Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat mit Schreiber' vom 27. März 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Leicht, Bremm, Dr. Wagner . Gerster (Mainz), Dr. Gölter, Dr. Klepsch, Dr. Mertes (Gerolstein), Pieroth, Susset, Frau Will-Feld, Dr. Freiherr von Weizsäcker, Dr. Blüm, Dr. Todenhöfer, Zeyer, Dr. Schulze-Vorberg, Dr. Kunz (Weiden) und Genossen betr. Vorschlag der Kommission der Eurropäischen Gemeinschaften Dir eine Verordnung des Rates zur Aufstellung allgemeiner Regeln für die Bezeichnung und Aufmachung der Weine und Moste (Bezeichnungsverordnuug — Drucksache 7 1796 –) beantwortet. Seine Antwort wird als Drucksache 7'1901 verteilt.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Jahresgutachtens 1973 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
– Drucksache 7/1273 -
Üherweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß
b) Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1974 der Bundesregierung
— Drucksache 71646 ---
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundeswirtschaftsminister Dr. Friderichs.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! Die Bundesregierung hat den Jahreswirtschaftsbericht am 6. Februar 1974 verabschiedet und diesem Hohen Hause umgehend zugeleitet.. Die wirtschaftliche Entwicklung ist seitdem nicht stehengeblieben. Ich möchte mich deshalb hier darauf konzentrieren, auf der Grundlage der Aussagen des Jahreswirtschaftsberichts den wirtschaftlichen Standort der Bundesrepublik, wie er sich uns gegen Ende des ersten Quartals dieses Jahres darbietet, zu umreißen.Lassen Sie mich aber bitte zuvor im Namen der Bundesregierung dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in diesem Jahr einen besonderen Dank abstatten. Das vergangene Jahr hat dem Rat nicht nur Voll-, sondern sogar Überbeschäftigung gebracht. Besondere Anerkennung verdient, daß der Rat unmittelbar nach Fertigstellung des Jahresgutachtens die Arbeit eines Sondergutachtens auf sich genommen hat, in dem die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise dargestellt worden sind. Der Sachverständigenrat und die Qualität seiner Arbeit sind meines Erachtens aus der wirtschaftspolitischen Willensbildung in diesem Land nicht mehr wegzudenken.Heute, sieben Wochen nach Verabschiedung des .Jahreswirtschaftsberichts, bietet sich uns eine zum Teil veränderte Ausgangslage dar. Sie besteht zunächst darin, daß wir manche Entwicklung, vor allem auf dem Energiesektor, heute sicherer als noch Anfang Februar beurteilen können. Wir sehen uns ferner einer Weltkonjunktur gegenüber, die keineswegs die befürchteten depressiven Tendenzen zeigt, sondern, inflationär angeheizt, einen starken Sog auf unser Produktionspotential ausübt.Schließlich wurden durch die Lohnentwicklung der letzten Wochen neue Daten gesetzt. Es ist kein Geheimnis, daß die Tarifabschlüsse dieses Jahres mit dem im Jahreswirtschaftsbericht gezogenen gesamtwirtschaftlichen Rahmen nicht vereinbar waren. Dennoch sind, wenn nicht alles täuscht, die konjunkturellen Erwartungen heute besser als noch an der Jahreswende. Dies festzustellen heißt nicht, zu übersehen, daß die weiteren Aussichten nicht in jedem Bereich, nicht in jeder Branche gleich gut eingesetzt werden. Im Gegenteil, das Stimmungsbild wie auch die im Zahlenbild sich niederschlagende tatsächliche Lage sind recht differenziert. Ich darf in diesem Zusammenhang auf die Ihnen vorgelegten zusätzlichen Materialien verweisen und möchte mir insoweit eine Wiedergabe von Zahlenmaterial hier ersparen.Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erweist sich nach den letzten verfügbaren Zahlen als recht stabil. Dabei war der Auftragseingang aus dem Ausland stärker als die Bestellungen aus dem Inland. Man ist geneigt, bei einer Betrachtung des deutschen Außenhandels der letzten Monate von einem Exportwunder zu sprechen. Wer sich die rapide steigenden Preise im Ausland vergegenwärtigt, hat
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6178 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Bundesminister Dr. Friderichszwar nicht die ganze, aber ein Gutteil der Erklärung für diese Entwicklung.Weltweit sind Liquidität und Nachfrage noch immer recht expansiv. Von einer globalen Nachfragelücke ist jedenfalls gegenwärtig nichts zu sehen.Lassen Sie mich zu einigen Einzelbranchen etwas sagen. Die Lage am Baumarkt hat sich in der letzten Zeit stabilisiert. Ihr galt unsere besondere Aufmerksamkeit. Denn natürlich darf die notwendige Abkühlung, die durch die Maßnahmen vom Mai vergangenen Jahres beabsichtigt war, nicht zu einem übermäßigen Kapazitätsabbau führen. Wir haben den Eindruck, daß auf dem jetzigen Niveau eine Stabilisierung erfolgt ist. Die Erleichterungen nach den Beschlüssen vom 19. Dezember vergangenen Jahres tun ihre Wirkung. Wir müssen aber die Entwicklung in diesem Bereich sorgfältig beobachten, um gewappnet zu sein, wenn es — dies betone ich — wider Erwarten doch noch zu einem Einbruch kommen sollte. Man täte meiner Auffassung nach allerdings gut daran — lassen Sie mich dies hier deutlich sagen —, sich rechtzeitig darauf einzustellen, daß die Rekordergebnisse der Vergangenheit, also etwa die 700 000 Wohnungen im Jahre 1973, nicht zum Maßstab der Erwartungen für die Zukunft gemacht werden dürfen. Besonders der Wohnungsbau befindet sich in einer Übergangsphase, in der es auf die Anpassung an den echten mittelfristigen Bedarf ankommt.In den übrigen Branchen, in denen sich in den vergangenen Monaten besondere Beschäftigungsprobleme gezeigt haben, glauben wir ebenfalls feststellen zu können, daß sich die Lage stabilisiert hat, wenngleich nicht überall alles nach Wunsch verläuft.In der Textil- und Bekleidungsindustrie wie auch in der Schuhindustrie haben sich die Schwierigkeiten zuletzt nicht mehr vergrößert. Für die Automobilindustrie besteht die Aussicht, daß sich die Beschäftigungslage nach der Normalisierung der Benzinversorgung und der Aufhebung der energiepolitisch bedingten Geschwindigkeitsbegrenzung wieder bessern wird. Doch wird sich diese gesamtwirtschaftlich überaus bedeutende Branche vor gewisse mittelfristige Anpassungsprobleme gestellt sehen. Hierbei sind Voraussagen mit einem besonders hohen Maß an Unsicherheit belastet.Wir haben gerade in den letzten Monaten dafür geworben, konjunkturelle Vorgänge von strukturellen Prozessen — soweit das analytisch geht — zu trennen. Wer die gegenwärtige Arbeitslosigkeit im einzelnen analysiert, wird feststellen, daß ein Großteil davon strukturelle Ursachen hat. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat vor einigen Tagen darauf hingewiesen, daß wir in die jüngste Abschwächung mit einem sehr viel höheren Sockel an Arbeitslosigkeit, nämlich mit rund 220 000 Arbeitslosen, eingetreten sind als im Jahre 1970, in dem es nur 97 000 waren, vor allem aber auch als im Jahre 1965, in dem es rund 85 000 Arbeitslose gab.Neben branchenmäßigen Ursachen ist dieser gegenwärtige relativ hohe Struktursockel auch auf ganz spezifische Ursachen zurückzuführen, nämlich auf die Erfassung von Personen — beispielsweise von arbeitslosen Frauen oder von Berufsanfängern mitHochschulbildung —, die früher nicht als Arbeitslose registriert wurden, auf mangelnde Kongruenz zwischen Angebot und Nachfrage bei der Teilzeitarbeit sowie auf einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den kaufmännischen Berufen und in den Verwaltungsberufen im Gefolge verstärkter Rationalisierungsmaßnahmen.Schon aus diesen Gründen ist ein Vergleich unserer heutigen Lage auf dem Arbeitsmarkt mit der Situation 1966/67 abwegig. Daß struktureller Unterbeschäftigung nicht — jedenfalls nicht auf Dauer — mit konjunkturpolitischen Mitteln beizukommen ist, dürfte nicht bestritten werden können. Wer den notwendigen Strukturwandel verhindert, erreicht allenfalls ein Verschieben der Probleme, die sich dann aber später in größeren Dimensionen stellen.Die Bundesregierung hat deshalb auch gezielt ein Sonderprogramm für Gebiete mit speziellen Strukturproblemen beschlossen, das in der Zwischenzeit schon voll und vor allem schnell angelaufen ist und -- das möchte ich betonen — unbürokratisch abgewickelt werden soll. Bis zum gestrigen Tag war bereits ein Antragsvolumen von nahezu 150 Millionen DM — das bedeutet etwa die Hälfte der verfügbaren Mittel — im Rahmen des Programms A mit einem vorläufigen positiven Votum versehen worden.Das gegenwärtige Ausmaß der Arbeitslosigkeit darf weder bagatellisiert noch dramatisiert werden. Nach den jüngsten Erhebungen ging die Zahl der Arbeitslosen in diesem Monat — wenn auch nicht stark — schon zurück. Es ist keine Frage, daß wir die weitere Entwicklung auf diesem Markt mit besonderer Sorgfalt beobachten müssen.Für die weitere Entwicklung der Verbraucherpreise — Februar plus 7,6 — wirft natürlich der starke Anstieg der industriellen Erzeugerpreise im Januar um 10,3 und im Februar um 11,7 sowie der Großhandelspreise seine bedrohlichen Schatten voraus.Eine große Belastung ist aber auch die massive Steigerung der Einfuhrpreise, die im Februar gegenüber dem Vorjahreszeitraum um nicht weniger als 34,9 % gestiegen sind, also im Jahresvergleich um nahezu 35 %. Wir alle wissen, in welch hohem Ausmaß wir insbesondere bei Rohstoffen und Halbfertigwaren auf die Einfuhr angewiesen sind. Eine gewisse Erleichterung könnte von der Entwicklung der Rohstoffpreise kommen.Wenn ich an dieser Stelle einmal auf die Preissteigerungsraten in anderen Ländern hinweise — in den Vereinigten Staaten mehr als 9 %, in der Schweiz beinahe 12 % und in Japan sage und schreibe 25 % —, dann nicht, um unsere Entwicklung zu beschönigen oder von ihr abzulenken. Es muß aber einfach gesehen werden, in welchem Maße die Welt um uns herum inflationär verseucht ist. Wir können uns nun einmal trotz Floating nicht völlig vom Ausland absetzen.Wie soll die Konjunkturpolitik in dieser Lage angesichts starker Kostensteigerungen, deutlicher Preisauftriebstendenzen auf vorgelagerten Stufen sowie einer allmählichen konjukturellen Aufwärts-
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Bundesminister Dr. Friderichsbewegung reagieren? Es gäbe einmal die Möglichkeit --- ich steller bewußt die Alternativen dar —, die Restriktionspolitik weiter zu verschärfen. Rein theoretisch könnten weitere deutliche Zinserhöhungen und Einschränkungen des Liquiditätsspielraums sowie Ausgabenkürzungen bei den öffentlichen Haushalten und steuerliche Maßnahmen zur Kaufkraftabschöpfung in Betracht gezogen werden.Eine solche Strategie wäre der gegebenen Situation meines Erachtens nicht angemessen. Wir würden mit einer sochen Politik zwar den Preisanstieg um vielleicht ein halbes Prozent vermindern, dafür aber kaum mehr als 1 % reales Wachstum realisieren können. Die unausbleibliche Folge einer solchen Politik wäre eine Arbietslosenquote, die sich nach unseren Berechnungen im Jahresdurchschnitt auf etwa 2,5 bis 3 % stellte. Mit anderen Worten: das hieße mindestens 100 000 Arbeitslose mehr.Hinzu kommt, daß sich dann auch die Probleme in einzelnen Branchen in einem Maße verschärfen könnten, das nicht mehr tolerierbar wäre. Die Bundesregierung lehnt daher eine solche Deflationspolitik um jeden Preis ab.
Die andere Möglichkeit wäre ich stelle bewußtauch die zweite Strategiemöglichkeit dar —, den bestehenden Restriktionsgrad in der Geld- und Kreditpolitik zu lockern und auch die öffentliche Haushaltspolitik etwa durch zusätzliche Ausgabenprogramme betont expansiv zu fahren.Aber auch zu einer solchen Strategie ist zu sagen, daß die dabei entstehenden Gewinne in keinem vernünftigen Verhältnis zu den damit verbundenen Verlusten stünden. Das reale Wachstum könnte, wenn überhaupt, nur marginal gesteigert und die Arbeitslosenquote nur geringfügig reduziert werden. Dafür würden wir aber bei den Preisen die Zeche selbst bezahlen müssen. Wir gerieten dann mit Sicherheit in eine Beschleunigung der inflationären Entwicklung, deren Folgen sich drastisch im weiteren Verlauf, also insbesondere auch am Beginn des Jahres 1975, zeigen würden. Die Chance der Stabilisierung wäre mit dieser Strategie meines Erachtens vertan.Die Bundesregierung ist daher entschlossen, nicht eine dieser beiden an Extremen orientierten Politiken, sondern eine Konjunkturpolitik der mittleren Linie zu betreiben, eine Politik also, die der Preisentwicklung und den Beschäftigungsrisiken gleichermaßen Rechnung trägt, wobei jeder weiß, daß, wenn Zielkonflikte bestehen und sie nicht direkt auflösbar sind, Kompromisse erforderlich sind.Wir sollten aber Wechselbäder für unsere Volkswirtschaft auf jeden Fall vermeiden. Was wir jetzt vor allem anstreben müssen, ist, die Grundlagen für eine mittelfristige Stabilisierung zu legen. Die Aussichten dafür sind — das kan man heute deutlicher sagen als am Jahresanfang — nicht schlecht.Bei einer solchen Politik der mittleren Linie, die unter den gegebenen Umständen die relativ günstigste Zielkombination verspricht, sollte ein reales Wachstum erreicht werden können, das an der Obergrenze der im Jahreswirtschaftsbericht angegebenen Marge, also bei etwa 2 %, liegt. Ich weiß, daß gegenwärtig höhere, aber auch niedrigere Wachstumsraten gehandelt werden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich meine, man sollte keinen Zahlenfetischismus betreiben, sondern sich auch hier in der Mitte halten. Dabei wird sich das Wachstum im Verlaufe des Jahres beschleunigen. Entsprechend wird sich die Beschäftigungssituation verbessern. Für den Anstieg der Verbraucherpreise haben wir nach den jetzigen Erkenntnissen eine Marge von etwa 8,5 bis 9,5 im Jahresdurchschnitt veranschlagt. Unter bestimmten Bedingungen, vor allem einer guten Ernte, könnten monatliche Preissteigerungsmeldungen — ich betone: monatliche — mit zweistelligen Ziffern in diesem Jahr vermieden werden. Dies ist zwar eine gewagte, aber keine unrealistische Prognose.Zu dieser Politik gehören allerdings folgende Elemente. Erstens. Die Bundesbank hält an ihrem grundsätzlich restriktiven Kurs in der Geld- und Kreditpolitik fest. Er ist außenwirtschaftlich weitgehend abgesichert.Zweitens. Die Ausgabenentwicklung der öffentlichen Haushalte hält sich in den derzeit sich abzeichnenden Größenordnungen. Die Finanzierung der zu erwartenden Defizite erfolgt grundsätzlich ohne Liquiditätsausweitung.Drittens. Die bisher beschlossenen gezielten strukturpolitischen Maßnahmen werden voll verwirklicht. Die vorsorglich geplanten Konjunkturprogramme des Bundes bleiben in der Schublade.Viertens. Zu besonderen steuerpolitischen Maßnahmen — weder zu Steuererhöhungen noch zu Steuersenkungen besteht derzeit keine konjunkturpolitische Notwendigkeit. Der Stabilitätszuschlag läuft, wie vorgesehen, zum 30. Juni 1974 aus.Lassen Sie mich dazu bitte noch folgendes bemerken. Selbstverständlich weiß ich, daß die derzeitige Geld- und Kreditpolitik in manchen Bereichen große Härten mit sich bringt, und auch, daß Zinsen Kosten- und damit Preiselemente sind. Aber kann man denn hei den derzeitigen Inflationsraten von einer eigentlichen Hochzinspolitik sprechen, wenn die für Geldanlagen erzielbaren Zinsen nicht oder nicht viel höher sind als die Kaufkraftschwundraten?
Wir haben trotz aller damit verbundenen Probleme keine andere Wahl, als diese Politik hoher Zinsen fortzusetzen. Andernfalls wäre dem inflationären Prozeß kein Einhalt zu gebieten.Die Möglichkeiten des weitgehend flexiblen Wechselkurses der D-Mark werden genutzt, um einer zu starken Inanspruchnahme unseres Produktionspotentials durch das Ausland entgegenzuwirken — eine Frage, die beim derzeitigen Verteilungsprozeß eine erhebliche Rolle spielt. Sie tragen ferner dazu bei, den Einfluß der extrem gestiegenen Einfuhrpreise auf unser Preisniveau zur begrenzen. Denn es ist keine Frage, daß das vergangene Jahr außenwirtschaftlich so, wie wir es betrieben haben, Vorteile mit sich gebracht hat. Andernfalls wäre die
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6180 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Bundesminister Dr. FriderichsÜbertragung des Bazillus von draußen ins Inland noch sehr viel größer gewesen.Zum Thema Steuersenkungen, das in der letzten Zeit eine große Rolle gespielt hat, möchte ich heute nur sagen, daß es meiner Auffassung nach zu Anfang des Jahres durchaus diskutable Argumente zugunsten steuerlicher Erleichterungen gab, doch haben nach meiner Meinung,
auch meiner damaligen Meinung, die Argumente dagegen überwogen, so wie ich es seinerzeit in diesem Hause auch dargestellt habe.
Weder konnte eine Honorierung bei den folgenden Tarifabschlüssen als sicher gelten, noch gab es eine verläßliche Aussicht auf eine entsprechende Beschränkung der öffentlichen Ausgaben. Heute, nachdem die Tarifabschlüsse gelaufen sind, sind Steuersenkungen konjunkturpolitisch eindeutig unerwünscht.Die Frage muß man sich stellen: gibt es zu dieser Politik, wie ich sie zu skizzieren versucht habe, brauchbare realistische Alternativen? Ich glaube, daß kaum eine andere Strategie die angelegten Zielkonflikte in einer für unsere Bevölkerung und unsere Volkswirtschaft erträglichen Weise besser löst. Es gibt im Moment weder Wunderwaffen noch Patentrezepte. Es besteht keine Veranlassung zu irgendwelchen spektakulären Aktionen, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Es kommt jetzt darauf an, unsere Politik der allmählichen Stabilisierung zielstrebig fortzusetzen und dabei den Horizont schon auf das Jahr 1975 auszudehnen. Denn vieles, was wir jetzt tun, wird sich erst voll im nächsten Jahr auswirken. Ungeachtet der hohen Preissteigerungen wie auch der mit dieser Politik zweifellos verbundenen Probleme und Risiken — nichts soll verschwiegen oder beschönigt werden in dieser Debatte — können wir doch mit einer guten Portion Zuversicht auf die kommenden Monate schauen.Über Alternativen zu dieser Politik wird gegenwärtig noch in einer anderen Richtung nachgedacht. Ich meine die Diskussion über wie auch immer geartete preisregulierende oder sonstige administrative Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung oder besser: zur Bekämpfung der Inflationsfolgen. Zunächst einmal möchte ich feststellen, daß ich eine solche Diskussion angesichts beschleunigter Geldentwertung keineswegs unnatürlich finde. Über die Grenzen der Marktwirtschaft nachdenken heißt noch keineswegs, diese Grenzen überschreiten. Nicht selten soll es sogar vorkommen, daß im Verlauf einer solchen Reflexion, wenn sie ernsthaft und tief genug vorgenommen wird, einmal mehr die Leistungsfähigkeit dieser Ordnung und im Gegenteil die allzu eng gezogenen Grenzen alternativer Konzepte deutlich bewußt werden.Über ein Alternativkonzept läßt sich, wie ich glaube, sehr rasch Einigkeit möglich seiner Untauglichkeit erzielen. Ich mechle den allgemeinen Preisstopp. Wenn ich es recht sehe, wird von keiner wirtschaftspolitisch relevanten Gruppe in der Bundesrepublik etwas Derartiges ernsthaft erwogen oder gar gefordert. Offenkundig sind die Kenntnisse über die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Preissystems doch schon so weit verbreitet, daß ein derartiger Unfug nicht als probates stabilitätspolitisches Mittel ausgegeben wird. Wem es trotzdem an theoretischer Einsicht mangeln sollte, der muß sich durch erdrückendes abschreckendes Erfahrungsmaterial aus anderen Ländern belehren lassen. Deshalb habe ich den Mitgliedern des Wirtschaftsausschusses darüber eine äußerst interessante Zahlenzusammenstellung übergeben, nämlich eine Zusammenstellung — ohne Wertung —, wie sich die Entwicklung in den Ländern um uns herum abgezeichnet hat, die zu diesem Mittel gegriffen haben.Nicht mehr so einheitlich ist hingegen die Front der Ablehnung im Hinblick auf mildere Formen der Preisreglementierung, die man mit dem Begriff „Preiskontrolle" zusammenfassen kann. Ich möchte hier nicht auf einzelne Vorschläge und Überlegungen eingehen, sondern nur ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen.Erste Bemerkung: Wer Kontrolle der Preise fordert, der muß auch Kontrolle der Löhne, wer Kontrolle der Gewinne fordert, muß letztlich eine Kontrolle des gesamten Unternehmensfeldes fordern.Zweite Bemerkung: Preise sind keine Entschädigung für entstandene Kosten, sondern Preise sind Knappheitsindikatoren. Wer Preise mit entstehenden Kosten rechtfertigt, muß wissen, daß er damit Unwirtschaftlichkeit und Verschwendung von Ressourcen zum System erhebt.Dritte Bemerkung: Wer dem Staat die Kontrolle über Preiserhöhungen überantworten will, bürdet ihm damit auch die Verantwortung für die Preiserhöhungen auf. Manchen Unternehmen wäre nichts lieber, als eine Preispolitik auch noch staatlich sanktioniert zu bekommen.
Ich darf mich auf diese wenigen, aber, wie mir scheint, wesentlichen Argumente gegen staatliche Preiskontrollen beschränken. Die Liste der Einwendungen ließe sich freilich beträchtlich verlängern.Das marktwirtschaftliche Lenkungssystem grundsätzlich unangetastet lassen wollen indessen die Autoren von Indexierungsvorschlägen. Ich weiß, daß auch in politischen Bereichen die Frage der Indexierung sehr diskutiert worden ist und auch zur Vorbereitung der heutigen Debatte Meinungsbildungen in dieser Beziehung stattgefunden haben. Ich muß gestehen, daß ich nicht nur die Motive für derartige Ideen für legitim halte — Hauptanstoß sind ja letztlich Gerechtigkeitsüberlegungen —, sondern daß es mir auch nicht leichtfällt, die Argumentation dafür zu entkräften. Meistens sind nämlich die angestellten Überlegungen theoretisch schlüssig — ich betone: theoretisch schlüssig. Nur wird dabei häufig
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Bundesminister Dr. Friderichsvon Voraussetzungen ausgegangen, die gar nicht vorliegen, bzw. umgekehrt werden nicht alle notwendigen Voraussetzungen berücksichtigt. So ist es für mich beispielsweise eine Illusion, zu glauben, eine Indexierung ließe sich auf bestimmte Bereiche beschränken. Sie trägt notwendigerweise die Tendenz zur Totalisierung in sich. Am Ende eines solchen Prozesses stünde dann neben der eigentlichen Nominalwährung eine andere, die Indexwährung, und der Kampf um die Überwälzung von Inflationslasten könnte wieder von vorne losgehen. Eine Indexierung der Löhne würde darüber hinaus die Tarifautonomie zumindest einschränken, was die Gewerkschaften, wie ich meine, mit Recht nicht hinnehmen könnten.Abstinenz von direkten staatlichen Eingriffen in die Preisbildung bedeutet aber nicht Abstinenz von den Mitteln systemkonformer Preis- und vor allem Wettbewerbspolitik. Wie Sie wissen, führt das Bundeskartellamt zur Zeit öffentliche Anhörungen der Mineralölkonzerne durch. Ich hatte das Amt ausdrücklich darum gebeten, diese Anhörungen durchzuführen, weil die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf hat, in diesem Bereich über die Preisgestaltung Klarheit zu erhalten. Das Kartellgesetz ist das legitime Mittel, um Mißbräuchen marktbeherrschender Macht zu Lasten der Verbraucher entgegenzuwirken. Hier müssen die neuen Möglichkeiten, die wir durch die Kartellnovelle des vergangenen Jahres geschaffen haben, konsequent genutzt werden.In aller Deutlichkeit muß aber auch gesagt werden: Auf den Irrweg behördlicher Kostenkontrollen werden wir uns nicht begeben. Ich wende mich daher auch entschieden gegen alle Versuche, die Mißbrauchsaufsicht des Kartellgesetzes in dieser Richtung zu mißbrauchen. Ich meine, wir haben allen Anlaß, die freie Preisbildung und damit das marktwirtschaftliche Koordinierungssystem funktionsfähig zu erhalten.Noch ist es zu früh, über das, was Energiekrise zu nennen man sich angewöhnt hat, eine Bilanz zu ziehen. Aber selbst bei einer Art vorsichtiger Zwischenbilanz wird man feststellen können, daß sich die Prinzipien, von denen wir uns bei der Bewältigung dieser Krise haben leiten lassen, die richtigen waren. Es ist dank einer flexiblen Politik gelungen, die befürchtete Produktion und Beschäftigung ernsthaft gefährdende Verknappung von Energie zu verhindern. Freilich sind Blessuren in Gestalt sprunghaft erhöhter Preise zurückgeblieben. Aber durch welche andere Strategie wäre das zu vermeiden gewesen?Es gibt Länder, die nicht nur zum Teil nochgrößere als wir — Preisprobleme, sondern als Folge von Dirigismen der verschiedensten Art auch gravierende Mengenprobleme gehabt haben und noch haben. Ein Blick über die Grenze nach Belgien zeigt das.Ich verschweige auch keineswegs — ich habe im Gegenteil in der Vergangenheit häufig darauf hingewiesen —, daß diese Preiserhöhungen tiefgreifende Folgen für unsere Wirtschaftsstruktur haben werden. Dieser Strukturwandel wird unsere Wirtschaft vor nicht geringe Anpassungsprobleme stellen. Er darf aber dennoch nicht durch Erhaltungssubventionen verhindert werden, da eine konservierende Politik zwangsläufig mit Wachstumseinbußen bezahlt werden müßte. Ich möchte mir die Zusatzbemerkung erlauben, daß mancher wohlmeinende Vorschlag oder Antrag, häufig motiviert aus den regionalen Ereignissen des Wahlkreises, mit gesamtwirtschaftlichen Überlegungen eben nicht in Einklang zu bringen ist und daher in die Schublade der Opportuniät, aber sicher nicht in die einer vernünftigen Wirtschaftspolitik gehört.Auch wenn die aktuelle Krise bewältigt worden ist, 'haben wir es keineswegs mit einer heilen Energiewelt zu tun. Die Bundesrepublik war und bleibt in die Weltenergiemärkte eingeflochten, sie war und bleibt also energie- und rohstoffabhängig vom Ausland. Wir müssen diese Abhängigkeit vom Ausland soweit als möglich diversifizieren. Ich meine das je nach Energieart, aber auch regional; und darum haben wir uns in den letzten Monaten, auch schon vor Ausbruch des Nahost-Konfliktes, bemüht durch eine Reihe von Verhandlungen mit Ländern, die bisher am Rande unserer Interesses lagen. Diese Abhängigkeit und die Gegegebenheiten unserer Marktstruktur zwingen uns einmal dazu, alle Möglichkeiten weltweiter, multilateraler Lösungen der Energiesicherung auszunutzen. Notwendig sind zusätzlich Bemühungen um wirtschaftliche Kooperation mit den Energie- und Rohstoffländern. Dabei wird es aber keine exklusiven bilateralen Beziehungen geben.Ich betone diesen Satz ganz bewußt; denn wir alle haben gesehen, daß sich Nachbarländer auf den Weg des Bilateralismus, wenn Sie so wollen: auf den Weg zurück in die 50er Jahre begeben haben. Die Bundesregierung hat dieser Versuchung und den entsprechenden Angeboten von draußen widerstanden, weil wir nach wie vor der Meinung sind, daß sich ein Land, das so stark in den Welthandel eingeflochten ist wie wir, eine Politik des Bilateralismus nicht leisten sollte. Sie führt am Ende zu einer Protektionismuspolitik und damit zurück und nicht nach vorne.
Die konkrete Kooperationsentscheidung muß auf unserer Seite stets von Unternehmern getroffen werden. Der Staat soll und kann dabei nur Hilfestellung auf der politischen Ebene leisten und bei konkreten Projekten die verfügbaren Instrumente einsetzen.Meine Damen und Herren, wir sollten uns nach den jüngsten Ereignissen bei einem Auftrag auf Lieferung eines Stahlwerks vielleicht auch gemeinsam abgewöhnen, Verhandlungen zu verdächtigen, bevor sie begonnen haben.
Dies nutzt weder der deutschen Volkswirtschaft noch den in ihr tätigen Menschen.
— Wenn Sie meinen, Herr Abgeordneter, daß Siesich mit der Leimrute beschäftigen müssen, besteht
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6182 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Bundesminister Dr. Friderichsja in der heutigen Debatte ausreichend Gelegenheit dazu.
Ich bin jedenfalls sehr gern bereit — damit hier keine Irrtümer aufkommen , eine Diskussion über die 'deutsche Außenwirtschaftspolitik, Kooperationspolitik und Handelspolitik in aller Offenheit zu führen, und zwar gleichgültig, in welche Richtung.
Jedenfalls höre ich aus Bayern auch ,die Töne, daß man froh ist, daß man jetzt zweieinhalb Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Bayern bekommt und damit eine Standortverbesserung herbeigeführt hat.
— Wenn wir uns darauf verständigen können, daß alles, was Sie abgeschlossen haben, gut ist und alles, was wir abschließen, schlecht ist, ist das vielleicht eine Gesprächsbasis.
Wir müssen sorgfältig darauf achten, daß die weltwirtschaftlichen Beziehungen nicht noch mehr als bisher aus den Fugen geraten. Die Bundesrepublik Deutschland als eine der größten Welthandelsnationen hat an einer funktionierenden Weltwirtschaftsordnung das allergrößte Interesse. Wir können die Augen nicht davor verschließen, daß Ordnungen zerbrechen oder an Funktionsfähigkeit einbüßen, ohne daß gleichzeitig neue an ihre Stelle treten. Wir können zwar mit den gegenwärtigen Währungsverhältnissen wohl für eine Zeit leben; eine wirkliche Ordnung wird man dies nicht nennen dürfen. Die Gefahr bleibt latent, daß das labile Gleichgewicht sehr schnell durch nationale Interessen oder Notsituationen nachhaltig gestört wird. Äußerst nachteilig könnten sich neue Erschütterungen im Währungsbereich auf den freien Welthandel auswirken.In den Bemühungen um eine weitere Liberalisierung des Welthandels darf deshalb keine Stagnation eintreten. Die weltweite GATT-Runde, meine Damen und Herren, ist durch die Ereignisse der letzten Monate nicht überflüssig, sondern im Gegenteil notwendiger geworden, weil die Gefahren für das freie multilaterale Welthandelssystem eher gewachsen sind.Für die europäische Politik, die gestern Gegenstand der Diskussion war, gilt dies alles mit noch größerem Nachdruck. Wir müssen die europäische Lethargie überwinden. Im Hinblick auf die gestrige Debatte darf ich mich auf diese beiden Sätze beschränken, es sei denn, daß die Diskussion das Thema erneut aubringt.Die Bundesrepublik hat an geordneten Weltwirtschaftsbeziehungen nicht nur ein vitales Interesse, sie trägt angesichts ihres weltwirtschaftlichen Gewichts auch ein hohes Maß an Verantwortung dafür. Das ist die zwangsläufige Folge unseres Anteils am Welthandel. Wir sind nicht einfach passiv Hinnehmende, sondern vor allem auch ins Gewicht fallende Faktoren der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Dabei wollen wir nichts und niemanden bevormunden. Wir möchten allerdings zwei Prinzipien in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen verteidigen, von denen wir überzeugt sind, nämlich Stabilität und Freiheit.Meine Damen und Herren, ich habe versucht, den Jahreswirtschaftsbericht auf den Stand der Erkenntnisse des Endes des ersten Quartals 1974 zu bringen. Ich habe die Hoffnung, daß wir in einer Diskussion über die ökonomischen Probleme in diesem Lande an der Sache orientiert nach Lösungen suchen.Ich möchte allerdings nicht schließen, ohne hinzuzufügen, daß ich glaube, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland vor den Menschen in diesem Lande insbesondere bestehen können, wenn wir ihnen auch den Blick nach draußen zeigen, nicht um von unseren internen Problemen abzulenken, sondern um auch einmal deutlich zu machen, daß es im letzten Jahr gelungen ist, mit den Widrigkeiten von draußen in der Bundesrepublik Deutschland besser, um nicht zu sagen, sehr viel besser fertig zu werden, als es den anderen Ländern möglich gewesen ist.
Wir werden das Jahr 1974 ohne nennenswerte Beschäftigungsprobleme mit niedrigeren Preissteigerungsraten, als sie andere Länder in der Europäischen Gemeinschaft, in Ostasien und in Amerika haben, zu Ende führen können, und wir werden letztendlich in der Lage sein, die gestiegenen Kosten für die Rohstoffe aus unserer laufenden Bilanz zu zahlen, ohne uns gegenüber dritten Ländern in einem Übermaß zu verschulden, sogar ohne jede zusätzliche Verschuldung nach außen. Und wir sollten den Versuch machen — was in der Ökonomie gottlob noch möglich ist —, an objektiven Kriterien die Zukunft zu messen und nach der richtigen Zielkombination zu suchen.
Wir treten in die Aussprache ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strauß. Die Fraktion der CDU/CSU hat eine Redezeit von 60 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rede, die der Herr Bundeswirtschaftsminister heute gehalten hat, ist ein bescheidenes Dokument einer noch bescheideneren Politik, die er heute hier zu vertreten hatte.
Ich könnte auch sagen, ein Dokument der Ratlosigkeit, ein Zeugnis für eine Politik, die heute mehr von
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6183
StraußHoffen und Bangen geprägt ist, während sie früher von Frohlocken und Alleluja geprägt war.
Man kann die Analyse des Herrn Bundeskanzlers in seinem gestrigen Interview in der „Westfälischen Rundschau" ohne weiteres auf die Regierung als Ganzes übertragen. Er sagte nämlich: Die SPD leidet unter Koalitionsschwächen.
— Ach, wie gut ist ein Druckfehlerteufel! — „Die SPD leidet unter K o n d i t i o n s schwächen, die sie hoffentlich bald überwindet."
— Nein, hier steht tatsächlich „Konditionsschwächen", aber nachdem ich die Rede in Erinnerung hatte, habe ich in einem Akt der geistigen Transplantation an Koalitionsschwächen gedacht.
Denn manches, was der Herr Bundeswirtschaftsminister — mit unserer vollen Zustimmung — sagte, war mehr an die Adresse gewisser Randgruppen der Koalitionsparteien gerichtet als an die Adresse 'der Opposition.
Der Kanzler machte andererseits in diesem Interview die groß angelegte gegnerische Propaganda verantwortlich. Es gab einmal eine Zeit, da hatte sich der Bundeskanzler nicht darüber zu beklagen, daß die Träger dieser „gegnerischen Propaganda" etwa ihm zu wenig Vorschußlorbeeren gespendet hätten. Heute wird nur in bescheidenem Maße das nachgeholt, was damals an Kritik versäumt worden ist. Er sagte weiter — ich zitiere wörtlich —:Wir haben es mit einer großangelegten gegnerischen Propaganda zu tun, die darauf abzielt, Unsicherheit zu verbreiten und die Situation anders darzustellen, als sie ist.Es 'ist der Bundesregierung lange Zeit gelungen, der Öffentlichkeit weiszumachen, daß die Situation anders ist. Aber sie ist nunmehr anders, als sie damals 'dargestellt wurde, und sie muß 'heute so dargestellt werden, wie sie ist, und wenn sie so dargestellt wird, wie sie ist, beklagt sich der Bundeskanzler, daß sie anders dargestellt wird, als sie 'ist.
Nach dieser Darstellung 'des Bundeskanzlers sind die Inflation und die Gefahr für unsere staatliche und gesellschaftliche Ordnung nur 'in den Vorstellungen der Opposition vorhanden.Wie sieht die Wirklichkeit aus? Wir haben keine übliche konjunkturpolitische Situation, über die normalerweise beim Jahreswirtschaftsbericht zu reden wäre, eine Situation, der man mit konjunkturpolitischen Mitteln noch beizukommen in der Lage wäre. Wir befinden uns in einer sogenannten atypischen Situation —
— oder wollen Sie das, was heute ist, als normal bezeichnen? —, für die die normalen konjunkturpolitischen Mittel nicht mehr als Medikamente empfohlen werden können, — ganz abgesehen davon, daß diese Regierung ohnehin nicht fähig wäre, sie anzuwenden; siehe Stabilitäts- und Wachstumsgesetz! Es bedarf der Erkenntnis, daß nicht nur die materiellen Indikatoren, von denen so viel die Rede ist, sondern noch mehr die psychologischen Faktoren heute eine entscheidende Rolle spielen. Das heißt, daß konjunkturpolitische, strukturpolitische und ordnungspolitische Probleme zusammen gesehen werden müssen. Gerade die letzteren reichen von der Eigentumsbildung bis zur Berufsausbildung, von der Steuerreform bis zur Mitbestimmung.Die Regierung hat das Kunststück fertiggebracht, nicht nur das Schwungrad der Investitionen zu bremsen und damit den Motor der deutschen Wirtschaftsentwicklung in 'seiner Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen, sie hat auch das Vertrauen weiter Bevölkerungskreise schlechterdings zerstört. Sie hat geglaubt, sich durch eine Politik der gezielten Kampagne gegen soziologische Minderheiten — in diesem Falle gegen die Unternehmer oder gegen die Lehrlingsausbilder — wahlpolitische Vorteile zu verschaffen, vielleicht auch, um innerparteiliche Schwierigkeiten loszuwerden. Sie muß jetzt feststellen, daß sie damit das Vertrauen auch weiter Kreise der von ihr umworbenen Schichten, denen sie einen Bärendienst erwiesen hat, zwangsläufig verloren hat.
Unsere Regierung hat zuerst das Bestehen einer Inflation geleugnet und die Opposition der Demagogie, der Panikmache und der Volksaufwiegelung bezichtigt,
wie überhaupt die Sprache auch aus dem Munde des Bundeskanzlers in der Vergangenheit nicht immer die staatsmännische Gepflegtheit und weise Entrücktheit gegenüber irdischen Wi'drigke'iten aufgewiesen hat, wie es in letzterer Zeit in steigender Verklärung der Fall zu sein scheint.
Hier darf ich in Fußnote auch vielleicht an folgenden Vorgang erinnern. Wir haben gestern aus dem Munde des Herrn Staatssekretärs Gaus einen Tadel an der Formulierung einer parlamentarischen Anfrage vernommen, als vom ,,Regime" der DDR die Rede war: das würde doch 'die Verhandlungen belasten und das gute Verhältnis beeinträchtigen. Erinnern Sie sich, Herr Bundeskanzler, daß Sie jüngst in Ihrem verständlichen und nicht unterdrückten Zorn
— das wird ihm sicher gesagt werden — über die erste der erlittenen Wahlschlappen gesagt haben: Wir müssen das Vertrauen der Arbeitnehmer wieder gewinnen. Wissen denn die nicht, was auf sie und ihre Familien zukommt, wenn es zu einem neuen Regime der CDU/CSU kommt?!
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6184 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
StraußDas ist ;doch unwidersprochen gesagt worden, von uns auch entsprechend kommentiert worden.Als man das Bestehen der Inflation nicht mehr leugnen konnte, hat man Ausmaß und Dauer der Inflation verharmlost und wiederum die falsche Alternative beschworen: Inflation oder Vollbeschäftigung, Mister five percent!
Anders ausgedrückt: Stabilität oder Arbeitslosigkeit.
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und zweitens der Irrtum, daß man ein Stabilitätsgesetz weiter vor sich herträgt, dessen Bestimmungen nach der Meinung des Herrn Bundesfinanzministers, jedenfalls war die Budgetpolitik betrifft, nur für eine Situation, nämlich für die Bekämpfung der Rezession ausreicht, aber nicht für den Kampf gegen eine Überkonjunktur. Es stimmt einfach nicht, daß der Staat seinen Anteil am Bruttosozialprodukt nicht beschränken darf, weil sonst dringend erforderliche öffentliche Investitionen nicht vorgenommen werden können.Der Inflationsprozeß hat dazu geführt, daß in jedem Jahr dieser Regierung der Anteil der Investitionen im öffentlichen Haushalt zurückgegangen ist.
Die Struktur der öffentlichen Haushalte hat sich von Jahr zu Jahr zu Lasten unserer gesellschaftlichen Zukunft verschlechtert. Während im Jahre 1969 der Anteil der Investitionen an den öffentlichen Gesamtausgaben noch 25,8 % betrug, ist dieser Anteil im Jahre 1972 auf 24 % abgesunken, und das gleiche wird voraussichtlich auch die Rechnung für 1973 ergeben, die noch nicht endgültig vorliegt. Dagegen steigt der Anteil der Personalausgaben, eine typische Folge inflationärer Entwicklung, laufend. Im Jahre 1969 betrug er an den Gesamtausgaben der Gebietskörperschaften 30,4 %, im Jahre 1972 bereits 32,6 und wird sicherlich im Jahre 1973 höher und im Jahre 1974 abermals höher sein.Die Inflation der Personalausgaben und der Planstellen bei der Bundesregierung ist neuerdings in der Öffentlichkeit des öfteren behandelt worden. Die Zahlen haben in der Tat ein inflationistisches Ausmaß. Man möge auch nicht sagen, das sei Kleinigkeitskrämerei; denn die Addition und Kumulierung all dieser Erscheinungen allein im Bereich der Bundesverwaltung ergeben schon ein erschreckendes Bild.
Z. B. haben im Bundeskanzleramt die Personalkosten von 1969 bis 1974 um 170 % zugenommen,
von damals 100 auf heute 270 %. Die Zuwachsrate der Personalkosten beim Presse- und Informationsamt im gleichen Zeitraum betrug 100 %. Im Bundeskanzleramt sind die Planstellen für Beamte um 95 Stellen, d. h. um 66,4 %, gestiegen, und das besonders im Bereich des höheren Dienstes.
Der Repräsentativfonds des Bundeskanzlers ist indem genannten Zeitraum um 82 % gestiegen. Dasist die Entwicklung in einem Amt, dessen Chef zum I Maßhalten, zum Zurückstellen von Ansprüchen auffordert, aber selbst in seinem eigenen Hause die gegenteilige Entwicklung fördert oder, was eher zu glauben ist, nicht verhindern kann.
Durch die Ausgabeninflation der öffentlichen Haushalte wird nicht ein vermehrtes Angebot öffentlicher Leistungen geschaffen, Herr Bundesfinanzminister, sondern lediglich ein Mehr an Bürokratie in unserem Lande.
Wenn es dem Staat mit der Bekämpfung der Inflation ernst ist, dann muß er endlich einmal, und zwar im Staatssektor, selbst anfangen; er muß seine Zuwachsansprüche an die stark verkleinerte verteilungsfähige Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts einschränken. In den letzten Jahren hat der Staat das nicht getan. In der Jahresprojektion 1974 beansprucht der Staat für sich wiederum erheblich höhere Zuwachsraten an das Bruttosozialprodukt, als er den anderen Partnern zugesteht. Dadurch wird aber nicht nur die Inflation weiter angeheizt, sondern auch der Verteilungskampf im restlichen Sektor immer härter.Im Hinblick auf die expansive Ausgabenentwicklung der Gebietskörperschaften und durch die geringer ausfallenden Einnahmen wird die Finanzierungslücke des öffentlichen Gesamthaushalts von 11 Milliarden DM im Jahre 1973 auf mindestens 18,5 Milliarden DM im Jahre 1974 ansteigen, aufgeteilt nach Bund, Ländern und Gemeinden. Das ergibt zusammen eine Inflationsquelle erster Ordnung. Diese Zunahme der Staatsausgaben und die Zunahme der staatlichen Defizite ist konjunkturpolitisch in keiner Weise geboten, und zwar deshalb, weil die Inflation, die inflationäre Entwicklung, dem Bundesmfinanzminister jährlich Mehreinnahmen in Höhe vieler Milliarden verschafft hat, die selbst bei der letzten Vorausschätzung der Steuereinnahmen jeweils noch nicht festgestellt werden konnten. Und trotzdem dieser Finanzierungssaldo!Wenn es wirklich richtig sein sollte, daß die Wiedererlangung der Preisstabilität erste Priorität haben muß, dann kann ein derartiges Finanzierungsdefizit, eine solche Inflationsbazillenschleuder, nicht vertreten werden. Dabei möchte ich nur noch darauf hinweisen, daß die Finanzierung dieses Defizits auch erhebliche Probleme auf dem ohnehin belasteten Kapitalmarkt erbringen wird.Die Beibehaltung der Hochzinspolitik hat gerade in bestimmten Wirtschaftsbereichen, wie der Bauindustrie, der Textilindustrie, im mittelständischen Bereich, schwerwiegende Folgen. 1973 war das Jahr der meisten Konkurse, und das Jahr 1974 scheint diese Tradition mit noch höheren Zahlen fortzusetzen. Hier, Herr Bundeswirtschaftsminister, darf ich Sie an eine Unterhaltung erinnern, bei der ich leider nicht in Ihrer werten Nähe sein konnte, die neulich im Fernsehen stattgefunden hat. Dabei haben Sie
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6186 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Straußauf meinen Einwand, daß das Jahr 1973 die größte Zahl der Konkurse mit der größten Summe der unbefriedigten Ansprüche erbracht habe, erwidert, das sei auch völlig normal; wenn meine Beurteilung der Wirtschaftspolitik nach der Zahl der Konkurse stichhaltig wäre, dann müßte es von 1933 bis 1945 die beste Wirtschaftspolitik gegeben haben, weil es damals die geringste Zahl von Konkursen gegeben habe. Herr Bundeswirtschaftsminister, dieses Argument ist, gelinde gesagt, Ihrer, den wir ja ernst nehmen wollen, unwürdig. Ein solches Argument taugt keinen Schuß Pulver.
Wenn ich nämlich in Ihrer Denklinie fortführe, dann würde ich sagen: Je mehr Konkurse es gibt, desto demokratischer ist unsere Wirtschaftspolitik,
und wenn wir von Jahr zu Jahr eine steigende Zahl von Konkursen haben, ist das ein Indikator für die beste Wirtschaftspolitik aller Zeiten, — um in den Stil jener Zeit zurückzufallen. So kann man es nicht machen.Ich darf auch hier, wenn das schon in die Debatte geworfen worden ist, daran erinnern, daß man das heute nicht mehr so abtun kann, Herr Bundesfinanzminister, wie Sie es in der gleichen Fernsehsendung getan haben.
— Das sind wir gewohnt; er hat höhere Ziele und andere Aufgaben.
— Das hat er auch nötig.Sie haben gesagt, einige Pleiten täten doch ganz gut. Herr Bundesminister Vogel sagte vorher — der ist da, aber er geht jetzt auch —,
das sei nur die Beschneidung von Wildwuchs. Bei dem, was sich hier zugetragen hat, möchte ich gar nicht davon reden, welcher politischen Couleur eine Reihe von Baulöwen gewesen ist, die auf der Strecke geblieben sind; das sei nur am Rand erwähnt. Dabei hat die Zahl und die Größenordnung der Konkurse ein Ausmaß erreicht, das man nicht mehr mit der Beschneidung von Wildwuchs oder mit einem gesundheitlichen Schrumpfungsprozeß rechtfertigen kann.
Ich habe hier schon einmal gesagt: keine Regierung der CDU/CSU hätte es sich erlauben können, sich mit dieser Schnoddrigkeit über verlorene Existenzen, über gefährdete Arbeitsplätze und über zugrunde gehende Betriebe hier hinwegzusetzen.
Weil die Fiskalpolitik praktisch überhaupt nicht zur Konjunkturpolitik eingesetzt wird, die expansive Steigerung des Staatsverbrauches zu keiner erhöhten Nachfrage des Staates nach Bauleistungen und anderen Wirtschaftsgütern führt — das ist ja der Irrtum des Herrn Bundesfinanzministers vor dem Bankentag —, muß eine Hochzinspolitik einseitig zu Lasten breiter mittelständischer Unternehmensbereiche gehen. Das Verfehlte an dieser Konjunkturpolitik ist ihre Doppelstrategie: expansive Haushaltspolitik zur angeblichen Sicherung der Vollbeschäftigung und andererseits eine allmählich abwürgende Geld- und Kreditpolitik zur Dämpfung der Nachfrage im privaten Bereich bei Investitionen und Verbrauchsgütern. Wenn Konjunkturpolitik einen Sinn haben soll bei einer typischen Situation, wenn dies noch anwendbar ist; es gibt Situationen, wo fast überhaupt nichts mehr greift,
aber die sind dann von Stümpern herbeigeführt worden , müssen alle Mittel der Konjunkturpolitik, Steuer-, Haushalts-, Geld- und Kreditpolitik, gleichzeitig, gleichsinnig und gleichförmig angewandt werden. Wenn das so der Fall ist, daß die Mittel der Haushaltspoiltik expansiv und die Mittel der Geld- und Kreditpolitik kontraktiv eingesetzt werden, ergibt das den Zustand des Trudelns in einer Wirtschaft, wie wir ihn heute erleben und wie er noch lange anhalten wird.Die im Dezember beschlossenen Maßnahmen, die Wiedereinführung der degressiven AfA, Wiederinkrafttreten des § 7 b des Einkommensteuergesetzes, Aufhebung der Investitionssteuer, diese furchtbare Hektik: rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, werden so lange keinen Anreiz zu privaten Investitionen darstellen, wie eine übertriebene restriktive geldpolitische Linie weiterverfolgt wird oder wegen des Ausfallens der Fiskalpolitik verfolgt werden muß. Was soll der Abbau steuerlicher Belastungen für Investitionen, wenn durch die Geldpolitik das Investitionsrisiko immer größer wird? Der weitere Rückgang der Nachfrage nach Investitionsgütern bei gleichzeitiger Verteuerung ist ein alarmierendes Zeichen. Dazu kommt, daß das Verhalten der privaten Investoren entscheidend durch die wirtschaftsfeindliche Politik dieser Koalition, durch ihre Mitbestimmungsgesetzgebung, die den Arbeitern gar nichts und den Funktionären alles bringt, die angekündigte Vermögensbildungsabgabe, die man nur als eine mißlungene Mischung zwischen Dilettantismus und Utopie bezeichnen kann, durch die Daten Ihrer Steuerreform beeinflußt wird. Sie schaffen einfach kein Vertrauen in die weitere politische Entwicklung!Wenn die Besteuerung nach Inkrafttreten einer Vermögensbildungsabgabe bei einem Körperschaftsteuersatz von 56 % unter erhöhten Belastungen mit vermögensabhängigen Steuern 80 %, teilweise 90 °/o, des Gewinns vor Steuern erreichen wird, wird privatwirtschaftliches verantwortungsbewußtes Handeln unmöglich gemacht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6187
StraußSie zerschlagen damit doch die Grundlagen dieser Gesellschaft. Sie zerschlagen doch schon in statu nascendi jede Möglichkeit einer Heilung der Krankkeiten, die durch Ihre Politik herbeigeführt worden sind. Die Finanzierung der notwendigen Investitionen zur Erhaltung der Arbeitsplätze, zur Durchführung von Rationalisierungs- und Erweiterungsinvestitionen ist doch nicht mehr gewährleistet.Als Zeugen möchte ich einen, ich darf sagen, alten politischen Bekannten, der Bundestagsabgeordneter einer Regierungspartei ist, sich aber ein hohes Maß an kritischer Unabhängigkeit und publizistischer Freiheit, ich darf fast sagen, als Einzelänger bewahrt hat, nämlich Conrad Ahlers nennen. Er sagte:Auch die sogenannten Rechten er meinte damit aber nicht uns, sondern dieRechten in seiner eigenen Partei —haben daran mitgewirkt, daß der soziale Neid zu einer zentralen Motivation sozialdemokratischer Politik wurde.
Weil dieser Neidvirus grassiert, gibt es kaum einen sozialdemokratischen Bundesminister, die im übrigen allesamt zu den Spitzenverdienern in unserem Lande gehören, der nicht, wenn er eine neue Idee plazieren will, zuerst einmal vorrechnet, daß die Wirtschaft und daß die reichen Leute dafür zu bezahlen hätten. Seitdem die Leistungsgesellschaft in Verruf geraten ist, steht im Mittelpunkt sozialdemokratischer Ideologie die Bestrafung beruflicher Leistung. Hinzu kommt die eklatante Wirtschaftsfeindlichkeit der meisten führenden Sozialdemokraten. Wer sich antiunternehmerisch gebärdet, kann in der SPD von heute des Beifalls gewiß sein, und eine große Zahl opportunistischer Politiker in der ersten Reihe hat sich dies alles seit langem zu eigen gemacht.Soweit Conrad Ahlers!Mit dieser Doppelstrategie, wie sie angelegt ist, werden weder ein angemessenes Wachstum noch Preisstabilität erreicht. Die Preissteigerungen werden sich fortsetzen. Die Arbeitsplätze werden weiterhin gefährdet.Ein Beispiel für diese Motivation des Neides, der immer aus einer Philosophie der Ignoranz und aus einer Doktrin der Arroganz kommt, war ja doch Ihre sowohl hier als auch im Lande betriebene Argumentation gegen die von uns vorgeschlagene und zum 1. Januar 1974 vorgesehen gewesene Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags von 1680 auf 3000 DM. Wir haben uns hier darüber so oft unterhalten, daß ich die Einzelheiten jetzt nicht zu wiederholen brauche; ich werde am Schluß noch kurz darauf zurückkommen müssen. Der Grundfreibetrag, das sogenannte steuerliche Existenzminimum, das ja immer mit dem ist, was man früher „Fürsorgerichtsatz" nannte, in einer gewissen Beziehung stand, ist zum letztenmal im Jahre 1958 festgelegt worden. 1958! Was hat sich seit der Zeit in unserem Land an Geldwertstabilität geändert oder vermindert! Die Anpassung ist nur eine Frage der sozialen Selbstverständlichkeit.Der Erhöhungsbetrag von 1 320 DM wird aus der 19%igen Besteuerung der Proportionalzone herausfallen, d. h. der Steuerzahler wird dann rund 260 DM mehr erhalten, weil er mit diesen 1 320 DM nicht zu der 19%igen Besteuerung der Proportionalzone herangezogen werden kann. Ich sage das deshalb so ausführlich, weil diese Detailprobleme für manche schwerer verständlich sind, wenn sie sich nicht damit befassen.Nun muß man einmal an die Bezieher höherer Einkommen denken, an die Schicht, die hier immer als Gegenstand gesellschaftlicher Anklage an den Pranger gestellt wird. Zu der Frage, ob diese Schicht die 260 DM im Jahr mehr an Einkommen erhalten soll oder nicht, wird gesagt, das müsse verhindert werden. Das ist das typische Beispiel der grassierenden Neidmotivierung;
denn diese Schicht unterliegt ohnehin einem Endsteuersatz von 53 %, neuerdings etwa 56 %. Für den Arbeitnehmer bedeutet das nicht nur, daß er mit diesen 1 320 DM nicht zur 19%igen Besteuerung herangezogen wird, sondern bedeutet es auch, daß er bei Ausdehnung des Grundfreibetrags mit dem oberen Teil seines Einkommens nicht in die Progressionszone kommt. Das wäre Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, sehr, sehr hilfreich gewesen.
Ich habe heute meinen Ohren nicht getraut, als Sie sagten, man hätte im Januar über Steuersenkungen reden können.
— .Jawohl, Sie haben darüber geredet. Aber es ist immer so bei dieser Regierung: Sie reden, aber tun das Gegenteil von dem, was Sie sagen!
Ich muß beinahe fragen: Leben wir denn in einer Traumwelt?Wir haben doch in der Fraktion der CDU/CSU am 31. Juli in einer Feriensitzung die Notwendigkeit von Steuersenkungen spätestens zum 1. Januar 1974 auf dem Gebiet der Lohnsteuer aus den bekannten Gründen — diese will ich, um Zeit zu sparen, nicht wiederholen; sie sollten aber jedem in diesem Hohen Hause bekannt sein — vorgeschlagen und öffentlich angekündigt.
Wir haben im Herbst des letzten Jahres ein Steuersenkungspaket vorgeschlagen, das am 1. Januar 1974 in Kraft treten sollte. Das wurde uns als „Inflationsförderungsgesetz" um die Ohren geschlagen.
Eine dümmlichere Kennzeichnung konnte man damals nicht wählen. Wir wußten auch, daß Steuersenkungen für normale konjunkturelle Situationen
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6188 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Straußnicht das richtige Mittel sind. Aber wir haben damals schon gesagt, daß die konjunkturelle Situation einen Zustand erreicht hat, in dein die konventionellen Methoden nicht mehr ausreichen, und der einzige Ausbruch, der noch möglich ist, eine Entlastung an der Lohnfront schaffen muß, damit der Teil der Lohnforderungen, der auf dem Progressionstarif der Lohnsteuer vom Jahre 1964 beruht, wenigstens bei den Lohnverhandlungen von beiden Seiten einbezogen werden kann.
Herr Abgeordneter Strauß! Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte diesen Gedanken nur noch zu Ende führen. — Wir haben dann weiterhin, als Sie unseren Antrag im Oktober des letzten Jahres unter Ausnutzung Ihrer damals in diesem Hause und bis zum Ende der Legislaturperiode gegebenen, vom Wähler nicht mehr gedeckten Mehrheit abgelehnt haben, das gleiche — nur mit Umstellung von Weihnachtsgeld auf andere Steuersenkungsmöglichkeiten — im Januar dieses Jahres wiederholt. Und wiederum sind wir von dieser so darf ich es sagen — arroganten Mehrheit in diesem Hause einfach ohne Prüfung unserer Argumente an die Wand gedrückt worden. Sie wären heute in der Situation, in der Sie sind — und noch mehr in der Situation, in die Sie kommen werden froh, wenn Sie damals unsere Anträge — obwohl Sie von der Opposition waren — angenommen hätten.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Dr. Graf Lambsdorff!
Herr Kollege Strauß! Würden Sie die Freundlichkeit haben, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister hier ausgeführt hat:
Zum Thema Steuersenkungen, das in der letzten Zeit eine große Rolle gespielt hat, möchte ich nur sagen, daß es nach meiner Auffassung zu Anfang dieses Jahres durchaus diskutable Argumente zugunsten steuerlicher Erleichterungen gab,
— meine Damen und Herren, vielleicht darf ich meine Frage zu Ende stellen! —
doch haben die Argumente dagegen überwogen.
Und würden Sie die Güte haben, den letzten Halbsatz nicht zu verschlucken?
Ich bitte Sie, mir zuzubilligen, daß ich — weil ich im Gegensatz zu Ihnen kein gedrucktes Exemplar vorliegen hatte — aus seiner Rede nur entnommen habe, daß es diskutable Argumente für eine Steuersenkung gegeben habe.
Aber damals war der Ton anders, der in diesem Hause angeschlagen wurde.
Herr Abgeordneter Dr. Strauß, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
— Einen Moment bitte!
Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein „Inflationsförderungsgesetz" diskutabel ist.
Das würde ich auch als indiskutabel bezeichnen. — Bitte sehr, Graf Lambsdorff!
Herr Kollege Strauß! Können wir uns vielleicht darauf einigen, daß ich Ihnen das selbstverständlich gern konzediere, daß Sie dann aber andererseits vielleicht auch davon ausgehen, daß es sich nicht um eine arrogante Mehrheitsentscheidung gehandelt hat, sondern um Ergebnisse einer langen und grund-lichen Diskussion?
Herr Kollege Lambsdorff, ich weiß, daß Parlamente heute nicht mehr das sind, was ihr Name eigentlich verrät,
daß in Parlamenten heute bei festgefügten und infolge drohender Untergangserscheinungen um so enger bestehenden Bindungen der Koalition die Grundlage für eine echte parlamentarische Diskussion mit der Möglichkeit, hier durch Argumente Mehrheiten zu schaffen, leider nicht mehr gegeben ist. Sie sind damals mit vorgefaßter Meinung hereingekommen, haben mit einer arroganten Schnodderigkeit versucht, uns in der Öffentlichkeit mit dem Gerede vom „Inflationsförderungsgesetz" verächtlich zu machen, haben unsere zweimal eingebrachten Anträge niedergebügelt und wären heute froh — auch wenn Sie es nicht zugeben können —, wenn Sie damals anders gehandelt hätten.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister nunmehr — ebenso wie sein Kollege Schmidt — glaubt, mit weniger als 10 °/o Preissteigerungen im laufenden Jahr rechnen zu können, wäre es hochinteressant zu erfahren, wie er da rechnet.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6189
StraußErst im Februar dieses Jahres hat das Bundeswirtschaftsministerium im Falle von zweistelligen Tarifabschlüssen in der Lohnpolitik eine Arbeitslosenquote von 3 % und eine Inflationsrate von 10 % bis 12 % für 1974 angekündigt. In Modellrechnungen des Bundeswirtschaftsministeriums, die Anfang Februar in der Presse bekanntgeworden sind — in der „Welt" am 1. Februar, in der „Süddeutschen Zeitung" am 1. Februar —, wurde herausgestellt, daß bei Lohnerhöhungen von 11 bis 12% mit einem Anstieg der Verbraucherpreise von deutlich über 10 %, einer dreiprozentigen Arbeitslosenquote und mit einem Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen von weniger als 3 bis 5 % Zuwachsrate zu rechnen ist.
Das war die regierungsamtlich gesteuerte Indiskretion. Herr Bundeswirtschaftsminister, das war der Teil — so muß man schließen, wenn man die Geschichte der Jahreswirtschaftsberichte über Jahre hinweg verfolgt —, der von dem pflichtbewußten konjunkturpolitischen Barometerbeamten in Ihrem Hause ursprünglich als Text vorgeschlagen war, der aber dann wegen seiner politischen Bedenklichkeit keine Gnade gefunden hat. Auf welchem Punkt des Weges der hingerichtet wurde, weiß ich nicht.
Um diese Überlegungen des Bundeswirtschaftsministeriums der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen, wenn auch vielleicht nachträglich als Alibi, hat man den Weg der regierungsamtlichen Indiskretion gewählt.Wir haben angenommen, das sei eine Vorwegnahme des offiziellen Berichts, und wir haben den Bericht daraufhin geprüft; da war es nicht drin. Also, ist es eine Modellrechnung, die aus politischen Gründen keinen Segen erfahren hat. Man braucht gar nicht Motivationsforscher zu sein, um zu wissen, warum; denn noch jedes Jahr ist seit 1970 am Anfang eines Jahres die Inflationsrate niedriger geschätzt worden, als sie sich dann am Ende des Jahres als Ist-Ergebnis herausgestellt hat. Dieser Tradition ist man leider auch jetzt treu geblieben.Am 13. Februar 1974, nach vier Tagen Streik, wurden Lohn- und Gehaltsforderungen im öffentlichen Dienst von 11 %, mindestens 170 DM vereinbart. Durchschnittliche Lohnerhöhung: 11,64 %. Im Februar lagen die industriellen Herstellerpreise um 11,7 % höher als im Vorjahr; im Januar waren es noch 10,2 %. Wenn man bedenkt, daß sich der Kostendruck auf der Produktionsstufe nicht abgeschwächt, sondern noch verstärkt hat — sowohl bei den Materialpreisen als auch bei den Lohnkosten kann man die in der Jahresprojektion ausgewiesenen Preisanstiegszahlen für 1974 von 8 bis 9 % und die dazu gegebenen Erläuterungen nur als Wunschvorstellung bezeichnen, als Fortsetzung der eben von mir geschilderten Tradition.Es war gerade der Sinn unserer von Ihnen einfach überwalzten Anträge, den Kostendruck im Lohnsektor zu vermindern, weil uns das noch der einzige schmale Ausweg aus einer Einkreisung zu sein schien, die durch Ihre Politik entgegen unseren Warnungen nun geschaffen wurde und die wir lange nicht mehr loswerden.
Bundesbankpräsident Klasen hat in seinem Interview mit der „Zeit" vom 1. März 1974 ausgeführt:Diese Preis-Lohn-Spirale muß schnell zu einem Ende kommen.Das klingt wunderbar.Wenn wir zweistellige Inflationsraten haben, dann ändert meines Erachtens unser Wirtschaftssystem seinen Charakter.Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Daß eine Inflation zur Veränderung unseres Gesellschaftssystems führt, zeigt eine Untersuchung von 40 Staaten, die in den vergangenen 10 Jahren die Schwelle einer jährlichen Geldentwertung von 15 % überschritten haben — zitiert nach Slotosch, ,,Süddeutsche Zeitung" vom 16. März 1974 —. Es bleiben nur zwei Staaten übrig, die noch demokratisch regiert werden.Wie schnell ein solcher Prozeß in Gang kommt, wenn erst einmal Inflationsraten von mehr als 10 % erreicht werden, zeigt Japan, das in diesen Tagen am Rande der Zwangswirtschaft angelangt ist. Ein Beispiel dafür ist auch Italien mit seinen neuesten Devisenkontrollen und seinen manchmal nicht an Immobilismus, sondern an anarchische Zustände gemahnenden Verhältnissen.
— Ich glaube, eine Volksfrontregierung würde in Italien sicherlich zu einer wesentlichen Hebung des Wohlstands bei niedrigen Inflationsraten beitragen!
— Darüber können wir uns einmal unterhalten, Herr Ehrenberg.Ich möchte hier eine andere Unterlage verwerten. In dem Wirtschaftsdienst „Wissenschaft für die Praxis" ist unter der Überschrift „Auf der Suche nach neuen Stabilisierungskonzepten" in einem Artikel von Werner Glastetter aus Düsseldorf der Inhalt einer Forumsdiskussion wiedergegeben, die im Rahmen einer DGB-Veranstaltung stattgefunden hat. Es war eine ernsthafte Diskussion, die eines erbracht hat: daß bei zunehmender Inflation der Ruf nach der Abkehr von der Marktwirtschaft und der Hinwendung zu zentralgesteuerter Verwaltungswirtschaft mit immer stärkeren Eingriffen des Staates zwangsläufig ausgelöst wird. Daß Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister — und das glaube ich im Namen meiner ganzen Fraktion sagen zu dürfen —, dem nicht ihre Hand reichen oder reichen wollen und nie reichen werden, halten wir für selbstverständlich. Bei Ihrem Koalitionspartner glaube ich, daß man nur sagen kann: in Treue gelegentlich ziemlich fest, — aber nicht mehr.
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6190 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
StraußDer Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, Herr Emminger, hat vor kurzem beim 25jährigen Bestehen des VWD am 6. März ausgeführt:Unsere geldwirtschaftliche Stabilität ist heute so ernsthaft bedroht wie nie zuvor in den vergangenen 25 Jahren, wenn man vielleicht von einigen Monaten des Korea-Booms absieht. Geldwertdefaitismus und Inflationsmentalität breiten sich aus. Diese Unstabilität bedroht mit der Zeit auch die marktwirtschaftliche Ordnung in ihrem innersten Kern. Dazu kommt noch der ideologische Angriff radikaler Gruppen gegen die Marktwirtschaft, überhaupt gegen unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung. Alles zusammengenommen, sieht sich unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität einer Herausforderung gegenüber, wie wir sie seit Gründung der Bundesrepublik noch nicht erlebt haben. Für diejenigen, die für die Stabilität in diesem Lande verantwortlich oder mitverantwortlich sind, kann das nur heißen, daß der Wiederherstellung der Preisstabilität Priorität vor allen anderen Zielen eingeräumt werden muß.Ich habe bewußt hier Herrn Emminger zitiert, weil er genau dasselbe sagt, was wir seit Jahren hier in diesem Hause vertreten und wovor wir mit steigender Besorgnis in immer größerer Leidenschaftlichkeit gewarnt haben und warnen. Ich hoffe, daß man nun nicht Herrn Emminger als Panikmacher, als Hetzer, als Demagogen, als Schreibtischtäter oder ähnliches kennzeichnen wird.
Herr Friderichs hat, als die Preissteigerungsraten noch nicht so hoch waren wie heute, am 12. Juni 1973 erklärt — damals bei der Mitgliederversammlung der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und StahlindustrieIch bin sicher, daß die intolerablen Preissteigerungen, sofern sie anhalten, auf die Dauer das marktwirtschaftliche System zersetzen.Der Ausbau unseres Sozialstaates in den Jahren von 1949 bis heute gehört zu den großen Leistungen des letzten Vierteljahrhunderts. Dieser Ausbau war nur möglich auf Grund eines nahezu phänomenalen Produktionszuwachses unserer Wirtschaft, wie er in dieser Stetigkeit, Art und Stärke nie in unserer Wirtschaftsgeschichte zuvor zu verzeichnen war. Die Produktionsleistung je Erwerbstätigen war 1973 mehr als dreimal so hoch wie 1950. Alljährliche Ausweitungen der Sozialleistungen sind fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden und wurden fast als Gewohnheitsrecht aufgefaßt.Während sich in den 20 Jahren der von der CDU/CSU geführten Regierungen der Wachstums- und Produktivitätsprozeß kontinuierlich entwickelt hat, ist seit dem Herbst 1969 eine Zäsur eingetreten, ein Prozeß eingeleitet worden, der gekennzeichnet ist durch ein ungeheuerliches Wachsen der Erwartungen der Bürger, ausgelöst durch immer wieder neue Versprechungen der Regierung. Wenn wir heute mit Recht von einem gesellschaftlichen Reizklima sprechen, dann deshalb, weil die Inflation der Sprüche zur Inflation der Hoffnungen, die Inflation der Hoffnungen zur Inflation der Forderungen und die Inflation der Forderungen zu einer Inflation des Geldes geführt hat und die Enttäuschung und die Unvereinbarkeit von Verheißung und Wirklichkeit in diesem Lande zu gesellschaftlichen Atmosphären führen, die den Regierenden von heute und von morgen noch sehr viel Kummer und Kopfzerbrechen bereiten werden, wenn nicht Schlimmeres.
Ich darf hier nur daran erinnern, daß die inflatorischen Prozesse im öffentlichen Haushalt von einer heimtückischen Beraubung des kleinen Sparers begleitet sind, der jährlich außerordentliche Verluste in der Substanz seines Sparkapitals erleidet. Ersparnisse an Geldkapital in Form von Sparkonten, Bausparverträgen, Lebensversicherungen, Wertpapieren und Renten haben eine Summe von 500 Milliarden in der Bundesrepublik erreicht. Eine 10%ige Inflationsrate vernichtet binnen 12 Monaten 50 Milliarden DM an Sparkapital. Nichts könnte das, was ich vorher als Mischung zwischen Dilletantismus und Utopie -- und das noch verfehlt — bezeichnete, besser erklären als die Tatsache, daß jährlich zwischen 40 und 50 Milliarden an Werten denen, die es ehrlich erworben haben, durch diese Politik entzogen, konfiskatorisch vernichtet werden. Dafür verheißt man 5 Milliarden DM jährlicher Vermögensbildung, ungefähr ein Zehntel, und muß zugeben, daß die Schwierigkeit der gesellschaftspolitisch gewählten Konstruktion noch so groß ist, daß ein großer Teil der Zuwendungen durch den Verwaltungsapparat aufgefressen werden wird.
Die Inflation hat dazu geführt, daß wir vor einer Krise von staatspolitischer Bedeutung stehen. Der Grundstein wurde am 13. Februar dieses Jahres im öffentlichen Dienst gelegt. Und der öffentliche Dienst war nur der Auftakt, nur das Signal für weitere Lohnforderungen und Lohnabschlüsse.Meine Damen und Herren, ich möchte hier ganz ausdrücklich sagen -- ich habe es schon oft gesagt, auch in der Öffentlichkeit, auch vor Arbeitgebern, auch gestern wieder, wenn ich das durfte, Herr Wehner; ich habe es vor jeder soziologischen Schicht gesagt —: Ein Gewerkschaftsführer kann nicht weniger verlangen als den Ausgleich für die Inflationsrate und den Ausgleich für die steuerlichen Sonderbelastungen, die bei nominaler Erhöhung der Lohn- und Gehaltseinkommen entstehen. Und wenn man die eine Komponente mit mindestens 9 bis 10 % und die andere mit 2,5 bis 3,5 % ansetzt, dann sind wir mit den jetzigen Lohnabschlüssen genau bei, vielleicht sogar noch etwas unter dem, was von einem Gewerkschaftsführer, der nicht das Vertrauen der Basis verlieren und sich die Arbeiter von radikalen Agitatoren und Chaoten verhetzen lassen will, hingenommen werden kann. Da liegt doch die Wurzel des Übels.
Herr Abgeordneter Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6191
Herr Kollege Strauß, wenn Sie diese Zahlen und diese Tarifabschlüsse für richtig halten — worüber man sicher länger und ausführlich diskutieren könnte , würden Sie dann die Güte haben, zu sagen, wie die untergebracht werden können ohne Expansion der öffentlichen Haushalte.
Sie hätten mich nicht daran erinnern sollen, Herr Kollege Lambsdorff. Sie haben anläßlich meiner Äußerungen zu diesen Tarifabschlüssen von dem „Höhepunkt der Rabulistik" gesprochen.
Das ist eine Argumentation, die Ihrer, eines aus der Wirtschaft kommenden und mit ihr eng verbundenen Fachmannes, nicht würdig ist.
Ich habe diese Lohnabschlüsse niemals in dem Sinne begrüßt, daß sie von der Wirtschaft kostenneutral oder preisneutral verkraftet werden können. Ich habe bei jeder Stellungnahme erklärt: Die Höhe dieser Lohnabschlüsse geht in die Preise und trägt zur Verstärkung der Inflation bei. Ich habe aber auch erklärt was ich hier soeben gesagt habe —,
daß Gewerkschaften, die ja an einem sehr langen Hebel sitzen, wie sich gezeigt hat, gar nicht anders können -- ich sage es hier vielleicht zum 10. oder 20. Male —, als den Ausgleich der beiden Faktoren zu verlangen. Früher haben sie noch den Produktivitätszuwachs einbezogen. Den haben sie schon streichen müssen. Jetzt kämpfen sie nur noch um den Ausgleich der Inflationsrate und der Steuersonderbelastung. Das ist kein Höhepunkt der Rabulistik, sondern das ist genau die Schilderung der Sachverhalte, materiell und politisch, wie ich sie gegeben habe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Niemand hat Ihre politische Position so angeschlagen, wie es gerade Ihr Freund Klunker getan hat, und zwar nicht, weil er das wollte, sondern weil er nicht mehr anders konnte. Schuld daran ist die Bundesregierung selbst. Hätte sie gemäß den Vorschlägen, die wir mehrmals eingebracht haben, das Inflationsentlastungsgesetz übernommen, statt es als „Inflationsförderungsgesetz" zu verteufeln, dann hätten wir den Silberstreifen am Horizont erreichen können, der es uns erlauben würde, wieder mit normalen konjunkturpolitischen Instrumenten zu arbeiten. Ich habe das hier bei der Begründung der beiden Steuervorlagen damals ausdrücklich und eingehend dargelegt. Die Bundesregierung ist nun einmal für die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik zuständig.
Ich bin nicht so einfältig, ,so unerfahren oder so primitiv, wie manche vielleicht glauben, nicht zu wissen, daß heute von einer Regierung mehr Verantwortung verlangt wird, als sie mit ihren eigenen Machtinstrumenten verkraften kann, daß von einer Regierung mehr an Verantwortung verlangt wird, als sie mit ihrem unmittelbaren Einfluß verarbeiten kann. Gerade deshalb ist die Verfolgung dieser Prozesse, von denen ich heute gesprochen habe, um so wichtiger, weil es einen Bereich gibt, in dem die Regierungsmacht aufhört und höchstens noch ein indirekter Regierungseinfluß geltend gemacht werden kann.
Das ist versäumt worden, und damit hängt der Vertrauensschwund und der Autoritätszusammenbruch dieser Bundesregierung entscheidend, ich möchte beinahe sagen: monokausal zusammen.
— Das entspricht der Wertschätzung.
Im übrigen, Herr Bundeskanzler, darf ich Sie doch daran erinnern, daß Ihre Redner bei einer wesentlich harmloseren Situation, die damals unter Bundeskanzler Erhard entstand, der Bundesregierung die Alleinverantwortung
für die bescheidene Geldentwertungsrate von damals, die 3,5 % betrug und für ein paar Monate gelegentlich 4% überschritt, zugeschoben haben. Sie haben unsere Einwendungen als Sprecher der Regierungsparteien vom Tisch gefegt und gesagt: Die Regierung allein ist dafür verantwortlich.
Jetzt wird man der Volksverhetzung, der Demagogie, der Panikmache bezichtigt, wenn man sagt, die Regierung ist jedenfalls zu einem hohen Teile dafür verantwortlich.
Ich habe doch nie gesagt, daß die Regierung dafür allein verantwortlich ist. Das Problem der importierten Inflation — zum Teil haben wir sie vorher auch exportiert — kennen wir sehr genau. Die Hilflosigkeit der Regierung bei bestimmten Zuständen gegenüber den Gewerkschaften kennen wir auch sehr genau. Darum haben wir uns ja gehütet, von einer Alleinverantwortung der Regierung zu sprechen. Wir wenden ja nicht einmal den Oppositionsstil an, der damals uns gegenüber angewandt worden ist.
Wenn ich die Verantwortung der Bundesregierung herausstelle, so bin ich mir völlig im klaren, daß auch bei den Gewerkschaften gewisse Absolutheitsansprüche bestehen. Tatsächlich ist in unserem Staate eine Tendenz zu einem Vermachtungsgrad gegen die Personalität zu verzeichnen, der nicht nur Marktmechanismen außer Kraft setzen, sondern auch die politischen Kräfteverhältnisse zugunsten einer Minderheit verschieben kann. Herr Vetter — ich
Strauß
meine nicht cien Gewerkschaftsvorsitzenden, sondern den Journalisten von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" — hat ja vor kurzem in dein beachtenswerten Artikel „Gewerkschaften an der Wegscheide" ausgeführt:
Die Gewerkschaften stehen an der Wegscheide. Wollen sie wie früher Ordnungsfaktoren der Demokratie sein oder wollen sie den demokratischen Staat nur anerkennen, wenn er das tut, was sie möchten? Wollen sie sich gar selbst die Rolle eines Hoheitsträgers anmaßen, der sich seine Befugnisse selbst verleiht und eine demokratische Kontrolle ablehnt? Wenn sie Ordnungsfaktoren sein wollen, müssen sie auch alle Verpflichtungen und alle Verantwortungen, die eine autonome Organisation in einer Demokratie zu tragen hat, übernehmen. Alles andere ist eine Herausforderung an cien freiheitlichen Staat.
Wir waren doch der Meinung, daß gerade eine Regierung, die erst durch die massive Einmischung der Gewerkschaften im letzten Bundestagswahlkampf ihre Mehrheit erhalten hat, doch eigentlich in der Lage sein müßte, mit diesem ihren Wahlpartner die bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme leichter lösen zu können. Das haben so manche in diesem Lande auch geglaubt. Auch dieser Glaube ist schmählich enttäuscht worden.
Wir alle können nur wünschen und müssen alles tun, daß freie Gewerkschaften und Tarifautonomie weiterhin bestehenbleiben. Wirtschaftliches Chaos und eine mangelhafte Ordnung der Lohn- und Sozialpolitik haben die Weimarer Republik zugrunde gerichtet. Auch das englische Beispiel bietet keine erfreulichen Ausblicke.
Um die Lohnvereinbarungen auf die Rückgewinnung der Stabilität hin zu orientieren, sollten Lohn- und Vermögenspolitik gekoppelt werden. Der Bundeswirtschaftsminister hat in derselben Rede sehr Beachtliches ausgeführt, wenn er sagte:
Wenn wir den Teufelskreis von Kosten und Preiserhöhungen durchbrechen wollen, müssen wir auf Wege ausweichen, die zusätzliche Einkommen nicht sofort nachfragewirksam werden lassen.
Wir stimmen Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, völlig zu, und wenn Sie geeignete Vorschläge vorlegen, sind wir nicht nur bereit, sie theoretisch zu prüfen oder für diskutabel zu halten, sondern sie mit Ihnen gemeinsam zu verwirklichen, weil das der Weg ist, den wir schon seit einer Reihe von Jahren für den allein möglichen gehalten haben: wie man einerseits den berechtigten Anspruch der Arbeitnehmer am Sozialprodukt erfüllen, ihn andererseits gesellschaftlich wirksam werden lassen und ihn trotzdem konjunkturpolitisch neutral gestalten kann. Das war doch Ihre Meinung, wenn ich den Satz, den ich soeben verlesen habe, richtig interpretiert habe.
Aber es ist bei den Ankündigungen geblieben. Die Bundesregierung hat es versäumt, diese Koppelung vorzunehmen, von der ihr Bundeswirtschaftsminister seinerzeit in einer so trefflich formulierten Ankündigung gesprochen hat.
Die Politik dieser Bundesregierung ist wirtschaftsfeindlich. Ich darf noch einmal einen Satz von Herrn Ahlers zitieren:
Der soziale Neid wurde zu einer zentralen Motivation sozialdemokratischer Politik. Im Mittelpunkt sozialdemokratischer Ideologie steht die Bestrafung beruflicher Leistung.
Das zieht sich heute quer durch die sogenannten Reformprogramme hindurch.
Solange Sie das aufrechterhalten, werden Sie den Abstieg unserer Wirtschaft und die damit verbundenen gesellschaftlichen Probleme nie mehr in den Griff bekommen.
Zweitens. Die Politik dieser Bundesregierung ist arbeitnehmerfeindlich. Die Lohnerhöhungen werden durch das Zusammenwirken von Inflation und heimlichen Steuererhöhungen aufgezehrt.
Drittens. Die Politik dieser Bundesregierung ist rentnerfeindlich. Die Rentner, die weitgehend auf Altersheime angewiesen sind, können den Anstieg der Pflegekosten aus dem Anstieg der Renteneinkommen nicht mehr bezahlen. Auch die Erhöhung der Sozialeinkommen hält nicht mehr Schritt mit der tatsächlichen Preissteigerung und Geldentwertung.
Viertens. Die Politik dieser Bundesregierung ist sparerfeindlich. 30 Millionen Sparer werden jährlich auf kaltem Wege enteignet. Dafür sollen Verheiratete mit drei Kindern mit bis zu 81 000 DM zu versteuerndem Einkommen — das sind über 90 000 DM Bruttoeinkommen — in Zukunft das Glück haben, 208 DM pro Kopf an vermögenswirksamer Leistung zu erhalten.
Die Politik dieser Bundesregierung ist hausfrauenfeindlich. Die Hausfrauen merken es am ehesten, daß sie von ihrem Haushaltsgeld immer weniger kaufen können.
Die Politik dieser Regierung ist im Ergebnis eine Politik gegen die Bürger unseres Landes.
Sie nützt nur noch den Goldspekulanten, —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Kollege Strauß, Sie haben jetzt alle gesellschaftlichen Gruppen aufgezählt. Nun müssen Sie doch auch sagen, wer das Sozial-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6193
Dr. Vohrerprodukt, das Ihrer Ansicht nach gar nicht verteilt wurde, bekommt.
Sie haben eine halbe Minute zu früh gefragt, Herr Kollege.
Die Politik dieser Regierung nutzt noch erstens den Goldspekulanten, zweitens den Sachwertbesitzern, drittens den Funktionären,
viertens den linksradikalen Ideologen,
und zwar gerade denen, denen auf Grund einer verfehlten Berufsausbildung in einer normalen Gesellschaft keine persönliche Entfaltung gegeben ist,
weshalb sie in Zukunft auf allen möglichen Wegen mit allen möglichen Begründungen dafür verwendet werden sollen, mit guter Bezahlung die allgemeine Unzufriedenheit und das Versagen dieser Regierung als Sprengsatz zur Zersetzung unserer sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie benutzen zu können.
Das Vertrauen zum Bundeskanzler haben ja nicht einmal mehr seine engsten Weggefährten. Das beweist die Kritik, die der Fraktionsvorsitzende der SPD in Moskau ausgesprochen hat. Ich habe ihm damals ja gesagt, es sei sein großes Verdienst, diesen Bundeskanzler auf das wahre Maß seiner Bedeutung reduziert zu haben.
Das beweist die Kritik, die Helmut Schmidt als sein Stellvertreter im Vorsitz der SPD ungehemmt im Lande in aller Öffentlichkeit zum Ausdruck bringt, das beweisen auch die als Entlastungsvorschläge getarnten Entmachtungsversuche, die der Vorsitzende der Langzeitkommission der SPD, Herr von Oertzen, und Herr von Dohnanyi gemacht haben, auch wenn sie nachträglich zur Selbstkritik und reumütigen Zurücknahme ihrer Äußerungen veranlaßt worden sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Wenn Sie damit die Selbstkritik einführen wollen, Herr Kollege Wehner, habe ich nichts dagegen.
Herr Kollege Strauß, ich verstehe, daß Sie mir zuvorkommen wollen. Nur, ich habe eine Frage: Warum schmücken ausgerechnet Sie sich mit einem Strauß sozialdemokratischer Namen, wenn Sie den Bundeskanzler angreifen wollen?
Weil erstens die Glaubwürdigkeit seiner engsten Weggefährten, wenn sie ihn kritisieren, und zweitens die Glaubwürdigkeit führender Träger des Geisteslebens, die früher auf ihn geschworen haben, ihm aber heute den Rücken kehren, für die Glaubwürdigkeit dessen, was wir seit vier Jahren sagen, von uns sehr stark eingeschätzt werden muß.
Auch im Umkreis des Kanzlers sehe ich keinen, der in der Lage wäre, das Vertrauenskapital wiederzugewinnen, das notwendig ist, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Die zentrale Aufgabe ist die Inflationsbekämpfung.An der Spitze des Ressorts, dem diese Aufgabe in erster Linie obliegt, steht ein Finanzminister mit dem verhängnisvollen Wort, man werde leichter mit fünf Prozent Inflation als mit fünf Prozent Arbeitslosigkeit fertig. Hoffentlich wird dann nicht bald aus dem „Mister five percent ein „Mister ten percent in unserem Lande.
Hier sind die Ordnungsgrundlagen unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft, unseres Staates in Mitleidenschaft gezogen und gefährdet. Hier nützen auch keine Reparaturen oder konjunkturpolitische Heilkuren mehr, weil das Vertrauen zerstört ist, das sich diese Regierung zunächst durch verzückende und beglückende Versprechungen verschafft hatte. Die große Enttäuschung kam, weil Verheißung und Erfüllung in einem nicht erträglichen Gegensatz stehen. Hier hilft nur noch ein völliger Kurswechsel, eine reformatio in capite et in membris der politischen Führung in unserem Lande.
Ich darf zusammenfassen:1. Die Rückgewinnung der Stabilität bleibt das vorrangige Ziel der Fraktion der CDU/CSU.2. An der Inflationswelle, die unser Land heimsucht, trägt die Bundesregierung ein wesentliches Maß an Mitverantwortung dadurch, daß sie die Inflation zuerst geleugnet, dann verharmlost und dann zu spät bekämpft, die wiederholten dringenden Forderungen der CDU/CSU nach wirksamen Gegenmaßnahmen als Panikmache abgetan und die Vorschläge der CDU/CSU auf Abbau der inflationsbedingten Steuererhöhungen abgelehnt hat und in den Bereichen, wo sie selbst die Preise bestimmt, mit schlechtestem Beispiel vorangegangen ist: Postgebühren, Eisenbahntarife.3. Die CDU/CSU wird weiteren Steuererhöhungsplänen der Bundesregierung ihre Zustimmung verweigern.4. Die CDU/CSU fordert erneut — erneut! — den Abbau der inflationsbedingten Steuererhöhungen, die eine ständige Inflationsquelle bilden, und, weil die Steuerreform aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem 1. Januar 1976 nicht verwirklicht werden kann,
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Straußein Vorschaltgesetz, damit wenigstens spätestensvom 1. Januar 1975 an diese Entlastungen erfolgen.
5. Die CDU/CSU tritt für einen Stellenvermehrungsstopp im Bundeshaushalt ein. Für die Landeshaushalte, besonders im Schulwesen, im Gesundheitswesen und bei der Polizei, werden Stellenvermehrungen in begrenztem Umfang als berechtigt anerkannt.6. Die Behauptung des Finanzministers, daß die von der CDU/CSU gestellten Anträge zur Familienpolitik usw. ein Volumen von 35 Milliarden DM ausmachen, ist irreführend. Nach einer vom Finanzministerium selbst gelieferten Aufstellung beträgt der Mehraufwand für die Ausgabenanträge der CDU/CSU im Jahr 1974 nur 1,4 Milliarden DM. Und wenn Sie darauf noch zurückkommen, dann fragen wir Sie einmal: Was haben Sie denn mit den fünfeinhalb Milliarden DM gemacht, die im letzten Haushalt übriggeblieben sind — fünf Komma soundsoviel Milliarden —, von denen vier Milliarden erst im Jahre 1974 ausgegeben worden sind, wo Sie den Art. 112 der Verfassung in einer unglaublichen Weise mißbraucht haben, indem sie ihn willkürlich ausgelegt haben?
7. Die CDU/CSU fordert die Regierung auf, über die finanzpolitische Lage des Bundes jetzt einmal volle und rückhaltlose Aufklärung zu geben.
Nur auf der Grundlage einer solchen Bestandsaufnahme wird die CDU/CSU bereit sein, über eine zeitweilige Zurückstellung ihrer eigenen Anträge zu beraten. Sie weist darauf hin, daß der Finanzminister des Bundes selbst, nachdem er immer von den Schwierigkeiten und Deckungslücken gesprochen hat, auf einmal zugeben muß, daß er Ansätze um das Dreifache zu hoch eingesetzt hat, um sich eine Reservekasse für nicht genehmigte Ausgaben zu verschaffen.8. Die Autonomie der Bundesbank, die von maßgebenden Koalitionspolitikern, auch von Ihnen, Herr Ehrenberg, immer wieder in Frage gestellt wird, muß aufrechterhalten bleiben und wird von uns mit allen Mitteln verteidigt werden.
9. Die regionale Strukturpolitik muß wirksamer gestaltet werden mit dem Ziel, die Schäden, die in den strukturschwachen Regionen als Folge der restriktiven Konjunkturpolitik drohen oder schon eingetreten sind — siehe die Arbeitslosenziffern in den Arbeitsamtsbezirken entlang der Zonengrenze und der Ostgrenze! —, wenigstens in einem erträglichen Umfang wiederum abzufangen.Aber zu all dem ist nur eine Regierung in der Lage, die die Gabe der Einsicht in die von ihr begangenen Fehler hat. Da aber die Gabe der Einsicht fehlt, ist damit auch die Voraussetzung für eine bessere Politik nicht gegeben. Sie ist nur mit Kurswechsel und mit Personenwechsel möglich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg. Für ihn ist eine Redezeit von 40 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der so wohltuend sachlichen Rede des Bundeswirtschaftsministers und den konkreten Präzisierungen der gegenwärtigen Wirtschaftssituation, wie sie im Jahreswirtschaftsbericht zu finden sind, hat der Kollege Strauß unter erheblicher Überziehung der schon großzügig bemessenen Redezeit mehr als eine Stunde konkret zur Situation
und zu den notwendigen Maßnahmen nichts gesagt.
— Herr von Bismarck, ich habe sehr genau zugehört
und habe auch sehr genau verfolgt, was Herr Strauß in den letzten Wochen — allerdings dann sehr konkret — außerhalb dieses Hauses von sich gegeben hat.
Aber dort war es sehr viel konkreter. Ich hatte z. B. gehofft, hier heute seine konkrete Aussage aus dem „Stern" zu hören, daß er, wenn er die Wirtschaftspolitik machen würde, die Preissteigerungsraten- ohne Ölkrise -- sehr schnell auf 4 % heruntergedrückt hätte; das stand vor wenigen Tagen im „Stern". Ich hätte also gerne gehört, wie Herr Strauß das machen würde.
— Von der Redezeit abgezogen! Herrn Strauß zum Gefallen lese ich es vor.
Frage des „Stern": „Welche Inflationsrate hätten Sie" -- gemeint sind Herr Strauß und die CSU -„garantieren können?" Darauf die Antwort von Herrn Strauß• „Wenn ich einmal die Ölkrise und ihre Konsequenzen außer acht lasse, wäre es über die 4 " o herum möglich gewesen."
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6195
Dr. EhrenbergDa die Ölkrise mit eineinhalb Prozent zu veranschlagen ist, hätte also Strauß statt gegenwärtig 6 % 4 % erreicht. Herzlichen Glückwunsch! Er hätte uns hier nur auch sagen müssen — und das hat er nicht getan —, wie er es macht.
Das einzige, was konkret als Stabilitätsbeitrag zu werten wäre, wäre vielleicht die bundesweite Ausweitung der CSU; die mag ja stabilisierend wirken — aber sicher nicht für die Wirtschaft,
sondern höchstens für die CDU, weil dann die Kollegen Katzer, Blüm und Breidbach in dieser Partei keinen Platz mehr hätten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Bismarck?
Bitte sehr!
Herr Kollege Ehrenberg, sollte Ihnen wirklich entgangen sein, was der Kollege Strauß in der letzten Minute seiner Redezeit vorgetragen hat, und glauben Sie wirklich, daß das, was Sie jetzt unternommen haben, ein Ausflug in die Sachlichkeit war?
Dr. Ehrenberg (SPD) : Nein.
Aber lieber Herr von Bismarck, nach 70 Minuten Unsachlichkeit werden mir ja zu Beginn meiner Redezeit vielleicht drei Minuten des gleichen Genres gestattet. Jetzt kann es sachlich werden.
Ich will die Zeit nicht mit so viel Unsachlichkeit verwenden,
aber danach war ein solcher Anfang notwendig. Und jetzt werden wir konkret, aber noch bei der Rede von Herrn Strauß.
Herr Strauß hat als schwersten Vorwurf gegen diese Bundesregierung neben vielem anderen gesagt, das Finanzierungsdefizit vertrage sich nicht mit dem Stabilitätsziel. Ich hätte es als wohltuend empfunden, Herr Strauß, wenn Sie diesem Hause auch gleichzeitig — und das wäre konkret und sachlich gewesen — gesagt hätten, wie sich die Haushaltsansätze der Bundesländer mit dem Stabilitätsziel vertragen und wie sich weiter die Vielzahl von
Forderungen der CDU/CSU-Fraktion mit dem Stabilitätsziel vereinbaren läßt. Ich habe mir das einmal addieren lassen, verehrter Herr Kollege Strauß, was Sie und Kollegen Ihrer Fraktion in den letzten Wochen und Monaten an finanzwirksamen Forderungen gestellt haben. Das beläuft sich, mit spitzem Bleistift gerechnet, auf 40,2 Milliarden DM.
— Nein, das steht in Ihren Anträgen nicht drin.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Aber bitte, immer unter Abziehung der Zeit von den sparsamen 40 Minuten.
Herr Kollege, ist Ihnen nicht bekannt, daß inzwischen genaue Nachrechnungen auf Grund der Vorlage Ihres eigenen Bundesfinanzministeriums vorhanden sind, wonach die vielberufenen Alternativen, die Sie von uns verlangen, die Gesamtsumme von 1,4 Milliarden DM über den Verlauf von mehreren Jahren betragen?
Aber, verehrter Herr Althammer, wollen Sie z. B. den von Herrn Strauß so oft zitierten Inflationsentlastungsgesetzentwurf, der runde 10 Milliarden DM Mindereinnahmen gebracht hätte, bei dieser Rechnung nicht mitzählen?
— Nein, ich habe von der Veränderung des Haushaltsdefizits gesprochen,
und dabei wären ja wohl die 10 Milliarden DM zu berücksichtigen.
— Herr Althammer, bitte sehr!
Herr Kollege, wären Sie bereit, davon dann die Summe abzusetzen, die Ihre Steuersenkungspläne beinhalten?
Wir haben für das Jahr 1974 keine Steuersenkungspläne, und Herr Strauß hat vom Haushaltsdefizit 1974 gesprochen. Das dürfte doch wohl unabweisbar sein.Aber vielleicht wäre es, Herr Strauß, auch gut gewesen, wenn Sie diesem Hause bei Ihrer Kritik mitgeteilt hätten, daß und das ist noch gar nicht lange her — am 25. März 1974 der Finanzplanungsrat von Bund, Ländern und Gemeinden — alle Bundesländer einhellig miteinander — die Haushaltsausgaben in diesem Jahr für angemessen und richtig erklärt haben. Oder sollte die Zustimmung sämtlicher Bundesländer nur daran gelegen haben, daß bei einem An-
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Dr. Ehrenbergstieg des Bundeshaushalts von 12 % der Haushalt des Staates Bayern um 14,9 % und der des Landes Schleswig-Holstein um 15,8 % steigen wird? Ich halte diese Steigerungsraten bei der gegenwärtigen Konjunkturlage und bei den wichtigen Aufgaben der Bundesländer nicht für übertrieben; aber wer die Bundesregierung kritisiert, daß sie ein unverantwortlich hohes Haushaltsdefizit hat, der sollte korrekterweise den Beschluß des Finanzplanungsrates und die Zahlen der Bundesländer mit erwähnen.Ein Weiteres — und nun werden wir hier in diesem Hause noch konkreter —: Herr Strauß hat eine Vielzahl von internationalen Vergleichen gebracht, allerdings nicht die, auf die — wie ich glaube — die deutsche Öffentlichkeit und dieses Hohe Haus Anspruch haben.Ich darf einmal aus der OECD-Statistik hier ein paar Preissteigerungsraten vorstellen.
— Die kennen Sie anscheinend nicht; sonst würden Sie nicht so tun, als wäre die Inflationsrate ein sozialdemokratisches Übel, wie Herr Strauß das getan hat. — Die Bundesrepublik hatte vom Februar 1973 bis Februar 1974 ein Ansteigen der Preise um 7,6 %, Kanada um 9,6 %, die Schweiz um 10 %, USA um 10 %, Frankreich um 10,3 %, Italien um 12,3 %, Großbritannien um 14,3 % und Japan um 25,2 %. Meine Damen und Herren, dies muß man einmal hier sagen. Wenn Herr Strauß internationale Vergleiche bringt, dann muß er sie dem Hause hier auch voll vorstellen.
— 1966 waren die Preissteigerungen anderswo nicht so hoch und bei uns auch nicht; da stimmte es überein. Da lagen wir etwas höher als die anderen, Herr van Delden.
— Nein. Aber wenn wir schon bei den internationalen Zahlen sind, darf ich Sie — mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten — bitten, ein Zitat anzuhören. Am 20. Februar 1974 stand unter dem Titel „Europäische Querelen" in der „Washington Post" u. a. folgender Kommentar, frei übersetzt, aber richtig, wie ich glaube:Die Bundesrepublik Deutschland setzt ihr kontinuierliches Wachstum in Wohlstand und ökonomischer Macht in viel schnellerem Tempo fort als irgendeiner ihrer Handelspartner. Der Wert ,der Deutschen Mark hat sich in den letzten fünf Jahren sowohl gegenüber dem Dollar als auch dem französischen Franc um 50 % erhöht. —Die Bundesrepublik Deutschland verkaufte im letzten Jahr für 13 Milliarden Dollar mehr als sie im gleichen Zeitraum kaufte, der größte Außenhandelsüberschuß irgendeines Landes inirgendeinem Jahr. Die Währungsreserven der Bundesrepublik sind nicht nur die höchsten in Europa, sondern auch mehr als doppelt so hoch wie die der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Sozialprodukt pro Kopf ist fast so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Während einer Zeitspanne der floatenden Kurse war es zum aktuellen Zeitpunkt sogar höher.Meine Damen und Herren, ich habe dieses lange Zitat hier vorgelesen, weil ich glaube, daß dieser Kommentar aus der „Washington Post" zu zwei Aussagen legitimiert:Erstens. Man muß ausländische Zeitungen lesen, um etwas Gutes über die Bundesrepublik lesen zu können.
Zweitens. Die ständigen Versuche der Opposition, Preissteigerungsraten als ein sozialdemokratisches oder soizalliberales Übel zu deklarieren, werden vor diesem Hintergrund noch absurder, als sie es schon sind; denn Herr Strauß, Sie würden mit dieser Behauptung beispielsweise die konservativen Regierungen in Paris und Tokio zu sozialliberalen Regierungen umfunktionieren. Das kann ja wohl auch mit einer bundesweiten Ausdehnung der CSU kaum erreicht werden.
Aber dieser internationale Preisvergleich ist auch in einer anderen Hinsicht äußerst bedeutsam. Ich würde großen Wert darauf legen, daß sich Politiker und Ökonomen in diesem Lande diese Vergleiche sehr sorgfältig ansehen. Unter den von mir angeführten Staaten mit erschreckend hohen Preissteigerungsraten gibt es zwei Volkswirtschaften, in denen ein Preisstopp praktiziert wird, und vier andere, in denen es Preisabsprachen zwischen Regierung und Großunternehmen oder in einer vielfältigen Form durchgeführte Preiskontrollen gibt. Trotzdem — oder sollte man sagen: gerade deswegen? — bewegen sich 'die Preissteigerungsraten sehr viel höher, beachtlich höher, in Japan dreimal so hoch wie bei uns. Wenn die Opposition ihre Aufgabe ernst nähme und wenn sie vor allem so marktwirtschaftlich engagiert wäre, wie sie gerne tut, dann müßte sie dieser Regierung ein großes Kompliment dafür aussprechen, daß es ihr gelungen ,ist, in dieser traurigen Weltrangskala der Preissteigerungen wirklich den letzten, seit uns das Großherzogtum Luxemburg überholt hat, den allerletzten Platz zu belegen.
Wenn sie also schon der Regierung kein Kompliment machen will, was ich ja von der Opposition aus verstehen kann, dann sollte diese Opposition wenigstens der marktwirtschaftlichen Ordnung in der Bundesrepublik ihre Reverenz erweisen; denn sie ist es gewesen,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6197
Dr. Ehrenbergdie es möglich gemacht hat, diesen Erfolg zu erreichen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breidbach?
Bitte sehr!
Herr Kollege Ehrenberg, könnten Sie diesem Hohen Hause vielleicht einmal sagen, was der deutschen Hausfrau, dem deutschen Rentner, dem deutschen Arbeitnehmer die höheren Preissteigerungsraten in Japan nützen, wenn es um ihre eigenen vitalen Interessen geht?
Sie nutzen ihnen nichts, aber sie zeigen ihnen in aller Deutlichkeit, daß die Ursache dieser Inflationsrate nicht in der Bundesrepublik Deutschland zu suchen ist.
— Aber, lieber Herr van Delden, ich kann Ihnen
— ich wollte es eigentlich erst hinterher tun; aber auf Ihren Zwischenruf tue ich es jetzt — ,die Zahlen vorweg sagen, die bei mir hinten noch stehen.
— Wir hatten 1973 — Sie sagen: „Sie glauben es ja selber nicht"; ich komme auf Ihre Frage, Herr van Delden, zurück; ich beantworte auch Zwischenrufe in einem Zwischenruf — einen Außenhandelsüberschuß von 33 Milliarden DM. Das sind 4 Milliarden DM mehr als der gesamte Nettozuwachs der Lähne und Gehälter. Wenn man die Preissteigerungsraten aus dem internationalen Vergleich dazunimmt, kann ja wohl kein Mensch, der als Ökonom ernst genommen werden will, behaupten, daß die Hauptursache der Preissteigerungsraten anderswo liegt als in den steigenden Tendenzen des Weltmarktes.
Wer etwas anderes sagt, ist ein ökonomischer Ignorant und verschließt die Augen vor den Fakten, wie sie hier vorliegen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Bitte sehr!
Herr Kollege Ehrenberg, glauben Sie wirklich, daß es in einer Situation, in der die Vertreter der Bundesregierung die Befürchtung aussprechen, daß unter Umständen zweistellige Preissteigerungsraten erreicht werden könnten, angemessen ist, hier davon zu reden, daß diese Regierung zu loben sei, weil wir nur eine Preissteigerungsrate von 7,6% haben?
Allerdings. Da auch die Bundesrepublik Deutschland nicht isoliert in der Welt ist und bei ihren Verflechtungen mit dem Weltmarkt noch viel weniger als jeder andere Staat in der Lage ist, sich eine Insel der Seligen zu kaufen und sich völlig vom Weltmarkt zu distanzieren, ist dieser Punkt, den wir erreicht haben, ein außerordentlich günstiger und schwer genug zu haltender Punkt.
Die Tatsache, daß das mit marktwirtschaftlichen Mitteln erreicht worden ist, die Tatsache, daß diese Bundesrepublik Deutschland mit ihrer marktwirtschaftlichen, aber sozial gebundenen Wirtschaftsordnung in der Lage war, mit den großen Schwierigkeiten im Anschluß an die weltweite Rohstoffverknappung besser fertig zu werden als irgendeiner unserer Handelspartner, spricht ebenso für den politischen Gestaltungswillen und die Urteilsfähigkeit dieser Regierung wie für diese marktwirtschaftliche Ordnung.
— Das erzähle ich jedem, der es hören will, HerrMüller-Hermann, dem Wirtschaftstag der CDU genau so wie sozialdemokratischen Veranstaltungen.Ich glaube, gerade diese Tatsache der Überwindung der Schwierigkeiten, die groß waren, aber im Vergleich zu unseren Handelspartnern die relativ geringsten Auswirkungen hatten, sollte in diesem Lande bei Politikern, Ökonomen und den autonomen Gruppen in zwei Punkten zum Nachdenken anregen.Einmal bestätigt dieser Hintergrund sehr deutlich, wie notwendig es ist, daß man überall dort, wo über Veränderungen der marktwirtschaftlichen Ordnung nachgedacht wird, sehr wohl nicht nur nach theoretisch vollkommeneren Systemen, sondern nach praktisch Durchsetzbarem zu suchen hat und daß jedes theoretische Gedankengebäude an der praktischen Effizienz zu messen ist.Zweitens. Auch die Nur-Marktwirtschaftler — ich habe in den letzten Monaten viele SchönwetterMarktwirtschaftler erlebt, die beim ersten Räuspern der sogenannten Ölscheichs sehr schnell nach sehr handfesten Dirigismen gerufen haben —
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6198 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Dr. Ehrenberghaben bei der Meisterung dieser Situation einen sehr eindeutigen Beweis dafür bekommen, daß nur die Kombination von strikter staatlicher Datensetzung, rigoroser Wettbewerbspolitik und ständig zu verbessernder Sozialbindung aus der Marktwirtschaft eine unserem sozialen Rechtstaat angemessene Wirtschaftsordnung macht, nicht die pure Laissez-faire-Marktwirtschaft vergangener Jahrzehnte.
Ein Beispiel dieser Kombination aus staatlicher Datensetzung, Wettbewerbspolitik und Sozialbindung ist auch das von diesem Hause so schnell und reibungslos verabschiedete Energiesicherungsgesetz, das der Regierung die Vollmachten gab, die sie in diesen Zeiten brauchte, das ihr die Möglichkeit gab, entsprechende Auflagen zur Energiesicherung zu machen und gleichzeitig den unteren Einkommensschichten sehr kurzfristig wirksame Hilfe anläßlich der Ölverteuerungen zu bringen.Die Situation unmittelbar nach den ersten Wochen der Unsicherheit auf den Weltölmärkten und die Diskussion über die notwendigen Maßnahmen, die dort zu ergreifen waren, zeigen aber auch, wie sehr wir noch der Verfeinerung der wirtschaftspolitischen Instrumente bedürfen, und vor allen Dingen, eine wieviel größere Datenkenntnis wir haben müssen. Mit der Verfeinerung der Instrumente ist begonnen worden. Die konjunkturpolitischen Beschlüsse vom 19. Dezember und von Anfang Februar zeigen hier einen sehr erfolgversprechenden Weg, bei genereller Restriktionspolitik gezielt dort zu helfen, wo es notwendig ist, und zwar regional und sektoral.Eine Anmerkung an das Bundeswirtschaftsministerium — weniger an den Minister, mehr an die Verwaltung, weil das wohl dort im einzelnen durchzuprüfen ist — ergibt sich aber, nämlich, daß unsere Überlegungen während der ersten Wochen nach Beginn der Ölkrise auch deutlich gezeigt haben, wie gering unsere Kenntnisse über die Produktionsstruktur sind. Wir wissen weder beispielsweise — und aus diesem Anlaß wurde es akut —, wo und in welchem Umfang welche Ölprodukte gebraucht werden, noch wissen wir, wieviel Beschäftigte davon abhängig sind. Das ist ein Mangel unserer Produktionsstatistik, der sehr schnell zu gründlichem Nachdenken in den einzelnen Ressorts und sehr schnell zu wirksamen Änderungsvorschlägen führen sollte.Es ist doch wohl um nichts in der Welt einzusehen — der Hinweis sei mir hier gestattet —, daß unsere Statistik jeden Monat beispielsweise die Zahl der geschlachteten Jungmasthühner nach Zubereitungsformen, der Jungsauen, die zum erstenmal trächtig geworden sind, und eine ganze Reihe ähnlicher Fakten mehr erfaßt. Diese Daten werden jedesmal mit viel Mühe und Geld erhoben. Aber über die Produktionsstruktur wissen wir nur etwas in großen Zügen. Ich glaube, hier ist es dringend notwendig, das ökonomische und statistische Instrumentarium zu verbessern. Das sei auch gleich mit einem Blick nach links gesagt aber Herr Stoltenberg ist im Moment nicht da -- ; denn was wir hier an Verbesserung der Statistik brauchen, geht wie so vieles in diesem Land nur mit Hilfe des Bundesrats. Ich hoffe, daß entsprechende Vorschläge der Bundesregierung nicht wie schon einmal bei der Vermögensstatistik an dem Einspruch des Bundesrat 3 scheitern.Meine Damen und Herren, die gleiche konsequente marktwirtschaftliche Haltung, mit der die Überwindung der Schwierigkeiten aus der Ölkrise möglich war, wird auch mit den künftigen Schwierigkeiten der Weltinflation fertig werden, die größer geworden sind, seit die Rohstoffproduzenten die Monopoltheorie entdeckt haben. Ich glaube, auch auf diese Schwierigkeiten kann man nur mit einer ebenso konsequenten marktwirtschaftlichen Haltung antworten. Nur Nichtökonomen wird es verwundern, daß diese Inflation mit marktwirtschaftlichen Mitteln wirksamer zu bekämpfen ist als mit allen anderen.Dazu zwei Feststellungen über die Ursachen der gegenwärtigen Schwierigkeiten. Nur unter dem antimarktwirtschaftlichen Weltwährungssystem von Bretton Woods und seinen festen Wechselkursen war es möglich, zwei Jahrzehnte lang eine permanente Überbewertung des Dollars und parallel dazu eine Unterbewertung der D-Mark hinzunehmen, woraus sich ein großer Teil der zahlreichen Strukturschwierigkeiten, der Ungleichgewichtigkeiten zahlreichen Industrienationen erklärt. Die faktische Auflösung des Weltwährungssystems in den letzten drei Jahren hat dann zu dem ungeordneten Durcheinander eines unterschiedlich verschmutzten Floatens der Kurse geführt und damit wesentlich zu den Schwierigkeiten auf dem Weltmarkt beigetragen.Aber weder zunehmende Dirigismen noch Abwertungswellen oder gar eine Rückkehr zu dem anscheinend immer noch faszinierenden Reservemedium Gold werden hier den gegenwärtigen Teufelskreis durchbrechen, sondern nur die Einigung auf eine weltweite, marktwirtschaftlich orientierte Währungsordnung mit einem auf die unterschiedlichen Handelsströme reagierenden System fester Wechselkurse.Meine Damen und Herren, es waren politische Ohnmacht und ökonomische Unkenntnis gleichzeitig, die in den letzten zwei Jahrzehnten dazu geführt haben, daß ein großer Teil der Rohstoffvorräte keineswegs entsprechend seinem ökonomischen Knappheitsgrad am Weltmarkt gehandelt wurde. Inzwischen haben, wie gesagt, viele Rohstoffproduzenten die Monopoltheorie entdeckt.
Sie neigen dazu, wie Monopolisten das immer tun, von dieser Situation kräftig Gebrauch zu machen. Das hat naturgemäß unangenehme Folgen für das Preisniveau. Es zeigt aber auch bereits, daß das nicht ein Dauerzustand ist; denn wenn die Ressourcen der Welt in Zukunft mehr entsprechend ihrem Knappheitsgrad gehandelt werden, ergibt sich daraus auch eine Umstrukturierung der Produktion, die gleichzeitig eine Begrenzung dieses Preisanstiegs bringt. Es gehören also nur etwas Geduld und Ausdauer dazu — und nicht weltweite Dirigismen — und das Bemühen um eine intakte weltweite Wäh-
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Dr. Ehrenbergrungsordnung, um über diese Schwierigkeiten hinwegzukommen. Aber nochmals sei es betont: Das sind Schwierigkeiten, die mit dem Markt und nicht gegen den Markt zu lösen sind.Herr Strauß, der leider nicht mehr anwesend ist,
aber nachlesen kann, was hier noch anzumerken ist, hat im Laufe seiner Ausführungen sehr oft und sehr drastisch auf die Reduzierung des beruflichen Leistungswillens durch sozialdemokratische Politik hingewiesen.
Um so erstaunlicher ist es vor diesem Hintergrund, daß der Wettbewerbsgrad der deutschen Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt unerreicht ist. Um hier nicht nur mit globalen Zahlen des Außenhandelsüberschusses zu operieren, sei Ihnen hier aus der neuesten OECD-Statistik — ich bitte für so viele Zahlen um Vergebung; aber Ökonomie hat nun einmal mit Zahlen zu tun, was leider nicht alle Leute wissen, die darüber reden einiges über die Entwicklung der Lohnkosten je Produkteinheit gesagt. Die Lohnkosten je Produkteinheit, die wohl mit die wichtigsten Meßzahlen für die Produktivitätserfolge einer Volkswirtschaft sind, entwickelten sich 1973 im Vergleich zu 1972 in Italien um 13 % nach oben, in Dänemark um 9 %, in Frankreich und in Belgien um 8 %, in den Niederlanden um 7,5 % und in der Bundesrepublik um 6 %. — Eine sehr stolze Bilanz für die Bundesrepublik; eine so stolze Bilanz, daß schon viel, viel bayerische Unbekümmertheit dazugehört, um sich bei diesen Fakten, bei diesem Ergebnis der Leistungen der deutschen Volkswirtschaft hier hinzustellen und zu -behaupten, die Sozialdemokraten betrieben eine Politik, die den beruflichen Leistungswillen lähme.
Das kann nur jemand tun, der sich in Verbalien ergeht und ökonomische Fakten, die den Leistungswillen belegen, nicht zur Kenntnis nimmt. Aber Herr Strauß zieht es ja auch vor, das, was zu seiner Rede gesagt wird, nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern seine Ausführungen hier eine Stunde lang über das Plenum zu ergießen und dann zu verschwinden. —Auch eine Methode!
Wer nicht konkret argumentiert, entzieht sich dann auch schnellstens der Argumentation, nachdem er seinen Segen von sich gegeben hat.
Aber, meine Damen und Herren, es ist ja nun nicht so — wenn man Herrn Strauß zu widerlegen hat, neigt man dazu , daß diese Bundesrepublik ohne wirtschaftliche Schwierigkeiten dastände.
Wir haben in dieser Bundesrepublik eine ökonomische Diskussion, die reichlich verquerläuft, und wir haben die schwierige Aufgabe vor uns, zwischen den beiden Gefahren einer sich zunehmend kumulierenden Entwicklung bei den Preisen und partiellen Beschäftigungseinbrüchen einen mittleren, abgewogenen Weg zu gehen.Was die Bundesregierung im Dezember und im Februar beschlossen hat, entspricht den gegenwärtigen Bedürfnissen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stimmt hier mit der Beurteilung überein. Sie stimmt auch damit überein, daß nach dem Einsatz des 600-Millionen-DM-Sonderprogramms, das mit Hilfe der Bundesländer Investitionsvolumina von rund 1 Milliarde DM auslösen wird, vorläufig keine neuen Sofortprogramme notwendig sind. Aber es ist sehr deutlich anzumerken — ich nehme an, daß die beiden zuständigen Ressorts hier mit uns übereinstimmen --, daß die vorbereiteten weiteren Programme zwar in den Schubladen geblieben sind, aber dort ganz obenauf jederzeit greifbar sind, falls sich die gegenwärtigen Einschätzungen als nicht ganz richtig erweisen sollten. Niemand in diesem Land wird es wagen, auf die Kommastelle genau zu prognostizieren, wie so etwas weitergeht.Ein besonderes Problem vor diesem Hintergrund ist das Zinsniveau.
Eines kann man freilich in der Form, wie Herr Strauß es gesagt hat, nicht tun, nämlich gleichzeitig das Geldvolumen knapp halten und das Geld billig machen wollen. Das geht in einer marktwirtschaftlichen Ordnung sicher nicht. Es ist aber wohl zu fragen, ob der gegenwärtige Zinsniveauabstand zwischen der Bundesrepublik und ihren europäischen Handelspartnern, der nicht groß, aber deutlich ist, nicht dadurch verringert werden könnte, daß die Bundesregierung darangeht, den Rest des Bardepots zu beseitigen.Mir ist bekannt, daß mit Rücksicht auf den verbliebenen Miniverbund in der europäischen Währungsschlange dies nicht ohne Konsultationen mit den Nachbarn geht. Aber die Bundesregierung sollte, wie ich glaube, behutsam und mit dem nötigen Verständnis diese Verhandlungen aufnehmen. Mit dem Abbau des Bardepots würde nämlich gleichzeitig eine Bewegung der Liquiditätsströme einsetzen, die bei unserem Wechselkurssystem nicht zu einer Liquiditätsvermehrung, sondern zu einer uns sehr wohltuenden Verbesserung der terms of trade führte, die wir angesichts der steigenden Tendenzen der Außenhandelsnachfrage und der immer noch zu schwachen Binnennachfrage sehr notwendig haben.Da auch mit dieser Maßnahme für einen Bereich unserer Wirtschaft, nämlich für den Wohnungsbau, ein erträgliches Zinsniveau sicher nicht erreicht werden kann und die Gefahr besteht, daß im Wohnungsbau Kapazitäten zerstört werden, die wir für die Modernisierung unserer Städte notwendig brauchen und die später nur unter unvergleichlich hohen Kosten wieder zu errichten wären, glaube ich, daß die Bundesregierung gut daran täte, zu überlegen
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6200 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Dr. Ehrenberg— wenn ich recht informiert bin, werden die ersten Überlegungen auch schon konkret angestellt —, ob man nicht für diesen Wirtschaftsbereich, für den das Zinsniveau nicht nur nachfragebeschränkendes Instrument, sondern vor allem auch ein in sehr starkem Maße durchschlagender Kostenfaktor ist, Möglichkeiten findet — sei es durch Zinssubventionen, sei es auf andere Weise —, um zu verhindern, daß Baukapazitäten zerstört werden.Wir haben in der Bundesrepublik damit zu rechnen, daß sich die Bauwirtschaft darauf einstellen muß, sich mittelfristig vom Wohnungsbau mehr auf den öffentlichen Hochbau umzuorientieren. Diese Umorientierung kann aber — erstens — nur langsam vor sich gehen, und die darf — zweitens — nicht so erfolgen, daß der immer noch vorhandene Wohnbedarf nicht mehr gedeckt werden kann. Wir haben in der Bundesrepublik trotz teilweise leerstehender Wohnungen — aber die stehen leer, weil ihre Kostenmieten zu hoch sind — immer noch einen sehr breiten Bedarf an Wohnungen zu kostengünstigen Mieten. Ich hoffe sehr, die Bundesregierung wird uns hier sehr schnell ein Programm vorlegen können, das in diesem wichtigen Bereich Abhilfe schafft.Insgesamt aber wird man sagen können — und zwar guten Gewissens —, daß die Konjunkturpolitik der Bundesregierung mit jener schwierigen Doppelstrategie genereller Restriktionspolitik auf .der einen Seite und gezielter regionaler und sektoraler Hilfen auf der anderen Seite dem entspricht, was die gegenwärtige Wirtschaftslage von uns erfordert.Da diese Diskussion hier mit einer Vielzahl von Vorwürfen von Herrn Strauß eröffnet wurde und ich zu Beginn gemeint habe, neben seine internationalen Hinweise hätten ein paar konkrete gehört, möchte ich zum Abschluß neben der „Washington Post" noch eine andere ausländische Stimme zitieren. Am 18. Januar 1974 stand in der „Financial Times" — ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren —:Was könnte sich ein Land mehr wünschen: riesige Währungsreserven, einen hohen Lebensstandard, eine Regierung, geführt von einem Kanzler, dem der Friedensnobelpreis verliehen wurde,
erfolgreich, oft beneidet, allerdings nur selten geliebt. In der Tat, Westdeutschland scheint sich zu Beginn des .25. Jahres seiner Existenz
bei der Überwindung der hauptsächlichen Schwierigkeiten, denen sich ganz Europa konfrontiert sieht, in einer günstigeren Ausgangsposition zu befinden als seine Nachbarn.
Und dennoch
— so gut kennt dieser Kommentator aus der „Financial Times" die deutsche Mentalität, er schreibt nämlich abschließend „und dennoch" —die Bereitschaft der Deutschen, übe diesen Zustand zu triumphieren, ist gering.
An dieser Mentalität der Deutschen ist die Opposition aus CDU und CSU sicher nicht unschuldig, und der ihr so nahestehende Hamburger Zeitungskonzern noch viel weniger.
Es wäre für diesen Staat, die Demokratie und vielleicht auch das eigene Selbstbewußtsein der CDU/ CSU-Abgeordneten besser, wenn sie statt einer Euphorie aus den letzten Wochen sich mehr an die Fakten hielten,
konkrete Vorschläge für die Verbesserung machten statt haltloser Vorwürfe,
etwas zurückhaltender bei finanzwirksamen Anträgen wären. Dann dürfte es sehr schnell auch mit der Stimmung in diesem Lande besser werden. Um die Fakten steht es sowieso nicht schlecht.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen, Herr Schmidt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein paar Zwischenbemerkungen in dieser Debatte zu dem Feuerwerk von Argumenten machen dürfen, das Herr Kollege Strauß hier ausgebreitet hat, — wenn es Argumente gewesen sind, Herr Strauß.
Ich kann nicht alle Ihre Bemerkungen aufgreifen; das werden Sie auch nicht erwarten. Ich darf auch den übrigen Rednern, die sich schon gemeldet haben, durch diese ungeplante Intervention nicht allzuviel Zeit wegnehmen.Sie haben unter anderem gesagt, der Staat beanspruche zu hohe Zuwachsraten am Bruttosozialprodukt. Ich nehme an, Sie haben mit „Staat" gemeint: den Bund, die Länder, die Gemeinden, die Sozialversicherung, alle Hilfsfisci, alle zusammen. Anders kann ich es nicht verstehen. — Wenn es so gemeint war — wie ich aus Ihrem Kopfnicken entnehme —, scheint mir diese Behauptung durchaus diskussionswürdig. Sie ist auf der anderen Seite auch diskussionsbedürftig. Denn Herr Strauß sollte sich dann auch bitte die einzelnen Hilfsfisci und die einzelnen Ebenen der öffentlichen Gebietskörperschaften anschauen.Im Finanzplanungsrat ist vor wenigen Tagen am Beginn dieser Woche ohne Widerspruch seitens ir-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6201
Budestagminister Schmidtgendeiner der beteiligten Stellen von mir festgestellt
und anschließend debattiert worden, daß voraussichtlich, nach heutiger Einschätzung, Herr Strauß, im Jahre 1974 der Bund seine Ausgaben um 12 % steigern wird, die Gemeinden — insgesamt 16 000 an der Zahl mit den Städten — um 13 %, die Länder um 15 % Ich sage nur der Vollständigkeit halber, daß ich durchaus bereit und in der Lage bin, Auskünfte zu geben, welche Länder dabei über diesem 15%igen Durchschnitt liegen.
Das gilt jedenfalls auch für den Freistaat Bayern, Herr Strauß, der den Durchschnitt insgesamt nach oben zieht. Die anderen erspare ich mir, aber ich kann sie alle bringen. Das heißt: Wenn man darüber diskutieren will und ich sage: das ist diskussionswürdig —, ob der Gesamtstaat seine Anforderungen an das Bruttosozialprodukt vielleicht zu hoch schraubt, muß man sich die einzelnen Bestandteile dieses Gesamtstaates anschauen. Man darf dann auch die Länder nicht insgesamt nehmen, sondern muß sich die einzelnen Länder anschauen. Dann aber kommen Sie zu anderen Aussagen und zu anderer Polemik, als Sie sie hier ausgebreitet haben; denn Sie würden in bezug auf die Bayerische Staatsregierung sicherlich etwas vorsichtiger sein als in bezug auf die deutsche Bundesregierung.
Im Zusammenhang damit brachten Sie ein zweites Argument, indem Sie darauf hinwiesen, daß dies zu einer Nettokreditaufnahme aller öffentlichen Hände gemeinsam in diesem Jahr — Sie haben richtige Zahlen genannt von möglicherweise — auf dem Papier; in der Praxis wird es dann wahrscheinlich weniger, weil die Ausgaben dann doch nicht so vollzogen werden, wie sie in den Plänen stehen, sondern langsamer — 18 Milliarden DM führen werde. Das entspricht auch der Schätzung, die ich gestern dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages vorgetragen habe, und daher haben Sie ja diese Zahl. Nur, wenn man beklagt, daß die Kapitalmärkte in dieser Höhe durch die Gemeinden, durch die Länder und durch den Bund im Jahre 1974 möglicherweise in Anspruch genommen werden -- sie werden übrigens auch alimentiert, nämlich mit Kapital versorgt, durch die Hilfsfisci der Sozialversicherung, was ich bei dieser Gelegenheit nicht zu unterschlagen bitte, zu deren Vermögensbildung der Bund seinerseits beiträgt —, wenn man also beklagt, daß eine zu große Kapitalaufnahme aller öffentlichen Hände stattfinde, dann verstehe ich nicht, wie man im gleichen Atemzuge Steuersenkungen um 8 bis 9 Milliarden DM hier fordert, die doch noch einmal mehr als 100 % der Kreditaufnahme des Jahres 1973 obendrauf packen würden. Herr Strauß würde zu den beiden richtigen Zahlen, die er genannt hat, eine weitere richtige Zahl nennen, wenn er vortrüge: DieKapitalaufnahme der öffentlichen Hände insgesamt, Städte, Länder und Bund, betrug 1973 11 Milliarden DM. Er würde eine zweite richtige Zahl nennen, wenn er sagte: Mir, Strauß, sieht es so aus, als ob es 1974 18 Milliarden werden könnten, aber wenn mein Vorschlag, der Vorschlag der bayerischen Landesregierung oder der CDU/CSU, auf Steuersenkungen um 9 Milliarden DM durchkommt, werden es 27 Milliarden DM. Das müssen Sie dann auch sagen. Und anschließend müssen Sie beklagen, daß die öffentlichen Hände den Kapitalmarkt zu stark in Anspruch nehmen, Herr Strauß.
Mit anderen Worten: Sie haben selbst eines der Argumente vorgetragen, mit denen Ihre Steuergeschenkpolitik
ab absurdum geführt werden muß. Ich sage durchaus überlegterweise „Geschenkpolitik" ; denn im Gewande der angeblichen Steuersenkung für jedermann wollen Sie doch in Wirklichkeit die sogenannten Steuerprivilegien zementieren, weil sie anschließend nicht mehr geändert werden sollen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, bitte.
Ich weiß, daß unmittelbar im Anschluß an mich der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein wiederum sein Gastspiel geben wird, das bei dieser Gelegenheit immer obligat ist. Er wird dann ja Gelegenheit haben, alles das unter die Lupe zu nehmen, was ich im Augenblick sage. Ich möchte meine Bemerkungen nicht allzu sehr ausdehnen.
Jetzt kommt drittens ein Kapitel, bei dem ich geneigt bin, Herrn Strauß tendenziell nicht nur mein Verständnis zuzuwenden, sondern auch zu bekennen, daß auch ich Sorgen auf diesem Gebiete habe, wenngleich ich sie nicht so pointieren würde, wie es hier geschehen ist. Daß Herr Strauß angesichts der durch die autonome Bundesbank, für deren unbeschränkte Autonomie sich der Oppositionssprecher soeben eingesetzt hat — in Klammern gesagt: nicht notwendig, denn sie wird von niemandem beeinträchtigt und soll auch von niemandem beeinträchtigt werden —,
herbeigeführten Kreditrestriktionen und hohen Zinsen, die von mir im Prinzip nicht beklagt werden,gleichzeitig einen Blick werfen läßt auf das mittel-
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6202 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Bundesminister Schmidtständische Gewerbe, auf die kleine Industrie, auf das Baugewerbe, auch auf den Wohnungsbaufortschritt, halte ich für legitim. Ich sehe mit ihm, daß in diesem Bereich Sorgen sind. Das hat auch gerade eben vor mir Herr Ehrenberg noch einmal angedeutet.Jedermann muß wissen, daß in dem Maße, in dem diese Währungspolitik und Kreditpolitik - - ich bitte nicht zu übersehen, Herr Strauß, daß diese Kreditpolitik nur auf der Basis unserer Außenwährungspolitik erst ermöglicht worden ist; wo bliebe sie denn sonst? Sonst würden wir doch überschwemmt werden mit ausländischer Liquidität, wenn wir diese damals vor einem Jahr von Ihnen scharf kritisierte Währungspolitik nicht gemacht hätten —
fortgesetzt werden muß, Probleme in Bereichen entstehen, die Sie zum Teil genannt haben, in denen man auf patielle, sektorale, teilweise regionale Abhilfe sinnen muß. Wenn Sie das gemeint haben sollten, will ich hier ausdrücklich eine tendenzielle Übereinstimmung feststellen.Sie haben in diesem Zusammenhang eine Bemerkung darüber gemacht, daß ich irgendwo gesagt habe, es wäre doch nicht schlimm, wenn ein paar Baulöwen auf der Strecke blieben.
— Pleite gehen. Ich stehe zu dieser Bemerkung. Für mich macht es keinen Unterschied, ob es sich um Namen wie Kressmann in Berlin oder Hubmann in München handelt. Manche dieser ungesunden Finanzierungen bedurften der Pleite, damit eine Lehre erteilt wird.
Nicht alles, was sich als vorübergehend erfolgreiche Unternehmung in unserer Volkswirtschaft darstellt, ist deswegen schon mit den positiven Epitheta der Unternehmer zu belegen.Herr Strauß hat sodann -- viertens oder fünftens— eine Bemerkung über den Lohnabschluß im öffentlichen Dienst mit 11 % gemacht. Dieser kann meinen öffentlichen Beifall auch nicht finden, Herr Strauß. Nur darf ich dann einmal in Erinnerung rufen, daß es Ihr Parteifreund, der baden-württembergische Ministerpräsident war, der öffentlich, auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzung, ehe sie abgeschlossen war, gesagt hat, 12 % seien eine interessante Zahl. Dann bitte ich, einmal im eigenen Hause die Vorwürfe dort auszusprechen, wo sie hingehören.
Die nächste Bemerkung. Sie haben sich mit den außer- und überplanmäßigen Ausgaben im Haushalt 1973 beschäftigt. Das ist sicherlich ein diskussionswürdiges Thema. Wenn Sie die einzelnen Komponenten dieser Haushaltsüberschreitungen genau angucken würden, fände sicherlich manche von diesen Komponenten Ihren Beifall, bei anderen würden Sie Ihre Kritik vielleicht spezifizieren.
— Das will ich gleich sagen. — Nur, insgesamt stehen dem eben entsprechende Einsparungen gegenüber. Wir haben den Haushalt beinahe auf i Million DM genau so gefahren, wie das Parlament ihn in der Gesamtsumme veranschlagt hatte.
— Ich bin doch keiner, der ausweicht. Ich habe doch seinen Zwischenruf noch im Ohr; Sie brauchen ihn nicht zu wiederholen. Ich komme jetzt auf die Frage der parlamentarischen Kontrolle.Ich darf dazu sagen, Herr Strauß: Sie waren ja auch einmal drei Jahre Finanzminister. Ich habe immer das Schicksal, ein paar Jahre später in den Ministerien aufräumen zu müssen -- auf der Hardthöhe und in der Rheindorfer Straße , in denen Sie Akten hinterlassen haben.
Ich habe mich natürlich außerordentlich interessiert für die drei Jahre, in denen Herr Strauß verantwortlich war für die Durchführung von geltenden Haushaltsgesetzen. Ich habe natürlich festgestellt, in welchem Maße unter der Federführung jenes Finanzministers Haushaltsüberschreitungen und außerplanmäßige Ausgaben unausweichlich notwendig waren. Ich kritisiere nicht, daß Sie solches getan haben, Herr Strauß. Im Gegenteil, ich sage: In derselben Lage haben Sie dasselbe tun müssen.Ich stelle nur eins fest: Sie haben erstens höhere Anteile des Gesamthaushalts über- und außerplanmäßig verausgabt und zweitens selbstverständlich keinen Nachtragshaushalt eingebracht, weil der nämlich nach den Vorschriften der Haushaltsordnung nur bis zu einem gewissen Datum hätte eingebracht werden können. Sie haben sich genauso verhalten wie ich, nur noch etwas höher im Prozentsatz.
Infolgedessen müssen Sie sich prüfen, wie redlich es ist, wenn Sie mir etwas vorwerfen, was Sie zu Recht fünf Jahre früher selber so praktizieren mußten, weil die Tatsachen Sie dazu gezwungen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Häfele?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber nur für Herrn Dr. Häfele, der gemeinhin in der öffentlichen Debatte durch polemische Kunststücke be-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6203
Bundesminister Schmidtsonders auffällt und der es deswegen verdient, auch eine Antwort zu bekommen.
Herr Minister, darf ich Ihre Bemerkung mit dem Aufräumen so verstehen, daß Sie demnächst im Bundeskanzleramt aufräumen wollen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Eigentlich würde diese Zwischenfrage keine Antwort verdienen,
aber sie verdient doch eine, weil ich es für eine ziemliche Anmaßung halte, daß Sie offenbar in Ihrer Fragestellung davon ausgehen, ich könnte jemals den Bundeskanzler in derselben Optik haben wie den Kollegen Strauß.
Ich will aber doch mit Zahlen belegen, was ich behauptet habe. herr Strauß hat sich im Jahre 1968 als Finanzminister gezwungen gesehen — und ich kritisiere das nicht —, Haushaltsüberschreitungen in Höhe von 4 1/2 % des Gesamthaushalts zuzulassen. Ich kritisiere das nicht, ich habe das damals sogar gebilligt. Ich weiß, daß ich es gebilligt habe. Das kann auch in den Akten nachgesehen werden. Das war in Ordnung, das war auch gesetzlich in Ordnung. Daß Herr Strauß dafür keinen Nachtragshaushalt vorgelegt hat, war auch gesetzlich und grundgesetzlich in Ordnung. Es waren genau 4,4%. In dem Jahre, das Sie eben kritisiert haben, waren es 3,7 %. Ich kann die doppelte Moral nicht begreifen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Strauß?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wollte eigentlich nicht so gerne lauter Zwischenfragen annehmen,
aber bitte sehr, Herr Strauß.
Bitte sehr!
Herr Bundesfinanzminister, sind Sie sich im klaren darüber, daß Sie mit dieser
Darstellung hier im Hause einen zumindest irreführenden Eindruck erweckt haben?
— Wenn Sie fragen: „Warum?", bin ich gern bereit, meine Frage zu begründen. Im Haushaltsausschuß ist dieser Vorgang nach den von den Mitgliedern meiner Fraktion mir gemachten Angaben genau geprüft worden. Es wurde festgestellt, daß es sich nach dem damaligen Haushaltsrecht, das inzwischen abgelöst worden ist, um Übertragungen vom ordentlichen in den außerordentlichen Haushalt bei Ausgabe für den parlamentarisch genehmigten Zweck handelte.
Ferner: Wollen Sie, Herr Bundesfinanzminister, behaupten, daß die zwischen Weihnachten und Neujahr, zum Teil noch im neuen Jahr erfolgten Kapitalaufstockungen — 100 Millionen DM bei Nacht und Nebel an Salzgitter — oder die Zuweisung an die Bundesbahn, deren Finanzzustand bereits im Juni bekannt war, wirklich unvorhersehbar und unabweisbar waren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In bezug auf die erste Hälfte Ihrer Frage, Herr Strauß, will ich antworten: Die Lage vor sechs Jahren ist absolut mit der heutigen vergleichbar. In beiden Fällen handelt es sich darum, daß unabweisbare Ausgaben aus der Bundeskasse zu leisten waren, sowohl von Ihnen damals wie von mir in diesem Jahr.Was die zweite Frage angeht, so steht schon im Gesetz, daß die Abdeckung der Verluste der Bundesbahn unabweisbar ist. Daß man am Anfang eines Jahres nicht ganz genau weiß, wieweit man der Bundesbahn helfen kann, ihre Verluste abzudecken, hängt damit zusammen, daß man nicht genau weiß, wieviel von den Ausgaben, die das Parlament genehmigt hat, man gleichwohl durch knappe Zügelführung verhindern kann, damit man hinterher zur Verlustabdeckung der Eisenbahn beitragen kann. Ich habe den Vorgang jetzt nicht im Kopf, aber ich werde das auch studieren, wie es 1968 war. Es würde mich sehr wundern, wenn Sie 1968 nicht auch Ihrerseits als Finanzminister zur Verlustabdeckung der Bundesbahn beigetragen hätten.
Ich komme sodann zu einer anderen Bemerkung. Sie apostrophieren mich mit einer bestimmten Prozentzahl von 5 %. Ich habe nichts dagegen, Herr Strauß, damit in die Geschichte einzugehen. Es bleibt nämlich meine feste Überzeugung, daß Arbeitslosigkeitszahlen von 5 %, wie sie im westlichen Ausland teilweise erreicht wurden, für dieses unser Land weder sozial noch politisch erträglich wären und deshalb verhindert werden müssen.
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6204 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Bundesminister SchmidtSie haben sodann eine Aufklärung über die Haushaltslage des Bundes verlangt. Herr Strauß, es tut mir leid, dies ist nun wirklich bloße Polemik. Ihre Kollegen im Haushaltsausschuß haben vollen Durchguck — ich will nicht behaupten, daß jeder im Plenum .das haben kann —, auch aktenmäßig belegt mit allen Ziffern und Papieren, die dazu gehören, durch die Haushaltslage des Bundes. Und die ist weder chaotisch, wie vor ein paar Jahren der Kollege Barzel — der im übrigen von Finanzen mehr verstand als Herr Carstens — öffentlich behauptet hat, noch in irgendeiner Weise sonst — —
— Das ist gar keine Unverschämtheit. Ich habe doch gestern Herrn Carstens am Fernsehen miterlebt. Ich habe gedacht: Mein Gott, hätten wir bloß den Barzel wieder; der war wenigstens sicher.
Aber ich komme auf Herrn Carstens noch zurück. Erwar ja gestern so liebenswürdig, mich zu zitieren.Diese Bemerkung verlangt natürlich eine Antwort.Herr Strauß hat dann die Behauptung aufgestellt, der Bundesminister der Finanzen habe zugegeben, zum Zwecke der Reservebildung Ansätze dreifach überhöht zu haben. Habe ich Sie recht verstanden?
— Die Ansätze für Prämien waren nicht dreifach überhöht, sondern die Prämien waren, wie sich herausstellt, um 900 Millionen DM zu hoch angesetzt.
— Ich habe den Gesamtansatz nicht mehr im Kopf.
Aber ich bin bereit, Ihnen das in der Debatte nachzuliefern; ich will mich nicht drücken. Ich will Ihnen nur eines dazu sagen. Herr Strauß, den Vorwurf, dies sei mit Absicht überhöht angesetzt worden, können Sie im Ernst nicht aufrechterhalten. Wir sind bei den Sparprämien natürlich auf die Erfahrung und Auswertung durch die Finanzbehörden der Länder angewiesen, und ganz sicherlich hat man sich allseits in diesem Punkt verschätzt. Niemand hat sich darüber bitterer geärgert als ich selber.
Nur, Sie wissen, wann die Sparprämien von den Finanzämtern ausgerechnet und überwiesen werden, nämlich am Jahresende und nicht fortlaufend alle 12 Monate. Zum Schluß des Jahres, wenn die Zinsen auf den Sparkonten zugebucht werden, dann geschieht dieser Vorgang. Man kann das noch nicht im Oktober und nicht im August und nicht im Juni erkennen. Wir haben institutionelle Vorsorge getroffen, daß sich das in Zukunft nicht wiederholt. Der Haushaltsausschuß hat ja die Konsequenz ge-zogen und die Prämienausgaben für das Jahr 1974 im Haushaltsansatz herabgesetzt, was ich für gerechtfertigt halte. Ob hier nicht möglicherweise zufällige Verschiebungen stattgefunden haben, die sich in 1974 um so dicker auswirken, kann ich noch nicht übersehen. Mir kommt es darauf an, den Eindruck zu machen, erstens daß ich zugebe, daß iin Zusammenwirken zwischen Länderfinanzbehörden und dem Bund eine Fehleinschätzung erfolgt ist, zweitens daß ich mit aller Klarheit die Unterstellung zurückweise, als ob hier von seiten des Bundes vor zwölf Monaten absichtlich eine zu hohe Zahl eingesetzt gewesen wäre.Sie haben dann Bemerkungen darüber gemacht, daß Sie aufgebracht waren, ich hätte öffentlich gesagt, daß die Steuersenkungsanträge auf der einen und die Mehrausgabenpläne der CDU/CSU auf der anderen Seite eine Differenz von 35 Milliarden DM in den Bundeshaushalt hineinbringen würden. Ich korrigiere mich Herr Strauß; es sind inzwischen — meine 'Beamten haben es nachgerechnet — nicht 35, sondern 40 Milliarden DM.
Ich bin gern bereit, das hier alles vorzulesen. Dann werden Sie einwenden: Ja, das sind ja noch keine konkreten Gesetzentwürfe im Deutschen Bundestag; das sind zum Teil nur allgemeine Ankündigungen meines Präsidiums.
— Ich habe noch nicht mitgerechnet, daß der bayerische Staatsminister Dr. Huber öffentlich eine Anhebung sämtlicher Lehrergehälter nach A 13 verlangt hat. Das habe ich noch nicht mitgerechnet. Wenn ich das und die Konsequenzen auf den gehobenen Dienst aller übrigen Verwaltungen mitrechnen würde, käme ich auf 45 Milliarden DM, Herr Strauß.
Es ist manches in Ihrer Polemik amüsant zu hören, und überall könnte man ein Körnchen diskussionswürdige Wahrheit mit entdecken, wenn nicht das, was Ihre Parteifreunde auf anderen Bühnen tun, so absolut dem entgegengesetzt wäre, was Sie hier vortragen.
Sie haben des weiteren behauptet, wir hätten für dieses Jahr die Steuern zu hoch geschätzt. Sie wissen selbst aus Ihrer fachlichen Erfahrung als Bundesfinanzminister — Sie haben mir da ein paar Jahre voraus —, daß Steuerschätzungen von einem durch den Finanzminister nicht zu beeinflussenden Gremium gemacht werden,
in dem vier oder fünf wirtschaftswissenschaftliche Institute der Bundesrepublik die Hauptrolle spielen, und daß die Steuerschätzungen, die von daher gegeben werden, durch die Finanzminister übernommen werden. Wenn ein Finanzminister sich erkühnen würde, die Steuerschätzungen dieser Wissen-Bundesminister Schmidtschaftler nach oben oder nach unten in seinem Haushalt zu korrigieren, so gäbe das einen Sturm der Entrüstung aus Ihrem Munde, solange Sie Opposition sind, Herr Strauß.
— Jetzt wollen wir einmal zu den Mehreinnahmen kommen. Für 1974 hat dieser Arbeitskreis mit den Wissenschaftlern
— und Ministerialbeamten aus mehreren Ministerien — geschätzt, daß die Steuereinnahmen des Bundes nominell um 8,0 %, die Wachstumsraten bei den Ländereinnahmen um 14,2 % und bei den Gemeinden um 14,0 °/o höher sein werden — das sind die amtlichen Zahlen —, wobei wir beide wisen, daß die sich im Laufe des Jahres alle drei verschieben können; aber das sind die Zahlen, wie sie aus heutiger Sicht auf Ihre Bemerkungen hin gegeben werden müssen.Sie haben eine Bemerkung über die Investitionsquote des öffentlichen Haushalts oder der öffentlichen Haushalte insgesamt gemacht; ich weiß nicht, ob sich die Bemerkung nur auf den Bund oder auf alle öffentlichen Haushalte, also auch auf die der Länder und Gemeinden, beziehen sollte.
Ich will einmal das letztere annehmen. Dann darf ich darauf hinweisen, daß die Investitionsanteile der Städte und Gemeinden, der Länder und des Bundes gemeinsam am Bruttosozialprodukt gegenwärtig -letztes Jahr und 1974 auch — höher liegen als etwa vor 10, 12 oder 14 Jahren. Es sind die Investitionsanteile der öffentlichen Hände am Bruttosozialprodukt gestiegen.
— Das hat mit Preisen nichts zu tun. Ich rede in konstanten Größen, ich rede in realen Termini: reales Bruttosozialprodukt, reale Investitionsquoten.
- Herr Althammer, tun Sie mir einen Gefallen undakzeptieren Sie, was ich sage; ich red ja keinen Unfug. Die Quoten am realen Bruttosozialprodukt sind also, wie gesagt, höher als damals.Ich will aber auf eines hinweisen — das habe ich auch schon einmal Herrn Carstens gegenüber vor ein paar Monaten betonen müssen —: Die Aufgabe des Bundeshaushalts dabei ist nicht diejenige, der Hauptinvestor auf seiten der öffentlichen Hände zu sein. Sie war es nie, es sei denn, daß Sie Bahn und Post mitrechnen; dann kriegt das ein anderes Gesicht. Aber da Bahn und Post mit ihren Investitionen nicht im Bundeshaushalt stehen, ist es nicht die Hauptaufgabe des Bundes, sondern mehr als die Hälfte aller öffentlichen Investitionen muß natürlich- das war immer so, das bleibt so — von den Ländern und Gemeinden — vor allen Dingen von denGemeinden — vorgenommen werden. Das ist auchjetzt so. Deswegen helfen wir ja z. B. nun auch gemeinsam — Länder und Bund — den Gemeinden bei dem Infrastrukturprogramm, das wir im Augenblick machen. Der Bund hat, abgesehen von der Bedienung der staatsnotwendigen Funktionen, die er finanzieren muß von der Bundeswehr bis hin zur Sicherungsgruppe , im wesentlichen die sozialpolitische Aufgabe der Umverteilung der Einkommenströme. In dem Maße, in dem die sozialliberale Koalition diese Umverteilungsfunktion ausweitet, um der sozialen Gerechtigkeit zu dienen, in dem Maße muß — spiegelbildlich — auf der anderen Seite die Investitionsquote des Bundes natürlich auch geringfügig heruntergehen. Aber sie spielt, wie gesagt, für die Gesamtinvestitionen in der Volkswirtschaft keine Rolle.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. MüllerHermann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, bitte nicht.
Ich komme zu der Bemerkung, die Herr Strauß zu den Steuern gemacht hat. Herr Strauß hat angekündigt, die Steuerreform käme erst zum 1. Januar 1976. Er irrt. Sie kommt zum 1. Januar 1975,
und Sie werden mitstimmen. Ich sage Ihnen voraus, Sie werden mitstimmen.
Sie werden genauso mitstimmen, wie Sie vor wenigen Tagen nach langem Hin und Her bei der Verabschiedung der Reform der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer mitgestimmt haben. Sie werden auch bei der Steuerreform ganz genauso mitstimmen.
— Also, Herr Präsident, ich bin dafür, daß der Oppositionsführer das Recht zu einer Fragestellung bekommt. Er will offenbar eine besonders sachverständige Frage stellen.
Bitte, Herr Carstens!
Herr Bundesminister, ich darf am Rande bemerken, daß es das Recht der Abgeordneten ist,
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6206 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Vizepräsident von Hasseldem Redner eine Frage zu stellen und nicht der Redner den Herren Kollegen des Hauses.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich habe in 21 Jahren noch niemals einer Regelung des Präsidenten widersprochen oder sie glossiert, aber Sie werden mir zustimmen, daß der Redner das Recht hat, einen Abgeordneten zur Fragestellung einzuladen. Das tue ich.
Sie haben diesen beiden Steuerreformgesetzen zugestimmt,
nachdem wir ein paar Kleinigkeiten,
um Ihnen und insbesondere Herrn Häfele das Gesicht wahren zu helfen, daran verbessert hatten. Alles Wesentliche ist verwirklicht worden.
So wird es auch bei der Steuerreform gehen.
Ich habe vorgestern einen an mich gerichteten Brief des Herrn Landesministers Gaddum beantwortet, den er veröffentlicht hatte und in dem er seitens der CDU/CSU-Länder — ich nehme an, auch im Einvernehmen mit den entsprechenden Abgeordneten des Bundestages — Zusammenarbeit anbietet auf dem Felde des Dritten Steuerreformgesetzes, d. h. Lohnsteuer und Einkommensteuer. Ich habe den Brief vorgestern beantwortet und gesagt, selbstverständlich sind wir, wie schon früher hier im Plenum ausgedrückt, zur Zusammenarbeit bereit. Es wird demnächst ein Zusammentreffen geben. Ich nehme an, daß auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wie Herr Gaddum angeregt hatte, sich zwei Kollegen daran beteiligen werden.
Nur kann es natürlich bei solcher Gelegenheit nicht so gehen, wie ich es den Zeitungen entnehme. Wenn ich einmal vorlesen darf, Herr Präsident: Am 28. Februar konnte man erstmalig davon hören, daß die bayerische Landesregierung --- dieser gehört Herr Gaddum nicht an, sondern dort ist es Herr Huber — 81/2 Milliarden DM Steuererleichterungen vorschlage; inzwischen ist der Antrag, soviel ich weiß, im Bundestag eingegangen. Am 11. März sagt der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß dpa-
Meldung , er halte den von der bayerischen Staatsregierung am Freitag im Bundesrat eingebrachten Antrag für bedenklich.
Am selben Tage sagt Herr Carstens, der Führer der Opposition, Steuersenkungen, wie sie die CDU noch Ende des Jahres 1973 und Anfang dieses Jahres gefordert habe — er hat nicht gesagt, wie sie die
bayerische Staatsregierung gerade soeben gefördert hat --, seien nun nicht mehr vertretbar.
Zwei Tage vorher sagt der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Herr Filbinger, daß er für Steuererleichterungen eintritt. Am 1. März tritt ein Minister der gleichen Regierung, der Herr Gaddum angehört, nämlich der Landesregierung in Rheinland-Pfalz, der Herr Minister Geisler, für Steuererhöhungen ein — man höre und staune! Das letzte ist erst ein paar Tage her — Ende März —, daß die nordhessische CDU --- es ist noch nicht CSU, sondern CDU
unverzüglich für Steuersenkungen eintrete, wenn nicht die Steuerreform zum I . Januar 1975 in Kraft trete. Das wird sie aber, sie wird am 1. Januar 1975 in Kraft treten. Sie können sich all das Hin und Her innerhalb Ihrer eigenen Steuerexperten durchaus sparen und in die Akten heften.
Herr Carstens, ich wollte ohnehin zu Ihnen
kommen. Bitte sehr!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Carstens?
Herr Bundesminister, da Sie mich soeben falsch zitiert haben: Würden Sie zugeben, daß ich in der von Ihnen zitierten Bemerkung gesagt habe, die CDU/CSU halte die Verwirklichung ihrer Steuerpläne rückwirkend für den 1. Januar 1974 nicht für gerechtfertigt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Carstens, ich kann das nicht zugeben, denn die apMeldung, die mir vorliegt, lautet ganz anders. Ich weiß, daß Politiker nicht immer alles dementieren können, was Zeitungen über sie schreiben. Aber dann würde ich Sie bitten, heute am Schluß der Debatte zu Protokoll des Bundestages eine persönliche Erklärung abzugeben, die das richtigstellt.
Wenn Sie zu Protokoll des Bundestages erklären, was Sie wirklich gesagt haben, werden wir die Gelegenheit haben, nachzuprüfen, ob es übereinstimmt mit dem, was berichtet wurde. Sie haben den Text nicht vor sich liegen, aber ich habe hier einen Text vor mir.
— Offenbar sind die Kollegen darüber aufgebracht, daß ich Zweifel an einem Wort des Oppositionsführers äußere.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Borin, Freitag, den 29. März 1974 6207Bundesminister SchmidtDas tue ich in der Tat. Ich äußere hier Zweifel genauso, wie ich einen Sack von Zweifeln gegenüber Herrn Strauß ausgebreitet habe. Es ist Ihr Recht, Zweifel gegenüber der Bundesregierung zu äußern, und unser verdammtes Recht, Zweifel gegenüber dem zu äußern, was Sie sagen.
Herr Carstens,
— ich mache eine Zwischenbemerkung an die Adresse von Herrn Carstens, wenn der Präsident es erlaubt —,
Sie haben in der gestrigen Europadebatte nach demvorliegenden Bürstenabzug des Protokolls gesagt:Warum mußte der Bundesfinanzminister diese Position in Washington so vertreten und mit so schweren Ausfällen gegen die französische Delegation begleiten, daß der französische Außenminister kurz danach von Provozierungen und Brutalität sprach?Ich weiß nicht, auf welche Quelle sich der Oppositionsführer stützt. Offenbar ist ihm etwa zugetragen worden, was jemand in einem anderen Land hinter verschlossenen Türen gesagt hat. Ich will Ihnen nur sagen, Herr Carstens: Ihnen steht sofort der wörtliche Text der Ausführungen zur Verfügung, die ich auf jener Konferenz in. Washington gemacht habe. Sie werden nichts davon finden,
was Sie hier behaupten, und es stünde Ihnen, glaube ich, — Sie sind doch in dem Metier der Diplomatie und der Außenpolitik zu Hause
gut an, vor dem eigenen Parlament nicht den Versuch zu machen, mit Hilfe von Bemerkungen,
die vielleicht der Außenminister eines anderen Staates gemacht hat, die Minister der eigenen Regierung unglaubwürdig zu machen.
Ich will mit einer zweiten Bemerkung an die Adresse des Oppositionsführers schließen. Ich habe ihm gestern im Fernsehen zugehört, als er über Wirtschaftspolitik debattierte.
— Das Wort „Flegelei" gebe ich Ihnen zurück, Herr Abgeordneter.
— Wenn jemand die Reden des bayerischen Parteivorsitzenden mit diesem Beifall begleitet, muß er wohl damit zufrieden sein, wenn er auch nur in halber Münze zurückgezahlt bekommt.
Herr Carstens hat gestern im Fernsehen gesagt, unter der Regierung seiner Parteifreunde sei alles viel besser gewesen. Sicherlich, Herr Carstens, waren die Jahre der Regierung unter der Leitung von Professor Erhard oder davor der letzten Regierungen Adenauers Zeiträume, in denen auf der ganzen Welt das, was wir heute erleben, nicht stattgefunden hat,
mit einer Ausnahme: das war ein Zeitraum ziemlich am Anfang der Arbeit von Professor Erhard als Wirtschaftsminister. Auch dafür konnten die damalige deutsche Bundesregierung und er selber genausowenig wie irgend jemand von uns.
— Das war die internationale Rohstoffpreisinflation aus Anlaß des Korea-Krieges.Wenn Sie sich heute die Rohstoffpreise auf der Welt und ihre Entwicklung in den letzten zwölf oder auch nur drei Monaten oder 18 Monaten angucken, dann werden Sie sehen, daß wir eine solche Dynamik in der Weltwirtschaft wie heute, was die nominelle Aufblähung oder, deutlicher gesagt, was die Weltinflation angeht, noch niemals erlebt haben. Wir haben es ganz sicherlich mit einer Weltinflation zu tun, wie die Welt sie
in diesem Umfang bisher nur im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg erlebt hat.Ich will Ihnen eine Zahl nennen, die für Februar feststeht. Die Importpreise für die Bundesrepublik, d. h. die Preise für die Güter, die wir von draußen, von den Weltmärkten, importieren, sind im Februar um knapp 35 % gegenüber Februar 1973 gestiegen. Jeder von Ihnen, der sich die Zahlen ansieht, weiß, daß die Ausfuhrpreise der Bundesrepublik nicht entfernt, nicht halb so stark gestiegen sind. Das heißt, wir haben es damit zu tun, daß nicht nur die Preise für Öl, Ölprodukte, Kautschuk und Gold, sondern auch für Eisenerze, für Nichteisenmetalle, für Wolle und was Sie auch immer nehmen gestiegen sind. Die Lebensmittelrohstoffe sind im Augenblick zum erstenmal seit eineinhalb Jahrzehnten draußen in der Welt teurer als innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das ist ein Zeichen dafür, was draußen in der Welt los ist. Bisher waren immer die Preise innerhalb der EG höher als draußen; es hat sich umgekehrt. Wir haben in der Welt eine Preissteigerung, die sagenhaft ist.
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6208 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Bundesminister SchmidtIch will hier nicht auf die Gründe eingehen. Daß die Bundesrepublik Deutschland dazu nicht nur nicht beigetragen, sondern bremsend gewirkt hat, wird außerhalb Ihrer Oppositionsbänke in jedem Parlament der Welt anerkannt. Wenn ich Ihnen für Februar die Importpreise gesagt habe, müssen Sie wissen: mehr als ein Fünftel unseres Sozialprodukts beruht auf Importen von Gütern und Dienstleistungen von draußen; es sind 22 %. Dieses Fünftel ist um 35 % im Preis innerhalb von 12 Monaten gesteigert worden. Dies kann man weder durch Einsparungen, Herr Strauß, beim Eisenbahnhaushalt noch durch Schuldendeckel, noch durch Steuersenkung ändern, wie Sie wohl zugeben werden.Trotz dieser Tatsache hat die Gesamtheit der Politiken der Bundesregierung sich anders ausgewirkt als die entsprechende Politik in anderen Ländern der Welt. Im Februar ist in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Preissteigerung gegenüber Februar 1973 von 10,0 % festgestellt worden, in der soliden Schweiz 10,0 %, in Schweden 10,2 %, in Holland 8,5 %, in Japan 24,8 % — das ist mehr als das Dreifache des deutschen Wertes
in Italien über 13 %, in England 13,2 %, in Frankreich im Januar 10,3 % -- die Februar-Zahl habe ich nicht vorliegen —, in Dänemark 13,9 %. Jetzt kommen die beiden Länder, die wirklich — Sie könnten sagen — Glück gehabt haben, oder die erfolgreich waren.
— Sie haben soeben Luxemburg dazwischengerufen, auch Luxemburg haben wir inzwischen unterschritten. In Belgien sind es 8,3 %, in der Bundesrepublik 7,6 %.Nun kann Herr Carstens natürlich im Fernsehen sagen: Ich, Carstens, würde das alles noch viel besser machen, noch besser als Amerika, als England, als Frankreich, als Italien. Aber in Rom war es eine christdemokratische Regierung, die dies herbeigeführt hat, in London war es eine konservative Regierung, die das herbeigeführt hat,
die Regierung in Paris ist wohl auch nicht gerade sozialdemokratisch, und die in Washington ist ja wohl auch nicht gerade sozialliberal, Herr Carstens. Das heißt also: wenn Sie als Oppositionsführer Ihrem Publikum klarmachen wollen, daß Sie es besser können als alle übrigen Staaten der Welt im Augenblick, müssen Sie etwas deutlicher machen, wie, auf wessen Kosten das geschehen soll. Sie müssen etwas mehr „Butter bei die Fische tun", als Herr Strauß es vorhin getan hat!
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, Herr Dr. Stoltenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht 1974 findet in einer Zeit wachsender wirtschaftlicher und sozialer Spannungen statt. Die sich weiter beschleunigende Inflationsbewegung überschattet immer stärker die politische Arbeit aller Verfassungsorgane. Sie macht viele Programme und Zielvorstellungen, die wir in Bund und Ländern im Wettbewerb der Parteien verfolgen, fragwürdig. Vor allem aber trifft sie die Menschen immer härter in ihrem beruflichen und sozialen Leben, und niemand sollte die Unruhe unterschätzen, die in unserem Lande in den letzten Wochen so stark angewachsen ist.
So sind es in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik besonders auch Probleme der Länder und Gemeinden, die hier zur Diskussion stehen. Die Fragen der Länder und Gemeinden sind im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung behandelt, und ich glaube, daß es deshalb richtig ist, wenn wir von unserem verfassungsmäßig legitimen Recht Gebrauch machen, an dieser Diskussion teilzunehmen.Ich bedaure, daß es der Herr Bundesminister der Finanzen für richtig hielt, meine Wortmeldung als ein „Gastspiel" zu bezeichnen, das „obligat" sei.
Das unterstreicht für die deutsche Öffentlichkeit und dieses Hohe Haus eindringlich, daß in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern einiges verbesserungsbedürftig ist.
Ich werde im Verlauf dieser Debatte einige Ausführungen dazu machen.Die häufigere Teilnahme von Mitgliedern der Länderregierungen an den Diskussionen über den Bundesetat und den Jahreswirtschaftsbericht begann im letzten Jahr, als es der Bundesfinanzminister für richtig hielt, in seiner Etatrede Ministerpräsidenten der Länder persönlich zu attackieren und mich in seiner Rede fünfmal zu zitieren. Man darf da nicht erstaunt sein, wenn wir es auch aus diesem Grund für notwendig halten, hier häufiger direkt zu antworten. Die irreführende Zitierung von Äußerungen des Kollegen Filbinger zeigt, daß eigentlich auch der baden-württembergische Ministerpräsident hier replizieren sollte. Ich werde es für ihn tun und möchte hier — auch in Gegenwart des Herrn Bundeskanzlers — nur feststellen: Wir haben in den schwierigen Fragen der Tarifverhandlungen, die ich berühren werde, eine einvernehmliche Position mit der Bundesregierung im Kreis der Regierungschefs entwickelt. Es waren nicht der Kollege Filbinger und ich, sondern andere, die dem Herrn Bundesfinanzminister politisch und geographisch enger verbunden sind, die mit öffentlichen Fernschreiben am Tage des Streikbeginns den Bundeskanzler zu einer Änderung seiner Haltung aufforderten.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6209
Ministerpräsident Dr. StoltenbergIch darf das nur zu diesem Punkt noch einmal in die allgemeine Erinnerung rufen.Aber meine Damen und Herren, nun zur Sache! Der Bericht des Bundeswirtschaftsministers wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf — war in der detaillierten Behandlung der Einzelprobleme, vor allem der Fragen instrumentaler Art den Gefahren und Härten der gegenwärtigen Situation, wie ich glaube, nicht voll angemessen. Er hat die Dinge, um die es wirklich geht, zwar fachlich detailliert, aber nicht in der ganzen politischen Breite der Problematik angesprochen. Erlauben Sie mir in der gebotenen Sachlichkeit diese kritische Würdigung. Vieles bedarf, wie ich glaube, der genaueren und sorgfältigeren Beleuchtung.In dem schriftlichen Bericht und auch in der mündlichen Einführungsrede ist es üblich geworden, zu oft von „unvermeidlichen Strukturveränderungen" zu sprechen. Mit dieser sehr allgemeinen Formel der unvermeidlichen Strukturveränderungen wird auch einiges beschrieben, was wir im Interesse der betroffenen Menschen, der Arbeitnehmer wie der von Existenznot bedrohten Mittelschichten, nicht als unvermeidlich ansehen müssen, sondern was wir mit aller Kraft verändern und beeinflussen müssen.
Ich darf versuchen, das in ein Bild zu bringen: Es war etwas mehr gedämpfte Kammermusik dort, wo wir in früheren Jahren bei wesentlich geringeren wirtschaftlichen und sozialen Spannungen aus dem Lager der heutigen Koalitionsparteien Pauken und Trompeten gehört hatten.
Wer die Aussprache im Bundestag und im Bundesrat über den Bundeshaushalt und ,den Jahreswirtschaftsbericht des vergangenen Jahres noch einmal nachliest, kommt zu folgendem Ergebnis. Nicht nur in dem zentralen Thema der Geldwertstabilität wurden die damals formulierten Ziele der amtlichen Politik weit verfehlt. Im Gegensatz zu den damaligen Aussagen und Versprechungen der Bundesregierung zur Frage der Vollbeschäftigung müssen wir seit dem Spätherbst 1973 auch die höchsten Arbeitslosenzahlen der Nachkriegszeit hinnehmen. Ich kann hier der Analyse des Jahreswirtschaftsberichts nicht zustimmen, wenn der Bundeswirtschaftsminister meint, die Beschäftigungslage gerade noch mit befriedigend benoten zu können.
Dies, meine Damen und Herren, geschieht bei Zahlen und sozialen Härten, die für viele mit der Vollbeschäftigungsgarantie des Herrn Bundeskanzlers und den vor der letzten Bundestagswahl gesetzten Maßstäben dieser Koalition vollkommen unvereinbar sind.
Das Wirtschaftswachstum hat sich erheblich verlangsamt. Niemals war der Abstand zwischen dem realen Zuwachs des Sozialprodukts und seiner inflationsbedingten nominalen Steigerung so kraß wie in den letzten Monaten.Im außenwirtschaftlichen Bereich kann man allenfalls von einem prekären und labilen Gleichgewicht sprechen. Die Freigabe der Wechselkurse hat nach schweren Rückschlägen im vergangenen Frühjahr zu einer Begrenzung der vorher viel zu hohen Vermehrung der Geldmenge beigetragen. Das ist richtig. Aber das Ausscheiden Frankreichs aus dem Gruppen-Floating führte zu einer bedenklichen Reduzierung und Schwächung der europäischen Gruppe, statt zu ihrer angestrebten Erweiterung auf die gesamte Europäische Gemeinschaft.Das sehr starke Anwachsen ,der Exportüberschüsse auf Rekordmarken ist ja zweifellos ein recht problematisches Geschenk. In ihm spiegelt sich ja nicht nur der immer noch hohe technische und ökonomische Leistungsstand unserer Volkswirtschaft wider, sondern auch die sehr ungesicherte und verhaltene Binnennachfrage
in zahlreichen Branchen der Bundesrepublik und die schwere Krise der mittelständischen Wirtschaft, wo heute die Nachfrage durch das Verhalten der Konsumenten weitgehend fast ausfällt. Die Folge wird bei geringerem Wachstum unter anderem eine weitere Verschärfung des inneren Verteilungskampfes in der vor uns liegenden Zeit sein.Niemand — ich möchte das hier ausdrücklich unterstreichen — wird die schweren Belastungen verkennen, die für die amtliche Politik aus internationalen Entwicklungen der letzten 15 Monate — sie wurden hier bereits eingehend und wiederholt geschildert —, aus der erheblichen Verteuerung der Energie- und Rohstoffpreise und der ungelösten schweren Spannungen im internationalen Währungs- und Handelssystem wie auch aus den ungelösten Fragen der Europäischen Gemeinschaft erwachsen sind. Aber diese Faktoren können nicht als Alibi dienen. Sie heben die entscheidende Frage nicht auf, ob die deutsche Politik ihre Verpflichtungen und Möglichkeiten für eine energische Stabilitätspolitik im nationalen und internationalen Rahmen wirklich umfassend genutzt hat. Die Antwort hierauf fällt nach meiner Überzeugung auch für die letzten zwölf Monate negativ aus.
errungen durch die soziale Marktwirtschaft, errungen durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, vor allem unter Professor Ludwig Erhard, und auch durch eine deutlichere Begrenzung des Verteilungs-
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6210 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Ministerpräsident Dr. Stoltenbergkampfes zwischen den großen sozialen Gruppen auf Grund der stärkeren Beachtung übergreifender gemeinsamer Interessen im Verhalten aller. Heute — genauer gesagt, seit den Jahren 1971/72 — sind wir in den internationalen Geleitzug der Inflation eingeschwenkt. Wir fahren in sich beschleunigendem Tempo mit, sicherlich noch — das ist zutreffend — in der Nachhut, aber ohne einen klaren qualitativen Vorsprung gegenüber unseren wesentlichen Partnern. Denn wie soll man die heute hier auch schon genannten jüngsten Daten, Steigerung der Lebenshaltungskosten von 7,6 % im Monatsvergleich und ungleich gravierender, weil es die Daten der Lebenshaltungskosten von morgen, weitgehend jedenfalls, sind — die Erhöhung der industriellen Erzeugerpreise und der Großhandelspreise um 11,7 % bzw. 13,1 %, anders bewerten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die Bundesrepublik ist keine Insel der Stabilität mehr". Darin wird diese qualitative Veränderung deutlich sichtbar. Daß wir diesen Vorsprung verloren haben — ein entscheidendes und positives Erbe, das 1969 gegeben war —, ist nun nicht ohne eigene schwere Fehler und Versäumnisse geschehen. So muß man es, wie ich glaube, auch verstehen, daß der immer häufigeren Verwendung des Begriffs „Lebensqualität" im Sprachgebrauch der Koalition eine qualitative Verschlechterung der realen Lebensverhältnisse vieler Menschen parallel geht.
Das Stabilitätsprogramm der Bundesregierung vom Frühjahr 1973 wurde zu spät eingeleitet. Es war in einigen Punkten in sich widerspruchsvoll. Einschränkungen für die Wirtschaft und den Bürger zur Nachfrage- und Kostenbegrenzung gingen erneut, wie schon beim ersten erfolglosen Anlauf 1970, parallel mit einer entsprechenden Steigerung der Staatsausgaben und Steuererhöhungen auch aus fiskalischen Gründen, insbesondere der vollkommen verfehlten Anhebung der Mineralölsteuer.Wir glauben, daß unsere damalige Beurteilung der Gesamtpolitik und speziell unsere Kritik an dieser Maßnahme durch die weitere Entwicklung absolut gerechtfertigt ist; denn es kann -- um auch dies zu sagen --- nach vielen Gesprächen mit namhaften Fachleuten des Auslands für mich und andere kein Zweifel daran bestehen, daß die erneute steuerliche Belastung des Mineralöls und seiner Produkte im Sommer 1973 bei uns wie anderen erheblich mit, zu der rücksichtslosen Preiserhöhungspolitik der Erzeugerländer beigetragen hat, die uns in ihren wirtschaftlichen und politischen Folgen jetzt alle so außerordentlich bedrückt.
So wurden die Maßnahmen der Bundesregierung erst im Herbst in einer Zeit beginnender Einbrüche in die Nachfrage und Vollbeschäftigung vor allem in den strukturschwächeren Gebieten — wirksam.Deshalb sah sich die Bundesregierung genötigt, bereits im Dezember wesentliche Teile des erst imFrühsommer beschlossenen Programms aufzuheben.In dieser Phasenverschiebung einer viel zu spät eingeleiteten ernsthafteren Stabilitätspolitik und ihrer Wirkungen liegt der wirklich entscheidende Fehler der letzten Jahre und vor allem der vergangenen 15 Monate. Insbesondere das halte ich für imGrund noch schwerwiegender hat sich die Bundesregierung niemals entschließen können, ihre gesamte Politik kraftvoll und eindeutig auf diese zentrale Aufgabe der Bekämpfung der Inflation auszurichten. Nachfragebeschränkung für die Wirtschaft und die Bürger, die erhöhte Abschöpfung von Einkommen und eine teilweise Stillegung von Mehreinnahmen gingen weiterhin Hand in Hand mit einer raschen Steigerung der staatlichen Ankündigungen, Programme und Aufwendungen in verschiedensten Bereichen.So ist seit 1969 die volle Abstimmung von Konjunktur-, Steuer- und Haushaltspolitik zu keinem Zeitpunkt gelungen. Zweifellos in dieser einen Feststellung stimme ich dem Bundesfinanzminister zu — expandieren die Etats von Bund, Ländern und Gemeinden durch die Inflationsfolgen in weiten Bereichen zwangsläufig.Ich halte auch nicht viel, Herr Kollege Ehrenberg, von den erneut von Ihnen und Herrn Schmidt angestellten beliebten Zahlenspielen, wer in den drei Ebenen seine Ausgaben etwas mehr oder weniger ausweitete. Manches, was hier gesagt wird, ist doch irreführend. Sie haben liebenswürdigerweise ,auf den Etat des Landes Schleswig-Holstein verwiesen und gesagt, unser Etat würde im ist /Soll-Vergleich, im Ist 1973 und im Soll 1974, um 15,8 °/o ansteigen. Es gibt eine entsprechende Aufzeichnung des Bundesfinanzministeriums, deren Sie sich bedient haben.Ich darf Ihnen zur Erläuterung dieser Zahl folgendes sagen. Im Soll /Soll-Vergleich — dieser scheint mir der korrekte zu sein — beträgt das Wachstum 11,80/o. Dein vom Parlament 1973 beschlossenen Etatvolumen steht eine Steigerung im Etatbeschluß dieses Jahres um 11,8 % gegenüber. Wir haben aber im Gegensatz zu Herrn Schmidt im Dezember und Anfang Januar die nicht verausgabten Mittel nicht überplanmäßig verwandt, sondern entsprechend den gemeinsamen Beschlüssen des Finanzplanungs- und Konjunkturrats mehrere hundert Millionen DM beschlossene Ausgaben zurückgehalten.Das war im Sinne der gemeinsamen Bemühungen um Stabilitätspolitik. Deshalb haben wir gegenüber dem Haushaltssoll 1973 ein Ist von 4 % weniger —ein stabilitätsgerechtes Verhalten. Der Bundesfinanzminister hat dagegen eben bestätigt, er habe seine Ermächtigungen bis zur letzten Million ausgenutzt. Aus diesem stabilitätsgerechteren niedrigeren Ist ergibt sich rechnerisch ein höheres Soll. Aber, verehrter Herr Kollege Ehrenberg, das können Sie nun selbst oder gerade im Kreis von Fachleuten doch nicht mehr als ein konjunkturpolitisches Argument fegen die Länder verwenden, ganz abgesehen davon, daß die breitere Bevölkerung es Ihnen sowieso nicht abnimmt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6211
Ministerpräsident Dr. StoltenbergSolang.— dies darf ich hinzufügen — erneut, wie in den letzten Wochen vor unseren Kommunalwahlen, Mitglieder der Bundesregierung die Länder öffentlich auffordern, mit großen Schlagzeilen in der regionalen Presse, zusätzliche Mittel für wichtige Aufgaben in ihre eben beschlossenen Haushalte einzustellen, um bestimmte Zuschüsse aus Bonn zu erhalten, ist die wiederholte Kritik anderer Mitglieder dieses Kabinetts an angeblich oder wirklich zu hohen Zuwachsraten der Länderhaushalte doch wirklich nicht mehr eindrucksvoll.
Herr Dr. Ehrenberg zu einer Zwischenfrage.
Herr Ministerpräsident, würden Sie mir bestätigen, daß ich ausdrücklich erklärt habe, daß ich die Zuwachsraten dieser Bundesländer nicht für zu hoch halte, weil ich von den öffentlichen Aufgaben und ihrer Notwendigkeit überzeugt bin, und daß ich mich lediglich dagegen verwahrt habe, daß Herr Strauß nur die Zahlen des Bundes und nicht die der Länder sieht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bestätige es Ihnen gerne. Aber die entsprechenden Ausführungen des Herrn Bundesfinanzministers klangen schon etwas anders, und ich habe mich auf Sie beide bezogen — um das nur noch zur Verdeutlichung zu sagen.Aber mir lag daran — und ich glaube, daß hier das geeignete Forum auch für den Dialog zwischen Ländern und Bund ist —, einmal die Problematik der ganzen Zahlenvergleiche klarzumachen. Ich vermute, daß dies auch insofern eine wichtige Information war.Es geht hier aber, um das ganz deutlich zu sagen, um eine viel grundlegendere und ernstere Frage: ist die Bundesregierung angesichts ihrer zentralen Verantwortung für Stabilität und Wirtschaft nunmehr bereit, den von ihr ständig erweiterten Erwartungshorizont vieler Menschen und großer Verbände auf rasche weitere Expansion der Staatsleistungen in fast allen Gebieten deutlich einzuschränken, oder nicht? Wird endlich die fehlende Übereinstimmung zwischen Aufgaben und Sachplanung einerseits und Finanzplanung andererseits unter dem beherrschenden Ziel der Inflationsbekämpfung erreicht? Ich verweise darauf, daß dies ein mehrfach und dringend geäußerter Wunsch aller Länder, insbesondere der Konferenz ihrer Finanzminister ist, der bisher noch nicht den wünschenswerten Erfolg hatte.Die Wirklichkeit ist doch etwas anders, als sie Herr Schmidt hier gezeichnet hat, in der Frage des Drängens auf Expansion der öffentlichen Leistungen. Ob es die Bund-Länder-Beratungen über den Bildungsgesamtplan waren, dessen erste Stufe der Realisierung — ich teile hier die Bedenken des Bundesfinanzministers — offenbar mehr aus einer Besoldungsneuordnung als einer wirklichen Bildungsreform bestehen soll, oh es die Debatten über Strafvollzug, innerstädtischen Verkehr, Gesundheitswesen, Stadterneuerung und viele andere große und wichtige Themen waren, immer wieder haben wir uns als Bundesrat oder Mehrheit des Bundesrats in dem ernsthaften Bestreben nach solider, finanziell abgesicherter Planung öffentlich den Vorwurf der angeblichen politischen „Bremser" machen lassen müssen. Der Herr Bundesfinanzminister, der leider nicht mehr da ist ich hätte es ihm gerne selbst gesagt —, stellt die Dinge hier wirklich auf den Kopf, wenn er diesen grundlegenden Sachverhalt bestreitet, daß die Kräfte nach Expansion, nach Erweiterung der Erwartungshorizonte der Menschen, nach nichtkoordinierten Versprechungen im wesentlichen aus dem Lager seiner politischen Freunde gekommen sind und wir in unendlich vielen Beratungen die Gesichtspunkte der finanzpolitischen Solidität vertreten mußten.
Wenn die Gesetze — sehr oft auf dem Wege des Kompromisses zwischen Bundestag und Bundesrat , die gemeinsamen Bund-Länder-Planungen verabschiedet wurden, dann mußten sich die Länder und Gemeinden bei der finanziellen Realisierung vorwerfen lassen, sie würden zuviel Geld ausgeben und nicht stabilitätskonform sein. Aber ich unterstreiche hier noch einmal, was gesagt wurde: insbesondere sinkt der Anteil der öffentlichen Investitionen an den staatlichen Gesamtausgaben ab. Das ist ein schwerwiegender Sachverhalt, der auch durch Bezugnahme auf das Sozialprodukt nicht überdeckt werden kann. Nur so — ich sage das ausdrücklich, auch für meinen Finanzminister — ist natürlich die von Herrn Schmidt in die politische Diskussion eingeführte Stellungnahme des Finanzplanungsrates zu verstehen.Bei absinkenden öffentlichen Investitionen im Verhältnis zur Entwicklung der Gesamtausgaben ist es notwendig --- und dies insbesondere in den von Erwerbslosigkeit bestimmten Problemgebieten die vorgesehenen Mittel in diesem Jahr auszufahren. Diese Meinung teile ich. Aber Herr Schmidt würde unsere Absichten mißdeuten, wenn er aus dieser Formulierung eine allgemeine Zustimmung zur Haushaltsgestaltung oder den mit ihr verbundenen politischen Inhalten seiner Politik herleiten wollte.
Hier in diesem Bereich ist die Führungsaufgabe der Bundesregierung gefragt. Solange sie und vor allen Dingen die sie tragenden politischen Kräfte das Tempo der Expansion der Staatsaufgaben und -ausgaben --- und hier vor allem im konsumtiven Bereich --- weiter beschleunigen, muß sie die Verantwortung für die finanziellen Folgen und die negativen stabilitätspolitischen Wirkungen auf allen drei Ebenen mit übernehmen. Wenn sie sich, was ich für richtig 'halte, zu einer grundlegenden Korrektur entschließt, kann sie mit Recht auch von den anderen Verfassungsorganen und sicher das ist hier von Herrn Abgeordneten Strauß schon gesagt staatspolitisch gesehen, auch von der parlamentarischen Opposition erwarten, daß sie bei ihren finanzwirksamen Initiativen mehr Zurückhaltung üben.
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6212 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Ministerpräsident Dr. StoltenbergIch erkläre hier ausdrücklich nicht nur für das Land Schleswig-Holstein, sondern auch im Einvernehmen mit meinen Kollegen in anderen von der Union regierten Ländern: Wir sind bereit, mit der Bundesregierung und, wenn es gewünscht wird, auch mit den politischen Kräften des Bundestages in konkrete Erörterungen über die Möglichkeit einer Entlastung der nächsten Haushalte einzutreten. Wir sind darüber im klaren, daß auch unsere Initiativen in diese Betrachtung einbezogen werden müssen. Aber der erste Schritt muß auf Grund der gegebenen Verantwortungen eindeutig von der Bundesregierung kommen.Die fehlende Abstimmung von wichtigen Entscheidungen mit den wirtschafts- und finanzpolitischen Erfordernissen ist in letzter Zeit besonders an den umstrittenen Grundsatzbeschlüssen des Kabinetts zur beruflichen Bildung sichtbar geworden. Der Jahreswirtschaftsbericht widmet ja auch diesem wichtigen Thema ausdrücklich einige Absätze, freilich in sehr allgemeinen Feststellungen, die in sich keine großen Meinungsverschiedenheiten hervorrufen dürften. Aber die entscheidenden Fragen bleiben offen: Ist es in einer Zeit, in der die Bundesregierung gemeinsam mit uns die ständige Personalvermehrung im öffentlichen Dienst abbremsen möchte, wirklich zu rechtfertigen, in einer neuen Konzeption einige tausend zusätzliche Planstellen ohne zwingenden Grund vorzusehen?
War es wirklich unumgänglich, ohne befriedigende Beratung mit den Ausbildungsbetrieben und ihren Vertretungen wie auch den Ländern, die ja verfassungsrechtlich voll verantwortlich für das berufliche Schulwesen sind, Vorschläge auf den Tisch zu legen, die ganz ungewöhnliche Spannungen hervorrufen und die von der Inflation hart getroffene mittelständische Wirtschaft schnell mit massiven Kosten belasten würden? Der problematische Entwurf der Koalition wird hier wie auch in anderen Bereichen, zumal in der politischen Diskussion, mit noch wesentlich radikaleren Forderungen aus dem Lager der sie tragenden Kräfte begleitet. Diese ständige Begleitmusik — das muß man völlig klar zur psychologischen Lage in unserem Lande sehen vergrößert die Spannungen und die Sorgen noch weiter. Der starke Rückgang an Ausbildungsplätzen, die Sorge vieler junger Menschen, eine ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprechende Möglichkeit zu erhalten, beruhen nicht nur auf wirtschaftlichen Strukturveränderungen, wie die Bundesregierung betont, sondern auch auf diesen politischen Fehlern.
An diesem Beispiel der letzten Wochen und Monate, meine Damen und Herren, wird erneut ganz deutlich und klar, wie dringend wir eine einheitlichere, von schweren Widersprüchen freie Gesamtpolitik brauchen, eine wirksamere Abstimmung von Bund und Ländern im gemeinsamen Verantwortungsbereich, aber auch mit den betroffenen Gruppen und Menschen.
Eine Neuordnung der politischen Zielenwird aber auch durch die wachsenden Steuerlasten füi breite Schichten der Bevölkerung mit ihren schweren negativen Folgen für das wirtschaftliche und soziale Klima in unserem Lande ganz unumgänglich. Die Forderung einer Verminderung der ständigen, inflationsbedingten Steuererhöhungen ist durch die bitteren Erfahrungen der Bundesregierung und der öffentlichen Hände an der Tariffront ebenso bestätigt wie durch die beunruhigende Verschlechterung der Lage Hunderttausender von mittelständischen Betrieben, vieler Selbständiger.Mit dem Ansteigen der allgemeinen Steuerlastquote auf über 25 % verbinden sich ganz gefährliche strukturelle Veränderungen wie vor allem die steile Erhöhung der Lohnsteuereinnahmen, absolut und relativ im Verhältnis zur Gesamtsteuerquote. Es kann doch niemandem gleichgültig sein und wird niemanden gleichgültig lassen, wenn heute die Arbeitnehmer fast 50 % des Zuwachses an Lohnsteigerungen durch Steuern und Sozialabgaben wieder abführen müssen gegenüber über rund 30 % im Jahre 1970. Am wenigsten kann das eine Bundesregierung gleichgültig lassen, die ihre Arbeit 1969 mit dem feierlichen Versprechen auf schnelle Entlastungen für den Arbeitnehmer und den Mittelstand in diesem Bereich begann.
Hier liegt ich will Ihnen meine Beurteilungnicht vorenthalten — eine der wichtigsten Ursachen für die schwere Niederlage der Regierung, und ich füge hinzu: der öffentlichen Hände insgesamt bei der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst vor wenigen Wochen. Niemand verkennt die großen Schwierigkeiten für die Finanzminister, den Etat auszugleichen. Aber ich bleibe auch nach den Ausführungen von Herrn Schmidt dabei: In der Abwägung der Gesichtspunkte wäre es richtiger gewesen, die Kreditaufnahme zu erhöhen, bestimmte Einsparungsmöglichkeiten zu ergreifen, als das Scheitern der Stabilitätspolitik in einem von der Bundesregierung zu Recht als entscheidend und folgenschwer bezeichneten Sektor hinzunehmen.Im übrigen wissen wir, daß die rein statistischen Betrachtungen über Steuerausfälle, die der Herr Bundesfinanzminister hier angefügt hat, volkswirtschaftlich gesehen nicht voll aussagekräftig sind und nicht genügen. Die weit über die vom Kabinett als stabilitätspolitisch vertretbar bezeichnete Grenze anschwellende Lohnbewegung dieses Jahres wird die Steuerkraft unserer Wirtschaft erheblich reduzieren. Die Gewinne, die der Staat mit weiteren Mehreinnahmen aus dieser Entwicklung durch die Lohnsteuer zieht, können wir sehr schnell gemeinsam, Bund und Länder, bei den gewinnabhängigen Steuern eventuell auch der Umsatzsteuer, wieder verlieren.Meine Damen und Herren, zu den Ausführungen des Herrn Bundesfinanzministers zur Steuerreform möchte ich nur ganz klar sagen: Wir, die CDU/CSU- regierten Länder, sind alle gemeinsam — in Übereinstimmung mit dem, was hier für die Fraktion gesagt wird — für den Abbau der inflationsbedingten Steuererhöhungen. Natürlich müssen sich in der Dis-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974 6213
Ministerpräsident Dr. Stoltenbergkussion Einzeltermine und Einzelbegründungen ändern. Das ist der Sinn der hier gebrachten Zitate. Natürlich ist der 1. Januar 1974 nicht mehr realistisch. Selbstverständlich ist die Argumentation mit der Wirkung auf die Lohnerhöhungen bis Januar und Februar durch Zeitablauf überholt. Aber aus dieser Diskussion über die aktualisierte Begründung einen Gegensatz zwischen uns konstruieren zu wollen — das wird Ihnen nicht gelingen.
Er wird — ich sage das mit allem gebotenen Nachdruck — keine Steuergesetzgebung geben — ob sie den anspruchsvollen Namen Steuerreform verdient, bleibt ohnehin abzuwarten —, in der es nicht zu einer spürbaren Entlastung der unteren Einkommensgruppen von den ständig steigenden inflationsbedingten Steuererhöhungen kommt.
Lassen Sie mich zu diesem Gesamtthema noch folgendes sagen. Die Frage der Bemessung der Staatsausgaben in der mittel- und langfristigen Perspektive: Neue im einzelnen durchaus zu begründende soziale Leistungen werden von den Menschen immer stärker als fragwürdiges Geschenk empfunden, wenn die dreifache Wirkung — die schreckliche Kombination von Inflation, Restriktion und wachsender Steuerquote — zu einer unerträglichen Last wird.Das ist nicht ein nationales deutsches Problem — das ist vollkommen richtig —; aber es ist auch ein deutsches Problem, und es ist einer der wesentlichen Gründe — das möchte ich denen, die sich jetzt verständlicherweise sehr genau um Wahlanalysen bemühen, als meine Meinung sagen — für die tiefgreifende politische Klimaveränderung in der Bundesrepublik Deutschland, die wir jetzt erleben, wenn auch keineswegs der einzige.Die politischen und ökonomischen Erfahrungen anderer Länder, die perfektionistische Wohlfahrtsund Versorgungssysteme mit zu hohen Lasten für die Menschen bezahlten, sollten uns alle zu einer kritischen Selbstprüfung veranlassen, kritischer als die Fragestellung, ob in Italien die Christlichen Demokraten regieren und in Norwegen die Sozialdemokraten. Das ist nicht die Fragestellung, wobei ich Herrn Schmidt nur sagen möchte, in Italien regieren beide, die Christlichen Demokraten mit zwei sozialistischen Parteien. Ob es das in Zukunft auch bei uns gibt, wissen wir nicht; so weit will ich die Analogie nicht treiben. Aber da sind beide Gruppierungen des sozialdemokratisch-sozialistischen Lagers beteiligt. Das ist nicht das Problem. Es ist ein internationaler Vorgang, der uns voll in seinen Wirkungen erfaßt. Wir haben alle Veranlassung, uns mit der Reaktion der Menschen etwa in den dänischen Wahlen auch in der Bundesrepublik Deutschland sehr ernsthaft auseinanderzusetzen.
Aber, meine Damen und Herren, die Lehren aus dem gescheiterten Versuch der Bundesregierung
— entschuldigen Sie einen Augenblick, Herr Ehrenberg —, die Einkommenspolitik ausgehend vom öffentlichen Dienst in ihre Stabilitätspolitik einzubeziehen, sind nach meiner Überzeugung noch fundamentaler. — Bitte sehr!
Herr Abgeordneter Ehrenberg.
Herr Ministerpräsident, in voller Würdigung und Unterstreichung dessen, was Sie vorhin gesagt haben: Würden Sie mir bestätigen, daß es gerade um der Durchsichtigkeit dieser Zusammenhänge willen nützlich wäre, wenn auch die parlamentarische Opposition in diesem Hause aufhörte, so zu tun, als ob allein die Bundesregierung mit den Preissteigerungen etwas zu tun hätte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrter Herr Kollege Ehrenberg, ich muß zwei Dinge darauf sagen. Erstens bringen Sie mich natürlich in Verlegenheit, wenn Sie mich als Mitglied des Bundesrates auffordern, hier die Haltung einer Fraktion so umfassend zu behandeln. Zweitens möchte ich — wenn ich das doch kurz tue — darauf verweisen, daß nach meiner Erinnerung der Kollege Strauß ausdrücklich das Thema der importierten Inflation in seiner Bedeutung hervorgehoben hat. Ich möchte mich aber auf Grund meiner Funktion auf diese kurze Bemerkung beschränken.Die Lehren aus dem gescheiterten Versuch, die Tarifpolitik zu integrieren, sind noch grundlegender. Es bestätigt sich, wie berechtigt die jahrelang dringend erhobene Forderung war, das Stabilitätsgesetz endlich ernst zu nehmen und anzuwenden. Ich meine hier nicht die Diskussion über diese oder jene Einzelbestimmung, sondern die Philosophie dieses Gesetzes, seine tragenden Grundgedanken, von denen wir einmal gemeinsam in den ausgehenden sechziger Jahren ausgegangen sind, als wir es verwirklicht haben.
Ich denke hier vor allem an Artikel 3, die Forderung, ja, den Gesetzesbefehl, um es ganz klar zu sagen, nach einem gleichzeitigen aufeinander abgestimmten Verhalten der Gebietskörperschaften, der Gewerkschaften, Unternehmensverbände zur Erreichung der Ziele dieses Gesetzes und der eindeutigen Verpflichtung für die Bundesregierung, Orientierungsdaten hierfür vorzulegen. Diesen gesetzlichen Auftrag hat die Bundesregierung in den ersten Jahren nach 1967 umfassend und wirksam erfüllt, seit 1969 von Jahr zu Jahr jedoch zunehmend schwächer und unvollkommener. Namhafte Mitglieder des Kabinetts, vor allem der Herr Bundesfinanzminister, haben in den letzten Monaten öffentlich erklärt, sie hielten klare Orientierungsdaten in der Einkommenspolitik nicht für zweckmäßig, ja, für schädlich. Darüber kann man in einer theoretischen Diskussion verschiedener Meinung sein. Für ein Mitglied der Bundesregierung ist dies aber keine Frage der Opportunität, sondern der Handhabung eindeutiger gesetzlicher Verpflichtun-
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6214 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 92. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. März 1974
Ministerpräsident Dr. Stoltenberggen. Lassen Sie mich das mit der gebotenen Offenheit hier sagen.
Die Philosophie des Stabilitätsgesetzes und diese zentrale Bestimmung sind von den Grundsätzen der sozialen Partnerschaft, der Eingrenzung sozialer Konflikte, nicht etwa ihrer Unterdrückung, wie manche radikalen Kritiker zunehmend meinen, und deshalb der Entwicklung von Regeln für das Austragen von Konflikten und die Entscheidungsfindung bestimmt. So sollen die Tariffreiheit und ganz allgemein die Freiheiten als bestimmendes Prinzip eines modernen Rechtsstaates durch soziale Bindung gesichert werden. Nicht ein rücksichtsloser Verteilungskampf, sondern die ständige Abwägung der legitimen konkurrierenden Einzelinteressen mit den übergreifenden gemeinsamen Zielen sind das Merkmal dieser aufgeklärten Martkwirtschaft, die in diesem Gesetz konzipiert wurde. Die wissenschaftlichen Aussagen der Sachverständigen und der Institute —die man auch hören muß, wenn sie einem unbequem sind, und die man hören muß, ohne dann mit dem Entzug der Geldmittel zu drohen —, ein kraftvolles Handeln der Regierung, wirksam verzahnt mit der Geldpolitik der Bundesbank, und der offene, aber objektivierte und an Regeln gebundene Dialog der großen Verbände untereinander sowie mit der Regierung sind die Fundamentalsätze dieses Gesetzes, unverzichtbare Voraussetzung für verstetigtes Wachstum, für mehr Vollbeschäftigung und mehr Stabilität.Es ist uns allen klar, meine Damen und Herren, daß diese Normen in der harten politischen und sozialen Wirklichkeit immer nur annäherungsweise erreicht werden. Aber das Wollen dieser Regierung und vor allem der sie tragenden politischen Kräfte ist auch in diesen prinzipiellen Fragen undeutlicher geworden. Die übersteigerten Konfliktideologien der neuen Linken haben gerade im politischen Lager der Koalition starke negative Wirkungen im Hinblick auf die politischen und psychologischen Voraussetzungen einer Stabilitätspolitik gehabt.
Ich glaube, daß das eine notwendige und auch durch viele kritische Äußerungen aus dem Lager der Regierungsparteien selbst bestätigte Feststellung ist. Sicher — ich möchte das ausdrücklich sagen — sind diese Ideologien kein Teil der amtlichen Regierungspolitik, aber ihre hemmenden und desintegrierenden Wirkungen werden in den Mißerfolgen mancher staatlicher Bemühungen ganz unübersehbar.Unmittelbar wirkt eine zweite starke Zeitströmung auf die amtliche Politik ein, die ständige institutionelle Stärkung gesellschaftlicher Gruppen auf Kosten des Staates, aber teilweise auch auf Kosten der einzelnen. Das ist ja einer der kritischen Punkte etwa im Zusammenhang mit der Mitbestimmungsdiskussion, die jetzt beginnt. Dies setzte ein in der Hochschulgesetzgebung der ausgehenden 60er Jahre, überwiegend mit recht enttäuschenden Ergebnissen, und breitet sich nun in anderen Bereichen aus. Der Ausbau von Machtpositionen gesellschaftlicherGruppen einerseits, die in ihrer eigenen inneren Struktur der Meinungsbildung nicht immer ganz den Idealen von „mehr Demokratie" entsprechen, und die wachsende Neigung zum Kurs des betonten Konflikts andererseits sind in ihrer Verbindung eine außerordentliche Gefahr für das Funktionieren einer freiheitlichen Wirtschafts- und Staatsordnung. In den nächsten Jahren wird deshalb die Frage nach der Sozialpflichtigkeit der Verbände dieselbe Bedeutung haben wie die nach der sozialen Bindung des Eigentums.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Abschluß folgendes sagen. Notwendig ist das volle Ausschöpfen der vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten für wirtschaftliche und politische Stabilität, eine institutionelle Stärkung des Staates, seine Entschlossenheit, im Vertei]ungs- und Gruppenkampf entschiedener für das allgemeine Wohl einzutreten. Daraus ergeben sich viele Konsequenzen, von der Handhabung des Stabilitätsgesetzes, seiner weiteren Ausgestaltung, der Anwendung des Wettbewerbsrechts bis hin zur Neuordnung des öffentlichen Dienstrechts und der Hochschulgesetzgebung. Spätestens seit dem Debakel bei den Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst sollte dieser Zusammenhang zwischen der Konjunkturpolitik und der allgemeinen Verfassungsentwicklung jedermann deutlich geworden sein.Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal unterstreichen: konkrete Folgerungen für den öffentlichen Dienst aus der letzten Tarifrunde sind nach meiner Überzeugung unvermeidlich. Ich kann hier auch sagen, daß die Regierungschefs von Bund und Ländern in den ersten Debatten diese Frage grundsätzlich einvernehmlich beurteilt haben. Es geht nicht um die Aufhebung der Tariffreiheit, aber es muß zumindest sichergestellt werden, daß die öffentlichen Hände in einer für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die Stabilitätspolitik der Regierung so schicksalhaften Frage nur gemeinsam verhandeln und abschließen können. Es kann nicht so sein, daß durch die getrennte Zuständigkeit der drei Ebenen Städte wie Bremerhaven, Frankfurt oder Hannover die Markierung für die Einkommenspolitik eines Jahres ohne Rücksicht auf alle anderen Tatbestände setzen.
Ich möchte deshalb die Bundesregierung bitten, ihre Vorschläge bald zur öffentlichen Diskussion zu stellen, wie dieses Zusammenwirken und gemeinsame Vorgehen der drei öffentlichen Hände institutionell gesichert wird, und wir sind gegebenenfalls bereit, unsere eigenen Vorstellungen in den Bundesrat und von dort aus in den Bundestag einzubringen.
Die Entwicklung einer neuen konkreten und stabilitätspolitischen Konzeption ist heute außerordentlich schwierig geworden. Alle Bemühungen der Bundesbank, die restriktive Geld- und Kreditpolitik durchzuhalten, der Bundesregierung um eine einiger-
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Ministerpräsident Dr. Stoltenbergmaßen wirksame außenwirtschaftliche Absicherung und sogar künftige denkbare bessere Ergebnisse in der Verbindung von Fiskalpolitik mit Konjunkturpolitik blieben wirkungslos, wenn es nicht zu einer erfolgreicheren Konzertierten Aktion im Sinne von Artikel 3 kommt. Die Bundesregierung wird sich dieser Aufgabe neu stellen müssen. Dabei ist neben der Ablehnung der vorgezogenen Steuerentlastungen die fehlende Verbindung einer Politik der Vermögensbildung mit den Lohnverhandlungen ein besonders bedauerliches Versäumnis der letzten 15 Monate. Wir werden auch hier unsere Vorstellungen erneut zur Debatte stellen.Klarheit über die umfassenden Ziele der Regierung habe ich aus ihren bisherigen Darlegungen heute nicht gewinnen können, vor allem nicht hinsichtlich der Frage, ob sie entschlossen und gewillt ist, ihre Gesamtpolitik in allen Bereichen mittelfristig auf das beherrschende Ziel der Wiedergewinnung der Stabilität einzustellen. Denn dies ist in der Tat jetzt nicht eine Frage von sechs oder zwölf Monaten, es bleibt das große Thema der nächsten Jahre, wahrscheinlich der nächsten drei bis fünf Jahre. Aber gerade deshalb ist diese Anstrengung notwendig und diese umfassende Aussage wichtig. Denn wir können punktuelle, einzelne Probleme nur beurteilen, wenn wir die Gesamtrichtung der Regierung kennen.Es gibt gute Gründe für die Bundesbank, ihre Geld- und Kreditpolitik fortzusetzen. Aber die wachsenden Härten aus diesem Bereich sind nur dann vertretbar, wenn diese Politik Teil einer umfassenden und konsequenten Gesamtstrategie unter Federführung des Kabinetts ist.
Wenn dies alles, meine Damen und Herren, Dauerlasten ohne Stabilitätserfolg werden, dann muß man sagen, daß die Existenzgefahr für den Mittelstand, für die freien Berufe und für die neuen Mittelschichten immer größer wird, abgesehen von der anhaltenden Gefahr für die Arbeitsplätze und den Sorgen der sozial Schwachen.Eine konsequente Stabilitätspolitik schließt regionale Differenzierung nicht aus, im Gegenteil, ich bin sogar davon überzeugt, daß eine rechtzeitige und wirksame regionale Differenzierung die Durchhaltekraft, das Durchhaltevermögen einer konsequenten Stabilitätspolitik verstärkt.
Denn auch in diesem Winter war es so, daß die ersten regionalen Einbrüche, die wir ja in den verschiedenen schwachen Bereichen der Bundesrepublik gemeinsam beklagt haben, in Bonn sofort in voller Härte die Frage stellen ließen, ob man die globalen Maßnahmen aufrechterhalten wollte. Regionale Dif ferenzierung kann, richtig verstanden, eine Verstärkung der politischen Durchsetzungskraft einer konsequenten Stabilitätsstrategie sein.
Ich freue mich, daß Herr Ehrenberg dem ausdrücklich zustimmt. Wir und viele andere in allen Fraktionen des Hauses haben dieselben regionalenErfahrungen und Probleme. Ich habe deshalb auch die Bitte, daß der Bundestag doch den mit sehr großer Mehrheit verabschiedeten Gesetzentwurf des Bundesrats zur Frage der Regionalisierung behandeln möge. Er mag andere Vorstellungen entwickeln, dieser Gesetzentwurf mag verbesserungsbedürftig sein — das alles ist möglich —, aber er sollte nicht durch einen Vertagungsbeschluß in den Ausschüssen unerledigt bleiben.Das Gesamturteil über die Stabilitätspolitik und die Lage hat ein wissenschaftliches Institut in diesen Tagen wie folgt formuliert — mit diesem Zitat möchte ich schließen —:Wer die Dinge nüchtern sieht, kann nicht umhin, zu konstatieren, daß die Stabilitätspolitik eine wichtige Schlacht verloren hat. Gleichwohl: Würden die verantwortlichen Instanzen jetzt den Kampf gegen die Inflation aufgeben, so wären nicht nur für die unmittelbare Zukunft höhere Preissteigerungsraten, sondern mittelfristig auch höhere Arbeitslosenzahlen vorprogrammiert.Was fehlt ist eine Stabilitätspolitik, die glaubwürdig ist. Denn jedes Stabilisierungsprogramm ist zum Scheitern verurteilt, wenn die politischen Instanzen schon bei seiner Ankündigung erkennen lassen, daß sie es im Konfliktfall nicht durchstehen wollen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Rawe.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Ich bitte um Nachsicht, wenn ich zu dieser Zeit zur Geschäftsordnung das Wort nehme. Aber wir müssen beklagen, daß in zunehmendem Maße von den Mitgliedern der Bundesregierung gegenüber diesem Hohen Hause ein Verhalten an den Tag gelegt wird, das wir rügen müssen.
So haben wir gerade wieder erlebt, daß der Bundesminister der Finanzen, nachdem er hier in einer sehr polemischen Rede nicht nur Mitglieder dieses Hohen Hauses, sondern auch des Bundesrates verunglimpft hat,
im Anschluß daran sofort das Haus verlassen hat.
Wir meinen, das Parlament kann sich eine solche Brüskierung nicht gefallen lassen.Ich stelle deswegen den Antrag nach § 46 der Geschäftsordnung, den Bundesminister der Finanzen zu dieser Sitzung herbeizurufen. Meine Damen und Herren von der Koalition, ich würde Sie herzlich bitten, diesem unserem Antrag zuzustimmen, damit dieses Mißverhalten des Herrn Bundesministers der
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RaweFinanzen gegenüber diesem Parlament in der richtigen Weise gerügt wird.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hat am frühen Nachmittag eine Redeverpflichtung bei einer Betriebsversammlung in Hamburg.
— Ich will dem Bundestag ja nur sagen, daß der Finanzminister nicht weggegangen ist, weil er an der Diskussion kein Interesse hat,
sondern er konnte, als er diesen Termin in Hamburg vereinbarte, nicht wissen, daß ■die Sitzung —
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, dem Herrn Staatssekretär die Möglichkeit zu geben, den Standpunkt seines Ministers darzulegen.
Er ist mit dem Flugzeug schon unterwegs, und selbst wenn der Bundestag jetzt beschließen sollte, daß er herbeigerufen wird, stehen objektive Gründe entgegen. Er kann nicht mehr kommen. Ich bitte um Verständnis dafür.
Meine Damen und Herren, ,der Antrag wird aufrechterhalten.
— Einen Augenblick! Ich muß zunächst einmal feststellen, ob er überhaupt ausreichend unterstützt wird. Wenn er nämlich nicht ausreichend unterstützt wird, brauchen wir uns überhaupt nicht mehr darüber zu unterhalten. Wenn er ausreichend unterstützt wird, wird sofort das Wort dagegen gegeben.
Wer unterstützt den Antrag von Herrn Rawe bei der Einbringung? — Das ist ausreichend.
Ich erteile nunmehr das Wort dem Abgeordneten Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion widerspricht diesem Antrag und wird ihn ablehnen.
Ich stehe nicht an zu sagen, daß die Fraktion diesen Antrag deswegen ablehnt, weil § 46 inhaltlich und dem Sinne nach mit dem, was Sie hier wollen, nicht in Beziehung steht.
Meine persönliche Bemerkung: Über Art und Sache des Disputes und der Debatte zwischen Mitgliedern der Regierung und dem Bundestag kann auf eine andere Weise gesprochen und auch entschieden werden, aber nicht mit Hilfe des § 46.
Meine Damen und Herren, es ist dafür und dagegen gesprochen worden.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag auf Herbeirufung des Bundesministers der Finanzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe.
— Meine Damen und Herren, ich muß die Abstimmung wiederholen lassen. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben.
Ich bitte um die Gegenprobe.
— Die Meinungen im Sitzungsvorstand über die Mehrheit gehen auseinander. Wir müssen auszählen. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen. Ich bitte die Schriftführer, sich zu den Türen zu begeben.
Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen, damit ich das Ergebnis der Auszählung bekanntgeben kann.
Ich bitte, Platz zu nehmen und die Ruhe zu bewahren.
Mit Ja haben 99, mit Nein 113 Mitglieder des Hauses gestimmt. Enthalten hat sich niemand. Insgesamt sind es 212 Stimmen. Da die Berliner Abgeordneten stimmberechtigt sind, wären 260 Stimmen erforderlich. Ich stelle fest, daß das Haus nicht beschlußfähig ist.
Meine Damen und Herren, damit vertage ich auf Mittwoch den 24. April 1974, 13 Uhr und entlasse Sie mit den besten Wünschen zum Osterfest.
Die Sitzung ist geschlossen.