt 1975 einen so kräftigen Zugriff des öffentlichen Dienstes wie bei dem letzten Tarifabschluß ganz gewiß nicht mehr verträgt. Es bleibt nur zu wünschen, daß die Tarifabschlüsse des öffentlichen Dienstes künftig nicht noch einmal falsche Signale zu Lasten der öffentlichen Haushalte setzen. Allerdings bleibt auch zu wünschen, daß diesmal nicht eine Branche unserer Wirtschaft den Platz des öffentlichen Dienstes aus der letzten Tarifrunde einnehmen muß. Der für die Gesamtwirtschaft relevante Datenkranz gesamtwirtschaftlicher Faktoren darf nicht aus dem Auge verloren werden.Mit der Erörterung von zwei herausragenden Problemkreisen dieses Haushalts, und zwar jeweils einem auf der Einnahmen- und einem auf der Ausgabenseite, soll es in der Aussprache in der ersten Lesung genug sein. Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf ist eine solide Grundlage für die Arbeit des Parlaments am Haushaltsbuch der Nation. Verzichten wir jetzt auf Spekulationen und Spökenkiekerei! Begeben wir uns mit dem Haushaltsausschuß an die Arbeit, und prüfen wir kritisch das vorgelegte Zahlenwerk! Meine Damen und Herren, das Parlament wird dann in der zweiten und dritten Lesung ausreichend Gelegenheit haben, zu werten, zu würdigen und zu entscheiden.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mir ist es wie eben dem Kollegen Hoppe gegangen. Gestern abend um 18.15 Uhr, als kein Oppositionsredner mehr das Wort verlangte, habe ich gedacht: Wie kommt das eigentlich? Eine Generalabrechnung war angekündigt, Herr Professor Carstens. War nach sieben Stunden schon alles Pulver zu Ende oder naßgeworden?
Offenbar hatten die Redenschreiber die Manuskripte noch nicht fertig und brauchten noch die inzwischen vergangene Nacht. Ich habe sie natürlich auch genutzt und mir heute nacht Stichworte für Sie, Herr Professor Carstens, notiert.
Zunächst einmal möchte ich sagen, daß mir die wirtschaftspolitische Debatte gestern daran zu kranken schien — das gilt auch für den Herrn Professor, der eben gesprochen hat — —
— Nein, Herr Zeitel ist gemeint. Herr Hoppe ist ein normaler Mensch.
Professoren sind, wenn sie Wirtschaftswissenschaftler sind, Herr Zeitel, vielleicht in der Lage und müßten eigentlich auch willens sein, einen Fehler nicht zu machen, an dem die ganze gestrige wirtschaftspolitische Debatte ein bißchen gekrankt hat. Es ist der Fehler, auf seiten der Opposition die vielerlei Quantensprünge, die insgesamt eine Qualitätsveränderung der Weltwirtschaft mit sich gebracht haben, durch das, was zunächst etwas populär ausgedrückt die Ölkrise genannt worden ist, nicht zu berücksichtigen.Es ist die Tatsache, daß sich in den zwölf Monaten des Jahres 1974 in einem kleinen Teil der Erde, nämlich in den ölexportierenden Staaten, 60 oder gar 80 Milliarden Dollar Überschüsse bilden, die es voriges Jahr nicht und davor niemals in der Weltgeschichte gegeben hat. Dieses zusätzliche, neugebildete Einkommen — 60 bis 80 Milliarden Dollar sind mehr als der ganze Bundeshaushalt in einem Jahr, über den wir uns streiten — wird natürlich an anderer Stelle weggenommen. Wie könnte es sich dort sonst bilden? Das bewirkt in den Zahlungsbilanzen und in den Preisen der Welt allerdings tiefgreifende Veränderungen. Sie machen all die Argumente des Herrn Strauß, der auf das Jahr 1960 oder 1950 oder wie lange Sie früher schon regiert haben, zurückgreifen möchte — weil nur unter anderen, heute nicht gegebenen Voraussetzungen zutreffend —, heute überflüssig und irrelevant; das hätte der Ökonom, der Wirtschaftsprofessor Zeitel eigentlich mal herausarbeiten können.
Es tut mir leid, die Opposition kann nicht so tun, als ob die Vermehrung unserer Importpreise um 30 %, unserer Rohstoffimportpreise um 100 % in zwölf Monaten, unserer Ölimportpreise um 300 bis 400 % das Verschulden der sozialliberalen Koalition ist. Da piept's doch wohl!
Das alles sind Importpreiszahlen in dem Aufwertungsland Bundesrepublik. Wenn wir das gemacht
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7836 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundeskanzler Schmidthätten, was Herr Strauß jahrelang verlangt hat, nämlich nicht aufzuwerten, sondern den Wechselkurs zu halten, wo er war, dann wären das nicht 30 %, sondern 40 %, nicht 100 %, sondern 120 %, und für das 01 wären das nicht 300 bis 400%, sondern 400 bis 500 %. Das haben wir doch bei den Abwertungsländern gesehen, die ihre Währungen nicht halten konnten; für sie sind die Wirkungen dieser Weltmarktpreisexplosion ja viel schlimmer.Dazu hat Herr Strauß gesagt: Was interessiert mich, wie es in Italien, in England ist; ich möchte hier einmal darin schwelgen, darzustellen, daß es bei uns schlecht ist. — Das war der Grundtenor der Rede von Herrn Strauß. Nun ist es allerdings so, daß natürlich alle Länder mit diesen schlimmen Konsequenzen einer explosiven Veränderung der Struktur der Weltwirtschaft zu kämpfen haben; das gilt für alle unsere Wirtschaftspartner; wir sind damit aber am besten fertig geworden.Hier war ein Anklang in der Rede des Kollegen Strauß, den ich unterstreichen möchte. Es ist keine Sorge, daß die Bundesrepublik Deutschland zahlungsbilanzpolitisch nicht mit diesen Rohstoffpreissteigerungen fertig würde. Wir haben so viel Währungsreserven wie sonst kaum jemand auf der Welt. Wir haben den größten Vorrat an Währungsreserven. Das ist nicht unsere Sorge. Wir können sogar vorübergehend noch etwas ausleihen, Swap-Kredite an andere geben.
— Lieber Herr Althammer, auf der einen Seite redet Herr Carstens von europäischer Solidarität, und auf der anderen Seite macht die CSU unsere Hilfe an Italien schlecht. Wo ist denn da die Logik?
Ich fordere niemanden auf, Kreditanträge an uns zu stellen. Außerdem haben wir uns auch noch ein Pfand geben lassen, damit nicht zu leichtfertig der Wunsch an uns gerichtet werde. Ich fordere niemanden auf; aber ich möchte den Punkt unterstreichen, an dem Herr Strauß nach meiner Meinung einen richtigen Gedanken hatte. Unsere Zahlungsbilanzschwierigkeiten, die vielleicht in den Vorstellungen einiger eintreten werden, gibt es in Wirklichkeit nicht. Aber es gibt die Zahlungsbilanzschwierigkeiten der anderen, unserer Partner, der Entwicklungsländer, der Industriestaaten, die, weil sie für das Öl, dessen Verbrauch sie etwas reduziert haben, so viel mehr bezahlen müssen als früher, nicht genug Devisen übrigbehalten, um auch die anderen Importe in ihre Länder noch so wie früher zu bezahlen. Sie können das, was sie an Importen, die sie früher zur Ernährung oder zur Ausstattung für den Lebensstandard ihrer Völker getätigt hatten, heute nicht mehr kaufen, und sie bestellen deshalb weniger bei den Exportländern. Und da liegt das eigentliche Problem für uns Deutsche.Nun hat Herr Strauß gestern beklagt, daß unser Export so groß sei. Herr Strauß, weswegen ist er denn so groß? Weil unsere Waren so viel billiger sind als die, die in den inflationsgeschüttelten Ländern hergestellt werden. Wir haben doch den Export nicht künstlich verbilligt, wir haben doch sogar durch die Aufwertung der D-Mark, durch das Abkoppeln von den festen Wechselkursen noch dazu beigetragen, daß unsere Waren etwas teurer wurden. Auch im Innsbrucker Lehrbuch steht, daß Aufwertungen den Export erschweren.
Aber es hat deswegen nicht durchgeschlagen, weil sich die Inflation draußen in der Welt relativ schnell ausweitet. Nehmen Sie ein Nachbarland — ich will es nicht nennen —, wo das Geld gedruckt wurde. Da wurde so viel Nachfrage geschaffen, daß man damit mühelos auch in Deutschland Bestellungen tätigen konnte. Wenn Geld gedruckt wird, will man damit auch etwas kaufen. Wenn im eigenen Land dann nicht genug ist, kauft man im Ausland, z. B. in Deutschland. Wenn nun einer diesen Geldhahn, diese autonome Geldschöpfung in inflatorisch hantierenden Ländern zudreht, dann wird die Nachfrage dort weniger werden. Und dann erst kann überhaupt die Gefahr kommen, die Herr Strauß sah. Herr Strauß, die Gefahr liegt nicht in den gegenwärtig zu hohen Exporten, sie liegt in der zu erwartenden Einschränkung der Zahlungsfähigkeit einer Reihe von Handelspartnerländern und ihrer Nachfrage nach unseren Gütern. Sie wird uns nach meiner Vorstellung dann beschäftigen müssen, wenn sie eintreten sollte; sie beschäftigt unsere Gedanken heute schon. Aber noch ist es nicht so weit. Noch ist es so, wie Herr Strauß gesagt hat: eine Übernachfrage aus dem Ausland. Solche Inflationen, solche Geldschöpfungen und solche Kaufkraftausweitung dort gehen eben nicht nur innerhalb der italienischen Grenzen und innerhalb der englischen Grenzen zu Markte, sie gehen eben auch bei uns zu Markte. Es wird versucht, aus Deutschland die Güter herauszuziehen, die man zu Hause mit dem Geld nicht mehr kaufen kann.Mit anderen Worten: die heutigen Exportüberschüsse sind eine Konsequenz des Inflationsgefälles, bei uns so niedrig und bei denen so hoch, bei uns wenig Geld, bei denen viel. Da wird es nämlich gedruckt, Dann versuchen sie, mit dem vielen Geld bei uns zu kaufen. Und dann gibt es in diesen Ländern die Notwendigkeit, sich entweder durch Bardepots — siehe Italien — dagegen zu wehren, daß ihre Unternehmen so viel importieren, wie die italienische Zahlungsbilanz nicht mehr aushält, oder es gibt die Möglichkeit, durch weitere Abwertung der eigenen Währung, durch den Kursverfall der eigenen Währung, den man dann nicht mehr verhindern kann, sich dagegen zu wehren, daß die eigenen Unternehmen so viel im Ausland, das heißt in Deutschland, kaufen. Das sind alles Möglichkeiten, mit denen man rechnen muß.Herr Friderichs hat völlig recht, der gestern gesagt hat, wenn das eintreten sollte, daß die anderen nun wirklich nicht mehr kaufen können und Nachfrage aus dem Ausland hier bei uns in Deutschland ausfällt, dann, aber auch wirklich erst dann ist der Zeitpunkt, Binnennachfrage hier bei uns zusätzlich zu schaffen. Aber es geht nicht, additiv, gleichzeitig auf die von Herrn Strauß und von ein paar anderen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7837
Bundeskanzler SchmidtRednern der CDU mit Recht beklagte, gegenwärtig überhöhte Auslandsnachfrage hin noch zusätzliche Binnennachfrage, Binnenkaufkraft zu schaffen. Da hat Herr Friderichs doch ganz recht gehabt, das war doch ganz durchsichtig, Herr Zeitel. Nun müssen Sie doch nicht so tun, als ob man bei der mittelfristigen Finanzplanung vor vier oder vor drei oder vor zwei Jahren alles dies und die Ölkrise hätte voraussehen können. Du lieber Gott, du lieber Gott!
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Augenblick. Der Professor Zeitel stellt sich im Ernst vor, daß man bei der mittelfristigen Finanzplanung vor zwei oder drei oder vier Jahren die Ölkrise hätte voraussehen sollen und den Krieg zwischen Ägypten und Israel, der sie ausgelöst hat.
So steilen sich die Wirtschaftswissenschaftler manchmal die politische Welt und die Geschichte vor.
Herr Abgeordneter Dr. Zeitel.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie schon dabei sind, einen Volkshochschulvortrag über bestimmte Zusammenhänge zu halten,
meinen Sie nicht, daß zur Erklärung der Zusammenhänge auch der Hinweis gehört, daß die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft zu einem nicht unbeträchtlichen Teil bei großen Unternehmungen mit erheblichen existenzgefährdenden Ertragseinbußen verbunden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Zeitel, im Gegensatz zu der Erwartung Ihrer Kollegen, die dazwischenrufen, ich wollte das nicht wissen, ich weiß es sehr wohl und würde es zugestehen. Sie brauchen nur nachzulesen, was ich vor einem Vierteljahr am 17. Mai in meiner Regierungserklärung hier über die Notwendigkeit der Erträge vorgetragen habe. Natürlich würde ich es zugestehen. Es gilt allerdings nicht für alle Großunternehmen, die exportieren. Es gilt nicht für Bayer Leverkusen, und es gilt auch nicht für Thyssen, um einmal zwei Beispiele zu nennen. Es gilt für einige, aber keineswegs für alle und für die Masse. Für die Großchemie gilt es nicht, und für den Stahl gilt es auch nicht.
— Es gibt auch ein paar andere. Für die Bauwirtschaft, wo keine Erträge sind, gilt Ihr Beispiel nicht, sie exportiert nämlich nicht, Herr Zeitel.
— Mir kommt es darauf an, daß der Professor Carstens, der ja nun heute morgen gleich reden will, wie ich gehört habe, — --
— Wir haben uns in aller Ruhe das angehört, was der Herr Strauß 51, nein, 61 Minuten lang gestern vorgetragen hat. Das war weiß Gott eine stilistische Zumutung. Sie werden ja wohl ein ganz klein bißchen Antwort ertragen können, meine Herren.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Augenblick nicht; etwas später, bitte, Herr Kollege.
Ich möchte darauf zurückkommen, Sie, Herr Professor Carstens, zu bitten, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß die Weltwirtschaft von heute mit Inflationsraten von 30 bis 40 % pro Jahr in Entwicklungsländern, mit Inflationsraten von 15 bis 25 % im Jahr in Industrieländern, mit Rohstoffpreissteigerungen von 100 % und Ölpreissteigerungen von 300 % im letzten Jahr eine andere Welt ausweist und daß es andere Umstände sind, die heute Gefährdung herbeiführen, als die Umstände, die uns etwa Mitte der sechziger oder der fünfziger Jahre beschäftigt haben. Ich bitte Sie, uns Ihre Meinung darüber zu sagen, ob es denn stimmt, daß, wenn in zehn arabischen Ländern in einem einzigen Jahr zusätzlich 60 bis 80 Milliarden Dollar — das sind grob 200 Milliarden DM — entstehen, wenn dort diese Einkommen entstehen, daß sie natürlich woanders weggenommen werden; ob sie sich zu diesen globalen Änderungen der Lage bekennen wollen oder ob Sie im Ernst Ihr Publikum glauben machen wollen, das könnte man von Bayern oder von München aus mit einem Trick auch anders regeln.
Ich frage Sie, ob Sie dem Publikum zugestehen wollen, daß es wahr ist, daß infolge dieser Lage in vielen Staaten der Welt die realen Einkommen der Menschen natürlich entweder sinken oder in ihren Zuwächsen sinken, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika in den letzten zwölf Monaten das Nettorealeinkommen der Arbeitnehmer um 4,5 % gesunken ist, daß dasselbe in europäischen Nachbarländern passiert, daß es bisher in der Bundesrepublik Deutschland nicht passiert ist, daß es in der Bundesrepublik Deutschland auch im nächsten Jahr
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7838 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundeskanzler Schmidtdank der Kindergeld- und Steuerreform nicht passieren wird. Wollen Sie das bitte auch mal Ihrerseits darlegen und dann die Antwort auf die Frage hinzufügen, wie es denn kommt, daß, wenn die ganze Welt in Unordnung ist, in der Bundesrepublik Deutschland trotzdem sowohl die Preise als auch die Beeinträchtigung der Realeinkommen so haben abgefangen oder, wie Herr Friderichs es sagt, abgefedert werden können. Die Antwort, die wir auch schon gehört haben, war: Ja, das ist 25 Jahren Aufbauarbeit der CDU zu verdanken.
— Da lachen meine Kollegen, und trotzdem ist an der Antwort auch etwas Richtiges.
— Es ist auch etwas Richtiges daran. — Das sichere Sozialgefüge dieses Landes, das gestern Walter Arendt und Werner Staak nochmals dargelegt haben, mit den Netzen, die gespannt sind, spielt natürlich bei unserer Elastizität und Widerstandsfähigkeit eine Rolle, und ich würde weiß Gott unehrlich sein, wenn ich nicht anerkennen wollte, daß Sie daran einen großen Teil mitgetragen haben, nicht gerade 25 Jahre, 16 Jahre aber immerhin, danach kam ja das mit der Koalition, die Sie nicht wünschten, aber eingehen mußten. Es ist nicht so, daß die deutschen Arbeiter besser als die französischen sind oder daß die deutschen Bankiers besser als die englischen sind und besser finanzieren oder daß die deutschen Ingenieure besser als die italienischen sind. Dies anzunehmen, wäre sehr anmaßend.
— Auf Ihren Zwischenruf bezüglich der Regierung will ich aus Höflichkeit gegenüber anderen Regierungen lieber nicht eingehen.
Wir haben hier in den letzten 25 Jahren gemeinsam vor allen Dingen eine besondere Sozialordnung geschaffen. Wir haben sie in den letzten acht Jahren, in den letzten viereinhalb Jahren nochmal gewaltig verdichtet und ausgebaut, was den Menschen die Zuversicht gibt, daß sie ihren gerechten Anteil bekommen, und das ist der ganz wesentliche Grund dafür, daß bei uns geordnet verlaufen kann, was anderswo zu Eruptionen führt.
Trotzdem ist auch bei uns das reale Wachstum, z. B. des Volkseinkommens, in den letzten zwölf Monaten durch die Gewinne in den Ölländern stark beeinträchtigt. Wenn der eine Gewinne macht, muß der andere ja wohl bezahlt haben. Das gibt es nirgendwo im Leben anders. Und wir verbrauchen enorm viel 01 und enorm große Rohstoffmengen. Wir haben bezahlt. Natürlich hat das auch bei uns reale Einkommenskonsequenzen. Zum ersten: Die Realeinkommen der Arbeitnehmer steigen in diesem Jahr lange nicht mehr so schnell wie das noch vor zwei, drei oder vier Jahren der Fall gewesen ist. Zum zweiten: Es gibt eine große Zahl von Selbständigen in unserer Wirtschaft, von mittelständischen Unternehmen, deren Realeinkommen im Augenblick fallen oder jedenfalls viel schwächer steigen als noch vor zwei Jahren. Das gilt im großen und ganzen auch für die Landwirtschaft, mit Ausnahmen. Man kann sagen: Die sind alle in die Knautschzone geraten, um einen modernen Ausdruck aus der Automobiltechnik zu nehmen. Da staucht sich das. Es staucht sich auch bei den öffentlichen Händen; es staucht sich auch bei den Städten und Kommunen, bei den Ländern, auch im Bundeshaushalt. Es staucht sich auch dort, wo bisher auf die alten Erwartungen hin gebaut worden ist, etwa auf dem Markt der freifinanzierten Wohnungen. Es stehen rund 250 000 Wohnungen leer; vielleicht sind es auch ein paar Wohnungen mehr.Es sind also Anpassungen notwendig, in vielen Zweigen der Wirtschaft sind Anpassungen notwendig. Wir müssen aufpassen, daß wir die Anpassungsprozesse nicht kataraktartig mit schlimmen Konsequenzen sich ablaufen lassen. Andererseits dürfen wir aber die Anpassungen der Struktur auch nicht verhindern wollen. Wer strukturelle Anpassungen in seiner Volkswirtschaft verhindern will, der verhindert gleichzeitig auch Produktivitätsfortschritte und damit sozialen Fortschritt. Das ist, glaube ich, klar. — Bitte, Herr Kollege!
Herr Abgeordneter Jäger !
Herr Bundeskanzler, nachdem Sie wieder zurückgekommen sind auf das Verhältnis der Ölländer zur Bundesrepublik Deutschland und zu unserer Wirtschaftssituation, darf ich meine Frage nachholen: Warum beschäftigen Sie sich dann nicht mit dem Argument unseres Kollegen Strauß, daß angesichts der zweimaligen Erhöhung der Mineralsölsteuer durch diese Bundesregierung und ihre Mehrheit die Ölländer geradezu hätten mit Blindheit und Torheit geschlagen sein müssen, wenn sie nicht durch ihre Preiserhöhungen von diesem Segen etwas hätten abschöpfen wollen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich will gern darauf eingehen. Bitte, gestatten Sie mir aber, daß ich das erst an späterer Stelle in anderem Zusammenhang tue. Ich werde aber darauf eingehen, und Sie werden aufpassen, daß ich es nicht vergesse. Ich möchte nämlich zunächst noch zu einem anderen Punkt kommen, auch in der Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Abgeordneten Strauß.Sie, Herr Kollege Strauß, haben das so vom Tisch wischen wollen, daß es in anderen Ländern doppelt so schnelle Preissteigerungen und doppelt so hohe Arbeitslosigkeit gibt wie bei uns. Ich bitte Sie, sich ganz plastisch das vorzustellen, was der Kollege Friderichs gestern hier im Hause gesagt hat: Es häufen sich nun die Besuche hier in Bonn von ausländischen Ministern, es häufen sich die Klagen von Ministerpräsidenten der Außenhandelspartner der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7839
Bundeskanzler SchmidtBundesrepublik Deutschland, die verlangen, wir sollen gefälligst etwas mehr Inflation zulassen, weil sie nicht mehr mitkämen. Ich bitte, das ganz ernst zu nehmen, meine Damen und Herren.Heute nacht — ich habe wenig Schlaf gekriegt, weil der Josef Ertl und ich miteinander telefonieren mußten — haben einige unserer Partner in der EG in Brüssel verlangt, wir sollen gefälligst die Agrarpreise ordentlich anheben in der ganzen EG. Weshalb denn? Weil das bei ihren Inflationsraten zu Hause in ihren Staaten allerdings angemessen ist, nicht allerdings für diese Bundesrepublik. Es gibt noch einen großen Konflikt in der EG wegen der Agrarpreise.Aber dies muß man doch sehen, daß unser geglückter Versuch, auszuscheren aus dem Geleitzug, achtern auszusacken bei diesem Inflationstempo, uns nicht nur mit unseren unmittelbaren EG-Partnern auch schon in politisch spürbare Interessenkonflikte bringt, sondern auch mit Ländern wie Kanada oder wie Norwegen, weit weg, mit denen wir Handel treiben. Die sagen: „Nun macht doch ein bißchen mehr Inflation! Ihr könnt hier nicht der Musterknabe sein; ihr könnt hier nicht durch die Gesundheit eurer Wirtschaft und eurer Zahlungsbilanz uns, die anderen, zusätzlich noch in die Defizitposition drücken; es ist schon schlimm genug, daß uns die Ölländer in die Defizitposition gedrückt haben!"Das ist die Rede, die wir in den letzten Wochen und Monaten zunehmend hören, und zwar ganz offiziell, wobei wir gemahnt werden, uns ein bißchen mehr dem durchschnittlichen Verhalten der anderen Staaten anzupassen. Hier liegt ein dickes Problem. Wir sagen bis heute nein dazu.
Wir wissen aber, daß der Druck der anderen Staaten auf uns größer werden muß in dem Maße, in dem deren inflatorisches Tempo — — Herr Pieroth, wenn Sie es verstehen, ist es gut; wenn nicht, sprechen Sie bitte nicht dazwischen.
Hier gibt es doch die Möglichkeit, mit einem Mikrofon eine Zwischenfrage zu stellen, Herr Pieroth, nicht wahr?
— Also gut, redet der Herr Zeitel für Herrn Pieroth.
Herr Abgeordneter Dr. Zeitel!
Herr Bundeskanzler, Sie haben bei der Erörterung der Erdölprobleme auf die Differenzen der Inflationsraten zwischen uns und den anderen europäischen Partnern hingewiesen. Sie haben offensichtlich Ihre besondere Leistung herausgestellt. Wie erklären Sie es sich, daß, wenn diese anderen Länder mit höheren Inflationsraten die Agrarpreissteigerung verkraften können, wir dieses nicht tun sollen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Zeitel, ich versuche eine ernste Antwort. Aber ich möchte erst sicher gehen, ob ich Ihre Frage richtig verstanden habe. War die Tendenz Ihrer notwendigerweise der Geschäftsordnung wegen in Frageform gekleideten Intervention die, wir sollten doch bitte die Agrarpreise schneller steigen lassen?
— Das war Ihre Meinung? — Bitte, nehmen Sie doch noch einmal das Wort! Das ist eine hochinteressante Kontroverse. Nehmen Sie doch mal das Mikrophon!
Ich bin immer noch nicht ganz sicher, ob ich den Kollegen Professor Zeitel richtig verstanden habe. Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, hat er an die Bundesregierung appelliert, gefälligst die Agrarpreise schneller steigen zu lassen, als sie es tatsächlich tut. Das war offensichtlich der Sinn. Man kann dieser Meinung sein, Herr Professor Zeitel. Die Verbände der Landwirtschaft sind dieser Meinung. Nur kann man dann nicht gleichzeitig wie Herr Strauß und Herr Althammer die Inflationsrate in Deutschland anklagen und der Regierung anlasten.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ey?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich bitte um Entschuldigung. Zunächst wäre immer noch der Kollege Wagner dran, und den habe ich schon vertröstet. Ich möchte mit meinem Vortrag weiterkommen.Das, was ich vorzutragen versucht habe, unterbrochen durch Antworten und Zwischenfragen, habe ich vor ein paar Tagen vor der Industriegewerkschaft Metall und ihren Delegierten in Hannover auch vorgetragen. Hinter mir kam ein bedeutender Redner der CDU, Professor Biedenkopf, der sich sehr höflich und sehr freundschaftlich über das ausließ, was ich vor ihm gesagt hatte. Und nun kommt ein entscheidender Satz — man könnte viel aus Biedenkopfs Rede zitieren —: „Die Tatsache", sagt er, „daß die Bundesrepublik Deutschland in der Weltliga, wie der Bundeskanzler vorgetragen, im richtigen Sinne des Wortes, an erster Stelle steht, diese Tatsache ist eben auf alle Faktoren unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zurückzuführen, die eine Einheit darstellen" — und jetzt füge ich für Herrn Carstens von mir aus ein, man muß auch den Unterschied zu den Ausführungen von Herrn Strauß von gestern beachten, und ganz ohne Schlenker geht es natürlich bei Professor Biedenkopf auch nicht — „und die, auch da stimme ich mit dem Bundeskanzler überein, das Ergebnis 25jähriger Aufbauarbeit sind" — jetzt kommt der Schlenker —, „wobei 20 Jahre auf das Konto der CDU gehen". Ich will mal den Schlenker weglassen. Herr Biedenkopf sagt: Jawohl, es stimmt, dieses Land steht besser da als andere, und man muß es anerkennen. Damit es nicht so schwer fällt,
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7840 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundeskanzler Schmidtes anzuerkennen, sagt er, die CDU habe einen großen Anteil. Sie aber sagen hier, es stehe schlecht und das liege einzig und allein an der sozialliberalen Koalition. So reden Sie hier, so reden Sie dort, und anders reden Sie am dritten Ort.
Wir haben Ihnen zwei Tage lang vorgetragen, was wir tun werden, nämlich den Grundkurs halten, aber mit Aufmerksamkeit auf das blicken, was in der Weltwirtschaft, was in den anderen Ländern, was auf den fremden Märkten geschieht, von denen wir abhängen, wo wir unsere Rohstoffe zu kaufen und wo wir unsere Exporte zu verkaufen haben. Da werden wir aufmerksam sein und wir sind bereit, das Ruder zu legen, falls das und soweit das von den Märkten draußen her notwendig wird. Im Innern sind wir für Sparsamkeit in den öffentlichen Haushalten, nicht nur im Haushalt des Bundes, sondern auch in den Haushalten der anderen. Und soweit es möglich ist, sind wir für die ökonomische Zusammenarbeit mit unseren EG-Partnern und mit den Partnern außerhalb der EG.Vor allem sind wir für eine gemeinsame Energie- und Ölpolitik. Diese fehlt nämlich. Das ist eine der Sorgen, die mich bei der ansonsten in Deutschland ja nicht schlechten wirtschaftlichen Lage am meisten beschäftigen, daß wegen des Fehlens einer gemeinsamen Ölpolitik der Konsumentenländer und der Produzentenländer noch einmal große Unordnung über die Weltwirtschaft hereinbrechen kann. Das bedrückt uns, und das sagen wir auch den anderen Regierungen, das sagen wir auch den Mitgliedsregierungen in der EG.Und eine meiner Fragen an Sie, Herr Professor Carstens, wird sein: Sie, die Sie die Europapolitik der Regierung kritisieren, sagen Sie uns bitte, wie wir denn, mit welchen Zugeständnissen wir denn Frankreich und England zu einer gemeinsamen Energiepolitik bewegen sollen! Sagen Sie uns das! Vielleicht ist es schwer, das zu sagen; denn wir haben es bisher ja auch nicht fertiggebracht. Nur würde ich dann in der Kritik an der Europapolitik vorsichtig sein. Es ist nicht so, Herr Professor Carstens, daß die Bundesrepublik Deutschland oder ihre Regierung die Schuld daran hätte, daß die anderen Staaten so viel mehr Arbeitslosigkeit und so viel mehr Preisanstieg haben. Es ist nicht unsere Verantwortung, daß es nicht möglich war, die Wirtschaftspolitik in diesen neun Ländern auf einen gemeinsamen Level zu heben, auf eine gemeinsame Richtung einzusteuern. Das sind die eigentlichen Schwierigkeiten heute in Europa, und nicht die Frage, ob die Kommission zu viele Beamte hat oder ob die Ministerpräsidenten gemeinsam zu Abend essen dürfen oder nicht. Die wirklichen Schwierigkeiten liegen in der Auseinanderentwicklung der ökonomischen Daten.Ich möchte Ihnen sagen, Herr Professor Carstens: Wir möchten überhaupt von Ihnen hören, was Sie anders tun würden, nicht nur auf dem Felde Europa. Wir haben gestern insgesamt sieben Stunden Kritik gehört. Aber was ist denn eigentlich die Vorstellung, die die Opposition verfolgt? Ich habe gemerkt:I Sie haben keinen Mut zur Unpopularität, keinen Mut zur unbequemen Ehrlichkeit. Das kann man vielleicht auch nicht verlangen. Einen gewissen Mut zum Risiko muß man aber doch von der Opposition erwarten können, sie muß sich doch in diesem Hause und gegenüber der öffentlichen Meinung festlegen können.
Herr Carstens, Sie kommen doch sowieso so bald nicht an die Regierung. Es ist also keine Gefahr, wenn Sie sich auf das festlegen, was Sie tun würden, falls Sie an die Regierung kämen.
Der Politiker in der Opposition muß kritisieren. Es ist sein Beruf, die Regierung zu kritisieren. Es ist sein Beruf, sie herauszufordern. Aber auch der Politiker in der Opposition muß zeigen können, wo sein Weg hingehen soll, was er denn eigentlich anders machen will.
Die Rolle der Opposition ist vor mehr als einem Vierteljahrhundert von niemand anderem als Kurt Schumacher vorausschauend für dieses zweite deutsche Parlament zu definieren versucht worden. Inzwischen hat die Praxis vielleicht das eine oder andere daran geändert. Aber, Herr Carstens, Sie haben immer noch nicht verstanden, daß außer dem Kritisieren auch nötig ist, der Öffentlichkeit, den Wählern, aber auch uns zu zeigen, was man denn vielleicht besser, anders machen könnte. Sie haben doch der Regierung gestern in sieben Stunden keinen einzigen Rat gegeben. Sie wiederholen nur immer wieder: Früher, als wir, die Christdemokraten regiert haben, war es besser.
— Hören Sie mal, ich war länger hier als die Masse Ihrer 250 oder 240 Abgeordneten. Ich habe sie gezählt.
— Ja, sicher, und ich habe auch zugehört. Ich habe auch Herrn Althammer gelesen, ich habe Herrn Strauß zugehört, ich habe Herrn Höcherl zugehört, ich habe die dazwischen liegenden Redner gelesen. Vorschläge, was nach Ihrer Meinung die Regierung tun soll, fehlen.
Der erste, der zwei Vorschläge gemacht hat -wir wollen sie einmal ansehen —, war Herr Zeitel heute morgen: Man sollte die Investitionen ernster nehmen. Wie soll das eigentlich praktisch geschehen? Wie meinen Sie das?
Was sollen wir machen?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7841
Bundeskanzler SchmidtDiese Allerweltsweisheiten, es müsse mehr investiert werden, teile ich ja mit Ihnen. Nur müssen Sie uns sagen, wie man das macht, welchen konkreten Gesetzentwurf Sie vorschlagen, damit mehr investiert wird. Sie bringen doch nur Gesetzentwürfe ein, damit mehr konsumiert wird. Herr Kollege Wagner, Sie haben einen Gesetzentwurf eingebracht, damit mehr Benzin konsumiert werden soll. Das Benzin soll billiger gemacht werden, damit die Leute mehr Autos kaufen. Dieser Art sind Ihre Gesetzentwürfe! Die Logik fehlt da.
Es ist richtig, es müßte mehr investiert werden, HerrZeitel. Nur müßten Sie uns sagen, was nach IhrerMeinung geschehen soll, damit dies bewirkt werde.
Das einzige, was er positiv gesagt hat, war doch, die Investitionen würden behindert, weil wir in der Ordnungspolitik von Vermögensbildung bis Mitbestimmung die Leute beunruhigten. Das war alles, was Sie gesagt haben. Das war doch nicht positiv. Das war doch kein Vorschlag. Das war doch nur der Versuch, mit einer wirtschaftskonjunkturpolitischen Begründung abermals auf die Mitbestimmung einzuschlagen, Herr Zeitel, weiter gar nichts.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pieroth?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gerne!
Herr Bundeskanzler, könnten Sie sich vorstellen, daß die Investitionen auch dadurch angeregt werden könnten, daß die Arbeitnehmer in einer individuell angelegten Politik breiter Vermögensstreuung an dieser deutschen Wirtschaft wieder mehr interessiert würden, die Sie bis 1978 vertagt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn ich einmal von dem polemischen letzten Halbsatz absehe,
würde ich im übrigen Ihre Frage mit Ja beantworten.
— Hören Sie doch bitte die Antwort! Diese Regierung, diese Koalition will auch dieses Problem lösen.
Es ist technisch sehr viel schwieriger, als man denkt — das werden diejenigen zugeben müssen, die auch auf Ihrer Seite daran gearbeitet haben —, und alle bisherigen Vorarbeiten, einschließlich sehr ernst zu nehmender Vorarbeiten von einzelnen Personen
aus dem Kreise der CDU sind bisher nicht in der Lage, das Bewertungsproblem bei Anteilen an Firmen richtig zu lösen.
— Wir haben es alle versprochen, Sie auch. Sie haben es auch nicht zustande gebracht.
Wir haben es versprochen, und wir sind ehrlich genug gewesen, hier vor vier Monaten öffentlich zu erklären: Die Sache ist noch nicht so reif, daß wir glauben können, sie in dieser Legislaturperiode verabschieden zu können.
Ich glaube aber, daß wir jedenfalls in dieser Legislaturperiode den Gesetzentwurf hier noch werden einbringen können. Wir haben dazu nun extra eine interministerielle Arbeitsgruppe gebildet, die sich hauptamtlich damit beschäftigt, und ich habe die Hoffnung, daß die technischen Probleme dieser Sache gelöst werden. — Ich würde gern in meinem Vortrag fortfahren, meine Herren Kollegen. — Nein, Herr Kollege Strauß hat natürlich das Recht, eine Zwischenfrage zu stellen, nachdem ich ihn etwas geärgert habe.
Herr Bundeskanzler, haben Sie schon wieder vergessen, oder ist es nie zu Ihrer Kenntnis gekommen — das letztere kann nicht sein, weil es in dem Gespräch im Bundeskanzleramt in der Nacht des Kompromisses über die Steuerreform war —, daß wir Ihnen damals dringend empfohlen haben, auf die Erhöhung der Vermögensteuer von 0,7 % auf 1 % in der wirtschaftlichen Situation, in der wir uns befinden, deshalb zu verzichten, weil diese Erhöhung der Vermögensteuer mit der Wirksamkeit von 1,5 Milliarden DM abermals die Substanz belastet, die Erträge vermindert und in der gegebenen wirtschaftlichen Situation geradezu Gift gegen die Investitionsneigung ist? Ich glaubte damals annehmen zu dürfen, daß dieses mein Argument bei Ihnen gar nicht auf so unfruchtbaren Boden gefallen ist.Zweite, damit zusammenhängende Frage: Haben Sie nie zur Kenntnis genommen, daß ich in meinen Vorschlägen, die gestern zum Teil falsch, zum Teil unvollständig wiedergegeben worden sind, angeregt habe, für eine befristete Zeit Verlustvortäge nicht nur für die Zukunft gelten zu lassen, auf fünf Jahre, wie es dem geltenden Steuerrecht entspricht, sondern einmal auf die Erträge der beiden letzten Jahre anrechnen zu lassen, um damit die Investitionskraft im gegenwärtigen Zeitpunkt in der privaten Wirtschaft zu heben und ein Signal zu setzen, daß der private Unternehmer auch den Mut hat, zu investieren? Das sind doch Tatsachen.
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7842 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auf den zweiten Punkt, Herr Strauß, komme ich nachher noch zurück. Ich will mich daran nicht vorbeimogeln.Was den ersten Punkt angeht: Jawohl, ich kann mich erinnern — und Sie erinnern sich richtig —, wir sind nicht eingegangen auf Ihren Versuch, bei Gelegenheit der Steuerreform im letzten Augenblick noch die Vermögensteuer zu senken. Wir sind darauf nicht eingegangen.
Wir sind nicht darauf eingegangen, die längst in der Öffentlichkeit akzeptierte Erhöhung zurückzunehmen und die Vermögensteuer wieder zu senken.
Ich stimme in der Sache mit Ihnen überein.
Aber, Herr Strauß, das Interessanteste aus der Sitzung war doch noch etwas anderes. — Ich will das doch nicht umdrehen. Das Parlament hatte beschlossen, die Vermögensteuer wird erhöht, und Sie haben versucht, sie in der letzten Stunde wieder zu senken. Das ist doch wahr!
Ich drehe doch nichts um. Aber wenn wir schon über diese Kompromißverhandlungen zur Steuerreform reden: Die waren wirklich in mancher Beziehung interessant und auch lehrreich.
Nachdem Sie aus der Schule plaudern, darf ich es jetzt auch, Herr Strauß. Für mich war das besonders Lehrreiche — uns gegenüber am Tisch saß Herr Kohl, von mir aus gesehen rechts davon Herr Strauß, links davon Herr Stoltenberg —: Herr Strauß sagte relativ wenig. Aber das, was er sagte, hatte Hand und Fuß.
Herr Kohl sagte gar nichts, und Herr Stoltenberg redete am meisten, und er hat die Steuerreform teurer gemacht, als Sie beide es gewollt haben. So war es.
Ich sehe auf Ihrem Gesicht, Herr Strauß, daß es stimmt, woran ich mich erinnere.
Jetzt geht derselbe Ministerpräsident Stoltenberg im Lande herum und behauptet, er hätte nicht genug Geld, weil die Steuerreform zu teuer geworden sei.
Er müßte für Schleswig-Holstein einen höheren Anteil zu Lasten des Bundesanteils haben. So ist es wirklich gewesen.
— Wissen Sie, Herr Kollege, so wichtig muß man das im Augenblick nicht nehmen. Im Augenblick gibt es bei der CDU/CSU noch vier Bewerber um die Kanzlerkandidatur — und einen fünften heimlichen —: der Herr Stoltenberg, der Herr Strauß, der Herr Carstens und der Herr Kohl und heimlich der Herr Biedenkopf. Solange das noch fünf sind, brauchen wir keinen von ihnen ganz so ernst zu nehmen. Das kommt erst später.
Wenn der eine im Fernsehen zur Wirtschaftspolitik redet,
dann fragt sich der andere: Was mache ich bloß? Dann fährt er nach Peking.
Es ist ja noch gar nicht so lange her, da fuhren dieAbgeordneten der CDU/CSU immer nach Formosa.
Wir haben das damals kritisiert. Wir begrüßen, daß Sie heute die Realitäten in der Welt ein bißchen besser erkennen, wenn das auch nur in einem weit entfernten Erdteil ist. Es findet bei der CDU/CSU so etwas statt wie ein Wandel durch Annäherung, so würde ich es nennen.
Ich möchte in dem Zusammenhang dessen, was ich eigentlich sagen wollte — Sie provozieren mich immer zu solchen Ausflügen wie den mit der Bemerkung über den Ministerpräsidenten aus dem kühlen Norden —, meiner eigenen Fraktion und auch der FDP eines sagen, was sich nicht so sehr an die Opposition richtet: Es ist wahr, daß die Steuerreform und die Kindergeldreform, die auf der einen Seite Realeinkommen bei den Steuerzahlern und Kindergeldempfängern schaffen, auf der anderen Seite die Städte, die Kommunen, die Länder und den Bund, was die Verringerung der Finanzmasse angeht, bedrängen. Es ist auch wahr, daß das mindestens vorübergehend und mindestens dem Anschein nach im Widerspruch zu gewissen Grundvorstellungen steht, d_o meine eigene Partei — notabene unter meiner eigenen federführenden Mitwirkung — formuliert hat, was die Ausweitung des Dienstleistungsangebots angeht, von dem wir erwarten, daß der Staat es seinen Bürgern anbieten soll. Es ist sicher so, daß die Steuerreform und die Kindergeldreform vorübergehend das, was wir den „öffentlichen Korridor" genannt haben, wieder etwas zurücknehmen. Solange diese Krise der Weltwirtschaft andauert — und ich bin noch nicht ganz sicher, daß sie ihren tiefsten Punkt schon erreicht hat —, wird es auch kaum möglich sein, das reale Volkseinkommen insgesamt stärker zu steigern, das Bruttosozialprodukt insgesamt wieder auf die altenDeutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20 September 1974 7843Bundeskanzler SchmidtRaten zu steigern. So lange wird man ein bißchen kurztreten müssen mit der Wiederausweitung des öffentlichen Korridors. Übrigens sind die Verschiebungen im Korridor mal ein bißchen dünner, mal ein bißchen breiter, aber sie sind minimal. Die sind mehr theoretisch zu erkennen als praktisch, wenn man sich die Prozentsätze anguckt. Weil ja bisweilen im Lande gerätselt wird, ob wir denn mit unserem ganzen Eifer das, was in der Gesellschaft geändert werden muß, auch tatsächlich ändern, oder ob wir diesen Impetus der Reform hinter uns gelassen hätten, möchte ich klarstellen: Das haben wir nicht! Wir wissen nur, daß wir im Augenblick aufpassen müssen, daß unser Land nicht von demselben wirtschaftlichen Schicksal ergriffen wird, wie manche anderen Länder in unmittelbarer Nachbarschaft. Das wird aber nicht ewig so bleiben. Darüber kommen wir weg. Das mag ein Jahr dauern, das mag zwei Jahre dauern. Es braucht sich niemand zu täuschen, daß wir etwa das, was wir uns vorgenommen hatten, dann nicht wieder auf den Tisch legen und voranbringen würden. Das wäre ein Irrtum.
Übrigens: Wenn Sie die Menschen fragen in unserem Land, die verstehen das ganz gut. Da gibt es naive Fragestellungen und etwas kompliziertere. Wenn man ganz naiv fragt: Sag mal, bist du eigentlich auch dagegen, daß die Preise steigen?, dann sagt er: Ja, dagegen bin ich schon lange! — Und bist du eigentlich auch dagegen, daß es Arbeitslosigkeit gibt und Kurzarbeit und daß sie vielleicht noch ein bißchen mehr wird? Dann wird er sagen: Dagegen bin ich auch! — Ich habe mich gestern mit Frau NoelleNeumann unterhalten — die Firma hatte ein Jubiläum; einige von Ihnen waren auch da —, und da sprach sie darüber, daß dies Fragestellungen seien, die eigentlich zu unkompliziert seien und den wahren Sachverhalt des Denkens im Publikum, im Volk verzerren würden. Man müßte vielmehr fragen, sagte sie: Bist du dafür, daß man im Augenblick den Preisen mehr Luft läßt, daß sie sich entwickeln können, damit — und das ist das Eigentliche — die Beschäftigung wieder schneller steigt, allerdings mit der Gefahr, daß später die Inflation noch stärker steigt und später die Arbeitsplätze noch stärker gefährdet werden?
Das ist die Frage eins von Frau Noelle-Neumann. Die Frage zwei ist: Oder aber bist du dafür, daß wir jetzt die Zähne zusammenbeißen, damit auf die Dauer die Arbeitsplätze sicher sind und wir nicht um Augenblickserfolgen wegen das tun, was Herr Strauß vorschlägt, nämlich noch mehr Steuern zu senken und noch mehr auf Investitionen zu verzichten? Frau Noelle-Neumann sagt uns: Wenn so richtig gefragt wird, dann würde eine große Mehrheit des Publikums der Frage zwei zustimmen, d. h.: Zähne zusammenbeißen, die Preise noch ein bißchen drücken, wenn es geht, bis zum Jahresende, Gewehr bei Fuß stehen für den Fall, daß wirklich die Auslandsnachfrage ausbleibt oder drastisch zurückgeht, und dann etwas tun, und nicht vorher, und auch nicht mehr.Nun kommt wieder der Zwischenruf: Wir hätten schon lange vorher Stabilität machen sollen! Das ist Ihnen ja gestern von Graf Lambsdorff wirklich auseinandergesetzt worden, daß vor der Abkoppelung vom festen Wechselkurs zum amerikanischen Dollar und der damit gegebenen Liquiditätsüberschwemmung unserer eigenen Wirtschaft, dies wirklich nicht möglich gewesen wäre. Ich sehe den Fürsten Bismarck hier im Augenblick nicht; der hat an dieser Stelle dem Grafen Lambsdorff dazwischengerufen: Das sei ja nicht so ganz gräflich gewesen! Ich hatte den Eindruck des Einblicks in die Gepflogenheiten des Hochadels, als ich das hörte: es sei nicht so ganz gräflich gewesen.
— Wie bitte?
— Der spielt sich ja nicht auf mit Fürsten- und Grafentiteln, das ist ja ein Sozialdemokrat.
Lambsdorff kann sich dagegen auch selber wehren. Der braucht mich nicht, um sich dagegen zu wehren. Nur hatte ich das Gefühl, wenn ich mir den Namen dessen angucke, der da sprach, daß alles das, was die Opposition sonst gestern geboten hat, so fürstlich auch nicht gewesen sei.
Sie haben gestern gesehen — und das, finde ich, soll man für das Publikum draußen ganz klar hinstellen —: eine geschlossene Konzeption, ob hier der Finanzminister Apel spricht, ob der Wirtschaftsminister Friderichs oder der Arbeitsminister Arendt. Hören Sie doch endlich auf, dem Publikum glauben machen zu wollen, wir würden uns in die Haare kriegen. Das steht nur in den Illustrierten. Hier im Deutschen Bundestag wird nicht nur etwas anderes dargestellt, sondern da sind Sie ja nicht einmal in der Lage, sich mit dieser einheitlichen Front richtig so auseinanderzusetzen, daß Sie Punkte sammeln können.
Die gestrige Debatte ist 3:1 für die sozialliberale Koalition ausgegangen. Einige behaupten bei uns 4:1; kann sein. Mir tut es beinahe leid, weil nämlich die beiden FDPisten so besonders gut waren. Ich gebe mir heute morgen Mühe, noch ein bißchen etwas nachzutragen. Das wird jeder verstehen:
Jetzt möchte ich etwas sagen zu den Abgeordneten im Bundestag, die hier gleichzeitig als Vertreter von Interessengruppen sitzen, die einerseits als Abgeordnete reden und andererseits als Präsidenten oder Landespräsidenten oder Vorsitzende oder Syndizi oder wie das immer heißt,
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7844 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundeskanzler Schmidt— einschließlich Gewerkschaften —, sprechen, was ihr gutes Recht ist.
Worauf es mir heute morgen ankommt, ist, hier im Parlament selber einmal ins Bewußtsein zu heben, daß es da Grenzen gibt, daß es für das Parlament als Ganzes Grenzen geben muß, wo man sich dem Druck der Interessengruppen nicht stärker aussetzen darf. Mir scheint, daß wir in diesem Winter 1973 auf 1974 mit den Öleinsparungen, mit den Benzineinsparungen, die fast jeder in Deutschland willig auf sich genommen hat, mit dem ganzen Verlauf des Jahres bisher ein erfreulich hohes Maß an Einstellung, an freiwillig, aus eigenem Entschluß vorgenommener Ausrichtung auf das Gemeinwohl, auf das Gesamtwohl erlebt haben. Ich will hier kein „Wort zum Sonntag" über Staatsraison einflechten. Aber man muß das auch einmal sagen. Ich nehme an, Bundesregierung und Opposition stimmen darin überein, daß das Verständnis der Bürger und das Verständnis vieler Organisationen, die die Interessen einzelner Gruppen von Bürgern vertreten, für die Realität der Weltwirtschaft, für die Gegebenheiten unserer eigenen wirtschaftlichen Lage, für die Auswirkungen der Weltwirtschaft auf uns gewachsen ist und daß das nicht nur der Bundesregierung, sondern auch dem Parlament erleichtert, in schwierigeren Fahrwassern zurechtzukommen.Auf der anderen Seite gibt es, wenn man sich verbeugt und für den Common sense bedankt, für das Verständnis, das dem Gemeinwohl von vielen entgegengebracht wird, allerdings auch Gegenbeispiele. Ich möchte hier zwei oder drei ausdrücklich nennen, und ich weiß schon, daß es bei den Betroffersen nicht gut klingen wird und mir jedenfalls kein Lob und keinen Beifall einbringen wird. Ich habe kein rechtes Verständnis für den ungeschminkten Interessenegoismus, der hier und da lautstark zum Vorschein kommt in den Auseinandersetzungen mit dem Parlament oder mit der Regierung. Ich habe z. B. kein Verständnis dafür, daß Verbandssyndizi der Automobilindustrie dem Staat ansinnen, erstens die Mineralölsteuer zu senken, zweitens die Kilometerpauschale zu erhöhen, drittens die Mehrwertsteuer für den Gebrauchtwagenkauf zu halbieren und viertens noch die Kraftfahrzeugsteuer zu vermindern. Man kann das verlangen, aber ob es in Ordnung ist, daß das dann von Abgeordneten hier im Parlament aufgenommen wird, obwohl es doch offensichtlich weder finanzierbar ist noch der notwendigen Anpassung der Automobilwirtschaft helfen kann, darüber bitte ich nachzudenken.Ich gebe ein anderes Beispiel. Herr Friderichs hat gestern klargemacht, daß er — genauso wie wir alle in der sozialliberalen Koalition — von Lohnleitlinien nichts hält, daß er auch keine Lohnleitlinien ausgeben will, daß er auch nicht das mit den 10 % gesagt hat, was die „Bild"-Zeitung erfunden hat. Dies alles ist auch meine Meinung. Trotzdem möchte ich auf ein Beispiel zurückkommen, wo die 10 % eine Rolle spielen. Ich habe kein Verständnis dafür, daß der Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes, Herr Krause,
schon auf der Höhe dieses Sommers öffentlich gesagt hat: für die Beamten nicht unter 10 % Besoldungserhöhung im nächsten Jahr, und das mit warnendem Ton in der Stimme, der nicht zu überhören war. Ich habe dafür keinen Sinn. Die Preissteigerungen liegen bei unter 7 %; dazu kommt die Steuerreform. Was soll das eigentlich? Stellt sich dieser Verband oder sein Vorsitzender im Ernst vor, daß die Beamten in der Lohnbewegung der deutschen Wirtschaft die Führerschaft einnehmen sollen? Stellt er sich das vor?
Da frage ich mich, ob Kollegen im Deutschen Bundestag, egal, in welcher der drei Fraktionen, sich nicht überlegen sollten, daß man zu solchen Leuten Distanz halten muß, die in der Vertretung ihrer eigenen Interessen das Maß nicht halten können gegenüber den Interessen der Gesamtheit.
Ich bin ja ganz sicher, daß die große Mehrzahl der von diesem Verband vertretenen Beamten sich in Wirklichkeit gefragt hat: Na, muß denn das sein? und daß sie eher betreten war, als daß sie zugestimmt hätte,
wie ja häufig die Syndizi und die Präsidenten und die Geschäftsführer noch Interessen erfinden und verfechten, die die Mitglieder gar nicht so sehen. Die Tatsache, daß die Bauerndemonstrationen in allen sieben kontinentalen EG-Ländern gleichzeitig an den Grenzen stattfinden, ist doch wohl Zeichen dafür, daß die Geschäftsführer das organisiert haben und daß das nicht spontan war.
Es wird uns als „spontan" dargestellt.
— Wenn Sie diese Aktion der Landwirtschaft mit einem Streik gleichsetzen wollen,
dann nehme ich das gern auf. Der Baron Heereman wird sich hüten, es so darzustellen; aber wenn einzelne Abgeordnete in der Oppositionsfraktion — die in den Landesverbänden der Grünen Front großen Einfluß haben, meinen, das, was sie da tun, in die Nähe eines Arbeitskampfes bringen zu können, dann wird, fürchte ich, die andere Seite entsprechend antworten müssen. Diese Regierung jedenfalls läßt sich in ihren agrarpolitischen Beschlüssen weder durch Zermürbungstaktik in Nachtsitzungen in Brüssel noch durch Grenzdemonstrationen der angeblich europäisch gesonnenen Landwirte von dem Konzept wegbringen, das sie für notwendig hält.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7845
Bundeskanzler SchmidtWir werden auf dem Felde der Agrarpreise nicht mehr tun, als wir für notwendig halten.Ich muß einmal sagen: ich würde mir ein bißchen mehr Fairneß gegenüber dem Landwirtschaftsminister in der deutschen Öffentlichkeit gern wünschen. Der steht nämlich immer seinen Mann, nach beiden Seiten, in dieser Auseinandersetzung.
Deswegen, Hermann Höcherl, ist das auch nicht ganz richtig, was Sie gestern gesagt haben: wir hätten schon längst die Vorsteuerpauschale um 1 % heben müssen. Was heißt denn hier: „schon längst"? Die Bauernverbände haben dies schon längst gefordert. Sie haben sogar 1,5 °/o gefordert. Bewiesen, für mich als notwendig bewiesen sind sind nur 0,8 %, wahrscheinlich im kommenden Wirtschaftsjahr weitere 0,2 %; macht zusammen 1,0 %. „Schon längst"? Da will ich Ihnen mal antworten, Herr Höcherl. Schon längst wäre es interessant, daß die Landwirte — jedenfalls die großen, die sogenannten Gutsbesitzer, die Großbetriebe — endlich mal angefangen hätten, über ihre gezahlte Vorsteuer Buch zu fiihren
Es gibt ja wohl mehr als 498 große Landwirte in Deutschland. Nur so viele führen über ihre Vorsteuer Buch. Die anderen nehmen die Pauschale in Anspruch. Da muß ja noch ein Vorteil bei dieser Pauschale sein.Woran mir liegt, ist, das Parlament alle dreiFraktionen — darauf aufmerksam zu machen, daß man in schwierigen Zeiten gegenüber den Interessengruppen noch vorsichtiger sein muß als in Zeiten, wo man genug Geld hat.Der Bundesminister des Auswärtigen hat HerrProfessor Carstens, Sie werden sicherlich darauf zurückkommen — eine außenpolitische Erklärung für die Bundesregierung abgegeben. Sie müssen auch darauf zurückkommen. Denn was unmittelbar anschließend für die Opposition gesagt wurde, hat ja im Grunde, von Randbemerkungen abgesehen, nicht viel hinzugefügt: Da gibt es einen kleinen Punkt, den Herr Marx in seiner Auseinandersetzung mit Herrn Genscher brachte, auf den ich noch einmal zurückkomme. Er hat den Regierungssprecher Grünewald der bewußten Unwahrheit geziehen, wenn ich das richtig im Ohr habe. Dies ist ungerecht. Regierungssprecher dürfen nichts sagen, was nicht wahr ist. Hat er auch nicht getan. Aber sie sind nicht verpflichtet, alles zu sagen, was sie wissen. Dazu ist nicht einmal die Opposition verpflichtet. Ich auch nicht. Man darf nichts sagen, was nicht wahr ist. Die Regierungssprecher haben die Absicht einer Anleihe von Deutschland an Italien dementiert. Das haben wir auch nie vorgehabt, haben wir auch nicht gemacht. Worum es sich handelt, ist ein allerdings zwischen Regierungen ausgehandelter, weil ungewöhnlich großer Swap-Kredit zwischen Zentralbanken. Keine Anleihe, sondern ein Währungs-Swap, der ganz routinemäßig wäre, wenn er nicht so groß wäre und wenn er nicht — erstmalig in der Welt — die Goldpfandgrundlage hätte. Wir waren im Recht,die Gerüchte von einer Anleihe zu dementieren. Wir mußten das übrigens auch tun, weil sonst in der Öffentlichkeit eines anderen Landes Erwartungen entstanden wären, die wir auf keinen Fall erfüllen konnten. Wir konnten keine Anleihe geben. Wir waren nicht verpflichtet zu sagen, worüber wir wirklich verhandelten: nämlich über einen in Gold gesicherten kurzfristigen Währungsbeistand.Ich bitte also die Kritik, wenn nötig, weiterhin an die Regierung zu richten, aber jedenfalls nicht an den Regierungssprecher. Der hat sich hier korrekt benommen.Ich möchte eine Bemerkung machen zu dem Abendessen der Regierungschefs in Paris, das Herr Professor Carstens in Berlin kritisiert hat.
Herr Carstens, so wie es zur Abstimmung der Politik innerhalb Ihrer Fraktion ab und zu notwendig ist, daß ein Arbeitskreis oder die Fraktion zusammentritt, ohne daß damit schon Gesetzesbeschlüsse in einem solchen Gremium gefaßt werden, so ist es ganz gut, wenn diejenigen, die miteinander Politik machen sollen, auch ansonsten und in Europa bisweilen mal leger zusammensitzen, ohne daß das alles protokolliert und aufgeschrieben wird. Einer der Punkte, die in diesen Tagen sehr aktuell geworden sind — Sie werden das heute abend in den Nachrichten hören oder morgen in den Zeitungen lesen —, war der, daß wir in dieser Unterhaltung sehr darauf gedrängt, ja insistiert haben, daß man gemeinsam eine Bestandsaufnahme der sogenannten gemeinsamen Agrarpolitik macht, der Instrumente wie auch der bisherigen Resultate, weil das in Wirklichkeit ein doppelter Euphemismus ist. Weder ist das noch eine Politik, noch ist sie gemeinsam. Es ist ein sehr durchlöchertes Gewebe geworden, mit großen Beschwernissen für alle, für Konsumenten, für Landwirte, mit sehr verschiedenartigen Beschwernissen in verschiedenen Ländern, kaum noch zu durchschauen. Ich hoffe, daß sich die Bestandsaufnahme entwickeln wird.Eine zweite Bemerkung. Es wird ein bißchen philosophiert über freundschaftliche Beziehungen zwischen dem französischen Staatspräsidenten und mir. Es ist wahr, wir sind in einer freundschaftlichen Beziehung. Aber es wäre ein großer Fehler, daraus zu lesen — wie man in der französischen Presse das tat —, dies wäre ein Tandem. Ein Tandem ist nach meiner Vorstellung ein Fahrrad, auf dem zwei strampeln, aber nur einer den Lenker in der Hand hat. Das ist es nicht. Es ist auch nicht eine Achse, wie zum Teil in den Zeitungen zu lesen steht, sondern es ist die enge Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn; eine notwendige, aber natürlich in keiner Weise eine hinreichende Voraussetzung für den weiteren Fortschritt in Europa.Ich finde, Herr Professor Carstens, Ihre Fraktion sollte das nicht kritisieren, sie sollte sich im Gegenteil eher daran erinnern, wie das war zwischen Herrn Schröder und Herrn Couve de Murville, wie das war zwischen Herrn Kiesinger und Herrn de
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7846 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundeskanzler SchmidtGaulle und Pompidou, und sie soll froh sein, daß es im Augenblick etwas anders ist.
— Richtig, es gab auch schon mal zwischen Adenauer und de Gaulle eine gute Zeit. Aber zwischen Kiesinger und de Gaulle war das schon wieder ganz anders.Nun möchte ich für Herrn Professor Carstens noch hinzufügen, daß entgegen der Vermutung, die einige aus Ihrer Fraktion geäußert haben, ganz sicher die Ministerpräsidenten der anderen sieben Staaten weder Zweifel haben an dem ernsten und realistischen Willen zum europäischen Fortschritt bei der deutschen Bundesregierung, noch Zweifel haben an dem realistischen Willen zum Fortschritt bei dem französischen Staatspräsidenten. Ich finde, aus deutscher Quelle sollten solche Zweifel nicht weiter gesät werden.Ich bin auch eine Antwort schuldig auf die zweite Frage von Herrn Strauß vorhin, warum wir das mit der Gewährung eines steuerlichen Verlustvortrages nicht machten. Herr Strauß, Sie haben gleichzeitig mit Herrn Jaumann und Herrn Höcherl — also die drei wirtschaftspolitischen Sprecher der CSU — viele Vorschläge gemacht, und die Summation all dieser Ihrer steuerpolitischen Vorschläge erschreckt einen und läßt einen zurückschrecken. Es fängt an mit der Kilometerpauschale, die Sie erhöhen wollen; das sind 1,3 Milliarden DM im Jahr. Es geht weiter mit der Senkung der Mehrwertsteuer für Mineralöl von 11 auf 71/2 Prozent; das sind 1,5 Milliarden DM im Jahr. Wiederherstellung der Abzugsfähigkeit von Schuldzinsen bei Kfz-Krediten; das sind 300 Millionen im Jahr. Das war Herr Jaumann, nicht Herr Strauß. Dann wieder Herr Strauß: Halbierung der Mehrwertsteuer beim Gebrauchtwagenkauf; etwa 100 Millionen im Jahr. Dann Herr Höcherl: befristete Halbierung der Mehrwertsteuer für alle Konsumgüter; macht 4,7 Milliarden im Jahr.
Dann Herr Strauß: Stundung oder Erlaß der Vermögensteuer für Unternehmer, die mit Verlust arbeiten; 100 Millionen DM im Jahr. Dann kommt die Sache mit dem Verlustrücktrag in die vergangenen beiden Jahre, die ich nicht beziffern will, weil im Augenblick noch nicht zu übersehen ist, ob und wieviel das kostet. Sicher kostet es was. Wenn es dem Staat Geld brächte, würden Sie es nicht vorschlagen.
Dann Aussetzung der Kfz-Steuer beim Neuwagenkauf für ein Jahr — auch Herr Strauß —: 300 Millionen DM.Das sind, nur Herr Strauß, Herr Jaumann und Herr Höcherl, d. h. nur die CSU, zusammen 10 200 Millionen. Und wenn die CDU, die noch ein bißchen größer ist, dazukommt, dann hat man eine gewisse Vorstellung, was man von der Seriosität Ihrer ganzen finanzwirtschaftlichen Politik denken darf.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Strauß?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, ist Ihnen nicht bekannt, wenn Sie diese von mir angeblich und auch so formulierten, richtig wiedergegebenen Vorschläge zitieren
— doch; Sie werden gleich begreifen, warum ich „angeblich" sage —, daß ich vor diesen Anregungen in einem Interview erklärt habe: Wenn es in der Automobilindustrie so weitergeht.
Das sollte keine Aufforderung sein, das jetzt zu tun.
Ist Ihnen aus der Zeit, in der Sie Fraktionsvorsitzender der SPD in der Großen Koalition waren, nicht bekannt, daß damals im Einvernehmen zwischen dem damals noch Ihrer Partei angehörenden Wirtschaftsminister und dem damaligen Finanzminister diese Vorschläge für den Fall eines weiteren Absinkens der Konjunktur in dem Schlüsselbereich der Automobilindustrie als eine weitere Alternative in der Schublade bereitgehalten worden sind? Darum geht es!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Strauß, es war mir nicht bekannt, daß Sie Ihre Vorschläge mit dieser aufschiebenden Bedingung — —
— Ich glaube es Ihnen ja. Ich wollte gerade sagen: ich finde es auch sehr gut, daß Sie unter dem Eindruck dieser Debatte nun auch für die Öffentlichkeit das reduzieren, was Sie die Öffentlichkeit bisher glauben gemacht haben; ich finde das wunderbar.
Das, was Sie soeben gesagt haben, kritisiere ichnicht; ich stimme dem zu. Herr Strauß, das ist einSchritt der Vernunft, den Sie soeben getan haben.
Herr Strauß hat gestern gesagt — ich habe mir den Satz mitgeschrieben —: „Konjunkturpolitik ist in erster Linie Psychologie". Das war sein Satz, an dem sicherlich viel Richtiges dran ist. Wenn wir beide anerkennen, daß Psychologie eines der wichtigsten Instrumente der Konjunkturpolitik ist — so würde ich mich ausdrücken; da sind wir ungefähr auf derselben Linie —, dann frage ich mich, warum der Spitzenredner Ihrer Fraktion, Herr Professor Carstens, wenn das doch Psychologie, wenn das doch Konjunkturpsychologie sein soll, hier alles schwarz in schwarz gemalt hat, und warum er Steuersenkungen versprochen oder als möglich an die Wand gemalt hat, von denen er selber weiß, daß sie nicht verwirklicht werden können, d. h. warum er eine
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7847
Bundeskanzler SchmidtPsychologie gegenüber dem Konsumenten, dem Arbeitnehmer, dem Unternehmer getrieben hat, die nichts anderes als Enttäuschung über das herbeiführen kann, was der eine verspricht und der andere nicht halten kann. Was ist der innere Zweck einer solchen schwarzmalerischen Rede, Herr Strauß, die weit übertreibt — das können Sie heute auch in den Zeitungen bescheinigt finden —, wenn Sie sich doch gleichzeitig der Tatsache bewußt sind, daß Sie damit Konjunkturpsychologie machen?Sehen Sie, das ist eine Selbstenthüllung gewesen. Sie möchten allesamt innerlich ganz gern — das verstehe ich auch; das würde vielleicht eine Chance bieten, uns hier von den Regierungsbänken zu depossedieren —, daß es wirtschaftlich noch schlechter würde. Wenn es das nicht wird, dann möchte man es wenigstens so darstellen!
Ich möchte am Schluß ein paar Fragen an Professor Carstens stellen.
Meine Damen und Herren, ich bitte zuerst um Ruhe. Dann frage ich den Herrn Bundeskanzler, ob er eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel beantworten will.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde gern zu jeder Zeit eine Frage des Kollegen Barzel beantworten; aber es ist leider so, daß der Herr Kollege Barzel nicht mehr für seine Fraktion spricht; das tut Herr Strauß, und auf den muß ich mich hier konzentrieren. Das tut auch Herr Carstens.
Ich möchte diese Oppositionsführung wirklich fragen, ob sie — —
Ich bitte um Ruhe!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wer hier grobe Klötze setzt, der muß auch grobe Keile ertragen können!
Hier ist gestern von Herrn Strauß wörtlich gesagt worden, daß an die Einlassung der Opposition in der Haushaltsrede andere Anforderungen zu stellen seien als an die Einbringungsrede des Bundesfinanzministers. So wohl wörtlich. Ich möchte gerne wissen, welche Anforderungen Sie selber an Ihre eigene Opposition stellen, was Sie eigentlich hier bieten wollen.
Ich stelle Ihnen eine Reihe von Fragen, Herr C a r s t e n s. Werden wir jetzt von dem Professor Carstens wieder nur von dem Guillaume-Ausschuß hören oder was die „Wirtschaftswoche" das letzte Mal geschrieben hat oder der „Spiegel" oder „Die Welt", oder was die „Quick" geschrieben hat, oder was Sie Herbert Wehner andichten wollen, oder was Sie Willy Brandt andichten wollen?
Wird das jetzt das Manuskript Ihrer Rede sein? Oder, Herr Carstens, sind Sie in der Lage, auf Fragen zu antworten, die Sie bisher weder in aufgeregten Zwischenrufen noch in der vorbereiteten Rede des Herrn Strauß oder des Herrn Althammer oder des Herrn Höcherl beantwortet haben? Da Sie den Zustand Europas so beklagen, was würde denn eine Regierung Carstens /Strauß eigentlich tun,
damit die wirtschaftliche Entwicklung in Italien und Dänemark und Irland und England ein bißchen der unseren angenähert würde?
Was würde denn eine Regierung Carstens /Strauß wirklich auf dem Felde der Steuersenkung tun? Würden Sie jetzt eine Steuersenkung von 10 Milliarden DM vornehmen, Herr Carstens? Oder haben Sie es nur so mal sagen lassen, damit das Publikum denkt, Sie würden es vielleicht machen? Würden Sie es tun, oder würden Sie es nicht tun? Ist denn das überhaupt ernst zu nehmen? Haben Sie im Ernst die Absicht, eine Regierung Carstens/ Strauß zu bilden? Das möchten wir auch ganz gerne einmal wissen.
Wenn das so sein sollte, Herr Professor Carstens, was wäre denn Ihr konkretes Programm, wirtschaftlich, finanzwirtschaftlich, gesellschaftspolitisch? Welche Reformen wollen Sie betreiben?
Ich fürchte allerdings, Herr Professor Carstens, daß es Ihnen schwerfallen wird. Sie haben sich auf diese Fragen nicht vorbereitet. Sie werden jetzt eine Polemik aus dem Handgelenk improvisieren müssen.
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7848 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundeskanzler SchmidtVergessen Sie dabei ein Zitat nicht, das ich Ihnen aus dem Munde des fünften vorlesen darf. Das hat Professor Biedenkopf vor ein paar Monaten einen Vortrag gehalten. Darin steht:
Für die Unionsparteien bietet die zu erwartende wirtschaftliche Strukturveränderung die einmalige Chance, ein langfristiges wirtschaftspolitisches Konzept zu entwickeln, das eine echte und überzeugende Alternative zum Langzeitprogramm der SPD ist.Daran ist mehreres interessant, vor allen Dingen auch das Futurum, in dem er spricht. Sie wollen ein Programm entwickeln. Es ist offenbar noch nicht .da. Nun geht es aber noch sehr interessant weiter, Herr Carstens.
Ein solches wirtschaftspolitisches Kontrastprogramm zum Programmentwurf der SPD hält Herr Professor Biedenkopf für um so notwendiger — und nun kommt es wörtlich —, als die CDU/CSU ja nicht versprechen könne, sie werde die Preise um 3 % senken, wenn sie an die Macht komme; wohl aber könne überzeugend dargelegt werden, daß man die Zeichen der Zeit besser verstehe.
Einer Ihrer zugegebenermaßen klügsten und auch fairsten Politiker stellt also fest, daß Sie das nicht können.
Er sagt allerdings draußen, daß Sie das nicht können, was Sie hier im Parlament vortragen.
Ich finde, Sie sollten dann in Ihrer Polemik etwas zurückstecken. Wenn Sie das nicht können, sollten Sie unsererseits Polemik ertragen und sollten sich hierherstellen und dem Volk und uns sagen, was Sie wirklich machen wollen, und nicht nur sagen, alles, was die anderen tun, sei schlecht. Wir sagen auch nicht, es sei alles schlecht, was Sie denken. Wir erkennen an, daß Sie zu Plänen auf dem Felde der Vermögensbildung beigetragen haben. Wir erkennen an, daß Herr Professor Biedenkopf beiträgt. Wir erkennen an, daß viele hier beitragen. Und es tut mir in der Seele weh, daß ich Herrn Barzel in dieser Schlußphase nicht habe antworten wolle n. Er hat auch beigetragen, j a.
— Bei dem Geschrei, das Sie jetzt erheben, wissenSie doch selber, daß Sie einen guten Fraktionsführer hergegeben haben und noch nicht genausicher sind, was für einen Sie gekriegt haben, meine Damen und Herren.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Professor Carstens.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Herrn Bundeskanzlers, die wir hier soeben gehört haben, bestärkt mich in meiner Absicht, meinerseits etwas weiter auszuholen und zu einigen etwas grundsätzlicheren Fragen Stellung zu nehmen, als dies der Bundeskanzler in seiner Aneinanderreihung von einzelnen Episoden in seiner Rede getan hat.Es ist jedesmal wieder beeindruckend, Herr Bundeskanzler, mit welcher Lautstärke Sie einige Ihrer Argumente vorgetragen, und jedesmal, wenn Sie das tun, entgleisen Sie insofern, als Sie nicht mehr auf die Argumente eingehen, die die Opposition bringt, sondern andere Argumente bekämpfen, die die Opposition niemals gebracht hat.
Eines aber muß ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, sagen: Ihre Behauptung, die Opposition wünsche den wirtschaftlichen Niedergang dieses Landes, um daraus politisches Kapital zu schlagen, ist eine ungeheuerliche Verleumdung,
die ich zurückweisen muß. Sie ist nicht nur eine ungeheuerliche Verleumdung, für die kein Sprecher der Opposition jemals auch nur andeutungsweise Anhalt geboten hat, sondern Sie wissen ebenso wie jeder intelligente Politiker in diesem Lande, daß, wenn unser Land im wirtschaftlichen Chaos stünde, keine Regierung — ganz einerlei, wer es sein würde — einen leichten und erstrebenswerten Stand haben würde. Deswegen muß ich Ihnen leider erneut vorwerfen, Herr Bundeskanzler, daß Sie vor den Mitteln unwürdiger Demagogie nicht zurückschrecken, um die Opposition zu verteufeln.
Ich möchte, wie ich gesagt habe, weiter ausholen und mich mit der Politik des Bundeskanzlers etwas grundsätzlicher auseinandersetzen; mit der Politik des Bundeskanzlers, der nunmehr etwa vier Monate in seinem Amt ist. Der Bundeskanzler selbst sieht sich als einen aktiven, kämpferischen Politiker an, als einen Mann von Willenskraft und schnellen Entschlüssen und als einen Mann, der glaubt, auf alle Fragen und Probleme die richtige Antwort zu wissen. Bei näherem Zusehen stellt sich allerdings heraus, daß er innerhalb relativ kurzer Zeit auf die Fragen zu den gleichen Problemen genau entgegengesetzte Antworten gibt, und das mindert das Gewicht seiner Erklärungen in erheblichem Maße.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7849
Dr. Carstens
Ich möchte Sie, Herr Bundeskanzler, daran erinnern, daß es noch keine zwei Jahre her ist, als Sie sagten, 2 % Arbeitslosigkeit würden eine schwere Fehlentwicklung zur Folge haben und zu schwersten innenpolitischen Verwerfungen führen. Heute sprechen Sie, wenn wir eine Arbeitslosenquote von 2,3 % haben, davon, daß das strukturelle Anpassungserscheinungen seien. Der Arbeitsminister stellt sich hier hin und sagt, die meisten Arbeitslosen seien ohnehin Frauen. Ich weiß überhaupt nicht, was das mit diesem Problem zu tun haben soll.
Und dann heißt es immer wieder, in Amerika sei die Zahl der Arbeitslosen wesentlich größer. Sie, Herr Bundeskanzler, betreiben eine systematische Verharmlosungspolitik gegenüber dieser wirtschaftspolitischen Erscheinung, die Sie selbst noch — ich messe Sie an Ihren eigenen Worten — vor zwei Jahren als ein schweres wirtschaftliches Übel bezeichnet haben.
Dabei verschweigen Sie, Herr Bundeskanzler, Ihren eigenen Anteil an dem Zustand, in dem wir uns befinden. Sie haben Inflation in diesem Lande geschaffen!
Ich habe nicht gesagt, die Opposition hat nie gesagt — —
— Lassen Sie mich doch zu Ende reden; unterbrechen Sie mich doch nicht sofort!
— Lassen Sie mich doch zu Ende reden, Herr Kollege Ehrenberg! Sie werden hören, was ich sage. Ich behaupte nicht, die Opposition behauptet nicht, daß die Regierung die alleinige Schuld und die alleinige Verantwortung für die Inflation trifft. Das ist das Argument, gegen das Sie dauernd polemisieren, Herr Bundeskanzler. Damit schießen Sie ins Leere. Aber wir behaupten, daß die Regierung und speziell Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer früheren Eigenschaft als Bundesminister der Finanzen einen erheblichen Anteil an dieser Entwicklung gehabt haben und daß Sie Inflation in diesem Lande mit herbeigeführt haben.
Zur Begründung verweise ich auf die aufgeblähten Bundeshaushalte der zurückliegenden vier Jahre. In diesem Jahr wird uns ein Bundeshaushalt vorgelegt, von dem die Regierung voller Stolz erklärt, er enthalte nur eine Steigerungsrate von 8,7 %. Ob das richtig ist oder nicht, lasse ich dahingestellt. Wir haben dagegen erhebliche Einwendungen. Unsere Berechnungen belaufen sich auf 13 %. Aber immerhin, die Regierung setzt den Maßstab 8,7 % und sagt doch damit ganz offensichtlich, daß eine solche Steigerungsrate von 8,7 % nach ihrer Auffassung stabilitätsgerecht ist. Damit fällt aber doch die Regierung, meine Damen und Herren, ein vernichtendes Urteil über den Mann, der bis vor einigen Monaten der Finanzminister der vorigen Regierung gewesen ist,
denn die Haushalte, die in den Jahren seit 1971 vorgelegt worden sind, enthalten Steigerungsraten von 13,1 %, 12,4 %, 10 % und 12 %. Den Versuchen der Opposition, diese Haushalte auf ein stabilitätsgerechteres Maß zu reduzieren, hat sich die Bundesregierung, wie wir uns alle noch deutlich erinnern, stets widersetzt.Der zweite Vorwurf, den wir der Regierung und speziell Ihnen, Herr Bundeskanzler, machen, ist der Vorwurf, daß Sie sich in den Tarifrunden — jetzt spreche ich von den Tarifrunden im öffentlichen Dienst — vor einem Jahr nicht an die Grundsätze gehalten haben, die Sie selbst verkündet hatten.
Heute kritisieren Sie das, was Herr Krause angeblich gesagt hat. Es wäre richtiger und der Wahrheit dienlicher gewesen, wenn Sie in diesem Zusammenhang den Herrn Kluncker erwähnt hätten
und das, was er vor einem Jahr nicht nur gesagt, sondern getan hat.Meine Damen und Herren! Ich will jetzt nicht auf die Frage eingehen, ob und in welchem Umfang die Bundesregierung Daten für die Tarifrunden setzen sollte. Das ist gestern lange und breit diskutiert worden. Herr Minister Friderichs, Sie haben erklärt — und ich nehme Ihnen das selbstverständlich ab —, daß in einem Interview, das in der Zeitung „Bild" erschienen sei, ein Satz aufgenommen worden sei, der nicht von Ihnen autorisiert gewesen sei. Aber, Herr Minister Friderichs, ich glaube, Sie hätten dann doch wohl gut daran getan, zu erwähnen, daß Sie nach einem dpa-Bericht wenige Tage vorher gesagt haben: „Generell scheinen mir zweistellige Zuwachsraten im Jahr 1975 zu hoch gegriffen zu sein. Das gilt nicht nur für den Tarifbereich." Daraus schließe ich, daß, wenn auch in der „Bild"-Zeitung etwas gestanden haben mag, was Sie nicht gesagt haben, Sie an anderer Stelle diese Erklärung abgegeben haben.Und auch Sie, Herr Minister Friderichs, bedienen sich der Taktik, die ja im politischen Kampf und in der politischen Auseinandersetzung naheliegt, indem auch Sie die Opposition mit Argumenten angreifen, die überhaupt nicht das treffen, was die Opposition fordert. Sie wenden sich in ihrer Rede mit großer Vehemenz dagegen, daß man jetzt ein Durchstarten verlangt, und richten sich mit Ihren Bemerkungen an die Opposition. In Wirklichkeit hat niemand von der Opposition im jetzigen Zeitpunkt ein Durchstarten verlangt.
Es wäre gut, wenn Sie das hinzugefügt hätten.
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7850 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Dr. Carstens
Ein anderes Beispiel für die Schnelligkeit, mit der der Bundeskanzler seine Antworten und seine Ansichten zu bestimmten politischen Fragen ändert, ist ein Interview, das er in der Zeitung „Bild am Sonntag" vor einem Jahr gegeben hat. Damals hat er gesagt: „Es ist vielleicht mal ganz gesund, wenn ein paar Unternehmen pleite gehen." Herr Bundeskanzler, das müssen Sie sich vorhalten lassen, das sind Ihre Worte. Ich kenne kaum eine zynischere Bemerkung zu diesem Thema. Denn es handelt sich ja nicht nur darum, daß die betroffenen Unternehmen pleite gehen, daß sie in Konkurs gehen oder daß sie insolvent werden oder wie immer Sie das nennen wollen, sondern es handelt sich darum, daß die Arbeitsplätze verlorengehen.
Es handelt sich darum, daß die Gläubiger in Mitleidenschaft gezogen werden, Gläubiger, die nicht zu denen gehören, denen man nach Ihrer Auffassung, Herr Bundeskanzler, eine Pleite wünschen sollte. Allerdings hören wir jetzt plötzlich ganz andere Töne, jetzt hören wir schwere Besorgnisse über die Folgen der Herstatt-Pleite, Sorgen, die wir selbstverständlich voll und ganz teilen. Ich meine nur, daß dieses Land von seinem Regierungschef verlangen kann, daß er nicht alle 12 oder 24 Monate seine Ansichten in solchen Fragen um 180 Grad dreht.
Dann das letzte Beispiel. Dieses ominöse Wort aus dem Wahlkampf haben wir alle noch vor Augen: 5 % Inflation sind besser als 5 % Arbeitslosigkeit."
— Natürlich ist das eine olle Kamelle. Aber es ist ganz gut, wenn man sie zur Auffrischung Ihres Gedächtnisses gelegentlich wiederholt.
Sie sagen, Herr Bundeskanzler, ob das denn nicht richtig sei: 5 % Inflation sind besser als 5 % Arbeitslosigkeit. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist doch, daß Sie zum damaligen Zeitpunkt die Meinung vertraten, etwas Inflation sei ganz gut und sei sogar à la longue das richtige Mittel, um die Arbeitsplätze zu erhalten.
Das war der fundamentale Irrtum, dem Sie unterlegen sind. Das war der Punkt, an dem Sie und wir in einem fundamentalen Gegensatz zueinander standen. Es stünde Ihnen gut an, Herr Bundeskanzler, wenn Sie heute, wo Sie sagen, Inflation muß überall bekämpft werden, wo Sie auf Frau Noelle-Neumann hinweisen und sagen, daß ein großer Teil unserer Bevölkerung jetzt begriffen hat, daß man durch Inflation letzten Endes auch seine Arbeitsplätze gefährdet, erklären würden: Ich habe mich in diesem Punkt geirrt. Ich muß Ihnen, Herr Bundeskanzler, überhaupt sagen, die Auseinandersetzung mit Ihnen würde außerordentlich erleichtert werden, wenn Sie sich dazu durchringen könnten, den Mut oder die Ehrlichkeit — wie immer man das nennen will — zu haben und zu sagen: Jawohl, ich habe mich damals geirrt. Dann würden wir uns über diesen Punkt einigsein und könnten wir über viele Fragen wesentlich sachlicher diskutieren, als wenn Sie — so wie Sie das tun — jede Verantwortung für die Entwicklung abstreiten und auf die weltwirtschaftlichen Verwerfungen, auf die Steigerung der Rohölpreise, die sonstigen Rohstoffkosten usw. usw. hinweisen und jedes Mal verschweigen, welches Ihr Anteil an dieser Entwicklung ist.
Schließlich wird gesagt: Wir konnten ja nicht eher eine stabilitätskonforme Politik betreiben, weil wir die außenwirtschaftliche Flanke nicht gesichert hatten. Das ist das Argument, das jetzt in zunehmendem Maße — ich möchte sagen, im Quadrat mit der zeitlichen Entfernung zu den damaligen Ereignissen — in die Debatte geworfen wird. Der Punkt ist doch, daß Sie glaubten, Sie brauchten Inflation, um die Arbeitsplätze zu sichern. Das ist doch ein Argument, das völlig neben der Sache liegt. Ich bin der Meinung, daß Sie, wenn Sie die Gefahr der Inflation im richtigen Zeitpunkt wirklich erkannt hätten, auch Mittel und Wege gefunden hätten, die außenwirtschaftliche Flanke abzusichern. Dies haben Sie gar nicht versucht, sondern Sie haben gewartet, bis die außenwirtschaftliche Entwicklung ohnehin so lief, daß Sie floaten konnten und damit dieses Argument jetzt in die Debatte werfen können.
— In der Tat, ich danke. Als Herr Schiller dies machen wollte, hat der damalige Finanzminister Schmidt einen Kampf gegen ihn eröffnet, der zum Rücktritt des Herrn Schiller geführt hat.
— Nein, ich stütze mich auf Herrn Müller-Hermann, der ja, Herr Bundeskanzler, damals im Parlament war und der das ja auch offenbar weiß.
— Bundeskanzler Schmidt: Bloß, Herr Carstens, daß ich
damals wirklich nicht Finanzminister gewesen bin! — Zurufe von der SPD)— Was immer Sie gewesen sein mögen, Herr Bundeskanzler, Sie haben die Rolle gespielt, die Herr Müller-Hermann hier zu Recht umschrieben hat und die ich aufgenommen habe.Meine Damen und Herren, es wird immer gesagt, wir malten schwarz in schwarz, wenn wir die Folgen der Inflation schildern. Ja, was sollen wir denn tun? Erwartet die Regierung von uns, daß wir sagen: 7 % Inflation sind eine großartige Sache, laßt uns damit möglichst lange leben und zufrieden sein!? Wir müssen doch darauf hinweisen, welche verheerenden Folgen diese Inflation nicht nur auf dem Sektor der Sicherung der Arbeitsplätze, sondern auch in Bereichen hat, von denen hier in diesen Tagen wenig gesprochen wird, auf die ich aber doch eingehen möchte, z. B. beim Verteidigungshaushalt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7851
Dr. Carstens
Er steigt, wenn man die Personalkosten abzieht, im Jahre 1975 —
— Natürlich, ich muß doch feststellen, welches die reale Steigerung der Verteidigungsanstrengungen ist! Da kann ich doch nicht die erhöhten Gehälter von vornherein als reale Steigerung unserer Verteidigungsanstrengungen ansehen!
Der Verteidigungshaushalt steigt nach Abzug der Personalkosten um 3,6 %. Das ist die Hälfte der zu erwartenden Inflationsrate. Das bedeutet also, daß er real sinkt, und dies, meine Damen und Herren, in einer Lage, in der es mit der Verteidigung der freien Länder Europas nicht zum besten aussieht. — Herr Kollege Gansel, Sie lachen. Ich finde das gar nicht lächerlich. Ich finde es in hohem Maße traurig, daß das so ist.
Denn es sieht auf der anderen Seite, bei unseren östlichen Partnern, Gegenspielern — wie immer Sie sie nennen wollen —, ganz anders aus. Die Sowjetunion rüstet systematisch weiter und betreibt eine Rüstungspolitik, die uns allen, soweit wir über diese Dinge überhaupt nachdenken, zu schaffen macht und uns große Sorge bereitet.
Herr Kollege --
Ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen; ich bin gleich fertig. — Ich sage ja nicht — und ich will in keiner Weise hiermit den Eindruck erwecken — daß ich annähme, daß die Sowjetunion mit ihren gesteigerten militärischen Kräften einen Angriff auf unser Land oder andere westliche Länder vom Zaun brechen würde. Aber es kann doch niemand seine Augen vor der Tatsache verschließen, daß militärisches Potential ein Element in der Kräftegleichung der Welt ist. Und wenn auf der einen Seite das militärische Potential ständig steigt und auf der anderen Seite sinkt, wie es leider — wie ich dargelegt habe — hier der Fall ist — und ich gebe zu: in anderen westeuropäischen Ländern noch mehr —, dann eröffnet das die Möglichkeit eines politischen Druckes, der uns mit Sorge erfüllt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Berkhan?
Herr Kollege Professor Carstens, darf ich aus Ihrer Rede entnehmen, daß Ihre Fraktion beantragen wird, den Einzelplan 14 zu erhöhen, und würden Sie dann bitte dem Haus darlegen, wo Abstriche gemacht werden sollen?
Herr Kollege Berkhan, auch Sie gehören — wenn ich auch zugebe, daß das bei Ihnen seltener ist als bei Ihren Kollegen — zu denjenigen, die in eine Richtung argumentieren, die ich nicht bezogen habe. Ich habe nicht von einer Erhöhung des Verteidigungshaushalts gesprochen,
sondern ich habe festgestellt, daß die Inflation nicht nur auf dem Sektor der Arbeitsplätze, nicht nur bei den Sparern und allen möglichen anderen Bevölkerungsgruppen Rückwirkungen, Rückschläge und Schäden verursacht, sondern auch im Verteidigungshaushalt. Ich möchte annehmen, Herr Kollege Berkhan, daß wir in diesem Punkte miteinander übereinstimmen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Opfer der Inflation ist der gesamte Bereich der sozialen Sicherung unserer Bürger. Von den sozialdemokratischen Rednern wird im Hause und außerhalb dieses Hauses stets mit großem Nachdruck auf die Verbesserung der sozialen Sicherung hingewiesen. Dies wird regelmäßig als ein Verdienst der Sozialdemokratischen Partei in Anspruch genommen, was falsch ist. Wir alle wissen, welchen entscheidenden Anteil die CDU/CSU-Fraktion zum Beispiel bei der Rentenanpassung geleistet hat.
Aber lassen Sie uns doch einmal ganz ruhig, nüchtern und sachlich feststellen, welche Wirkungen die Inflation für den sozialen Bereich hat. Die durch die Steuerreform vom 1. Januar 1975 ab wirksam werdenden Steuerentlastungen werden zu einem erheblichen Teil durch Beitragserhöhungen in der Sozialversicherung aufgezehrt werden. Es drohen Beitragserhöhungen in der Sozial- und Krankenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung. Dabei ist noch nicht einmal sichergestellt, daß diese Mehrbelastung ausreichen wird, um das Finanzierungsproblem der Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr zu lösen. Auch die Bezieher von Sozialeinkommen — die Rentner, Kriegsopfer, Lastenausgleichsrentner — sind durch die inflationäre Entwicklung schwer betroffen. Den Rentnern werden mehr als zwei Drittel der Rentenerhöhungen durch die Preissteigerung wieder weggenommen. Nur die von der CDU/CSU durchgesetzte halbjährige Vorziehung der Rentenanpassung
— gegen den Willen der SPD; so ist es — hat sicherstellen können, daß den Rentnern in den letzten Jahren ein geringer Teil des Produktivitätszuwachses zugute gekommen ist.
Bei diesen Gruppen wirkt sich zusätzlich noch verschärfend aus, daß die nominellen Einkommenssteigerungen vielfach zu erheblichen Kürzungen in anderen Bereichen, bei einkommensabhängigen Leistungen der öffentlichen Hand, führen, wie z. B. beim Wohngeld oder bei der Ausbildungsförderung.
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7852 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Dr. Carstens
Besonders betroffen von der Wirtschaftspolitik und der Inflation sind die kinderreichen Familien. Das jahrelange Stagnieren des Familienlastenausgleichs wird durch die Neuordnung vom 1. Januar 1975 ab nicht ausgeglichen. Der Verzicht auf die Anpassung der Leistungen an die wirtschaftliche Entwicklung wird auch bei dem neuen Leistungssystem schnell zu einem weiteren Absinken der Kaufkraft kinderreicher Familien führen. Infolgedessen müssen wir, ungeachtet gewisser Entlastungen, die die Neuregelung des Kindergeldes bringt, die kinderreichen Familien wegen der Inflation weiterhin als einen Teil unserer Bevölkerung im Auge behalten, dem unsere besondere Obhut und dem unsere besondere Aufmerksamkeit gelten muß.
Betroffen sind die Sparer, insbesondere die älteren Mitbürger, die zeit ihres Lebens Geld zurückgelegt haben in der Hoffnung, davon ihren Lebensabend bestreiten zu können, und die heute vielfach über weniger verfügen als die Sozialhilfeempfänger. Ältere Menschen — dies sind Beispiele, die wahrscheinlich jedem von uns vor Augen stehen —, die ihr Leben lang gearbeitet haben und in Altersheimen wohnen, sind in zunehmender Zahl nicht mehr in der Lage, die Kosten für die Unterbringung aus ihrem Renteneinkommen zu bestreiten.Meine Damen und Herren, wenn wir dies alles sagen, malen wir doch nicht schwarz in schwarz, sondern wir tun nichts weiter als unsere Pflicht, und ich meine, es wäre auch die Pflicht der Regierung, den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu sagen: Wir sehen eure Sorgen, wir kennen eure Sorgen!
Meine Damen und Herren, zu diesem Thema noch ein weiterer Punkt: Es kommt immer die Argumentation — auch der Bundeskanzler hat sie gebracht, der Finanzminister und der Wirtschaftsminister haben sie gestern gebracht —: In den anderen Ländern ist die Inflation noch höher als bei uns. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz schlechtes Argument. Erstens weise ich darauf hin — und hier nehme ich eine Kontroverse mit den Herren Friderichs, Graf Lambsdorff und Ehrenberg, den ich leider nicht sehe, aus einer der früheren Sitzungen wieder auf—: Es war in den Jahren, in denen die Bundeskanzler Adenauer, Erhard und Kiesinger in diesem Lande regierten, so, daß die Bundesrepublik Deutschland am Ende der Inflationsskala der westlichen Länder stand. Ich habe mir die Zahlen aus den vom Wirtschaftsministerium veröffentlichten statistischen Mitteilungen für das Jahr 1969 herausgesucht. Daraus geht hervor, daß der Verbraucherpreisindex von 1950 bis 1969 — also gerade die Zeit, über die ich soeben gesprochen habe — in diesen Ländern wie folgt gestiegen ist: in Spanien um 186 %, in Japan um 142 %, in Finnland um 155 %, in Italien um 102 %, in Schweden um 120 %, in Österreich um 115 %, in Norwegen um 155 %, in Großbritannien um 110 %, in Frankreich um 149 %, in den Niederlanden um 100 %. Nun kommen vier Länder, die weit unter der Steigerungsrate von 100 % liegen: In der Schweiz sind es 54 %, in Belgien 57 %, in der Bundesrepublik Deutschland 52 % und in den USA 51 %.
Deutlicher kann doch wohl nicht dargelegt werden, daß die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland am Ende der inflationären Entwicklung steht, nicht ein Verdienst dieser Regierung ist, sondern daß dies das Erbe ist, welches sie von den vorangehenden Regierungen übernommen hat, nur mit dem Unterschied, daß damals die durchschnittliche Preissteigerungsrate unter 2 % lag und jetzt bei 7 %.
Im übrigen, meine Damen und Herren, greife ich jetzt das auf, was Herr Kollege Strauß gestern in wesentlich plastischeren Bildern gesagt hat.
Daß in anderen Ländern die Preissteigerungs- und Inflationsraten höher sind, entschuldigt doch nicht die hier begangenen Fehler und Versäumnisse. Das ist doch ein Argument, was gegenüber dem von uns erhobenen Vorwurf vollkommen neben der Sache liegt.
Graf Lambsdorff hat gestern auf Grund eines Artikels des „Handelsblattes" — wobei ich ausdrücklich sagen muß, daß er diesen Artikel des ,,Handelsblattes" richtig wiedergegeben hat — Dinge vorgetragen, die sachlich falsch sind. Vielleicht kann ich das bei dieser Gelegenheit richtigstellen. Es trifft nicht zu, daß sich der Diskussionskreis Mittelstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Reglementierung des Wettbewerbs zwischen mittelständischen und Großunternehmen im Sinne des französischen Gesetzes Royer ausgesprochen hat, noch viel weniger hat dies die Fraktion der CDU/CSU getan, und noch viel weniger habe ich es in dem von Graf Lambsdorff zitierten einleitenden Grußwort, welches ich zu einem Bericht des Kreises geschrieben habe, getan.Ich darf die beiden Sätze, um die es sich hier handelt der Ordnung halber und für das Protokoll verlesen. Sie lauten:Der Bericht des Diskussionskreises Mittelstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verdeutlicht, daß die Probleme des Mittelstandes aufgegriffen wurden und zu vielfachen parlamentarischen Initiativen geführt haben. Damit hat der Diskussionskreis zugleich auch das Recht auf Freiheit verteidigt und die Chance des Aufstiegs gefördert, die allein die Marktwirtschaft bietet.Meine Erklärungen und meine Ausführungen beziehen sich also eindeutig und zweifelsfrei auf diejenigen Initiativen des Arbeitskreises, die die Fraktion aufgegriffen hat. Ich bedauere, Graf Lambsdorff, daß Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, den Bericht der Mittelstandsdiskussionsgruppe, auf den das „Handelsblatt" Bezug nimmt, selbst anzusehen. Dann hätten Sie es sich ersparen können, hier einen Blindgänger abzufeuern, dessen Rauch nun, wie ich meine, in Ihrem Lager steht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7853
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr, Graf Lambsdorff.
Herr Professor Carstens, darf ich erstens darauf hinweisen, daß ich bereits — —
— Ich habe eben die Frage formuliert, ob ich darauf hinweisen darf, — —
— Offensichtlich scheint die deutsche Grammatik schwierig zu sein. Wenn das Prädikat an erster Stelle steht, ist das die Einleitung einer Frage.
Herr Professor Carstens, darf ich darauf hinweisen, daß ich bereits zwei Tage nach der Veröffentlichung im „Handelsblatt" öffentlich — das Exemplar habe ich Ihnen gestern gezeigt — Ihre Stellungnahme kritisiert habe, ohne daß in sechs Wochen darauf eine Antwort erfolgt wäre, und darf ich Sie zum zweiten fragen, ob Sie ernsthaft dementieren wollen, daß die Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sich für die Einführung dieser französischen Vorschrift des Loi Royer mit der Begrenzung von Verkaufsflächen in der Bundesrepublik einverstanden erklärt hat? Und darf ich drittens darauf aufmerksam machen, daß der von Ihnen als Blindgänger zitierte Torpedo, der gestern losgelassen worden ist, offensichtlich doch
— wenn nicht mittschiffs, so vielleicht doch jedenfalls im Vorderschiff — getroffen hat?
Herr Kollege Graf Lambsdorff, wenn Sie glauben, daß jede falsche Äußerung von Ihnen — wobei ich Ihre subjektive Gutgläubigkeit jetzt nicht in Zweifel ziehe —, die von dem angegriffenen Kollegen richtiggestellt wird, ein Treffer im Vorderschiff oder mittschiffs ist, dann haben Sie andere Vorstellungen über das Funktionieren der Marine, als ich sie habe.
Zweitens: Der Diskussionskreis Mittelstand — ich möchte das noch einmal unterstreichen — hat sich mit diesem französischen Lex Royer nicht identifiziert. Das geht auch aus dem Bericht — ich werde ihn Ihnen gern zuleiten; wenn Sie die Güte haben, sich ihn genauer anzusehen — nicht hervor.Und drittens: Es tut mir unendlich leid, Herr Kollege Lambsdorff: Ich habe die öffentliche Verlautbarung, auf die Sie hingewiesen haben und die Sie mir gestern auch gezeigt haben, leider nicht gelesen. Ich bemühe mich, alles zu lesen, was von den hoch-geschätzten Fraktionen der Koalition veröffentlicht wird. Aber Sie geben zu: Es ist manchmal so viel,
daß es fast unmöglich ist, diesem Wunsch nachzukommen.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich wieder dem Bundeskanzler zuwenden als dem Mann — wie ich gesagt habe —, der glaubt, auf alle Fragen sofort die richtige Antwort zu wissen. Allerdings muß ich sagen, ändert sich der Inhalt dieser Antworten schnell. Das habe ich dargelegt. Es gibt aber ein wichtiges Problem, auf das der Bundeskanzler uns bisher die Antwort überhaupt schuldig bleibt, und das ist die Frage der Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst.
Dies ist eine ernste Frage, eine Frage, zu der die Regierung Stellung nehmen muß, ob ihr das bequem ist oder nicht. Aber die Regierung weicht immer aus, aus Gründen, die man leicht erkennen kann. Die beiden Regierungskoalitionsparteien sind in dieser Frage gespalten. Die nordrhein-westfälische SPD ist für die Einstellung von DKP-Mitgliedern in den Staatsdienst, die hamburgische SPD ist dagegen. Bei der FDP liegt es genau umgekehrt, wobei ich mit Staunen festgestellt habe, daß die hamburgische FDP die Mitglieder der DKP zu den kritischen Demokraten rechnet. Dies dürfte eine Verkennung, eine grundlegende Verkennung des wirklichen Sachverhalts sein. Ich möchte daran erinnern — ich will die Debatte über die Radikalen hier nicht vertiefen —, daß in dem Programm der DKP gesagt wird, die DDR müsse das Vorbild für die Bundesrepublik Deutschland sein.
Wer etwas Derartiges sagt, der ist kein Demokrat und schon gar kein kritischer Demokrat, und der sollte in diesem Land nicht Beamter werden. Das allerdings ist unsere Auffassung.
Es wäre sehr gut, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sich zu einer ähnlichen Erklärung, mit der Sie vielleicht innerlich sympathisieren, durchringen würden. Die deutsche Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf zu wissen, was die Regierung dieses Landes zu dieser Frage denkt.
Der Herr Bundeskanzler nimmt für sich in Anspruch — er hat das auch heute wieder deutlich zu machen versucht —, die Interessen unseres Landes nach außen entschieden und wirksam zu vertreten. Aber, Herr Bundeskanzler, ich meine, Ihnen fehlt bisher doch noch jedes Gefühl dafür, was Millionen Bürger unseres Landes von ihrer Regierung erwarten, daß sie nämlich den Blick über die Auseinandersetzung der Tagespolitik hinaushebt und deutlich macht, was für uns die Einheit der deutschen Nation
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7854 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Dr. Carstens
bedeutet. Für den Bundeskanzler ist das Philosophie, und ich verstehe ihn so, daß das etwas ist, was den praktischen Politiker nicht zu beschäftigen braucht. So ist es sicherlich zu erklären, daß wir in ,der Regierungserklärung — wir haben das damals erklärt — zu dieser Frage nichts hörten. Am 17. Juni gab der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen eine Erklärung ab, die ich auch nur mit Bekümmernis gelesen habe. Das Wort und der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Nation kam darin nicht vor.
Weiterhin bestehen Bestrebungen, den 17. Juni als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen, und vor wenigen Tagen ist der Forschungsbeirat für Wiedervereinigung beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen aufgelöst worden.
Meine Damen und Herren, wir brauchen und wir können nicht jeden Tag unser Bekenntnis zur Einheit der Nation erneuern. Aber wir sollten es wenigstens in den grundlegenden Regierungserklärungen, die alle zwei oder vier Jahre abgegeben werden, und wir sollten es wenigstens am 17. Juni jeden Jahres tun.
Denn wir dürfen den Eindruck nicht aufkommen lassen, als ob dieses Thema für uns abgeschlossen sei, und wir dürfen es nicht der chinesischen und anderen Regierungen überlassen, uns daran zu erinnern, daß es hier zwar zwei deutsche Staaten, aber weiterhin eine Nation gibt.
Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen auch vorhalten, daß Sie die Berliner Interessen in der kurzen Zeit, in der Sie amtieren, nicht ausreichend wahrgenommen haben. Ich will jetzt nicht davon sprechen, daß die beiden Koalitionsfraktionen nicht zu Fraktionssitzungen nach Berlin gehen. Ich bedaure dies sehr. Ich glaube allerdings die Lage richtig zu sehen, daß, solange der Kollege Wehner die SPD-Fraktion leitet, die Chance, daß dies geschehen könnte, wohl ziemlich gering ist.
Der Finanzminister hat hier gestern mit Genugtuung darauf hingewiesen, daß wir die Berlin-Hilfe erhöhen und daß das ein Ausdruck der Verbundenheit zwischen dem Bund und Berlin sei. Ich unterstütze das, ich begrüße das. Aber glauben Sie mir, für die Verbindung Berlins mit dem Bund sind Menschen noch wichtiger als Geld.
Aber, Herr Bundeskanzler, was ich Ihnen vorwerfe, ist die sehr unglückliche Behandlung des Komplexes der Errichtung des Umweltbundesamtes in Berlin. Seit Jahr und Tag — das fällt zum Teil noch in die Amtszeit Ihres Vorgängers — wußte die Bundesregierung, daß sie ein solches Amt errichten wollte. Sie wußte auch, darüber war ja von Anfang gar kein Zweifel —, daß Sowjetunion und DDR diesen Plan mißbilligten. Aber wieder rollte der Terminkalender im Verhältnis zur DDR ab, ohne daß auf dieses Ereignis überhaupt in irgendeiner Weise Rücksicht genommen wurde. Sie traten beide in die Vereinten Nationen ein, die gegenseitigen Vertretungen wurden errichtet und ausgetauscht, anstatt daß irgend jemand einmal auf den Gedanken gekommen wäre, die Errichtung des Umweltbundesamtes in Berlin zu vollziehen und dann die weiteren Schritte zu tun.Meine Damen und Herren, ich möchte das mit großem Nachdruck unterstreichen, weil das auch zu den demagogischen Entstellungen der Position der Opposition gehört: Ich rede hier in keiner Weise einer militanten Politik gegenüber irgendeinem osteuropäischen Staat oder gegenüber der DDR das Wort. Aber ich bin der Meinung, daß wir, die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, unsere Interessen — es sind weitgehend die Interessen aller Deutschen — mit Ruhe, Festigkeit und Sicherheit und mit einer gewissen Konsequenz vertreten müssen.
Es werden so gern Ausflüge in die Vergangenheit und in die 50er Jahre gemacht. Lassen Sie auch mich einmal auf die 50er Jahre zurückblicken. Im Jahre 1955 nahm Konrad Adenauer diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion auf. Es war ein folgenreicher Schritt; wenn Sie so wollen, ein erster Schritt der Entspannung, dem dann allerdings eine Reihe von Jahren keine weiteren folgten; immerhin ein Signal. Er machte die Aufnahme der Beziehungen davon abhängig, daß die Sowjetunion 10 000 deutsche Kriegsgefangene freiließ, die sie damals noch zurückhielt. Er blieb in dieser Frage fest. Es kam zu sehr unangenehmen Auftritten. Diejenigen, die dabei waren, sagen, es sei Adenauers größte Stunde gewesen, wie er in der Auseinandersetzung mit seinen sowjetischen Partnern stand und am Schluß mit aller Ruhe sagte: „Meine Herren, wenn Sie das nicht wollen, dann fliege ich morgen nach Bonn zurück." Das Ergebnis war, daß die 10 000 Kriegsgefangenen freigelassen wurden, und viele davon leben noch unter uns.Sehen Sie, das ist es, was ich meine, wenn ich sage: ich halte es für notwendig, daß wir die Interessen, die wir zu vertreten haben, nicht militant, nicht aggressiv, aber mit Ruhe, Sachlichkeit und Festigkeit auch gegenüber den östlichen Partnern und vor allem auch gegenüber der DDR vertreten.
Dann gibt es in dieser Beziehung ein sehr unangenehmes Zwischenspiel; das muß ich sagen. In einem Bericht der „Wirtschaftswoche" vom 26. Juli 1974 schreibt unser Kollege Conrad Ahlers — ich zitiere ihn wörtlich —:Dann kam jemand auf die Idee, daß die Westmächte eigentlich der Bundesregierung aus der Klemme helfen sollten. Sie wurden gebeten, einfach von sich aus auf Grund ihrer übergeordneten Verantwortung für West-Berlin die Errichtung des Bundesamtes zu untersagen. Aber der Westen machte dieses Spiel nicht mit.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7855
Dr. Carstens
Dazu äußerte sich am folgenden Tage der Regierungssprecher Bölling nach dpa wie folgt: Es treffe nicht zu, daß Helmut Schmidt in dieser Frage die Alliierten habe nach vorn schicken wollen — das hatte Ahlers gar nicht behauptet! —, er glaube auch nicht, daß die Regierung jetzt zu solchen Spekulationen Stellung nehmen solle. Der Kanzler habe bei seiner Amtsübernahme bestimmte Fakten vorgefunden. Natürlich seien zu einem früheren Zeitpunkt verschiedene Faktoren und Argumente erörtert worden, dann aber habe die Regierung ihre Position bezogen. Diese klare Haltung sei dann auch durchgesetzt worden.Meine Damen und Herren, wenn ich von Dementis etwas verstehe, dann ist dieses Dementi eine Bestätigung der Meldung, die Ahlers gebracht hatte.
Nun sagte der Bundesaußenminister — das will ich nicht verschweigen — in der gestrigen Sitzung zu diesem Thema:Namens der Bundesregierung stelle ich fest: Die Bundesregierung hat es zu keiner Zeit unternommen oder auch nur daran gedacht es zu unternehmen, die Alliierten zu veranlassen, Einspruch gegen die Errichtung des Umweltbundesamtes in Berlin zu erheben.Wir nehmen diese Erklärung zur Kenntnis, obwohl mir, offen gesagt, nicht ganz klar ist, wie die Bundesregierung es anstellt, wenn sie nicht denkt. Es ist schon ziemlich schwer, sich vorzustellen, wie die Bundesregierung denkt;
aber wie sie es anfängt, wenn sie nicht denkt, das sehe ich nicht ganz. Diese Frage bleibt, ich muß es leider sagen, ungeklärt.Aber was beunruhigender ist, ist die Tatsache, daß der Bundeskanzler sich dann kurz danach öffentlich von dem Gedanken distanzierte, eine deutsche Nationalstiftung in Berlin zu errichten. Er nannte dies: „einen weiteren Streitfall in die Welt setzen". Sehen Sie, Herr Bundeskanzler: dies ist genau das, was ich meine, wenn ich soeben an das Jahr 1955 erinnert habe. So kann man keine Politik im Interesse unseres Landes machen;
dies ist genau die Argumentation der anderen Seite. Wir setzen keine Streitfälle in die Welt, wenn wir Dinge tun, die nach dem Viermächteabkommen, jedenfalls so wie die Bundesregierung es uns gegenüber bisher stets interpretiert hat, durchaus zulässig sind. Diese Art von Argumentation ist nach meiner Auffassung für die deutsche Seite schädlich.
Ich möchte — Sie haben mich dazu aufgefordert — auch einiges Kritische, Herr Bundeskanzler, zu Ihrer Europapolitik sagen. Ich beanstande, ich kritisiere ja nicht, daß Sie sich mit dem französischen Staatspräsidenten zunächst allein und dann mit den anderen Staats- und Regierungschefs zum Abendessen treffen. Ich bin der Letzte, der die Nützlichkeit solcher Abendessen in Zweifel ziehen würde. Nur dürfen Sie nicht glauben, Herr Bundeskanzler, daß das Ersatz für Europapolitik ist.
Vor allem dürfen Sie nicht glauben, daß — jetzt methodisch gesprochen — diese Art von rein intergouvernementaler Zusammenarbeit auf die Dauer von Erfolg gekrönt sein wird.
Damit, Herr Bundeskanzler, fallen Sie nicht in die fünfziger, sondern in die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts zurück, als WEU, Europarat und OEEC gegründet wurden. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre erkannten die führenden Europäer der damaligen Epoche, daß auf diesem rein intergouvernementalen Weg das erstrebte Ziel der europäischen Einigung nicht zu erreichen sein würde.
Deswegen bedaure ich es außerordentlich, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich so abfällig und geringschätzig über die Kommission der Europäischen Gemeinschaften äußern.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften mag manches vorschlagen, was aus unserer Sicht, aus der Sicht der Regierung — und da wird die Opposition in einigen Fällen der gleichen Meinung sein — nicht zweckmäßig ist. Die Kommission der EWG mag einen zu großen Apparat haben; dann wäre es Ihre Aufgabe, Herr Bundeskanzler, dafür einzutreten, daß dieser Apparat entsprechend reduziert wird. Aber Sie dürfen dabei nicht verkennen, daß in der gegenwärtigen Lage, in der wir uns befinden, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften neben dem Parlament das einzige Gemeinschaftsorgan ist, über das Europa verfügt, das einzige Organ, welches die Interessen der Gesamtheit der europäischen Länder repräsentiert, und die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie mit der Europäischen Kommission Verbindung halten und sie in ihrer schweren Arbeit unterstützen würde.
Ich befinde mich hier in vollem Einklang mit dem, was das Mitglied der Europäischen Kommission, Herr Haferkamp, vor kurzem ausgeführt hat. Man muß sich überhaupt fragen, ob es noch irgendeine Art von Kontakt zwischen den beiden deutschen Mitgliedern der Europäischen Kommission und der Bundesregierung gibt, wie es ganz natürlicherweise Kontakte zwischen den anderen Mitgliedern der Kommission und ihren jeweiligen Heimatstaaten und Regierungen gibt.Der Bundeskanzler, meine Damen und Herren, nimmt weiter für sich in Anspruch, seine Politik offen und klar in der Öffentlichkeit zu vertreten. Aber auch diesem hohen Anspruch wird er in keiner Weise gerecht. Im Falle des Italien-Kredits wurde die Öffentlichkeit falsch informiert. Und das ist es, was wir Ihnen vorwerfen, Herr Bundeskanzler, nicht daß Sie der Kreditgewährung schließlich zugestimmt haben, die wohl im übrigen — wenn
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Dr. Carstens
ich das richtig sehe — im wesentlichen von den beiden Notenbanken vereinbart worden war.Sie sagen, der Regierungssprecher darf nie etwas Falsches sagen; dem stimme ich zu. Nur bin ich der Meinung, daß der Sprecher die Öffentlichkeit wochenlang falsch informiert hat — vielleicht subjektiv gutgläubig; ich tadele nicht den Sprecher, sondern ich kritisiere die Bundesregierung —, indem er in ihr den Eindruck erweckte, daß irgendwelche bilateralen Hilfen der Bundesrepublik an Italien nicht in Frage kämen, sondern daß alles nur im Wege einer Gemeinschaftslösung gemacht werden würde.Herr Bundeskanzler, zum Thema Informationspolitik: Ich glaube, nicht nur wir — die CDU/CSU- Fraktion —, sondern die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik insgesamt würde gern mehr über das wissen und erfahren, was Sie in Paris besprochen haben. Wenn Sie es nicht für zweckmäßig halten, die Opposition zu unterrichten, dann verstoßen Sie damit gegen Grundsätze, die die von der CDU/ CSU geführten Regierungen 20 Jahre lang praktiziert haben. Aber das ist Ihre Sache.
- Ja, das ist so gewesen! In Fragen der Europapolitik ist die damalige Opposition regelmäßig von der damaligen Regierung unterrichtet worden. Ich weiß das zufällig genau, weil ich einen großen Teil dieser Unterrichtungen selbst vorgenommen habe. Ich bedaure sehr, daß Sie von dieser Praxis nichts mehr wissen wollen, Herr Bundeskanzler; aber das ist Ihre Sache.Aber ich muß es noch mehr bedauern, wenn ich jetzt in „Le Monde" vom 17. September einen langen, offenbar sehr gut informierten und inspirierten Artikel über das lese, was in dem Kreis der neun Staats- und Regierungschefs besprochen worden ist, einschließlich der Vorschläge, die Sie, Herr Bundeskanzler, gemacht haben sollen. Es heißt da: Bundeskanzler Schmidt trat dafür ein, in jedem Land einen Staatssekretär für Europafragen einzusetzen, und Bundeskanzler Schmidt sprach sich für die Schaffung eines europäischen Passes aus. Ich meine, das sind durchaus erwägenswerte —
— Ob das mit dem Europa-Staatssekretär gut ist oder nicht, wollen wir dahingestellt sein lassen. Das sind durchaus erwägenswerte Vorschläge. Nur meine ich, wenn das in den französischen Zeitungen steht und stimmt, sollte doch wohl auch die Opposition unterrichtet werden. In jedem Fall sollte sie über das unterrichtet werden, was sich wirklich abgespielt hat. Dies ist ein unwürdiger Zustand.
Aber viel schlimmer als diese Dinge, die ich soeben erwähnt habe, ist — das muß ich leider sagen — die fundamentale Doppelzüngigkeit in der Argumentation des Bundeskanzlers bei der Auseinandersetzung über gesellschaftspolitische Fragen und Grundsatzfragen der Ordnungspolitik. Auf der einen Seite wirbt der Bundeskanzler um das Vertrauen der Wirtschaft, wendet er sich gegen Verstaatlichung und Investitionskontrolle der Unternehmen, aber auf der anderen Seite führt er ganz deutlich die Sprache des Klassenkampfes und leitet damit Wasser auf die Mühle der Jungsozialisten und anderer Sozialisten.
— Ja, dann werden plötzlich die reichen Leute, das große Geld, die oberen Schichten angeprangert. Was sind denn das für Begriffe? Werden denn die wirklichen Probleme, um die es in unserem Lande geht, z. B. die Frage der Anreizung der Investitionstätigkeit, erfaßt, wenn der Bundeskanzler sagt: Ich bin gegen das große Geld, ich will den reichen Leuten etwas mehr abzapfen und dergleichen mehr? Die CDU wird natürlich als Unternehmerpartei abgestempelt.Ich muß sagen, der Höhepunkt dieser Art von demagogischer und unsachlicher Argumentation ist die Diskussion über die letzte Steueränderung, die wir hier beschlossen haben.
Es ist schon einmal gesagt worden — ich wiederhole es —: Der Entwurf der Bundesregierung, der dem Beschluß vorausging, den der Bundestag gefaßt hat, sah eine Begünstigung der Bezieher hoher Einkommen vor, indem er die Höchstgrenze für Sonderausgaben bei Verheirateten auf 20 000 DM pro Ehepaar festsetzte. Nun soll mir mal jemand sagen, wie jemand mit einem kleineren oder mittleren Einkommen von 30 000 DM oder 40 000 DM— oder auch weniger — in der Lage sein soll, 20 000 DM für Sonderausgaben aufzuwenden. Wir haben dagegen durch die Änderungen, die wir in diesem Punkte bei den Sonderausgaben erzwungen haben, dafür gesorgt, daß in Zukunft ein großer Teil der Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen,
der Facharbeiter, der Angestellten, der Beamten, der Handwerker, in den Genuß größerer steuerlicher Vergünstigung kommen wird, als die Regierung es vorgesehen hatte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Ich möchte ganz gerne den Gedanken zu Ende führen.Wenn die Inflationsraten auch nur annähernd so weitergehen, wie sie in den letzten zwei oder drei Jahren gewesen sind, wird spätestens in zwei bis drei weiteren Jahren die Mehrzahl der Arbeitnehmer in den Genuß derjenigen Vergünstigungen kommen, die wir, die CDU/CSU, im Steuerreformgesetz durchgesetzt haben. Dies ist die Wahrheit, und die Propaganda, die darüber leider durch Sie selbst, Herr Bundeskanzler, und viele Ihrer Kollegen aus Ihrer Fraktion betrieben wird, ist unwahr.
Bitte, Herr Kollege Ehrenberg!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7857
Herr Professor Carstens,
wollen Sie abstreiten, daß durch die von Ihnen herbeigeführten Änderungen der Bezieher eines Spitzeneinkommens für je 100 DM 56 DM Vorteil bei den Vorsorgeaufwendungen hat und der Bezieher eines durchschnittlichen Einkommens 19 DM oder 22 DM von den 100 DM und soll ich Ihren Zusatz jetzt so verstehen, daß Sie glauben, in wenigen Jahren werden die Facharbeiter alle 250 000 DM im Jahr verdienen, weil sie dann auch den Spitzensteuersatz zahlen müssen?
Herr Kollege Ehrenberg, ich kann nur sagen: wie der Herr, so's Gescherr.
— Sie argumentieren gegen Positionen, die ich nicht bezogen habe. Ich habe das jetzt drei- oder viermal dargelegt. Ich muß sagen, wenn Sie es noch nicht verstanden haben, Herr Kollege Ehrenberg, dann tut es mir leid. Aber die Tatsache bleibt dennoch unbestrittenermaßen bestehen.
Herr Kollege Carstens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rapp?
Frau Präsidentin, ich sehe mit Schrecken, daß ich mich dem Ende meiner Redezeit nähere. Ich möchte gern meine Ausführungen zu Ende bringen.Meine Damen und Herren, der demagogische Führungsstil, von dem ich hier spreche, wird allerdings von dem Altbundeskanzler Brandt in einer Weise praktiziert, die man nur noch als unerträglich bezeichnen kann.
Da ist von den Verbandsspitzen der sogenannten Wirtschaft die Rede. Man muß sich einmal vorstellen, welche Vorstellung der Altbundeskanzler Brandt von der Wirtschaft hat, wenn er sie als sogenannte Wirtschaft bezeichnet. Da ist von zwielichtigen Organisationen, von organisierter Kampfpresse die Rede,
die den ehrenwerten Genossen in den Hintern treten. Sind Sie der Meinung, daß das stimmt?
Bitte schön, wenn das Ihre Auffassung ist, à la bonne heure, Herr Kollege! Das ist die Sprache derer, welche die demokratischen Spielregeln eindeutig verlassen haben, meine Damen und Herren.
Ich appelliere an Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihren eigenen Reihen dafür einzutreten, daß diese Art von demagogischer Verunglimpfung des politischen Gegners unterbleibt. Allerdings müßten Sie, wenn Sie in dieser Richtung tätig werden wollen, bei sich selber anfangen.
Solche Szenen, wie wir sie heute leider zum zweitenmal innerhalb Ihrer viermonatigen Amtszeit erlebt haben, sollten und dürften sich nicht wiederholen.
Der Bundeskanzler möchte schließlich als ein Mann dastehen, der für Korrektheit und Sauberkeit in den öffentlichen Angelegenheiten eintritt. Herr Bundeskanzler, ich möchte ausdrücklich sagen, ich ziehe diese Ihre Absicht nicht in Zweifel. Aber Sie können nicht einfach so tun, als ob die Skandalaffären, in die Ihre Partei verwickelt ist, Sie überhaupt nichts angingen.
Sie haben als Regierungschef eine Verantwortung zumindest zur Aufklärung dieser Skandalaffären. Sie können sich nicht davon distanzieren, als ob das für Sie eine völlig fremde Welt wäre.
Warum, so frage ich Sie, Herr Bundeskanzler, hat Ihrer Meinung nach Herr Kollege Wehner den Herrn Kollegen Wienand zwei Jahre lang gegen alle Angriffe, gegen alle Verdächtigungen gedeckt?
Weder Sie noch ich, Herr Bundeskanzler, halten den Kollegen Wehner für naiv; das wird etwas sein, worin wir miteinander übereinstimmen.
Es ist doch nicht zu fassen, daß ein Mann mit so langer Lebenserfahrung wie der Kollege Wehner geglaubt haben sollte, daß der Kollege Wienand aus seinem Privatvermögen ein Darlehen in Höhe von 160 000 DM an eine schon damals in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindliche Firma gegeben haben sollte,
— ohne Quittung und ohne daß das in den Büchern von Paninternational oder denen des Kollegen Wienand irgendeinen Niederschlag gefunden hat.
Das ist eine Geschichte, der nach der juristischen Sprechweise, der ich mich hier einmal bediene, die Unglaubwürdigkeit auf die Stirne geschrieben ist, und inzwischen ist es ja wohl erwiesen, daß diese Geschichte falsch war. Aber der Kollege Wehner hat zwei Jahre lang den Kollegen Wienand gegen alle diese Angriffe gedeckt. Da fragt sich doch jeder: Wozu? Warum? Gibt es hier andere Sachverhalte, die noch zu vertuschen sind? Hat das etwas damit zu tun, wer am Schluß dieses Geld erhalten hat, und dergleichen Dinge mehr?Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt: Wir wollen keine Watergate-Mentalität in unserem Lande. Ein sehr gutes Wort! Aber dann sorgen Sie bitte dafür, daß diese vielen undurchsichtigen Vorgänge,
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Dr. Carstens
über welche die deutsche Öffentlichkeit zu Recht auf das tiefste besorgt und beunruhigt ist,
endlich aufgeklärt werden.
Und dann bitte ich Sie, Herr Bundeskanzler ich bitte Sie hier bei dieser Gelegenheit ausdrücklich und förmlich —, dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit nunmehr auch mitzuteilen, für welchen Zweck der damalige Bundesminister Ehmke 50 000 DM aus der Geheimkasse des Bundeskanzlers entnommen hat, just zwei Tage, bevor Herr Steiner mit einem Betrag von 50 000 DM bestochen wurde.
Ich behaupte ja nicht, daß das die gleichen 50 000 DM sind.
— Nein, ich behaupte es nicht. Ich kann es nicht behaupten, habe es nie an irgendeiner Stelle behauptet. Aber ich behaupte allerdings, daß die deutsche Öffentlichkeit und das deutsche Parlament einen Anspruch darauf haben, zu erfahren, wofür denn Herr Ehmke die 50 000 DM ausgegeben hat, wenn Herr Steiner sie nicht bekommen hat.
Und sagen Sie mir bitte nicht, der Präsident des Bundesrechnungshofes habe das alles geprüft. Der Präsident des Bundesrechnungshofes, meine Damen und Herren, hat die Vorgänge acht Monate später geprüft. Das ist doch keine befriedigende Antwort auf das, was sich in den Tagen des April 1972 abgespielt hat.
— Nein, es hat mit dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes gar nichts zu tun; der kann nur bestätigen, was er sieht, aber nicht bestätigen, was sich acht Monate zuvor ereignet hat. Das sollten selbst Sie, Herr Kollege, verstehen.
Schließlich, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen sagen, daß die Aufklärung im Falle des Untersuchungsausschusses Steiner /Wienand unter anderem dadurch erschwert und behindert worden ist, daß die Mitglieder der Koalitionsfraktionen die Beeidigung irgendeines Zeugen in diesem Ausschuß abgelehnt haben. Das war bestimmt kein Beitrag zur Wahrheitsfindung.
Meine Damen und Herren, die Affäre Guillaume nimmt Ausmaße an, die eine gesonderte Darstellung erforderlich machen würden. Wir haben vor wenigen Tagen in der Presse gelesen, daß auf dem Schreibtisch oder dem Schrank — ich weiß es nicht genau — von Guillaume auch noch Hunderte von Dokumenten aus dem Bereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz gefunden worden seien. Diese Dinge zusammen mit allem, was sonst bekannt ist, machen deutlich, daß es sich hier um den größten Spionageskandal handelt, den die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Geschichte erlebt hat. Auch hier hilft die Koalition nicht zur Aufklärung und trägt sie nicht genügend zur Aufklärung bei.
Meine Damen und Herren, noch ein abschließendes Wort zur Personalpolitik. Herr Bundeskanzler, ich appelliere dringend an Sie, mit der Art von Personalpolitik Schluß zu machen, die sich im Falle Guillaume in einer geradezu katastrophalen Weise gezeigt hat, nämlich daß Beamte oder Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung ihres Parteibuches eingestellt werden, ohne Rücksicht auf — —
— Also, Herr Kollege Dr. Ehrenberg,
ich bewundere wirklich Ihren Mut — er nötigt mir große Achtung ab —, daß Sie als derjenige, der dafür verantwortlich ist, daß Guillaume ins Bundeskanzleramt hineingekommen ist,
nun auch noch in Zweifel ziehen wollen, daß seine Parteizugehörigkeit zur SPD etwas damit zu tun gehabt hat.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Thema „Alternativen" ein Wort sagen. Herr Bundeskanzler, Sie haben Alternativen der Opposition gefordert. Meine Kollegen Strauß, Zeitel und Müller-Hermann haben Alternativen zu den hier zu diskutierenden Sachfragen gegeben.
— Ich will sie nicht alle wiederholen. Sie müssen zuhören, sonst ist eine Diskussion mit Ihnen ohnehin sinnlos. Aber ich möchte hier eine Alternative stellen, mit allem Nachdruck und mit aller Deutlichkeit. Das ist die Alternative, die die CDU/CSU für die Politik der Bundesrepublik Deutschland insgesamt fordert, daß sie nämlich zu den elementaren Maßstäben politischer Moral und politischen Anstandes zurückkehrt.
Dazu gehört, daß wir nicht alle paar Jahre die moralisch begründeten Ziele unserer Politik wie die Einheit der Nation ändern oder preisgeben oder aufgeben können. Dazu gehört, daß die Bundesregierung in lebenswichtigen Fragen unseres Landes ihre Aussagen nicht beliebig wechselt, sondern zu dem steht, was sie gesagt hat, oder daß sie, wenn sie glaubt, sich berichtigen zu müssen. eingesteht, daß sie sich geirrt hat.Dazu gehört, daß die politische Auseinandersetzung mit einem Mindestmaß an Willen zur Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit geführt wird.
Dazu gehört, daß sich diese politische Auseinandersetzung wieder aus den niedrigsten Bereichen
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Dr. Carstens
— ich kann nur sagen — der Gemeinheit löst, in die sie mehr und mehr zu geraten droht.
Ich komme aus dem hessischen Wahlkampf. Ich könnte Ihnen dazu eine Serie von Beispielen nennen, die so widerlich sind, daß ich sie hier nicht über meine Lippen gelangen lassen möchte.
Dazu gehört, daß dort, wo Fehler und Mißstände oder strafbare Handlungen im öffentlichen Bereich vorgekommen sind, diese Tatbestände rückhaltlos aufgeklärt werden. Meine Damen und Herren, der große Vorteil der Demokratie gegenüber jedem anderen System besteht darin, daß sie sich durch Offenlegung von Skandalen selbst reinigen kann.
Aber Verschleierung, Verzögerung, Verbreitung von Halbwahrheiten und Unwahrheiten, Irreführung der Öffentlichkeit sind letzlich schlimmer als die Skandalaffären selbst.Dazu gehört, daß wir dann, wenn wir moralische Grundsätze vertreten — und verbal tun Sie das ja oft , sie dann auch mit dem Ernst und der Folgerichtigkeit vertreten, die dieser Gegenstand von uns verlangt.Ich habe gestern einen flammenden Aufruf der SPD-Fraktion gegen die Verhältnisse in Chile und gegen die dort stattfindende Unterdrückung der Menschenrechte gelesen. Meine Damen und Herren, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie auch einmal ein flammendes Wort über die Fluchthelferprozesse in der DDR sagen würden!
Das ist die Alternative der CDU/CSU! Es ist das einzige Fundament, meine Damen und Herren, auf dem ein freiheitliches, demokratisches, soziales und rechtsstaatliches Staatswesen wie das unsere auf die Dauer gedeihen kann, nämlich Wahrhaftigkeit, Recht und moralische Integrität.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Carstens hat am Ende dieser Debatte viele Punkte angerührt, und manche dieser Punkte werden noch eine Antwort bekommen müssen. Wenn es notwendig ist, jeder einzelne Punkt.Nur eines, Herr Kollege Carstens: Sie haben im Höhepunkt Ihrer Ausführungen in bezug auf die „Skandale" z. B. gesagt, daß bei jenem Guillaume Hunderte von Dokumente gefunden worden seien und daß auch hier die Koalition nicht helfe und nicht genügend zur Aufklärung beitrage. Ist es wahr, daß gestern abend eine Übereinkunft zwischen den Vertretern aller Fraktionen und Parteien getroffen worden ist? Ich zwinge Sie hier nicht zu einer öffentlichen Antwort. Ich muß Ihnen nur sagen: So, Herr Carstens, haben Sie sich hier schon einige Male in solchen Fragen, in denen es Schwierigkeiten gibt, die alle zu tragen und auszuräumen haben, zu profilieren versucht. Ich habe über diese Übereinkunft hier nicht zu reden. Daß sie existiert, werden auch Sie nicht bestreiten können. Denn sie ist ja nicht völlig in Ihrer Abwesenheit geschehen.Nun zu dem, was Sie jetzt zu den übrigen, unter dem Sammelbegriff „Skandale" zusammenzufassenden Dingen gesagt haben. Die Erklärung des Vorstandes der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion in der Angelegenheit ihres von seinen Pflichten entbundenen Parlamentarischen Geschäftsführers Wienand ist auch Ihnen bekannt. Es ist die am 30. August veröffentlichte und auch vor der Presse vertretene Erklärung. Es ist gesagt worden, das, worum es sich da handle, sei eine Geschichte, der — Sie würden das nun juristisch so ausdrücken — die Unwahrheit auf die Stirn geschrieben sei. Ich nehme an, daß die Sache juristisch geklärt wird. Was unsere Seite betrifft, so ist sie in jedem Falle für die gerichtliche Klärung und hat das auch deutlich gemacht.Ich habe mich seinerzeit, als hier der Bericht über den Untersuchungsausschuß in den Sachen Steiner usw. erstattet und debattiert wurde, namens meiner Fraktion sofort dagegen gewendet, daß Sie zwei Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion unbeschadet dessen, was darin — in zwei Punkten sogar einstimmig — festgestellt worden war, hier wieder beschuldigten. Ich sagte, das sieht ganz klar nach einer Hexenjagd unter allen Umständen aus. Es ist so gekommen. Diese Dinge werden, nehme ich an, ihre Klärung finden.Sie haben hier, verehrter Herr Kollege Carstens, besonders die Sprache des Vorsitzenden der SPD, Willy Brandts, angeprangert. Können Sie sich nicht vorstellen, daß er, wenn er bei Wirtschaft „sogenannte" sagte, sagen will: Wirtschaft sind nicht nur die Arbeitgeber, das sind auch die Arbeitnehmer, das sind auch die Selbständigen, das sind alle zusammen?
Halten Sie es für ganz abwegig, dies auch mit in Betracht zu ziehen? Ich wollte Ihnen das nur zu bedenken geben, weil ich glaube, ich kenne das, was da gesagt ist.Nun haben Sie am Schluß gesagt, Sie möchten solche flammenden Aufrufe wie über Prozesse in Chile auch in bezug auf Fluchthelferprozesse in der DDR hören. Die Fraktion der SPD hat einstimmig einer Entschließung zugestimmt und würde es gern sehen, wenn der Deutsche Bundestag sich entsprechend äußerte. Nur, das hängt von den Fraktionen ab. Wir machen anderen keine Vorschriften. Es geht hier um die Erinnerung an das Inhaftieren, an das Töten und an das Malträtieren von Menschen.
— Sicher, darum handelt es sich. Im übrigen hat diesozialdemokratische Fraktion, soweit sie dazu hel-
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7860 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Wehnerfen konnte, persönlich und auch auf jene Weise, die in solchen Fällen nie völlig etwa durch Aufrufe abgegolten werden kann, Menschen dort aus schwierigsten Situationen herauszuhelfen versucht. Das tut sie übrigens in allen Himmelsrichtungen. Über Fluchthelferprozesse werden wir ja wohl einmal reden können und reden müssen. Ich nehme an, daß hier nicht die Auffassung besteht, daß Sozialdemokraten oder andere sich für das Verurteilen von Leuten einsetzen. Worum es geht, ist, die Verhältnisse, soweit wir können, unter den Einfluß zu nehmen, daß das Unvermeidliche, bei den Gegensätzen hier auch in Deutschland Unvermeidliche, auf das Minimum begrenzt und beschränkt wird.Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, über die Freigabe der Kriegsgefangenen gibt es eine Gesamtgeschichte. Ich bin nicht der, der sie Ihnen hier erzählen will. Ein anderer wird sie nie erzählen, weil ich einer derer war, die damals die ersten Schritte getan haben. Das könnte man sogar, wenn man Lust hätte und wenn man über 25 Jahre nicht nur darüber spräche, wer davon 20 Jahre die Regierung geführt hat und wer fünf Jahre. Davon sind ja fast keine unserer Seiten frei, diese komische Wertung vorzunehmen.
1950 gingen zwei Abgeordnete des Deutschen Bundestages im Auftrage und mit Willen der damaligen Regierung zu den Vereinten Nationen; der eine davon war ich. Zwei Monate haben wir dort gewerkelt. Darüber heute noch zu sprechen lohnt angesichts dessen, was alles hier im Gegensatz dazu schon gesagt worden ist, nicht. Es lohnt nicht.
— Es ist klar, daß Sie darüber nur lachen können. Es gibt hier Protokolle, es gibt auch Tatsachen, und es gibt auch Briefe. Herr Adenauer selber, auf den Sie sich hier berufen, hätte sich in dieser Frage so, wie Sie jetzt meinen, sich dazu äußern zu können, nicht geäußert.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es würde jedermann übelnehmen, wenn ich um diese Freitagsmittagszeit auf die vielerlei Punkte ausführlich eingehen würde, die Herr Carstens an meine Adresse gerichtet hat. Ich will mich davor nicht drücken. Nur scheint mir, daß in drei Punkten eine Antwort sofort unerläßlich ist.
Was die Aufklärung von Fehlverhalten — tatsächlichen oder vermeintlichen — oder tatsächlichen oder vermeintlichen Skandalen — angeht — es waren ja nicht die ersten und es werden auch nicht die letzten Untersuchungsausschüsse des Parlaments sein —, so wird jede Bundesregierung, Herr Professor Carstens, die Pflicht haben, das, was sie dazu beitragen kann, daß die aufzuklärenden Tatsachen und Zusammenhänge wirklich aufgeklärt werden können, auch zu tun. Dies tut die gegenwärtige Bundesregierung. An die Bundesregierung kann man allerdings nicht den Appell richten, sich in den Gang der Ermittlungen einzufädeln,
weder im Untersuchungsausschuß noch bei einer strafprozessualen Ermittlung oder wo immer. Von der Bundesregierung muß statt dessen vollständige Darlegung der Akten verlangt werden.
Das wird auch befolgt.
Ich will Ihnen auf die Zwischenrufe hin sagen: Wenn ich z. B. heute über Vorgänge aus geheimen Fonds einer vorgegangenen Bundesregierung befragt werde, so ist das, was ich darüber weiß, sehr beschränkt, und ich kann Ihnen mein beschränktes Wissen offenbaren. Wenn ich gefragt würde, was Herr Professor Carstens seinerzeit in seiner Eigenschaft als Chef des Bundeskanzleramts aus dem Geheimfonds für Zahlungen geleistet hat, so könnte ich dies nicht beantworten; ich könnte auch nicht beantworten, was Herr Globke an Zahlungen geleistet hat; weil nämlich alle Chefs des Bundeskanzleramts zu jeder Zeit die Unterlagen darüber selbst vernichtet haben. Dies ist eine Übung, die Herr Carstens genauso befolgt hat, so daß er heute die vorige Regierung und Herrn Ehmke nicht anklagen darf. Sie sitzen beide in der Kontinuität derselben Staatspraxis, meine Herren!
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Carstens?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, ist Ihnen klar, daß Herr Ehmke als Zeuge im Untersuchungsausschuß die Aussage auf diese Frage verweigert hat mit der Begründung, das Kabinett habe ihm keine Aussagegenehmigung erteilt,
und wären Sie als Chef des neuen Kabinetts bereit, Herrn Ehmke nunmehr eine Aussagegenehmigung zu erteilen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich weiß nicht, ob Sie dabei waren, Herr Carstens, als diese Aussage gemacht wurde. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie richtig zitiert wurde; denn ich war nicht dabei.
Das werde ich auch tun. Im Gegensatz zu der Unterstellung von Herrn Carstens, der gemeint hat,
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Bundeskanzler Schmidtich sei jemand, der sich einbilde, alles zu wissen, werde ich dies nachlesen, ich werde der Aufforderung folgen; denn dies weiß ich bisher nicht. Eine aus dem Handgelenk gegebene Antwort wäre eine leichtfertige Antwort. Ich sehe, daß der Oppositionsführer mit dem Kopf nickt und das im Grunde für eine gehörige Einlassung meinerseits hält.Was die Aussagegenehmigung angeht, Herr Professor Carstens, so wird Ihre Bemerkung, die Sie an mich gerichtet haben, mich dazu führen, in diesen Angelegenheiten die Staatspraxen aller vorangegangenen Bundesregierungen in diesem Punkte mir ganz genau anzusehen, und ich werde mich exakt gegenüber dem Kabinett in meiner Empfehlung so verhalten, wie Sie sich verhalten haben oder wie Herr Kiesinger oder wie Herr Erhard sich verhalten haben. Die Geheimfonds existieren ja seit Adenauers Zeiten.
Sie waren früher sehr viel größer als sie heute sind; sie sind kleiner geworden. Wir haben sie in der Großen Koalition gemeinsam verringert. Sie waren immer da, und ich bin der Meinung daß die Bundesregierung, ohne daß sie Sicherheitsrisiken schaffen darf, im übrigen so weit gehen muß, wie sie kann, wie ich annehme, daß das auch für alle anderen Bundesregierungen gegolten hat. Von mir haben Sie die Zusage, Herr Profesor Carstens, daß ich alles tun werde, um dazu beizutragen, etwas aufzuklären, was in den Ruch der Manipulation gekommen oder gebracht worden sein mag.
Der zweite Punkt: Ich muß die etwas vage auf den Abgeordneten Conrad Ahlers gestützte Verdächtigung zurückweisen. Weder hat die Bundesregierung noch hat einer der Angehörigen der Bundesregierung
den Westmächten das angesonnen, was Sie behauptet haben, Herr Professor Carstens.
Der Bundesminister des Auswärtigen hat das gestern hier ausdrücklich zurückgewiesen — oder war es vorgestern, am Mittwoch? Daß Sie es trotzdem wieder aufnehmen, könnte den Schluß nahelegen, daß Sie dem Bundesminister des Auswärtigen nicht glauben. Ich kann Sie nicht zwingen, ihm zu glauben. Aber ich möchte Sie bitten, nicht einerseits die Glaubwürdigkeit des Bundesministers des Auswärtigen öffentlich in Frage zu stellen und andererseits dann große Appelle über moralische Integrität vom Stapel zu lassen.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich bitte um Entschuldigung, Herr van Delden, ich bin mit Herrn Carstens im Gespräch.
Der letzte Punkt. Sie haben mir vielerlei unterstellt. Das ist Ihr gutes Recht. Ich darf im Augenblick nicht auf alles eingehen, aber in einem Punkte muß ich eine Unterstellung heute und sofort zurückweisen. Das ist die Unterstellung, daß der Bundeskanzler nicht die Absicht habe, Sie über den Gang der Europa-Politik zu unterrichten. Dies ist falsch. Der Außenminister hat dazu eine Erklärung im Namen der Bundesregierung, die auf den Beschluß der Bundesregierung hin zustande gekommen war, hier vorgestern abgegeben. Sie haben diese Erklärung debattiert. Sie hätten nachfragen können; Sie hätten sagen können: Wir möchten das im Ausschuß näher erörtern. Das wäre alles möglich gewesen. Ich, Herr Professor Carstens, muß die Unterstellung zurückweisen, ich würde mich der Unterrichtung der Opposition entziehen. Ich habe mich in den kurzen Monaten meiner gegenwärtigen Amtseigenschaft keinem Gespräch mit Ihnen entzogen. Die Tatsache ist, daß Sie um kein einziges gebeten haben, Herr Professor Carstens.
Das Wort hat Herr Bundesminister Apel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner ersten Intervention der Opposition eine Reihe von Fragen gestellt, Fragen, die für die Zukunft unseres Landes und der westlichen Welt von zentraler Bedeutung sind, z. B. die Frage, ob wir uns darüber einig sind, daß durch die Rohstoffpreisexplosion und insbesondere durch die Ölpreisexplosion wir in der Tat in einer neuen ökonomischen, ja, ich muß sagen, in einer neuen sozialen Landschaft leben. Es ist traurig, Herr Kollege Dr. Carstens, daß Sie darauf keine Antwort gegeben haben; denn nur dann, wenn wir darauf Bezug nehmen, wenn wir uns darüber einig sind, daß hier massive Probleme auf uns zukommen, sind wir zu zweierlei in der Lage: einmal, die Probleme zu bewältigen, zum zweiten aber auch, die Situation in unserem Lande in die richtigen Größenordnungen zu setzen.Insofern hat es auch überhaupt keinen Sinn, Zitate von vor einigen Jahren mit Zitaten von heute zu vergleichen.
— Natürlich hat es keinen Sinn, in der Tat. Meine Herren, die Sie jetzt lachen, Sie werden das noch erleben: Wir sind leider in einer anderen Welt. Wir sind seit zwölf Monaten in einer anderen Welt.
Darüber gibt es leider nichts zu lachen. Ich möchteauch gerne darüber lachen können. Dies ist tiefernst,
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7862 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundesminister Dr. Apelund dies ist ein einschneidendes Ereignis in dem Leben aller Industrienationen in der westlichen Welt, ja, der Industrienationen der Welt überhaupt. Hier kommen neue Fakten auf uns zu, die mit Lachen hier zwar kurzfristig beantwortet werden können, was aber beweist, daß Sie nicht wissen, um was es in diesem Lande geht.
Nun, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen doch einfach mal die Daten vortragen, die kühlen Zahlen, damit wir wissen, wo wir sind und in welchem Land wir sind.Preissteigerungsrate — ich vergleiche uns nur mit Ländern in Westeuropa, die die gleiche Größenordnung haben —: Bundesrepublik 6,9 %, Frankreich 14,8 %, England 17,1 %, Italien 19,3%.
Streiktage per 1 000 Beschäftigte: 26 in der Bundesrepublik, 238 in Frankreich, 319 in England und 1 800 in Italien.Lebensstandard in unserem Lande — Bruttosozialprodukt pro Kopf —: Bundesrepublik 14 050,
Frankreich 12 770, Großbritannien 9 770, Italien 7 320.Währungsreserven: Bundesrepublik 34,4 Milliarden, Frankreich 8,1 Milliarden, England 6,9 Milliarden, Italien 5,5 Milliarden Dollar.Geschätzter Außenhandelssaldo: Bundesrepublik+ 20, Frankreich — 6,4, Italien — 12,2, England — 15,8 Milliarden Dollar.Voraussichtlicher Anstieg der realen Bruttolöhne in unserem Lande im Jahre 1974: Bundesrepublik+ 4,1, Frankreich + 2,7, Italien + 9,1, England+ 1,1.Als letzte Zahl möchte ich den Rückgang des realen Sozialproduktes im ersten Halbjahr 1974 nennen: USA — 3,0, Japan mehr als — 5, England — 6, Bundesrepublik + 1 bis + 1,5.Wenn Sie dies alles hören, so müssen Sie bitte aufhören, so zu argumentieren, als hätten wir Probleme in diesem Lande, die Sie anscheinend herbeireden wollen. Insofern stütze ich mich auf das, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat: Wenn Sie von Psychologie in diesem Lande und von der Bedeutung der Psychologie in der konjunkturellen Landschaft sprechen, dann bedenken Sie bitte, was Sie sagen! Vor allen Dingen bleiben Sie bei den Tatsachen! Dann haben Sie und wir keine Probleme.
Herr Kollege Carstens hat davon gesprochen, daß unsere Inflationsbekämpfungspolitik nicht drastisch genug war. Ich zitiere den Bericht der Deutschen Bundesbank vom letzten Jahr — Seite 29 —:Die starken konjunkturellen Spannungen, die die wirtschaftliche Lage bis zum Frühjahr 1973 bestimmten, haben sich unter dem Einfluß der von Bundesregierung und Bundesbank eingeleiteten Stabilitätspolitik gemildert.Und nun kommt der entscheidende Satz:Wenngleich diese Politik zu Recht als der konsequenteste Stabilisierungsversuch bezeichnet worden ist, der je in der Nachkriegszeit unternommen wurde, ist ihr doch schließlich wegen der Ölkrise ein befriedigender Erfolg versagt geblieben.Sie müssen also bitte zur Kenntnis nehmen, daß die objektive Stelle der Bundesbank uns bescheinigt, daß wir hier eine konsequente und, wie ich dargestellt habe, erfolgreiche Politik betrieben haben.Sie haben auf den öffentlichen Dienst abgehoben. Natürlich, Herr Professor Carstens, schaue ich mit Sorgen — ich sage das ganz offen — auf die vor uns liegende Runde im öffentlichen Dienst. Mir wäre es aber sehr lieb, wenn diese Runde nicht von folgenden Tönen begleitet werden würde — ich zitiere wörtlich —:Am Dienstag, dem 11. September 1973, fand ein Gespräch zwischen der Führung der CDU/CSU- Bundestagsfraktion und dem Vorstand des Deutschen Beamtenbundes statt. Teilnehmer: Fraktionsvorsitzender Karl Carstens und Beamtenbundsvorsitzender Alfred Krause.
— Ja, das war vor der letzten Runde, die Sie uns hier vorhalten.Als Ergebnis dieses Gesprächs teilte der Sprecher der CDU/CSU-Fraktion mit: „Die vom Beamtenbund für 1974 geforderte durchschnittliche Erhöhung von Besoldung und Versorgung um mindestens 12 °/o wurde von den Vertretern der CDU/CSU als maßvoll anerkannt."
Dies war Ihr Beitrag. Und hier stellt sich nun wirklich für mich die entscheidende Frage, ob wir in diesem Jahr wieder erleben müssen, daß Sie hier so reden und mit dem Verbandsvorsitzenden anders.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zur Europapolitik machen. Bitte, hüten wir uns alle — dies soll jetzt kein Vorwurf sein, weil die Europapolitik bisher in diesem Hause einheitlich von allen relevanten Kräften getragen wurde — vor der zu engen institutionellen Debatte! Ich bin dafür, Herr Kollege Dr. Carstens, daß Wir die Rolle der Kommission stärken. Sie rennen bei mir offene Türen ein, wenn Sie sagen, daß das Europäische Parlament Befugnisse haben muß. Aber das Dilemma, in dem wir uns in Europa befinden, ist doch nicht der institutionelle Bereich. Den könnten wir hinkriegen. Das Dilemma ist, daß sich die sozialen und die ökonomischen Strukturen in den neun Mitgliedsländern in einer Weise auseinanderentwickelt haben, daß
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7863
Bundesminister Dr. ApelSie über keinen institutionellen Kunstgriff, wie lieb und wie nett es auch immer aussehen mag, in der Lage sein werden, die Dinge so einfach in Ordnung zu bringen, wie das mancher meint. Und da muß ich aus meiner bisherigen Tätigkeit, aber auch aus meiner jetzigen Arbeit als Finanzminister sagen — und wir sehen uns ja vielleicht sehr viel häufiger, als manche meinen —: Ich bin sehr dafür, daß wir die Instanzenzüge der Institutionen einhalten. Ich bin sehr dafür, daß wir dies alles beachten. Nur: Wenn die politischen, die ökonomischen und die sozialen Voraussetzungen fehlen, wird es nichts. Deswegen bin ich froh, wenn jeder Weg genutzt wird, auch der der intergouvernementalen Zusammenarbeit, um voranzukommen.Und nun ein Wort zum Italien-Kredit, Herr Kollege Dr. Carstens. Hier ist doch nicht falsch informiert worden, wenn ich erklärt habe, wenn der Sprecher der Bundesregierung erklärt hat — und Sie haben das ja zitiert —, daß bilaterale Hilfen nicht in Frage kommen. Herr Kollege Dr. Carstens, dieses ist keine bilaterale Hilfe.
— Nein. Dieses ist folgendes, nun aber wirklich einfach dargestellt: Devisenreserven, die die Bundesrepublik angelegt hat, z. B. in amerikanischen Schatzwechseln, weil diese Devisenreserven ja auf dem Binnenmarkt nicht einsetzbar sind — im übrigen würde das ja auch Geldschöpfung sein, die wir nicht wollen; ich komme darauf noch zurück —, diese Devisenreserven in Höhe von 2 Milliarden Dollar werden dort nicht mehr angelegt. Sie gehen zu den gleichen Konditionen, zum gleichen Zinssatz an die italienische Zentralbank, und dafür wird uns Gold verpfändet, das im übrigen wirklich verpfändet ist, das in Fort Knox wirklich aus dem italienischen Keller herausgefahren und in den deutschen Keller gefahren wird. Insofern gibt es hier keine falsche Unterrichtung, sondern dies ist ein Notenbankkredit, der allerdings im Interesse unserer Außenwirtschaft liegt. Insofern finden wir diesen Weg richtig.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Minister, Sie haben die Richtigkeit des gesamten Vorgangs nicht bezweifelt. Ich darf Sie fragen: Wissen Sie, daß „bi" zwei heißt, und können Sie uns sagen, daß außer diesen beiden, Deutschland und Italien, noch ein Dritter beteiligt war? Dann wäre es eine Tri-Angelegenheit gewesen.
Lieber Herr Kollege von Bismarck, es ist nicht alles hier im Plenum auszubreiten, Nicht alles kann hier im Plenum ausgebreitet werden, auch wenn Fragen gestellt werden.Lassen Sie mich zu einigen Bemerkungen kommen, die im Rahmen der Haushaltsdebatte hier vorgetragen worden sind und bei denen Sie Anspruch auf Antwort durch den Finanzminister haben.Erster Punkt: Herr Kollege Strauß und andere haben gesagt, ich hätte Geschichtsklitterung begangen — ja, Herr Kollege Strauß hat das noch ein bißchen drastischer gesagt —, was die Steuerreform anbelangt, insbesondere was das Kindergeld anbelangt. Meine lieben Kollegen von der Opposition, natürlich hat Herr Kollege Strauß zu seiner Zeit als Finanzminister 200 Millionen DM bereitgestellt. Aber wenn man sich einmal die Größenordnung anguckt, die der Familienlastenausgleich nun kostet— heute 5 Milliarden —, dann können Sie selbst bei einer etwaigen Dynamisierung der Größenordnung doch nicht davon ausgehen, daß dahinter politisch relevanter Wille steckt.
— 200 Millionen — so haben Sie gestern gesagt — hätten Sie damals als eine Art Merkposten zusätzlich bereitgestellt. Aber jetzt kostet es 5 Milliarden zusätzlich, lieber Herr Kollege Strauß, und diese 200 Millionen, die Sie normalerweise schon in einem „Bild"-Zeitungsinterview mal so eben versprechen
— ich bitte Sie —, können Sie doch nun wirklich nicht als Alibi einbringen.Aber lassen Sie uns auf die letzten Wochen und Monate kommen. Ihre Herren im Finanzausschuß haben eine verfassungsrechtliche Überprüfung der neuen Kindergeldregelung verlangt. Herr Kollege Dr. Hillermeier hat noch am 5. Juni hier im Hause— Sie können das im Protokoll des Deutschen Bundestages nachlesen — gesagt: Es bestehen bei uns nach wie vor eine Reihe von Bedenken, nicht nur verfassungsrechtlicher Art. Konsequenz: Sie haben die Kindergeldregelung mit akzeptiert, weil Sie merken mußten, daß dies in der Tat ein zentrales Anliegen in diesem Lande ist. Aber ich bleibe bei meiner Behauptung: Wir haben Sie in diesem Punkt mühsam zum Jagen tragen müssen.
Zweite Bemerkung: Steigerungsrate des Bundeshaushalts. Herr Kollege Friderichs hat schon darauf aufmerksam gemacht, daß Herr Stoltenberg da anderer Meinung ist als Herr Strauß, aber ich will mich hier mit Herrn Strauß auseinandersetzen. Sie haben einmal schon akzeptiert, Herr Strauß, daß wir die 600 Millionen DM Sonderprogramm herausnehmen dürfen, weil Sie das früher auch herausgenommen haben. Insofern ist dieser Streitpunkt abgehakt. Sie haben aber gesagt: Ihr habt Massage dadurch gemacht, daß ihr die EG-Leistungen nicht berücksichtigt habt, die jetzt plötzlich auf der anderen Seite, nämlich auf der Einnahmeseite, erscheinen. Herr Kollege Strauß, wissen Sie denn gar nicht, daß dies ein schrittweiser Vorgang ist? Seit Jahren wird schrittweise die Alimentierung der Europäischen Gemeinschaft auf andere Weise betrieben. Wenn wir dies jedesmal herausgerechnet hätten,
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7864 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundesminister Dr. Apelwären wir in unmögliche Rechenkunststücke gekommen.
— Aber wenn Sie die ganzen Jahre hindurch Vergleichszahlen so berechnen, wie Sie es machen, dann muß ich Ihnen allerdings sagen, daß Sie in einem Labyrinth von Berechnungen enden, die überhaupt keine Zahl und keine Aussagekraft mehr haben. Man muß das nehmen, was effektiv in dem jeweiligen Haushaltsjahr gezahlt wird, und darf hier nicht mit Akrobatik kommen.Drittens sagen Sie, wir hätten die Steuermindereinnahmen gar nicht berücksichtigt, auch das müßte von uns eingebracht werden. Auch dies kann ich nicht akzeptieren, weil ich zur Zeit noch davon ausgehe, daß meine Kollegen die 1,9 Milliarden DM einsparen werden; denn dies habe ich von ihnen verlangt.
Vierter Punkt. Was die Stundung der Rentenversicherung anbelangt, so haben wir uns ganz strikt nach den Regeln der Bundeshaushaltsordnung gerichtet. Sie verlangt, daß immer erst dann, wenn Fälligkeiten da sein werden — und das wird 1982 und 1983 der Fall sein , dies zu berücksichtigen sei.
— Ja, natürlich.
Dies heißt konkret, Herr Strauß, daß der Haushalt zur Zeit noch um 8,7 °/o steigt. Ich gebe Ihnen allerdings zu: auf Grund der Konjunkturprogramme, die wir beschlossen haben und die im wesentlichen, denke ich, erst 1975 haushaltswirksam werden, wird es eine höhere Steigerungsrate geben; in jedem Falle eine Steigerungsrate, die konjunkturpolitisch akzeptabel ist.Hier ist immer wieder davon gesprochen worden, daß der Anteil der öffentlichen Investitionen zurückgeht. Meine Kollegen, insbesondere Herr Dr. von Bülow, haben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß es problematisch ist, zwischen den Kosten für den Lehrer und den Kosten für die Schule zu teilen, weil natürlich das Ganze erst, wenn man eine Schule baut und dann Lehrer anstellt, eine Einheit wird. Aber ich will das nicht tun; ich will mich nun streng auf die Investitionsquote beschränken. Und da stellen wir folgendes fest. Allein durch die Tatsache, daß das Kindergeld den Haushalt auf der Ausgabenseite beträchtlich anhebt, wird bei gleichbleibender Investitionsrate diese im prozentualen Verhältnis zu den Konsumausgaben — Kindergeldleistungen sind ja nach unserer Definition Konsumleistungen — um 1 °/o reduziert.Bei den Gemeinschaftsaufgaben — darüber haben wir gesprochen nehmen wir den Hochschulbau zurück, und zwar nicht deswegen, um, wie Sie meinen, Herr Althammer, hier etwas Böses zu tun, sondern wir passen uns hier den Realitäten des Abflusses der Mittel und der Zahlungsunfähigkeit der Länder an. Auch dies senkt natürlich den Prozentsatz der investiven Ausgaben beim Bund, wenn wir im Hochschulbau von 2,1 Milliarden DM auf 1,4 Milliarden DM herunterschreiben.Schließlich haben wir bei den Wohnungsbauprämien — diese werden zu den investiven Ausgaben gerechnet — ebenfalls auf Grund des Einziehens der Einkommensobergrenzen sichergestellt, daß hier die Ausgaben um rund ein Drittel zurückgehen.Wenn Sie dies alles in Ihre Rechnung einbeziehen, dann bleibe ich mit Ihnen insofern auf einer Linie, als auch ich mir Besorgnis über die Weiterentwicklung der öffentlichen Investitionen mache und machen muß. Nur: Diese Zahlenakrobatik, Herr Kollege Strauß, für 1975 sieht dann weitgehend anders aus.Eine Bemerkung zu Herrn Althammer. Herr Althammer, Ihre Befürchtungen, daß die Konjunkturprogramme am Bundestag vorbeilaufen könnten, sind natürlich völlig unbegründet. § 8 des Stabilitätsgesetzes hat hier voll seine Gültigkeit und schaltet das Parlament voll und ganz ein. Wir denken nicht daran, uns an dieser von uns mitgeschaffenen Regelung vorbeimogeln zu wollen. Insofern, meine ich, sollten wir diese Kritik nicht weiter verfolgen. Sie, meine Damen und Herren, werden damit befaßt sein. Das wird alles seinen ordnungsgemäßen Gang gehen. Worauf es ankommt, ist, daß es schnell geht und wir keine Zeit verlieren. Damit werden Sie sicherlich einverstanden sein.Ich möchte eine Bemerkung zu einem Zwischenruf machen, der hier gestern gemacht wurde und mir Sorgen macht, weil er Mißverständnisse auslösen könnte. Es wurde durch eine Frage an Graf Lambsdorff der Eindruck erweckt, als hätte die Bundesregierung oder, genauer gesagt, der Bundesfinanzminister — denn es ist ja noch nicht auf der Ebene des Kabinetts — vor, die Privatbanken oder die Privatbankiers in Zukunft nicht mehr zuzulassen. Dies ist falsch. Es hat so in einigen Zeitungen gestanden, und dies ist mit auf eine nicht besonders glückliche Formulierung des Finanzministeriums zurückzuführen. Aber Tatsache ist doch, daß es darum geht, den Einzelbankier in Zukunft nicht mehr zum Geschäft neu zuzulassen, denjenigen also, der nicht im Stile der Offenen Handelsgesellschaft oder der KG oder der AG oder der GmbH agiert, sondern als Einzelkaufmann, und der seine Schulden und seine eigene Aktivität mit der des Bankgeschäfts verbindet. Dies führt zu unerträglichen Ergebnissen. Im übrigen wollen wir — das ist auch die Erkenntnis aus Herstatt — in Zukunft das Vier-Augen-Prinzip einführen. Es sollen eben zwei Leute als oberste Leiter des Bankengeschäfts verantwortlich sein. Allein deswegen geht der Einzelbankier nicht mehr. Wir sind hier in Übereinstimmung mit EG-Richtlinien. Übrigens hat es seit 1969 keinen Antrag gegeben, einen neuen Einzelbankier zuzulassen. Also bitte, nehmen wir die Dinge so, wie sie sind, und argumentieren wir nicht an der Sache selbst vorbei! Sie wird Ihnen auf einem rela-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7865
Bundesminister Dr. Apeltiv kurzfristigen Wege vorgelegt werden. Wir werden demnächst die Vorlage des Landes Hessen im Bundesrat haben, wenn ich es richtig weiß, am 18. Oktober. Die Bundesregierung wird dazu Stellung nehmen. Dann möchten wir Ihnen auf diesem kurzen Wege unsere Änderungsvorschläge zur Veränderung des Kreditwesengesetzes zuleiten, damit wir schnell handlungsfähig werden. Dann muß dieses Parlament darüber entscheiden, ob das, was wir machen, ausreichend ist, ob man mehr, ob man weniger tun sollte.Eine zentrale Rolle in dieser Haushaltsdebatte — und darüber möchte ich abschließend mit Ihnen reden — hat die Frage gespielt: Können wir den Bundeshaushalt 1975 finanzieren? Wie ist es mit der Nettokreditaufnahme?Die Nettokreditaufnahme ist nach heutiger Schätzung bei den Gebietskörperschaften gut 30 Milliarden DM. Wenn hier von 40 Milliarden DM gesprochen wird, dann werden Bahn und Post mit einbezogen. Das muß man vielleicht tun, aber bei den öffentlichen Händen geht es um 30 Milliarden DM.Ich kann weiter feststellen, daß wir im August den Nettoabsatz festverzinslicher Wertpapiere hervorragend haben laufen sehen. Wir sind immerhin 4,4 Milliarden DM auf dem Markt losgeworden. Das ist wesentlich mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres; da waren es nur 3,6 Milliarden. Wir können davon ausgehen, daß die Geldvermögensbildung — sie betrug 1973 130 Milliarden DM — auf Grund der Steuerreform und auf Grund anderer Ereignisse, z. B. der Preisstabilität in diesem Lande und damit auch der Zinssenkungstendenzen, höher sein wird. Damit sehe ich keine zentralen und entscheidenden Probleme, diese Nettokreditaufnahme unterbringen zu können.Wenn man sich einmal die Verschuldung des Bundes, verglichen mit den europäischen Nachbarn, ansieht, dann gibt es unter den Ländern, mit denen wir uns vergleichen können, nur noch Frankreich, das eine niedrigere Verschuldung in bezug auf das Bruttosozialprodukt hat. Alle anderen liegen doppelt, dreifach, vierfach über uns.
— Sicher! Nur müssen wir auch sehen, lieber Herr Kollege Althammer, daß hier viel Raum ist. Es ist falsch, wenn Herr Kollege Strauß gesagt hat, wir würden in Zukunft selbst laufende Ausgaben aus der Verschuldung des Bundes finanzieren. Das ist falsch! Sie können das nachlesen in dem Dokument 7/2503, Mittelfristiger Finanzplan, daß wir auch in Zukunft einen wesentlichen Teil der öffentlichen Investitionen aus Steuereinnahmen finanzieren werden. Worauf es ankommt, ist, daß wir die Kirche im Dorf lassen, daß wir in diesem Hause nicht zusätzlich Geld in Größenordnungen ausgeben wollen, die nicht akzeptabel sind.Da finde ich einen sehr interessanten Brief aus dem Sommer dieses Jahres vom Arbeitskreisvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion für Haushalt, Steuern, Geld und Kredit an den Vorsitzenden Herrn Dr. Kohl:Sehr geehrter Herr Parteivorsitzender!Die Vielzahl von finanzwirksamen Vorschlägen aus den Unionsparteien versetzt uns zunehmend in Widerspruch zu unserer Stabilitätspolitik. Bei einer Reihe von Vorlagen liegt die Zuständigkeit ganz oder zum Teil bei den Ländern und Gemeinden. Damit ist eine Koordinierung dieser Initiativen erfahrungsgemäß für die Bundestagsfraktion schwierig.SPD und FDP rechnen uns in der Öffentlichkeit jeden Vorschlag aus den Reihen unserer beiden Parteien, Bundestagsfraktion oder Länder an, der Mehrausgaben oder Mindereinnahmen verursacht. Diesem Vorwurf können wir nur durch eine klare Handlungsrichtlinie beider Parteiführungen erfolgreich begegnen.
— Ja, aber leider nur ohne Erfolg! Das ist doch das Dilemma. Ich brauche das nicht alles aufzuzählen; der Herr Bundeskanzler hat das gemacht. Elf Milliarden DM mal eben vorgeschlagen von Herrn Höcherl, von der Bayerischen Staatsregierung, von Herrn Strauß, erneut von der Bayerischen Staatsregierung, erneut von Herrn Strauß und erneut von der Bayerischen Staatsregierung und dann noch einmal von Baden-Württemberg. Elf Milliarden DM, wenn es nach Ihnen ginge.
— Oh, das kann ich sehr wohl zusammenrechnen. Das sind alles einzelne Positionen.
— Ich muß Ihnen sagen: Wo bleibt dann Ihre finanzwirtschaftliche Solidität und Seriosität, wenn Sie immer so, wie es Ihnen paßt, hier argumentieren wollen?
Wir werden in den nächsten Monaten im Haushaltsausschuß und in den anderen Ausschüssen fleißig arbeiten müssen. Ich fürchte, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie werden die Arbeit alleine machen müssen; denn außer widersprüchlicher Argumentation, außer Propagandaargumenten hat uns die Opposition in diesen zwei Tagen nicht gezeigt, wie sie zur Sicherung der Zukunft unseres Landes beitragen kann und möchte.
Das Wort hat Herr Bundesminister Maihofer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Den Vorwurf der Demagogie, den Sie, Herr Professor Carstens, hier so leichthin erhoben haben, muß ich an Sie selbst zurückgeben. Das gilt für Ihre
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7866 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Maihof erdemagogische Verdrehung der Politik der wirtschaftlichen Sicherheit dieser Regierung. Das gilt aber noch vielmehr — das ist meines Amtes hier — für die demagogische Verdrehung der Politik der inneren Sicherheit dieser Regierung.
Sie malen hier wie dort schwarz in schwarz. Hier wie dort entwerfen Sie Schauergemälde, in denen Sie die Wirklichkeit so verzeichnen und verzerren, daß man sich fragt, ob Sie überhaupt über dasselbe Land reden, in dem wir alle leben. Statt konstruktiver Alternativen zur Politik dieser Regierung, wie es die verfassungsmäßige Aufgabe der Opposition wäre, beschränken Sie sich auf sterile Polemiken des ewigen Nein-Sagens auf fast allen Feldern der Außen- wie der Innenpolitik!
Die Pflicht der Opposition ist es jedoch nicht, die Regierung einfach zu kritisieren — das ist ihr gutes Recht —, sondern dem Bürger alltäglich vor Augen zu führen, daß sie die bessere Politik und die besseren Politiker hat. Dazu genügt es eben nicht, einfach nur die Politik und die Politiker der Regierung jeweils schlecht zu machen, wie das hier — das war das einzige, was Sie hier heute zu bieten hatten — ein neues Mal geschehen ist.Wie beim Thema der Inflation, so stellen Sie auch beim Thema des Extremismus — das ist der Anlaß, aus dem ich mich nicht enthalten kann, einiges zu sagen — die wahre Wirklichkeit in unserem Lande völlig auf den Kopf. Wie sieht sie in Hinsicht auf den Extremismus wirklich aus?Der Anteil der Linksextremisten, selbst in den Studentenparlamenten, die uns jahrelang solchen Kummer machten, geht seit einem Jahr erstmals zurück. Ebenso gingen die Mandate von linksextremistischen Gruppen innerhalb der Allgemeinen Studentenausschüsse von noch 60,5 % im Juli 1973 auf nun 51,3 % im Juli 1974 zurück, also in einem einzigen Jahr um ganze 10 %.
— Ich war hier.
Diese allem öffentlichem Gerede widersprechende erfreuliche Entwicklung gerade auch in dem uns bisher so bekümmernden Bereich der Hochschule setzte sich auch bei der Neuwahl zum Verband Deutscher Studentenschaften, dem VDS, fort, die im Frühjahr dieses Jahres in Bonn stattfand. Dabei hat die bisherige Koalition aus Spartakus und SHB ihre Führungsposition verloren. Ihr Stimmenanteil sank von 61 % noch im Jahre 1973 auf nur mehr 42 % im Jahre 1974.
Das ist genau der Hintergrund all dessen,
wovon wir hier in einer völlig unterschiedlichen Beurteilung der wahren Wirklichkeit reden.Ich komme damit direkt auf das Thema, das Sie abgehandelt haben, nämlich den Extremismus im öffentlichen Dienst.
— Aber nein.
— Ach, wenn Sie nur zuhören könnten!
— Aber ja. In jeder Zeitung, die ich aufschlage, die Äußerungen Ihrer Politiker bringt,
wird landauf landab ein Schauergemälde von wachsender linksextremistischer Unterwanderung unserer Gesellschaft, unseres Staates entworfen.Bei den Universitäten ist seit einem Jahre festzustellen, daß das nicht mehr der Fall ist. Das gleiche gilt für den Extremismus im öffentlichen Dienst, von dem Sie gesprochen haben. In der Öffentlichkeit ist der Anschein verbreitet, als ob es da auf der einen Seite die Parteien der sozialliberalen Koalition und die von ihr regierten Länder gibt, die weniger standfeste, weniger streitbare Demokraten seien, als etwa die Parteien, die Ihrer Oppositionsfraktion angehören.
Die Zahlen auf Grund der letzten Erhebungen widerlegen auch hier die Polemik der Opposition
gegen eine extremistische Unterwanderung unseres Staates als reine Wahlpropaganda. Es ist erstaunlich, daß der Anteil von Links- und Rechtsextremisten in den einzelnen Bundesländern, alle im dortigen Bundesdienst, Landesdienst und Kommunaldienst Tätigen zusammengenommen, nicht im mindesten mit dem Bilde zusammenstimmt, das die Opposition der Öffentlichkeit hier wie außerhalb einzureden versucht: daß es da nämlich sozialliberale Länder gibt, die von Linksextremisten im öffentlichen Dienst wimmelten, und christdemokratisch regierte, die sich demgegenüber allein als Hüter der Demokratie nach links verstünden und
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7867
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Maihoferbewährten. Das schwingt ja auch bei Ihren Bernerkungen etwa über unsere Hamburger Parteifreundemit. Die Wahrheit sieht auch hier völlig anders aus.
— Ich komme darauf gleich. So steht im sogenannten roten Hessen 138 Linksextremisten im öffentlichen Dienst fast die gleiche Zahl von Rechtsextremisten gegenüber, nämlich 134. Demgegenüber sind in einem sogenannten, wenn ich es einmal so verkürzt sagen darf, schwarzen Land wie Baden-Württemberg, also einem von der CDU regierten Land, 246 Linksextremisten im öffentlichen Dienst, also ein erheblich größerer Anteil gegenüber bloß 156 Rechtsextremisten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gern.
Herr Bundesminister, könnte die Unterschiedlichkeit der Zahlen nicht darauf beruhen, daß in den von der CDU/CSU regierten Ländern die Extremisten, die in den öffentlichen Dienst eindringen, aufgespürt, benannt und damit bekannt werden, während sie in den Ländern, die Sie zuerst genannt haben, eben nicht mit der gleichen Sorgfalt aufgespürt werden?
Das ist doch vollkommen ausgeschlossen, weil die Verfassungsschutzämter aller Länder Extremisten rechts wie links nach genau den gleichen Kriterien in solchen Statistiken zusammenfassen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Minister?
Bitte!
Herr Minister, ist Ihnen folgender unangenehmer Sachverhalt bekannt, daß z. B. Personen, die von einem Land zurückgewiesen worden sind, die durch zwei Instanzen die Gerichte bemüht haben, wobei abschließend rechtskräftig festgestellt worden ist, daß die Zurückweisung zu Recht erfolgt ist, dann in ein anderes Bundesland gegangen sind und dort genau die Positionen eingenommen haben, die ihnen im anderen Bundesland verwehrt worden sind?
Das hat es in der Tat in Einzelfällen gegeben, aber — das wissen Sie sehr genau — nicht etwa nur in der einen Richtung, sondern genauso in der anderen Richtung, ja selbst bei einer Abwanderung von abgelehnten Bewerbern aus einem CDU-regierten Land in das andere. Das ist keine Argumentation, mit der Sie uns hier beeindrucken können.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Aber gerne!
Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß gerade deswegen eine Novellierung des Beamtenrechtsrahmengesetzes notwendig ist, damit endlich eine einheitliche Handhabung durch die verschiedenen Länder gesichert werden kann?
Herr Kollege Hirsch, genau darauf ziele ich in meinen weiteren Äußerungen ab und deshalb breite ich Ihnen dieses Material erstmals aus. — Dieser einfache Vergleich straft la nämlich nicht nur alle Gespenstergemälde von nach links weichen Roten und nach rechts harten Schwarzen Lügen — wenn ich es einmal so versimpeln darf —, sondern das stimmt eben einfach, wenn man es an der Wirklichkeit überprüft, nicht. Allerdings gibt es da auch andere Bilder im dritten Beispiel dieser Art: in Bayern, das in der Tat nur nach links scharfsichtig zu sein scheint, nach rechts aber sehr nachsichtig. Stehen im öffentlichen Dienst im Bereiche dieses Landes doch 155 Linksextremisten immerhin 247 Rechtsextremisten gegenüber. Deshalb ist es dann auch kein Wunder, daß es in diesem CSU-regierten Land zwar immerhin vier Entlassungen von Linksextremisten gibt, aber keine einzige bei den fast doppelt so vielen Rechtsextremisten.Daß die Bundesregierung angesichts dieser völlig unterschiedlichen Einstellungspraxis — das ist völlig unbestreitbar — eine bundeseinheitliche Regelung des Verfahrens bei Einstellung von extremistischen Bewerbern im öffentlichen Dienst in Angriff nimmt, bei der die gleichen rechtsstaatlichen Grundsätze nach links wie nach rechts gelten, ist schon angesichts dieser völlig uneinheitlichen Verwaltungspraxis unabweisbar. Es soll in unserem Lande allüberall dasselbe Beamtenrecht gelten; darum handelt es sich ja. Ich meine, hier sind alle demokratischen Parteien dieses Hauses in einem Boot, und ich bedauere es zutiefst — um das ganz klar zu sagen —, daß heute offenbar bei der CDU/ CSU noch die Auffassung vorherrscht, dieses Extremismusthema eigne sich als Wahlschlager. Ich bin demgegenüber, Herr Kollege Carstens, der Auffassung, daß hier wie auf allen Feldern der inneren Sicherheit kein Tummelplatz für parteipolitische Profilierungskampagnen ist, denn wer hier das Vertrauen in die Verfassungstreue dieser oder jener demokratischen Partei in Zweifel zu ziehen sucht, zerstört in unserer Bevölkerung das Vertrauen in dieses unser demokratisches System überhaupt.
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7868 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundesminister Dr. Dr. h. c. MaihoferWir, die demokratischen Parteien dieses Hauses, sollten darum auf allen Seiten der Versuchung widerstehen, den Solidarisierungskampagnen politischer Extremisten noch ein weiteres Jahrfünft das Evergreen sogenannten Berufsverbots zu bescheren, nur weil man nicht bereit ist, sich in solchen Fällen auf eindeutige Grundsätze rechtsstaatlichen Verfahrens zu einigen,
wie sie in dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf bundeseinheitlich festgeschrieben werden sollen.
— Ich komme noch auf das Hamburger Beispiel. Er hat genau dahin gezielt.
In dieser bundeseinheitlichen Regelung wird von folgenden vier für die Regierungsparteien unverrückbaren Grundsätzen ausgegangen, —
— ich komme noch darauf; haben Sie doch Geduld. Sie werden gleich davon hören, unmißverständlich, was ich dazu meine.1. Der öffentliche Dienst in einem freiheitlichen Rechtsstaat darf nicht den Gegnern der freiheitlichdemrokratischen Grundordnung überlassen werden. Ich glaube, da werden wir übereinstimmen.2. Da werden wir schon nicht so sehr übereinstimmen, fürchte ich: Die Verteidigung der Freiheit muß auch und gerade gegenüber den Feinden der Freiheit nach Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit erfolgen.
-- Dann müssen wir uns sehr schnell über den Regierungsentwurf einigen können, wenn wir hier übereinstimmen.
3. Wenn beides richtig ist, muß in jedem Einzelfall geprüft werden, ob tatsächlich Anhaltspunkte für einen begründeten Zweifel bestehen,
daß der Bewerber die Gewähr dafür bietet, daß erjederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einsteht. Diese Einzelfallprüfung verbietet— das ist eben ein rechtsstaatliches Gebot; alles andere ist Gesinnungs- oder Verdachtsstrafrecht, wenn ich es einmal so sagen darf — jede pauschale und generalisierende Wertung. Nur am Einzelfall können wir über Ablehnung oder Zulassung entscheiden.
— Aber nein! Wieso?4. Vor der Entscheidung — das ist natürlich ein kritisches Problem — über die Versagung ist dem Bewerber die Möglichkeit zur Stellungnahme zu den gegen ihn vorliegenden Ablehnungsgründen zu geben. Das schließt eben aus, daß man einzig und allein feststellt: Der Betreffende ist Mitglied. Punktum, damit ist er abgelehnt. Er muß darüber, ob er sich mit dieser Partei oder wie er sich mit ihrem Programm identifiziert, persönlich gehört werden.
— Sie selbst haben in Ihrem Entwurf ja diese letzte Konsequenz offengehalten, indem Sie gesagt haben: Im Ausnahmefall ist auch ein Mitglied, ja selbst ein Funktionär, wenn ich Sie richtig verstehe, zuzulassen. Das bedeutet, daß auch Sie nur mit einer vollkommenen Umkehr des Regel- und Ausnahmeverhältnisses im Grunde diesen Fall durchaus mit vorsehen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gern.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Herr Carstens vorhin davon gesprochen hat, daß in Hamburg die FDP die Einstellung von fünf Lehrern, die der KPD angehören, gewünscht hat
— gut, zwei —, während die SPD dieser Einstellung widersprochen hat, d. h. also, daß Herr Carstens abgestellt hat auf die innere Uneinigkeit innerhalb der Koalition? Wären Sie bereit, dazu jetzt Stellung zu nehmen?
Aber ja. Ich bin genau dabei, Wenn Sie mich weiterreden ließen, wären wir schon längst bei dem Thema.Zu 4. habe ich noch einen weiteren Satz hinzuzufügen; der heißt: Der Bewerber hat einen Anspruch darauf, daß die Ablehnung der Einstellung schriftlich zu begründen ist, und zugleich, daß die Ablehnung nur auf gerichtsverwertbare Tatsachen gestützt werden darf. Auch das ist für uns ein Gebot der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7869
Bundesminister Dr. Dr. h. c. MaihoferRechtsstaatlichkeit, und nur darum streiten wir eigentlich, ob diese Gebote der Rechtsstaatlichkeit auch hier und gerade hier gelten oder nicht.
— Einen Augenblick!
Danach ist klar, daß ein Bewerber, der einer Vereinigung angehört, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, nach einer Einzelfallprüfung abgelehnt werden kann und muß, wenn sich aus tatsächlichen Anhaltspunkten begründete Zweifel ergeben, daß der Bewerber jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten Wird.
— Sie wissen doch ganz genau, daß mein Vorgänger, mein Parteifreund Genscher, in seiner Rede im Bundesrat ausdrücklich gesagt hat, daß auch die Mitgliedschaft, ja vor allem die Funktionärseigenschaft, ein in der Person des Bewerbers liegender Umstand sei, aus dem sich Schlüsse ergeben könnten, aber, wenn es andere Tatsachen gebe, nicht unbedingt ergeben müßten.
— Wir sind bei Hamburg.
— Warten Sie doch ab! Unmißverständlich klar ist: Sie können doch, wenn Sie eine Einzelfallprüfung vornehmen, auch wenn etwa Koalitionspartner daran mitwirken, wenn also in jedem Einzelfall gefragt werden muß, ob begründete Anhaltspunkte für tatsächliche Zweifel usw. vorhanden sind, niemals anders entscheiden, als daß Sie nach der Aktenlage, nach der Anhörung sich im Einzelfall ein Urteil darüber verschaffen. Da gehen dann eben die Meinungen auseinander, ob in diesem Fall Zweifel begründet sind oder nicht. Das ist doch in Hamburg der Streit, daß in zwei Fällen eine unterschiedliche Beurteilung im Einzelfall bestand. Wenn Sie pauschale und generelle Wertungen vornehmen, gibt es natürlich nie einen Zweifel.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?
Herr Minister, glauben Sie, daß zwischen der von Ihnen soeben erhobenen Forderung, die Demokratie nicht den Gegnern freiheitlicher Grundlagen zu überlassen, und der geübten Praxis auch Ihres Hauses in Verbindung mit dem Finanzministerium — ich nenne den Fall, daß die Kommunistische Partei Deutschlands Marxisten-Leninisten als steuerlich förderungswürdige Partei anerkannt wird — ein großer Unterschied besteht?
Das ist demagogische Polemik. Sie wissen aus der Antwort des Finanzministeriums, daß es hier strenge gesetzliche Vorschriften gibt, an denen man, wenn man nicht den Rechtsstaat außer Kurs setzen will, wie es einem paßt, einfach nicht vorbei kann. Solange eine solche Partei nicht durch das Bundesverfassungsgericht verboten ist, können Sie ihr solche steuerlichen Begünstigungen nicht entziehen. Das ist völlig ausgeschlossen.
— Dann haben wir eben ein völlig unterschiedliches
Verhältnis zum Rechtsstaat, wie ich feststellen muß.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Liedtke?
Herr Minister, wie würden Sie folgenden Vorgang beurteilen? Auf die Frage: „Ist ein Bundestagskandidadt der NPD ein engagierter Anhänger derselben?" wurde folgende Antwort gegeben: „Die Frage kann aus Rechtsgründen so pauschal nicht beantwortet werden. Nach dem geltenden Beamtenrecht wie nach der Gemeinsamen Erklärung der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers vom 28. Januar 1972 muß jeder Einzelfall für sich geprüft und entschieden werden." Die Frage wurde im Landtag von Rheinland-Pfalz gestellt. Die Antwort wurde vom CDU-Kultusminister Dr. Vogel gegeben.
Dem kann ich überhaupt nichts hinzufügen. Das zielt genau auf die von uns zutiefst als fragwürdig bezeichnete Praxis, daß man in einem solchen Verfahren, wo es durchaus um den beruflichen Werdegang geht, eine solche Entscheidung nicht nach strengen rechtsstaatlichen Verfahrensweisen trifft.Aber nun zu dem, was Hamburg angeht: Herr Kollege Carstens, auch Sie haben das wieder aufgeworfen, als ob es darüber irgendwann einmal einen Zweifel gegeben hätte, ob diese Regierung die alte und neue KPD oder auch die DKP als verfassungsfeindlich beurteile oder nicht. Daran hat die Bundesregierung in immer und immer wieder wiederholten Erklärungen niemals den allergeringsten Zweifel gelassen. Noch vor wenigen Tagen ist dies auch von mir wieder auf eine Mündliche Anfrage — die wir dann allerdings schriftlich beantworten mußten, weil keiner der Anfragenden da war — erneut bekräftigt worden. Nur, das gewinnt allmählich nun wirklich den Geruch der Lächerlichkeit, daß man immer und immer wieder, obwohl man ganz genau weiß, daß die Bundesregierung unverrückbar an ihrer Stellungnahme festhält, diese Zweifel in die Welt zu setzen sucht.Das ist genau das gleiche im Hinblick auf die mißverständliche Erklärung unserer Hamburger Parteifreunde. Ich möchte gar nicht darum herumreden. Aber ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu
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7870 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Maihofernehmen, daß Prof. Bialas, als Sprecher der Hamburger FDP in der Bürgerschaft, eben zu dieser Erklärung, in der es ja wie Sie wissen hieß, Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberale seien kritische Demokraten, ausdrücklich und unmißverständlich das folgende erklärt hat: „Die Gleichung ist von uns nie aufgemacht worden; sie wird von mir auch in keinem Falle unterstützt. Dies ist auch gar nicht der Gegenstand des Beschlusses. Das Problem, um das es hier geht, ist, ob Leute, die sich selbst für kritische Demokraten halten, sich möglicherweise zu den Kommunisten geschlagen haben. Ich sage Ihnen, daß ich eine solche Entscheidung für einen grundsätzlichen Irrtum der Betroffenen halte. Kommunisten sind keine kritischen Demokraten. Das ist wahr."
Ich zitiere zu Ende: „Aber daß sich jemand in Verfolg politischer Auseinandersetzungen irrtümlich auf eine verkehrte Front begibt, wäre nicht das erstemal in der Geschichte unseres Landes."Wenn wir hier wirklich ehrlich miteinander reden: Wir sind doch in diesem Punkte grundsätzlich miteinander einig, daß jemand, der einer Partei angehört, die nach unserer Einschätzung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, nichts im öffentlichen Dienst zu suchen hat. Aber selbst Sie haben in dem Entwurf, den die CDU- und CSU-regierten Länder im Bundesrat eingebracht haben, ebenso gesagt, das gelte für Sie nur im Regelfall, wenn jemand Mitglied oder Funktionär der Partei sei. Im Ausnahmefall behalten selbst Sie sich eine entgegengesetzte Entscheidung vor. Damit haben Sie sich implicite allerdings mit einer anderen Auffassung, was Beweislast usw. anlangt — auf den gleichen grundsätzlichen Standpunkt gestellt, daß es durchaus Fälle geben kann, die man nach persönlicher Anhörung und Erforschung der Umstände anders behandeln muß als bei einer generalisierten, pauschalen Wertung, wenn man alles über einen Leisten schlägt.
— Warum? Nehmen Sie doch die Dutzende von Beispielen aus Baden-Württemberg und aus Bayern: Leute, die wirklich diesen Parteien angehören, die von Ihren eigenen Parteifreunden aufgenommen worden sind!
— Aber nein: Daß Sie selbst im Grunde in der öffentlichen Auseinandersetzung davon ausgehen, Mitglied und Funktionär bedeute automatischen Ausschluß vom öffentlichen Dienst, in Wahrheit aber selbst in Ihren eigenen Ländern nach völlig anderen Grundsätzen handeln, daß Sie nämlich trotz Ihrer öffentlichen Reden im Einzelfall durchaus zu abweichenden Entscheidungen kommen.
Sonst wären doch die Hunderte von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes, die wir hier haben und die in den letzten Jahren dazugekommen sind, überhaupt nicht zu erklären. Das ist das für mich eigentlich zutiefst Bedauerliche, daß wir hier nicht wirklich ehrlich miteinander reden, daß wir auf der einen Seite aus dem Extremismusthema einen großen Wahlschlager machen, während wir in Wahrheit im gleichen Boot sitzen, daß wir nämlich im Einzelfall entscheiden müssen: ja oder nein.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Ja.
Herr Bundesminister, darf ich Sie bitten, dem Kollegen Carstens auf seinen Zwischenruf zwei Fälle aus dem Bereich der NPD und einen Fall aus dem Bereich der DKP aus Baden-Württemberg vorzulegen, wobei ihm ja der Fall aus dem Bereich der DKP besonders vertraut sein sollte?
Das werde ich gern mit allen Akten und allem, was dazu gehört, tun, und dann werden Sie überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, Ihre Argumentation aufrechtzuerhalten.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Minister, können Sie bei den Zahlen, die Sie jetzt genannt haben, wie viele Radikale sich in diesen Bundesländern im öffentlichen Dienst befinden, ausschließen, daß das auch Leute sind, die in Unkenntnis ihrer Eigenschaft in den Dienst gelangt sind oder erst hinterher als Radikale festgestellt wurden? Können Sie behaupten, daß das lauter Leute waren, die in Kenntnis ihrer Einstellung erst eingestellt wurden?
Es ist ja so, daß ein Teil davon durchaus als so verdächtig auch schon bei der Einstellung bekannt war, daß ein Teil davon, das gilt für rechts und links, erst nachher durch irgendein auffälliges Verhalten als extremistisch verdächtig festgestellt worden ist. Das kann man sehr wohl im einzelnen auseinanderlegen, aber die Grundtatsache, um die es geht, daß auch in den von Ihnen regierten Ländern in Wahrheit immer wieder linksextremistische Bewerber in den öffentlichen Dienst aufgenommen worden sind, obwohl bekannt war, daß sie solchen Organisationen angehörten, und sogar noch mehr rechtsextremistische, hier und dort, das ist doch völlig unbestreitbar. Allein darum geht es, daß Sie uns den Vorwurf machen, daß wir hier nach völlig
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7871
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Maihoferanderen Grundsätzen verfahren als Sie. In Wahrheit handeln Sie — wie ich an den Beispielen Hessens und Baden- Württembergs gezeigt habe — eher noch viel stärker nach den von Ihnen verurteilten Grundsätzen.
Nun darf ich zum Schluß kommen mit einer Bemerkung — auch das an Ihre Adresse gerichtet, Herr Kollege Carstens — zur Guillaume-Affäre. Alle Regierungen seit Bestehen der Bundesrepublik, das wissen Sie so gut wie ich, waren jeweils von ihren Spionageaffären heimgesucht: John, Frenzel, Knipp, Sütterlin, Felfe stehen nur als einige willkürlich herausgegriffene Beispiele für viele andere.
— Ich komme gleich darauf, Herr Carstens.Sicher ist der Fall Guillaume wegen der Plazierung dieses Agenten in nächster Nähe des Bundeskanzlers
besonders spektakulär, das hat nie jemand bestritten.
Ob er vom angerichteten Schaden allerdings, also vom Verratsumfang her, wirklich, wie Sie so leichthin hier behauptet haben, der größte Spionagefall in der Bundesrepublik Deutschland ist — das wagen Sie ja zu sagen, noch vor Abschluß der Ermittlungen —, ist eine völlige unbewiesene Behauptung.
Eine auch sehr viel unscheinbarere Funktion kann Verratsmöglichkeiten ergeben, die mit denen eines Referenten im Kanzlerbüro durchaus vergleichbar sind, wie die ganzen Beispiele, die ich Ihnen aufgezeigt habe, beweisen. Ich finde nur, schon heute, bevor wir überhaupt wissen, was verraten worden ist, nicht nur, was bewiesen werden kann, das so in die Welt zu setzen — „Das ist der größte Verratsfall in der Geschichte der Bundesrepublik!" — ist unverantwortlich.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Berger?
Gleich im Anschluß. Darf ich wenigstens diesen Gedanken noch weiterführen?
Ich sage das alles nicht, um den Fall Guillaume zu verharmlosen.
Die Bundesregierung hat diesen Verratsfall von Anfang an außerordentlich ernst genommen, und sie hat sich um die rückhaltlose Aufklärung dieses Falles von Anfang an bemüht. Ich darf dazu nur zwei Dinge in Erinnerung rufen. Die Bundesregierung hat längst vor Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des Parlaments eine eigene Kommission eingesetzt, die alle schwachen Punkte bei der Behandlung dieses Sicherheitsfalles aufdecken wird. Diese Kommission arbeitet, wie ich mich durch einen kürzlich erstatteten Zwischenbericht überzeugen konnte, zügig und gründlich. Der Bericht der Kommission wird der Bundesregierung nach Ende Oktober vorliegen. Die Bundesregierung ist, und das bekräftige ich hier nochmals, entschlossen, ihn in allen Stücken der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ich darf aber auch ein Zweites bei dieser Gelegenheit einmal hier in Erinnerung rufen. Die Bundesregierung hat auch von Anfang an den parlamentarischen Untersuchungsausschuß bei seiner Wahrheitsfindung rückhaltlos unterstützt.
— Wir kommen gleich darauf.
Sie hat dem Ausschuß, und das meine ich ganz ernst, bis an die äußerste Grenze des nach allem sachverständigen Urteil aus Sicherheitsgründen Vertretbaren ihre Unterlagen zur Verfügung gestellt. Bei der Erteilung der Aussagegenehmigungen hat diese Regierung in der gleichen Weise gehandelt. Ich behaupte, daß die Bundesregierung durch diese Offenlegung, bis an die äußerste Grenze des Möglichen, überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen hat, daß der Untersuchungsausschuß zu weitgehenden Sacherkenntnissen gekommen ist. Ich meine, dies sollte auch einmal anerkannt werden. Ich würde sogar die Behauptung wagen, daß es im In- und Ausland keinen Vergleichsfall gibt, in dem eine Regierung die Arbeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in diesem Bereich allerhöchster Empfindlichkeit in ähnlich rückhaltloser Weise unterstützt hat.
Herr Bundesminister, gestatten Sie nun die Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Berger?
Bitte!
Herr Bundesminister, darf ich auf Ihren Zweifel an den Feststellungen meines Kollegen Carstens zurückkommen, daß es sich hier um den größten Spionagefall der Bundesrepublik handelt. Darf ich Sie bitten, mir
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7822 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974
Frau Berger
zu sagen, welcher andere Spionagefall seit Bestehen dieser Bundesrepublik zum Rücktritt eines Bundeskanzlers geführt hat?
Das sind doch zwei ganz verschiedene Dinge: die Auswirkung eines solchen Spionagefalls für die innenpolitische Szene und die Wertung eines solchen Spionagefalles als Landesverrat. Sie wissen ja, was Spionage ist, nämlich Verrat von Staatsgeheimnissen. Das steht heute doch noch in den Sternen
— das weiß Herr Carstens so gut wie ich —, inwieweit in diesem Sinne dieser Spionagefall Guillaume in der Tat der größte Verratsfall der Bundesrepublik war. Das ist der entscheidende Punkt.
— Ja, Spionagefall! Noch niemand kann heute sagen, ob hier überhaupt im Rechtssinn — das wissen Sie ja — Spionage im Sinne von Landesverrat betrieben worden ist. Was durchaus auf der Hand liegt, ist, daß hier nachrichtendienstliche Tätigkeiten gegeben waren, die strafbar sind. Das ist klar. Aber wir reden von Spionage — und Sie auch.
Herr Hirsch hat noch eine Zwischenfrage. Gestatten Sie sie?
Bitte!
Herr Bundesminister, sind Sie nach den bisherigen Arbeitsergebnissen der von Ihnen eingesetzten Kommission unter Leitung von Herrn Eschenburg der Auffassung, daß Herr Guillaume überhaupt eingestellt worden wäre, wenn Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz Ende des Jahres 1969 technisch und personell auf der Höhe ihrer Zeit gewesen wären?
Das ist eine zu billige Sache. Das können Sie nicht personifizieren. Auf Ihre Frage, Herr Kollege Hirsch, kann ich Ihnen nur folgende Antwort geben: Ganz sicherlich — und das ist auch heute schon das Ergebnis — gibt es hier Schwächen und Mängel, die wir nach gründlicher Untersuchung mit allen organisatorischen Konsequenzen ausräumen werden. Daß aus diesen Schwächen die Organisationsmängel und Koordinationspannen entstanden, ist unbestreitbar. Daß diese sicherlich nicht durch die damals amtierende Regierung in die Welt gebracht worden sind, sondern daß sie eine Organisation in beiden Bereichen, die Sie genannt haben, übernommen hat, die offenbar nicht auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit stand, das ist doch ebenso unbestreitbar.
— Aber nun darf ich doch wirklich zu Ende kommen.
Ich muß noch eines sagen: Bei dieser unbestreitbaren Sachlage halte ich es persönlich für empörend — Herr Kollege Carstens, ich würde Ihnen das gerne persönlich zu Gehör bringen —,
wenn wider besseres Wissen und aus Gründen der Stimmungsmache immer wieder die Behauptung auftaucht, die Bundesregierung habe bei der Vorlage der Akten manipuliert.
Wer hier von Manipulation redet — und wenn deutsch noch deutsch ist, heißt das: bewußte und gezielte Verfälschung oder Unterdrückung von Akten; nur das bedeutet dieses Wort Manipulation —, wer das sagt, wie Ihr Kollege Strauß landauf und landab in jeder Wahlversammlung, der weiß entweder nicht, wovon er spricht, oder er redet gegen besseres Wissen.
Er sollte sich auch darüber im klaren sein, daß sein Vorwurf die Beamten des Bundesinnenministeriums trifft, die nach bestem Wissen und Gewissen ihre Pflicht getan haben, und daß es sich dabei — auch das sage ich einmal hier öffentlich ausdrücklich — weithin um Beamte handelt, die politisch der Opposition nahestehen.
Daß das so ist, gibt doch — und das möchte ich Ihnen sehr zu bedenken geben — diesem immer und immer wiederholten, an die Adresse der Regierung gerichteten Vorwurf der Manipulation nun eine höchst bedenkliche Schlagseite, und ich glaube, wenn Sie ihn wiederholen, dann könnte sich dieser Vorwurf sehr wohl als Bumerang erweisen, der gegen Sie selbst zurückschlägt.
Ich möchte abschließend auch an dieser Stelle bekräftigen, daß die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission, die nach ihrem Ergebnis wie der Untersuchungsausschuß schon jetzt Schwächen und Fehler in der Arbeit der Sicherheitsbehörden aufgedeckt hat, nach Abschluß der Untersuchung alle erforderlichen organisatorischen Konsequenzen vorschlagen wird. Ich kann Ihnen ebenso sagen: So, wie diese Regierung an der rückhaltlosen Aufklärung aller dieser Fälle mitwirken wird, so werden wir auch rückhaltlos die Lehren aus diesen Erfah-
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Bundesminister Dr. Dr. h. c. Maihofer
rungen ziehen. Deshalb möchte ich auch meinen, daß das sehr durchsichtige Spiel der Opposition,
über diese Skandalaffären bestimmte Personen gegeneinander auszuspielen oder gar die Koalition auseinanderzutreiben, nicht aufgehen wird. Wir werden Sie in Ihren Erwartungen enttäuschen. Sie werden allenfalls erreichen, daß wir in dieser sozialliberalen Koalition noch dichter zusammenstehen werden — das kann ich Ihnen versichern —
und gemeinsam aus unserer staatspolitischen Verantwortlichkeit, in der wir uns nicht beirren lassen, Ihre parteipolitischen Kampagnen abwehren werden, von denen ich fürchte, daß sie letztlich noch nicht einmal Ihrer Partei nützen, sondern zuletzt nur diesem Staate schaden werden.
Wer weiß heute noch — ich sage das ausdrücklich —, wer Herr Steiner war und welcher Partei er angehört hat?
— Aber wir reden jetzt von Herrn Steiner. Die entscheidende Sache ist, daß letztlich alle diese parteipolitischen Versuche, hier für oder gegen die eine oder andere Partei Punkte zu sammeln, in das genaue Gegenteil ausschlagen werden, daß wir im Grunde Punkte sammeln
— immer, da sind wir mit Ihnen einig!
— aber nein! —, daß Sie im Grunde letztlich Punkt für Punkt das Vertrauen in diese unsere freiheitliche Demokratie zerstören.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Jäger .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist außerordentlich merkwürdig daß die Bundesregierung die Schwäche ihrer Position dadurch vor dem Deutschen Bundestag bekundet, daß jetzt schon das dritte Regierungsmitglied hintereinander spricht und daß durch diesen Mißbrauch des besonderen Rederechts der Regierung die echte parlamentarische Debatte über die ganze Mittagszeit hinweg verhindert worden ist.
Herr Bundesminister Maihofer, wenn Sie von der Erschütterung des Vertrauens in diesen Staat und in diese Demokratie reden, dann, so glaube ich, hat diese Koalition und vor allen Dingen diese Bundesregierung allen Anlaß, einmal selbstkritisch zu prüfen, welchen Anteil sie an dieser Erschütterung des Vertrauens hat. Wenn Sie das sachlich und ohne Voreingenommenheit tun, dann werden Sie mit uns zu dem Ergebnis kommen, daß derartige Vorwürfe, wie Sie sie eben an die Opposition gerichtet haben, auf Ihr eigenes Lager zurückfallen.
Lassen Sie mich eine dritte Vorbemerkung machen. Die Dimension des Spionagefalls Guillaume ergibt sich doch nicht aus der Frage, wieviel Dossiers oder wieviel kleinere oder größere Einzelfakten dieser Herr nach Ost-Berlin gebracht haben mag, sondern die Dimension ergibt sich doch schlicht und einfach daraus, daß es der Führung der DDR und mit ihr dem ganzen Ostblock über Monate hinweg möglich gewesen ist, Einblick in die internsten Regierungsvorgänge und damit in die Vorgänge im ganzen westlichen Lager durch einen Mann zu bekommen, den sie zielbewußt in den Vorhof der Macht in unserem Land hineingeschleust hat. Das gibt doch die Dimension, die unseren Fraktionsvorsitzenden veranlaßt hat, davon zu reden, daß hier der größte Spionagefall der Nachkriegsgeschichte in Deutschland stattgefunden habe.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt? — Bitte!
Herr Abgeordneter, Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß sich der Oberregierungsrat Helbig im Bundeskanzleramt sechs Jahre als Spion betätigt hat und daß, als er entlarvt worden ist, kein Bundeskanzler zurückgetreten ist?
Herr Kollege, ich sage Ihnen ganz offen, daß mir das unbekannt ist.
Aber, Herr Kollege, wenn das auch nur annähernd eine vergleichbare Dimension gehabt hätte, dann möchte ich wissen, was die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in diesem Hause daraus gemacht hätte.
Zu den Fragen, die der Herr Bundesminister Maihofer zur Bekämpfung der Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst aufgeworfen hat, lassen Sie mich in einigen wenigen Sätzen Stellung nehmen, weil das, was er uns hier gesagt hat, am Kern der Angelegenheit vorbeigegangen ist. Zunächst einmal, Herr Bundesminister Maihofer, haben Sie hier, ohne auf die Frage des Kollegen Althammer konkrete und exakte Feststellungen vorlegen zu können, die Behauptung ins Land gesetzt, als ob in den von der CDU/CSU regierten Ländern Verfassungsfeinde in
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Jäger
Kenntnis dieser ihrer Einstellung und ihrer Haltung in den öffentlichen Dienst übernommen worden seien. Das ist eine von Ihnen nicht bewiesene Unterstellung, und namens dieser Länder und der Parteifreunde von uns, die dort regieren, weise ich diese Unterstellung mit aller Entschiedenheit zurück.
Wenn diese Personen im öffentlichen Dienst durch ihr Verhalten nachträglich gezeigt haben, daß sie nicht verfassungstreu sind, dann wissen Sie so gut wie wir alle, daß nur der sehr viel schwierigere Weg eines Disziplinarverfahrens dazu führen kann, sie aus diesem Amt wieder zu entfernen, und daß das nicht in jedem Fall zum Erfolg führen kann, brauchen wir uns wohl gegenseitig nicht zu erzählen; das wissen wir alle.Nun zu Ihrer ersten Behauptung, in der Sie anklingen ließen, hier seien wir uns nicht mehr ganz einig. Herr Bundesminister, es gehört zum Stil, mit dem heute vormittag seitens der Regierung hier debattiert wird, daß uns ein mangelndes Rechtsbewußtsein unterschoben werden soll, wenn Sie sagen, Sie seien sich nicht sicher, ob auch wir klar und eindeutig nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten prüften, ob solche Bewerber in den öffentlichen Dienst übernommen werden können. Auch die Oppositionsparteien stehen eindeutig auf dem Standpunkt, daß nur mit rechtsstaatlichen Mitteln und nach rechtsstaatlichen Gesichtpunkten geprüft werden darf, ob ein Bewerber für ein Amt im öffentlichen Dienst seinen Voraussetzungen entspricht, und wir sind mit Ihnen auch darin einig — auch das wissen Sie —, daß wir nur nach einer Einzelfallprüfung und nicht nach einer schematischen Prüfung zu diesem Ergebnis kommen. Aber — und darin unterscheiden wir uns im Grundsätzlichen — Sie sind dann offensichtlich ganz bewußt — denn ich kann Ihnen nicht unterstellen, daß Sie das nicht wissen — darüber hinweggegangen, daß unser Beamtenrecht einen Punkt ganz klar und deutlich herausarbeitet: daß jeder, der sich für ein Amt im öffentlichen Dienst bewirbt, die Voraussetzungen für seine Eignung für dieses Amt der Dienststelle, bei der er sich bewirbt, nachzuweisen hat; und das gilt ganz besonders und insbesondere auch für seine Verfassungstreue. Im Gesetz heißt es doch, daß jeder Bewerber die Gewähr dafür bieten muß, daß er jederzeit für die freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung eintritt. Dieses Wort „Gewähr bieten" sagt klar: er muß die entscheidenden Unterlagen und Nachweise dafür bringen, daß er für dieses Amt auch als verfassungstreuer Demokrat die Eignung besitzt. Die Behörde hat ihm nicht etwa nachzulaufen, um eventuell dunkle Punkte in seinem Lebenslauf aufzuspüren, die ihn als Verfassungsfeind entlarven. Ihre Haltung, Herr Minister Maihofer, und die der Bundesregierung führt doch im Endergebnis zu jener Schnüffelei im Privatleben, die wir Oppositionsparteien gerade nicht wollen.
Schließlich, Herr Bundesinnenminister: die Frage der Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei ist von Ihnen in ihrer ganzen Bedeutung offenbar nicht erfaßt worden. Denn wie könnten Sie sonst hier sagen, diese Mitgliedschaft könne nur irgendein Gesichtspunkt sein. Ist Ihnen nicht klar, daß ein Bürger dieses Landes, der durch seine Unterschrift unter den Antrag auf Aufnahme in eine Partei wie die DKP oder die KPD oder welche andere auch immer
— oder die NPD — die Verpflichtung übernimmt, sich für die Ziele dieser Partei einzusetzen, allein schon mit dieser Verpflichtung — von deren Ernsthaftigkeit man doch im Normalfall ausgehen muß — gezeigt hat, daß er in seiner Willensrichtung gegen unsere freiheitliche rechtsstaatliche Ordnung arbeitet? Wenn also ein Bewerber diese Unterschrift geleistet hat und er darüber hinaus sich sogar noch in ein führendes Amt wählen läßt, irgendeine Funktion übernimmt, dann ist doch für jeden, der die Wirklichkeit in unserem Lande kennt, damit ein so massiver Anhaltspunkt gegeben, daß der Beschluß der Ministerpräsidenten und des früheren Bundeskanzlers Brandt berechtigt ist, daß dies fundamentale Zweifel an seiner Verfassungstreue begründet; und wenn der Bewerber selber diese Zweifel nicht durch Gegenbeweise zu entkräften vermag, dann muß ihm allein aus diesem Grunde die Einstellung in den öffentlichen Dienst verweigert werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Liedtke?
Bitte sehr!
Herr Kollege, vielleicht sind wir gar nicht so weit auseinander. Aber diese Umkehrung der Beweislast macht uns ein bißchen Sorgen. Der Begriff „verfassungswidrig" ist grundgesetzlich gesichert. Verfassungswidrige Parteien — ja oder nein? liegt in der Entscheidungsautonomie des Bundesverfassungsgerichts. So weit sind wir uns einig. Sie bringen nun den politischen Begriff der Verfassungsfeindlichkeit hinein, und wenn die festgestellt ist, tritt die Umkehrung der Beweislast ein. Meine Frage ist: Wird die CDU die Definition des Begriffs „verfassungsfeindlich" — das ist ja ein politisches Wort — und die Stelle nachliefern, die darüber entscheiden soll, und klarstellen, nach welchen Kriterien entschieden werden soll? Alles das fehlt in dem Regierungsentwurf von Bayern und Baden-Württemberg.
Herr Kollege, die Frage, ob eine Partei verfassungsfeindlich ist, ergibt sich sowohl aus den Zielen ihres Programms als auch aus ihrer faktischen Tätigkeit. Diese Schlußfolgerung hat auch schon eine frühere Bundesregierung der SPD /FDP-Koalition unter dem damaligen Innenminister Genscher bereits gezogen, als sie in einem früheren Verfassungsschutzbericht — im jet-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. September 1974 7875
Jäger
zigen steht es freilich nicht mehr drin, Herr Genscher war hier noch ein bißchen deutlicher — die DKP eindeutig unter diese Gruppierungen eingereiht hat. Man braucht für die Feststellung, ob eine politische Partei in ihren Zielen und in ihrem Verhalten gegen diesen Staat eintritt, das Bundesverfassungsgericht noch nicht, sondern das Bundesverfassungsgericht entscheidet darüber, ob eine solche Partei auf Grund dieser Verfassungsfeindlichkeit noch am öffentlichen Leben als Partei teilnehmen kann oder nicht, auf gut deutsch: ob sie also verboten wird oder nicht.Ich glaube, wenn wir — und damit bin ich bereits bei der letzten Ausführung, die ich zu diesem Thema machen möchte,
und Ihre Frage, die Sie mir dazu gestellt haben, gibt mir den richtigen Anlaß — dahin kämen, Herr Kollege, daß wir nur noch auf die Frage abstellen, ob eine politische Partei vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt ist oder nicht, dann treiben wir die Bundesregierung oder die Landesregierungen, dann treiben wir all jene, dieden Kampf gegen die Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst ernsthaft führen wollen, letztlich an einen Punkt, wohin wir sie gar nicht treiben wollen. Dann zwingt man nämlich dazu, eine solche Partei zu verbieten, um damit — und nur noch damit — Klarheit in den Verhältnissen zwischen solchen Parteien und dem Staat zu schaffen. Aber das kann doch nicht das Interesse der Bundesregierung sein. Ich glaube, es ist auch nicht das Interesse der Bundesregierung, es an diesen Punkt zu bringen. Aber wenn Sie alle Entscheidungen, die eine solche Partei betreffen, nur davon abhängig machen, ob das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit nach Artikel 21 GG feststellt, dann bleibt nur noch dieser Weg. Im übrigen darf ich doch immerhin daran erinnern, Herr Kollege, daß das Bundesverfassungsgericht selbst in seinem KPD- Urteil von 1956 klar und deutlich erklärt hat, daß Nachfolge- und Ersatzorganisationen der verbotenen KPD von damals verfassungswidrig sind und daß es keines erneuten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes bedarf, um eine solche Nachfolge- oder Ersatzorganisation festzustellen. Das nur nebenbei.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließen mit der Feststellung, die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union haben mit dem Entwurf der Länder Bayern und Baden-Württemberg die rechtsstaatliche und zugleich die wirksame Alternative zu der verfahrenen und rechtlich unwirksamen Vorlage der Bundesregierung geboten, und es wäre allerhöchste Zeit, daß die Regierungskoalition mit uns gemeinsam diesen vernünftigen und rechtsstaatlichen Weg beschreitet.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.
Der Ältestenrat schlägt vor, das Haushaltsgesetz 1975 und den Finanzplan und das Investitionsprogramm des Bundes 1974 bis 1978 an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 2 bis 4 der Tagesordnung auf:
2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
— Drucksache 7/2379 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Zweiten Gesetzes zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern
— Drucksache 7/2442 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
4. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes
— Drucksache 7/2468 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Wird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Die Überweisungsvorschläge stehen auf der Tagesordnung. Wer diesen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung ein für Mittwoch, den 25. September, 13.30 Uhr.