Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir gedenken unseres Kollegen Dr. Klaus Dieter Arndt, der am 29. Januar kurz vor Vollendung seines 47. Lebensjahres nach einer schweren und heimtückischen Krankheit in Berlin gestorben ist.Dr. Arndt gehörte dem Deutschen Bundestag seit 1965 als Abgeordneter seiner Heimatstadt Berlin an, in der er schon als Bezirksverordneter und später als Mitglied des Abgeordnetenhauses parlamentarische Erfahrungen gesammelt hatte.Schon bald nach seinem Eintritt in den Bundestag rückte er in die vordersten Reihen seiner Fraktion auf; im April 1967 wurde er zum Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft ernannt. Dort hat er ebenso wie in seiner Arbeit hier im Hause maßgeblichen Anteil an der Formulierung einer Wirtschaftspolitik gehabt, die darauf gerichtet war, die Erkenntnisse der modernen Wirtschaftswissenschaft in die Praxis umzusetzen, die den Menschen ein Mehr an sozialer Sicherheit, Fortkommens- und Freiheitschancen bringen soll.Dr. Arndt ist Mitglied einer Reihe von Ausschüssen gewesen, und er war Mitglied des Europäischen Parlaments. Seit 1968 war er Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Schließlich hat ihm seine Fraktion das Amt eines stellvertretenden Vorsitzenden anvertraut. In der hohen Stimmenzahl, die er bei dieser Wahl erhielt, drückt sich das große Vertrauen aus, das er sich als Mensch, als Politiker und als hervorragender Wirtschaftsfachmann in seiner Fraktion erworben hatte.Wir nehmen Abschied von einem Manne, in dem sich auf eine selten glückliche Weise die analytischen Fähigkeiten des Wissenschaftlers mit den Begabungen und Erfahrungen des Praktikers vereinten, der Augenmaß für das Notwendige wie für das politisch Mögliche, Tatkraft und Überzeugungsfähigkeit besaß. Seine menschlichen Gaben, sein soziales Engagement und fachliches Können haben ihm hohes Ansehen eingetragen und auch den Respekt derjenigen, die andere Standpunkte vertreten. Sein Tod ist für dieses Parlament ein schmerzlicher Verlust.Ich spreche den Angehörigen des Verstorbenen und der Fraktion der SPD das aufrichtige Beileid des ganzen Hauses aus.Wir haben noch einen anderen Toten zu beklagen. Gestern ist unser früherer Kollege Dr. Adolf Arndt nach langem schwerem Leiden gestorben. Im Namen des Deutschen Bundestages habe ich an die Witwe des Verstorbenen folgendes Telegramm gesandt:Adolf Arndt war 20 Jahre — von 11949 bis 1969 — Mitglied des Deutschen Bundestages. Er zählte zu den ersten, die dem Wiederbeginn des parlamentarischen Lebens in Deutschland entscheidende Impulse gegeben haben. Seit 1949 haben die Mitglieder des deutschen Parlamentes, die Regierenden und die Bevölkerung seine Stimme mit Aufmerksamkeit und Hochachtung gehört. Er war davon überzeugt, daß das Recht eine unverzichtbare Forderung an die Politik ist. Er hat leidenschaftlich für diese Gewißheit gekämpft. Er war ein Mann, dessen Argumente in der politischen Auseinandersetzung die Schwächen bloßlegten, ohne den Gegner zu verletzen. Denn sein Leben beruhte auf der christlichen Nächstenliebe.Adolf Arndt hat in zahllosen Beiträgen in Wort und Schrift geholfen, daß der Auftrag des Grundgesetzes, einen sozialen Rechtsstaat zu schaffen, erfüllt werde. Hinter jedem seiner Worte stand er mit seiner ganzen Person, auch dann, wenn er vorher wußte, daß er damit allein bleiben werde. Den Deutschen Bundestag hat er entscheidend mitgeprägt und ihm als herausragende Persönlichkeit Gesicht gegeben. Alle, für die parlamentarische Demokratie Verpflichtung und Aufgabe ist, trauern um einen vorbildlichen Mann.Ich danke Ihnen.Meine Damen und Herren, für den verstorbenen Abgeordneten Dr. Arndt ist am 2. Februar 1974 die Abgeordnete Frau Grützmann in den Bundestag eingetreten. Ich begrüße die neue Kollegin sehr herzlich und wünsche ihr erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.
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5002 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Präsident Frau RengerIch habe noch die Freude, Glückwünsche zu Geburtstagen auszusprechen. Unser Kollege der Abgeordnete Mick hat am 2. Februar sein 60. Lebensjahr vollendet, der Abgeordnete Dr. Erhard am 4. Februar sein 77. Lebensjahr.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste aufgeführten Vorlagen ergänzt werden:1. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, FDP betr. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1974— Drucksache 7/1670 —Überweisungswunsch: Rechtsausschuß , Innenausschuß, Ausschuß für Bildung und Wissenschaft2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Schöfberger, Schmidt , Bredl, Marschall, Vahlberg, Frau Dr. Riedel-Martiny, Staak (Hamburg), Dr. Apel, Pawelczyk, Glombig, Engelhard, Frau Schuchardt und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung mietprelsrechtlicher Vorschriften in der kreisfreien Stadt München und im Landkreis München sowie in der Freien und Hansestadt Hamburg— Drucksache 7!1671 —Überweisungswunsch: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauDas Haus ist einverstanden. Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen.Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 und den Zusatzpunkt 1 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland- Drucksache 7/1481 Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Bildung und WissenschaftBeratung des Antrags der Fraktionen der SPD, FDP betr. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1974— Drucksache 7/1670 —Überweisungswunsch: Rechtsausschuß , Innenausschuß, Ausschuß für Bildung und WissenschaftEs ist eine verbundene Debatte vorgesehen. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz, unsere Verfassung, war nach Diktatur und Krieg die erste große Gemeinschaftsleistung des demokratischen Deutschland. Unter seiner Geltung wurde die Bundesrepublik zum freiesten, in mancherlei Hinsicht wohlhabendsten und vor allem sozialsten Staat der deutschen Geschichte. Bei allem Stolz auf das Erreichte: Haben wir Anlaß zum Feiern? Ich glaube nicht. Schauen wir uns um.Das, was die Menschen draußen im Lande beunruhigt, ist nicht allein die Sorge um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und um den Wert ihres Einkommens und ihrer Ersparnisse. Verunsichert werden sie auch durch den Wortradikalismus der Systemveränderer, der hier und da in Gewalt umschlägt, durch die revolutionäre Situation an einigen Universitäten, durch die Umfunktionierung mancher Schulen, durch den Abbau bisher für sicher gehaltener Wertvorstellungen und Institutionen, wie er sich z. B. im Bummelstreik beamteter Fluglotsen ausdrückte, und durch die Unsicherheit undSchwäche, mit der die Regierung diesen Erscheinungen begegnet bzw. nicht begegnet. Die Folge ist ein breiter Vertrauensschwund, der nicht nur einzelne Institutionen, sondern den demokratischen Staat als ganzen in Frage zu stellen beginnt.Dieser Vertrauensschwund ist überall festzustellen: bei den Arbeitnehmern — die wilden Streiks des vergangenen Jahres waren ein Signal —, bei Unternehmern, Freiberuflichen und Wissenschaftlern — Fälle der Resignation werden häufiger — und im verbündeten und neutralen Ausland. Die in zwei Jahrzehnten aufgeschichteten Berge des Vertrauens in den USA und in Westeuropa sind weitgehend abgetragen.All das spiegelt sich in der in- und ausländischen Presse wider. Drei Kurzzitate aus Zeitungen der letzten Zeit mögen das belegen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 16. Januar 1974 schildert Günter Gillessen die Situation Frankfurts, wie sie sich ihm zu Beginn dieses Jahres darstellt, wie folgt— ich zitiere —:Straßenschlachten mit der Polizei, Teilerfolge mit Guerillataktik, eine Justiz, die kaum noch zu greifen vermag; ein Universitätspräsident, der ratlos ist, wie er die Lehre noch schützen soll; eine Regierung, die sich das anzusehen scheint, als ginge es sie nichts an.Der britische „Economist", der unserem Land im Dezember eine Sonderausgabe gewidmet hat, bemerkt zu der Lage an unseren Universitäten, daß es zwar auch in anderen westlichen Ländern Studentenunruhen gegeben habe, daß sie aber nur in der Bundesrepublik Deutschland zu einem — ich zitiere— „erfolgreichen Griff nach der Macht an den Universitäten" geführt hätten.Für den „Economist" ist Deutschland zu einem Lande der Ungewißheiten geworden, und er stellt eine ganze Reihe von Fragen, u. a. wohin sich die neue deutsche Politik neigen werde, nach Osten, nach Westen oder richtungslos in die Mitte.Mit dieser englischen Beurteilung stimmt die der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 13. Januar im wesentlichen überein. Danach ist die Bundesrepublik Deutschland, die im westlichen Europa einmal ein Pfeiler nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Stabilität war, zu einem — ich zitiere --„Herd ohne Abschirmung" geworden, „der seinen Nachbarn Anlaß zu ernsten Fragen" gibt.Meine Damen und Herren, ich will zunächst einmal dahingestellt sein lassen, ob und inwieweit diese Analysen zutreffen. Allein die Tatsache, daß sie vorgelegt werden, ist alarmierend — ein Vorgang, der vor fünf Jahren noch völlig undenkbar gewesen wäre.
Wenn es etwas Vergleichbares an innerer und äußerer Unsicherheit, an Zweifeln und Vertrauensschwund in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik nicht gegeben hat, dann war das vor allem zwei Umständen zu verdanken: zunächst der Konsequenz, mit der die außen- und gesellschaftspolitische Grundorientierung der deutschen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5003
Dr. DreggerPolitik allen Verlockungen und Schwierigkeiten zum Trotz durchgehalten wurde. Ich darf zu dem, was ich meine, auf die Ziffern 8 bis 10 unseres Antrages verweisen. Diese Klarheit schloß Fehler im Einzelfall nicht aus, begründete aber Vertrauen in den Gesamtkurs. Die deutsche Politik erhielt auf diese Weise das, was unserem Lande geschichtlich so häufig und so lange gefehlt hatte: Rationalität, Kalkulierbarkeit, Zuverlässigkeit, mit einem Wort: Vertrauenswürdigkeit nach innen und außen, all das, was unter Ihrer Verantwortung, Herr Bundeskanzler, mehr und mehr verlorengeht.
Die Stabilität der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte hatte noch einen zweiten, für den Bestand der Republik noch bedeutsameren Pfeiler. So sehr der politische Streit zwischen den demokratischen Parteien um wichtige und weniger wichtige Fragen der deutschen Politik tobte, ein Bereich war außer Streit: die Verfassung. Ob Sozialdemokraten, Liberale oder Christdemokraten, niemand konnte daran zweifeln, daß sie alle, in all ihren Strömungen und Flügeln in den Grundnormen der Verfassung übereinstimmten, daß sie alle keine andere, sondern diese Republik, die Republik des Grundgesetzes wollten, daß sie jede Zusammenarbeit mit Verfassungsfeinden von rechts und links ablehnten und daß sie gewillt waren, diesen Kurs auch in den eigenen Reihen durchzusetzen. Damit war ein Basiskonsens, ein Fundament gemeinsamer Grundüberzeugungen gegeben, das dem Parteienstreit entzogen war, das ihn begrenzte und ihm die feindselige Schärfe nahm, die wir heute zunehmend zu beklagen haben. Ohne eine solche Gemeinsamkeit kann eine Diktatur überleben, eine freiheitliche Demokratie nicht.
Gerade weil das Spiel von Macht und Gegenmacht, das Gegenüber von Regierung und Opposition, der Streit der Parteien zu ihrem Lebensgesetz gehören, muß, wenn der Streit nicht zerstörerisch werden soll, ein Fundament allseits anerkannter Verfahrensregeln und eines Mindestbestandes gemeinsamer politischer Grundsätze, die ihren Niederschlag in der Verfassung gefunden haben, gegeben sein.Meine Damen und Herren, beide Pfeiler der Stabilität sind heute angeknackst. Mit der außen- und gesellschaftspolitischen Grundorientierung sind die Konturen der deutschen Politik unscharf, unsicher und fragwürdig geworden. Auch die Verfassung ist nicht mehr das feste Fundament aller demokratischen Parteien und ihrer Flügel.Den jüngsten Beweis lieferte der Juso-Kongreß in München.
Seine Ergebnisse sind für uns alle von Bedeutung. Politische Parteien sind keine privaten Kränzchen, sondern Pfeiler unseres Verfassungslebens, und sie müssen sich daher auch hinsichtlich ihrer inneren Entwicklung der öffentlichen Kritik stellen.
Dabei sollte jede kleinliche, sich auf einzelne Mitglieder beziehende Beckmesserei vermieden werden.
Nichts ist aber für die Lage der größten und bedeutendsten Arbeitsgemeinschaft der SPD erhellender als das Scheitern des nun schon berühmten Antrages 32. Mit diesem Antrag wollte der scheidende Bundesvorsitzende Roth, möglicherweise im Auftrage der SPD-Führung — vielleicht im Hinblick auf diese Verfassungsdebatte —, die Jusos an den demokratischen Staat binden, sie zu einer Absage an das verfassungswidrige imperative Mandat bewegen und sie u. a. auf folgende Prinzipien verpflichten: Möglichkeit organisierter Opposition, Unabhängigkeit der Rechtssprechung, Autonomie der Gewerkschaften, Minderheitenschutz, Meinungs-und Pressefreiheit. Der Bundesausschuß der Jusos zwang seinen Vorsitzenden noch vor Beginn des Kongresses dazu, diesen Antrag zurückzuziehen.
Roths leidenschaftlicher Appell, ihn wenigstens alsArbeitsmaterial an die Bezirke weiterzugeben,wurde vom Plenum des Kongresses zurückgewiesen.
Doch auch damit gaben sich die erbitterten Genossen nicht zufrieden.— Ich zitiere aus dem „Rheinischen Merkur".
— Sie scheinen ein besonderes Verhältnis zu der Vielfalt der Presse in unserem Land zu haben, meine Damen und Herren.
Ich zitiere weiter:
Sie verabschiedeten mit großer Mehrheit einen Initiativantrag, in dem der Bundesvorstand wegen dieses Antrages scharf gerügt wurde.Meine Damen und Herren, nicht weniger aufschlußreich als der Juso-Kongreß ist die Art und Weise, in der sich die extreme SPD-Linke mit alten Sozialdemokraten auseinandersetzt. Ein Betroffener ist seit langem der frühere Vorsitzende der Bauarbeitergewerkschaft und jetzige Bundesverteidigungsminister Georg Leber. Aus einem ganzen Chor von Anti-Leber-Stimmen will ich nur eine Stimme, die von Johano Strasser zitieren, der seit München im Juso-Spektrum nun schon als Rechter gilt, was den geradezu rasenden Linkskurs dieser Jung-SPD deutlich macht. Herr Strasser lehnt es zwar ab, „das Problem ... der Rüstungsausgaben in der Bundesrepublik Deutschland in Georg Leber zu personalisieren", wie es die Hamburger Jungsozialisten gefordert hatten. Das ist weniger interessant als die Begründung, die Herr Strasser dafür gegeben hat.Er sagt:Sozialisten haben ja wohl auch nie die Meinung vertreten, daß es zur Lösung des Problems der Konzentration in der Wirtschaft genügt, exemplarisch ein paar Konzernherren zu erschießen... Das ist eine Sache, die man in der Partei
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5004 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Dreggerausfechten muß, in Frankfurt, wo dieser Mensch ja das nächste Mal wieder aufgestellt werden will .. .
Meine Damen und Herren, die Diktion des Herrn Strasser klingt so, als ob die Frage, ob man „diesen Menschen da" demnächst in Frankfurt abwählt oder zusammen mit einigen Konzernherren erschießt, nur eine Frage der Zweckmäßigkeit und nicht des Prinzips sei.
Im selben Interview kennzeichnete dieser famose Juso-Führer den Standort der Jung-SPD mit folgender Aussage — ich zitiere wörtlich :Sowohl die Kommunistische Partei Italiens als auch die Kommunistische Partei Frankreichs haben ein strategisches Konzept, das der Doppelstrategie der Jusos sehr ähnlich ist.
Und auch die Bündnisfrage ist für diese Parteien weniger abhängig von theoretischen Bekenntnissen .. .Meine Damen und Herren, viele Jusos haben ganz offensichtlich den Gegensatz zwischen parlamentarischer Demokratie und sozialistischer Diktatur aus ihrem Bewußtsein verdrängt. Sie haben ihn ersetzt durch das Klassenkampfschema des 19. Jahrhunderts und das ihm entsprechende Gegensatzpaar: Hie Sozialismus, hie Kapitalismus. Das hat einschneidende Folgen. Wem es nicht um die soziale Demokratie geht, sondern um das sozialistische System, für den verliert auch der Zusatz „demokratisch" zum Wort „Sozialismus" bald an Bedeutung, dem stehen die Kommunisten, die das sozialistische System nach eigener Aussage ebenfalls wollen, bald näher als die Christdemokraten, die Freien Demokraten und auch die sogenannten rechten Sozialdemokraten, die ja das System der parlamentarischen Demokratie in unserem Lande gemeinsam tragen. Manche Jungsozialisten und auch einige Ältere sind offenbar dabei, den Beschluß über Unvereinbarkeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu ersetzen durch eine neue Unvereinbarkeit, nämlich zwischen Sozialisten und den „Knechten des Großkapitals", zu denen sie alle rechnen, die anderer Meinung sind als sie.
Der aktive Widerstand innerhalb der SPD gegen diese Entwicklung scheint sich bisher auf Einzelkämpfer zu beschränken,
hinter denen die Autorität des Parteivorsitzenden Brandt und des Fraktionsvorsitzenden Wehner nicht steht, bis heute jedenfalls nicht sichtbar geworden ist. Im Gegenteil, Herr Kollege Wehner hält es für dringlicher, aus den „verknorpelten und deformierten Begriffen soziale Marktwirtschaft und Rechtsstaat" herauszukommen. Rechtsstaat, Herr Wehner, das ist das Kernstück unserer Freiheit.
Ich bin sicher, daß der große russische Patriot Solschenizyn, der jetzt in diesem Lande weilt, wenn er Ihnen Gelegenheit zu einem Gespräch geben sollte, diesen Begriff „Rechtsstaat" besser zu schätzen weiß.
Aber es gibt selbstverständlich auch andere Stimmen. Als Beispiele nenne ich den früheren Hamburger Bürgermeister Professor Weichmann und den Hamburger Verfassungsschutzpräsidenten Horchern. Ich nenne den Berliner Senatsdirektor Kreutzer, nach dessen Meinung die Grotewohls wieder mitten unter uns sind. Ich nenne den bayerischen DGB-Landesvorsitzenden Rothe, der am 10. August 1973 im DGB-Organ „Welt der Arbeit" erklärte — ich zitiere wörtlich —:In der Tat verstößt vieles, was die Jungsozialisten zum Programm erhoben haben, klar gegen Grundgesetz und Betriebsverfassungsgesetz ... Soviel Systemveränderung zielt den Gewerkschaften mitten ins Herz.
So die Auffassung des DGB-Landesvorsitzenden in Bayern, Mitglied Ihrer Partei.Ich nenne den früheren Juso-Vorsitzenden, unseren Kollegen Corterier, der in einem Beitrag für die „Berliner Stimme" feststellte, der Münchner JusoKongreß sei — ich zitiere jetzt wörtlich — „weder zu einer Bejahung der parlamentarischen Demokratie noch zu einer Ablehnung der Aktionseinheit mit Kommunisten bereit" gewesen und habe sich dadurch — jetzt wieder wörtlich — „für die Zukunft alle Möglichkeiten offengehalten". Corterier fügte dieser Feststellung die Sorge hinzu, es werde in Zukunft kaum noch möglich sein, dem Wähler zu erklären, wieso die SPD versuche, radikale Randgruppen zu integrieren, die — ich zitiere wörtlich —„in Wirklichkeit eine andere Partei und einen anderen Staat wollen". Diese Aussage Corteriers ist eine scharfe Absage an eine Theorie, mit der sein Parteivorsitzender sein Gewährenlassen und seine Untätigkeit bisher begründet hat.Daran scheint sich auch nach München nichts geändert zu haben. In einem vom Bundeskanzler dem „Stern" in den letzten Tagen gegebenen Interview heißt es nämlich — ich zitiere wörtlich —:Mir scheint, häufig werden lokale Erscheinungen dramatisiert. Einige Herren der Opposition — leider auch meiner eigenen Partei — scheuen ja keine Mühe, überall und irgendwo verfassungsfeindliche Tendenzen herbeizuahnen.Herr Bundeskanzler, glauben Sie wirklich, es sei alles Gespensterfurcht, was viele Ihrer Parteifreunde ängstigt? Glauben Sie im Ernst, Sie könnten die schlimme Wirklichkeit dadurch überwinden, daß Sie sie nach dem Beispiel Ihrer Ostpolitik zunächst einmal anerkennen? Glauben Sie wirklich, auf diese Weise die kritische Jugend für die Demokratie gewinnen zu können? Könnte sich bei der Jung-SPD nicht das wiederholen, was Sie bei den Ihrer Partei nahestehenden Studentenverbänden bereits erlebt haben? Der Sozialistische Deutsche Studentenbund und der Sozialdemokratische Hochschulbund sind
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5005
Dr. Dreggerkommunistisch geworden. Wie wird die Entwicklung bei den Jusos sein?Heute steht die SPD ohne jeden Studentenverband da. Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten ist der einzige einer demokratischen Partei nahestehende Studentenverband, der an unseren Universitäten einen mutigen, entsagungsvollen, keineswegs erfolglosen Kampf für diese Demokratie führt.
Nach Berichten des Verfassungsschutzes sind neben den Mitgliedern des Bundes „Freiheit der Wissenschaft" gerade die Mitglieder des RCDS durch den roten Terror in besonderer Weise persönlich gefährdet. Diesen jungen Studentinnen und Studenten den Respekt aller Demokraten auszusprechen, stünde uns in dieser Debatte gut an.
Es ist nicht meine Aufgabe, zu beurteilen, ob es der SPD genügt, wenn ihr Vorsitzender von Zeit zu Zeit das Vorbild großer Sozialdemokraten wie Ebert, Wels und Kurt Schumacher beschwört, ohne daraus Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen.
Was der deutschen Öffentlichkeit jedenfalls nicht genügt und das auszusprechen bin ich berechtigt —, ist die Tatsache, Herr Bundeskanzler, daß Sie Ihre Partei ausgerechnet bei dieser Entwicklung gewissermaßen ex cathedra zur Mitte erklären. Was sich in Teilen dieser Partei zur Zeit tut und wie Sie dieser Entwicklung begegnen, hat mit Mitte, gleichgültig, ob Sie sie als linke Mitte, neue Mitte oder alte Mitte definieren, nichts zu tun.
Diese Hinweise mögen genügen, um die Notwendigkeit dieser Verfassungsdebatte zu begründen. Ihr Sinn ist es, Klarheit zu schaffen, die in letzter Zeit in Frage gestellten Verfassungsgrundsätze zu bekräftigen und auf diese Weise das Vertrauen in diesen demokratischen Staat wieder herzustellen, bei den Bürgern drinnen und bei den Nachbarn draußen. Dabei geht es nicht um das, was uns politisch unterscheidet, sondern um das, was allen gemeinsam ist, die auf dem Boden der Verfassung stehen. Wir haben nie die Meinung vertreten, daß die Demokratie erst durch die ChristlichDemokratische Union verwirklicht wird. Wir halten allerdings auch die Aussage Ihres Godesberger Programms, die Demokratie werde erst durch den Sozialismus erfüllt, für antipluralistisch, antidemokratisch und im Grunde totalitär.
Lassen Sie mich einen Satz aus dem auch im übrigen ausgezeichneten Beitrag der Jungen Union Deutschlands zu dieser Verfassungsdebatte zitieren. Es heißt dort:Das Grundgesetz erlaubt keinen sozialistischen, freidemokratischen oder christlich-demokratischen Staat. Aber es verpflichtet alle Parteien zum Wettbewerb um die Anerkennungund Verwirklichung seiner Grundwerte und Zielsetzungen im Rahmen der Verfassung.Das können wir alle unterschreiben, meine Damen und Herren.
Ehe ich mich den einzelnen Feldern der verfassungspolitischen Auseinandersetzung zuwende, möchte ich sechs Feststellungen treffen und begründen, die zum Teil Selbstverständliches enthalten.
— Ja, vielleicht nicht für Sie, Herr Wehner; das weiß ich nicht.
Ich spreche das Selbstverständliche gleich zu Beginn aus, damit sich die Debatte sobald und so intensiv wie möglich
ihrem eigentlichen Gegenstand zuwenden kann.
— Es kommt noch, Herr Wehner.Erste Feststellung. Festhalten an der Verfassung bedeutet nicht festhalten an dem gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zustand. Dieser Zustand muß sich ändern,
weil sich die Bedingungen der menschlichen Existenz und der staatlichen Gemeinschaft verändern.
Diese notwendigen Veränderungen durch die Politik aktiv zu beeinflussen und zu gestalten — dafür bietet die Verfassung einen weiten Rahmen;
— doch, nicht nur Sozialismus, es gibt auch etwas anderes! — einen Rahmen für durchaus unterschiedliche politische Vorstellungen und Ziele.Zweite Feststellung. Die Verfassung ist in der Wirklichkeit des Lebens nur dann fest verankert, wenn ihre Grundsätze in den Herzen und in den Köpfen der Menschen verankert sind.
Verfassungsschutz und Polizei sind ohne Macht, wenn nicht die Menschen selbst diese Verfassung wollen.Wer aus dieser Beurteilung allerdings den Schluß zieht, der demokratische Staat dürfe rechtsstaatliche Mittel erst einsetzen, wenn alle anderen Mittel versagen, unterliegt einer Fehlschätzung. Er riskiert und verantwortet eine Eskalation der Gewalt, die andere, häufig Unschuldige, mit Leib und Leben zu bezahlen haben, wie wir das an den Universitäten nun feststellen mußten. Der demokratische Staat kann nur denjenigen mit Toleranz begegnen, die selbst tolerant sind. Wer die Freiheit der freiesten Verfassung der Welt mißbraucht, um sie abzuschaffen, der muß von Anbeginn auch mit rechtlichen Mitteln in seine Schranken gewiesen werden.
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5006 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. DreggerDie geistig-politische Auseinandersetzung, auf die das Hauptgewicht zu legen ist,
und der Einsatz rechtsstaatlicher Mittel gegen diejenigen, die die Spielregeln nicht akzeptieren, sind nebeneinander notwendig. Keines dieser beiden Instrumente kann das andere ersetzen.Dritte Feststellung. Die Grundprinzipien unserer Verfassung sind gleichrangig. Das Rechtsstaatsprinzip kann das Sozialstaatsprinzip nicht ersetzen; umgekehrt gilt das gleiche. Es wäre absurd, wenn wir uns in Rechtsstaatler und Sozialstaatler aufteilen wollten, meine Damen und Herren. Beides gehört notwendigerweise zusammen.
Grundrechte sind unwirklich, wenn die soziale Basis fehlt, sie geltend zu machen. Umgekehrt werden sozialstaatliche Leistungen erst dadurch zur Basis der Bürgerfreiheit und der Menschenwürde, daß sie sich in Rechten niederschlagen, die der einzelne allein oder mit Hilfe seiner gesellschaftlichen Gruppen wahrzunehmen in der Lage ist.Sozialutopien dagegen, die ihre Grundlage und Grenze nicht in den Rechten der Menschen finden, sind, wie alle geschichtlichen Beispiele zeigen, unmenschlich und geeignet, die Welt zur Hölle zu machen auch für diejenigen, um deretwillen das angeblich dann alles geschieht.
Ein weiterer Gedanke hierzu: Die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips ist eine ständige, nie erledigte Aufgabe, wie es die Ziffer 9 unseres Entschließungsantrags deutlich macht. Mit dem Wandel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse ändern sich die Aufgaben, die stets neu und nach Möglichkeit besser gelöst werden müssen als vorher. Daß davon im Augenblick keine Rede sein kann, hat in der Debatte zur Lage der Nation mein Kollege Blüm in der Feststellung deutlich gemacht, daß ein wesentlicher Teil der jetzigen Sozialpolitik einem Lazarettwagen gleicht, der hinter der Inflation herfährt, um die Verletzten aufzuladen.
Schließlich: Unser Maßstab für die Verwirklichung des Sozialstaats sind die realen Lebensverhältnisse, die reale Freiheit, die reale Sicherheit, die reale Fähigkeit des Menschen, des einzelnen Menschen, jedes einzelnen Menschen und der natürlichen Ordnungen, in die er gestellt ist und für die er Verantwortung trägt. Wenn Sie, meine Damen und Herren der Koalition, nicht Wortgeklingel, sondern diesen realen Maßstab zugrunde legen, müssen Sie noch sehr, sehr viel tun, um einen ähnlichen sozial- und gesellschaftspolitischen Fortschritt in diesem Lande zu bewirken, wie wir ihn in zwanzigjähriger Regierungsverantwortung in diesem Lande bewirkt haben.
Immer schneller steigende Preise, welche die Lohn-und Rentenerhöhungen weitgehend entwerten, dazudas ungerechtfertigte Hineinwachsen niedriger Einkommen in die Steuer- und Abgabenprogression, woran Sie so sehr festhalten,
dazu die entschädigungslose Enteignung der Sparer - 40 Millionen DM Enteignung sind in diesem Jahr zu erwarten; das ist das Achtfache von dem, was Sie mit einer zweifelhaften Vorlage in diesem Lande an Vermögen neu verteilen wollen —,
all das verwirklicht den Sozialstaat nicht, sondern zerstört ihn.
Und was die jetzt anstehenden gesellschaftspolitischen Aufgaben angeht, so brauchen wir den Wettbewerb mit Ihnen, meine Damen und Herren der Koalition, nicht zu fürchten. Das gilt für die Fortentwicklung der Vermögensbildung, zu der alle praktisch verwirklichten Initiativen von uns gekommen sind.
— Viele in Ihren Reihen fürchten doch die Kleinkapitalistenmentalität, das wissen wir doch!
Der SPD-Bezirk Hessen-Süd und der Bezirk — wenn ich nicht irre — Ostwestfalen haben noch vor einigen Monaten beschlossen: keine Vermögensbildung bei den Arbeitnehmern, weil sie nämlich eine Kleinkapitalistenmentalität befürchten. Das ist doch eine Tatsache!
Wir brauchen den Wettbewerb mit Ihnen auch nicht in bezug auf die Fortentwicklung der Mitbestimmung zu fürchten, die nach dem Zweiten Weltkrieg als weitestgehende der Welt von uns eingeführt worden ist
und für deren Fortentwicklung wir früher als die Koalition eine Vorlage auf den Tisch gebracht haben.Abschließend lassen Sie mich zu diesem Abschnitt sagen: Wir begreifen die Politik als eine dynamische, im Rahmen der Verfassung zu erfüllende Aufgabe. Dabei erstreben wir eine gesellschaftliche Ordnung, welche die Mitwirkung der Bürger immer mehr gewährleistet, ihre persönliche Freiheit — ich betone: persönliche Freiheit — durch mehr soziale Sicherheit festigt und durch Verteilung und Kontrolle der Macht sichert. Dabei sehen wir den Auftrag des Grundgesetzes, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu gewährleisten, nicht auf das Sach- und Kapitaleigentum beschränkt. Wir sehen ihn erstreckt auf alles, was gesellschaftliche Macht verleiht, wozu auch die Macht der Verbände und der Medien gehört, die vielfach größer ist als die Macht der Behörden und des Sach- und Kapitaleigentums.Vierte Feststellung: Rechts- und Linksextremismus sind gleich schlimm. Sie sind mit der Lebens-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5007
Dr. Dreggerform der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie in gleicher Weise unvereinbar. Beide leugnen die Rechtsstaatlichkeit, den Pluralismus in Staat und Gesellschaft und die Grundrechte des Menschen, beide versklaven und entwürdigen ihn.Wer das bei der geschichtlichen Darstellung der Vergangenheit verschweigt, begründet gefährliche Fehlhaltungen in der Jugend und bereitet — wenn auch ungewollt — einen Pendelschlag ins andere Extrem vor. Deshalb muß im Sinne Solschenizyns die Wahrheit gesagt werden, die ganze und nicht die halbe, die Wahrheit nicht nur über den Rechtsradikalismus und den Nationalsozialismus, die Wahrheit auch über den Kommunismus, die in weiten Teilen der Jugend unbekannt geblieben ist. Zu dieser heute weithin vergessenen Wahrheit gehört die Tatsache, daß die erste deutsche Republik zwischen beiden Radikalismen zerrieben worden ist, zwischen NSDAP und KPD.
— Zweifeln Sie etwa daran, meine Damen und Herren?
Meine Damen und Herren, ich wäre in der Lage, aus alten Parlamentsprotokollen der dreißiger Jahre zu zitieren.
Ich will einmal ein Zitat bringen; von wem esstammt, ist in diesem Zusammenhang völlig gleichgültig. Dort wurde den Nationalsozialisten von den Kommunisten nicht etwa Verfassungsfeindlichkeit vorgeworfen, sondern das Gegenteil:Legalismus. Es heißt dort:Die Nationalsozialisten bieten sich öffentlich feil als Büttel dieser bürgerlichen Republik.Als ich das gelesen habe, meine Damen und Herren, ist mir wieder einmal die tragische Lage der Deutschen am Anfang der dreißiger Jahre bewußt geworden, in der die Linken und die Rechten sich gegenseitig die Wähler zutrieben und eine Mitte, die Zeichen von Schwäche zeigte, wie wir sie auch heute wieder sehen, einen Zustand darbot, der dann zum Abmarsch nach links und rechts führte. Es liegt an uns, ob sich das noch einmal in diesem Lande wiederholt. Deswegen sind wir verpflichtet, die Wahrheit, die ganze Wahrheit, zu sagen.
Wer Freiheit und Demokratie bewahren will - dasist ,die Schlußfolgerung aus dieser geschichtlichen Tatsache -, muß deshalb beide Radikalismen in gleicher Entnschiedenheit ablehnen und bekämpfen.Fünfte Feststellung: Unser Entschließungsantrag enthält selbstverständlich nicht alle bedeutsamen Verfassungsprinzipien, sondern nur diejenigen, die heute umstritten sind. Diesen 'bestrittenen, in Frage gestellten und mißachteten Verfassungsprinzipien gilt es Nachdruck zu verleihen. An dem als Antwort auf unseren Entwurf vorgelegten Entschließungsantrag der Koalition interessieren daher weniger die Zufügungen und Umformulierungen — da sind wir völlig offen --, sondern die Streichungen und Weglassungen. Unter diesem Aspekt allerdings ist das Koalitionspapier nicht nur enttäuschend, sondern erschreckend. Manches von dem, was in unserem Papier präzis und eindeutig gesagt ist, wird in dem Koalitionspapier unscharf und undeutlich gesagt. Anderes fehlt ganz. Warum? Doch offenbar deshalb, weil eine oder beide Koalitionsparteien nicht in der Lage sind, zu diesen nicht politischen, sondern Verfassungsprinzipien eine Position zu beziehen, die von der Gesamtfraktion und der Gesamtpartei geteilt wird.
In diesem Entschließungsantrag der Koalition drückt sich der ganze Jammer aus, in dem Sie sich befinden.
— Wir können Ihnen, Herr Prof. Schäfer, die Antwort nicht ersparen; Sie werden sie vielleicht nachher geben. Wir fragen Sie daher jetzt und immer wieder, bis Sie Antwort gegeben haben: Warum fehlt in Ihrem Papier jede Äußerung erstens zur Freihaltung des Staatsdienstes von Verfassungsfeinden, zweitens zur Abgrenzung der demokratischen Parteien von verfassungsfeindlichen Kräften, drittens zum imperativen Mandat, viertens zur Orientierung der schulischen Erziehung am Grundgesetz und fünftens zur Einfügung der Universitäten in die Rechts- und Verfassungsordnung des demokratischen Staates? Warum? Meine Damen und Herren, ziehen Sie sich hinsichtlich der beiden letzten Punkte bitte nicht hinter die Gesetzgebungskompetenz zurück. Hier geht es nicht um Gesetzgebung, sondern um ein politisches Votum. Hier geht es nicht um Kulturpolitik, sondern um Verfassungspolitik. Zur politischen Verteidigung der Verfassungsordnung in Bund, Ländern und Gemeinden ist kein Organ berufener als der Deutsche Bundestag, der — mit Vertretern der Regierung und des Bundesrates in seiner Mitte — das Forum der deutschen Nation ist.
Sechste Feststellung: Die Ziffern 8 bis 10 unseres Entschließungsantrages enthalten Aussagen zur Grundorientierung der deutschen Politik. Sie sind unserer Auffassung nach politisch ich betone: politisch — geboten, wenn unsere Verfassung Bestand haben und verwirklicht werden soll. Das gilt zunächst für die westliche Orientierung unserer Außenpolitik. Wie sollte unsere Republik an der Grenze zweier Weltsysteme der auf vielen Ebenen vorgetragenen kommunistischen Expansion standhalten, wenn nicht im engen Bündnis mit der westlichen Welt?Was das Westbündnis für die Freiheitssicherung nach außen bedeutet, das bedeutet das System dei sozialen Marktwirtschaft für die Freiheitssicherunc nach innen. Lassen Sie mich diese unsere Auffassung kurz begründen, wobei es Ihnen selbstverständlichfreisteht, zu dieser politischen Frage eine andere Meinung zu haben.Dr. DreggerBeide, staatliche Demokratie wie marktwirtschaftliche Ordnung, gründen auf den Freiheitsrechten des Menschen, dessen Personenwürde sie unter anderem durch ein ausgeklügeltes System der Machtverteilung schützen. Der Bändigung der staatlichen Macht durch Gewaltenteilung, durch die Legitimität der parlamentarischen Opposition, durch den Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung entspricht die Bändigung der wirtschaftlichen Macht durch Wettbewerb, den der Staat unter anderem durch ein wirksames Kartellrecht zu gewährleisten hat, und durch die Anerkennung freier, starker und unabhängiger Gewerkschaften, die für unser Systemim Gegensatz zum sozialistischen System — notwendig sind.Diese Verteilung der Macht im staatlichen und im wirtschaftlichen Bereich, wie sie bei uns verwirklicht ist, steht im schärfsten Gegensatz zu der Machtkonzentration des sozialistischen Systems, das weder Gewaltenteilung noch Föderalismus, noch kommunale Selbstverwaltung noch Grundrechte noch Wettbewerb noch die Legitimität der parlamentarischen Opposition noch die Legitimität freier, von Staat und Partei unabhängiger Gewerkschaften kennt.
- Ein Ignorant? Vielen Dank für dieses Lob, dasSie mir aussprechen! Ich will Ihnen folgendes sagen, Herr Matthöfer.
Wir hatten in meiner Stadt eine sowjetische Gewerkschaftsdelegation aus der Ukraine zu Besuch, und diese Delegation gab der „Fuldaer Volkszeitung" ein Interview. Der Vorsitzende der Delegation wurde gefragt, welches denn die Hauptaufgaben der Gewerkschaften in der Sowjetunion seien. Die Antwort war folgende: erstens die Mitwirkung an der Erstellung, an der Erfüllung und an der Übererfüllung volkswirtschaftlicher Pläne, denn die Produktion ist die Grundlage des Volkswohlstandes —also: malocht, Kameraden, Aufgabe Nr. 1 —,
und die zweite Aufgabe: die Erziehung der Menschen zum sozialistischen Wirtschaftssystem. Und dann kam nichts mehr! Kein Wort von Arbeitszeitverkürzung, kein Wort von Lohnerhöhung, kein Wort von Mitbestimmung, kein Wort von Vermögensbildung! Meine Damen und Herren, es gibt dort Gewerkschaften, aber die haben eine ganz andere Aufgabe als unsere Gewerkschaften. Dort vertreten sie den Staat gegen die Arbeiter; bei uns vertreten die Gewerkschaften die Arbeitnehmer gegen die Wirtschaftsunternehmen. Und das ist doch ein Unterschied!
Diese Machtkonzentration im sozialistischen Lager macht den Menschen zu dem, weswegen die Sozialisten unserem System zu Unrecht Vorwürfe machen, nämlich zum willenlosen und rechtlosen Werkzeug einer Klassenherrschaft, der Herrschaft der Staats- und Parteifunktionäre nämlich, dieser neuen Klasse,wie sie Djilas, der ehemalige Kommunist und frühere Chefideologe Titos in einem Buchtitel treffend gekennzeichnet hat. Deshalb sind wir für diese freiheitliche Ordnung in Staat und Wirtschaft, meine Damen und Herren, und aus gar keinem anderen Grunde.
— Jeder kennzeichnet sich selbst durch solche Ausdrücke, meine Damen und Herren.Wie weit auch immer die in den Ziffern 8 bis 10 enthaltenen Ausprägungen unseres Verfassungssystems rechtlich geboten sind - daß das nur zum Teil der Fall ist, sei ausdrücklich betont : ihr innerer Zusammenhang mit dem Fortbestand und der Verwirklichung unserer Verfassungsordnung rechtfertigt es, sie in diese Entschließung einzubeziehen und die Frage zu klären — und der sollten Sie nicht ausweichen —, wie die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu diesen Grundorientierungen der deutschen Politik stehen.Ich möchte jetzt die Hauptpunkte unseres Entschließungsantrages kurz begründen. Im Verlauf der Debatte werden sie in Einzelbeiträgen meiner Kollegen weiter vertieft werden.Ich beginne mit dem Schul- und Hochschulwesen- aus drei, Gründen: Hier begann der Angriff der Systemveränderer; hier hat er die größten Erfolge errungen; hier ist er am gefährlichsten. Hier trifft er auf seine wehrlosesten Opfer, auf unsere Kinder, die auf Grund ihres Alters besonders aufnahmefähig, lernbegierig, wegen des Mangels eigener Erfahrungen - niemand von ihnen hat den Nationalsozialismus und den Kommunismus am eigenen Leibe kennengelernt — besonders manipulierbar sind.Lassen Sie mich das, was an unseren Schulen zur Zeit geschieht, nicht mit eigenen Worten sagen, sondern mit denen zweier angesehener Erziehungswissenschaftler, die nicht meiner Partei angehören, sondern der SPD, und denen man daher keine Voreingenommenheit gegen die SPD nachsagen kann: Ich nenne die beiden Professoren Lübbe und Nipperdey.
– Ja, Leute, die anderer Meinung sind als Sie, sind lächerlich in Ihren Augen, natürlich. Sie sind ein schöner Liberaler, mein Lieber!
Die SPD-Mitglieder Lübbe und Nipperdey schildern die von einem sozialdemokratischen Kultusminister in Hessen erlassenen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre wie folgt - ich zitiere wörtlich -:Kritik an der parlamentarischen Demokratie rangiert weit vorn ... Eine Auseinandersetzung mit oder eine Abgrenzung vom Kommunismus findet nicht statt ... Die liberalen Elemente unseres politischen Systems, ja die Wirklichkeit der Freiheit, die Legitimität der Opposition, das Recht, der Kompromiß, die Toleranz, der Staat, der mit Institutionen die Freiheit des einzelnen undDr. Dreggerden Frieden unter den Bürgern sichert, der Basiskonsens, auf dem unser Gemeinwesen beruht — all das kommt nicht vor oder wird von vornherein diskreditiert.
Dies ist nicht mein Urteil, sondern das dieser beiden. sozialdemokratischen Erziehungswissenschaftler.
herr Abgeordneter, gestatten Sie mir eine Frage: Befinden wir uns bereits in der Debatte oder begründen Sie noch den Antrag? Ich frage dies, um zu klären, ob ich eine Zwischenfrage zulassen kann. Oder lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ich bin mit Zwischenfragen gerne einverstanden, Frau Präsidentin. Ich habe nur die Sorge, daß ich dadurch meine Zeit überschreite. Sie mögen bitte entscheiden, ob es aus Zeitgründen geht.
Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Groß.
Herr Kollege Dregger, Sie zitieren einen Erziehungswissenschaftler Nipperdey. Ist Ihnen bekannt, daß Herr Nipperdey nicht Erziehungswissenschaftler, sondern Historiker ist? Sind Sie bereit, damit einzuräumen, daß Ihnen der Hintergrund des Ganzen gar nicht bekannt ist?
Ich verzichte auf eine Antwort, meine Damen und Herren.
Daß das in den Hessischen Rahmenrichtlinien Fehlende nicht auf Vergeßlichkeit der Richtlinienverfasser beruht, mögen Sie daran erkennen, daß es in dem Antrag enthalten war, den der Juso-Kongreß in München nicht akzepiert hat. Die Übereinstimmung zwischen denen, die auf dem Juso-Kongreß das Sagen hatten und den Richtlinienverfassern in Wiesbaden ist unverkennbar. Weiter:Der Angriff der Rahmenrichtlinien . . . richtet sich in gleicher Weise gegen die Familie, deren Klassenstruktur denunziert werden soll; die Mobilisierung der Kinder gegen die Eltern, zumal über eine obskure Sexualtheorie von den politischen Wirkungen einer „Triebunterdrükkung", ist hier zentral. Mit der Autoritätsfixierung wird auch jede funktionale Autorität in der Demokratie verworfen, der Protest an sich wird verherrlicht.Meine Damen und Herren, wenn die Institution der Familie in der Schule systematisch herabgesetzt wird, wenn die Kinder in den Kategorien des Klassenkampfes erzogen werden, wenn alle Identifikationsmöglichkeiten mit der staatlichen Gemeinschaft radikal zerstört werden, wenn ihnen die Geschichte, die Geschichte ihres Volkes ausgetrieben wird wie ein böser Geist, wenn die Werte unserer freiheitlichen Ordnung Ihnen nicht nahegebracht, sondern, wie Lübbe und Nipperdey schreiben, diskreditiert werden, wenn die Kinder den Menschen nicht mehr als freies, d. h. persönlicher Verantwortung und individueller Schuld fähiges Wesen, sondern nur als Produkt der Gesellschaft begreifen lernen, wie sollen sie dann zu verantwortungsfähigen und -bereiten Bürgern der res publica Deutschland, dieser unserer Republik werden?
Lassen Sie mich auch den Schlußsatz aus diesem Gutachten zitieren:Die Rahmenrichtlinien negieren den Pluralismus, die Solidarität aller Demokraten, die Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus, die humanen Werte unseres sozialen und liberalen Rechtsstaates. Sie müssen deshalb gerade von der Position der Sozialdemokratie aus abgelehnt werden.Meine Damen und Herren, das ist sicherlich nicht nur die Meinung der Herren Lübbe und Nipperdey, sondern auch vieler anderer Sozialdemokraten. Aber entlastet Sie das als Partei? Entlastet es vor allem die Führung der Partei? Niemand kann glauben, daß sich der hessische Kultusminister von Friedeburg als einziges rotes oder schwarzes Schaf im marxistischen Dschungel verirrt hat, wenn im gleichen zeitlichen Rahmen der Herr Girgensohn in Nordrhein-Westfalen und der Herr von Oertzen in Niedersachsen ebenfalls Rahmenrichtlinien vorlegen, die nicht am Grundgesetz, sondern an der spätmarxistischen Ideologie der neuen Linken orientiert sind.
Eine ideologisch fixierte Erziehung in staatsmonopolistischen Schulen ist Verfassungsbruch,
gleichgültig, um welche Ideologie es sich handelt. Es sind unsere Kinder und unser aller Schulen, die Schulen dieser Republik. Weder die CDU noch die SPD noch die FDP hat das Recht, eine Erziehung nach ihrer Ideologie oder der Ideologie einer ihrer Flügel zu verwirklichen.
— Ich sage Ihnen noch sehr viel mehr, dessen können Sie gewiß sein, gnädige Frau!Dem Angriff der Systemveränderer auf die Schulen ging die Unterwanderung der Universitäten und Lehrerakademien voraus. Wird es nicht schon als normal empfunden, daß Stipendiaten streiken, daß Professoren, deren Gesinnung den Linksradikalen nicht paßt, verprügelt, mit Farbe übergossen und aus den Hörsälen geprügelt werden und daß die Täter in den seltensten Fällen haftbar gemacht und bestraft werden?
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5010 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. DreggerDie Parallelen zu den Jahren vor 1933 sind unverkennbar.
Diehl-Thiele hat in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 3. Juni 1972 einen Vergleich angestellt zwischen dem Vokabular des NS-Studentenbundes und dem, was uns heute von linker Seite als progressive Kost serviert wird. Die Übereinstimmung ist frappierend:Befreiung der von der Hochfinanz enterbten, ausgebeuteten Volksschichten, ... Unterstützung der berechtigten Forderungen der Arbeiter gegen das Aussaugersystem .. .So hieß es in der Agitation des NS-Studentenbundes. Und weiter — ich zitiere wörtlich aus dem Vokabular des NS-Studentenbundes —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie! Ich glaube nicht, daß das hierher gehört — Sie sollten bitte zur Sache zurückkehren —, daß Sie hier — —
— Einen Augenblick!
— Einen Augenblick bitte!
— Ich bitte um Ruhe!
— Das ist doch unerhört!
— Ich bitte um Ruhe, meine Damen und Herren.
— Ich bitte Sie um Ruhe, meine Damen und Herren.
— Der Herr Abgeordnete hat mich überhaupt nicht gefragt, ob er hier die Zitate anbringen kann, und
— einen Augenblick mal! — ich halte es nicht für richtig, solche Vergleiche mit NS-Zitaten hierherzustellen.
Frau Präsidentin — —
Herr Abgeordneter, fahren Sie bitte fort!
Frau Präsidentin, ich bitte um Vergebung. Ich bitte um Ihre Genehmigung, noch ein Zitat zu bringen, das den Vergleich darstellt zwischen dem, was der NS-Studentenbund gesagt hat, und dem, was uns jetzt als linke Kost verkauft wird.
Es heißt dort:Was also der alten Welt als Heiligtum erscheinen mag, ist es für uns nationalsozialistische Studenten schon lange nicht mehr. Und das größte Heiligtum, die kapitalistische Wirtschaftsordnung, ist für uns gar das Hassenswerteste, da der Grund für Unterdrückung, Not und Elend.Meine Damen und Herren, genau das sind die Tönevon SDS, SHD und anderen kommunistischen undsozialistischen Gruppen an unseren Universitäten.
Der Zangengriff auf die deutsche Jugend wirkt von den Hochschulen über die Lehrerakademien in die Schulen und bedient sich als zweiten Hebels der Erwachsenenbildung. Was der Eichengrün-Bericht der sozialdemokratischen Führung vorhergesagt hat, ist heute eine Tatsache. Nach der Universität ist die Erwachsenenbildung das Schlupfloch für beamtete Linksradikale geworden.Noch ein letztes zu diesem Komplex! Unsere Universitäten sind nicht schon dann wieder gesund, wenn nicht mehr geprügelt und offen terrorisiert wird. Terror und Gesetzlosigkeit treten nicht immer in der Form äußerer Gewalt auf. Meine Damen und Herren, es gibt auch eine Ruhe nach der Machtergreifung.
Es sind durchaus Universitäten denkbar, an denen in aller Ordnung gelehrt und gelernt wird, aber nach der Ordnung der DDR und nicht in der Treue zur Verfassung. DKP und Spartakusbund als Ordnungsmacht, die mit Hilfe der Hochschulautonomie unsere Universitäten zu sozialistischen Inseln in der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie machen, das ist kein Hirngespinst, das ist nicht nur kommunistische Planung, sondern das ist bereits beginnende Wirklichkeit in unserem Lande.
Neben der marxistischen Indoktrinierung der Jugend ist die schrittweise Eroberung des Staatsapparates auch außerhalb der Schulen und Universitäten wichtigstes Teilstück der revolutionären Strategie. Die bisherige Reaktion auch auf diese Herausforderung kann nur als Tragikomödie und als Bestätigung der von vielen behaupteten Hilflosigkeit unseres Systems empfunden werden.Meine Damen und Herren, wir wünschen uns in dieser lebenswichtigen Frage von der heutigen Sozialdemokratie nicht mehr, als daß sie die Entschiedenheit zeigt, die ihrer Geschichte würdig ist. Ha-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5011
Dr. Dreggerben wir denn vergessen, daß es der sozialdemokratische preußische Ministerpräsident Otto Braun war, der 1930 feststellte, daß ein Beamter seine Treuepflicht bricht, wenn er die KPD oder die NSDAP auch nur fördere, geschweige denn ihr angehöre, oder daß es der sozialdemokratische Innenminister Hessens Heinrich Zinnkann war, der 1950 verfügte, daß Beamte, Angestellte oder Arbeiter, die an Organisationen oder auch nur an Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung teilnehmen, aus dem Dienst des Landes zu entlassen seien?
Schon die Zugehörigkeit zur Vereinigung der Sowjetfreunde und erst recht zur KPD galt als Teilnahme im Sinne des Erlasses dieses sozialdemokratischen Innenministers aus dem Jahre 1950. Warum handeln sozialdemokratische Landesregierungen heute anders, meine Damen und Herren? Wer gegen den demokratischen Staat arbeitet, kann nicht in seinem Dienst stehen. Diese einfache, der Rechtsordnung entsprechende und einleuchtende Feststellung unseres Antrages ist durch staats- und beamtenrechtliche Erwägungen, die zum größten Teil neben der Sache liegen und nur die Untätigkeit der Regierung bemänteln sollen, vernebelt worden.
Ich nehme hierzu auf die Erklärung des Rings Christlich-Demokratischer Studenten Bezug, die Ihnen allen zugegangen ist.Ein wichtiger Punkt ist die Stellung des Abgeordneten gegenüber seiner Partei und gegenüber dem Volk. Die Bindung der Abgeordneten an Parteibeschlüsse ist verfassungswidrig. Ich verzichte aus Zeitgründen darauf, das im einzelnen zu belegen. Es ist ja auch hier im Hause weitgehend bekannt. Besonders weit gediehen ist es in der Stadt Frankfurt, wo Versetzungen im Magistrat durch Parteibezirksbeschlüsse rückgängig gemacht werden und wo sogar die Personalunterlagen der Bewerber dem Parteivorstand zur Verfügung gestellt werden.
Der Satz: „Die Partei befiehlt dem Staat" hat schon einmal in Deutschland gegolten. Wir möchten das nicht noch einmal erleben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was haben Sie unternommen, um dieser verfassungswidrigen Praxis in Ihrer Partei entgegenzutreten?
Eine letzte Einzelfrage: Wie steht es mit dem Respekt vor der Gerichtsbarkeit in unserem Lande? Kein Gericht kann regelmäßig Urteile fällen, die beiden Parteien zusagen. Um so mehr ist der Respekt vor der Würde des Gerichts und vor seinen Entscheidungen unentbehrliche Voraussetzung einer Friedensordnung. Es gehört dementsprechend zur Strategie der Systemüberwinder, den Staat und insbesondere die Staatsorgane, die diese Friedensordnung zu sichern haben, also Justiz und Polizei,funktionsunfähig zu machen. Es ist daher kein Wunder, daß die Verfassungsfeinde unsere Gerichte zunehmend durch Sitz-, Liege- und Hungerstreiks, durch Toben, Spucken, Drohungen und andere Pöbeleien an der Ausübung ihrer Pflichten hindern.
Um so wichtiger ist es, daß sich das Verhalten der Demokraten davon deutlich unterscheidet. Auch hier hat eine erschreckende Entwicklung eingesetzt. Das Wort ich bitte um Entschuldigung, daß ich es zitiere — von den „acht Arschlöchern von Karlsruhe", von denen man sich die Ostpolitik nicht kaputtmachen lassen wolle, war ein besonders erlesenes Beispiel. Drei Wochen später war im SPD-Parteiorgan „Vorwärts" von „richterlicher Weltfremdheit" und einem Selbstverständnis der Verfassungsrichter zu lesen, das noch vom „Nachleben des Bismarck-Deutschland" geprägt sei.
Dem Urteil liege „zutiefst eine Selbstüberschätzung des Gerichts" zugrunde.Meine Damen und Herren, das sind dieselben Argumente, die heute von Moskau und Ost-Berlin gegen die Bundesrepublik und ihre Rechtsposition ins Feld geführt werden,
wobei neuerdings sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete auch von Moskau aus Hilfestellung leisten.
Ich denke jetzt weniger an den Fraktionsvorsitzenden der SPD, der zwar nicht die Position des Bundesverfassungsgerichts, aber doch die Verhandlungsposition seiner eigenen Regierung durch die in Moskau abgegebene Erklärung untergrub, diese Verhandlungsposition sei überzogen. Nein, ich denke an unseren Kollegen Karl-Heinz Hansen, der in Radio Moskau das Urteil unseres höchsten Gerichts zum Grundvertrag als — ich zitiere — „Mittel revanchistischer Kräfte im Kampf gegen die Entspannungspolitik der Regierung Brandt/Scheel" denunzierte.
Wenn sich das Abgeordnete dieses Hauses leisten, wie können wir uns dann noch wundern über das, was draußen vor unseren eigenen Gerichten durch die Systemveränderer geschieht?
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen will ich meinen Beitrag kürzen, worüber Sie sich auf der linken Seite des Hauses sicherlich freuen. Zusammenfassend möchte ich nur noch folgendes sagen. Nicht die Einzelfälle, die ich vorgetragen habe, sind das für die Stabilität unseres Gemeinwesens Gefährliche, obwohl manche von ihnen erregend genug sind. Das Schlimme ist, daß es sich hier um eine Welle der Mißachtung, der Nichtachtung und der Verachtung unserer Verfassung und ihrer verfassungsmäßigen Institutionen handelt und daß da-
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5012 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Dreggerhinter eine Ideologie oder auch mehrere Ideologien stehen - mit dem Ziel, aus dieser Republik eine andere zu machen. Dies ist, so meine ich, die Stunde, in der sich der Deutsche Bundestag dieser Frage zuwenden und erklären muß, daß Verteidigungsbereitschaft zuallererst eine geistige Frage ist, daß sie die Kenntnis vorhandener Werte und den Willen, sie zu schützen, voraussetzt. Bei uns geschieht ja so gut wie nichts, um Wertbewußtsein und Verteidigungsbereitschaft in der jungen Generation zu wecken.
Im Gegenteil: Nicht nur Lehrer, nicht nur prominente Juso-Führer, sondern auch Parteivorsitzende der SPD — z. B. der SPD-Landesvorsitzende in Schleswig-Holstein — kritisieren nicht nur bestehende Mißstände - das tun wir auch —, sondernsprechen — ich zitiere wörtlich von der „systematischen Erbärmlichkeit eines unverantwortlichen Systems in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung" und rufen öffentlich „zum Klassenkampf und zur Systemveränderung" auf.Was soll eigentlich junge Bürger dieser Republik ohne unsere geschichtlichen Erfahrungen veranlassen, diese Republik zu verteidigen? Wie sollen sie sich mit der freiheitlichen Verfassung identifizieren, wenn sie z. B. im 1972 neu eröffneten Historischen Museum der Stadt Frankfurt die Novemberereignisse des Jahres 1918 wie folgt kommentiert finden — ich zitiere wörtlich —: „Das Rätesystem hätte in Deutschland als Mittel wirken können, die an Autorität und Unterwerfung gewohnte Bevölkerung zur Selbstbestimmung zu bringen"?Meine Damen und Herren, welches Glück für die mitteldeutsche Bevölkerung, daß sie wenigstens nach 1945 unter einem Rätesystem zur Selbstbestimmung gebracht worden ist! Welchen Rückstand haben wir in der Bundesrepublik Deutschland noch aufzuholen!Wie soll ein Staat Bestand haben, der auf Selbstverteidigung verzichtet, der das Gewaltmonopol mit anderen teilt, der sich seiner Machtmittel begibt? Das Disziplinarrecht an den Universitäten wurde nicht modernisiert, sondern fast restlos abgeschafft. Aber hier hat ja ein Lernprozeß bei den Sozialdemokraten eingesetzt. Das dauert bei Ihnen immer nur ein bißchen lange. In Verwaltungsgerichtsprozessen erleben Professoren oft, daß vorgesetzte Behörden sie im Stich lassen, gar heimlich mit den Störern sympathisieren, weil sie die „Aufbrechung verkrusteter Strukturen" wollen.Auf Recht und Ordnung — und das heißt ja nichts anderes als inneren Frieden kann nicht verzichtet werden. Die Gesellschaft kann den Staat nicht ersetzen. Deshalb müssen wir in diesem Lande nicht nur Gesellschafts-, sondern auch Staatspolitik betreiben.Ich hätte das gern noch am Beispiel des Streiks beamteter Fluglotsen und an der ganz anderen Haltung etwa unserer beamteten Lokomotivführer exemplifiziert. Wenn diese Lokomotivführer nicht streiken, dann doch nicht etwa deshalb, weil sie nicht bummeln könnten oder weil sie keine Forderungen gegen den Staat hätten, sondern weil in ihnen noch Tugenden lebendig sind, die in einer langen geschichtlichen Tradition in diesem Lande gewachsen sind, die aber heute verlacht werden.
Wenn erst eine ganze Generation nach der Konflikttheorie der Rahmenrichtlinien von Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen erzogen sein wird, werden wohl nicht nur die Fluglotsen, sondern auch viele andere Spezialisten ihre Macht mißbrauchen. Was sollte sie daran hindern? Es muß eben auch das Ethos des Beamten geben, der nicht nur Privilegien will, sondern auch Pflichten übernimmt und sogar bereit ist, auf ein Streikrecht zu verzichten.Meine Damen und Herren, den demokratischen Staat intakt zu erhalten, die Grenze zu den Verfassungsfeinden deutlich zu ziehen und offensiv zu verteidigen, das ist nicht, wie viele von Ihnen sagen, rechtskonservativ-reaktionär, sondern das ist die Pflicht jedes demokratischen Politikers.Ich komme zum Schluß. Zum Grundgesetz gibt es keine Alternative. Dieser apodiktische Satz am Anfang unseres Entschließungsantrags will mit der Klarheit, die der Sache angemessen ist, deutlich machen, daß die Demokraten in Deutschland jede Alternative ablehnen, weil es für uns keine Alternative gibt, weder eine linksfaschistische noch eine rechtsfaschistische, weder eine rätedemokratische noch eine ständestaatliche, weder ganz noch halb, noch zu einem Viertel. Für uns gibt es auch keine Konvergenz, keine Vermischung der Systeme. Für uns gibt es nur diese freiheitlich-rechts- und sozialstaatliche Demokratie im Sinne unseres Grundgesetzes. Das deutlich zu machen für die Bürger im Lande und die Menschen in der Welt ist der Sinn unserer Entschließung, die auf jede Polemik verzichtet
und der alle zustimmen können, die auf dem Boden der Verfassung stehen.
Der Deutsche Bundestag ist aufgerufen, ein Signal zu setzen und den verfassungstreuen Kräften im Lande den Rücken zu stärken.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Kollege Wagner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das zweite Mal in kurzem Abstand, daß ein Redner der CDU/ CSU-Fraktion wegen des Inhalts seiner Rede unterbrochen wird. Das erste Mal war es bei Herrn Kollegen Häfele, und heute ist es bei Herrn Kollegen Dregger, weil er nicht gebeten hat, ein Zitat verwenden zu dürfen. Nach unserer Auffassung ist dies in der Geschäftsordnung nicht vorgeschrieben und durch die Geschäftsordnung auch nicht ge-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5013
Wagner
deckt. Wir sehen darin eine Beeinträchtigung der Redefreiheit
und möglicherweise den Ansatz für den Beginn einer Zensur, die keiner von uns haben will.
Meine Damen und Herren, wir müssen, so meine ich, diese grundsätzliche Frage vor Fortführung der Debatte klären. Aus diesem Grunde bitte ich um Unterbrechung der Sitzung um eine halbe Stunde und um Einberufung des Ältestenrats zur Klärung dieses Themas.
Zur Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Wienand.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion wird der Unterbrechung selbstverständlich zustimmen.
Nur zwei Feststellungen vorab: Wir bedauern, daß in der Begründung des Unterbrechungswunsches schon eine Wertung gegenüber der amtierenden Präsidentin lag, eine Wertung, die erst im Ältestenrat vorgenommen werden sollte.
Dies, meine Damen und Herren — da können Sie ruhig hinauslaufen —, ist der schlechteste Stil, der je in diesem Haus praktiziert worden ist.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 10.50 Uhr.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung wird wieder aufgenommen.
Nach einer Sitzung des Ältestenrates erkläre ich: Meine Bitte an den Abgeordneten Dregger, zur Sache zurückzukommen, kam nicht einem Sach- oder Ordnungsruf nach § 40 gleich. Wenn ich in der aufkommenden Unruhe und Erregung eine mißverständliche Ausdrucksweise gewählt haben sollte, bedaure ich das ausdrücklich. Herr Abgeordneter Dregger hatte nicht, wie es der Übung des Hauses entspricht, die Präsidentin um Genehmigung des Zitierens gebeten. Ich war der Auffassung, daß ein weiteres Zitieren aus dem Vokabular des NS-Studentenbundes von der Sache wegführe. Eine politische Wertung und ein Eingriff in die Redefreiheit waren mit meiner Bemerkung nicht beabsichtigt.
Bitte, Herr Abgeordneter Wagner zu einer Erklärung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dieser Erklärung und Entschuldigung der Frau Präsidentin erkläre ich meinen vorhin erhobenen Vorwurf für gegenstandslos.
Meine Damen und Herren, wir fahren fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu der Rede des Herrn Kollegen Dregger möchte ich eingangs nur zitieren, was der Vorsitzende der CDU, Helmut Kohl, offensichtlich in Kenntnis dessen, was Herr Dregger vortragen wird, vor kurzem gesagt hat.
— Da ich die Erklärung der Frau Präsidentin von soeben so verstehe, daß die Genehmigung nicht notwendig ist, zitiere ich.
Herr Abgeordneter, die Frage, ob wir uns üblicherweise daran halten sollten, haben wir im Ältestenrat noch nicht geklärt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank für die Klarstellung, Frau Präsidentin! Dann bitte ich um die Genehmigung. Darf ich es, Frau Präsidentin, ein bißchen generell machen, weil ich öfter zitieren muß?Herr Kohl also sagte folgendes:Es ist die verhängnisvolle Neigung vieler Deutscher, alles, was ihnen nicht in den Kram paßt, sogleich für verfassungswidrig zu halten, und umgekehrt alles, was sie aus irgendwelchen Gründen wünschen und wollen, als Gebot der Verfassung auszugeben.
Im übrigen werde ich an der geeigneten Stelle auf Sie zurückkommen, Herr Kollege Dregger.
Ich hoffe, daß wir uns in diesem Hause darüber einig sind, daß unsere Verfassung nicht ein Organisationsstatut ist, sondern daß durch sie mehr geregelt und abgegrenzt und möglich gemacht werden soll, nämlich die Voraussetzungen für die einzelnen Menschen und für die Gemeinschaft der Menschen, ihre Gaben für sich und für die sie umgebende Gemeinschaft zu entfalten. Und — ich zitiere dazu die Verfassung meines Heimatlandes Baden-Württemberg —:Der Staat hat dem Menschen dabei zu dienen.
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5014 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Schäfer
Diese Auffassung ist heute Allgemeingut. Die Frage ist, ob man immer danach handelt.Diese Gestaltung einer Verfassung, das Erkennen, was zu einer Verfassung gehört, gibt es für uns Sozialdemokraten seit 110 Jahren, seit Lassalle 1862 und 1863 gesagt hat, was Verfassung ist. Ich darf zitieren:Wir haben also gesehen, was die Verfassung eines Landes ist, nämlich die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse. Die Herren Borsig und Egells, die großen Industriellen überhaupt, die Bankiers Mendelssohn und Schickler, die Börse überhaupt, das ist ein Stück Verfassung.Und er sagte weiter, an den einzelnen gerichtet:Allen einzelnen aber durch die großen Gesamteinrichtungen des Staats in einer den jedesmaligen Zeitbedürfnissen entsprechenden Weise die reale Möglichkeit zur Selbsthilfe und Selbstentwicklung zu gewähren, das ist gerade der erste Sinn der Freiheit, das ist der wahre Inhalt aller gesellschaftlichen Ordnung, das und nicht der bloße Polizeizweck, Verbrechen abzuwehren, ist der letzte Grund und Zweck des Staates, der nicht den Ministern oder den Königen gehört, sondern durch alle und für alle da ist.Auf dem Boden dieses verfassungspolitischen Verständnisses haben Sozialdemokraten seit 1863 gekämpft, gelitten, Leben und Freiheit eingesetzt und geopfert. Auf diesem Boden haben die Sozialdemokraten im Parlamentarischen Rat — ich nenne stellvertretend für alle anderen Carlo Schmid diese Verfassung gestaltet, die sozialdemokratischen Vorstellungen entspricht und die sozialdemokratisches Gedankengut in guter — ich möchte fast sagen: in bester Weise wiedergibt.
Dieses Grundgesetz ist eine große Leistung, weil es gelungen ist, diesen Forderungen, die ich eben skizziert habe, gerecht zu werden, gleichzeitig Zielvorstellungen deutlich zu machen und innerhalb dieser Zielvorstellungen die politische Entwicklung als eine selbstverständliche Aufgabe möglich zu machen. Für uns Sozialdemokraten ist das auch heute eine Selbstverständlichkeit, und wir haben das in unserem Godesberger Programm sehr deutlich formuliert. Ich darf daraus zitieren.
— Herr Klein, auf Sie komme ich nachher zurück. Sie werden zufrieden sein.
-- Da haben Sie auch wieder recht; Sie werden es wahrscheinlich nicht sein, Herr Stark.
— Ach, Herr Reddemann, Sie nicht! Sie besser nicht!
Ich zitiere also:Der Staat soll Vorbedingungen dafür schaffen, daß der einzelne sich in freier Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Verpflichtung entfalten kann. Die Grundrechte sollen nicht nur die Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat sichern, sie sollen als gemeinschaftsbildende Rechte den Staat mitbegründen.Als Sozialstaat hat er für seine Bürger Vorsorge zu treffen, um jedem die eigentverantwortliche Selbstbestimmung zu ermöglichen und die Entwicklung einer freiheitlichen Gesellschaft zu fördern. Durch Verschmelzung des demokratischen mit dem sozialen und dem Rechtsgedanken soll der Staat zum Kulturstaat werden, der seine Inhalte von den gesellschaftlichen Kräften empfängt und dem schöpferischen Geist der Menschen dient.Und, Herr Dregger, damit Sie es für die Zukunft wissen und nicht wieder falsch zitieren — ich hoffe nicht, daß Sie es bewußt falsch dargestellt haben; ich nehme an, Sie haben es von einem früheren Fälscher abgeschrieben; denn es gibt deren viele —,
will ich Ihnen hier auch das Grundsatzprogramm der SPD wörtlich zitieren:Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt.
— Lesen Sie doch noch einmal nach, was Sie falsch gesagt haben. Herr Dregger, da Sie sich so erfreulich viel mit der SPD befassen, will ich Ihnen ein Originalgrundsatzprogramm zuleiten, damit sie es dann richtig zitieren können.
— Nein, Sie haben es falsch zitiert!
Herr Dregger, ich nehme zur Kenntnis, daß Sie der Meinung sind, Sie hätten es richtig zitiert. Deshalb sage ich nicht, Sie hätten bewußt falsch zitiert. Und Sie werden sich überzeugen, daß gerade die Form, wie Sie zitiert haben, das bedeutet.
— Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, wir sollten uns darüber einig sein, daß es keinen Alleinanspruch gibt.
— Entschuldigen Sie, sie wird erfüllt. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten der Erfüllung.
— Entschuldigen Sie, wir sind in einem pluralistischen Staat, und nach unserer Auffassung wird die Forderung des demokratischen Staates erfüllt in dieser Weise, wie es unser Grundprogramm vor-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5015
Dr. Schäfer
sieht. Sie mögen es in anderer Weise sehen; ich komme gleich darauf.
— Augenblick, ich muß den Gedanken zu Ende führen, Herr Jenninger. — Sie sahen es von der CDU aus im Ahlener Programm.
Nun komme ich zu einer Ihrer grollen Schwierigkeiten, Herr Dregger, zu einer der großen Schwierigkeiten der CDU/CSU in dieser Verfassung. 1948/49, als das Grundgesetz geschaffen wurde, hatten wir Sozialdemokraten eine 85jährige politische Geschichte; die Liberalen hatten ihre jahrhundertealte Geschichte; die CDU hatte keine.
— Herr Dregger, ich habe Sie angehört, hören Sie bitte auch zu. Wir wollen uns hier ja auf einige Dinge, hoffe ich, aufmerksam machen, die zum Nachdenken Anlaß geben. Wenn das nicht der Sinn Ihrer Rede gewesen sein sollte, müßte ich Ihre Rede ja ganz merkwürdig deuten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?
Noch nicht, ich muß den Gedanken zu Ende führen, Herr Jenninger. Ich lasse mir die Gedanken nicht zerreißen, Herr Jenninger; davon haben wir alle nichts.
1948/49, als das Grundgesetz geschaffen wurde, hatten wir unsere Basis und wußten, was wir mit diesem Grundgesetz wollen, und die Liberalen hatten ihre Basis. Und Sie — ich respektiere das —, die Kräfte, die sich in der CDU neu gesammelt haben, haben sich Mühe gegeben, haben ihr Ahlener Programm formuliert, das in seiner Konzeption bei der Schaffung des Grundgesetzes zugrunde lag. Das haben Sie verlassen, und Sie sind bis zu Ihrem ersten Parteitag in Berlin vor drei Jahren richtungslos geblieben.
— Zu Ihnen komme ich gleich. Das war bis zu Ihrem Parteitag in Hamburg, wo Sie sich ehrlich bemüht haben — und das ist ein Fortschritt, den wir begrüßen —, auf die politischen Fragestellungen Antwort zu geben.
Aber das ist doch auch wieder interessant: An dem Tag, meine Damen und Herren, an dem Ihr Parteitag war, hat in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Johannes Gross einen Artikel mit der Überschrift „Das falsche Thema der CDU" geschrieben und der CDU gesagt: Wie könnt ihr bloß über Mitbestimmung und solche Dinge reden! Meine
Damen und Herren, die Themen für die politischen Parteien, für die Politik kann man sich nicht suchen, sondern die Themen ergeben sich aus der gesellschaftlichen Entwicklung und werden uns gestellt. Und wer glaubt, vor ihnen davonlaufen zu können, erfüllt die Aufgabe einer politischen Partei nicht.
Herr Kollege Schäfer, ich wollte Sie eigentlich im Zusammenhang mit dem Wort „erfüllt", das Sie vorhin gebraucht haben, fragen: Wie können Sie diese Formulierung des Godesberger Grundsatzprogramms mit der wiederholten Aussage des Herrn Bundeskanzlers vereinbaren, daß die Demokratie nur durch den Sozialismus „vollendet" werde?
Ihnen schicke ich noch etwas Weiteres zu als nur das Grundsatzprogramm. Sie können das dann studieren.
— Ich beantworte sie in der Form, Herr Kollege Kiesinger, wie ich es für richtig halte. Sie können ja nachher dazu Stellung nehmen. Ich werde dann auch an Sie eine Frage stellen, Herr Kiesinger, zu der Sie Stellung nehmen dürfen.
Meine Damen und Herren, wir sagen uns hier einige Dinge, die zu Überlegungen Anlaß geben. Die CDU hat, nachdem sie ihr Ahlener Programm aufgegeben hat, keine neue politische Generallinie gefunden.
Sie hat keine neue Generallinie gefunden. Ich werde
es Ihnen im einzelnen darstellen, und ich hoffe, damit Ihnen zu helfen, um damit uns allen zu helfen.
Ich komme auf den Punkt zurück, Herr Heck, dann können Sie danach fragen.
In dieser Situation meinte nun die CDU, eine polemische Debatte über Verfassungstreue gegen uns beginnen zu können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
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5016 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Ich hatte gesagt, ich komme nachher auf den Punkt zurück. Herr Heck kann dann fragen.
Ich hoffe, daß die CDU/CSU inzwischen gemerkt hat, daß man in der deutschen Öffentlichkeit inzwischen sehr genau registriert hat, was dieser Versuch sollte. Ich meine, ich sollte Ihnen dazu etwas vorlesen, was für mich von Interesse ist. Herr Barzel kann heute nicht hier sein, also hat er seine Rede zu diesem Punkt schon am 6. Februar gehalten. Er hat am 6. Februar in Paderborn gesagt — ich habe den Wortlaut seiner Rede —:
Diese Besinnung auf unser Grundgesetz sollte niemandem Anlaß sein, parteipolitische Süppchen zu kochen,
nur zum Kampf gegen die unbezweifelbar vorhandenen und aktiven Feinde der Verfassung aufzurufen, sich nur der ebenso unbezweifelbar vorhandenen und aktiven Erfolge dieser zweiten gelungenen Demokratie zu berühmen.
Es gibt noch mehr Punkte. Ich werde sie Ihnen nicht vorenthalten.
— Ja, die Punkte bekommen Sie alle noch zu hören.
Wenn ich dann lese, was der Herr Kollege Klein gesteren veröffentlicht hat: Herr Kollege Klein, dazu kann ich Ihnen nur sagen, es stellt sich jeder auf seine Weise dar und heftet sich das Etikett an, das er in diesem Hause tragen wird.
— Abg.
Klein [Göttingen] : Ich bin nicht zufrieden!)
— Wenn Sie nicht zufrieden sind, sollten Sie in diesen vier Jahren der Legislaturperiode manchmal bedenken, was ich Ihnen eben gesagt habe.
Ich bin mit dem Herrn Dregger und hoffentlich mit dem ganzen Hause in Übereinstimmung, daß wir eine Gesamtverantwortung für diese Verfassung tragen. Dabei fallen den einzelnen politischen Gruppierungen, Parteien, verschiedene Aufgaben zu, die zu erfüllen sind. Wenn z. B. Herr Strauß gestern sagt — ich zitiere die „Frankfurter Allgemeine" —:
Wir sind heute mehr die Partei Eberts und Noskes als die SPD, die sich gar nicht mehr traut, Ebert vorzuzeigen.
Meine Damen und Herren, entweder ist dies überhebliche Arroganz oder der Versuch einer Beleidigung von Ebert und Noske, oder es ist ein Vorsatz,
dem dann die Heren nacheifern mögen, Ebert und Noske zu sein; aber in der Weise —
-- Herr Jenninger, Rosa Luxemburg ist auch ein Ted unserer Geschichte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller ?
Ich habe gesagt: jetzt noch nicht. Ich komme nachher darauf.
Ich muß nämlich jetzt eine Frage an den Herrn Kiesinger stellen. Ich sagte: es gibt verschiedene Verantwortungen der politischen Gruppen. Hier im „Spiegel" Nr. 4, Herr Kiesinger, wird zitiert aus einer Darstellung des Herrn Rehwinkel, aus der sich — —
— Die habe ich bis heute nicht dementiert gefunden. Es ist ein so schwerwiegender Vorwurf, Herr Kiesinger, der hier steht; der sollte auf einem Politiker Ihres Ranges nicht lasten bleiben. Deshalb stelle ich die Frage hier. Der Vorwurf ist allzu deutlich, nämlich dahin gehend: nicht nur bei der Bundespräsidentenwahl hat man mit der NPD zusammengespielt, sondern insgeheim, so steht es hier, war das Zusammenspiel mit der NPD auch nach 1969 erwünscht. Dazu wäre es gut, wenn Sie sich nachher zu Wort meldeten, um das klarzustellen.
— Sie verstehen, Herr Kollege Kiesinger, es ist nicht gut, wenn eine solche Frage hier stehenbleibt.
Gestatten Sie bitte die Zwischenfrage, Herr Kollege.
Bitte schön.
Darf ich mit einer Gegenfrage das Problem, hoffe ich, auch beantworten. Herr Kollege Schäfer, haben Sie nicht bemerkt, daß während des Bundestagswahlkapmfes 1969 nicht nur meine Partei, sondern auch ich selbst mit aller Schärfe der NPD entgegengetreten sind und unsere Wähler gewarnt haben, diese Partei zu wählen?
Herr Kiesinger, die Methodik der Gegenfrage kennen wir. Sie ist aber keine Antwort auf meine Frage.
Herr Kiesinger, lassen Sie das nicht stehen, was hiersteht! Lassen Sie das nicht stehen, daß Sie 1969 nach
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5017
Dr. Schäfer
der Wahl sich so geäußert haben sollen! Das ist eine Belastung für das ganze Haus.
Mit der Auffassung, daß Sie das Ahlener Programm aufgegeben und damit Ihre Basis verloren haben, bin ich ja nicht allein.Da habe ich am 28. Dezember eine Fernsehdiskussion gesehen: Oswald von Nell-Breuning, der Herr Kollege Blüm von hier und der Herr Kollege Müller [Remscheid], und in der Ankündigung heißt es:„Der Sozialkatholizismus ist eines sanften Todes entschlafen." So urteilte vor kurzem einer der Wegbereiter dieser Bewegung, der Jesuit Oswald von Nell-Breuning.Und die ganze Sendung hatte diesen Tenor. Und vordrei Wochen stellt sich der Herr Blüm hier hin undredet Dinge, die damit gar nicht im Einklang stehen.
Meine Herren, das ist Ihre Situation.
Die Verfassung dieses Staates geht von der Machtbalance aus. Die Verfassung dieses Staates kennt die Machtbalance im staatlichen Bereich und im gesellschaftlichen Bereich. Sie ist eine der Voraussetzungen für das Funktionieren dieses Staates. Ich weiß, es ist nicht mehr die alte Gewaltenteilungslehre von Montesquieu: Teilung der Gewalt zwischen Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung. Es sind neue öffentliche Gewalten entstanden. Ich nenne nur mal: Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirche, Presse, Rundfunk, Fernsehen. Daß die alle in einem Balancesystem sind, das ist eine Gewähr unserer Freiheit. Deshalb ist es eine Aufgabe für den Gesetzgeber, diese Balance zu sichern, z. B. die Meinungsfreiheit zu sichern,
aber als erstes im staatlichen Bereich den Föderalismus zu sichern.Lassen Sie mich zum Föderalismus folgendes sagen. Wir Sozialdemokraten haben hier viel dazugelernt. Ich bin froh, daß Sozialdemokraten 1949 in dieser richtigen Richtung mitgewirkt haben. Föderalismus ist nicht ein historisches Mitschleppen von ehemaligen staatlichen oder monarchischen Gebilden, sondern ist eine echte Funktion der Gewaltenteilung. Auf der anderen Seite hat er den weiteren großen Vorteil der Konzentration der politischen Kräfte, gleichgültig, von welcher Seite, weil man nämlich bei der heutigen Konstellation immer davon ausgehen kann, daß alle drei Parteien irgendwie in der politischen Vollverantwortung stehen.
Das hat es uns z. B. ermöglicht — früher hat man es nicht geschafft —, ein einheitliches Konzept auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, ein Bund-LänderKonzept des Zusammenwirkens, zu entwickeln. Das muß uns aber auch in die Lage versetzen — hier darf ich mich an die Bundesratsbank wenden, die heute erfreulicherweise stark besetzt ist , auf dem Bildungssektor durch einen Bildungsgesamtplan und durch die notwendige Zusammenarbeit im Bildungswesen eine Einheitlichkeit zu schaffen, um den Föderalismus zu bestätigen und nicht Entwicklungen in Gang zu setzen, die wir nicht wollen.
— Deshalb hat dieses Haus, Herr Kollege Stücklen, die Enquete-Kommission Verfassungsreform eingesetzt, um genau in diese Richtung die Entwicklung richtig weiterzuführen, nicht zu der Frage, ob der eine oder der andere mehr tut, sondern im Sinne der Machtbalance und im Sinne des Zusammenwirkens. Ich hoffe, daß man hier die Bemühungen, die von allen Seiten unternommen werden, auch tatsächlich unterstützt.Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu einer Entwicklung sagen, die ganz groß auf uns zukommen soll — wir wünschen sie alle —, nämlich daß sich über diesen Bundesstaat ein neuer Bundesstaat schieben möge: die EWG.
— Europa, der Bundesstaat Europa; den wollen wir alle. Lassen Sie mich aber vorweg sagen, meine Damen und Herren: Dazu gehören Mut und Beharrlichkeit und noch einmal Beharrlichkeit; hier darf man nicht nach Tagesentwicklungen, Tageserscheinungen politisch resignieren.Wir müssen anerkennen, daß diese Regierung 1969 wesentliche Impulse dafür gegeben hat, daß die EWG vergrößert werden konnte. Heute befinden wir uns in einem Wellental dieser Entwicklung. Es ist jedoch eine alte Erkenntnis in der Politik, daß man in einer solchen Situation keine Entscheidungen trifft, weil sie negativ sein können. Wir wissen, daß es niemanden in diesem Hause und keine deutsche Regierung gibt, die diese Dinge nicht vorantreiben wollten. Ich muß dabei aber auch sagen: die Verfassung für die EWG, wie sie durch den EWG-Vertrag geschaffen wurde, kann für uns, aus unserem parlamentarischen Staatsverständnis heraus, nur eine vorübergehende Lösung sein. Es darf keine Dauerlösung werden, daß das Europäische Parlament deshalb nicht funktionsfähig ist, weil es gar keine Funktionen im eigentlichen Sinne eines Parlaments hat und die Gesetzgebung durch den Ministerrat erfolgt. Es muß unsere gemeinsame Anstrengung sein, über diese Entwicklung hinwegzukommen, und zwar in die Richtung einer Verfassung, wie wir sie haben, wie sie andere Staaten haben.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, wir stimmen auch darin überein, daß wir, so wie wir hier sitzen, in unserem Alter langfristig, langatmig, hartnäckig Geduld haben müssen, um die nächste Generation in die richtige Entwicklung hineinzubringen. Wir dürfen alle dankbar feststellen, daß wir keine Töne von
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Dr. Schäfer
der nächsten Generation hören, die die europäische Entwicklung stören könnten.
— Weil die Direktwahl von uns Deutschen allein gesehen keine Lösung ist, sondern weil sie im ganzen zu sehen ist, Her Kollege Jenninger, und weil es auf die Kompetenz des Parlaments ankommt.
Lassen Sie uns gemeinsam nach Wegen suchen, wie wir hier weiterhelfen können! Aus Ihrer Zwischenfrage und aus der Zustimmung ersehe ich, daß wir hier alle einer Meinung sind.Meine Damen und Herren, nicht nur die Europapolitik, sondern die gesamte Außenpolitik dieser Bundesregierung ist eine Friedens- und Entspannungspolitik, die dem Auftrag des Grundgesetzes gerecht wird, mit unseren Nachbarn in Frieden zu leben. Auch hier haben wir es mit schwierigen, langfristigen Entwicklungen zu tun.Lassen Sie mich hier auch ein Wort zur Bundeswehr sagen. Die Reformpolitik im Innern und die Friedenspolitik nach außen stehen im Einklang mit dem Bild einer Bundeswehr, die voll in ihre Aufgabe als eine friedenssichernde Schutzkraft hineingewachsen ist. Wir sind froh, feststellen zu können, daß diese Bundeswehr gleichermaßen selbstverständlich heute von einem sozialdemokratischen Verteidigungsminister wie früher von Ministern der Christlich-Demokratischen Union geleitet wird. Dies gibt uns das sichere Gefühl, Streitkräfte zu haben, die sich ihrer Einbindung in die demokratisch-parlamentarische Struktur dieses Staates bewußt sind und ihre Tätigkeit danach ausrichten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege Schäfer, haben Sie damit auch die Meinung Ihrer Kollegen Horn und Hansen kundgetan?
Ich habe die Meinung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion kundgetan, die jeder in diesem Hause verstanden hat.
Lassen Sie mich auf ein anderes Thema eingehen und dabei zunächst auf dieses Haus zu sprechen kommen. Kurt Schumacher — Herr Präsident, ich habe darum gebeten, generell zitieren zu dürfen; es handelt sich immer nur um kurze Zitate — hat 1949, als man hier begonnen hat und die SPD in die Opposition kam, die Aufgabe der Opposition wie folgt umschrieben:
Opposition ist Bestandteil des Staatslebens,
nicht eine zweitrangige Hilfestellung für die
Regierung. Die Opposition ist die Begrenzung
der Regierungsmacht und die Verhütung der Totalherrschaft. Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen.
Meine Damen und Herren, jetzt muß ich auf das —Herr Heck, dies sage ich auch an Ihre Adresse — zurückkommen, was ich vorher sagte. Sie haben die Basis verloren, als Sie das Ahlener Programm aufgaben. Sie haben kein neues Grundsatzprogramm gehabt. Das ging bis zur Gefälligkeitsdemokratie des ehemaligen Kanzlers Erhard. Das ging bis zur Gefälligkeitsdemokratie mit Staatskrise 1964/65, zu der der nachmalige Bundeskanzler Kiesinger sehr deutlich sagte: Diesem Regierungswechsel ist eine lange schwelende Krise vorausgegangen. Als Sie im Frühjahr 1965 hier Gesetze verabschiedeten, zu denen der SPD-Sprecher Alex Möller sagte: Diese Gesetze kann niemand erfüllen; wir Sozialdemokraten wenden uns dagegen!, haben Sie, Herr Erhard, als Kanzler die Verantwortung dafür übernommen. Damals haben Sie — winken Sie nicht ab; das ist eine schlimme Sache — die Glaubwürdigkeit dieses Hauses gefährdet. Wir mußten später 36 Gesetze ändern, die Sie vor der Wahl als GefälligkeitsdemokratieKanzler verabschieden ließen,
und zwar — gestützt auf die Mehrheit, die Sie hier im Parlament hatten — nur mit dem Blick auf den Wähler. Man neigt dazu, in diesem Zusammenhang ein hartes Wort des Strafrechts zu gebrauchen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Heck?
Bitte, Herr Heck!
Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen nicht bekannt, daß die Christlich-Demokratische Union Deutschlands, nachdem sie sich 1950 als Bundespartei konstituiert hat, 1953 in Hamburg ein Programm verabschiedet hat und daß dieses Programm bis 1969 die Grundlage Ihrer Politik gewesen ist?
Herr Heck, mir ist bekannt, daß Sie als früherer Generalsekretär der CDU, nachdem ,die SPD ihr Grundsatzprogramm verabschiedet hatte, dieses Programm sehr gründlich studiert und sich auch öffentlich damit auseinandergesetzt haben und dann eine Programmkommission einberufen und den Versuch gemacht haben, von dem, was Sie selbst nicht „Programm" nannten und nicht gelten ließen — ich meine die Hamburger
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5019
Dr. Schäfer
Beschlüsse von 1953 —, endlich zu einem Programm zu kommen. Das ist die Situation.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage.
Wir machen kein Zwiegespräch. Das ist in Ihrem Interesse.
— Herr Rawe, ich bleibe keine Antwort schuldig. Haben Sie keine Sorge!Die CDU ist davon auch nicht mehr heruntergekommen. Im letzten, im 6. Bundestag hat es der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion am 15. Dezember letzten Jahres, nachdem der Wähler gesprochen hatte, von diesem Platz aus unmißverständlich deutlich gemacht, auch wenn es sich aus dem Protokoll nicht mehr ganz so deutlich ergibt.
- Das hat Herr Barzel gesagt, Herr Rawe. PassenSie auf, was er sagte! Herr Barzel sagte folgendes, wie das andere auch; das steht nicht im Protokoll, aber es steht in meiner Erinnerung; ich habe mich vergewissert. Ich lese Ihnen gleich vor, was Herr Barzel gesagt hat.
- Sie scheinen es zu wissen; denn es ist Ihnen sounangenehm.Ich lese jetzt vor:In diesem 7. Deutschen Bundestag sind durch die Wähler selbst die Aufgaben klar verteilt. Sie sollen Regierung, wir sollen Opposition sein. Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, an jedem Tag und zu jedem Thema den Vorschlägen der Regierung die der Opposition entgegenzusetzen, diesen noch zuvorzukommen oder alles rundweg ablehnen zu müssen, was von der Regierung kommt. Wir werden unser kritisches Wächteramt sehr grundsätzlich auf Schwerpunkte konzentriert und darauf angelegt wahrnehmen, im Jahre 1976 die bessere Alternative zu sein.Vorher hatte er aber sinngemäß gesagt, im 6. Bundestag habe man jeden Tag auf Regierungssturz, aber nicht auf politische Alternative hingearbeitet.Meine Damen und Herren, wenn Sie einmal in der Lage sind, Ihre jetzigen Anträge kritisch anzusehen, dann sind Sie wieder bei Gefälligkeitsdemokratie angelangt.
Dann stellen Sie Anträge zum Schaden des Ganzen. Dann stellen Sie Anträge für einzelne Gruppen
— ich komme gleich darauf, Herr Kollege —, genau wie 1965. Genau das darf weder die Opposition noch überhaupt eine Gruppe hier machen. Hier hat man Verantwortung fürs Ganze zu tragen, meine Damen und Herren.Lassen Sie mich, wenn ich beim Parlament bin, etwas weiteres sagen. Es gibt ein unbehagliches Gefühl über das Parlament. Dieses Gefühl ist in der 6. Legislaturperiode durch die verhältnismäßig große Zahl von Abgeordneten, die ihre Fraktion gewechselt haben, wesentlich genährt worden. Da gab es eine Debatte und gibt es heute noch. Da gibt es Überlegungen, wie man denn dem zuvorkommen könne, wie man das beheben könne. Ich sage Ihnen: Ich habe meine Zweifel, ob man das verfassungsrechtlich, gesetzlich zwischen Art. 21 und 38 GG, also zwischen Parteienprivileg und Stellung des Abgeordneten, einwandfrei regeln kann.Aber muß denn alles, was notwendig ist, was man von einem nicht anders erwarten kann, in einem Gesetz gesagt sein, damit man es tut? Ist es nicht möglich, daß wir in diesem Hause zu einer Regelung kommen, die vom Volk verstanden wird?!
Meine Damen und Herren, wir alle haben im Wahlkampf bei denen, die meine Partei und Ihre Partei beauftragen wollten, um die Übertragung eines Mandats gebeten. Wenn ich mich um ein Mandat bewerbe und es bekomme und eines Tages glaube, es nicht mehr tragen zu können, dann habe ich nur die eine Möglichkeit: mich dieser Aufgabe zu entziehen, indem ich das Mandat zurückgebe.
Man hat nicht das Recht — Sie mögen es verfassungsrechtlich drehen und wenden, wie Sie wollen —, und das Volk versteht es nicht, daß man das Mandat wie ein Eigentum behandelt und mitnimmt.
Daraus ergab sich erfreulicherweise dann auch bei der CDU eine Diskussion; denn da sind ja auch lebendige kritische Kräfte.
— Da sind Sie, Herr Reddemann, Gott sei dank nicht allein. Da gibt es ja auch noch andere Leute. Ich werde Sie Ihnen nachher vorlesen.
— Da sind Sie, Herr Reddemann, Gott sei Dank nicht zweien würde die anderen in Kürze kaum mehr interessieren. Daraus entstand nicht zuletzt die alte Debatte über das imperative Mandat. Das ist keine neue Geschichte, sondern die Frage: Wie kann ich darauf einwirken, daß sich der von mir Beauftragte auch so verhält, wie er versprochen hat?Für uns Sozialdemokraten sieht die Sache sehr einfach aus. Wir sind in regelmäßiger Aussprache mit unseren Wählern, wir sind in regelmäßigem kritischem und hartem Kontakt und in Aussprache mit unseren Parteigremien, und der Abgeordnete muß nachher allein die Verantwortung dafür tragen, wie
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Dr. Schäfer
er sich hier entscheidet — dafür steht er nach vier Jahren zur Wahl —; das hat er allein zu entscheiden.Herr Carstens, ich kenne nur ein imperatives Mandat, das seit Jahren praktiziert wird, und dazu, glaube ich, haben wir einen Anspruch auf eine Antwort von Ihnen als Fraktionsvorsitzendem. Es gibt in diesem Hause meine Damen und Herren, Sie werden überrascht sein — seit Jahren die Praktizierung eines imperativen Mandats. Ich habe hier schon einmal gefragt, ich habe es in einem Buch geschrieben; ich habe keine Antwort bekommen. Bei Beginn jeder Legislaturperiode schließen CDU und CSU ein Abkommen, in dem die CDU verspricht, in keinem Fall von Fragen der föderalistischen Ordnung
— ja, vielen Dank; Sie bestätigen, so ist es; schön, Herr Stücklen, das habe ich gewollt —
die CSU zu überstimmen. Das heißt, es gibt in diesem Hause keine Verfassungsänderung — vielen Dank, Herr Stücklen! —, wenn nicht die kleine Partei, die CSU, zustimmt. Die CDU, Herr Carstens, hat sich global, generell von Anfang an verpflichtet, das zu respektieren. Das ist imperatives Mandat, das einzige, das es gibt.
Das ist imperatives Mandat.
— Herr Stücklen, es ist mir ein Vergnügen, mitIhnen zu ,diskutieren, aber ich verstehe Sie so nicht.
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Dr. Schäfer
Ein Wort zum Verfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich als ein gutes und wirkungsvolles Instrument erwiesen. Daß das Bundesverfassungsgericht in Entscheidungen kritisiert wird, ist eine normale Angelegenheit. Das steht Ihnen zu, das steht auch Herrn Carstens in seinem Buch zu. Das steht jedem von uns zu.
Es ist immerhin beachtlich, daß das Bundesverfassungsgericht Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, mehrfach anhalten mußte, die Verfassung zu achten und zu vollziehen, z. B. durch das Urteil — mit Terminsetzung — über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, z. B. durch zwei Urteile im Abstand von sechs Jahren über die Schaffung des Rechts des nichtehelichen Kindes.
An die Machtversuche des Herrn Bundeskanzlers Adenauer, zurechtgewiesen im Fernsehurteil, werden Sie sich auch noch erinnern.
Herr Dregger, ich unterstelle wieder, daß Sie etwas nicht wissen; sonst hätten Sie es nicht so vorgetragen. Sie reden von einer abfälligen Äußerung von hoher Stelle aus. Es gibt eine gemeinsame Erklärung der Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesjustizministers, in der festgestellt wird, daß es eine solche Äußerung nicht gibt.
- Wenn Sie dem Herrn Benda nicht trauen, ist das Ihre Sache.
Es ist gesagt, daß es sie nicht gibt. Ich habe vorhin den Wortlaut eingesehen.
- Wenn es sie geben sollte, dann bedaure ich, daßso etwas passiert ist, und ich verurteile das. Ich verurteile es auch dann, wenn es im augenblicklichenÄrger geschehen ist; denn das dürfte nicht passieren.
— Einverstanden. Nächster Absatz, Herr Reddemann, passen Sie auf! Herr Carstens schreibt dann —„Politische Führung",
es ist nicht viel, es ist nur ein Absatz, Herr Präsident — auf Seite 86, nachdem er vorher, wie es ihm durchaus zusteht, an Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Bund-Länder-Verhältnis Kritik übt — —
— Herr Stücklen, Sie halten sich so zurück, und Sie halte ich für so verfassungstreu, daß ich mich mit Ihnen nicht befassen muß. Ich bin bei Herrn Carstens. Herr Carstens schreibt in seinem Buch:Man wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den Bund-Länder-Fällen nur dann richtig verstehen, wenn man bedenkt, daß die Hälfte der Richter vom Bundesrat gewählt wird. Damit ist die Stellung der Länder verfassungsmäßig stärker abgesichert als in irgendeinem Bundesstaat der Welt. Bisher wurde ein Teil der Richter überdies nur auf Zeit, nämlich auf die Dauer von acht Jahren, gewählt. Häufig fand nach Ablauf der Amtzszeit eine Wiederwahl statt.Und jetzt kommt es:Wer kann die Möglichkeit ausschließen, daß Richter, die ihre Wiederwahl anstrebten, dabei bedachten, welches Gremium sie gegebenenfalls zu wählen haben würde.Natürlich sind Einflüsse dieser Art niemals beweisbar.Aber Sie, Herr Carstens, verdächtigen diese Herren der Rechtsbeugung, und das ist das Schlimmste, was Sie tun können.
Das steht keinem Professor, das steht keinem Abgeordneten zu, den Richtern zu unterstellen, daß sie, schielend auf eine Wiederwahl, das Recht in ihrer Art dann gefällig auslegen. Eine schlimme Sache, die sich Herr Carstens hier zuschulden kommen ließ.Ich sagte vorher: Machtbalance ebenso im gesellschaftlichen Raum, Gebote des Grundgesetzes. Ich habe einige Bereiche aufgezählt. Lassen Sie mich nur auf einige eingehen, z. B. auf die Presse. Daß in der Gesamtgestaltung der Presse das Recht des Art. 5 des Grundgesetzes gewahrt wird, muß ja unser Bemühen sein. Daß wir uns deshalb bemühen, mit einem Presserechtsrahmengesetz mögliche Machtkonzentrationen, Machtverschiebungen zu verhindern — ich hoffe, daß wir uns darüber einig sind.Eine sehr wichtige Frage: Herr Carstens, Sie sprachen im Plenum vor kurzem über die MarktWirtschaft. Sie sagten:., die Angriffe ,der SPD oder großer Teile der SPD gegen die soziale Marktwirtschaft sind uns bekannt. Nach unserer Auffassung — ich will das hier nur noch einmal bestätigen — steht die soziale Marktwirtschaft mit der freiheitlichen Lebensordnung in unserem Lande in einem unlösbaren Zusammenhang, und deswegen sind diese Angriffe so gefährlich.Ich überlasse Ihnen das. Das ist Ihre Meinung.
Sie wissen, daß damit ein reines Besitzstanddenken ausgedrückt ist.
Ich will Ihnen einmal Radbruch aus dem Jähre 1928 gegenüberstellen der hat ja wohl kaum auf Sie geantwortet —:
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Mit der staatsbürgerlichen Gleichheit, wie die Verfassung sie gewährleistet, steht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit in schwer erträglichem Gegensatz. Ich sage nicht: die Ungleichheit der wirtschaftlichen Chance. Der Untertan ist zum Staatsbürger geworden, aber der Staatsbürger ist noch immer Wirtschaftsuntertan. Den Arbeitnehmer zum Wirtschaftsbürger zu erheben ist eine im Geiste der Verfassung selbst vorgezeichnete Aufgabe.Deshalb das Grundsatzprogramm der SPD in dieser Weise. Deshalb hoffe ich auch auf Einsicht und Mitarbeit derjenigen Kräfte in der CDU, die das ebenfalls für erforderlich halten.Mit Freuden sehe ich in einem Entschließungsantrag der Jungen Union, der heute veröffentlicht wurde und sich angenehm abhebt von dem, was Sie hier vorgetragen haben, den Hinweis darauf. — Ich will in Erinnerung rufen, daß in unserem Grundgesetz in Art. 74 Nr. 16 steht, daß der Bund das Recht der Gesetzgebung zur Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung hat. Der Verfassungsgeber hat das also als eine ausdrückliche Aufgabe des Parlamentes gesehen.Will denn jemand im Ernst sagen, daß man in den letzten Monaten auf dem Gebiete der Energieversorgung noch von einem Wettbewerb im Sinne der freien Marktwirtschaft ausgehen konnte? Wollen Sie nicht mit uns selbst ehrlich sagen, daß Marktwirtschaft eine funktionierende und nicht eine simulierte Wettbewerbssituation verlangt? Wollen Sie nicht mit uns ehrlich sagen, daß das das Schaffen von Machtpositionen zur Ausbeutung anderer und zur Anhäufung von Rieseneinnahmen ist?
— Daß Herr Erhard das nicht versteht, weiß ich. Das brauchen Sie nicht noch einmal zu betonen, Herr Erhard.
Lesen Sie einmal nach, was Herr Dichgans gesagt hat, veröffentlicht in dem Zwischenbericht ,der Enquete-Kommission. Daß man da ernsthaft Überlegungen anstellt, mindestens die Wettbewerbsfunktion wieder zu garantieren — ich hoffe, daß sogar Sie das mitmachen, es sei denn, daß Ihre Formulierung in Ihrem Antrag Augenwischerei ist.
Wir wollen die Mitbestimmung als Teil und als einen Schritt der Gleichberechtigung von Menschen. Wir wollen die Mitbestimmung als einen Schritt zum freien Wirtschaftsbürger, wie Radbruch damals noch sagte.
Ihre ganzen Angriffe in der letzten Zeit sind ohnmächtige Wut darüber, daß die Koalition dabei ist,dieses Problem zu lösen. Das ist aber nicht neu. Wirhaben ,das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet. Damals zeigte es sich: 22 von Ihnen haben mitgestimmt; so groß ist diese Gruppe, die dann auch den Mut hat, sich zu bekennen.
Ich will es mir ersparen, etwas zur Frage der Vermögensbildung zu sagen, denn ich möchte Ihnen doch einiges zur Eigentumsbildung auf dem Gebiet des Bodenrechts vortragen. Auf dem Gebiet des Bodenrechts zeigt es sich, ob die Entwicklung, die Art. 14 des Grundgesetzes vorschreibt, auch tatsächlich respektiert wird. Es sollte Ihnen, die Sie ein „C" in Ihrem Namen führen, doch nicht gleichgültig sein, wenn beide Kirchen 1973 folgendes veröffentlichten:Gleichzeitig sind Eigentümern von Grund und Boden viele Milliarden zugefallen, ohne daß sie zur Steigerung seines Wertes beigetragen haben. Ihr Gewinn ging auf Kosten der Großzahl der Mieter, der Sparer für ein Eigenheim und der Allgemeinheit. Er führte zu erhöhten Mieten und hat vor allem denjenigen, die sich ein Eigentum an Wohnraum zu schaffen suchten, ihr berechtigtes Bemühen erheblich erschwert und verteuert. Der Grund für diese außergewöhnlichen Gewinne liegt zumeist nicht in spekulativen Grundstücksgeschäften, sondern in einer sozial unangemessenen Ordnung des Bodenrechts.Das haben wir Ihnen 1961 hier gesagt.
— Da waren Sie noch nicht da, lesen Sie es nach!1961 haben Sie das weggewischt, weil Sie es nicht wollten, weil Sie von einem Besitzstanddenken und einem Gewinndenken für bestimmte Bevölkerungskreise ausgegangen sind.
Ich muß Ihnen, damit Sie nicht meinen, das sei von uns, noch einmal von beiden Kirchen folgendes vorlesen.
— Hören Sie zu, was die Kirchen sagen; normalerweise schweigen sie dort doch auch!Es heißt dort:Das Grundgesetz garantiert in Art. 14 entsprechend den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft das Eigentum als Grundrecht, um seinem Träger einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu ermöglichen. Dabei blieb lange unerkannt, daß das Grundgesetz keinen statistisch absoluten, die überkommene Eigentumsordnung zementierenden Wesensbegriff des Eigentums kennt. Inhalt und Funktion des Eigentums werden viel-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5023
Dr. Schäfer
mehr der Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernisse für fähig und bedürftig gehalten. Das Grundgesetz überträgt daher in Art. 14 dem Gesetzgeber die Aufgabe, Inhalte und Schranken der verschiedenen Eigentumsrechte unter Respektierung ihres Wesensgehalts näher zu bestimmen. Je weniger die Art des Eigentums auf persönliche Arbeit und Leistung zurückgeht, je mehr die Freiheit verbürgende Funktion zurücktritt und je stärker die Nutzung den Freiheitsbereich anderer einengt und Belange der Allgemeinheit beeinträchtigt, um so mehr Spielraum läßt die Verfassung dem Gesetzgeber für die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums.So sehen wir den Auftrag des Grundgesetzes. Demgemäß werden wir handeln, auch wenn Sie diesmal nicht auf das „C" hören.
Es reizt eigentlich — ich habe es für den Fall, daß Sie es gern hören möchten, hier , Ihnen dazu noch einiges aus dem Ahlener Programm vorzulesen. Ich schenke mir das.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jahn?
Bitte schön!
Herr Professor Schäfer, nehmen Sie denn auch zur Kenntnis, daß beide Kirchen in dem Kirchenpapier jeglichen Sozialisierungstendenzen in bezug auf das Eigentum mit Nachdruck entgegengetreten sind und damit auch dem Beschluß eines Ihrer Parteitage, in dem es heißt, daß kein Quadratmeter Grund und Boden, der im Eigentum einer Kommune steht, künftig an einen Privatmann veräußert werden soll?
Jetzt haben Sie wieder ein Musterbeispiel der Vermengung von zwei Dingen geliefert. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Lesen Sie das Ganze, und zitieren Sie das Ganze, dann wissen Sie genau, wie die Darstellung ist! So wie ich zitiert habe, und nicht anders.
Wir verteidigen diesen Rechtsstaat. Ich kann auf die sozialen Gebote nicht eingehen. Ich will aber doch ein paar Bemerkungen machen, die ich mir nicht ersparen kann. 1961, als der damalige Kanzlerkandidat, Bundeskanzler Brandt, davon sprach, daß Umweltmaßnahmen getroffen werden müßten, haben Sie höhnisch gelacht.
Als wir das Recht des einzelnen Bürgers auf reine Luft und auf reines Wasser anerkannten, da haben Sie gelacht.
Sie haben jahrelang gelacht, bis Sie dann endlich, der Führung dieser Regierung entsprechend, seit zwei, drei Jahren, die Arbeit mitgestalteten.Sie, meine Damen und Herren, haben 1966 nicht mit Bemerkungen gespart, als es einen 14 Wochen langen Streik in Schleswig-Holstein gab um die Lohnfortzahlung, die überflüssig war und die dem sozialen Gebot unserer Verfassung entsprach, bis wir sie dann 1969 endlich machen konnten.
Das war Ihre Haltung. Die damalige Lage ist gekennzeichnet durch Ihr restriktives Verhalten.
Dazu werde ich Ihnen gleich noch einiges zu sagen haben.Wir verteidigen diesen Rechtsstaat. Wir verteidigen ihn gegen Entwicklungen, die die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates tangieren. Wir wollen ihn mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigen. Wir wollen nicht, daß Feinde des Staates im Staatsdienst sind. Aber, meine Damen und Herren und meine Herren auf der Bundesratsbank, es kommt ganz entscheidend darauf an, wie man solche Bestimmungen, wie wir sie in Kürze wohl als Gesetz haben werden, anwendet. Herr Ministerpräsident Filbinger wird ja nachher vielleicht etwas dazu sagen. Wenn man die Referendare in Baden-Württemberg nicht während der Referendarzeit überprüft, sondern die Referendarzeit zu Ende gehen läßt und die Leute dann auf die Straße setzt mit der Begründung, bei ihnen laufe ein Verfahren, so muß ich fragen: Seit wann zieht man Schlußfolgerungen aus laufenden Verfahren, die noch nicht abgeschlossen sind? Das ist ein Verstoß gegen den Rechtsstaat.
Was mir dabei am meisten Sorge macht, ist, daß man Dossiers heranzieht, daß man in die Begründungen Dinge schreibt, die der Betreffende vor fünf Jahren gesagt hat. Meine Damen und Herren, wollen wir denn ein karrieregerechtes Denken beim Fünfzehn-, Sechszehn-, Siebzehnjährigen, oder wollen wir eine Jugend, die ihr Mißbehagen, wo es besteht, auch zum Ausdruck bringt? Wollen wir eine Jugend haben, die sich, wenn auch manchmal mühsam und für uns beängstigend, hindurchentwickelt zu dem politischen Träger dieses Staates?
Oder wollen wir ein Muckertum? Ich habe die Sorge, daß wir auf diese Weise ein Muckertum heranziehen, daß man nicht mehr wagt, seine Meinung zu sagen, aus Angst: es wird ja aufgeschrieben, es wird mir eines Tages präsentiert. Es handelt sich nur um junge Leute.
— Ich lebe in der Welt, in der ich Verantwortung trage, und ich lebe nicht in der Pseudowelt, die Sie hier aufzubauen versuchen, Herr Dregger.
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5024 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Schäfer
Daß wir uns keiner Täuschung hingeben: Die Situation an den Universitäten ist schwierig.
Es ist uns bis heute nicht gelungen, keiner Partei hier — —
— Können Sie nicht zuhören?
Es ist uns allen miteinander bis heute nicht gelungen, die Neutralen, Neutralisten und Opportunisten zu aktivieren und sie davon zu befreien, Nachläufer und Mitläufer von Radikalen und von Verführern zu sein. Das ist eine Aufgabe für uns.
Es ist die große Aufgabe, die politische Auseinandersetzung zu suchen, sie von uns aus zu führen.
Wir Sozialdemokraten haben das immer gehabt. Für uns ist das Problem mit den Jusos kein neues Problem.
Nein, wir Sozialdemokraten haben nämlich unserer Jugendorganisation nie den Mund verbunden, sondern wir haben von ihr verlangt, daß sie sich mit den Problemen befaßt. Daß daraus Schwierigkeiten entstehen, ist uns klar.
— Verfolgen Sie doch die Geschichte!
— Da meldet sich jetzt einer zu Wort, der Schwierigkeiten gehabt hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Müller ?
Bitte sehr!
Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen bekannt, daß August Bebel im Jahre 1891 und Otto Wels im Jahre 1931 gegenüber den radikalen Jugendlichen in der Partei die Konsequenzen gezogen haben, während heute nur geredet und nicht gehandelt wird?
Herr Müller, da kann ich Ihnen bloß sagen, da Sie ja in diesen Fragen bewandert sind, hätten Sie eigentlich auch die Aufgabe, erkennen sollen, die Ihnen gestellt war: nicht als Vorsitzender davonzulaufen, sondern den demokratischen Sozialismus so zu vertreten, wiedas Godesberger Programm es verlangt, und sichdurchzusetzen. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen!
Aber dann hier herzukommen, lieber Freund — so nicht, da diskreditieren Sie sich, wenn das überhaupt noch möglich ist.
Meine Damen und Herren, das Problem an den Universitäten sollen wir so sehen, wie es tatsächlich ist. Das Problem der akademischen Jugend werden wir nicht verkleinern. Lassen Sie mich dazu etwas — von mir aus gesehen — entscheidend Wichtiges sagen. Ich bin dieses Jahr 59 Jahre alt, ich zähle also noch zur mittleren Generation. Wir standen am Kriegsende vor einem Trümmerhaufen. Unsere Generation ist geprägt von der Abwehr gegen den „Ismus", wir rühmen uns, wir seinen Pragmatiker geworden. Und ich sage Ihnen: Allzu viele sind Opportunisten geworden
und nicht Pragmatiker.
Deshalb ist es eine durchaus normale Entwicklung, daß die nächste Generation viel grundsätzlicher an die Dinge herangeht, daß sie zunächst wieder Ideologien wie Heilslehren aufnimmt und daß es ein schwieriger Entwicklungsprozeß ist, mit der Realität konfrontiert zu werden und sich darüber klar zu sein, daß man nicht ideale Welten aufbauen, sondern diese Welt gestalten soll.Meine Damen und Herren, dies ist die erste Generation, die in einer Demokratie geboren wird und aufwächst. Noch keine deutsche Generation hat es gegeben, die in einer Demokratie aufgewachsen ist und die in einer Demokratie zur Wirksamkeit kommt. Das ist unser aller Aufgabe. Aber dann bitte nicht mit den Fingern aufeinander zeigen!
— Ich zeige auf mein Manuskript.
Aber wenn Sie sich getroffen fühlen, Herr Windelen— à la bonne heure! Herr Windelen, es ist Ihre Sache, zu versuchen, einen so wichtigen Punkt lächerlich zu machen. Das kennzeichnet Sie auch auf anderem Gebiet.Meine Damen und Herren, das ist die entscheidende Frage für diesen Staat: ob es uns gelingt, die nächste Generation in die Verantwortung, in den Staat des Grundgesetzes hinein zu leiten, mit ihr hineinzufinden, indem man sich der Diskussion stellt,
indem man sie überzeugt. Und da bin ich ganz hoffnungsfroh, wenn ich sehe, daß es bei Ihnen ja auch andere Kräfte gibt. Da bin ich ganz hoffnungsfroh, wenn ich hier den Wortlaut von zehn Punkten der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5025
Dr. Schäfer
Jungen Union und auch die lezte Rede des Vorsitzenden der Jungen Union, Wissmann, lese.
Dann habe ich die Hoffnung, daß auch bei Ihnen lebendige Kräfte entstehen,
die Sie zum neuen Durchdenken zwingen. Vielleicht kommen Sie dann von dem herunter und zu dem,
was hier geschrieben steht.
Wer die verfassungsmäßige Ordnung erhalten will, muß die Überlegenheit des demokratischen Staates durch Reformen beweisen,
meine Damen und Herren, er muß für soziale Gerechtigkeit streiten,
die demokratischen Rechte des Bürgers stärken, staatlichen und privaten Mißbrauch bekämpfen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Klein?
Ich darf den Satz zu Ende führen. — Das sind die Reformen,
die diese Regierung und diese Koalition hier im Verfolg des Auftrags des Grundgesetzes vorgelegt haben. Bitte!
Herr Kollege Schäfer, sind Sie guten Gewissens in der Lage, Ihrer eigenen politischen Jugendorganisation die gleiche positive Einstellung zum Grundgesetz zu bescheinigen, die Sie eben für die Junge Union mit Recht geltend gemacht haben?
Ich bin mit sehr gutem Gewissen der Überzeugung, sagen zu können: Diese Jusos sind Suchende nach Lösungen, die bessere Lösungen für den Menschen sein sollen.
Wir in der politischen Verantwortung sind der Überzeugung, daß der Rahmen des Grundgesetzes die beste realisierbare Möglichkeit ist. Und dann kommen Sie bitte zu mir und sagen mir bitte, welcheVorschläge der Jusos sich damit nicht abdecken lassen.
— Es steht Ihnen ja frei, das zu tun.
— Nein, Irrtum, Herr Reddemann, die Welt sieht nicht so aus, wie Sie sie sehen möchten.
Ich lese Ihnen jetzt etwas vor, und ich sage Ihnen nachher, von wem es stammt. Ich hatte eigentlich den Eindruck, der Betreffende hatte das Manuskript von mir:Mehr soziale Gerechtigkeit, Verfassungssätze und Alltagswirklichkeit müssen immer mehr deckungsgleich werden. Wer hier beharrt, verliert; wer besonnen fortschreitet, gewinnt. Rechthaberisches Beharren führt zur Erosion prinzipieller Ordnungswerte.
Besonnener Fortschritt führt durch immer breitere Teilhabe einer anwachsenden Zahl von Mitbürgern an Einsicht, an Bildung, an Mitverantwortung, an Mitbestimmung, an Miteignung zur Festigung prinzipieller Ordnungswerte.
Wer nicht selbst den Fortschritt bewirkt und bewegt, über den wird die Entwicklung fortschreiten.
Wer nur gegen etwas ist, ohne zugleich zu sagen, für welches Bessere er ist, ist aus der seriösen Diskussion heraus.
Der Zeitgeist weht ihn hinweg wie ein welkes Blatt.Und im Gegensatz zu manchen Äußerungen aus Ihren Kreisen:Die Grenze des sozialen Rechtsstaates ist nicht erreicht.Und dann fährt Herr Barzel fort:
Was dem entgegensteht an verkrusteter Gewohnheit, an morschen Schlössern, an sozialen Widrigkeiten muß abgebaut, was zu diesen Zielen führt,
muß bewirkt werden.
Meine Damen und Herren, ich hatte es beinahewörtlich so formuliert. Es ist schade, daß Herr Barzel
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5026 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Schäfer
heute nicht da sein kann; ich weiß auch nicht, ob er gesprochen hätte.
Wenn uns, meine Damen und Herren, der Wille verbindet, den Geboten des Grundgesetzes gerecht zu werden, wenn uns der Wille verbindet, diese große Aufgabe gemeinsam zu meistern, wenn wir uns bei dieser Gelegenheit auch auf diese und jene Überlegung hinsichtlich der Entwicklung aufmerksam machen, dann meine ich, dokumentiert sich auch für den Bürger, daß er diese Verfassung nicht nur ertragen muß, sondern daß er in der Lage ist, sie mitzutragen, und daß die nächste Generation sie sich zu eigen macht; das muß unser aller Ziel sein.
Zur Geschäftslage, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich Ihnen folgendes darlegen. Als nächster steht der Abgeordnete Dr. Hirsch auf der Rednerliste; für ihn hat seine Fraktion 50 Minuten Redezeit beantragt und mich wissen lassen, .daß Herr Dr. Hirsch hoffe, mit weniger auszukommen. Ich werde jetzt Herrn Dr. Hirsch aufrufen. Die Mittagspause wird dann verkürzt, da wir um 14 Uhr mit der Fragestunde beginnen. Mit der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt fahren wir dann um 15.30 Uhr fort. Ich bitte Sie sich darauf einzurichten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist das schöne an Ihnen, Herr Dregger, daß Sie einen nie enttäuschen.
Sie haben eine Rede gehalten, die die Dinge so einfach darstellt, daß man merkt: so einfach können sie gar nicht sein. Das Neue an Ihren Ausführungen für mich war, daß Sie — für mich zum erstenmal — betont haben, daß eine Verfassung einer Veränderung unterliegen müsse.
— Vielleicht kommen Sie dann auch einmal in meine Versammlungen.
Das wird sicherlich sehr interessant werden. Sie haben gesagt, daß auch eine Verfassung einer Veränderung unterliegen müsse, wie es den Erfordernissen dieser Gesellschaft entspreche. Aber: Wenn diese Veränderungen, dieses Bekenntnis zu Veränderungen nicht nur eine verbale Formulierung sein soll, dann müßten Sie sagen, an welchen Punkten und wie Sie die Verfassung verändern wollen. Darüber, wo Sie das konkret tun wollen, wo Sie die Probleme unserer Verfassungsentwicklung in den letzten 25 Jahren gesehen haben, habe ich in Ihrer Rede nichts gehört.
Es gibt kein offizielles Dokument dieses Hauses in dieser Legislaturperiode, das in mir ein ähnliches Unbehagen hervorgerufen hat wie dieser Antrag der CDU/CSU, der diese Debatte ausgelöst hat
und der, um es gleich zu sagen, doch wohl nicht ernsthaft die alleinige Grundlage einer solchen Verfassungsdebatte sein kann. Es ist nicht der Gegenstand dieses Papiers, der mich befremdet, es ist sein Denkansatz. Wir wollen nicht wie in einer Art Bekenntnisorgie in einen Wettbewerb darüber eintreten, wer fester auf dem Boden der Verfassung steht als alle anderen zusammen, und zwar deswegen nicht, weil wir davon überzeugt sind, daß alle drei Fraktionen dieses Hauses entschlossen sind, gemeinsam die Verfassung zu verteidigen, wo immer sie angegriffen wird, die Verfassung zu wahren und zu achten, wo wir Macht ausüben, d. h. über Andersdenkende zu entscheiden haben. Wir wollen eine Verfassungsdebatte und keine Verfassungsschutzdebatte, keine Juso-Debatte.
Wir wollen die Bezüge dieses Grundgesetzes zu den verfassungsmäßigen Traditionen ebenso wie zum Verfassungsverständnis unserer Zeit und unserer Gesellschaft darstellen. Darum sollte keine Verfassungsdebatte in diesem Hause ohne die Feststellung beginnen: Unser Grundgesetz hätte weder durch 25 Jahre unser politisches und staatliches Leben bestimmt, noch hätte es Aussicht fortzubestehen, wenn der Verfassungskonsens in diesem Hause nicht bestehenbliebe und wenn auch nur eine der in diesem Hause ihn verwirklichenden Parteien sich von unserer Verfassung lossagte. Dies ist und dies wird nicht geschehen.Das Grundgesetz hat gegen alle Angriffe eine erstaunliche Lebenskraft bewiesen. Es ist, wie vor ihn schon einmal eine Demokratie in Deutschland, nicht durch einen konstitutiven Akt des Volkes, sondern im Gefolge einer nationalen Katastrophe entstanden, wie Heuss gesagt hat, mehr originell als originär. Dabei ist das nicht einmal von allen Bundesländern akzeptiert worden. Man hat es ein lebensfremdes Juristengesetz gescholten, und man hat nicht aufgehört zu betonen, welchen Anteil die Besatzungsmächte an seinem Inhalt gehabt hätten. Man hat sorgfältig analysiert, daß die Verfassungsväter nur nach rückwärts geblickt und nur auf die Erfahrungen mit dem Weimarer System reagiert hätten, und ebenso sorgsam hat man die gewaltenverschränkende Kraft der bundesstaatlichen Struktur unserer Verfassung verschüttet unter Neugliederungsfurcht und unter kleinlichem Kompetenzgerangel, das sich nicht am Gebot einheitlicher Lebensverhältnisse orientiert, sondern an der Eigenstaatlichkeit der Länder, über die die Staatsrechtslehre schon vor 50 Jahren recht realistische Erkenntnisse hatte. Man hat die Parteien als „Lizenzparteien" gekennzeichnet, um sie als von der Besatzungsmacht abhängig zu diffamieren. Dieses alles haben sogenannte Rechte und sogenannte Linke gleichermaßen getan. Die Verfassung hat das alles überstanden.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5027
Dr. HirschDer Geist der Verfassung hat auch die Parteien durch 25 Jahre vor Versuchungen geschützt. Um nur eine der Versuchungen zu nennen: Ich glaube, daß der mehrfache Verzicht auf die Manipulation unseres Wahlrechts ein Beweis dieses Verfassungsrespektes war und nicht nur die politische Klugheit einer Tagesentscheidung. Es hat vor dem Grundgesetz keine Verfassung gegeben, die tiefer vom Geist des Liberalismus und der Rechtsstaatlichkeit durchdrungen war als diese. Unser Respekt gilt insbesondere den liberalen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, Max Becker, Thomas Dehler, Hermann Höpker-Aschoff, Theodor Heuss, Hermann Schäfer und Hans Reif, die sich würdig in die Reihe großer Liberaler gestellt haben und ohne die ein moderner und liberaler und sozialer Verfassungsstaat nicht aus den Wirren der Restauration und den Trümmern der Deutschen Reiche entwickelt worden wäre, eine Reihe, die von den liberalen Theoretikern der bürgerlichen Aufklärung über Rotteck und Welcker bis zu Friedrich Naumann reicht, dem wir viele moderne Thesen zu verdanken haben.Nun kommt dieser Antrag hier „betreffend Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland" und unternimmt mit erstaunlich vereinfachten Formulierungen den Versuch, unser Verfassungsthema auf eine Basis zu reduzieren, die ich kaum noch als schlicht bezeichnen kann.
Schlimmer noch: durch die Beantragung auch von Selbstverständlichkeiten, die in diesem Hause nie bestritten worden sind, wird, ich behaupte: bewußt der Eindruck provoziert,
hier gehe es um streitige Positionen, die der Koalition abzutrotzen seien, als müsse hier der eine oder andere zur Verfassungstreue gezwungen werden.
Herr Professor Carstens, der leider nicht mehr hier ist, macht es noch deutlicher, wenn er im Deutschland-Union-Dienst in diesem Zusammenhang schreibt — er soll es sogar wiederholt haben, wie ich gestern gehört habe —, er müsse immer wieder feststellen, innerhalb der SPD werde nicht genügend Widerstand gegen radikale und extremistische Kräfte geleistet, und die FDP lege sich in Kenntnis dieser Dinge auf eine Koalition mit der SPD fest und übernehme damit die volle Mitverantwortung für das, was dort geschehe; nur die Union — nur die Union! — leiste geschlossenen Widerstand.
Ich will nicht fragen, Herr Kollege Vogel, welcheder beiden Unionsparteien da eigentlich gemeint ist.
Aber ich frage mich, ob es ernst sein soll, daß dieBekräftigung der Koalition hier und jetzt ein Ver-stoß gleichsam gegen verfassungsmäßige Pflichten sei,
ob damit behauptet werden soll, nur eine von der CDU/CSU getragene Regierung wahre die Verfassung. Dann wäre es ja eine verfassungsmäßige Pflicht, sie auch zu wählen. Diese Art der Identifizierung mit dem Staat wird für mich zu dem unerträglichen Gleichnis, daß Bekenner andersartiger politischer Auffassungen nicht nur Unrecht hätten, sondern daß sie verfassungswidrig handelten, also Verfassungsfeinde seien,
weil sie gegen Sie stehen.
Dieser Ansatz kann nicht hingenommen werden. Wer die Verfassungsdebatte unter solchen Zielsetzungen führen will, kann in uns keinen Gesprächspartner dafür finden.
Uns bewegen andere Probleme. Da ist die Frage, wie der Sozialstaat zu definieren ist, der zum erstenmal in der deutschen Geschichte Verfassungsrang erhalten hat und bei dem uns doch die Verfassungsväter keine Auskunft darüber hinterlassen haben, was er in der Gesetzgebung und in der Verwaltungspraxis konkret erfordert. Grewe hat 1949 I den Sozialstaatsbegriff einen substanzlosen Blankettbegriff genannt, und das Bundesverfassungsgericht hat Jahre später das 'Sozialstaatsprinzip neben den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit zu den Grundentscheidungen unserer Verfassung gerechnet, und das mit Recht.Aber ist denn nun — das ist doch die Frage —beides miteinander zu vereinen? So müßten wir also fragen, wenn der Rechtsstaat den Status quo, also auch den wirtschaftlichen Besitzstand garantiert, der Sozialstaat aber den Weg zu einer immer weitergreifenden staatlichen Tätigkeit weist, um der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu genügen. Uns interessiert, wie die Freiheit des einzelnen unter diesen Bedingungen mit den Mitteln der Verfassung gesichert werden kann, damit nicht die Eigenverantwortung, die Selbstbestimmung, die Dynamik des Individuums und auch seine Bereitschaft zum Risiko in einem Versorgungsstaat aufgelöst werden. Uns interessiert, wie die Mitwirkungsrechte im Staat ebenso wie in der Gesellschaft zu strukturieren sind, damit der Einzelmensch sie ausüben kann, ohne zum Objekt von Organisationen zu werden, und damit er es nicht wird. Also werden wir schon aus diesem liberalen Verfassungsauftrag heraus daran arbeiten, daß die Abhängigkeit auch im gesellschaftlichen Bereich durch Teilhabe abgelöst wird.
damit der Industrieuntertan in einen Industriebürger umgewandelt werde, wie es Friedrich Nau-
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Dr. Hirschmann schon im Jahre 1904 in seiner Schrift über den „Liberalismus als Prinzip" gefordert hat. Herr Dregger hat die Mitwirkung der Opposition an diesem großen Thema angekündigt.
Ich bin neugierig, wie dies in der Praxis aussehen wird.Es gehört weiter zu den wesentlichsten Veränderungen unseres Verfassungsverständnisses in diesen 25 Jahren, daß die Grundrechte nicht nur Freiheit vor öffentlicher Gewalt sichern, sondern daß sie den Staat verpflichten sollen, Rechte und Leistungen zu gewähren. Also werden wir prüfen müssen, ob die klassischen Grundrechte z. B. so zu ergänzen sind, wie es der Bundesinnenminister mit dem Recht auf gesunde Umwelt gefordert hat.Wer das Grundgesetz als ein statisches Korsett begreifen will, wird es der Zerstörung preisgeben. Ich verkenne nicht, daß der Kollege Dregger Sorge davor hat, daß die individualrechtliche Substanz unserer Verfassung zerstört werden könnte. Diese Gefahr besteht, und sie besteht immer und solange überhaupt über eine Verfassung gestritten wird. Aber wir können dieser Gefahr nicht dadurch begegnen, daß wir blauäugig auf Symptome starren, sondern wir müssen uns fragen, wo die Ursachen für diejenigen liegen, die gegen unsere Verfassung anrennen.
Niemand in diesem Lande bestreitet, daß es nicht nur glühende Verteidiger, sondern auch Feinde unserer Verfassung gibt, die bereit sind, sie bei passender Gelegenheit zu beseitigen. Aber die lebendige Kraft unserer Verfassung beruht nicht auf der Schlagkraft der Polizei, sondern auf dem Respekt, der ihr entgegengebracht wird, und darauf, daß der Inhalt einer Verfassung der sozialen Wirklichkeit und den Idealen der Bürger entspricht, die in dieser Verfassung leben. Ein Staat, der sich vor der Herausforderung von Verfassungsfeinden fürchtet, der nicht die politische Auseinandersetzung sucht, sondern vorschnell mit Verboten, mit der Beschwörung der Ordnung hantiert, gerät in Gefahr, die alten Mächte aus dem Kyffhäuser herauszuzaubern, wie Scheel das einmal genannt hat.
Das Gegenteil ist notwendig, nämlich die Ursachen zu erkennen, aus denen Radikalismen erwachsen sind, und diese Ursachen zu beseitigen. Es ist auch notwendig, zu unterscheiden zwischen denen, die ihre politischen Ziele in der Form einer demokratischen Auseinandersetzung verfolgen, und Verfassungsfeinden, die bereit sind, die Grundsätze einer freiheitlichen und demokratischen- Grundordnung mit den Mitteln der Gewalt zu beseitigen.Diese Koalition hat niemals einen Zweifel daran gelassen, daß sie die Anwendung von Gewalt in jeder Form in der politischen Auseinandersetzung als ein kriminelles Unrecht betrachtet und danach handelt. Diese Koalition hat niemals einen Zweifel daran begründet, daß sie den Kernbestand unserer Verfassung als eine unveränderliche Grundlage unseres Staates betrachtet und danach handelt. Dieser Kernbereich ist die Achtung vor den Grundrechten, der Grundsatz der Volkssouveränität, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das Mehrparteiensystem, das Recht auf Opposition, die parlamentarische Verantwortlichkeit, die Unabhängigkeit der Gerichte und jeder Ausschluß von Gewalt- und Willkürherrschaft.Mit den zehn Verfassungsgeboten Ihres Antrags beschwören Sie Positionen, die den Eindruck erwecken, als würden Sie tatsächlich nicht die dahinter verborgenen Verfassungsprobleme erkennen. Wir werden im Laufe dieser Debatte im einzelnen darauf zurückkommen. Einiges sei vorweggenommen:Sie erklären, daß das imperative Mandat verfassungswidrig sei. Niemand in diesem Hause hat dem jemals widersprochen. Das imperative Mandat würde die repräsentative Demokratie beenden und zu einer Anonymisierung der Verantwortlichkeit führen, die unerträglich wäre. Ohne das freie Mandat wäre ein Abgeordneter abhängig von einem kaum faßbaren, jederzeit in seiner Zusammensetzung wechselnden Kreis von Parteimitgliedern, deren Legitimation im Verhältnis zur Zahl der Wähler mit Recht zu bezweifeln wäre. Dieses weiß jeder. Zu fragen ist aber doch nur, ob denn dieses nun alles ist, was dabei zu bedenken ist. Man muß doch fragen, was die Ursache für die Forderung ist, einen Abgeordneten an Beschlüsse von Gremien zu binden, die ihn aufgestellt haben. Das Problem liegt wohl darin, daß die politisch aktiven Burger, die in diesen Gremien vertreten sind, es nicht hinnehmen wollen, ohne legalen Einfluß auf die Entscheidung des ihren Willen repräsentierenden Parlaments zu bleiben. Wenn wir sie darauf verweisen, sich in der täglichen Kleinarbeit der Kreis- und Ortsverbände zu verwirklichen, müssen wir uns fragen, ob dies den Erwartungen entspricht, die wir in ihnen geweckt haben, als wir sie zu aktiver politischer Tätigkeit aufgerufen haben. Wir müssen uns darüber unterhalten, was wir von den Bürgerinitiativen halten, welchen Platz sie in unserem Verfassungsgefüge bekommen sollen. Ich meine hier nicht die Bürgerinitiativen, die nur aus Anzeigen bestehen sondern jene, die wirklich aus Menschen bestehen.
Das imperative Mandat ist ein untaugliches Mittel, den Nimbus von der Ohnmacht des einzelnen zu zerschlagen. Wir lösen das Problem aber nicht, wenn wir uns darauf beschränken, nur von Verfassungswidrigkeit zu reden, ohne Lösungen anzubieten. — Bitte!
Herr Kollege Hirsch, mich würde interessieren, inwieweit Sie diese Ihre Auffassung angesichts des existierenden Beschlusses der Jungdemokraten Nordrhein-Westfalens, für das imperative Mandat einzutreten, innerhalb der FDP Nordrhein-Westfalens verdeutlicht und durchgesetzt haben.
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Herr Kollege, wenn Sie diesen Beschluß — den ich selber nicht für richtig halte — läsen, würden Sie feststellen, daß er sich lediglich auf organisationsinterne Beschlüsse der Jungdemokraten bezieht, nicht aber auf Abgeordnete und deren Mandat. Hier bitte ich doch zu differenzieren.
In Ihrem zweiten Gebot sagen Sie: Wer gegen den demokratischen Staat arbeitet, kann nicht in seinem Dienst stehen. — Auch das hat niemand in diesem Hause bestritten. Darin liegt also offenbar nicht das Problem. Das Problem liegt doch darin, wie Sie die Frage, ob ein Bewerber für den öffentlichen Dienst die Gewähr für die aktive Einhaltung der beamtenrechtlichen Verpflichtungen bietet, mit ausschließlich rechtsstaatlichen Mitteln behandeln wollen. Wir werden bei der Beratung der Novelle zum Beamtenrechtsrahmengesetz in diesem Hause sicherlich ausführlich Gelegenheit haben, festzustellen, ob Sie mit uns bereit sind, sich in dieser Auseinandersetzung ausschließlich auf rechtsstaatliche Gesichtspunkte und Mittel zu beschränken.
— Gemach, sehr schnell! Herr Kollege Vogel, Sie kennen den Zeitplan genau. Wir werden im Laufe der Debatte darauf zurückkommen.In Ziffer 5 Ihres Antrages sprechen Sie vom Mißbrauch unserer Schulen durch Systemveränderer. Ich frage mich immer, was „Systemveränderer" eigentlich sind. Jeder von uns bemüht sich doch darum, das System unseres staatlichen Lebens, also auch unsere Verfassung zu verändern, und zwar so, daß es optimale Lebensbedingungen gewährt und den Anforderungen der Menschen an die Gemeinschaft, mit der sie leben müssen, entspricht. Das gilt auch für die Verfassung, wie Herr Kollege Dregger vorhin in seiner ersten These betont hat. Theodor Heuss hat sogar einmal vorgeschlagen, die Verfassung alle zehn Jahre einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen, und wir haben gemeinsam eine Systemveränderungskommission eingesetzt, wenn auch mit anderem Namen.In dieser These sprechen Sie z. B. vom Elternrecht, aber nicht von den jahrelangen Bemühungen, es als einen Vorwand zu mißbrauchen, um konfessionelle Zwergschulen zum Nachteil jener Kinder zu erhalten, für die die vom Grundgesetz verbriefte Chancengleichheit damit Papier geblieben ist.
Wo steht etwas in Ihren Thesen von dem Recht des Kindes, die vom Staat gewährten Bildungschancen auch und gerade dann nutzen zu können, wenn es eben nicht bildungsbewußte Eltern hat!Was ist eigentlich der Erziehungsauftrag der Schule, von dem Sie sprechen? Der Erziehungsauftrag der Schule ist doch, dem Schüler nicht nur die Kenntnis von Institutionen, sondern auch die Fähigkeit zu vermitteln, sich durch eigene Überlegungen eine weltanschauliche Einstellung zu schaffen, sich vor Unterwerfung zu schützen und sich auf selbstverantwortliches Handeln vorzubereiten. Wer aber glaubt, die Erziehung von Kindern zu diesem Ziel sei systemüberwindend, wer also die Erziehung zum Erkennen und zum Austragen von Konflikten für verfassungsfeindlich hält, verkennt, daß die Überlebenschance einer Gesellschaft nur in ihrem einverständlichen Wandel durch die Bewältigung von Interessen- und Meinungskonflikten liegen kann.
— Herr Nipperdey? Ja, ich sage gleich etwas dazu. Herr Nipperdey reicht mir als Kronzeuge dazu doch nicht aus.
— Ja, ich habe auch Herrn Dahrendorf gelesen.
Das Entscheidende, was Dahrendorf sagt, ist doch, daß Richtlinien und Rahmenpläne diese Situation eines Streits offen darlegen und die bisherigen Strukturen der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung darstellen müssen. Diese Aufgabe ist doch jahrelang, jahrzehntelang sträflich vernachlässigt worden! Wenn wir den Versuch kritisieren wollen, diese Aufgabe zu lösen, dann ist nicht der grobe Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit, sondern eine positive Kritik am einzelnen hilfreich. Dann reicht mir Herr Nipperdey als Kronzeuge eben nicht aus, sondern dann ist eine ,differenzierte Auseinandersetzung mit einer der vielen konkreten Rahmenrichtlinien unter dem Gesichtspunkt ihrer inneren Ausgeglichenheit erforderlich, und 'dann gehörte sie hier auf den Tisch.
Mit allgemeinen Pauschalformulierungen ist da nicht geholfen.Zur Hochschulreform wird später gesprochen werden, nämlich darüber, oh wir mit einem Ordnungsrecht und mit Strafanträgen da ansetzen sollten, wo einzelne Studentengruppen nicht an ihrem Studium sondern primär an einer angeblich besseren Welt interessiert sind, die sie mit Gewalt herbeiführen wollen. Da muß man sich fragen, ob es nicht auch schon vorher den dringenden und berechtigten Ruf nach einer Hochschulreform gegeben hat und ob sich die Extreme an den Hochschulen nicht eben deswegen haben ansiedeln können, weil die alten Universitäten unter dem Ansturm voraussehbarer Studentenmassen zusammengebrochen sind.In Nr. 7 Ihres Antrags beschwören Sie die Freiheit der Opposition, die Unabhängigkeit der Verbände — ich füge hinzu: auch der Kirchen —, die Freiheit ,der Presse, die Achtung vor dem Verfassungsgericht. Ich frage mich, wer dies alles bestritten hat.In Nr. 8 bleibt der dort dargestellte Zusammenhang zwischen dem verfassungsrechtlichen System der Machtverteilung und der sozialen Marktwirtschaft für mich schillernd und unklar. Die Liberalen in diesem Staat haben die soziale Marktwirtschaft
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Dr. Hirschgegen den Widerstand aller anderen Parteien erkämpft. Es ist kein Zweifel daran, daß wir sie verteidigen werden. Aber es ist auch kein Zweifel daran, daß es sich dabei eben nicht um einen Kampf um verfassungisrechtliche Kategorien handelt, sondern um ein Problem politischer Meinungsverschiedenheiten auf der Grundlage unserer Verfassung.
Es empfiehlt sich, einmal wieder den Art. 15 des Grundgesetzes nachzulesen, der dem Ahlener Programm entspricht, also den Anträgen der CDU im nordrhein-westfälischen Landtag in den Jahren 1947/48. Wenn Sie diese Anträge heute nachläsen, dann wären sie für Sie schon in ihrer Formulierung eine Ausgeburt neomarxistischer, verfassungsfeindlicher Träumereien. Ich habe das hier. Ich kann es vorlesen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns doch gemeinsam davor hüten, uns dem Verdacht auszusetzen, wir wollten wirtschaftliche Interessen zum Verfassungssatz erheben und sie damit einer Sachdiskussion entziehen, die wir nicht zu scheuen haben.
Wir verstehen unsere Verfassung als einen dynamischen Prozeß. Sie erlaubt die Entwicklung gegensätzlicher politischer Positionen, die sich gegenseitig ausschließen, die aber trotzdem verfassungsgemäß sind. Sie vereint auch gegensätzliche Ideale. Der Grundsatz der Volkssouveränität und die Grundrechte des Individuums können einander widerstreiten. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit umschließt nicht notwendigerweise die tatsächliche Chancengleichheit. Die soziale Gerechtigkeit ist eine Aufgabe, die jeweils neu zu erfüllen ist. Bei der Verwirklichung der materiellen Inhalte unserer Verfassung hat sie sich gerade deswegen bewährt, weil sie für Veränderungen offen ist. Die Ewiggestrigen und die Reformunfähigen sind in meinen Augen die eigentliche revolutionäre Gefahr, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben.
Denn nur, wenn es nicht gelingen sollte, gegenüber dem starren Festhalten an dem Gegebenen auch dort Reformen zu verwirklichen, wo ökonomische Interessen berührt werden, nur dann wird die Gefahr entstehen, daß der Freiheitsraum des Bürgers den Idealen der Gleichmacherei zum Opfer fallen könnte.Unsere gesellschaftlichen Probleme sind nicht durch den Einsatz staatlicher Macht lösbar, sondern durch den Abbau von starren Positionen, durch Aufklärung im eigentlichen Sinn, durch eine Politik nicht formelhafter, sondern sachbezogener Vernunft. Damit zitiere ich Karl-Hermann Flach — mit Erlaubnis —; er hat gesagt:Die ewig gültigen liberalen Postulate „Freiheit der Persönlichkeit" und „Wahrung der Würde des Menschen" in unsere Zeit hineinzutragen, nicht für eine Schicht, sondern möglichst für alle, die das wollen, sie durchzusetzen, das istdie liberale Aufgabe in den siebziger und achtziger Jahren unseres Jahrhunderts.Meine Damen und Herren, wir haben versucht, diese Gedanken in einer Ihnen vorliegenden Resolution zum Ausdruck zu bringen, die das gemeinsame Bekenntnis dieser Koalition darstellt.
Ich darf Ihnen, Herr Kollege Dr. Hirsch, danken, daß Sie wesentlich unter der Zeit geblieben sind und damit unsere Mittagspause ein bißchen verlängern.
Ich berufe die Sitzung auf 14 Uhr zur Fragestunde wieder ein.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung wird wieder aufgenommen.
Ich rufe Punkt 1 auf:
Fragestunde
Drucksache 7/1661 —
Wir beginnen mit den gestern nicht mehr abgehandelten Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Der Parlamentarische Staatssekretär steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Brück auf:
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen der Verhandlungen über die Schaffung eines Regionalfonds der Europäischen Gemeinschaft auf die Notwendigkeit der grenzüberschreitenden Regionalpolitik zwischen den Mitgliedstaaten zu drängen, da eine erfolgversprechende europäische Strukturpolitik auf bestehende Staatsgrenzen keine Rücksicht nehmen darf, wie am Beispiel der engen Wirtschaftsverflechtung zwischen dem Saarland, Luxemburg und Lothringen deutlich wird?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner.
Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß eine Koordinierung der regionalen Wirtschaftspolitik in den Grenzregionen vordringlich ist. Sie arbeitet mit diesem Ziel auf verschiedenen Ebenen mit den Regierungen der Nachbarländer zusammen. Der europäische Fonds für Regionalentwicklung ist allerdings nicht das geeignete Instrument der Koordinierung in den innergemeinschaftlichen Grenzregionen. Seine Aufgaben liegen vor allem in den von regionalen Ungleichgewichten besonders betroffenen Randgebieten der Gemeinschaft.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brück.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß sich europäische Politik nicht darin erschöpfen darf, daß man neue Fonds schafft, daß man bisherige Aufgaben, die in der nationalen Verantwortung lagen, dadurch europäisch gestaltet, daß man sie europäisch finanziert, sondern daß echte europäische Politik darin besteht,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5031
Brückauch bestehende Grenzen zu überwinden und an die Lösung der Probleme unter europäischen Gesichtspunkten heranzugehen?
Herr Kollege, ich teile diese Auffassung vollkommen. Unsere Bemühungen sind darauf gerichtet, eine solche Politik, die sicher nur Schritt für Schritt verwirklicht werden kann, in die Realität umzusetzen.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Brück auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Äußerungen des französischen Premierministers Pierre Messmer in Lyon, „die Idee einer organischen Zusammenarbeit zwischen französischen und benachbarten ausländischen Regionen solle man sich aus dem Kopf schlagen"?
Bitte, zur Beantwortung!
Der genaue Wortlaut der Äußerungen des französischen Ministerpräsidenten in Lyon liegt der Bundesregierung nicht vor. Nach einem Bericht in „Le Monde" vom 2. Februar 1974 sind diese Äußerungen im Zusammenhang mit Ausführungen über die Dezentralisierung der französischen Verwaltung zu sehen. Der französische Premierminister hat sich jedoch gleichzeitig für die Fortsetzung der zwischenstaatlichen Kontakte in den Grenzregionen ausgesprochen. Die Bundesregierung ist auch der Ansicht, daß die Zeit für eine Auflösung bestehender Staats- und Verwaltungseinheiten in den Grenzregionen im Zeichen europäischer Integration noch nicht gekommen ist, was die Zusammenarbeit in diesen Grenzregionen allerdings nicht ausschließt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brück.
Herr Staatssekretär, heißt das, daß die Bundesregierung die Ausführungen des französischen Premierministers so versteht, daß natürlich auch die vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Organe in den Grenzregionen miteinander zusammenarbeiten können und nicht der Umweg über die Regierungen in Paris oder in Bonn genommen werden muß?
So haben wir diese uns allerdings im Wortlaut nicht vorliegenden Äußerungen verstanden.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 28 des Abgeordneten Krockert und die Frage 29 des Abgeordneten Gansel werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Engelsberger 'auf:
Trifft es zu, daß die Bundesregierung eine Lockerung oder Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzungen, insbesondere auf Autobahnen, in Erwägung zieht, und bis wann ist bejahendenfalls damit zu rechnen?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Die Bundesregierung wird sich in der Kabinettsitzung vom 20. Februar 1974 mit der Frage der Geschwindigkeitsbegrenzungen befassen. Wie ich in ,der Antwort auf die Frage des Herrn Abgeordneten Ollesch bereits ausgeführt habe, ergeben die ersten Februarmeldungen der Mineralölwirtschaft für die Monate März und April — gemessen an dem Verbrauch der entsprechenden Vorjahresmonate — eine voraussichtliche Angebotslücke beim Benzin. Bei der Beurteilung der Verbrauchsentwicklung bestehen allerdings wegen der starken Preisanhebungen im Januar erhebliche Unsicherheitsfaktoren. Die Bundesregierung geht davon aus, daß bis zu dem Gespräch des Bundesministers für Wirtschaft mit der Mineralölwirtschaft am 18. Februar sowohl die neuen Versorgungsdaten für die Monate März und April ,als auch die ersten Erkenntnisse über die Auswirkungen der höheren Benzinpreise auf den Verbrauch vorliegen. Unter Berücksichtigung des neuen Zahlenmaterials wird anschließend darüber zu entscheiden sein, ob die Voraussetzungen für die auf das Energiesicherungsgesetz gestützten Geschwindigkeitsbeschränkungen weiterhin gegeben sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Engelsberger.
Herr Staatssekretär, treffen Pressemeldungen zu, wonach die Bundesregierung einen Großversuch von zweieinhalb Jahren mit km 120 plant, wofür allerdings nicht energiepolitische, sondern Sicherheitsmaßnahmen maßgebend sein sollen?
Herr Kollege, diese Frage müßten Sie an das Bundesverkehrsministerium richten. Ich bin leider nicht in der Lage, darauf eine Antwort zu geben.
Eine zweite Zusatzfrage dos Abgeordneten Engelsberger.
Herr Staatssekretär, wäre ,die Bundesregierung nach dem Energiesicherungsgesetz nicht verpflichtet, die Geschwindigkeitsbegrenzung aufzuheben, sobald wie der Engpaß in der Benzinversorgung beseitigt ist, und kann man angesichts der guten Versorgungslage der Tankstellen bei Benzin von einem derartigen Engpaß heute noch sprechen, und was hindert die Bundesregierung daran, die Geschwindigkeitsbegrenzung sofort aufzuheben?
Herr Kollege, ich habe in meiner Antwort gerade klargelegt, daß wir verpflichtet
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5032 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Parl. Staatssekretär Grünersind, die Geschwindigkeitsbegrenzung aufzuheben, wenn die Versorgungslage das erlaubt. Das muß allerdings geprüft werden, und wir warten die Daten der Mineralölwirtschaft ab.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Herr Staatssekretär, besteht nach Ansicht Ihres Hauses, nachdem die Absatzstatistiken der Automobilindustrie schon seit Frühjahr 1973 einen Rückgang erkennen lassen, ein Zusammenhang zwischen Geschwindigkeitsbeschränkung und Automobilverkäufen?
Dieser Zusammenhang wird jedenfalls von der Automobilindustrie behauptet und gesehen. Es ist selbstverständlich so, daß solche Zusammenhänge auf psychologischen Faktoren beruhen, die einer exakten wissenschaftlichen Nachprüfung nicht ohne weiteres zugänglich sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Brück.
Herr Staatssekretär, ist die jetzige gute Versorgungslage bei Benzin nicht auch darauf zurückzuführen, daß es die Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, und ist es nicht so, daß die Versorgungslage nicht mehr so gut wäre, wenn wir die Geschwindigkeitsbegrenzung aufhöben?
Es ist ganz selbstverständlich, daß die Einsparungen, die im Bereich der Benzinversorgung erzielt worden sind, entscheidend dazu beigetragen haben, das Ziel des Energiesicherungsgesetzes zu erreichen, nämlich die vorhandene Energielücke zu schließen. Wir haben ja darauf aufmerksam gemacht, daß uns im Januar und Februar 1974 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres tatsächlich nur Mindermengen zum Verbrauch zur Verfügung standen, so daß solche Einsparungen auch notwendig waren.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Nordlohne.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, in welchem Umfange die geringere Abgabe von Benzin seitens der Tankstellen auf die wesentliche Preiserhöhung zurückzuführen ist?
Darüber haben wir keine zuverlässigen Angaben. Wir können immer nur den Gesamtverbrauch in einem bestimmten zeitlichen Abstand feststellen. Ich halte es für sicher, daß auch die höheren Preise dazu beitragen werden, den Verbrauch zu reduzieren.
Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär von Wechmar zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 179 des Abgeordneten Niegel auf:
Treffen die Meldungen zu oder sind es nur Karnevals- bzw. Faschingserscheinungen, daß der Bundeskanzler über die derzeit im Volksmund kursierenden Witze über ihn und seine Regierung wegen eines „hämischen bis bösartigen Untertons" besorgt und deshalb ein Spezialpsychologe beauftragt worden sei, diese Witze zu untersuchen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Antwort auf beide Teile Ihrer Frage lautet nein.
Soweit in Witzen ein „hämischer bis bösartiger Unterton" zu registrieren ist, bedarf es zu einer Beurteilung keines weiteren Auftrages an einen Spezialpsychologen. Bereits Sigmund Freud hat festgestellt, daß sich durch das Erzählen von Witzen, u. a. der Charakter des Erzählers offenbare.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, kann man daraus vielleicht schließen, daß sich der Volkswitz über den Bundeskanzler und seine Regierung — im Gegensatz zu früheren Regierungen im Zeichen der von ihm verkündeten Lebensqualität auch gewandelt hat, und ist das auf das zurückgehende Vertrauen des Volkes in diese Regierung zurückzuführen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Antwort lautet nein.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Niegel. Ich darf Sie aber bitten, sich wirklich präzise an die Grundfrage zu halten und nicht davon abzuweichen.
Ich ziehe aus der Antwort ja wiederum die Folgerungen: Hat die Bundesregierung folglich dann nichts mehr zu lachen, keinen Humor, und — als Ergänzung dazu — sammelt sie die Witze, ist sie bereit, diese Witze auch herauszugeben — ähnlich dem Kinderbüchlein „Ich liebe den Bundeskanzler"
mit dem Titel „Volkswitz und Volkswitzkalender"?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie werden Verständnis dafür haben, wenn ich mich auf ein Wort beschränke und sage: Die Antwort lautet nein.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5033
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Haase .
Herr Staatssekretär, muß ich Ihrer letzten Antwort — leider — entnehmen, daß Sie nicht beabsichtigen, eine Sammlung über den Volkswitz und die Bundesregierung zur Erbauung unserer Bevölkerung herauszugeben? Sie wollen es nicht tun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger .
Herr Staatssekretär, muß ich aus Ihrer ersten Antwort auf die Frage des Kollegen Niegel den Schluß ziehen, daß die Meldung im „Spiegel" von dieser Woche falsch ist, wonach die Betreuer Brandts, wie es hier wörtlich heißt, im Kanzleramt den habilitierten Psychologen Manfred Koch aus dem Bundespresseamt — das müßten Sie ja wissen — damit beauftragt hätten, Ursachen und Herkunft der „üblen Scherze" zu untersuchen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe jetzt endlich Gelegenheit, eine Frage einmal mit Ja zu beantworten. Die Antwort lautet: ja.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, ist denn von der Bundesregierung überhaupt ein Psychologe in letzter Zeit eingestellt oder beschäftigt worden? Wenn ja, für welche Aufgabe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, der hier offenbar in Rede stehende Diplompsychologe, der mit den hier behandelten Fragen nicht beauftragt ist, ist im Bundespresseamt zu Zeiten eingestellt worden, als der Bundeskanzler Kiesinger hieß.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß das amtliche Sammeln von Witzen nicht witzig ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das amtliche Sammeln von Witzen, Herr Abgeordneter, würde voraussetzen, daß das Amt eine solche Sammlung kraft seines Auftrages veranstaltet. Mein Amt hat nicht den Auftrag, Witze zu sammeln.
Keine weitere Zusaztfrage. Ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Moersch zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 180 des Abgeordneten Lattmann auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in der Republik Südafrika tätige Arbeitnehmer mit Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland ihre dort erworbenen Ersparnisse erst fünf Jahre nach Rückkehr in ihr Heimatland vollständig oder teilweise ausführen können und während dieser Zeit für die dort durch staatliche Verordnung festgelegten Ersparnisse lediglich einen ungewöhnlich niedrigen Zinssatz erhalten, und kann die Bundesregierung bei der Republik Südafrika eine Änderung dieser Bedingungen erwirken, die sich für die ehemals und gegenwärtig in Südafrika tätigen deutschen Arbeitnehmer als außerordentlich ungünstig und zum Teil sogar existenzbedrohend erweisen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte!
Herr Abgeordneter, von einer Erschwerung des Transfers, einer Blockierung oder einem Zwangssparen zu niedrigem Zinssatz von Ersparnissen aus dem Erwerbseinkommen deutscher Staatsbürger in der Republik Südafrika ist der Bundesregierung nichts bekannt. Nach Auskünften der zuständigen Auslandsvertretung sind Geschäftsbanken in Südafrika ohne Genehmigung der dortigen Reservebank ermächtigt, den in ihre Herkunftsländer zurückkehrenden Ausländern, die sich bis zu drei Jahren in Südafrika aufgehalten haben, Ersparnisse bis zu 2 000 Rand, das sind 7 750 DM, per Antragsteller am Tage der Ausreise zu transferieren.
Wenn auf befristete Verträge in Südafrika tätige Ausländer länger als drei Jahre im Land verbleiben oder höhere Beträge als 2 000 Rand überweisen wollen, muß die Geschäftsbank eine Genehmigung der südafrikanischen Reservebank einholen. Dies wurde bei hinreichendem Beweis des Eigentums und des rechtmäßigen Erwerbs dieser Beträge bisher immer genehmigt.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe -die Frage 181 des Herrn Abgeordneten Wohlrabe auf:
Welche Leistungen hat die Bundesregierung seit dem 11. September 1973 im Rahmen der humanitären Hilfe der Bundesrepublik Deutschland Chile — unmittelbar oder durch andere Organisationen — zur Verfügung gestellt?
Zur Beantwortung, bitte!
Die Bundesregierung hat die sehr frühzeitig einsetzenden Hilfsaktionen des Deutschen Caritasverbands, der über seine Schwesterorganisation Caritas Chile tätig werden konnte, unterstützt. Caritas hat zunächst Sendungen von Gütern zur medizinischen Versorgung von Verwundeten und der im Nationalstadion von Santiago festgehaltenen Personen durchgeführt. Die Bundesregierung hat sich an den Lufttransportkosten beteiligt.Von Caritas unterstützt wurden ferner in Not geratene Familien von politischen Flüchtlingen oder
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5034 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Parl. Staatssekretär MoerschGefangenen. Auch hier hat die Regierung einen Zuschuß gezahlt.Von besonderer Bedeutung war die Bereitschaft der Bundesregierung, politisch verfolgte Personen in der Bundesrepublik aufzunehmen bzw. diesen in den Räumen der deutschen Botschaft in Santiago bis zur Ausreise Unterkunft zu gewähren. Aus Chile sind bisher rund 540 Flüchtlinge eingetroffen. Weitere 400 bis 450 werden erwartet. Die Kosten der Versorgung und der Flugpassage werden vom Auswärtigen Amt übernommen.Als humanitäre Hilfe für Chile ist auch eine unentgeltliche Sendung von 15 000 Tonnen Weizen zu werten, die Ende November 1973 in Chile eintraf.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, sind Sin in der Lage, bekanntzugeben, welche finanzielle Größenordnung diese humanitäre Hilfe bisher in etwa ausmacht.
Herr Abgeordneter, ich bin gern bereit, das im einzelnen nachzureichen. Ich habe hier z. B. eine Unterlage, wonach ein Transportkostenzuschuß in Höhe von 100 000 Dollar gegeben worden ist. Es handelt sich also um Beträge von erheblicher Höhe. Ferner ersehe ich hier, daß in einem Fall ein Betrag von 250 000 DM an den Deutschen Caritasverband gegangen ist. Ferner wurden 500 000 DM für die Transportkosten der 500 mit dem Flugzeug Transportierten gezahlt. Ferner sind die erwähnten Lieferungen zu berücksichtigen. Das summiert sich.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, ich darf also davon ausgehen, daß die Gesamtkosten der Projekte und Objekte, die Sie eben vorgetragen haben, schriftlich nachgereicht werden?
Wenn Sie es wünschen, selbstverständlich.
Ich wäre sehr dankbar.
Ich rufe die Frage 182 des Abgeordneten Wohlrabe auf:
Ist die Bundesregierung bereit — unabhängig von Staats- und Regierungsform des Empfängerlands —, verstärkte humanitäre Hilfe nach Chile zu leisten, und welche Maßnahmen sind bisher eingeleitet worden?
Die Bundesrepublik leistet im Rahmen ihrer Möglichkeiten humanitäre Hilfe stets und überall, wenn sich Menschen oder Gruppen von Menschen in unmittelbarer Gefahr befinden. Es liegt im Wesen humanitärer Hilfeleistung,
daß sie sich ausschließlich an der eingetretenen Notlage orientiert. Über die Aufnahme politischer Flüchtlinge aus Chile, die noch nicht abgeschlossen ist, hinaus sind zur Zeit keine humanitären Hilfsmaßnahmen im Gange oder geplant.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Da Sie soeben von der aktuellen Notlage in Chile gesprochen haben, gestatte ich mir die Frage, Herr Staatssekretär, ob auf Grund der dort für bestimmte Bevölkerungsschichten zweifelsfrei vorhandenen Notlage daran gedacht ist, im Moment auch die humanitäre Hilfe in Chile unmittelbar fortzusetzen.
Nein, Herr Abgeordneter. Ich habe soeben in der Antwort gesagt, daß über das hinaus, was ich dargestellt habe, im Augenblick keine Planungen vorliegen. Man kann ja Hilfe nur leisten, wenn konkrete Anforderungen da sind.
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Wohlrabe.
Ich kann also davon ausgehen, daß nach Ihrer Aussage bisher von Chile und auch von der deutschen Botschaft in Chile sowie von Verbänden, die im Rahmen der humanitären Hilfe tätig sind, wie z. B. der Caritas, keine Anforderungen an das Auswärtige Amt oder überhaupt an die Bundesregierung ergangen sind?
Herr Abgeordneter, ich muß den Sachverhalt im einzelnen prüfen, um festzustellen, ob da etwas Neues vorliegt. Das ist nicht Gegenstand Ihrer schriftlichen Frage gewesen; ich kann deshalb jetzt aus dem Stegreif keine verbindliche Antwort dazu geben.
Ich rufe die Frage 183 des Abgeordneten Reiser auf:
Sieht die Bundesregierung in der Meldung der „Welt der Arbeit" vom 18. Januar 1974, „Fast gleichzeitig, als Bonn für 4,4 Millionen Mark Hülsenfrüchte aus Äthiopien erhielt, gab die Bundesregierung umgekehrt 5 Millionen Mark aus, um für Äthiopien Mais und Magermilchpulver zu spenden . ." einen Widerspruch, und wenn ja, wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär, bitte schön.
Herr Abgeordneter, zwischen den beiden von Ihnen erwähnten Tatbeständen besteht tatsächlich kein Widerspruch, so überraschend das klingen mag. Äthiopien hat in der Vergangenheit Hülsenfrüchte ausschließlich für den Export und damit für die Verbesserung der Handelsbilanz produziert, nicht für die Ernährung der eigenen Bevölkerung. Hülsenfrüchte werden nämlich im Lande nicht verzehrt; sie entsprechen nicht den dortigen Nahrungsgewohnheiten. Für Getreide und Mais ist
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5035
Parl. Staatssekretär Moerschnoch Ende 1973 ein absolutes Exportverbot erlassen worden. Die äthiopische Regierung hat nach den Berichten der Botschaft in Addis Abeba gelegentliche Verstöße gegen das Exportverbot streng geahndet.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 184 und 185 des Abgeordneten Dr. Mertes werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 186 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Welche verbindlichen Zusagen hatte die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau am 31. Januar 1974 seitens der sowjetischen Behörden bezüglich des Schicksals der beiden asylsuchenden aussiedlungswilligen Volksdeutschen — keine Festnahme, freie Rückkehr zum Heimatort, Gewährung der Aussiedlung —, als sie diese hilfesuchenden Menschen dazu „überredete" , die Botschaft wieder zu verlassen?
Bitte schön, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, verbindliche Zusagen der sowjetischen Behörden lagen am 31. Januar 1974 nicht vor und konnten angesichts der sowjetischen Staatsangehörigkeit der beiden Volksdeutschen auch nicht erwartet werden.
Im übrigen ist zu diesem keineswegs ungewöhnlichen Fall folgendes zu bemerken. Am 30. Januar nachmittags gelangten die Ausreisewilligen in die Botschaft. Diese intervenierte noch am gleichen Abend im sowjetischen Außenministerium zugunsten dieser beiden Ausreisewilligen. Dieser Schritt galt nicht nur der Unterstützung ihres Ausreisewunsches, sondern auch ihrem persönlichen Wohlergehen nach einem etwaigen Verlassen der Botschaft. Hierüber wurden die Betroffenen informiert und gleichzeitig unter Berücksichtigung aller maßgebenden Gesichtspunkte beraten. Sie haben daraufhin am 31. Januar die Botschaft aus eigenem, freiem Willen verlassen. Bereits am folgenden Tage konnte mit Sicherheit gesagt werden, daß beide Personen in Moskau nicht festgenommen worden waren, sondern sich auf der Rückreise in ihre Heimat befanden. Das sowjetische Außenministerium hat die weitere Überprüfung der Ausreiseangelegenheit durch die zuständigen Behörden zugesagt. Ob dieser von mir hier dargestellte Sachverhalt das in Ihrer Frage aus einem Zeitungsbericht zitierte Wort „überreden" rechtfertigt, mag dahingestellt bleiben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben das Wort „Gewißheit" gebraucht, und zwar auf Grund der Erklärungen, die sowjetische Behörden unserer Botschaft in Moskau gegeben haben. Welche Gewißheit besteht nun seitens der Botschaft, daß tatsächlich gerade ,der Aussiedlungsantrag dieser Menschen in die Tat umgesetzt werden kann?
Ich habe von der Gewißheit gesprochen, daß sie sich auf der Rückreise befinden. Was das andere betrifft, verweise ich darauf, daß ich gesagt habe, es handle .sich nicht um deutsche Staatsangehörige, jedenfalls nicht nach Auffassung der sowjetischen Behörden — in einem Falle ist es auch von dem Betroffenen gar nicht bestritten gewesen —, so daß die Entscheidung darüber bei der sowjetischen Seite liegen wird.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Wie beurteilt die Bundesregierung die jüngste Nachricht vom 11. Februar, in der es heißt, daß wiederum Aussiedlungswillige auf dem Wege ,der Demonstration versucht haben, auf sich aufmerksam zu machen und damit überhaupt ihre Aussiedlung ein wenig in Bewegung zu bringen?
Herr Abgeordneter, diese Frage steht zwar in einem gewissen Zusammenhang mit Ihrer Hauptfrage, aber ich kann zu einem Sachverhalt, den ich auch nur so kenne, wie Sie ihn kennen, hier nicht Stellung nehmen.
Ich rufe Frage 187 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Welche Beweise oder sachbezogenen Hinweise besitzt die Bundesregierung zur Erhärtung der von Bundesminister Schmidt erhobenen Behauptung, „daß die Abreise einer so großen Zahl von Deutschen, die nach Deutschland wollen, die drüben arbeiten in Polen, in manchen Ortschaften und in manchen Betrieben eine schwere Lücke reißt. Es sind ja nicht gerade die ungelerntesten Kräfte, um die es sich handelt, und infolgedessen ist es nur vernünftig, wenn durch die Ermöglichung von Investitionen hier ein Ausgleich geschaffen wird."?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär, bitte!
Herr Abgeordneter, wie Ihnen bekannt ist, konzentriert sich der größte Teil der Ausreiseanträge auf die Bezirke Oppeln, Kattowitz und Allenstein. Wenn nunmehr ,diesem Personenkreis die Ausreise gestattet wird, hat dies erhebliche Auswirkungen z. B. ,auf die dort befindlichen Betriebe und Berufszweige, in denen die Umsiedlungsbewerber arbeiten. Aus den vorliegenden Unterlagen über die bisher Ausgereisten, die im einzelnen aufgeschlüsselt sind, ergibt sich, daß diejenigen Personen, ,die als qualifizierte Fachkräfte zu bezeichnen sind, ein starkes Element ,darstellen. Der Ersatz dieser Fachkräfte schafft, wie jedem verständlich sein wird, in den betroffenen Gebieten wirtschaftliche Probleme.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Wie erklären Sie sich die Behauptung, daß es erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft geben müßte, wenn doch feststeht, daß von 280 000 Aussiedlungswilligen nicht mehr
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5036 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Hupkaals 70 000 im Arbeitsprozeß stehen? Dann kann es sich doch wohl bei einer Zahl von 50 000, die in diesem Jahr aussiedeln wollen, nicht um eine besondere wirtschaftliche Auswirkung handeln.
Herr Abgeordneter, ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Frage der Konzentration in gewissen Gebieten eine Rolle spielt und daß die Sache selbst, wie Sie wissen, auch in der Begründung komplex ist. Aber Unterlagen über die Berufe, die vorher von den Ausgesiedelten ausgeübt worden sind, zeigen, daß z. B, die Feststellung, es handle sich in sehr starkem Maße um Facharbeiter, zutreffend ist.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Wie beurteilen Sie, Herr Staatssekretär, dann die Bemerkung, die ein Korrespondent in der vorigen Woche in der Wochenschrift „Die Zeit" veröffentlicht hat, daß es sich nämlich bei diesem angeblichen Zusammenhang zwischen einer wirtschaftlichen Notwendigkeit und der Aussiedlung lediglich um ein taktisches Manöver handle?
Herr Abgeordneter, es gibt eine Fülle von subjektiven Ansichten über Motivationen auf der einen oder der anderen Seite, und ich habe auf die Komplexität der Frage hingewiesen. Aber es wäre sicher unzutreffend, wenn wir behaupteten, es handle sich überhaupt nicht um wirtschaftliche Fragen. Ich habe Ihnen gerade gesagt, daß ein großer Teil derer, die gekommen sind es ist ja inzwischen eine erhebliche Zahl hierher gelangt —, Fachkräfte sind, die dort zum Teil in bestimmten Bereichen und in bestimmten Unternehmen konzentriert waren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten von Fircks.
Herr Staatssekretär, wie verträgt sich die Argumentation mit den Arbeitskräften damit, daß polnische Firmen mit Fachkräften sowohl in der DDR als auch hier Auslandsaufträge geradezu suchen, um ihre Fachkräfte voll zu beschäftigen?
Herr Abgeordneter, es wäre sicher reizvoll, in diesem Zusammenhang über arbeitsteilige Wirtschaft zu sprechen. Daß auch wir trotz Vollbeschäftigung Exportaufträge im Ausland suchen, ist bekannt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatssekretär, angesichts der Tatsache, daß die Ausreiseanträge bei den Verhandlungen in Warschau im Jahre 1970 ja wohl im wesentlichen schon vorlagen und die Konzentration auch damals schon erkennbar war, frage ich Sie: Hat die polnische Seite schon bei diesen Verhandlungen auf diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten hingewiesen und von uns entsprechende finanzielle Hilfen bei Investitionen als Gegenleistung für ihre damals gegebene „Information" zur Ausreise dieser Deutschen verlangt?
Herr Abgeordneter, eine Lektüre der Protokolle der Beratungen im Auswärtigen Ausschuß zu dieser Zeit wird Ihnen sicherlich Aufklärung über die damaligen Ansichten der polnischen Seite verschaffen, die mit diesen Zahlenangaben nichts zu tun hatten.
Wir kommen zu Frage 188 des Herrn Abgeordneten Hansen. Ist der Herr Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet, und die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 189 des Herrn Abgeordneten Spranger auf:
Beruht die von der Bundesregierung nach Meldung der „Associated Press" veranlaßte Kontrolle der Sendungen der „Deutschen welle" auf Interventionen sowjetischer Stellen zur Verhinderung der Verlesung von Solschenizyns Buch „Der Archipel Gulag", und wie ließe sich eine solche Zensur des Senders mit dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit in Einklang bringen?
Zur Beantwortung bitte Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, von einer Kontrolle der Sendungen der Deutschen Welle durch die Bundesregierung zu sprechen, ist schon im Ansatz völlig verfehlt. Bekanntlich ist die Bundesregierung — und für sie auch das Auswärtige Amt — mit Sitz und Stimme sowohl im Rundfunkrat als auch im Verwaltungsrat der Deutschen Welle vertreten. Die Bundesregierung oder das Auswärtige Amt hat also nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, mit darüber zu wachen, daß die Deutsche Welle die von dem „Gesetz über die Errichtung von Rundfunksendern des Bundesrechts" vom 29. November 1960 gezogenen Grenzen einhält.
§ 1 Abs. 1 dieses Gesetzes enthält eine klare Aussage über die Programminhalte, die gefordert werden. Hier heißt es wörtlich:
Die Sendungen sollen den Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland vermitteln und ihnen die deutsche Auffassung zu wichtigen Fragen darstellen und erläutern.
Wenn nun — wie es seit Jahren in Abständen immer wieder geschieht — unsere Auslandsvertretungen über Reaktionen auf die fremdsprachlichen Programme der Deutschen Welle berichten, muß sich das Auswärtige Amt natürlich eigene Kenntnisse über die Inhalte dieser Programme verschaffen,
Parl. Staatssekretär Moersch
weil es sonst überhaupt nicht in der Lage wäre, die Reaktionen anderer zu beurteilen und unberechtigte Vorwürfe gegebenenfalls zurückzuweisen. Zu diesem Zweck wurde seit langem wiederholt in Sendeunterlagen Einsicht genommen. Das konnte der Natur der Sache nach selbstverständlich erst nach der erfolgten Sendung geschehen und erstreckte sich keineswegs nur auf das russischsprachige Programm, das zuletzt im Herbst des vergangenen Jahres für einen bestimmten Zeitraum analysiert worden ist. Daraus ergibt sich zwingend, daß diese Maßnahmen mit der Verlesung des Buches „Archipel GULAG" von Solschenizyn, die erst im Januar 1974 begann, nicht in Zusammenhang stehen und gar nicht stehen können. Ihnen lag im übrigen auch keinerlei sowjetische Intervention zugrunde.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Spranger.
Herr Staatssekretär, folgende Zusatzfrage: Würde die Bundesregierung, wenn nach ihrer Auffassung die Sendeanstalten ihren gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen würden, die Mittel für diese Sendeanstalten kürzen, und wer würde die Entscheidung der Bundesregierung auf ihre Rechtmäßigkeit hin — nach Ihrer Auffassung — überprüfen?
Die Rechtslage ist ganz eindeutig: Aufsichtsorgan für den Inhalt von Sendungen — ob sie gesetzesmäßig sind oder nicht — ist der Rundfunkrat. Die entsprechenden Organe des Senders müßten dann mit der Bundesregierung sicherlich Kontakt aufnehmen; das würde man beraten.
Im übrigen ist es ja im Haushaltsausschuß des Bundestages, wenn ich nicht irre, und auch im Unterausschuß für auswärtige Kulturpolitik schon früher immer wieder für den Bundestag — nicht von der Bundesregierung — die Frage gestellt worden, ob bestimmte Ausgaben sinnvoll seien. Wenn hier gekürzt würde, würde das möglich sein, ohne daß deswegen irgendein Petitum der Bundesregierung vorliegt; es ist die freie Entscheidung des Parlaments, den Haushalt zu bestimmen. Die Bundesregierung hat von sich aus niemals irgendwelche Initiativen unternommen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Spranger.
Beabsichtigt die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, auch in anderen Sendeanstalten durch Analysen zu zensieren, ob hier Steuergelder entsprechend der Meinung der Bundesregierung verwendet werden, und wo liegt bei solchen Zensuren nach Ihrer Meinung der Unterschied zu einer verfassungswidrigen Beschränkung der Meinungs- und Rundfunkfreiheit?
Herr Abgeordneter, das
Wort „Zensur" muß ich in diesem Zusammenhang zurückweisen — auch im Interesse dieses Hauses. Wenn sich der Gesetzgeber einen Auftrag gibt und diesen Auftrag erfüllt, hat das mit Zensur überhaupt nichts zu tun.
sondern mit der Überwachung gesetzlicher Aufträge. Der Rundfunkrat ist von diesem Hause mit den Stimmen aller Fraktionen eingesetzt, um eine bestimmte Überwachung vorzunehmen, wie das auch in den Länder-Rundfunkgesetzen der Fall ist. Hier kann es sich also nur darum handeln, daß die bestellten Gremien darauf achten — das ist in diesem Falle der Rundfunkrat, in anderen Fällen der Verwaltungsrat , daß den gesetzlichen Verpflichtungen, die dieses Haus selbst erlassen hat, nachgekommen wird. Das mit Zensur zu bezeichnen verfälscht meiner Ansicht nach diesen Begriff.
Darf ich bitten, zu beachten, daß sich Zusatzfragen genau an die Grundfrage halten. Ihre zweite Zusatzfrage ging über diese fraglos hinaus. Ich darf Sie bitten, bei den kommenden Zusatzfragen darauf zu achten.
Eine weitere Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, Sie erwähnten gerade die Sendungen mit der Darstellung aus dem Buch von Alexander Solschenizyn. Halten Sie es für eine anerkennenswerte Leistung — in Übereinstimmung mit dem Auftrag der Deutschen Welle —, daß dieses Buch hier vorgestellt wird?
Herr Abgeordneter, es ist nicht die Aufgabe der Bundesregierung, den Art. 5 des Grundgesetzes hier in irgendeiner Form zu interpretieren. Sie sind Mitglied des Rundfunkrats der Deutschen Welle, und ich müßte die Frage an Sie zurückgeben, ob Sie der Meinung sind, daß diese Lesung dem gesetzlichen Auftrag entspricht.
Das müßte dann der Rundfunkrat, aber nicht der Bundestag und die Bundesregierung feststellen.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, halten Sie die Tatsache, das gesetzmäßige Handeln der Bundesregierung auf Grund einer Falschmeldung als Zensur zu diffamieren, für eine besondere Krönung dieses Tages der Verfassungsdebatte?
Herr Abgeordneter, ich bin hier insofern für jedes mißverständliche Wort dankbar, weil es in der Öffentlichkeit geklärt werden kann und nicht weiter im Innern von Fragestellern herumbohrt.
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5038 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Schutzpflicht der Meinungsfreiheit — eine Frage, die auch die Schutzpflicht der Bundesregierung betrifft — festgestellt hat, daß es Aufgabe der Meinungsfreiheit und aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, auch die Unterschiede in der Rechts- und Lebensordnung zwischen einer freiheitlichen Demokratie und einer diktatorischen Ordnung darzustellen?
Herr Abgeordneter, ich bin nicht Mitverfasser dieses Gesetzes über die Deutsche Welle, aber Sie waren, glaube ich, damals bereits Mitglied des Bundestages. Ich darf doch unterstellen, daß der Gesetzgeber und damit auch Sie sich etwas dabei gedacht haben, wenn Sie in dieses Gesetz hineingeschrieben haben:
Die Sendungen sollen den Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland vermitteln und ihnen die deutsche Auffassung zu wichtigen Fragen darstellen und erläutern.
Ich gehe davon aus, daß dies im Einklang mit dem Grundgesetz steht, sonst müßte sich der Bundestag nachträglich selbst anklagen.
Die Frage 190 ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 191 des Abgeordneten Dr. Miltner auf:
Wie viele chilenische Flüchtlinge sind nach dem Sturz des Allende-Regimes bereits in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, und wie viele Reiseanträge sind noch gestellt?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.
Bis zum 11. Februar 1974 sind insgesamt 563 Chile-Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, davon 295 Chilenen — meist Schutzsuchende aus der Botschaft plus Familienangehörige —, der Rest Ausländer und ihre Kinder, die, wenn sie in Chile geboren sind, die chilenische Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen haben. Insgesamt werden noch erwartet: 209 Drittausländer, 30 Schutzsuchende in unserer Botschaft, die Chilenen sind, 52 Drittausländer und Chilenen aus anderen Botschaften, ca. 50 Drittausländer aus Argentinien. Bis zum Abschluß der Aktion treffen bei uns also noch etwas über 900 Chile-Flüchtlinge ein.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Miltner.
Herr Staatssekretär, befinden sich unter den chilenischen Flüchtlingen, die bereits eingereist sind oder noch einreisen wollen, auch solche Personen, bei denen Erkenntnisse vorliegen, die aus Sicherheitserwägungen zu Bedenken Anlaß geben könnten?
Dann wären sie nicht eingereist, Herr Abgeordneter.
Dann hätten sie also kein Einreisevisum bekommen?
Ja, das ist der Sinn von Sicherheitsüberprüfungen, daß man sich vorher vergewissert.
Ich rufe die Frage 192 des Abgeordneten Dr. Miltner auf:
Sind chilenische Antragsteller zurückgewiesen worden, und wenn ja, mit welcher Begründung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Chilenische Antragsteller sind nicht abgelehnt worden.
Auch nicht südamerikanische, wenn ich fragen darf?
Das ist in einem Falle bei einem Kolumbianer geschehen, bei dem kein Verfolgungstatbestand vorlag. Es handelte sich um einen Jugendlichen, der von zu Hause ausgerissen war. Ein anderer, der einen Antrag gestellt hatte, den wir auf Grund unserer Erkenntnisse hätten ablehnen müssen, ist inzwischen gar nicht mehr aufgetaucht. Er war bereits anderweitig abgereist.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Dr. Miltner.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie uns mitgeteilt haben, daß Sicherheitsrisiken bei Einreisenden und Antragstellern nicht vorgelegen haben, frage ich Sie: Befinden sich vielleicht doch Mitglieder radikaler südamerikanischer Organisationen unter diesen chilenischen Flüchtlingen oder südamerikanischen Staatsangehörigen, befinden sich Flugzeugentführer oder Terroristen darunter?
Herr Abgeordneter, wenn wir der Meinung wären, daß sich Terroristen darunter befinden, hätten wir sie sicherlich nicht einreisen lassen. Daß es Menschen geben mag, die in ihren Wortäußerungen radikal sind, d. h. die Dinge von der Wurzel her betrachten, kann ich nicht abstreiten. Das ist aber eine Eigenschaft, die z. B. die französischen Liberalen zu der Behauptung veranlaßt, sie seien Radikalsozialisten.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5039
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 193 des Abgeordneten Dr. Fuchs wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Staatssekretär, und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde zur Verfügung.
Ich komme zur Frage 31 des Abgeordneten Hansen. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 32 ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Die Fragen 33 der Abgeordneten Frau Benedix, 34 und 35 des Abgeordneten Dr. Stavenhagen werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Dies gilt auch für die Fragen 36 und 37 des Abgeordneten Bäuerle. Die Antworten auf die genannten Fragen werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 38 des Abgeordneten Jaunich auf. — Ist der Fragesteller anwesend? — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird ebenso wie die Frage 39 schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Grobecker auf. — Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 41 und 42 des Abgeordneten Lenzer werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zur Frage 43 des Abgeordneten Dr. Köhler . Ist der Fragesteller anwesend? — Das ist nicht der Fall. Die Frage 43 wie auch die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Köhler (Duisburg) werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Frage 45 des Abgeordneten Horstmeier wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Auch die Antwort darauf wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Roser auf. — Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Frage 47 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister:
Sind der Bundesregierung die mittel- und langfristigen Auswirkungen für die finanzielle Leistungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger bekannt, wenn es im Durchschnitt der Jahre 1974 bis 1976 jährlich 400 000 bzw. 700 000 bzw. 1 Million Arbeitslose in der Bundesrepublik gibt?
Die Fragestellerin ist anwesend.
Bitte zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Sehr verehrte Frau Kollegin. Die Bundesregierung unternimmt alle notwendigen Schritte, um die Arbeitslosigkeit in der von Ihnen genannten Größenordnung zu verhindern. Ich darf in diesem Zusammenhang auf das umfassende Programm hinweisen, das die Bundesregierung im Dezember 1973 und am Anfang dieses Monats zur Sicherung der Beschäftigung beschlossen hat. Auf Grund der soliden Finanzlage der Rentenversicherung wird bei einer realistischen Annahme die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger durch die künftige Entwicklung nicht berührt. Selbst bei den in Ihrer Frage enthaltenen theoretischen Annahmen ist die finanzielle Leistungsfähigkeit der Versicherungsträger weder mittel- noch langfristig gefährdet. Dabei spielt es eine erhebliche Rolle, daß sich der im Gesetz vorgesehene finanzielle Verbund der Versicherungsträger untereinander bewährt hat.
Vielleicht darf ich, Frau Kollegin, auf Ihre zweite Frage wegen des Sachzusammenhangs sogleich antworten?
Eine Zusatzfrage, Frau Dr. Neumeister.
Dann rufe ich die Frage 48 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister auf:
Auf welche Jahresbeträge müßten mittel- und Iangfristig die Ausgleichszahlungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte an die Arbeiterrentenversicherungsträger erhöht werden, wenn es sich bei den erwähnten Arbeitslosenzahlen ganz bzw. zur Hälfte um arbeitslose Arbeiter handelt?
Bitte, Herr Statssekretär.
Zu Ihrer zweiten Frage, Frau Kollegin, möchte ich auf die Vorausberechnung der finanziellen Entwicklung der Rentenversicherung der Arbeiter und von Angestellten im Rentenanpassungsbericht 1974 hinweisen. Daraus läßt sich erkennen, daß unter den dort gemachten Annahmen jede zusätzliche Belastung der Rentenversicherung der Arbeiter etwa ab 1975 durch Ausgleichszahlungen von der Angestelltenversicherung gedeckt werden müßte.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Neumeister!
Herr Staatssekretär, können Sie mir in Zahlen sagen, in welcher Höhe sich etwa im Jahre 1980 die Zusatzleistungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bewegen werden?
Das ist im Rentenanpassungsbericht im einzelnen ausgewiesen. Aber ich habe den Eindruck, daß Sie ein besonderes Inter-
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5040 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Parl. Staatssekretär Rohdeesse haben, kennenzulernen, wie die Zahlen sich unter den theoretischen Annahmen, die Sie gesetzt haben, darstellen würden. Sie werden Verständnis dafür haben, daß das — weil das umfangreiche Rechenvorgänge sind — nicht in der kurzen Zeitspanne seit der Einbringung der Frage erledigt werden konnte. Aber ich bin gern bereit, nach den entsprechenden Berechnungen Ihnen die Zahlenangaben nachzuliefern.
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Dr. Neumeister.
Herr Staatssekretär, dürfte ich dann zusätzlich für die schriftliche Beantwortung noch anfügen, daß mich sehr interessieren würde, wie hoch die Zahlen wären, wenn statt der Arbeitslosenzahlen die gleiche Zahl an Kurzarbeitern vorhanden wäre?
Ich werde prüfen, ob sich das den Rechenvorgängen, auf die wir zurückgreifen können, entnehmen läßt. Wenn das möglich ist, leite ich Ihnen die Angaben zu.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Dr. Neumeister.
Herr Staatssekretär, liegen der Bundesregierung Berechnungen darüber vor, wie sich die Mehrausgaben, vor allen Dingen auch wegen der Mehrbelastung der Rentenversicherung durch die berechtigte Umverteilung der Lasten der Rentnerkrankenversicherung, auf die Höhe des Beitragssatzes zur Rentenversicherung auswirken werden?
Wir haben Angaben über die Rentnerkrankenversicherung in den Dokumentationen der Sozialstatistik ausgewiesen. In diesem Zusammenhang darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Frau Kollegin, daß diese Angaben sich für die Zukunft durch die Absicht der Bundesregierung verändern werden, die Rentnerkrankenversicherung in ihrem finanziellen Gehalt neu zu ordnen. Ich hoffe, daß es möglich sein wird, diesen gesetzgeberischen Prozeß in diesem Jahr einzuleiten. Dadurch würden sich für die Zukunft andere Perspektiven sowohl für die Krankenversicherung als auch für die Rentenversicherung ergeben.
Ich rufe die Frage 49 des Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Trifft die Prognose zu, die der bisherige Vorsitzende der Jungsozialisten, Roth, auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten in München abgab?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatskekretär!
Herr Kollege Dr.
Jahn, abgesehen von der in der Kürze der Zeit nicht zu klärenden Frage, ob das von Ihnen aufgeführte Zitat auf einer tatsächlichen Äußerung beruht, möchte ich zur Sache selbst darauf hinweisen, daß die Bundesregierung durch ihre wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen den Rang der Arbeitsmarktpolitik deutlich gemacht hat. Ich darf Sie auch auf die Antwort zu der Kleinen Anfrage Ihrer Fraktion aufmerksam machen, die unter der Bundestagsdrucksachen-Nr. 7/1665 gegeben worden ist und in der die Bundesregierung zu den Problemen der aktuellen Arbeitsmarktlage eingehend Stellung genommen hat.
Ergänzend dazu möchte ich noch folgendes bemerken. Ende Januar 1974 betrug die Zahl der Arbeitslosen 620 500 und lag damit unter den entsprechenden Zahlen der Jahre 1967 und 1968. Ein beträchtlicher Teil, etwa 230 000 Personen, war aus saisonalen Gründen arbeitslos. Wie sich die Arbeitslosigkeit im Februar dieses Jahres entwickelt, wird wesentlich von den Witterungsbedingungen der nächsten Wochen abhängen. Sind diese günstig, ist damit zu rechnen, daß die Zahl unter der vom Februar 1967 bleibt. Diese Aussage wird gestützt durch die jetzt vorliegenden Angaben zur Entwicklung der Auftragseingänge und der Produktion im Dezember 1973.
Im übrigen, Herr Kollege, ist es sicherlich Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß die Bundesregierung in der vergangenen Woche ein Sonderprogramm in Höhe von 600 Millionen DM beschlossen hat, das gezielte Maßnahmen für bestimmte Branchen und vor allem Regionen vorsieht, um die Probleme struktureller Arbeitslosigkeit abzubauen. Hinzu kommen die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die mit einem Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer eingeleitet worden sind. Es ist eine wesentliche Aufstockung der Mittel für allgemeine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung vorgesehen. Ferner sollen Umschulung und Fortbildung gefördert, soll auch die überregionale Vermittlung intensiviert und im ganzen das Arbeitsförderungsgesetz für die Beschäftigungspolitik voll ausgeschöpft werden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär! Zu Ihren einleitenden Bemerkungen erlaube ich mir die Frage: Wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages aus einem Dokument des Parteitages zitiert, wird man doch wohl davon ausgehen können, daß diese Aussage auch gefallen ist.
Ich habe das auch nicht in Zweifel gezogen. Ich habe nur festgestellt, daß ich das im einzelnen nicht nachprüfen konnte.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Dr. Jahn, bitte schön!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5041
Herr Staatssekretär, halten Sie es für möglich, daß die Tatsache der größeren Arbeitslosigkeit mit auf die damals von der Bundesregierung vertretene ökonomisch verfehlte These zurückzuführen ist, 5 % höhere Preissteigerungen seien besser als 5 % Arbeitslosigkeit?
Herr Kollege, im Bundestag ist wiederholt ausgiebig und sachbezogen über die wirtschaftliche Entwicklung diskutiert worden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie dabei nicht den Eindruck gewonnen haben, daß die Entwicklung der Beschäftigungsziffern andere Ursachen hat. Denken Sie beispielsweise an die Auswirkungen der Erdölkrise und die Debatten über die strukturellen Probleme der Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen und Branchen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Carstens .
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bitte, wenn Ihnen entsprechendes Zahlenmaterial vorliegt, die Frage beantworten, wann wir mehr Arbeitslose hatten, am 31. Dezember 1966 oder am 31. Dezember 1973.
Herr Kollege, ich möchte Sie nochmals auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage Ihrer Fraktion hinweisen. Ich habe schon deutlich gemacht, daß wir auch im Vergleich zu den Jahren 1967/68 heute von anderen Arbeitslosenzahlen, nämlich geringeren als damals, ausgehen können.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten von Fircks.
Herr Staatssekretär, halten Sie dann die Aussage des früheren Vorsitzenden der Jungsozialisten Roth in München für eine rein demagogische Äußerung, oder hatte er irgendwelche sachlichen Anhaltspunkte, um eine solche Aussage machen zu können?
Ich gehe davon aus, daß Herr Roth seine Befürchtungen, jetzt nicht nur unter Würdigung der Zahlenangaben, sondern auch angesichts der eingeleiteten wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung uberprüfen wird.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Schröder auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der von ihr beschlossene Anwerbungsstopp für ausländische Arbeitnehmer den Fremdenverkehrsbetrieben auf den Nordsee-Inseln und an der Nord- und Ostseeküste so große Probleme aufgibt, daß während der Saison eine Versorgung der erholungsuchenden Gäste in Frage
gestellt ist, und wenn ja, ist die Bundesregierung bereit, für diese genannten Betriebe zeitlich begrenzte Ausnahmegenehmigungen zu erteilen und gleichzeitig auf eine Vermittlungsgebühr zu verzichten?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Schröder, zu Ihrer Frage ist zunächst zu bemerken, daß der Anwerbestopp für Arbeitnehmer aus dem Ausland von den Erfordernissen der Arbeitsmarktsituation im ganzen ausgeht. Das ist auch in dem von Ihnen genannten Beschäftigungsbereich zu berücksichtigen. Nach Auffassung der Bundesanstalt für Arbeit müßte es bei der gegenwärtigen Beschäftigungslage für die Fremdenverkehrsbetriebe möglich sein, das benötigte Personal rechtzeitig im Bundesgebiet zu gewinnen. Selbst die Aussichten, Fachkräfte zu erhalten, sind günstig zu beurteilen. So registrierte die Bundesanstalt für Arbeit Ende Januar 1974 in diesem Bereich 10 595 Arbeitsuchende gegenüber 7 471 offenen Stellen. Es besteht also ein Überhang des stellensuchenden Fachpersonals. Am Arbeitsmarkt für Fremdenverkehrsleistungen stellt sich häufig ein besonderes Ausgleichsproblem, weil sich Angebot und Nachfrage vielfach räumlich nicht decken. Die Bundesanstalt für Arbeit hat daher eine überbezirkliche Vermittlung eingerichtet. Fremdenverkehrsbetriebe, die Arbeitskräfte für die kommende Saison benötigen, sollten dies nutzen, empfiehlt die Bundesanstalt für Arbeit.
Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder.
Herr Staatssekretär, glauben Sie wirklich, daß die von Ihnen genannten über 10 000 Beschäftigungslosen in diesem Fachbereich bereit sind, für eine sehr kurze Saisondauer ihre Heimat zu verlassen, um auf den Inseln oder an der Küste ihre Arbeit zu verrichten? Halten Sie das nicht für unrealistisch?
Herr Kollege, ich kann im Augenblick nicht übersehen, wie viele von den arbeitslosen ausländischen Arbeitnehmern beispielsweise zu dem Kreis derjenigen gehören, die in Gaststätten und Fremdenverkehrsbetrieben tätig sein können. Ich glaube aber, daß die Mobilität dieses Kreises so groß ist, daß auch Kräfte für die Arbeit in diesen Bereichen gewonnen werden können.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder.
Herr Staatssekretär, wäre die Bundesregierung, wenn sich Ihre günstige Prognose nicht bewahrheiten sollte, bereit, kurzfristig auch anders zu entscheiden?
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5042 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Herr Kollege, ich muß Ihnen offen und freimütig sagen, daß die Frage von Ausnahmen vom Anwerbestopp für den einen oder anderen Bereich nicht isoliert betrachtet werden kann. Vielmehr ist die Gesamteinschätzung der konjunkturellen Entwicklung und der Arbeitsmarktentwicklung zu berücksichtigen; denn unsere Erfahrungen auf vergleichbaren Gebieten zeigen, daß eine Ausnahme die andere nach sich ziehen würde. Dann stehen Sie eines Tages an dem Punkt, an dem Sie sich fragen, wieweit überhaupt der Anwerbestopp im Hinblick auf die Arbeitsmarktlage noch wirksam ist.
Ich darf Sie auch auf die Auffassung des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten aufmerksam machen, der, wenn ich mich recht erinnere, vor kurzem darauf hingewiesen hat, daß der Anwerbestopp durchgehalten werden müsse. Ich teile seine Auffassung in diesem Punkt.
Die Frage 51 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan zur Verfügung.
Die Frage 52 ist von Herrn Abgeordneten Dr. Zimmermann eingebracht. — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 53, 54 und 55 werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling auf:
Welche rechtlichen Grundlagen gibt es, in Bundeswehrverwaltungen das Tragen solcher Abzeichen zu verbieten, die die Zugehörigkeit zu oder Sympathie mit einer Partei erkennen lassen, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, solche Verbote in den bundesunmittelbaren Verwaltungen zu verhindern?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege! Die Betätigung in politischen Parteien stellt grundsätzlich einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung unseres politischen Lebens dar und darf auf keinen Fall behindert werden. Dabei ist es jedoch selbstverständlich, daß eine parteipolitische Aktivität nicht die Verpflichtung des Beamten zu unparteiischer Amtsführung beeinflussen darf. Nach § 53 des Bundesbeamtengesetzes hat nämlich der Beamte bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amtes ergeben. Vor allem innerhalb des Dienstes hat er sich so zu verhalten, daß Zweifel an seiner unparteiischen Amtsführung nicht entstehen können.
Da nicht auszuschließen ist, daß durch das Tragen eines bestimmten Abzeichens während des Dienstes im Einzelfall solche Zweifel hervorgerufen werden können, ist das Herausstellen der Parteimitgliedschaft im Dienst in dieser Form nicht mit der durch § 53 des Bundesbeamtengesetzes gebotenen Zurückhaltung vereinbar. Dies gilt insbesondere für Dienststellen mit Publikumsverkehr.
Für Arbeitnehmer ergibt sich der gleiche Grundsatz aus § 8 Abs. 1 des Bundesangestelltentarifvertrages und § 9 Abs. 9 des Manteltarifvertrages für Arbeiter des Bundes. Sie haben sich so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird. Dazu gehört — wie bei Beamten —, daß sie unvoreingenommen und unparteiisch ihr Amt wahrnehmen.
Damit habe ich bereits den zweiten Teil Ihrer Frage beantwortet, Herr Kollege; denn die Einhaltung eines gesetzlich verankerten Gebots — § 53 des Bundesbeamtengesetzes — kann nicht dadurch verhindert werden, ,daß man verbietet, das Gebot zu beachten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, daß ein Beamter, der nicht im Publikumsverkehr Dienst tut, sondern nur Karteien bearbeitet, diese Nadel nicht tragen darf, weil die Farbe der Nadel auf sein amtliches Handeln abfärben könnte?
Herr Kollege Dr. Sperling, ich bin ziemlich sicher, daß Karteikarten weder wahlberechtigt sind noch die Gelegenheit haben, von sich aus in Parteien einzutreten. Aber ich will Sie darauf aufmerksam machen, daß dieser Kollege während des Dienstes stets mit anderen Kollegen in Berührung kommt und unter Umständen durch Karteieintragungen Entscheidungen vorbereitet, die nur unparteiisch, sachlich und im Rahmen des Amtes vorgenommen werden dürfen.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, würde dieses amtliche Handeln durch das Tragen einer Nadel eingefärbt werden? Sehe ich das richtig?
Herr Kollege Dr. Sperling, es kommt darauf an, wo und zu welchem Zweck die Nadel getragen wird. Wenn damit ein Mangel in der Kleidung verdeckt werden soll, hat diese Nadel natürlich keine politische Bedeutung. Aber wenn damit eine Zusammengehörigkeit mit einer politischen Gruppierung kundgetan wird, glaube ich, daß das Gesetz hier zu Recht angewandt worden ist.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5043
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung erledigt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Statssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Statssekretär Westphal zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 57 des Abgeordneten Dr. Nölling auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß von den etwa 1,4 Millionen Empfängern von Wohngeld mehr als 10 % gleichzeitig laufende Hilfe zum Lebensunterhalt im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes erhalten, deren Wohngeld bei den Leistungen der Sozialhilfe voll angerechnet wird, so daß ohne ein Mehr an Hilfe zweifacher Verwaltungsaufwand entsteht?
Bitte, zur Beantwortung!
Herr Kollege Dr. Nölling, nach dem Wohngeldgesetz hat auch ein Empfänger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz wie jeder andere Bürger Anspruch auf Wohngeld, wenn er die im Wohngeldgesetz genannten Voraussetzungen erfüllt. Die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in den Kreis der Anspruchsberechtigten geht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 1969 zurück, das den im Ersten Wohngeldgesetz zunächst vorgesehenen Ausschluß der Sozialhilfeempfänger vom Wohngeld wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG für nichtig erklärte. Die Anrechnung des Wohngeldes auf die Sozialhilfe — um den Wortlaut Ihrer Fragestellung zu gebrauchen — und die Tatsache, daß gegebenenfalls zwei Stellen einer und derselben Person Hilfe für die Wohnkosten gewähren müssen, erklären sich daraus, daß beide Leistungen in einem Rangverhältnis zueinander stehen und die vorrangige Leistung, in diesem Fall das Wohngeld, im Gegensatz zur nachrangigen Sozialhilfe regelmäßig nicht kostendeckend ist. Natürlich bedeutet der Anspruch auf zwei Leistungen bei jeder dieser Leistungen einen eigenen Verwaltungsaufwand.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Nölling.
Herr Staatssekretär, haben Sie Vorstellungen darüber, wie groß dieser doppelte Verwaltungsaufwand quantitativ ist?
Das ist außerordentlich schwer herauszufinden. Die Zahl von 10 %, die Sie in Ihrer Frage genannt haben, kann ich leider nicht bestätigen. Es gibt darüber keine zusammenfassende oder dem Bund zur Verfügung stehende Statistik.
Ich rufe die Frage 58 des Abgeordneten Dr. Nölling auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß durch eine interne und gegebenenfalls pauschalierte Verrechnung zwischen Bund und Ländern der Verwaltungsaufwand erheblich vermindert und das Verfahren wesentlich vereinfacht wird?
Herr Staatssekretär.
Was die verwaltungsmäßige Behandlung der genannten Fälle betrifft, Herr Dr. Nölling, so darf ich Sie hier zunächst auf die diesbezüglichen Ausführungen im 4. Wohngeldbericht verweisen, der in dieser Woche zur Beratung ansteht. Zur Vereinfachung des Verfahrens ist in den Verwaltungsvorschriften zum Zweiten Wohngeldgesetz unter Nr. 21.3 ein besonderes Zusammenwirken von Wohngeldstelle und Sozialhilfeträger vorgesehen. Dieses Verfahren läuft darauf hinaus, daß der Sozialhilfeträger entsprechend den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes den Unterkunftsbedarf in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zunächst einmal voll deckt und sich vorn Hilfeempfänger zur Geltendmachung von dessen Wohngeldanspruch sowie zur Entgegennahme von Wohngeldzahlungen bevollmächtigen läßt, die er dann zum Ausgleich seiner Vorleistungen verwendet.
Dieses Verfahren hat zu einer Verminderung des Verwaltungsaufwandes beigetragen. Weitere Erfahrungen bleiben jedoch abzuwarten.
Ein grundsätzlich anderes Verfahren, etwa das einer pauschalierten Verrechnung, würde dagegen verfassungsrechtliche Schwierigkeiten mit sich bringen, sofern es darauf hinauslaufen würde, den individuellen Anspruch des Sozialhilfeempfängers auf das Wohngeld in Frage zu stellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Nölling.
Herr Staatssekretär, da Sie selber in Ihrem Bericht schreiben, daß Sie noch Erfahrungen sammeln müßten, daß das also noch nicht abschließend geklärt ist, darf ich Sie fragen, welche Möglichkeiten Sie hätten, ein pauschalierendes, Arbeitskräfte einsparendes Verfahren von der Bundesregierung her anzuordnen oder anzuraten?
Ich glaube nicht, Herr Kollege Dr. Nölling, daß wir dazu Möglichkeiten hätten, wenn die Auswirkung wäre, daß dieser nun durch ein Verfassungsgerichtsurteil bestätigte Anspruch auch des Sozialhilfeempfängers auf ein Wohngeld eingeschränkt würde. Dies muß den Vorrang haben.
Sie sehen im übrigen, daß nach dem gewählten Verfahren eben nur eine Stelle für den Petenten die Ansprechstelle ist; und wenn er dazu bereit ist, kann sie auch die einzige Stelle bleiben, weil sich dann das Amt von Amts wegen bei dem anderen, für Wohngeld zuständigen Amt das Geld zurückholt
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Nölling.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß, würde man pauschalieren, die materiellen Ansprüche der betreffenden Empfänger nicht angetastet werden?
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5044 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Darf ich Sie bitten, die Frage zu wiederholen.
Ich frage, ob, würde man pauschalieren und damit Verwaltungsaufwand in erheblichem Maße einsparen, die eigentlichen materiellen Ansprüche dieser Gruppen tangiert werden oder nicht.
Das Problem dabei ist, daß es sich in dem einen Fall um Bundesgeld und in dem anderen Fall um Gemeindegeld handelt. Dies durcheinanderzubringen würde verfassungsmäßige Schwierigkeiten bereiten. Deswegen glaube ich nicht, daß der Weg, den Sie vorgeschlagen haben, gangbar ist. Immerhin will ich Ihnen zusagen, daß uns, wie ich es in der Antwort auch schon formuliert habe, die Sammlung neuer Erfahrungen vielleicht auch andere Erkenntnisse für das Verfahren bringen könnte. Im Augenblick sehe ich allerdings keine Möglichkeit.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Nordlohne.
Herr Staatssekretär, würden Sie bestätigen, daß die für das Wohngeld und die für die Sozialhilfe zuständigen Stellen in enger Zusammenarbeit die Probleme des Antragstellers zu lösen versuchen?
Ich gehe davon aus, daß dies so ist, und ich hoffe, daß es auf örtlicher Ebene überall so ist, wie es auch in dem Wohngeldbericht verdeutlicht wird.
Für die Frage 59 hat der Fragesteller, der Abgeordnete Walkhoff, um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 60 des Abgeordneten Freiherr Ostman von der Leye auf:
Wie erklärt die Bundesregierung die Tatsache, daß die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V., die nicht nur in Zivilschutz- und Katastrophenfällen, sondern auch im normalen Alltag — so z. B. im Jahr 1973 in 594 Lebensrettungsfällen, darunter 71 unter Lebensgefahr, in 5476 Sachbergungen und 54 001 ErsteHilfe-Fällen an Land — tätig ist und somit eine lebensnotwendige Aufgabe für den Staat übernommen hat, überhaupt keine staatliche Beihilfe vom Bund erhält?
Bitte, zur Beantwotrung, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ostman, im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Innern beantworte ich die Frage wie folgt.
Die Behauptung, daß die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V. keine staatliche Beihilfe vom Bund erhält, ist nicht zutreffend. In den Jahren 1967 bis 1973 wurde der Deutschen Lebens-RettungsGesellschaft im Rahmen der Sportförderung aus dein
Haushalt des Bundesministers des Innern insgesamt ein Zuschuß in Höhe von 74 500 DM gewährt. Eine weitergehende finanzielle Förderung wurde der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft bei Mitwirkung im Katastrophenschutz unter den Bedingungen des Katastrophenschutzgesetzes angeboten. Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft hat es im Gegensatz zu den meisten humanitären Hilfsorganisationen ausdrücklich abgelehnt, unter diesen gesetzlichen Bedingungen im Katastrophenschutz mitzuarbeiten.
Auf einen Antrag der Deutschen Lebens-RettungsGesellschaft im Juli 1972 erhielt diese, da dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsmittel für dasselbe Jahr nicht mehr zur Verfügung standen, vom Jahre 1973 an erstmals einen jährlichen Zuwendungsbetrag zur Teilfinanzierung von Lehrgängen und Seminaren für Ausbilder im Bereich des Wasserrettungsdienstes und der Wiederbelebung.
Eine darüber hinausgehende allgemeine finanzielle Förderung der Deutschen Lebens-RettungsGesellschaft fällt in die Zuständigkeit der Länder.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr Ostman von der Leye.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist es demnach richtig, Herr Staatssekretär, daß für den eigentlichen Lebensrettungsdienst keine Gelder zur Verfügung stehen?
Auf der Bundesebene nicht.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr Ostman von der Leye.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich Sie dann fragen, ob Sie gewillt sind, mit dem Innenministerium Verbindung aufzunehmen, damit es mich davon unterrichtet, warum es von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft die Erklärung der Bereitschaft zum zivilen Katastrophenschutzdienst verlangt hat, obwohl diese Gesellschaft jeden Tag Katastrophen- und Zivilschutzdienst bei der Rettung von Menschenleben leistet und diese Tätigkeit selbstverständlich auch im allgemeinen Katastrophenfall fortsetzen würde?
Herr Kollege Ostman von der Leye, der hohe Rang der Leistung dieser Gesellschaft wird wohl von niemandem bei uns, ganz gleich, in welchem Ressort der Bundesregierung, unterschätzt. Wir schätzen die Arbeit und die Leistung dieses Verbandes. Was Ihre Frage angeht, ob ich mich beim Bundesminister des Innern dafür einsetzen kann, daß er Ihre Frage beantwortet, so will ich Ihnen das gern zusagen im Sinne der Amtszusammenarbeit, wie wir sie praktizieren.
Ich rufe die Frage 61 des Abgeordneten Freiherr Ostman von der Leye auf:
Sieht die Bundesregierung die Zuwendung von nur 19 000 DM im Haushalt , erstmals für das Haushaltsjahr 1973, an die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V. angesichts der Tatsache, daß diese ins Zeitraum 1950 bis 1973 11 218 000 Ausbildungen mit Prüfungsabschluß durchgeführt und damit eine wichtige Aufgabe für die Allgemeinheit übernommen hat, als ausreichend an?
Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Für die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft wird mit 19 000 DM derselbe finanzielle Zuwendungsbetrag bereitgestellt wie für die übrigen freiwilligen Hilfsorganisationen, z. B. den Arbeiter-Samariter-Bund, die Johanniter-Unfall-Hilfe und den Malteser-Hilfsdienst, die ein sehr breites und nicht geringes Spektrum wichtiger Aufgaben für die Allgemeinheit erfüllen. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß es sich bei Berücksichtigung der wichtigen und vielfältigen humanitären Aufgaben, die nicht nur von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft, sondern von allen freiwilligen Hilfsorganisationen wahrgenommen werden, um einen relativ geringen Zuschuß handelt. Im Entwurf zum Haushaltsplan 1974 sind für die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft und die übrigen humanitären Hilfsorganisationen deshalb jeweils 25 000 DM vorgesehen. Eine weitergehende Erhöhung dieser finanziellen Zuwendung ist aus Haushaltsgründen zur Zeit leider nicht möglich. Ich mache außerdem nochmals darauf aufmerksam, daß die Förderung von Ausbildungsaufgaben als Sache der Länder anzusehen ist.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordneter Ostman von der Leye.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, angesichts der Tatsache, daß diese Gesellschaften ich spreche jetzt von der Mehrzahl — dem Staat durch ihren eigenen Einsatz erhebliche Mittel einsparen, die Mittel in den nächsten Haushaltsjahren erheblich zu erhöhen?
Die Entscheidungen über die Größenordnungen, die im Etat stehen, sind Entscheidungen dieses Hohen Hauses, Herr Kollege. Wir mühen uns redlich, eine Aufwärtsentwicklung herbeizuführen, wie Sie aus der Zahlenrelation von 1973 zu 1974 erkennen können.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordneter Rommerskirchen.
Herr Staatssekretär, wenn Sie keine Möglichkeit der allgemeinen Förderung dieser bedeutsamen Organisation sehen, ist es dann nicht eventuell doch möglich, das Lehrbuch über Schwimmen und Retten, das diese Gesellschaft herausgebracht hat und das eine sehr nützliche Hilfe für unzählige Menschen in diesem Lande darstellt, gezielt zu fördern?
Herr Kollege Rommerskirchen, ich will das gern unter gesundheitspolitischen Gesichtspunkten -- dies wäre mein Ansatz dafür prüfen lassen.
Ich rufe die Frage 62 des Abgeordneten Dr. Kunz auf:
Wie hoch liegt der zusätzliche Personal- und Sachaufwand, der den Gemeinden bzw. den Stadt- und Landkreisen aus der Abwicklung der Ausgabe von Gutscheinen im Rahmen der Heizölzuschußaktion entsteht, und könnte nicht aus Vereinfachungsgründen generell auf die Einkommensüberprüfung für Familien mit drei und mehr Kindern sowie für Rentnerhaushalte verzichtet werden, da nach Erfahrungsberichten der Abwicklungsbehörden über 80 % dieses Personenkreises einen Anspruch auf derartige Begünstigungen besitzen?
Der Abgeordnete ist anwesend. Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Dr. Kunz, nach Mitteilung der Länder sind Anträge auf Gewährung eines Heizölkostenzuschusses bisher nicht in so großem Umfang gestellt worden, wie wir es erwartet haben. Entsprechend ist auch der bisher entstandene Personal- und Sachaufwand nicht so groß wie erwartet. Auf Grund dieser Feststellung ergibt sich zur Zeit keine Notwendigkeit, Überlegungen anzustellen, wie eine weitere Verwaltungsvereinfachung erreicht werden kann, nachdem die Bestimmungen des Gesetzes bereits so gestaltet sind, daß bei der Durchführung ein möglichst geringer Verwaltungsaufwand entsteht. Ihr Vorschlag, aus Vereinfachungsgründen generell auf die Einkommensüberprüfung in bestimmten Fällen zu verzichten, würde allerdings eine Gesetzesänderung voraussetzen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Kunz.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit und in der Lage, abzuschätzen, wie hoch etwa der finanzielle Mehrbedarf wäre, wenn die von mir vorgeschlagene Regelung realisiert würde?
Herr Kollege Dr. Kunz, dies kann ich Ihnen nicht zusagen. Dies hieße, das Gesetz noch einmal hier in die Bearbeitung zu bringen, obwohl es ein Gesetz ist, das einen zeitbegrenzten Rahmen ausfüllt und ein bestimmtes Stadium des Außerkrafttretens hat und außerdem für eine bestimmte, sehr konkrete Situation gedacht ist. Aus dem, was wir bis jetzt wissen, müssen wir sagen — die Länder sind die Durchführenden —, daß eine solche Vereinfachung, wie Sie sie wünschen und die eine Gesetzesänderung bedingen würde, nicht erforderlich ist. Daher möchten wir hier keine Zusage geben, unter solchen Gesichtspunkten noch einmal neu zu rechnen. Ich glaube nicht
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5046 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Parl. Staatssekretär Westphalunbedingt, daß die von Ihnen in Ihrer Frage genannten Zahlen zutreffend sind.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Kunz.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Zahlen, die Ihnen global zur Verfügung stehen, natürlich nicht für alle Kommunen in gleicher Weise zutreffen? Denn in wirtschaftlich schwächeren Randzonen dürfte der Anfall dieser Arbeiten wegen der allgemein niedrigeren Einkommen wesentlich höher sein, vor allem, wenn Sie dann die Butterverbilligungsaktion in Ihre Überlegungen mit einbeziehen.
Ich gestehe, daß ich den Zusammenhang mit der Butterverbilligungsaktion noch nicht gesehen hatte. Aber ich möchte Ihnen gerne zugestehen, daß sich in kleinen Ämtern auf wenige Personen eine ähnliche Aufgabe verteilt, wobei man dann natürlich auch sehen muß, daß die Bevölkerungszahl dort nicht so groß ist.
Das, was uns vorliegt, besagt, daß es verwaltungsmäßig bis jetzt möglich war, dieses Gesetz ordentlich durchzuführen. Wenn sich neue Erfahrungen ergeben sollten, beginnen wir sofort mit neuen Überlegungen, um Verbesserungen zu ermöglichen. Ich glaube allerdings, daß es sich nicht um Änderungen handeln kann, die das Gesetz noch einmal ändern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Nordlohne.
Herr Staatssekretär, da Sie in Ihrer ersten Aussage davon sprachen, daß der Personenkreis der Antragsteller nicht den ursprünglichen Vorstellungen der Bundesregierung entspricht — ich nenne die Zahl 3 Millionen, die damals genannt worden ist; Kostenaufwand 420 bis 510 Millionen DM —, können Sie schätzungsweise einen Prozentsatz der Antragsteller nennen?
Nein, das kann ich leider noch nicht. Wir sind auf Zahlen der Länder angewiesen, und wir möchten die Länder nun nicht auch noch mit Statistik beschäftigen in einer Zeit, in der wir ihnen zusätzlichen Verwaltungsaufwand zumuten.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär Westphal, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Zur Beantwortung steht Herr Bundesminister Vogel zur Verfügung.
Die Frage 63 des Abgeordneten Schreiber wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 64 des Abgeordneten Wurche auf:
Welche Maßnahmen sind auf Grund der gegenwärtigen Energiesituation von der Bundesregierung eingeleitet worden, um bei künftigen Baugenehmigungen eine Mindestforderung von entsprechenden Isolierungen im Wohnungsbau sicherzustellen?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege! Die in den einschlägigen Technischen Baubestimmungen enthaltenen Anforderungen für den Wärmeschutz im Hochbau sind bauaufsichtliche Mindestanforderungen. Sie verhindern die Durchfeuchtung der Baukörper und ermöglichen ein hygienisch einwandfreies Bewohnen der Gebäude. Dieser Wärmeschutz hat sich im Rahmen der bisher gestellten Aufgabe bewährt. Er ist allerdings unter Berücksichtigung der Baukosten, der Baufolgekosten und der Heizenergieaufwendungen, insbesondere unter Berücksichtigung der gestiegenen Energiekosten, jetzt nicht mehr wirtschaftlich. Energieeinsparungen sind möglich. Daher sind die Bemühungen der Bundesregierung auf eine Erhöhung der bisherigen Anforderungen gerichtet.Die Bundesregierung hat folgende Maßnahmen eingeleitet. Erstens. Auf Grund von Forschungs- und sonstigen Untersuchungsvorhaben wurden die technischen und wirtschaftlichen Sachverhalte, die mit einer Erhöhung der wärmeschutztechnischen Anforderungen zusammenhängen, erarbeitet.Zweitens. Für eigene Bauten des Bundes hat mein Haus auf dem Erlaßwege die Erstellung von Wirtschaftlichkeitsberechnungen für wärmeschutztechnische Maßnahmen veranlaßt und eine Erhöhung der Anforderungen eingeleitet.Drittens. Der Bund beabsichtigt, für den Bereich des sozialen Wohnungsbaus mit den Ländern den oben dargelegten Gesamtkomplex zu erörtern. Diesbezügliche Anforderungen in den Einsatzrichtlinien des Bundes für den sozialen Wohnungsbau enthalten bereits Einschränkungen für den spezifischen Wärmebedarf der Wohngebäude. Die jüngste Fassung, Dezember 1972, hat bereits auf die veränderte Lage und Entwicklung Rücksicht genommen.Viertens. Unter Beteiligung des Bundes prüfen zur Zeit die für das Bau- und Wohnungswesen zuständigen Minister und Senatoren der fachlich zuständigen Länder in der Fachkommission „Bauaufsicht" eine Erhöhung der wärmeschutztechnischen Anforderungen für den allgemeinen Hochbau.Fünftens. Die Bundesregierung unterstützt durch Mitarbeit der Ressorts und durch Finanzierung für vorbereitende Untersuchungen im baulichen Wärmeschutz Normungs- und andere Fachgremien.Sechstens. Zur Verbesserung des Wärmeschutzes bei Altbauten soll zur Erarbeitung beispielhafter bautechnischer und wirtschaftlicher Lösungen ein in Vorbereitung befindlicher Wettbewerb in Kürze ausgeschrieben werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5047
Bundesminister Dr. VogelSiebtens. Die Bundesregierung fördert im Bereich des Bauwesens gegenwärtig mit Vorrang Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, die der Energieeinsparung und der besseren Energieausnutzung für Zwecke der Heizung und Klimatisierung von Gebäuden dienen.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 65 des Abgeordneten Dr. Schneider auf. — Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. ebenso die Frage 66 des Abgeordneten Dr. Schneider. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister, für die Beantwortung der Frage.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Herold zur Verfügung.
Die Frage 67 des Abgeordneten Spranger ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Köhler auf:
Ist die Bundesregierung bereit, in den Gesprächen mil der DDR darauf hinzuwirken, daß von den jährlich zu leistenden Zahlungen zu Lasten des Bundeshaushalts für Verkehrsabgaben und Transitgebühren an die DDR ein angemessener Betrag zum Zweck der Instandsetzung der Transitstraßen von und nach Westberlin eingesetzt wird?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, Herr Kollege Dr. Köhler, in meiner Antwort vom 10. Dezember 1973 auf eine entsprechende schriftliche Frage des Herrn Dr. Riedl , abgedruckt in der Anlage 66 zum Bundestagsprotokoll der 71. Sitzung vom 13. Dezember 1973, habe ich bereits darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland der DDR gemäß Art. 18 Abs. 1 des Transitabkommens Abgaben, Gebühren und andere Kosten, die den Verkehr auf den Transitwegen betreffen, einschließlich der Instandhaltung der entsprechenden Wege, Einrichtungen und Anlagen, die für diesen Verkehr benutzt werden, in Form einer jährlichen Pauschalsumme erstattet.
Die Bundesregierung geht dabei — ich betone das nochmals — davon aus, daß die Kosten für Reparaturen an den Zugangswegen nach Berlin durch die jährliche Pauschalsumme abgegolten sind. Die DDR hat bisher nicht zu erkennen gegeben, daß sie diese Auffassung der Bundesregierung nicht teilt.
Eine Zweckbestimmung dergestalt, daß der gemäß Art. 18 des Transitabkommens vereinbarte Pauschalbetrag ausschließlich oder speziell für die Instandsetzung der Zugangswege nach Berlin einzusetzen ist, war und ist nach unserer Auffassung politisch nicht durchsetzbar. Hierzu darf ich auch auf die Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Verkehr in seiner Antwort vom 9. Mai 1973 auf eine entsprechende schriftliche Frage des Herrn Kollegen Wohlrabe — Drucksache 7/511, Frage B 46 — hinweisen.
Die Bundesregierung ist im übrigen bereit, über die Transitkommission auf die Instandsetzung der Zugangswege nach Berlin immer wieder hinzuwirken.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Köhler.
Herr Staatssekretär, sind der Bundesregierung Forderungen der DDR bekanntgeworden, nach denen über die zu leistenden Zahlungen hinaus Sonderzahlungen, z. B. für die Instandhaltung der Elbbrücken bei Magdeburg, geleistet werden sollen?
Das ist mir nicht bekanntgeworden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger .
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung schon einmal den Versuch unternommen, festzustellen, ob die in der Pauschalsumme an die DDR gezahlten Beträge tatsächlich für die in diesem Artikel des Abkommens genannten Zwecke, also auch für den Straßenbau, verwendet werden?
Die Bundesregierung sieht sich außerstande, den Rechnungshof für die Ausgaben der DDR zu spielen. Das ist nicht möglich. Schließlich werden die Straßen ja laufend instandgesetzt, wenn wir auch feststellen müssen, daß dies nicht in dem Ausmaß geschieht, wie wir das für richtig halten.
Die Fragen 69 und 70 werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden in der Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 71 des Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Ist die Bundesregierung gegenüber der „DDR" Verpflichtungen eingegangen, auch von der Seite der Bundesrepublik Deutschland die Demarkationslinie so anzustrahlen, daß die Organe der „DDR" diese Linie besser überwachen können, insbesondere im Zuge der neu geschaffenen Grenzübergangsstellen?
Herr Kollege Dr. Wittmann, ich darf ganz klar antworten: Die Bundesregierung ist gegenüber der DDR keine derartigen oder ähnlichen Verpflichtungen eingegangen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen aber bekannt, daß tatsächlich Lichtanlagen an der Demarkationslinie, insbesondere in Nordbayern, von der Seite der Bundes-
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5048 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Dr. Wittmann
republik hergestellt werden oder zumindest entsprechende Aufträge erteilt wurden?
Wenn Sie die Lichtanlagen meinen, die notwendig sind, um einen flüssigen Grenzverkehr an den Grenzübergangsstellen zu gewährleisten, dann trifft das zu.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, hat man dabei auch in Betracht gezogen, daß derartige Lichtanlagen unter Umständen den Organen der DDR dabei behilflich sein könnten, z. B. in Ausführung des sogenannten Schießbefehls gegen Flüchtende leichter vorzugehen?
Ich habe eben wohl deutlich gemacht, daß wir verpflichtet sind, dafür zu sorgen, daß der Verkehr an und bei den Übergängen reibungslos läuft. Das heißt auch, daß diese Übergänge ausreichend beleuchtet sein müssen.
Die Fragen 72, 73 und 74 sind von den Fragestellern zurückgezogen. Wir sind damit am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich darf Ihnen für die Beantwortung danken.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie und für das Post- und Fernmeldewesen. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Hauff zur Verfügung.
Die Frage 75 ,des Herrn Abgeordneten Baier wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Dr. Meinecke auf:
Welche Bedeutung mißt die Bundesregierung der Parapsychologie bei?
Der Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte!
Herr Präsident, ich bitte, beide Fragen mit Zustimmung des Fragestellers im Zusammenhang beantworten zu dürfen.
Keine Bedenken. Auch die Frage 77 des Abgeordneten Dr. Meinecke ist aufgerufen:
Sieht sich die Bundesregierung durch Ereignisse der letzten Zeit veranlaßt, die parapsychologische Forschung in erheblichem Umfange zu unterstützen?
Herr Kollege Meinecke, wie Sie wissen, gibt es an den Universitäten mehrere Forscher und Institute, z. B. das Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie, die sich mit Parapsychologie ernsthaft befassen. Die Entscheidungen über die Förderungen werden in den Selbstverwaltungsorganen der Wissenschaft getroffen. Sogenannte Grenzfragen der Wissenschaft wie die Parapsychologie gehören unzweifelhaft zur Grundlagenforschung. In diesem Bereich sind, wie Bundesminister Ehmke in seiner Rede vor der MaxPlanck-Gesellschaft am 29. Juni 1973 betont hat, staatliche Stellen gut beraten, wenn sie nicht versuchen, auf Detailentscheidungen Einfluß zu nehmen. Dazu reichen ihre Kapazitäten -- vielleicht sollte man, dem Gegenstand etwas angemessener, sagen: ihre hellseherischen Kapazitäten — nicht aus.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Meinecke.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Meinung und Befürchtung, daß parapsychische Epidemien, wie sie z. B. durch einen „gewissen Menschen" in den Massenmedien ausgelöst wurden, wissenschaftlich untersucht und gesellschaftspolitisch erforscht werden müßten, insbesondere im Hinblick auf Massenbeeinflussungen durch Phänomene oder auch durch Tricks?
Herr Abgeordneter, ich nehme Ihre Zusatzfrage gern zum Anlaß, um zu erklären, daß die von Ihnen angesprochenen Ereignisse sehr genau untersucht werden müssen, insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, daß bei der Popularisierung solcher parapsychologischer Erkenntnisse und Praktiken, wie Sie sie angesprochen haben, berücksichtigt werden muß, daß dadurch zwar die deutsche Besteckindustrie eine erhebliche Absatzförderung erfahren könnte, daß es aber zugleich im Bereich der Uhrmacher zu erheblichen Beschäftigungseinbrüchen kommen könnte. Insofern hätte eine solche Entscheidung auch beschäftigungspolitische und strukturpolitische Auswirkungen, die mit zu berücksichtigen wären.
Außerdem, Herr Abgeordneter, ist für die jeweils Betroffenen die Frage der Haftung völlig ungeklärt. Es dürfte auch fragwürdig sein, ob es durch diesen Forschungsbereich tatsächlich zu einer Verbesserung der Qualität des Lebens kommen kann. Solange die damit zusammenhängende Frage nicht endgültig und abschließend geklärt ist, geht jedenfalls das Bundesministerium für Forschung und Technologie davon aus, daß ein Bedarf der Gesellschaft an einer erheblichen Verstärkung dieser Art von parapsychologischer Forschung nicht vorausgesetzt werden kann.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Meinecke.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5049
Herr Staatssekretär, wenn ich auch Ihre Auffassung und die der Bundesregierung teilen mag, möchte ich Sie trotzdem fragen: Wie kommt es, daß in den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion die Schwerpunkte der parapsychologischen Forschung in den letzten Jahren außerordentlich verstärkt gefördert worden sind, und glauben Sie nicht, daß die Bundesregierung vielleicht in die Gefahr gerät, hier den internationalen Anschluß zu verlieren, insbesondere deshalb, da ja offenbar parapsychologische Phänomene auch im Zusammenhang stehen mit bestimmten Problemen der bemannten Raumfahrt?
Herr Kollege Meinecke, soweit die Bundesregierung informiert ist, handelt es sich — jedenfalls im Fall Amerika weitgehend um private Initiativen und Initiativen privater Stiftungen. Gerade angesichts des Gegenstandes der heutigen Verhandlungen im Deutschen Bundestag wird es nicht unangemessen sein, darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung nachdrücklich jede private Förderung von Forschungsaktivitäten begrüßt.
Eine dritte Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Meinecke.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung denn wenigstens der Auffassung, daß in den Bereich dieser Forschung nicht nur das Aufklären und Verifizieren von Fragen und Phänomenen gehört, sondern auch der psychohygienische Aspekt, d. h. die Aufklärung über schädliche Auswirkungen derartiger Phänomene wie Wundergläubigkeit, Wunderheilungen, Jenseitskontakte oder die merkwürdige Aufnahmebereitschaft unserer Bevölkerung gerade zur Zeit bezüglich solcher Phänomene?
Herr Kollege Meinecke, ich vermag auf Ihre Frage keine Antwort zu geben, wobei ich nicht ausschließen kann, daß es auch über mein Vermögen geht, Ihnen zu sagen, ob mich hieran möglicherweise geheimnisvolle Kräfte hindern.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Meinecke.
Kann ich denn vielleicht Übereinstimmung mit der Bundesregierung in der Auffassung herstellen — anläßlich dieses heutigen Tages —, daß das Nutzbarmachen von psychokinetischen Impulsen und Energien jedenfalls zur Lösung der Energiekrise nicht geeignet sein wird?
Hier befindet sich Ihre Einschätzung in voller Übereinstimmung mit der Meinung des Bundesministers für Forschung und Technologie.
Ich rufe Frage 78 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die bisherige Arbeit der von ihr zur Zeit mehr oder weniger ausschließlich finanziell geförderten Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung, und hat sie gegebenenfalls durch ihre Vertreter im Kuratorium bzw. als einer der Gesellschafter an dieser Arbeit öffentliche Kritik geübt?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hauff, bitte!
Herr Kollege Schweitzer, die Bundesregierung sieht in der Förderung der Friedens- und Konfliktforschung eine wichtige Aufgabe. Die vom Bundesministerium für Forschung und Technologie dazu bereitgestellten Mittel werden von der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung autonom verwaltet. Auf die Auswahl der geförderten Forschungsvorhaben hat die Bundesregierung keinen Einfluß. Ein Urteil über deren Qualität steht zunächst einmal der Wissenschaft selbst zu. Die Bundesregierung wird dem nicht vorgreifen.
Ein Urteil hat sich die Bundesregierung dort zu bilden, wo der Bund als Mitglied der Gesellschaft oder im Kuratiorium Einfluß auf die Arbeit der Gesellschaft selbst nehmen kann. Das ist neben dem Bereich der Wirtschaftsführung, die bislang zu Beanstandungen keinen Anlaß bot, vor allem das Problem der Schwerpunktbildung in der Förderung. Der Bundesminister für Forschung und Technologie begrüßte es, daß im letzten Jahr nicht zuletzt auf seine Anregung hin ein Schwerpunktprogramm erarbeitet und vom Kuratorium beschlossen wurde. Er erwartet von einer geringeren Streuung der Mittel eine größere Wirksamkeit der Förderung in den jeweiligen Schwerpunktbereichen.
Ihre Frage, ob Vertreter der Bundesregierung im Kuratorium oder in der Gesellschaft an der Arbeit der DGFK öffentlich Kritik geübt haben, ist zu verneinen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schweitzer.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für möglich, daß auf den letzten Sitzungen des Kuratoriums der Gesellschaft tatsächlich durch Vertreter Ihres Hauses öffentlich Kritik geübt wurde, und zwar ohne Kenntnis der Leitung Ihres Ministeriums, und würden Sie — ich sage ausdrücklich: würden Sie — gegebenenfalls dafür Sorge tragen, daß künftig zumindest klarere Weisungen an Ihre Vertreter in den Gremien ergehen, die grundsätzlich öffentlich tagen?
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Herr Kollege Schweitzer, ich will die Frage gern noch einmal prüfen, aber wir haben mit den Herren aus unserem Hause, die an den letzten Sitzungen teilgenommen haben, eine Besprechung zur Klärung der damit zusammenhängenden Fragen durchgeführt. Diese Gespräche haben zu der Aussage geführt, die ich hier eben vorgetragen habe.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schweitzer.
Herr Staatssekretär, darf ich schließlich noch fragen, welche Gründe die Bundesregierung seinerzeit dazu bewogen haben, die Aufhebung der 1973 ausgesprochenen qualifizierten Sperre von Haushaltsmitteln in Höhe von meiner Erinnerung nach 800 000 DM nicht zu beantragen?
Weil es dafür keinen Bedarf gibt. Die Mittel wären auch bei Aufhebung der Sperre nicht abgeflossen.
Ich rufe Frage 79 des Herrn Abgeordneten Dr. Dübber auf:
Ist es richtig, daß die Deutsche Bundespost den Vertrieb von 51 Zeitungen und Zeitschriften aus der DDR eingestellt hat, weil die Hersteller die erforderlichen Gebühren nicht länger bezahlen wollten, und — bejahendenfalls — betrachtet die Bundesregierung diese formal sicherlich korrekte Entscheidung als mit ihrer Politik der innerdeutschen Annäherung übereinstimmend?
Bitte, zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Hauff!
Herr Kollege Dübber, es ist richtig, daß die Deutsche Bundespost den Vertrieb von 51 Zeitungen und Zeitschriften aus der DDR eingestellt hat, weil die Hersteller die erforderlichen Gebühren nicht länger zahlen wollten. Die Deutsche Bundespost hat den Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften aus der DDR über den Postzeitungsdienst dadurch ermöglicht, daß sie die Bevollmächtigten der DDR-Verleger in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin wie Verleger angesehen hat, die im Geltungsbereich der Postzeitungsordnung ansässig sind und ihre Verlagserzeugnisse in diesem Bereich herausgeben. Dementsprechend wurden den Bevollmächtigten für die angemeldeten Zeitungen und Zeitschriften Zulassungen zum Postzeitungsdienst erteilt. Bereits zum 1. Juli 1971 jedoch haben die Bevollmächtigten auf die weitere Zulassung der von ihnen angemeldeten Verlagserzeugnisse verzichtet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Dübber.
Herr Staatssekretär, ist es dann, wenn die DDR glaubt, sich selbst vom Informationswege nach dem Westen abschließen zu müssen, nötig, daß ihr die Behörden der Bundesrepublik dabei entgegenkommen, indem sie auf formal-fiskalischen Bestimmungen bestehen?
Herr Abgeordneter, es handelt sich in diesem Falle nicht um formale Dinge, sondern um Zahlungen für die Inanspruchnahme von Diensten. Im übrigen darf ich aber hinzufügen, daß sich die Bundesregierung im Rahmen der laufenden Verhandlungen mit der DDR darum bemüht, hier eine Regelung zu finden, die von beiden Seiten akzeptiert wird.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Fragen 80 und 81 des Herrn Abgeordneten Dr. Evers werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 82 des Herrn Abgeordneten Dr. Dübber auf:
Sind der Bundesregierung Fälle bekanntgeworden, in denen, wie in der Fernsehsendung „Panorama" vom 4. Februar 1974 dargestellt, Postkunden den Kauf von Briefmarken mit dem Porträt von Rosa Luxemburg abgelehnt haben?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Hauff, bitte!
Die Auflagenhöhe von Sonderpostwertzeichen ist begrenzt. Deshalb werden sie an den Schaltern im allgemeinen nur auf Wunsch abgegeben. Bei der Nachfrage nach Sonderpostwertzeichen haben Postkunden, vor allem ältere Bürger, den Kauf der Briefmarken mit dem Porträt von Rosa Luxemburg verschiedentlich abgelehnt. Nach der „Panorama"-Sendung haben sich die Reaktionen nicht nur im negativen, sondern zugleich auch im positiven Sinne verstärkt.
Keine Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 83 des Abgeordneten Dr. Riedl auf. — Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt. Ich darf Ihnen für die Beantwortung danken und rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Zander zur Verfügung.Ich rufe die Frage 84 auf. — Der Fragesteller, Dr.Slotta, ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 85 des Herrn Abgeordneten Dr. Hornhues auf. Ist der Fragesteller anwesend? — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5051
Vizepräsident von HasselDie Fragen 86 und 87 des Abgeordneten Pfeifer und die Fragen 88 und 89 des Abgeordneten Gölter sind zurückgezogen worden.Ich rufe die Frage 90 des Abgeordneten Vahlberg auf. Ist der Abgeordnete anwesend? — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke für die Geduld, die Sie haben aufwenden müssen, ohne zum Zuge gekommen zu sein.Ick komme nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Die Beantwortung der Fragen hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bayerl übernommen.Ich rufe die Frage 107 des Herrn Abgeordneten Kahn-Ackermann auf:Wird sich die Bundesregierung entsprechend der Empfehlung 719 der Beratenden Versammlung des Europarats im Ministerkomitee dafür einsetzen, daß der Expertenausschuß für Menschenrechte ein Übereinkommen über die Fragen der Freizügigkeit von Künstlern in Ausübung ihres Berufs in allen europäischen Staaten vorbereitet?Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bayerl!
Herr Kollege Kahn-Ackermann, die Bundesregierung ist grundsätzlich bereit, gemäß der in der Empfehlung 719 der Beratenden Versammlung des Europarats enthaltenen Anregung sich für eine verstärkte Freizügigkeit von Künstlern bei Ausübung ihres Berufs in allen europäischen Staaten einzusetzen. Die Bundesregierung ist allerdings der Auffassung, daß zur Konkretisierung dieser Bestrebungen nicht die Ausarbeitung eines besonderen Übereinkommens unbedingt notwendig ist, sondern eines in Verbindung zur Europäischen Menschenrechtskonvention stehenden Zusatzprotokolls der angemessenere Weg wäre.
Durch die Schaffung besonderer Übereinkommen für einzelne Berufsgruppen, z. B. Journalisten und Künstler, könnte die Einheit des durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschaffenen Rechtsschutzsystems gefährdet werden. Innerhalb der Mitgliederstaaten des Europarates ist die Freizügigkeit von Künstlern weitgehend gewährleistet.
Die Möglichkeit, in europäische Übereinkommen Staaten einzubeziehen, die nicht zu den .Mitgliedstaaten des Europarats gehören, ist rechtlich gegeben. Beispielsweise ist Finnland, obgleich nicht Mitglied des Europarates, zahlreichen Übereinkommen des Europarates, u. a. dem Europäischen Kulturabkommen und dem Europäischen Auslieferungsabkommen, beigetreten. Ob sich gerade im Hinblick auf das hier angestrebte Übereinkommen oder Zusatzprotokoll Nichtmitgliedstaaten des Europarates zu einem Beitritt bereitfinden werden, bleibt abzuwarten. Die Bundesregierung würde es sehr begrüßen.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Kahn-Ackermann.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, wenn ich Sie so interpretiere, daß sich die Bundesregierung, falls es eine Konvention aus dem Europarat heraus geben sollte, einer solchen in der Sache nicht widersetzen würde?
Die Bundesregierung würde sich nicht nur nicht widersetzen, sondern sie würde das sehr begrüßen und auch fördernd mitwirken.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe als letzte Frage der heutigen Fragestunde die Frage 108 des Herrn Abgeordneten Dr. Penner auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß manche Geschäftsleute bei Ladendiebstahl nicht nur Strafanzeige erstatten, sondern auch eine sogenannte Bearbeitungsgebühr" erheben, und beabsichtigt die Bundesregierung, gegebenenfalls durch geeignete gesetzgeberische Vorschläge solche Praktiken zu unterbinden?
Herr Kolleger Penner, der Bundesregierung ist insbesondere auch aus Presseberichten bekannt, daß manche Geschäftsleute bei Ladendiebstahl nicht nur Strafanzeige erstatten, sondern auch eine sogenannte Bearbeitungsgebühr erheben.Ladendiebstahl ist nicht nur eine Straftat, sondern stellt zivilrechtlich auch eine unerlaubte Handlung dar. Der geschädigte Geschäftsmann kann daher von dem Täter nach §§ 823 und 249 des Bürgerlichen Gesetzbuches Ersatz des aus dem Diebstahl entstandenen Schadens verlangen. Dazu gehören die durch die konkrete Tat entstandenen Schäden, die im einzelnen nachzuweisen sind. Eine abstrakte Schadensberechnung ist nur in bestimmten Einzelfällen möglich, die aber in der Regel bei Ladendiebstählen nicht vorliegen. Daraus folgt, eine pauschalierte Bearbeitungsgebühr etwa in Höhe von 20 DM oder gar, wie von Ladenketten neuerdings angekündigt, in Höhe von 50 DM steht dem Ladeninhaber gegenüber einem Ladendieb nicht zu. Der Ladeninhaber muß seinen Schaden konkret nachweisen, wobei im Streitfalle § 287 ZPO hinsichtlich der Höhe im Hinblick auf eine Pauschalierung Erleichterungen bringen kann. Ein solcher Nachweis des Schadens wird aber dort kaum zu erbringen sein, wo dem gestellten Ladendieb die Ware sofort wieder abgenommen wird. Verwaltungskosten, insbesondere der Zeitaufwand von Angestellten, die bei der Feststellung der Ursachen und bei der Abwicklung eines Schadensfalles entstehen, sind nach der neueren Rechtsprechung — im Bereich von Verkehrsunfällen entwikkelt, hier aber entsprechend anwendbar — nicht erstattungsfähig. Das undifferenzierte Verlangen einer Bearbeitungsgebühr von jedem Täter, insbesondere in Höhe von 20 DM oder 50 DM oder mehr, hat damit in solchen Fällen offenbar den Zweck, den Dieb einen Anteil an den generellen Kosten des Unternehmens anzulasten, die diesem bei seinen Maßnahmen zur
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5052 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Parl. Staatssekretär Dr. BayerlVerhinderung und Aufklärung von Ladendiebstählen entstehen.
Keine Zusatzfragen. — Wir sind am Ende der Fragestunde, die wir um zwei Mnuten überschritten haben, angelangt. Alle verbliebenen Fragen aus dieser Woche werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen zum Stenographischen Bericht abgedruckt. Die Fragen A 132, 161 und 162 sind von den Fragestellern zurückgezogen worden.
Meine Damen und Herren, wir fahren nunmehr fort in der unterbrochenen Aussprache zu Punkt 2 der Tagesordnung und Punkt 1 der Zusatzpunkte zur Tagesordnung, Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betr. Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, FDP betr. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1974.
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister des Innern, Herr Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ein Parlament kann kaum einen würdigeren Gegenstand für eine Debatte finden als die Verfassung selbst. Die Bedeutung des Gegenstandes muß Stil und Inhalt der Debatte bestimmen. Herr Kollege Dregger hat heute morgen ein Bild unseres Landes gezeichnet, das der Korrektur bedarf.
Niemand leugnet, daß es Gewalttat und verfassungsfeindliche Aktivität gibt, und zwar auch in unserem Land und auch jetzt und nicht nur in der Zeit, in der Sie regiert haben, meine Damen und Herren. Wenn Sie aber unter Bezug auf ausländische Stimmen die Sorge um die Entwicklung in unserem Lande vortragen, ist die Frage berechtigt, wieviel Länder es in dieser Welt gibt, in denen man von den Parlamentsparteien ohne Ausnahme sagen kann, sie seien Verfassungsparteien. Wie viele Länder gibt es mit so eindeutiger Absage der Bürger an verfassungsfeindliche Parteien wie in unserem Lande?
Ich finde, auch das gehört zum Bild dieses Landes, wenn wir über seine Verfassungswirklichkeit sprechen wollen.Sie haben recht, wer über das Grundgesetz spricht, wer über die Verfassungswirklichkeit spricht, muß auch über die Parteien in diesem Lande sprechen — Parteien, das sind wir alle. Wohl dem, der über seine eigene Partei nicht sprechen muß. Nur, meine Damen und Herren, eines müssen wir wissen: Die Parteien haben die Aufgabe, die Bürger, vor allem aber die jungen Menschen, für die Demokratie zu gewinnen. Sie müssen offen sein für die Mitwirkung vieler, sie müssen Betätigungsräume anbieten und sie müssen vor allen Dingen bewußt in Kauf nehmen, daß sich in ihnen, in den Parteien, der kontroverseste Teil der politischen Willensbildung vollzieht. Die Auseinandersetzung in den Parteien bietet dieChance der Integration — und das übrigens nach beiden Seiten des politischen Spektrums. Keine verantwortungsbewußte Partei darf diese Chance auslassen. Ich finde, hier ist der erhobene Zeigefinger völlig fehl am Platze. Meine Damen und Herren, täuschen Sie sich nicht: was die Parteien nicht an innerer Spannung auf sich selbst nehmen, das muß der Staat an innerer Spannung ertragen.
Das Bemühen um Integration muß überall dort seine Grenze finden, wo sichtbar wird, daß Desintegration oder Integration zum Extrem seine Folge wäre. Hier muß die Grenze scharf gezogen werden, und die Parteien dieses Hauses tun es. Aber ich finde, keine Partei sollte der anderen die Schwierigkeiten vorhalten, die sie sich vielleicht bei der Bewältigung dieser Aufgaben einhandeln mag.Wenn wir über unsere Verfassung sprechen, so sollten wir uns nicht auf ein Tauziehen einlassen, wer nun der Verfassung näher oder am nächsten sei. Ich habe die Sorge, das Tau könnte dabei reißen. Das Jahr 1974 wird mancherlei Anlässe bieten zu Gedenken. Ich denke, der 25. Wiederkehrtag, an dem unser Grundgesetz in Kraft trat, steht dabei mit Recht an der Spitze. Ich denke, dieses Jubiläum sollte uns Anlaß sein, sehr offen und selbstkritisch Bilanz zu ziehen. Es sollte uns veranlassen, auch losgelöst von aktuellen Tagesfragen unsere gesamte politische Wirklichkeit und unsere gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit am Maßstab des Grundgesetzes zu messen. Es ist das heute nicht die erste Gelegenheit. 1959 schrieb Theodor Eschenburg den Politikern den Satz ins Stammbuch, der es wert ist, heute in Erinnerung gerufen zu werden; er schrieb: Die Verfassung will pfleglich behandelt werden. Das heißt doch wohl: wir müssen peinlichst darauf achten, daß unser Grundgesetz das uns allen Gemeinsame, das Verbindende über alle Gegensätze hinweg bleibt.
An der Substanz der Verfassung endet der politische Kampf. Wer das nicht will, muß Gesellschaft und Staat den inneren Zusammenhang nehmen. Diese Verfassung ist — Kollege Schäfer hat es gesagt — eben nicht nur ein Organisationsstatut. Sie ist ein Programm für ein Deutschland, das den eigenen Frieden und die eigene Freiheit so hoch achtet wie den Frieden und die Freiheit für alle anderen Völker. Sie war und sie ist, um ein ganz nüchternes Wort zu gebrauchen, die Absichtserklärung für ein anderes, ein besseres Deutschland — und wenn auch beschränkt auf seinen Geltungsbereich, so doch ein Modell, und zwar unser Modell für ein freiheitliches ganzes Deutschland. Wer hier Vorrechte in Anspruch nehmen wollte, brächte uns alle in die Gefahr, den anderen aus der Verfassung, aus seinem Anteil an ihr und, was das Wichtigste ist, aus seiner Verantwortung für sie hinauszudrängen. Das kann niemand wollen. Ein solcher Versuch würde dem Geist der Verfassung in gefährlicher Weise zuwiderlaufen. Unser Grundgesetz will bewußt ein integrierender Faktor sein. Es würde diese seine Integrationskraft verlieren, wenn es mit Monopolansprüchen konfrontiert würde. Eine auf Integra-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5053
Bundesminister Genschertion angelegte Verfassung darf eben nicht ein taktisches Instrument in der Auseinandersetzung der Parteien werden. Unsere Demokratie lebt davon, daß wir, die Parteien dieses Hauses, unsere Gemeinsamkeit unter dem Grundgesetz nicht in Frage stellen.Dieses Grundgesetz ist ein System von Wertentscheidungen. Seine vier tragenden Prinzipien sind das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip und ,das Sozialstaatsprinzip. Ein solches System begründet keine formale, sondern eine reale und das heißt eine wertbestimmte Demokratie. Es fordert zur Parteinahme für diese Grundwerte heraus. Es verlangt, daß wir unser Handeln daran orientieren.Diesen vier Prinzipien ist gemeinsam, daß sie die Freiheitschancen des einzelnen sichern und mehren wollen: die Demokratie als Chance der Selbstbestimmung, der Rechtsstaat als Schutz vor jeder Willkür, der Bundesstaat als zusätzliche Verteilung von Macht und als System vielfältiger Formen von bürgerschaftlicher Mitwirkung und schließlich der Sozialstaat als Erfüllung der materiellen Voraussetzungen.Unser Grundgesetz ist unverrückbar in diesem Kernbereich, und dieser Kern, das eigentlich staatsbildende Element, ist die Begründung einer freiheitlichen Ordnung. „Im Zweifelsfall immer für die Freiheit", diesen Satz legt unser Grundgesetz uns nahe, diesem Anspruch muß unsere politische Arbeit entsprechen, und an diesem Anspruch müssen 25 Jahre Leben mit dem Grundgesetz und ,der Verfassungswirklichkeit, die daraus entstanden ist, gemessen werden. Das Grundgesetz, meine Damen und Herren — auch das müssen Sie wissen , ist nicht nur ein Katalog von Verboten, das Grundgesetz bietet Freiheit auch nicht als Konsumartikel, sondern es bietet Freiheit als eine Herausforderung, und Freiheit nicht als eine abstrakte Idee, sondern als einen ganz konkreten Anspruch.Hier sind eine Reihe kritischer Fragen zu stellen. Wie kommt es, daß sich immer mehr Menschen unfrei fühlen angesichts der Macht schwer überschaubarer, anonymer Apparate? Wie kommt es, daß die Regelungsmechanismen in unserer Gesellschaft vielfach so undurchsichtig sind, daß sich beim Bürger nur das Bewußtsein der Ohnmacht gegenüber „denen da oben" einstellt? Wie kommt es, das Rechte, die nach unserer Verfassungsordnung und unserer Gesetzgebung allen zustehen, nur von organisierten Minderheiten wahrgenommen werden können? Gibt es Freiheit hierzulande nur im Kollektiv? Können Rechte nicht mehr unmittelbar wahrgenommen werden, sondern bedarf es denn dazu jeweils eines Vermittlers? Mit anderen Worten: Sind wir so frei, wie unsere Verfassung uns haben will? Das ist das Thema des heutigen Tages.Unser Grundgesetz als ein großes Freiheitsangebot ist die Summe unserer verfassungsgeschichtlichen Erfahrungen. Es entspricht seinem freiheitlichen Geist auch das muß jeder sehen, der glaubt, im Besitz der allgemeingültigen Wahrheit zu sein —, daß auch die Freiheit zu verschiedenenFormen seiner Verwirklichung nicht nur möglich ist, sondern daß das Grundgesetz das geradezu will. Es ist sehr bestimmt in der Definition der Grund- und Freiheitsrechte, es legt sehr genau die demokratischen Spielregeln fest, und es ist eindeutig in der Bestimmung der Staatsziele.Aber, meine Damen und Herren, diese Verfassung ist bewußt offen und dynamisch in dem Bereich, den ich als den Gestaltungs- und Aufgabenbereich der Politik im engeren Sinne bezeichnen möchte, wo es also darum geht zu entscheiden, auf welche Weise die vorgegebenen Ziele erreicht werden sollen. Um es sehr präzise auszudrücken, weil es im Umgang mit der Verfassung auf Präzision ankommt: Das Grundgesetz ist offen für den Fortschritt, und es will ihn. Es stellt nicht Dogmen in den Weg, wo neue Erkenntnisse zu neuen Wegen führen. Es operiert nicht mit Verboten und Geboten, wo der Entscheidungs- und Verantwortungsbereich der Politik beginnt. Die Dynamik unserer Verfassung liegt darin begründet, daß sie das Freiheitsproblem von zwei Seiten angeht. Sie bietet ein wohlsortiertes Instrumentarium für die Bewahrung und Verteidigung der Freiheit; sie setzt aber zugleich weit ausholende Ziele für die materielle und das heißt wohl auch für die soziale Ausfüllung der Freiheit. Das Grundgesetz schlägt einen Doppelakkord aus Freiheitsverwirklichung und Freiheitssicherung an.Die Ausfüllung der Freiheit müßte scheitern, wollte man auf die entschiedene Auseinandersetzung mit jenen verzichten, die diesen Staat und diese Gesellschaft nicht verbessern, sondern zerschlagen wollen. Ebenso müßten auf die Dauer diejenigen scheitern, die sich nur auf die Handhabung der Instrumente der Freiheitsbewahrung beschränken wollten, ohne Staat und Gesellschaft im Geiste der Verfassung zugestalten und zu entwickeln.Das Grundgesetz gibt zwar ein verbindliches Grundmuster für die Entwicklung unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens; es läßt aber darin breiten Raum für die Ausgestaltung im einzelnen. In zahlreichen Urteilen hat das Verfassungsgericht auf den Charakter des Grundgesetzes als einer Verfassung der offenen Wege hingewiesen.In der Tat gab es in den letzten 25 Jahren eine große Bandbreite möglicher staats- und gesellschaftspolitischer Alternativen, die zu einer wesentlich anderen als der gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit hätten führen können. Auch in Zukunft werden wir uns immer wieder vor die Freiheit und vor den Zwang von Grundsatzentscheidungen gestellt sehen, die innerhalb des Verfassungsrahmens zu sehr unterschiedlichen Verfassungswirklichkeiten führen können. Diese Verfassung läßt Raum für Denkansätze und Zielvorstellungen, die sich mit unseren eigenen Überzeugungen nicht decken, die wir sogar für schädlich und unerwünscht halten mögen. Es ist jedermanns gutes Recht, meine Damen und Herren, solche Vorstellungen, die nicht in sein Konzept passen, politisch mit Nachdruck und Leidenschaft zu bekämpfen. Ich finde, es ist sogar die Pflicht der Demokraten, das zu tun.
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5054 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Bundesminister GenscherDie Verfassung ist aber kein bequemes Ruhekissen. Sie verlangt Entscheidungen. Die Dynamik des Grundgesetzes liegt in den Impulsen, die von ihm ausgehen, in seinen Gestaltungsaufträgen. Lassen Sie mich drei davon nennen: den internationalen, den nationalen und den sozialen Impuls. Hier finden wir das exzeptionell Neue dieser Verfassung.In Erkenntnis der engen internationalen Verflechtung und der starken gegenseitigen Abhängigkeit der Staaten in der Staatengemeinschaft öffnet das Grundgesetz den Weg zu einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die weit über das Herkömmliche hinausgeht. Die Ausübung von Hoheitsgewalt soll nicht mehr ausschließliches Vorrecht des einzelnen Staates sein. Der Bund kann daher Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Auch Sicherheit kann nach dem Verständnis des Verfassungsgebers nicht mehr nur national gewährleistet werden. Deshalb weist das Grundgesetz auch den Weg zur Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit in gegenseitiger Solidarität. Die Wahrung des Friedens ist oberstes Gebot zwischenstaatlicher Beziehungen. Die Bewahrung und Sicherung des Friedens ist ein Gebot der Verfassung. Eine aktive Friedenspolitik erfüllt eben dieses Verfassungsgebot.Auch in der nationalen Frage ist das Grundgesetz — zumal in der Interpretation durch das Verfassungsgericht — im Auftrag bemerkenswert eindeutig und bestimmt, im Wege bemerkenswert offen. So begründet es insbesondere durch seine Präambel die Rechtspflicht für alle Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland, die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anzustreben. Mit welchen politischen Mitteln, auf welchen politischen Wegen dieses Ziel zu erreichen ist, bleibt jedoch der eigenverantwortlichen Entscheidung der zu politischem Handeln berufenen Organe überlassen. Die Bundesregierung des Jahres 1974 orientiert sich an demselben Recht wie die des Jahres 1949. Daß eine in diesem Sinne vorwärtsgerichtete Deutschlandpolitik auf dem Boden unseres Verfassungsrechts möglich ist, hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag bescheinigt. Das Wiedervereinigungsgebot unserer Verfassung, die Offenhaltungspflicht nach Art. 23 des Grundgesetzes, die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit, die Verpflichtung zur Einbeziehung Berlins in alle Verträge mit der DDR, die ihrem Inhalt nach auf das Land Berlin und seine Bürger ausgedehnt werden können, waren und sind die wichtigsten Grundpositionen, ,die dieser Deutschlandpolitik den verfassungsrechtlichen Rahmen setzen. Das wird auch künftig so sein, und niemand wird uns davon abbringen, nach diesem Verfassungsgebot zu handeln.Das Bundesverfassungsgericht, das diese Verpflichtung ebenso bestätigt hat wie die Übereinstimmung des Grundlagenvertrages mit der Verfassung, verdient den entschiedenen Schutz nicht gegenüber seriöser Kritik, wohl aber gegenüber den Angriffen, denen es ausgesetzt ist. Bedenken Sie aber auch eines. Wer den Verfassungsauftrag zur Lösung unserer nationalen Frage ernst nimmt, darf sich nicht darauf beschränken, nur zu prüfen, ob etwas verfassungsgemäß ist — diese Prüfung ist freilich wichtig und unerläßlich —; er muß auch erkennen, daß durch Nichtstun und Unterlassen ebenfalls gegen den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes gehandelt werden kann.
Offenheit und Dynamik kennzeichnen unser Verfassungsrecht schließlich auch und gerade im staats-und gesellschaftspolitischen Bereich. Der Auftrag des Grundgesetzes, den sozialen Rechtsstaat zu schaffen, läßt der ausführenden Politik vielleicht den weite-. sten Raum. Staatliches Handeln ist mehr und mehr soziales Handeln.Ein Hauptteil der staatlichen Tätigkeit besteht darin, die Gesellschaft zu verändern. Ich weiß, daß ein solcher Satz Widerspruch bei denen auslösen mag, die sofort abwehrbereit dastehen, wenn sie das Wort „Veränderung" hören. Und doch ist es so: Die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen, der Kampf um menschenwürdige Umweltbedingungen und der Durchbruch zu einem auf Chancengleichheit beruhenden Bildungssystem, das alles verändert die Gesellschaft, weil sich die persönlichen Lebensverhältnisse der vielen einzelnen verändern, weil neue Bedürfnisse entstehen und sich neue Verhaltensweisen formen. Zwar ist prinzipiell jeder Staatsbürger jedem anderen in seinen Rechten gleichgestellt, aber bei unterschiedlichen materiellen Lebensbedingungen wirken Rechte und Gesetze durchaus unterschiedlich.Anatole France hat in seinem unvergleichlichen Bild das Problem beim Namen genannt: Das Gesetz in seiner gravitätischen Erhabenheit verbietet es Armen und Reichen in gleicher Weise, ihr Nachtlager unter Brücken aufzuschlagen. Und der Rechtsphilosoph Erich Fechner spricht von der soziologischen Grenze der Grundrechte. Gibt es demnach Rechte -so müssen wir in dieser Debatte fragen , gibt es vielleicht sogar Grundrechte, die nicht von allen in Anspruch genommen werden können? Wir wollen uns nichts vormachen: Natürlich ist es so. Wir müssen erreichen, daß die Rechte und Freiheiten des Grundgesetzes auch von jedermann in Anspruch genommen werden können. Denn Demokratie meint Freiheit für alle. Die Garantie eines menschenwürdigen Daseins, das Ziel des Sozialstaats, soll dafür die Grundvoraussetzung schaffen.Aber vergessen wir nie: Der soziale Rechtsstaat verwirklicht sich im Schicksal des einzelnen und nur in diesem. Der einzelne ist Träger der sozialen Garantien und Chancen und nicht das Kollektiv. Diese Grenze wird gegenüber mächtigen gesellschaftlichen Gruppen gezogen, eben den organisierten Interessen, deren Macht den Freiheitsraum des einzelnen bei einem kollektiven Sozialstaatsverständnis umfassen und erdrücken könnte. Der soziale Rechtsstaat, der für alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten anerkennt, sucht auch die bessere Lösung für alle. Damit, meine Damen und Herren, schafft er eine Gesellschaft, die den Klassenkampf überwunden hat. Im Klassenkampf sollen vermeintliche oder wirkliche Privilegien einer Gruppe auf die andere über-
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Bundesminister Genschertragen werden. Der freiheitliche und soziale Rechtsstaat will keine Gruppe und keinen privilegieren.Der soziale Rechtsstaat ist so die Antithese zum Klassenkampf.In der Eigentumsfrage heißt das konkret, daß die Vermögenskonzentration nicht zu dem Schluß führen darf: kein Eigentum für alle. Vielmehr muß es heißen: Eigentum und Vermögen für die vielen. Der freiheitliche Sozialstaat löst das Problem, das sich aus der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ergibt, nämlich die Macht über Menschen und ihre Abhängigkeit, nicht durch die eigentumslose Gesellschaft, sondern durch Mitbestimmung. Diese verwirklicht ihr Prinzip um so stärker, je mehr der einzelne an seinem Arbeitsplatz und darüber hinaus in seinem Lebensbereich ihr Träger ist. So führt sie zur Selbstbestimmung des freiheitlichen Individuums. Die Freiheitsgarantie ist in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz in Wahrheit ein Recht des Schwächeren.Meine Damen und Herren, wenn es richtig ist, daß der Gebrauch der Freiheit in allen Stücken von sozialen Voraussetzungen abhängt, wenn es stimmt, daß diese Voraussetzungen ungleich sind und sie sind es; denken Sie an die heute noch unterschiedlichen Bildungschancen in unserem Land, oder denken Sie an die hohe Wahrscheinlichkeit des Weges in die Kriminalität bei Jugendlichen aus bestimmten Umweltbedingungen —, dann muß sich die Politik bemühen, die Gleichheit der Voraussetzungen, die Gleichheit der Chancen und der Möglichkeiten zu schaffen. Das ist das Thema von heute. Das ist wahrlich nicht zwangsweise verordnete Gleichmacherei. In einer demokratischen Gesellschaft sind nicht alle auf die gleiche Länge oder, besser gesagt, auf die gleiche Kürze zurechtgestutzt. Wir haben ein System sozialer Sicherungen, das ein bestimmtes Maß an Sicherheit für alle garantiert. Aber dieses System legt nur eine untere Grenze fest. Eine obere gibt es nicht. Daraus erwächst ein Freiraum für das Handeln in eigener Verantwortung, und daraus ergibt sich der Antrieb zur eigenen Leistung. Meine Damen und Herren, Gleichheit im Sinne des Grundgesetzes heißt nicht, daß wir alle gleich wären oder gleichgemacht werden müßten, sondern daß wir alle gleichen Anspruch auf Freiheit haben.
Deshalb räumt der soziale Rechtsstaat die Hindernisse beiseite, die diesem Anspruch außerhalb der Person des einzelnen im Wege stehen. Danach aber wird die eigene Leistung verlangt.Demokratie, meine Damen und Herren, muß überall gelebt werden, auch wenn es noch so schwerfällt, auf hergebrachte, autoritäre Formen zu verzichten.Lassen Sie mich ganz offen sagen: Auch Schule und Erziehung sind nicht wertfrei. Sie sollen zur Bejahung der freiheitlichen Prinzipien unserer Ordnung führen.
Das kann und darf nicht heißen, daß andere Auffassungen verschwiegen werden sollen, im Gegenteil. Es muß aber die kritische Auseinandersetzungmit diesen anderen Auffassungen gesucht werden und nicht die Indoktrination gegen die Freiheit.
Auch der umgekehrte Versuch wäre zum Scheitern verurteilt. Demokratie kann nicht eingeimpft werden. Unsere Kinder müssen kritik- und unterscheidungsfähig an unseren demokratischen Staat herangeführt werden.
Sie sollen kritische, sie sollen aber nicht gläubige Staatsbürger werden.
Meine Damen und Herren, was in unseren Schulen geschieht, ist für uns nicht nur heute, sondern erst recht morgen wichtig. Deshalb ist es wichtig, festzuhalten: Wer unsere Kinder erziehen und lehren will, muß zur Parteinahme für die Wertordnung unserer Verfassung bereit sein.
Wir wollen nicht, daß unsere Kinder gegen die Verfassung indoktriniert werden.
Eines ist in den letzten Jahren deutlich geworden: Das gesellschaftspolitische Engagement der Bürger wächst.Meine Damen und Herren, auf das vielleicht konfliktträchtigste Gebiet der Verfassungsdiskussion begibt sich, wer die Frage nach der Verteidigung der Verfassung gegen ihre Gegner stellt. Hier geht es um ganz prinzipielle Fragen, viel grundsätzlichere, als bisher erörtert worden sind. Der Konflikt ist im freiheitlichen Geist des Grundgesetzes selber angelegt. Wie kann die Freiheit gesichert werden, ohne daß sie sich selbst in Frage stellt?Der große Moralist Karl Jaspers verweist auf das Risiko. Er sagt:Die menschlichen Dinge gestatten keine absolute Sicherheit. Freiheit kann sich nur durch Freiheit im Risiko behaupten. Wer absolute Sicherheit will, will die Unfreiheit und den politischen Tod. Der Wille zur absoluten Sicherheit drückt eine Gesinnung aus, die die Wirklichkeit des menschlichen Daseins nicht anzuschauen wagt.Ich füge hinzu: Die absolute Sicherheit, meine Damen und Herren, gibt es zu allererst im absoluten Polizeistaat. Sicher ist doch nur eines, nämlich daß die Presse dort weder über die Kriminalität noch über die Verletzung der Würde des Menschen berichten darf.
Auf der anderen Seite wissen wir: Freiheit ohne Schutz, Freiheit ohne Sicherheit gegen Feinde der Freiheit bedeutet, das Ende der Freiheit. Das hat unser Volk selbst erleben müssen. Dieses Erleben5056 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag,. den 14. Februar 1974Bundesminister Genschermit seinen furchtbaren Folgen bestimmte den Parlamentarischen Rat vor 25 Jahren dazu, sich bei der Ausgestaltung unserer Verfassung für die abwehrbereite, für die streitbare Demokratie zu entscheiden. Der Schutz unserer Verfassung muß damit beginnen, daß wir das demokratische Engagement des Bürgers noch mehr und noch stärker als bisher entwickeln und stärken. Dazu, meine Damen und Herren, gehört, daß wir auch durch unsere Gesellschaftspolitik eine Verfassungswirklichkeit schaffen, zu der sich die Bürger aus Überzeugung bekennen können.
Wir brauchen um den Bestand unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung nicht in Sorge zu sein, wenn der Bürger weiterhin bereit ist, sich zu den tragenden Prinzipien unseres Rechtsstaats zu bekennen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich den Herausforderungen zu stellen, die politischer Extremismus und Verfechter radikaler Ideologien an unsere verfassungsmäßige Grundordnung richten. Demokratisches Engagement kann eben nicht nur durch den Gang zur Wahlurne erfüllt werden.Täuschen wir uns nicht! Natürlich ist auch unser Land nicht verschont geblieben von der weltweiten Auseinandersetzung um die Grundwerte von Staat und Gesellschaft. Was vor zehn Jahren noch selbstverständlich war — die Anerkennung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung —, das muß heute gegenüber Zweifeln, gegenüber prinzipieller Kritik und sogar gegenüber offenen Angriffen verteidigt und glaubhaft begründet werden. Diese Kritik, diese Auseinandersetzungen, die bis an die Wurzel unseres Gemeinwesens gehen, bieten uns aber auch eine Chance. Wir werden gezwungen, unsere eigene Position zu überdenken, berechtigte Kritik anzuerkennen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wir kommen so in die Lage, die Stärke unserer Position zu erkennen, den Wert unserer Verfassung zu begreifen und das Gefühl rational zu begründen, für eine gute Sache einzutreten.Ein demokratischer Rechtsstaat muß fähig und bereit sein, sich auch gegenüber unverhüllten und feindseligen Angriffen auf seine Grundordnung wehren zu können. Zu dieser Abwehrbereitschaft haben sich die Schöpfer des Grundgesetzes bekannt. Dafür können wir ihnen dankbar sein. Aber die Problematik staatlicher Selbstbehauptung dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Der Heidelberger Ordinarius für politische Wissenschaften, Friedrich, hat in seinem geistesgeschichtlichen Werk „Die Staatsraison im Verfassungsstaat" die Frage gestellt, an welchem Punkt die Anwendung der Abwehrmethoden die Verfassung selbst zerstöre und ob der Glaube an eine Ordnung noch bewahrt werden könne, die ihren Sinn und ihre Lebenskraft verloren habe. Er hielt das Risiko, von dem auch Jaspers spricht, nicht für eine absolute Antithese der Sicherheit, sondern sah Sicherheit nur für verwirklicht an, wenn man bereit sei, ein Risiko einzugehen, das allerdings ein kalkuliertes Risiko bleiben müsse. Damt hat er den Raum, aber auch die Grenzen für die Politik zurWahrung der inneren Sicherheit eines Gemeinwesens aufgezeigt.Glauben Sie mir, meine Damen und Herren, diese Grenze immer aufs neue zu finden, sie in vielen Einzelentscheidungen auch konsequent zu zeichnen, macht das Gemeinsame der Verantwortung derjenigen aus, die in den Ländern und im Bund in unserem demokratischen Rechtsstaat die Verantwortung für die innere Sicherheit haben. Für sie stellt sich diese Problematik staatlicher Selbstbehauptung in einer Demokratie, in einem freiheitlich verfaßten Staat, täglich neu. Ich halte es für einen wesentlichen Erfolg unserer Demokratie, daß es in den letzten Jahren möglich geworden ist, in dem Kernbereich unserer inneren Sicherheit und damit auch der Demokratie Übereinstimmung zwischen Bund und Ländern unabhängig von der parteipolitischen Zugehörigkeit der jeweils Verantwortlichen zu erreichen. Das war nicht immer so, das wird auch in Zukunft nicht immer einfach sein. Dennoch sollten wir diesen Zustand und diesen Bestand an demokratischer Gemeinsamkeit zu bewahren und auszubauen suchen.Eine Verfassung der Liberalität wie die unsere ist eine Verfassung der Toleranz. Ein Staat, zu dessen Prinzipien die Toleranz gehört, befindet sich gegenüber Angriffen und Übergriffen zunächst in einer Position scheinbarer Schwäche. Natürlich will der freiheitliche Rechtsstaat Recht und Ordnung in einem wohlverstandenen Sinne, aber legt die Schwelle, oberhalb derer der Zwang beginnt, sehr hoch, und nur in jener falschen Sicht von Law and Order, die diese ganze, das Selbstverständnis des Staates zutiefst berührende Problematik überhaupt nicht sieht oder nicht sehen will, entsteht daraus der Vorwurf der Schwäche. In Wahrheit ist die vermeintliche Schwäche die Stärke des Rechtsstaates. Der Mangel an Toleranz, der jeden Extremismus kennzeichnet, dient fast durchweg nur zu Verdeckung der eigenen Schwächen. Er führt zu einem quasi religiösen Eiferertum, das nicht mehr die Ausprägung einer gebotenen und erwünschten Meinungsvielfalt, sondern das skrupellose und gefährliche Durchsetzen des eigenen Machtinteresses darstellt. Hier ist aber auch die Schranke erreicht, an der Halt zu gebieten ist. Bis zu diesem Punkt ist das Risiko, das wir in einer freiheitlichen Grundordnung durch die Tolerierung auch radikaler Bestrebungen auf uns nehmen, ja auf uns nehmen müssen, kalkulierbar; aber auch nur bis zu diesem Punkt.Lassen Sie mich noch einmal Karl Jaspers zitieren. Er sagt:Politisch will ein freies Volk, daß alle Kräfte offen zur Geltung kommen, zwar nur geistig, aber nicht gewaltsam. Was nicht offen zutage tritt, wirkt untergründig und ist dann ein Gift im Staatskörper. Geistig können sie bekämpft und vielleicht überwunden werden. Wo sie gewaltsam werden und Gewaltsamkeit organisatorisch vorbereiten, da erst greift Staatsmacht ein.Und ich füge hinzu: Hier muß der Staat eingreifen.
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Bundesminister GenscherGewalt als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele ist in einem freiheitlichen Rechtsstaat durch nichts zu rechtfertigen. Auch hier gilt: Wehret den Anfängen! Das richtet sich nicht nur gegen die Anwendung von Gewalt, es richtet sich ebenso gegen die Aufforderung dazu, gegen die Verherrlichung der Gewaltanwendung wie gegen die Verniedlichung ihrer Folgen.In der geistig-politischen Auseinandersetzung ist die Toleranzgrenze weit gezogen. Sie wird überschritten, wenn an Stelle der Auseinandersetzung mit den Gegnern der Freiheit die Zusammenarbeit mit ihnen tritt.
Die Wertentscheidungen der Verfassung erlauben niemandem den Schluß, was nicht verboten sei, sei auch demokratisch. Demokraten dürfen nicht gemeinsame Sache mit 'den Gegnern der Freiheit machen; denn man kann nicht Arm in Arm mit den Gegnern der Freiheit die Freiheit gestalten oder auch nur verteidigen wollen.
Der Punkt des Eingreifens und das Instrumentarium zur Verteidigung der gegebenen Grenzen sind im Grundgesetz sehr deutlich festgelegt. In der Wählerresonanz hat sich z. B. sowohl bei 'der DKP wie bei der NPD die Wirkung der politischen Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Gruppierungen gezeigt. Die staatlichen Abwehrmittel sind dann einzusetzen, wenn Einzelpersonen oder Gruppen die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung propagieren und anwenden. Ich unterstreiche noch einmal: Wer in unserem Staat, der den Bürgern das höchste Maß an Freiheit gewährt, das unsere Geschichte kennt, Gewaltanwendung ideologisch zu rechtfertigen sucht oder zur Nachsicht rät, rührt an Grundüberzeugungen unseres Rechtsstaats.
Ich habe in einer anderen Debatte an 'dieser Stelle gesagt: „An der Frage der Gewalt müssen sich die Geister scheiden." Das gilt heute wie damals, und es gilt in allein Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens.
Der Bürger hat ein Recht auf Schutz nicht nur vor Kriminalität, sondern auch vor politischer Kriminalität.
Diesen Schutz muß gerade 'der freiheitliche Staat ihm gewähren. Ein so liberaler Staatsdenker wie Wilhelm von Humboldt hat in der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit überhaupt den einzigen Tätigkeitsbereich des Staates sehen wollen und den Sinn des Staats in der Ausprägung der Freiheit des einzelnen.Der Schutz des Bürgers ist nämlich deshalb so wichtig, weil sich sein Bild vom Staat auch nach dem Grad des Schutzes formt, den der Staat ihm bietet. Ich sage hier sehr deutlich: Die Träger unserer inneren und äußeren Sicherheit — Verfassungsschutz, Polizei, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr — haben deshalb ihren festen Platz in unserer Verfassungsordnung. Sie sind auf Vertrauen angewiesen, und sie verdienen unser Vertrauen. Wer sie herabsetzt oder ungerechtfertigt verdächtigt, trifft den Staat in seiner Substanz.
Rechtsstaatliche Freiheit und Abwehrbereitschaft gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen bilden keinen Gegensatz. Beide Prinzipien bedingen sich vielmehr gegenseitig. Es gibt kein Recht ohne Sicherheit, aber auch keine Sicherheit ohne Recht. Rechtsstaatliche Prinzipien müssen auch und gerade dann gewahrt werden, wenn unsere Demokratie ihre Abwehrbereitschaft gegen die Feinde unserer Freiheit verwirklicht.Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist für die Bundesregierung auch oberstes Prinzip in ihrer Haltung gegenüber Gegnern unserer Verfassung, die in den öffentlichen Dienst eindringen wollen. Unser freiheitlicher Rechtsstaat setzt geradezu denknotwendig die Loyalität 'der Angehörigen des öffentlichen Dienstes voraus. Wer die kommunistische Diktatur der DDR als Vorbild für die Umgestaltung unseres Staats- und Gesellschaftswesens ansieht, wer rassistischen Vorstellungen folgt oder einem der Würde des Menschen widersprechenden völkischen Kollektivismus das Wort redet, hat im öffentlichen Dienst dieses Staates nichts zu suchen.
Das ist so unbestritten unter den demokratischen Parteien,
daß gerade diese Feststellung in Ihrem Antrag so selbstverständlich ist. Um was es uns als Demokraten gemeinsam gehen muß, ist, diese außerordentlich schwierige, für einen Rechtsstaat empfindliche Frage mit dem höchsten Maß an Rechtsstaatlichkeit auch lösen zu können. Das ist des Schweißes der Edlen wert!
Meine Damen und Herren, ich sage ebenso offen: In der Auseinandersetzung mit allen Feinden der Freiheit dürfen wir nicht einäugig sein. Wer nur die eine Seite sieht, ist nicht besser daran als einer, der gegenüber dieser Gefahr völlig blind ist.
Eine ehrliche Bilanz zu Beginn dieses Verfassungsjahres gibt weder Anlaß zu Kassandrarufen noch zu Selbstgerechtigkeit. Unsere Verfassung ist anspruchsvoll; sie sagt nicht, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei. Wenn in diesem Lande Friedhofsruhe herrschte, wenn es nicht kritische Öffentlichkeit, sondern allenfalls räsonierende Privatheit gäbe, dann — und nur dann — müßte man wohl konstatieren, daß dieses Land nicht in Ordnung ist.
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5058 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Bundesminister GenscherZur Bilanz gehört deshalb wohl auch die Fähigkeit, die Entwicklung des staatsbürgerlichen und demokratischen Bewußtseins als einen positiven Prozeß zu sehen. Die Demokratie ist bei uns doch stärker geworden. Das „Ohne mich" ist im Schwinden. Ein wirkliches Engagement für Freiheit und Gerechtigkeit gerade bei vielen Jüngeren ist doch deutlich sichtbar. Unsere Demokratie ist heute eine andere. Meine Damen und Herren, ich glaube, sie hat heute eine bessere Qualität als in den 50er Jahren.
Die Formen eines neuen demokratischen Engagements mögen uns nicht immer passen, auch die Inhalte mögen uns nicht immer passen. Wir müssen aber akzeptieren, daß sich hier ein elementares Bedürfnis nach Demokratie, und zwar nach freiheitlicher Demokratie, Bahn bricht. Unsere Verfassung ist ein Grundgesetz für freie Menschen. Sie braucht Demokraten, die sich zu ihr bekennen, in diesem Hause und überall draußen. Deshalb sollte über alle Parteigrenzen hinweg eines gelten, ob wir soziale, christliche oder freie Demokraten sind: Das Grundgesetz ist unsere Verfassung, unsere gemeinsame Verfassung, und es sollte unsere gemeinsame Verfassung bleiben.
Das Wort hat Herr Ministerpräsident Dr. Filbinger .Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ziel dieser Debatte ist es, auszuloten, ob die Verfassungswirklichkeit sich von dem Geist unserer Verfassung entfernt hat. Ziel muß es auch sein, festzustellen, ob der Konsens der demokratischen Parteien dieses Landes über die Grundwerte unserer Verfassung und über deren Einrichtungen noch besteht. Schließlich ist es ganz besonders wichtig, festzustellen, ob innerhalb der einzelnen demokratischen Parteien dieser Republik das Grundgesetz noch die gemeinsame Basis ist.Die Verfassungswirklichkeit stellt sich nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch bei den Ländern dar. Die Länder sind es auch, welche die Angriffe auf unsere Verfassung unmittelbarer als die Bundesregierung zu spüren bekommen etwa in den Universitäten, bei der Polizei, der Justiz — und die mit ihrer Abwehr nahezu täglich an Ort und Stelle konfrontiert sind. Deshalb ergreife ich als Mitglied des Bundesrates und Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes das Wort.Ich stimme wesentlichen Feststellungen des Herrn Bundesinnenministers Genscher zu: daß es Aufgabe der Parteien sei, die Jugend an die Verfassung heranzuführen, keine Indoktrination gegen die Verfassung zu führen, kritische, nicht gläubige Bürger zu haben, die Substanz der Verfassung als Postulat verbindlich zu halten, die Verfassung nicht abzuwerten als ein taktisches Instrument und vor allem keine Bündnisse demokratischer Parteien mit solchen zuzulassen, die die Freiheit, die diese Verfassung gewährt, untergraben wollen.
Durchaus Zustimmung in dieser Richtung! Aber ich stelle fest, daß in der Rede, die der Sprecher der SPD, Professor Schäfer, gehalten hat, eine Auseinandersetzung mit diesen Kernfragen der Debatte vermißt werden muß.
Wie steht die SPD, so frage ich, zur Kernfrage dieser Debatte, nämlich zu der Tatsache, daß Verfassungswirklichkeit und Verfassungsrecht in einigen wichtigen Positionen auseinanderklaffen?Statt dessen haben wir Vorwürfte des ersten Redners gegen den Altbundeskanzler Erhard gehört. Ihm wurde vorgeworfen, er habe in seiner Regierungszeit Akte einer Gefälligkeitsdemokratie erlassen. Ich muß sagen, meine Damen und Herren, angesichts der heutigen wirtschaftlichen und finanziellen Situation finde ich diesen Vorwurf geradezu tollkühn. Zu Zeiten des Altbundeskanzlers Erhard haben nämlich die Arbeitnehmer und die Selbständigen Jahr für Jahr ihre Ersparnisse wesentlich vermehrt, während diese Kapitalien heute zusammenschmelzen wegen einer Inflation, die die Bundesbank als „hausgemacht" bezeichnet.
— Herr Abgeordneter Wehner, wenn Sie das als Geschwätz ansehen:
Die Realität dessen, was ich angesprochen habe, wird Ihnen draußen von der Bevölkerung jeden Tag bestätigt werden.
Die Frage, die sich heute stellt, geht an die von der SPD und der FDP gestellte Regierung, und sie geht auch an die SPD als Partei: Wie gedenkt sie fertig zu werden mit Initiativen von Kräften ihres linken Flügels, die nicht mehr mit den Grundwerten der Verfassung im Einklang stehen?Bei der Rede des Herrn Professor Schäfer habe ich auch eine Auseinandersetzung mit den Jusos vermißt. Statt Argumenten habe ich nur die Aufforderung gehört: Sagen Sie mir, welche Vorschläge der Jusos sind gegen das Grundgesetz? — Sie brauchen doch, Herr Professor Schäfer, nur einmal die Beschlüsse der Kongresse der Jusos aus den letzten Jahren und aus diesem Jahr herzunehmen, um zu sehen, daß hier zur Verfassungswirklichkeit eine ganz erhebliche Lücke klafft.
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Ministerpräsident Dr. Filbinger-- Herr Professor Schäfer, ich habe eine Mappe, in der diese Beschlüsse drin sind. Ich habe sie auch gelesen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin?
Herr Ministerpräsident, wir haben ja nun mittlerweile schon vielmals den Teufel an die Wand gemalt bekommen. Wäre es nicht möglich, daß Sie den Weg zu Ihrer Mappe gehen und uns einmal konkret sagen, was Sie meinen, daß Sie Roß und Reiter nennen?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ich darf Sie fragen, gnädige Frau: Ist Ihnen eigentlich unbekannt, daß die Verstaatlichung der Banken,
der Grundindustrie verlangt worden ist, daß die zentrale Steuerung der Investitionen, die Kommunalisierung des Baubodens verlangt worden ist?
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Sonst können wir die Zwischenfragen gar nicht hören. Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Bitte sehr!
Moersch : Herr Ministerpräsident, ist Ihnen bekannt, daß das, was Sie soeben als Möglichkeit monieren, nämlich die Verstaatlichung der Banken, gegen den Widerstand von Thomas Dehler von Ihren Freunden als Möglichkeit ins Grundgesetz hineingeschrieben worden war,
und zwar in Art. 15?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Die Garantie des Eigentums, die Garantie unserer verfassungsmäßigen Wirtschaftsordnung bedeutet, daß eine Verstaatlichung keinen enteignungsähnlichen Charakter haben dürfe, und daran halten wir uns im Grudgesetz.
Meine Damen und Herren, die Ausführungen von Herrn Professor Schäfer zur Frage der Radikalen habe ich als eine Verharmlosung empfunden.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rapp?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Gleich, wenn ich diesen Gedanken zu Ende geführt habe.
Herr Kollege Rapp, Sie müssen sich noch gedulden.
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Der Hinweis, man wolle keine Duckmäuser haben, ist doch nicht mit diesem Thema vereinbar. Es geht doch darum, ob wir im Staatsdienst Leute haben wollen,
die gar nicht gewillt sind, diesem Staate zu dienen, sondern ihn bekämpfen und dafür außerdem noch Gehalt und Ruhegehalt auf Lebenszeit beziehen wollen.
Warum fehlt, meine Damen und Herren, in dem Papier, das die SPD vorgelegt hat, jede konkrete Äußerung zu den Punkten, die heute vormittag der Abgeordnete Dregger vorgetragen hat und die Kernbestand der heutigen Debatte sind: erstens eine Äußerung zur Freihaltung des Staatsdienstes von Verfassungsfeinden, zweitens eine Äußerung zur Abgrenzung der demokratischen Parteien von verfassungsfeindlichen Kräften, drittens eine Äußerung zum imperativen Mandat, viertens eine Äußerung zur Orientierung der schulischen Erziehung am Grundgesetz,
fünftens eine Äußerung zur Einfügung der Universitäten in die Rechts- und Verfassungsordnung des demokratischen Staates? Meine Damen und Herren, dazu vermisse ich eine konkrete Äußerung in dem Papier, das die SPD dem Hohen Hause vorgelegt hat.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie die Zwischen frage des Herrn Abgeordneten Rapp? Bitte!
Herr Ministerpräsident, ich möchte noch einmal auf Ihre vorherigen Ausführungen zurückkommen. Da ich nicht annehmen kann, daß ein Ministerpräsident das Grundgesetz nicht kennt, möchte ich fragen, ob der stellvertretende Vorsitzende der CDU vorhin eine CDU-authen-
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Rapp
tische Interpretation des Art. 14 des Grundgesetzes abgegeben hat?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ich verzichte auf eine Antwort.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Gut, noch eine.
Bitte!
Herr Ministerpräsident, können Sie mir bestätigen, daß der Beschluß des Bundeskongresses der Jungsozialisten 1969, der folgendermaßen lautet:Eine Abschaffung des Privateigentums in der Bundesrepublik ist über das Parlament allein nicht möglich. Am Ende eines solchen langen Prozesses von Basiskämpfen, eines solchen langen Kampfes um Demokratisierung ,der Betriebe steht der revolutionäre Sprung.nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ich bestätige diese Auffassung.
Meine Damen und Herren, wir haben also zur Kernfrage der Verfassung von Herrn Abgeordneten Schäfer wenig gehört. Dafür aber hörten wir Zeugnisse der SPD aus dem 19. Jahrhundert — ein Zitat von Herrn Lassalle über ,die Verfassung
und ein Zitat des Ahlener Programms der CDU, das jetzt bald das 30jährige Jubiläum feiern kann. Ich bin der Meinung, daß es schön ist, daß sich der Abgeordnete Schäfer dieses Programms annimmt. Aber Herr Professor Schäfer hat übersehen, daß es seit dem Jahre 1953 ein Hamburger Programm gibt, das die CDU bei ihren politischen Maßnahmen geleitet hat und das in den 60er Jahren fortgeschrieben worden ist.
Generell hat der Redner der SPD nicht gewürdigt, daß es einer ernsthaften Besinnung darüber bedarf, welches der Verfassungszustand der Bundesrepublik Deutschland ist. Wird dieses Grundgesetz von der Mehrheit der Bevölkerung und von den maßgeblichen politischen Kräften dieser Republik getragen, oder bröckelt es dabei ab? Sind wir dabei, unser System zu erhalten oder, wie es vielfach lautstark gefordert wird, dieses System zu verändern? Ich könnte nun auch an dieser Stelle wieder Zitate aus Juso-Kongressen — auch Judo-Kongressen —, aus Reden auf Parteitagen der Regierungsparteien bringen, um zu belegen, daß wir — mindestens in bestimmten Gruppen — dabei sind, uns von der Verfassung zu entfernen. Aber das genügt nicht. Ich möchte einige Punkte beleuchten, wo sich diese Gefahr zeigt.An unseren Universitäten ist es in den letzten ein bis zwei Jahren äußerlich ruhiger geworden; jedoch darf man sich dadurch nicht täuschen lassen. Immer noch erfolgen Einbrüche in unser rechtsstaatliches System auf dem Boden der Universitäten, am einen Ort stärker, am anderen geringer. Diese Gefährdungen sind eher ernster geworden, als sie es früher waren. Es sind nicht mehr die lautstarken Radikalen, die den Universitätsbetrieb stören und die dort tätigen Lehrer und Forscher verunsichern. Vielmehr haben unter den radikalen Linken diejenigen die Mehrheit, die unsere hohen Schulen nicht stürmen, sondern unterwandern wollen. Typischer Ausdruck dafür ist ein Flugblatt des Sozialistischen Heidelberger Studentenbundes, das erklärt: „Die strategische Linie an der Universität ist: Tunnels graben und Vorräte anlegen." Es ist vielfach ein disziplinierter Marsch durch die Institutionen, aber dieser Marsch ist in vollem Gange. Und das Ziel, diesen Staat aus den Angeln zu heben, ist das gleiche geblieben.Es muß gesagt werden, daß trotz der gewissen äußeren Beruhigung auch heute noch terroristische Maßnahmen erfolgen: Störungen von Vorlesungen, tätliche Angriffe gegen Hochschullehrer und gemäßigte Studenten sowie rechtswidrige Besetzung von Instituten; so ist es jüngst in Heidelberg geschehen. Seit dem Jahre 1972 mußte die Universität Heidelberg annähernd 100 000 DM zur Behebung von Sachschäden an und in Gebäuden ausgeben. Sie tut das heute nicht mehr, weil es nutzlos wäre, da nach jeder Renovierung die Wände mit gleichen Kampfparolen beschmiert werden.
— Ich komme darauf. -- Unser Volk gibt Milliarden D-Mark für seine hohen Schulen aus. Was muß dieses Volk für gestörte Vorlesungen oder für Streiks ganzer Fakultäten oder gar Universitäten nutzlos ausgeben! Wir haben errechnet, daß bei einem Vorlesungsstreik an allen Universitäten Baden-Württembergs ein Streiktag 2,5 Millionen DM kosten würde.
Auch außerhalb der Hochschulen gibt es gewaltsame Umtriebe von Extremisten, die nach Guerilla-
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Ministerpräsident Dr. FilbingerArt kämpfen. Ich brauche nur auf die Hausbesetzungen in Frankfurt hinzuweisen, die mit Straßenschlachten verbunden waren. Wie man den bewaffneten Kampf mit der Polizei durchführt, kann man in einem „Handbuch für Hausbesetzer" nachlesen. Der gesetzwidrige Angriff auf das Eigentum wird nicht nur propagiert, er wird systematisch organisiert.
Und ich stelle hier die Frage: Was tun die politisch Verantwortlichen in Frankfurt dagegen? Ist es nicht so, daß die Radikalen ihre Muskeln deshalb so spielen lassen können, weil die SPD in Hessen und ihre verantwortlichen Politiker sich nicht rechtzeitig dazu aufgerafft haben,
Recht und Gesetz gegen Angriffe dieser Seite zu schützen?!
Herr Kollege Professor Schäfer, ich komme darauf, was wir tun; haben Sie gar keine Sorge. Ich komme noch dazu, eine Bilanz dessen zu ziehen, was wir tun und was die SPD unterlassen hat — dort, wo Sie politische Verantwortung tragen.
Das werde ich im Laufe dieser Rede noch sagen.
Auch in den Betrieben vermehren sich die Umtriebe der Linksradikalen. Das erste Ziel ist die Aufwiegelung der Lehrlinge. Diese Arbeit besorg mit besonderem Eifer die Sozialististische Deutsche Arbeiterjugend, eine kommunistische Jugendgruppe, die immer mehr zur eigentlichen Vorhut der DKP wird.Was ich hier in dünnen Strichen und selbstverständlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit zeichne, steht zu Gesetz und Verfassung in einem krassen Widerspruch, und ich stelle nun die Frage: Wie verhalten sich die von der Verfassung zu deren Schutz bestimmten Organe?
Wir sind es gewohnt, die Justiz als eine nochintakte Säule unseres demokratischen Staates anzusprechen, und aufs Ganze gesehen ist sie das auch.
— Das war ein Mann vom Verfassungsschutz, keiner von der Justiz, Herr Abgeordneter Wehner.
— Ich habe die Bilanz angekündigt. Nur Geduld, es kommt noch eine ganze Menge, Herr Abgeordneter Wehner.
Aber wer von Ihnen, so stelle ich die Frage, hat es nicht erlebt, daß auch im Bereich der Gerichtsbarkeit Unsicherheit und Schwäche in Erscheinung treten? Mir sind Fälle bekannt, in denen sich Richter weigern, Strafreferate zu übernehmen, oder daß sich Richter gegen eine Versetzung an Gerichte der Universitätsstädte wehren. Selbst den Verzicht auf ein Beförderungsamt hat es schon gegeben, als absehbar war, daß mit diesem Amt die Führung eines spannungsgeladenen politischen Prozesses verbunden sein würde.
Diese Beispiele von Verunsicherung sind die Folge systematischer Zermürbungstaktik, die gegen Richter, Staatsanwälte und deren Angehörige angewendet wird. Dazu gehören nächtliche Telefonanrufe, Steinwürfe gegen die Wohnung, Bedrohungen und Beleidigungen. Das gleiche gilt für andere Organe unseres Gemeinwesens, vor allem für die Polizei, die in zurückliegenden Jahren in Berlin und Frankfurt, um nur einmal diese beiden Städte zu nennen — aber nicht nur dort ist es geschehen —, im Mittelpunkt konzentrischer Angriffe der Radikalen stand und zum Teil heute noch steht.Wir haben immer wieder hervorragende Beispiele der Staatstreue, der Loyalität und der Einsatzbereitschaft unserer Polizei in den Kommunen, den Ländern und im Bereich des Bundes erlebt. Wir können aber nicht verschweigen, daß Polizeibeamte von ihren Oberen im Stich gelassen wurden, wenn es galt, sie gegen Angriffe von Extremisten, die gar nicht so selten durch einzelne Presseorgane unterstützt wurden, abzuschirmen. Es hat sogar Fälle gegeben, wo hohe Polizeichefs, Polizeipräsidenten, aus ihrem Amt weichen mußten, weil die politischen Instanzen dem Druck der Linksradikalen nachgegeben haben. Hier haben die politisch Verantwortlichen versagt. Mir steht auch der Fall eines Innenministers eines deutschen Bundeslandes vor Augen, der der SPD angehört und der jeweils dann unter Druck gesetzt worden ist, wenn er etwas gegen die Radikalen unternommen hat.Meine Damen und Herren, solche Vorgänge haben eine verheerende Wirkung in doppelter Hinsicht. Die Polizei muß erkennen, daß sie nicht unbedingt dafür honoriert wird, wenn sie sich unter Gefahr für Leib und Leben für diesen Staat und seine Institutionen einsetzt. Die Bürger müssen erkennen, daß dieser Staat nicht so fest dasteht, um alle Rechtsgüter, die ihnen die Verfassung verleiht, zu schützen. Dadurch wird das Vertrauen in diesen Staat zersetzt. Wo aber das Vertrauen schwindet, kann die Demokratie nicht leben.
Ich stelle hier die Frage: Wie soll der Bürger unseren Staat noch verstehen, der solche Zustände einreißen läßt? Wie soll er es verstehen, daß aus Universitätsinstituten und aus besetzten Privat-
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5062 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Ministerpräsident Dr. Filbingerhäusern tagelang die roten Fahnen der Besetzer hängen, ohne daß die Polizei eingreift? Wie ernst soll er diesen Staat noch nehmen,
wenn der Vorsitzende einer Partei, deren Ziele klar verfassungswidrig sind, bei offiziellen Anlässen von der Bundesregierung eingeladen wird? Wie soll er es verstehen, daß Studenten, die ihre Professoren mißhandeln, weiterhin auf der Universität geduldet werden?Die weitere Frage: was verlangen unsere Bürger vom demokratischen Staat? Sie verlangen gewiß nicht von ihm, daß er in der martialischen Gebärde des Polizeistaates auftritt. Unsere Bürger wollen Toleranz, und sie haben Verständnis dafür, daß man nicht bei Bagatellfällen mit Kanonen auf Spatzen schießt. Sie haben aber ganz bestimmt kein Verständnis dafür, daß durch ewiges Taktieren, durch Unentschlossenheit und Schwäche die Rechtsbrecher ermutigt und die Angegriffenen benachteiligt werden. Solches Verhalten führt zu Verdrossenheit und Unmut an unserem Staat, ja es führt zu schlimmeren Dingen: zum Zweifel daran, ob dieser Staat noch in der Lage ist, seine Bürger und deren Rechtsgüter zu schützen.Beispiele von unerträglicher Schwächlichkeit gibt es nicht nur im staatlichen, sondern auch im universitären Bereich. In Heidelberg bildete sich vor wenigen Jahren das sogenannte Sozialistische PatientenKollektiv, das vorgab, sich psychisch Kranker anzunehmen, aber alsbald zu aggressiven Aktionen gegen die Ordnung der Universität überging und zu kriminellen Handlungen, die allerdings erst später ruchbar wurden. Der damalige Rektor der Universität führte mit diesem Kollektiv endlose Verhandlungen, statt das Recht anzuwenden. Er wurde von der örtlichen SPD gestützt. Die Mitglieder des Kollektivs fühlten sich ermutigt, fünf Tage lang das Zimmer des Rektors zu besetzen, um ihn zu erpressen. Auch in diesem Stadium weigerte sich der Rektor noch, die Polizei einzusetzen. Die Drahtzieher des Kollektivs verlangten schließlich vom Rektor die Anerkennung als Einrichtung der Universität. Es war ganz gewiß nicht der Universitätsverwaltung und ihren Repräsentanten zuzuschreiben, daß es zu dieser Anerkennung nicht kam. Erst die Entdeckung eines Waffenlagers, der Nachweis enger Verbindungen zur Baader-Meinhof-Bande waren geeignet, diesem Zusammenschluß von Anarchisten und Kriminellen das Handwerk zu legen. Solche Vorgänge müssen von uns nicht hingenommen werden, wenn wir alle entschlossen sind, Standfestigkeit und notfalls auch Härte zu zeigen. Auch dafür gibt es mannigfache Beispiele.Wenn ich nun, Herr Kollege Schäfer und Herr Kollege Wehner auf Baden-Württemberg zu sprechen komme, dann bitte ich das nicht als eine Anspielung auf ein Musterland zu nehmen, sondern als einen Sachbericht.
Der Landtag von Baden-Württemberg hat nämlich im vergangenen Jahr ein brauchbares Ordnungsrecht für die Universitäten geschaffen — trotz erheblicher Widerstände, insbesondere von der SPD. Nachdem das Gesetz beschlossen war, ist Ruhe eingekehrt, auch und sogar — mit ganz wenigen Ausnahmen — in Heidelberg. Ganz offensichtlich hat allein schon die Existenz dieses Ordnungsrechts beruhigend auf bestimmte Agitatoren an den Universitäten gewirkt. Mit Befriedigung haben wir in diesen Tagen gehört, daß die westdeutschen Rektoren ein Ordnungsrecht für alle Universitäten empfehlen wollen. Das hatten sie vor zwei Jahren noch strikt abgelehnt. Auch vom Bundeswissenschaftsminister lese ich in diesen Tagen, daß bei ihm nun eine Bereitschaft auf dem Wege sei, an ein Ordnungsrecht zu denken. Meine Damen und Herren, warum ist das nicht zu rechter Zeit geschehen? Man hätte sehr viele Schäden, die sich in der Zwischenzeit verwirklicht haben, vermeiden können.
Ich habe schon das Problem der Radikalen im öffentlichen Dienst erwähnt. Diese Leute sind zynisch genug, die Vorteile des Berufsbeamtentums für sich in Anspruch zu nehmen, um risikolos diesen Staat unterminieren zu können. Es ist gut, daß der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten aller Bundesländer im September vergangenen Jahres bekräftigt haben, Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten. Es ist aber schlecht, daß SPD und FDP wenig tun, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Im Gegenteil, durch die Beschlüsse des SPD-Parteitages in Hannover ist die Einheitsfront der Regierungschefs von Bund und Ländern gegenüber den Versuchen verfassungsfeindlicher Gruppen, den öffentlichen Dienst zu unterwandern, geopfert worden.Schlimmer aber als dieser Beschluß ist das Verhalten
mancher großer Stadt- und Ortsverbände der SPD. Nicht nur in München, auch in Tübingen sind Angehörige der SPD bereit, aktiv gegen den Beschluß der Regierungschefs zu kämpfen. Die gesamte SPD von Baden-Württemberg faßte im Frühjahr 1973 den Beschluß, öffentlich gegen den Extremistenbeschluß zu demonstrieren.Meine Damen und Herren, so kann es nicht weitergehen. Die Regierungsparteien müssen nun Farbe bekennen. Sie müssen die Frage beantworten, ob ihnen die Solidarität der Demokraten oder die Rücksichtnahme auf linke Parteiflügel wichtiger ist.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin?
Herr Ministerpräsident, ich sah mich leider schon vor einem halben Jahr genötigt, die gleiche Frage Ihrem Kollegen Pfeifer zu stellen: Warum bringen Sie es nicht fertig, den Beschluß des Landesparteitags Baden-Württemberg richtig zu zitieren? Wir haben nicht
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Frau Däubler-GmelinI beschlossen, gegen den Ministerpräsidentenbeschluß öffentlich zu demonstrieren, sondern gegen ,das, was Sie im Lande Baden-Württemberg machen.
Warum sind Sie nicht bereit, hier richtig zu zitieren?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ihr Beschluß stammt aus dem Frühjahr 1973, und das, was das Land Baden-Württemberg macht, nämlich die Richtlinien, ist im Spätsommer erlassen worden.
Meine Damen und Herren, die Regierungsparteien müssen nun Farbe bekennen. Sie müssen die Frage beantworten, ob für sie die Solidarität der Demokraten höher steht als, wie ich vorhin sagte, die Rücksichtnahme auf linke Parteigänger. Ich widerhole diese Aussage.Da die Bundesregierung nicht in der Lage war, ihre Ankündigung wahrzumachen, haben die Länder Bayern und Baden-Württemberg am Montag dieser Woche im Bundesrat einen Gesetzentwurf über die Verfassungstreue im öffentlichen Dienst eingebracht. Dieser Gesetzentwurf geht vom Beamtengesetz des Bundes und der Länder aus, wonach in das Beamtenverhältnis nur berufen werden darf, wer die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche, demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten. Dazu gehört, daß der Vorrang der besonderen Treuepflicht im öffentlichen Dienst gegenüber dem Parteienprivileg gesetzlich verankert wird, wie es das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Koblenz vom Sommer 1973 und der Beschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern im September 1973 ausgesprochen haben.
Die Bundesregierung hat eine solche gesetzliche Regelung alsbald nach ,der im September 1973 erfolgten Bekräftigung dieses Beschlusses über die Radikalen zugesagt, aber wegen der Widerstände im eigenen Lager bisher nicht erlassen. Der Bundesregierung und den Koalitionsparteien ist jetzt die Möglichkeit geboten, nachzuweisen, daß es ihnen mit dem Fernhalten radikaler Kräfte aus dem öffentlichen Dienst ernst ist und daß sie die Widerstände im eigenen Lager zu überwinden vermögen.Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren. Ich stelle die Frage: Wer hat den Zustand der Universität Bremen zu verantworten, die allen Warnunden zum Trotz eine rote Kaderschmiede und keine Universität im allgemeinen Sinne geworden ist?
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Ravens?
Herr Ministerpräsident, können Sie bestätigen, daß Sie mit dem Herrn Bundesinnenminister abgesprochen haben, daß, bevor ein Gesetzentwurf für ein Beamtenrechtsrahmengesetz dem Bundestag zugeleitet wird, über diesen auf der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz gesprochen wird, und können Sie ferner bestätigen, daß dieser Punkt auf der morgigen Tagesordnung steht und Sie ,das wissen?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Wir wissen eines, nämlich daß die Bundesregierung selbst angekündigt hat, und zwar schon im Herbst letzten Jahres, daß ein Durchführungsgesetz binnen kurzem erlassen werden würde. Damals wurde — allerdings nicht in verbindlicher Form -- von wenigen Wochen gesprochen. Von einer Seite wurde gesagt: In fünf Wochen werden wir es haben. Das war im September 1973. Wenn wir jetzt, im Februar 1974, der Meinung sind, es wäre Zeit, eine Initiative zu ergreifen, die zum Ziele führt, so ist dieser Zeitpunkt unseres Erachtens nicht verfrüht.
Im übrigen: Wenn sich bei dieser Konferenz ein Konsens mit den Ministerpräsidenten ergibt, so ist das nichts Neues. Neu wäre es, zu erfahren, ob in der Regierungskoalition und innerhalb der Regierungsparteien ein solches Gesetz durchgesetzt werden kann. Daarauf warten wir nämlich seit Monaten vergeblich.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie noch eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Ravens?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Bitte sehr!
Herr Ministerpräsident, können Sie mir die Frage beantworten, warum Sie es nötig haben, dem Bundestag gegenüber eine Ihnen bekannte Tatsache so zu benutzen, und zwar mit dem alleinigen Zweck, daß Ihr Argumentationsboden trägt?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ich verzichte auf eine Antwort.
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Herr Ministerpräsident, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ostman von der Leye?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Jawohl.
Herr Abgeordneter, jedes Mitglied des Bundestages kann über das Mikrophon Zwischenfragen an den Redner stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Ministerpräsident, können Sie mir die Frage beantworten, warum Sie die Initiative ausgerechnet dann ergriffen haben, als Sie die Einladung mit der Tagesordnung bereits auf dem Tisch hatten, und dies, obwohl die Konferenz vorher deshalb nicht zustande kam, weil Sie Terminschwierigkeiten hatten?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Unsere Initiative ist schon frühzeitig ergriffen worden. Wir haben ja bekanntlich auch die Richtlinien erlassen. Das, was jetzt in Gesetzesform vorgelegt wird, ist nichts anderes als der materielle Inhalt der Richtlinien, die wir seit dem Herbst des vergangenen Jahres haben und anwenden. Das Gesetz bringt also nichts Neues.
Herr Ministerpräsident, entschuldigen Sie bitte, mir liegen noch zwei Meldungen zu Zwischenfragen vor. Gestatten Sie zunächst noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Dr. Schäfer?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ja, ich gestatte noch eine Zwischenfrage.
Herr Ministerpräsident, hätten Sie es nicht für einen unfreundlichen Akt von seiten der Bundesregierung gehalten, wenn sie vor einer Rücksprache auf der terminlich schon anberaumten Ministerpräsidentenkonferenz einen Gesetzentwurf vorgelegt hätte?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württember: Ich bin der Meinung, daß spätestens seit dem September des vergangenen Jahres Einigkeit mit der Ministerpräsidentenkonferenz über das besteht, was in diesem Gesetz stehen kann.
Diese Einigkeit braucht nicht erneut festgestellt zu werden. Sie besteht seit September.
Meine Damen und Herren, hier wird doch der Versuch gemacht, es so erscheinen zu lassen, als wäre die Bundesregierung schon seit langem darauf aus, das Gesetz zu erlassen und in Kraft zu setzen. In Wirklichkeit wissen wir doch, daß die linke Seite in der SPD und auch in der FDP den stärksten Trouble gegen diesen Erlaß gemacht hat, den stärksten Widerstand dagegen geleistet hat. In dieser Woche habe ich in der Zeitung gelesen, daß in Nordrhein-Westfalen ein offizieller Beschluß besteht, wonach jeder Kandidat in der Zukunft einen Revers unterschreiben muß, ob er bereit ist, sich aktiv gegen den Radikalenerlaß der Regierungschefs von Bund und Ländern einzusetzen. Hier liegen doch die Gründe für die Verzögerung.
Herr Ministerpräsident, entschuldigen Sie, es liegen Wortmeldungen zu weiteren Zwischenfragen vor. Ich frage Sie daher, ob Sie noch Zwischenfragen zulassen.
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Ich habe jetzt vier Zwischenfragen zugelassen. Ich glaube, das war tolerant. Ich möchte jetzt in meinen Ausführungen fortfahren.
Meine Damen und Herren, ich habe die Frage gestellt, wer es zu verantworten hat, daß die Universität Bremen so gegründet worden ist, daß sie heute zu dem entartet ist, was man schon im Gründungsstadium in Ansätzen erkennen konnte und befürchten mußte und wovor viele — auch in der Ministerpräsidentenkonferenz — gewarnt haben. Diese Universität ist — ich wiederhole es — in der Zwischenzeit eine rote Kaderschmiede geworden, die Forschung und Lehre offiziell und ausschließlich in das Interesse der Lohnabhängigen und Unterprivilegierten stellt, die von den Hochschullehrern ein deutliches und politisch konkretes Engagement und eine Parteinahme verlangt
und die -- all das sind Zitate — nebulösen Wissenschaftspluralismus der antidemokratischen Positionen unter dem Deckmantel der Wissenschaft verschleiert. — Das Politologen-Deutsch ist oftmals kaum zu lesen; da stimme ich Ihnen zu, Herr Abgeordneter. Das ist die Formulierung, die jüngst von der Universität Bremen gegenüber Kandidaten, die sich dort um Lehrstühle beworben hatten, verwendet worden ist. Gleiches ist in einem Fragebogen enthalten zur Orientierung, ob man bereit ist, all dies mitzumachen!Für diese Universität, die den Klassenkampf im Bereich von Forschung und Lehre institutionalisiert, werden allen Warnungen zum Trotz Millionen und
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Ministerpräsident Dr. Filbingeraber Millionen an Steuergeldern ausgegeben, und die Lehrkräfte werden vom Staat besoldet. Es war doch erkennbar, wohin die Reise gehen würde. Das Gründungsgremium hat damals in seinen Ausführungen genügend deutlich gemacht, daß wir hier keine Universität im klassischen oder auch nur im modernen Sinne, sondern eine einseitig klassenkämpferisch orientierte Schmiede bekommen.Meine Damen und Herren, es gibt noch weitere, eklatante Beispiele dafür, wie sich Bildungseinrichtungen von dem entfernen, was das Grundgesetz unter Erziehung und Ausbildung versteht. Ich brauche nur die hessischen Rahmenrichtlinien zu erwähnen, um zu zeigen, daß dort ein lupenreines Konfliktmodell des Klassenkampfs vorgelegt wird.
— Ich frage, Herr Abgeordneter Wehner, ob es dem Willen der Mehrheit der Bürger dieses Staates und der Verfassung entspricht,
wenn die Familie im gesellschaftskundlichen Unterricht von den Kindern als eine elterliche Herrschaftsstruktur begriffen werden soll, die man zerschlagen muß.Meine Damen und Herren, ich frage weiter: In welchem Staat leben wir?
— Ja, ich habe mit zwei markanten Beispielen gesagt, was wir machen und was in anderen Ländern, die ich jetzt zitiere, nicht geschieht. Ich frage, meine Damen und Herren, gleichwohl: Herr Abgeordneter Wehner, müssen wir es hinnehmen, daß unsere Kinder die Schule als Gegner der Verfassung, unseres Grundgesetzes verlassen, weil sie dort so indoktriniert werden sollen?
Wenn Herr Bundesminister Genscher vorhin eine Erklärung gegen eine Indoktrination unserer Jugend gegen unsere Verfassung abgegeben hat, dann unterstreiche ich seine Ausführungen; sie haben hier ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine Schlußfolgerung ziehen. Wenn der Konsens über das Berufsbeamtentum und seine Freihaltung von Extremisten, über die Freiheit von Lehre und Forschung an unseren Universitäten, über den Schutz des Eigentums, über das Intakthalten der sozialen Marktwirtschaft und anderes mehr nicht gewahrt und danach nicht politisch gehandelt wird,dann steht unsere Verfassung auf einem verlorenen Posten. Die Verfassungsurkunde bedeutet nichts ohne die Menschen, die sie mit Geist und Leben erfüllen.Jetzt noch eine wichtige Feststellung. Ich war tief betroffen, als ich die Äußerung des Herrn Abgeordneten Wehner las, wonach Begriffe wie „soziale Marktwirtschaft" und „Rechtsstaat" verknorpelt und der Frischluftzufuhr bedürftig sei en.
— Was heißt hier Verknorpelung, Herr Schäfer?
— Diese Verknorpelung läuft doch — ich kann es nicht anders verstehen, Herr Abgeordneter Wehner— auf die Konsequenz hinaus, daß hier etwas verändert werden müsse. Wir wollen aber nicht, meine Damen und Herren,
daß die Struktur der Marktwirtschaft aufgebrochen wird, so wie es die Linken wollen. Wenn der DGB-Vorsitzende Vetter unserer Wirtschaftsordnung die Fähigkeit abspricht, Maßstäbe für die Qualität des Lebens zu entwickeln, dann verkennt er, daß diese Ordnung soziale Gerechtigkeit doch erst ermöglicht hat, und zwar auf einem Niveau, das jedes andere System in den Schatten stellt.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Groß?
Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, folgende Feststellung zu unterstreichen: „Wir sind der Überzeugung, daß die alte kapitalistische und liberalistische Wirtschaftsform sich überlebt hat und daß sie in die heutige Zeit nicht mehr paßt" — Dr. Heinrich von Brentano 1946?
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Wir sprechen von der sozialen Marktwirtschaft. Sie ist etwas anderes als eine rein kapitalistische Wirtschaft des Laisser-faire. Lassen Sie sich das gesagt sein!
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Groß?
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Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Bitte!
Herr Ministerpräsident, darf ich dieses Zitat dann zu Ende führen und Sie fragen, ob Sie dieser Meinung widersprechen wollen: „Deswegen nehmen wir auch keinerlei Anstand, hier zu erklären, daß wir für die Wirtschaftsform der Gegenwart und der Zukunft die geplante Wirtschaft halten"? Letzter Satz: „Aus dieser Überzeugung heraus bekennen wir auch uns zur sozialistischen Wirtschaft."
Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Warum haben Sie nicht auch etwas zitiert, was noch weiter zurücklag als das Ahlener Programm? Meine Damen und Herren, die CDU will an ihrem Programm gemessen werden, das sie in Hamburg beschlossen hat, an der sozialen Marktwirtschaft, die vom Altbundeskanzler Erhard geschaffen worden ist. Das sind doch die Grundsätze — —
Meine Damen und Herren, der Redner hat mich wissen lassen, daß er keine weiteren Zwischenfragen mehr zuläßt.Dr. Filbinger, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg: Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort von der „Verknorpelung" aufgegriffen, und ich habe davor gewarnt, solche Formulierungen zu gebrauchen. Denn es kommt darauf an, in der Auseinandersetzung des Tages und durch sie hindurch die tieferen Auseinandersetzungen zu erspüren, in denen es um die Veränderung unseres Systems geht. Hier ist Genauigkeit, auch sprachliche Genauigkeit sehr vonnöten. Wenn man der Marktwirtschaft und dem Rechtsstaat Frischluftzufuhr wünscht, so klingt das zwar so, als solle die Substanz erhalten bleiben. Wird aber dadurch nicht ein Signal für die Linken gesetzt, die allzugern solche Signale verstehen und aufgreifen oder der Meinung sein könnten, daß hier für sie ein Tor aufgemacht wird? Ich sage mit großer Betonung: Wir reagieren empfindlich auf alles, was nach Systemveränderung aussieht. Wir haben einen langen und dornenvollen Weg bis zu diesem sozialen Rechtsstaat zurücklegen müssen, und wir wollen diesen Weg nicht noch einmal gehen. Das würde aber unweigerlich dann eintreten, wenn wir diesen Staat, den Rechtsstaat, das Eigentum, die Marktwirtschaft zur Disposition stellten. Wer Teile der Verfassung tangiert oder gar preisgibt, der gibt das Ganze preis; denn die Freiheit, so wie wir sie verstehen, hat nur Bestand, wenn sie ganz und ohne Abstriche erhalten wird.Ich habe zu Beginn — und jetzt komme ich zum Schluß —
die Frage nach dem Konsens der demokratischen Parteien über dieses Grundgesetz gestellt.Ich frage nun: Wird diese Debatte die Jusos und die mit ihnen Gleichgesinnten in ihrer Haltung dann beeinflussen, wenn sich am Schluß der Konsens der Parteien dieses Hohen Hauses über die Grundwerte der Verfassung ergeben sollte? Ich glaube, daß niemand so optimistisch wäre, dies zu behaupten.Was ist dann aber durch diese Debatte zu gewinnen? Die Jusos wollen ihre Partei, die SPD, auf ihren Weg bringen, der vom Grundgesetz wegführt. Diese Partei, die SPD, hat es nicht vermocht, diesen Kräften rechtzeitig Einhalt zu gebieten; inzwischen sind sie zu stark geworden. Es sind beileibe nicht politisch unbedeutende Sektierer. Man kann sie auch nicht so harmlos machen, wie das heute früh aus dem Munde von Herrn Professor Schäfer geklungen hat. Sie sind bereits so mächtig, daß sie dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Kühn dieser Tage eine Niederlage bereiten und dem Landesverband Nordrhein-Westfalen ihren Willen aufzwingen konnten. Nunmehr ist der inquisitorische Fragenkatalog der Jusos in Nordrhein-Westfalen parteioffiziell geworden. Die Nominierung von Kandidaten soll davon abhängig gemacht werden, ob sie sich entschieden für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und der Banken einsetzen und ob sie bereit sind, sich gegen den Radikalen-Erlaß des Bundeskanzlers und der Regierungschefs der Länder einzusetzen.Ich frage den Herrn Bundeskanzler, ob er als Vorsitzender der Partei, der auch Herr Kühn angehört, derartige Beschlüsse höchster Parteigremien noch hinnehmen kann. Nach diesem Befragungskatalog der SPD für Nordrhein-Westfalen könnte auch der Parteivorsitzende Brandt als Kandidat nicht mehr in Frage kommen, es sei denn, er zöge seine Unterschrift unter die Vereinbarung mit den Länderchefs gegen die Radikalen im öffentlichen Dienst zurück.Hier im Deutschen Bundestag ergreifen die Sozialdemokraten das Wort, die sich zum Grundgesetz bekennen. Auf Parteitagen der SPD und vor allem auf Juso-Kongressen reden die anderen, und es ist eine grundsätzlich andere Sprache, die hier und die dort gesprochen wird. Das ist das Problem der SPD. Aber es ist eben nicht allein das Problem der SPD, es ist auch das Problem dieser unserer Republik.
Ich stimme dem Minister Genscher zu, daß es die Aufgabe der Parteien ist, die Jugend an die Verfassung heranzuführen. Diese Aufgabe hat die SPD bezüglich eines wesentlichen Teils ihres Parteinachwuchses bis heute nicht gelöst. Solange es der SPD nicht gelingt, ihre vom Boden des Grundgesetzes wegstrebenden Kräfte zu binden, kann die Frage dieser Debatte nach dem Konsens über das Grundgesetz nicht positiv beantwortet werden.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5067
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dürr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Debatte zur Lage der Nation hat Herr Kollege Dr. Abelein das Verhältnis von SPD und Regierung zum Bundesverfassungsgericht mit dem des Götz von Berlichingen zum deutschen Kaiser verglichen. Er hat damit bewiesen, daß unter den zahlreichen Deutschen, die von Goethes Götz nur eine Aufforderung von sechs Worten und kein Wort mehr kennen, auch ein ordentlicher Professor ist. Über Götzens Verhältnis zum Kaiser steht aber in der letzten Szene mehr, das hätte Herr Abelein nachlesen können. Da ruft der Götz aus dem Fenster:
Sag deinem Hauptmann, vor Ihro Kaiserlicher Majestät hab ich wie immer schuldigen Respekt.
Schuldiger Respekt — damit hat Herr Abelein, der es ganz anders meinte, das Verhältnis von SPD und Regierung zum Bundesverfassungsgericht ohne Zweifel zutreffend wiedergegeben.
Dieser Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht verbietet es uns, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als Handorakel zu benutzen, das man gebraucht, wenn es paßt, und in das man nicht reinschaut, wenn es nicht paßt. Dieser Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz verbietet es uns zu schweigen, wenn jemand so tut, als wäre seine Partei die Verfassungspartei. Und aus Respekt vor dem Grundgesetz werden wir heute mit aller Deutlichkeit darlegen, mit welchen Taschenspielertricks Unionspolitiker versuchen, den demokratischen Sozialismus als grundgesetzwidrig hinzustellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?
Nein. Ich bitte Herrn Jäger, mir zu gestatten, erst einmal den ersten Gedanken auszuführen, bevor er mit Zwischenfragen anfängt. In fünf Minuten haben Sie mehr Chancen, Herr Kollege Jäger.Wer Respekt vor dem Grundgesetz hat, darf unsere Verfassung nicht als parteipolitisches Kampfmittel mißbrauchen.
Der Antrag und die Debattenstrategie der Opposition machen deutlich, daß Ihr Verfassungsverständnis Schlagseite hat.
Sie hatten eine Verfassungsdebatte angekündigt, wollen nun daraus eine Verfassungsschutzdebatte machen. Ihr Antrag ist geprägt von einer eher verfassungspolizeilichen Sicht des Grundgesetzes. Erbeschränkt das Verfassungsproblem auf die Bekämpfung des linken Extremismus. Einseitig hervorgehoben werden die bewahrenden, beharrenden, konservativen Elemente der Verfassung. Das Grundgesetz wird nur noch als Instrument zur Zementierung des gesellschaftlichen Status quo gesehen, nur noch als statische Ordnung.Diese Sicht, meine Damen und Herren von der Union, hat Schlagseite. Sie ist unvollständig und deswegen schlichtweg falsch. Nach dem Grundgesetz erschöpfen sich die Aufgaben des Staates nicht in der Abwehr, dem Schutz, dem Zurückdrängen von Bewegungen. Das Grundgesetz enthält auch dynamische Elemente, vor allem das Sozialstaatsprinzip, das bezeichnenderweise im Antrag der Unionsfraktion nicht vorkommt.Ihre Sicht, meine Damen und Herren von der Union, ist die des formalisierten Rechtsstaats, unsere die des materialen sozialen Rechtsstaats.
An dieser Stelle hatte ich eigentlich entschiedene Pfui-Rufe und tiefe Betroffenheit des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg erwartet. Wissen Sie, warum? Weil ich nämlich mit anderen Worten genau das gleiche gesagt habe wie Herbert Wehner, den Sie wegen seiner Formulierung so kritisiert haben. Pfui-Rufe dürfen jetzt nachgeholt werden.
Nun gestatten Sie mir eine Bemerkung zur Debattenmethodik des Herrn Dregger. Wir Sozialdemokraten bitten Herrn Dregger sehr herzlich, einen Mann wie Friedrich Ebert nicht für seine deutschnationale Argumentation beschlagnahmen zu wollen.
Herr Dregger, bitte treiben Sie keinen politischen Ahnenkult mit Vätern der Demokratie wie Friedrich Ebert und Otto Wels, von denen Sie bestimmt nicht abstammen.
— Herr Kollege Stücklen, wenn diese Rosa Luxemburg nichts anderes gesagt hätte als den Satz, daß Freiheit nicht nur Freiheit für die Regierungsparteien, sondern immer Freiheit für die Andersdenkenden sei, dann hätte sie schon deshalb verdient, auf eine Briefmarke zu kommen.
Vorsorglich erkläre ich, daß ich dem Herrn Dr. Müller keine Zwischenfrage gestatte
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5068 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
DürrIch war bei Herrn Dregger. Was mich bei ihm und seiner Methode bedrückt — nicht ärgert —, ist einfach die Tatsache, daß für jeden, der sich ein wenig für die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, bei ihm die Methode des „Schlag nach bei Alfred Hugenberg" gar zu deutlich durchkommt.
Zur Verbesserung seines Verfassungsverständnisses sei ihm und allen hier im Hause gesagt: „Der Staat des Grundgesetzes ist planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat, und dies ist ihm durch die Formel vom sozialen Rechtsstaat von Verfassungs wegen als Aufgabe gestellt." — Das stammt gar nicht von einem Sozialdemokraten, sondern von dem Staatsrechtler Konrad Hesse. Von diesem aktiven, gestaltenden, zukunftsgerichteten Element unserer Verfassung steht im Antrag der CDU nichts, nicht einmal eine Andeutung. Die CDU/CSU, die das Grundgesetz oder zumindest sein richtiges Verständnis für sich gepachtet haben will, ist also nachweislich konservativer als das Grundgesetz.
Das Prinzip des sozialen Rechtsstaats enthält zwar für den Gesetzgeber einen verbindlichen Auftrag, gibt aber keine Richtlinien für seine Erfüllung im einzelnen. Richtlinien, Orientierungsdaten und Leitbilder für die sozialstaatliche Gestaltung der Gesellschaft sind die Grundrechte. Diese Grundrechte sind in erster Linie dazu bestimmt, den Freiheitsbereich des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. Sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, aber sie sind nicht nur das. Dieses Grundgesetz will keine wertneutrale Ordnung sein. In seinem Grundrechtsabschnitt ist auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet.Diese Wertmaßstäbe lassen einen weiten Raum für politische Gestaltungen, für unterschiedliche Sozialstaatsmodelle. Sie lassen Raum für den demokratischen Sozialismus im Sinne des Godesberger Programms wie für sozialistische Vorstellungen, die nicht in die SPD passen. Sie lassen Raum für den Liberalismus der Freiburger Thesen der FDP wie für die katholische Soziallehre wie für die Vorstellungen der CDU von sozialer Marktwirtschaft, die man allerdings in ihren Facetten von Blüm bis Dregger einmal genauer beleuchten müßte. Unter dieser — wie sagt man doch bei der CDU? — Markenartikelbezeichnung verbirgt sich nämlich vieles an sozial verbrämtem Kapitalismus Baujahr 1948, der einer gedanklichen Generalinspektion mehr als dringend bedarf. — Sie winken ab, Herr Professor Erhard. Es war auch gar kein Vorwurf gegen Sie. Die Generalinspektion hätten die CDU-Politiker der nach Ihnen folgenden Generation vornehmen müssen, und die trifft mein Vorwurf.
An der Spitze der CDU hat man sich über ihr gesellschaftspolitisches Glanzstück so wenig Gedanken gemacht, daß es der Parteivorsitzende Dr. Kohl noch im Dezember zutiefst bestürzend fand, aus dem Munde des Bundesfinanzministers öffentlich zu hören, daß die Marktwirtschaft eigentlich kein Gebot unserer Verfassung sei. Ende Januar hatte Helmut Kohl bereits erheblich zurückgesteckt und behauptete nur noch, die soziale Marktwirtschaft sei ein Teil der lebenden Verfassung.So weit im geistigen Fortschritt ist der Herr stellvertretende CDU-Vorsitzende Dr. Filbinger noch nicht, der, von Kollegin Däubler-Gmelin um konkrete Angaben aus der Mappe gebeten, die Forderung nach Verstaatlichung der Banken als verfassungsrechtlich problematisch bezeichnet hat. Herr Dr. Filbinger, ich kann nicht annehmen, daß Sie es als gelernter Jurist nicht besser wissen. Um so schlimmer, daß Sie so etwas hier sagen!
Allen — und Herrn Dr. Filbinger insbesondere — ins Stammbuch, daß das Bundesverfassungsgericht seine Feststellung, die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung sei zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche, immerhin schon vor zwanzig Jahren getroffen hat. Ich frage die CDU/CSU: Will sie nicht auf Grund neuer Erkenntnisse Punkt 8 ihres Antrages schleunigst zurückziehen oder durch eine angemessenere Formulierung ersetzen?Daß sich das Grundgesetz nicht für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat, darf nicht im Sinne einer bloßen Fehlanzeige verstanden werden. Die Väter unserer Verfassung haben sich einer solchen Feststellung bewußt enthalten, weil sie die Frage der Gestaltung des Wirtschaftssystems der offenen politischen Auseinandersetzung überlassen wollten.Wann wird die CDU/CSU anfangen, von dieser positiven Gewährleistung freier Auseinandersetzung wieder einmal Gebrauch zu machen? Sie hat doch ihr wirtschaftspolitisches Selbstverständnis seit Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr hinterfragt, dadurch eine große Kapitalismus-Kritik hervorgerufen, und jetzt entrüstet sie sich über die von links kommende Kapitalismus-Kritik. Wo in der CDU gibt es Leute, die die Mitglieder der Traditionskompanie Ludwig Erhard darauf aufmerksam machen, daß Traditionshüter, ohne es zu wollen, leicht zu Museumswächtern werden können?Ich finde, man sollte das Wort „Marktwirtschaft" besser durch „Wettbewerbswirtschaft" ersetzen, weil damit ,der Motor bezeichnet ist, der das Gefährt antreiben sollte. Es ist doch mehr als bezeichnend, daß die zur Gewährleistung von mehr Wettbewerb dringend erforderliche Verbesserung unseres Kartellgesetzes nicht in den zwanzig Jahren unter CDU-Kanzlern beschlossen, sondern erst von der sozialliberalen Koalition durchgesetzt wurde.
Herr Präsident, ich hatte dem Abgeordneten Jäger die spätere Beantwortung einer Zwischenfrage zugesagt; ich wäre bereit, wenn er es jetzt noch wünscht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5069
Bitte, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Kollege Dürr, der Punkt, zu dem ich fragen wollte, mag vielleicht bei dem einen oder anderen inzwischen in Vergessenheit geraten sein. Ich möchte aber, nachdem Sie mich so freundlich auffordern, jetzt dennoch meine Frage stellen. Sie haben vorhin — ich darf das in Erinnerung rufen — die Frage gestellt, ob nicht Herr Kollege Professor Abelein mit seinem Zitat aus dem Schauspiel „Götz" von Wolfgang von Goethe mißbräuchlich und irrtümlich zitiert habe. Ich möchte jetzt an Sie die Frage stellen, ob Ihnen denn bei der Beurteilung dieses Zitats des Kollegen Abelein entgangen ist, daß der Kollege Abelein genau das damit gemeint hat, was Sie durch Ihre eigene Äußerung bestätigt haben, nämlich daß der Respekt vor dem Kaiser — sprich hier: vor dem Bundesverfassungsgericht — ein reines Lippenbekenntnis ist, wenn man nicht auch dem Hauptmann — sprich: dem konkreten Urteil — durch praktische Befolgung seinen Respekt zollt.
Die Frage war zwar sehr lang, aber leicht zu beantworten. Herr Kollege Jäger, die Sache ist so: Nach dem Hören von Kollegen Abeleins Rede habe ich sie nachgelesen und habe mir dabei die Frage vorgelegt, ob er nicht das gedacht haben könne, was Sie ihm wohlwollenderweise unterstellen. Aber in dem Zusammenhang, in dem er es gesagt hat, oder neudeutsch gesprochen — im Kontext ist es einfach unmöglich. An die Aufforderung, der niemand nachzukommen braucht, hat er gedacht!
Jetzt vom germanistischen Seminar zurück zu wirtschaftspolitischen Erwägungen. Diese Union, die von dem verfassungspolitisch gewährleisteten politischen Spielraum während ihrer Regierungszeit sparsamen Gebrauch gemacht hat, versucht nun, aus der Oppositionsposition heraus, den warnenden Zeigefinger zu erheben und zu behaupten, ,dieser Freiraum sei für ihre CDU/CSU-Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellungen vorbehalten und dürfe um Himmels willen nicht von anderen, insbesondere nicht von den Anhängern des Godesberger Programm der SPD, ausgefüllt werden. Das ist es doch, was Sie, meine Damen und Herren — —
— Nein, ich habe mich rechtschaffen über Sie geärgert
und war, wie ich Ihnen sagte, über die Art, wie Sie hier — und, wie ich vermute, im Akzent noch deutlicher im Lande — sprechen, bedrückt. Bloß vorhin war ich — weil das landsmannschaftliche Verbundenheitsgefühl Ihnen gegenüber nicht da ist, aber gegenüber einem Ministerpräsidenten, der mein Bundesland Baden-Württemberg in dieser Weise, die ich nicht näher qualifizieren will, repräsentiert
— noch mehr bedrückt oder, wie es heute neudeutsch l heißt, down.
Aber schauen Sie, gerade weil ich heute morgen da war,
will ich jetzt für Sie und für Herrn Dr. Jenninger ein Privatissimum lesen, langsam zum Mitschreiben, weil ich den Eindruck habe, es ist immer noch nicht klar genug.
Herr Abgeordneter Dürr, würden Sie vor dem Privatissimum noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus zulassen?
Aus landsmannschaftlicher Verbundenheit sehr gern!
Herr Kollege Dürr, können Sie mir als Landsmann aus Baden-Württemberg hier bestätigen, daß das Volk von Baden-Württemberg im allgemeinen wesentlich besser ist als die Rede, die sein Ministerpräsident hier gehalten hat?
Das kann ich vollinhaltlich bestätigen.
Herr Dr. Dregger und Herr Dr. Jenninger, im Godesberger Programm der Sozialdemokraten steht
— ich zitiere wörtlich —:
Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt.
— Sie sind im Reden auch größer als im Zuhören. Hätten Sie die Freundlichkeit, mich noch drei Sätze sagen zu lassen, erübrigte sich vielleicht Ihr Zwischenruf. — Was heißt das? Das heißt, daß ein anderer als der demokratische Weg für Sozialdemokraten nicht gangbar ist; er ist auch nach unserer Verfassung nicht zulässig und würde auf den Widerstand aller demokratischen Sozialisten stoßen, weil die Einführung des Sozialismus mit Hilfe totalitärer und autoritärer Herrschaft die Würde des Menschen mißachten, seine Freiheit vernichten und das Recht zerstören würde. Deshalb heißt es: Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht.
Und danach heißt es: Die Demokratie wird durch den Sozialismus erfüllt. Das heißt, daß wir den demokratischen Sozialismus als die gemäße, nach unserer Meinung beste Erfüllung der Demokratie
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Dürr
ansehen. Andere Gruppen mögen andere Pläne haben, wie sie die Demokratie erfüllen wollen. In diesem Satz des Godesberger Programms liegt keine Absage an die plurale Gesellschaft, sondern ihre Bejahung.
Und wie bewältigt nun Herr Dr. Helmut Kohl diese Problematik? In seinem Aufsatz in der „Deutschen Zeitung" vom 8. Februar 1974 heißt es — ich zitiere —:
In der parteilichen Demokratie der Sozialisten steht die Opposition im Abseits. Genau das ist der tiefere Sinn der sozialdemokratischen Grundüberzeugung, daß Demokratie nur im Sozialismus verwirklicht werden kann. Große Teile der SPD stört es offenbar wenig, daß dieser ihr Demokratiebegriff mit dem Konzept einer freien und pluralistischen Gesellschaft, das unserer Verfassung zugrunde liegt, unvereinbar ist.
Herr Dregger zitierte genauso falsch. Er sagte, Demokratie werde erst durch den Sozialismus erfüllt; so stehe es im Godesberger Programm. Und er zieht daraus genau die gleichen Folgerungen wie Herr Kohl.
Die Gedankengebäude der Herren Kohl und Dregger sind Kartenhäuser, die auf einem gefälschten Zitat beruhen.
Im Godesberger Programm heißt es nämlich, die Demokratie werde durch den Sozialismus erfüllt. Statt dessen zitiert Herr Kohl als angeblich sozialdemokratische Grundüberzeugung, sie werde nur im Sozialismus verwirklicht werden können, und Herr Dregger zitiert, daß die Demokratie erst durch den Sozialismus erfüllt werde.
Herr Abgeordneter Dürr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Stauffenberg?
Nein, meine Redezeit geht zu Ende. — Die Herren Dr. Kohl und Dregger stehen mit dieser Zitatfälschung leider nicht allein.
Im Laufe der Jahre haben die Herren Dufhues, von Guttenberg, von Weizsäcker, Bruno Heck und Biedenkopf nachweislich den genau gleichen Trick angewendet. Diejenigen, die das Grundgesetz für sich pachten wollen, bedienen sich der Fälschung, um uns Sozialdemokraten Pachtabsichten auf das Grundgesetz zu unterstellen.
Ich hoffe, daß dieses Privatissimum vielleicht einwenig dazu beiträgt, die Methode „Falsch zitiert,ist halb gewonnen" aus dem Sprachschatz der CDU-Redner in Zukunft — zumindest in diesem Hohen Hause, aber hoffentlich auch draußen im Lande — zu verbannen.
Das Beispiel dieser Fälschung zeigt, daß die Opposition versucht, mit allen Mitteln statt einer politischen Auseinandersetzung fälschlicherweise eine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung zu führen. Sie erweckt den Eindruck, als verlaufe die Frontlinie zwischen den Parteien entlang der Verfassung. Das bedeutet Diffamierung statt politische Auseinandersetzung.
Das heißt auch: mit einem solchen Gegner braucht man sich dann nicht mehr politisch auseinanderzusetzen, ein solcher Gegner muß aus dieser Sicht vielmehr folgerichtig mit allen staatlichen Zwangsmitteln, einschließlich des Kammerjägers, bekämpft werden.
Dagegen gilt es festzuhalten, daß die zwischen den Parteien des Deutschen Bundestages anstehenden Streitfragen solche politischer, teils verfassungspolitischer Natur sind. Das verfassungspolitische Grundproblem ist die Frage, ob man Demokratie einseitig als Staatsform auffaßt — so wohl die Opposition — oder ob man, wie wir, sie als darüber hinausgehende Lebensordnung versteht.
Dem demokratischen Sozialismus liegt die Überzeugung zugrunde, daß politische Demokratie der Abstützung durch demokratische Strukturen im gesellschaftlichen Bereich bedarf,
daß es insbesondere auch in der Wirtschaft demokratische Strukturen geben muß. Wie sonst soll jemand politisch mündig handeln können, wenn er während der überwiegenden Zeit des Tages, der Arbeitszeit, als unmündiges Befehlsobjekt behandelt wird?! Mitgestaltung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Betrieb, Humanisierung der Arbeitswelt werden deshalb von uns Sozialdemokraten für eine besonders vordringliche Aufgabe angesehen.
Aufbauend auf Gedanken der Professoren Schelsky und Hennis hat nun der Herr Kollege Professor Klein gesagt — ich zitiere —, die revolutionäre Forderung nach einer Demokratisierung der Gesellschaft bilde eine radikale Alternative zur Position des Grundgesetzes. Und Professor Klein behauptet ferner die sich zumindest abzeichnende,
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Dürrwenn nicht vollzogene kopernikanische Wende im Verhältnis der SPD zur geltenden Verfassung bilde den Anlaß der von der Opposition initiierten Verfassungsdebatte.
— Sie meinen, Herr Stücklen, er sei gut. Ich finde— und da unterscheide ich mich von Ihnen —, HerrProfessor Klein kommt mit seinem Angriff auf das vor 15 Jahren beschlossene Godesberger Programm reichlich spät. Er scheint die Zwischenzeit im geistigen Tiefschlaf verbracht zu haben.
Die Opposition, so behauptete Kollege Klein, sei zur Führung dieser Debatte um so mehr verpflichtet, als die mangelnde Verfassungstreue sozialdemokratischer Politik in Bund und Ländern das war also Filbinger, gehobene Ausgabe, aber in gleichem Sinne — in immer mehr Einzelfragen erkennbar werde, und er spricht sogar von der zweifelhaft gewordenen Verfassungstreue maßgebender Kreise der SPD.Meine Damen und Herren, auf alle diese Versuche, den gemeinsamen Boden aller demokratischen Parteien so zu verschieben, daß der Eindruck entsteht und entstehen soll — nach Ihrer Meinung —, die Sozialdemokratische Partei stehe außerhalb davon, gibt es keine deutlichere und würdigere Antwort als die Worte Adolf Arndts aus dem Jahre 1958:Politik ist nur möglich mit dem Wert und in der Zielsetzung, wenigstens Ansätze zur Gemeinschaft zu bilden; ein anderes Verhalten sollte nicht mehr Politik genannt werden, sondern glaubens- und gnadenlose Vorbereitung des Vernichtens.
Wenn sich die Opposition dieses Wort überlegt und wenn sie diese Ansätze wieder besser sieht, als Herr Dregger sie heute gesehen hat, dann haben wir hier im Bundestag auch besser Gelegenheit zur wirklichen politischen Auseinandersetzung. Die wichtigste Frage für die politische Auseinandersetzung in diesen Jahren ist doch das Problem „Gesellschaft und Demokratie". Die Opposition ist zu einer Demokratisierungsdebatte in diesem Hohen Hause stets herzlich eingeladen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einige Vorbemerkungen zu der Frage „Falsch zitiert ist halb gewonnen". Wir haben heute nachmittag einige Äußerungen zum Thema der Verstaatlichung von Banken und Versicherungen gehabt. Artikel 15 des Grundgesetzes, den Sie hier zitieren könnten, meine Damen und Herren, heißt:Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt .. .Das ist genau der Wortlaut des Grundgesetzes. Falsch zitiert ist halb gewonnen: Das scheint jedenfalls der Punkt zu sein, bei dem Sie hier falsch zitiert haben.
Meine Damen und Herren, noch einmal zu der Kontroverse um das sozialdemokratische Grundsatzprogramm und das Zitat „Die Demokratie wird durch den Sozialismus erfüllt". Das ist ja nun wohl korrekt zitiert. Was verstehen Sie unter „erfüllt"? Der Bundeskanzler hat unter Berufung auf Herrn Kreisky davon gesprochen, daß Sozialismus vollendete Demokratie sei. Meine Damen und Herren, wenn es ein Demokratiegebot gibt, ist auch das Demokratiegebot ein beständiger und nie zu Ende bringender Verfassungsauftrag dieses Grundgesetzes. Ich glaube, auch das sollte heute nachmittag in dieser Debatte deutlich sein.
Wir haben diese Debatte nicht beantragt, um Sonntagsreden über Demokratie und Sonntagsreden über das Grundgesetz zu hören. Die Tatsache, daß der Bundesinnenminister hier eine sicher sehr schöne Rede über die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gehalten hat, aber inzwischen nicht mehr anwesend ist, zeigt doch, wie sehr das als ein Auftrag angesehen wird, hier eine Sonntagsrede zu halten.
Uns geht es um die Frage, ob das Selbstverständnis, das Verfassungsverständnis der Demokraten in diesem Lande noch in Ordnung ist, wo Bereiche sind, die Sorgen bereiten, und wo wir der Auffassung sind, daß die Parteien dieses Hohen Hauses sehr deutlich und sehr klar sagen müssen, wo die Grenzen sind. Davon hören wir heute zum Teil relativ wenig. Statt dessen wird auf Dinge ausgewichen, die sicherlich auch wichtig sind, wenn wir über das Grundgesetz debattieren, die aber nicht die Fragen sind, die im Augenblick den Menschen in unserem Lande Sorgen bereiten.Wir, die Christlichen Demokraten, bekennen uns uneingeschränkt zu den verfassungsmäßigen Gestaltungsaufgaben des Grundgesetzes, Aufgaben, die sich aus dem Demokratiegebot, dem Sozialstaatsgebot und dem Rechtsstaatsgebot ergeben, und ich nehme gerne auch das Bundesstaatsgebot hinzu, weil Herr Kollege Schäfer dazu einiges ausgeführt hat, was ich unterstreichen möchte, was aber doch in einem Widerspruch zu dem steht, was der Kollege Dürr schriftlich von sich gegeben hat. Er hat der Christlich Demokratischen Union parteipolitische Instrumentalisierung des Bundesrates vorgeworfen. Wenn wir anerkennen, daß dieser Bundesrat im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland ein Element der Gewaltenteilung ist, dann gehört eben auch dazu, daß die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat auf die gesamte Politik in der Bundesrepublik Deutschland durchschlagen.
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Vogel
Wir möchten allen Versuchen, das Grundgesetz einseitig in den Dienst einer Ideologie zu stellen, eine Absage erteilen. Ich sage bewußt: allen Versuchen, weil dieses Grundgesetz von der prinzipiellen Offenheit für alternative politische Programme getragen ist. Insofern ist dieses Grundgesetz sicherlich nicht nur staatliches Organisationsstatut. Es ist ebensowenig eine säkularisierte Heilsordnung, sondern prinzipiell offen für alternative politische Programme.Der Herr Kollege Dürr hat versucht — wiederum versucht —, den Rechtsstaat gegen den Sozialstaat auszuspielen, hat uns zu unterstellen versucht was ich zurückweise, weil es nicht stimmt —, wir hätten ein Verständnis von einem formalisierten Rechtsstaat; er hat dem das sozialdemokratische Verständnis von einem materialen Sozialstaat gegenübergestellt. Wer so und in solchen Gegensätzlichkeiten das Grundgesetz sieht, hat eben ein falsches Verfassungsverständnis. Der Sozialstaat darf nicht gegen den Rechtsstaat, die Gleichheit nicht gegen die Freiheit ausgespielt werden. Die Wertziele unserer Verfassung müssen gleichwertig und ausgewogen verwirklicht werden. Insoweit gibt es keinen Gegensatz zu dem, was z. B. der Bundesinnenminister hier vorgetragen hat. Wir müssen uns aber verwahren gegen den Vorwurf einer verfassungsgefährdenden Oppositionsstrategie, wenn wir einen solchen Antrag wie den hier heute vorliegenden im Bundestag einbringen. Und wir müssen uns verwahren gegen den Vorwurf des Mißbrauchs des Grundgesetzes als Waffe im parteipolitischen Kampf, wenn wir Sorgen hier im Bundestag zur Sprache bringen, die viele Menschen in diesem Lande haben.
Wer so redet, setzt sich dem Verdacht aus, das Tischtuch zwischen den Demokraten zerschneiden zu wollen. Wer unseren Antrag zum Anlaß nimmt, uns ein Ausbrechen aus der Gemeinschaft der Demokraten vorzuwerfen — wie Herr von Oertzen es getan hat —, zerstört mutwillig diese Gemeinschaft der Demokraten in diesem Lande.
Wir verlangen von Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, nichts anderes, als daß Sie Stellung beziehen zu Fragen, die zentrale Fragen des Verfassungsverständnisses in unserem Volke geworden sind, nichts mehr und nichts weniger. Herr Kollege Schäfer, für Sie mag das, was Herr Kollege Dregger hier vorgetragen hat, eine Pseudowelt sein. Dann muß ich aber sagen: Schauen Sie bitte genauer hin, was im Lande draußen los ist, nicht nur an unseren Universitäten, aber vor allem an unseren Hochschulen!
Ich möchte zu einigen Punkten dieser Debatte noch einige wenige Ausführungen machen. Meine Damen und Herren, es ist die Rede davon gewesen, wie wir den Auftrag des Grundgesetzes zu verstehen haben. Es ist die Rede davon gewesen, wie der eine und wie der andere den Sozialstaat-Auftrag dieses Grundgesetzes versteht. Ich bin der Auffassung,daß in der Bundesrepublik Deutschland noch nie mehr Sozialstaat verwirklicht worden ist als in der Zeit von 1948 bis 1969.
Sie, meine Damen und Herren, werden sich eines Tages daran messen lassen müssen, wieviel an Sozialstaat Sie verwirklicht haben.
Ich will jetzt gar nicht wegen des derzeitigen Zustands polemisieren, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland befindet, und auch nicht wegen der sozialen Situation, die derzeit in dieser Bundesrepublik Deutschland gegeben ist. Aber auch Sie werden eine Erfahrung machen, nämlich daß mit dem Gang der Entwicklung neue Probleme auftauchen, daß diese neuen Probleme neue Anforderungen stellen und daß neue Lösungen dafür gefunden werden müssen. Sie werden, wenn Sie eines Tages die Verantwortung abgeben müssen, festellen, daß auch Sie viele ungelöste Probleme hinterlassen werden.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Conradi?
Bitte sehr!
Herr Kollege, könnten Sie uns an Stelle von Allgemeinheiten ein konkretes Beispiel dafür nennen, wie Ihre Partei die Sozialpflichtigkeit etwa des Bodeneigentums in den 20 Jahren Ihrer Regierungszeit verwirklicht hat? Ein konkretes Beispiel an Stelle von Plattitüden!
Ich will Ihnen eines sagen: Wenn Sie die Fülle von Möglichkeiten auch für den kleinen Mann in diesem Lande sehen, ein eigenes Haus auf eigenem Grund und Boden zu bauen — —
— Ja, ich weiß natürlich, daß das für Sie keine Lösung von sozialen Problemen ist, meine Damen und Herren. Das gehört aber zu der sozialen Wirklichkeit der 50er und 60er Jahre.
— Das mag Ihrem Eigentumsverständnis nicht entsprechen.
Wir sind der Auffassung, daß wir damit auch Freiheit in diesem Lande verwirklicht haben, mehr, meine Damen und Herren, als mit den Vorstellungen, die Sie verbreiten.
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Vogel
Herr Ehmke hat auf dem Parteitag in Hannover eine, wie ich meine, sehr richtige Erkenntnis gehabt. Er hat gesagt: Die Lösungslücke wird immer größer, die Probleme wachsen schneller als die Lösungsmöglichkeiten. Diese Erfahrung werden Sie machen. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie tun gut daran, sich nicht zuviel aufzuladen, wenn Sie Erfolg haben wollen. Sonst werden wir eines Tages eine Rechnung aufmachen, die Ihnen sehr viel Kummer bereiten wird.
Das eigentliche Problem vollzieht sich nahezu unbemerkt; ich kann es hier nur andeuten, Herr Kollege Schäfer; es wäre einer Diskussion wert. Ich meine das Problem, wie sich das Grundrechtsverständnis gewandelt hat, das Problem, daß es bei der Interpretation Bemühungen gibt, diese in einen privaten und einen öffentlichen Bereich aufzuteilen und den öffentlichen Bereich dieser Grundrechte zu vergesellschaften. Von daher tauchen eine Fülle von Problemen auf. Hier ist allerdings die Frage zu stellen, ob dieses Grundrechtsverständnis noch das des Grundgesetzes ist.Noch ein Punkt, meine Damen und Herren. Herr Kollege Schäfer war so freundlich, darauf hinzuweisen, daß das Bundesverfassungsgericht die Unionsparteien in den vergangenen Jahren auf nicht erfüllte Verpflichtungen der Verfassung aufmerksam gemacht habe. Ich möchte Sie, Herr Kollege Schäfer— vielleicht nehmen Sie das in Ihren Zitatenschatz auf —, an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des niedersächsischen Vorschaltgesetzes zum Hochschulgesetz erinnern.
Die niedersächsische Regierung weigert sich ausdrücklich, dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen.
— Ich möchte es Ihnen nur sagen, Herr Kollege Schäfer. Nehmen Sie es in Ihren Zitatenschatz auf. Vielleicht ist dies hilfreich auch für das Verständnis dafür, daß nicht alle Probleme auf einmal angepackt und ganz sicher nicht auf einmal gelöst werden können.Ich möchte noch zu einigen Punkten unseres Entschließungsantrages Stellung nehmen. Wenn es in Ziffer 2 unseres Entschließungsantrages heißt: „Demokratische Parteien und Verbände dürfen keine gemeinsame Sache mit Verfassungsfeinden machen", dann deshalb, weil das Grundgesetz und die auf ihm beruhende Entwicklung der letzten 25 Jahre vor allem den politischen Parteien eine hervorragende Rolle bei der Verwirklichung des Verfassungsauftrages, vor allem der Verwirklichung des Sozialstaates und des Rechtsstaates, zugewiesen hat. Die politischen Parteien sind in der streitbaren Demokratie des Grundgesetzes nicht in eine neutrale Distanz gegenüber dem Staat entlassen, sondern, wie das Bundesverfassungsgericht es beschrieben hat, „integrierende Bestandteile des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens". Sie sind in die Reihe der Integrationsfaktoren im Staate eingerückt, aus dem Bereich des Politisch-Soziologischen in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben. Damit sind ihnen besondere Pflichten gegenüber der Verfassungsordnung unseres Staates, ihrer Bewahrung und Durchsetzung auferlegt.Konsequenterweise weist das Bundesverfassungsgericht im KPD-Urteil darauf hin, daß an der Inkorporation der Parteien in das Verfassungsgefüge politisch sinnvoll nur die Parteien teilhaben können, die auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen und bei denen wenigstens Einmütigkeit in der Bejahung der verfassungsrechtlichen Grundwerte besteht. Von der Inkorporation in das Verfassungsgefüge der streitbaren Demokratie sind demnach solche politischen Parteien ausgeschlossen, die verfassungsfeindliche Zielsetzungen verfolgen und deshalb im Grundgesetz mit dem Etikett „verfassungswidrig" gekennzeichnet werden. Die Unterscheidung in verfassungstragende und verfassungswidrige Parteien zwingt die ersteren in eine Solidarität gegenüber den letzteren. Nur wenn und soweit diese Solidarität der Demokraten gegenüber Verfassungsfeinden wirksam ist, kann die streitbare Demokratie darauf vertrauen, daß sie sich im Wege geistiger und politischer Auseinandersetzung gegenüber ihren innenpolitischen Feinden behaupten kann.Meine Damen und Herren, für mich war interessant, was der Bundesinnenminister heute nachmittag zu der Frage der Verfassungsfeinde in unserem Lande ausgeführt hat. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er gesagt: Die Staatsmacht greift erst ein, wo Verfassungsfeinde gewaltsam auftreten. — Ich kann mich erinnern, daß der Bundesinnenminister zu anderer Zeit und an anderer Stelle einmal darauf hingewiesen hat, daß die Verfassungsfeinde, die auf leisen Sohlen unsere verfassungsmäßige Ordnung zu unterwandern versuchen, schlimmer seien als diejenigen, die gewaltsam auftreten. Wir sollten uns hier gegen eine Einengung dessen wehren, was als verfassungsfeindlich angesehen werden muß, weil wir sonst in die Gefahr gerieten, einen weiten Bereich des verfassungswidrigen Angriffs auf unsere Ordnung zu übersehen.Meine Damen und Herren, wir sind mit der NPD fertiggeworden.
— Wir sind alle gemeinsam mit der NPD fertiggeworden.
— Ich kann nur noch einmal betonen: Wir sind mit der NPD fertiggeworden — das gehört zu den gemeinsamen Leistungen der Demokraten in diesem Lande, und diese Leistung lassen wir uns auch nicht nehmen —, weil es in der Solidarität der Demokraten keine Risse gegeben hat
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Vogel
und weil vor allem CDU und CSU sich ihrer Pflichten gegenüber der Verfassung bewußt gewesen und nicht opportunistischen Versuchungen erlegen sind. Die NPD ist heute geistig und politisch überwunden. Das deutsche Volk kann sich darauf verlassen, daß CDU und CSU auch künftig gegenüber jedem verfassungsfeindlichen Rechtsradikalismus voll in der Solidarität der Demokraten stehen werden.
Mit dem verfassungsfeindlichen Linksradikalismus sind wir nicht fertig geworden. Wir können das nicht nur an Prozenten abzählen, die am Wahltag errungen werden, sondern müssen es daran messen, wie weit der Linksradikalismus im Untergrund dieser unserer Gesellschaft wirksam ist und wie weit er auf die geistig-politischen Prozesse in diesem Land Einfluß nimmt. Wir sind mit ihm nicht fertiggeworden, weil ihm gegenüber die Solidarität der Demokraten brüchig geworden ist.
Gegenüber dem verfassungsfeindlichen Linksradikalismus wird die Solidarität der Demokraten von einer unheilvollen Solidarität der Sozialisten überlagert. Die Schwäche unserer Demokratie heute ist darin begründet, daß demokratische Sozialisten, wie sie sich nennen — und nicht nur sie —, vielfältig gemeinsame Sache mit antidemokratischen, totalitären Kommunisten machen.Vor allem die SPD, aber auch die FDP hat aufgeheult, als Herr Carstens, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, zu Beginn dieses Jahres die CDU/ CSU als die einzige politische Kraft bezeichnete, die „geschlossen und entschlossen Widerstand gegen die Unterwanderung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung" leiste. Die Wahrheit tut manchmal weh, meine Damen und Herren. Sie muß aber auch dann und notfalls immer wieder gesagt werden, wenn sie wehtut.Niemand von uns übersieht und hat jemals übersehen, wie tief verwurzelt das demokratische Engagement in der SPD und selbstverständlich auch in der FDP ist und welchen hervorragenden Beitrag beide Parteien ebenso wie die CDU/CSU zur Verwurzelung und Stärkung des demokratischen Staates in der Bundesrepublik Deutschland geleistet haben.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ostman von der Leye?
Nein, im Augenblick nicht.
Aber es wäre nichts als Selbsttäuschung und falsche Rücksichtnahme, wenn wir übersehen wollten, daß der Grenzverkehr zwischen Sozialdemokraten, teilweise auch Freien Demokraten auf der einen und Kommunisten auf der anderen Seite sehr lebhaft geworden ist. Die Aktivitäten der sozialdemokratischen Parteiführung in der letzten Zeit können nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine jahrelange Politik der Beschwichtigung, des Hinnehmens und des Gewährenlassens diesen Grenzverkehr immer lebhafter werden ließ.
Meine Damen und Herren, die .Jusos konnten glauben, daß sie recht haben, weil ihnen fast keiner wiedersprochen hat. Nur einige wenige haben widersprochen. Aber die meisten haben ihnen nicht widersprochen. Was wir hier seit Jahren erleben, ist doch wohl das genaue Gegenteil von „geschlossenem und entschlossenem Widerstand gegen die Unterwanderung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung". Der unentschlossene, halbherzige Kampf, selbst führender Sozialdemokraten gegen den Versuch von Verfassungsfeinden, in den öffentlichen Dienst einzudringen, und der gemeinsame Kampf vieler Sozialdemokraten und vereinzelter Freier Demokraten zusammen mit Kommunisten gegen den Extremistenerlaß der Ministerpräsidenten zeigen das leider überdeutlich.
Was steckt denn hinter der Forderung nach einem höchsten Maß an Rechtsstaatlichkeit? Dahinter steckt doch, daß man den materiellen Gehalt dessen, was geltendes Recht ist, abschwächen möchte. Das hat sich entzündet an der Diskussion über die Frage, ob Mitglieder verfassungsfeindlicher Parteien in den öffentlichen Dienst übernommen werden können oder nicht.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch?
Herr Kollege Vogel, da wir hier über die Verfassung diskutieren, frage ich Sie: Würden Sie vielleicht dazu übergehen, uns darzulegen, welche verfassungspolitischen Konsequenzen Sie aus Ihrer Anschauung ziehen wollen?
Sie werden es hören, Herr Kollege Hirsch.Meine Damen und Herren, kein opportunistisches Motiv kann diesen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland bisher nachhaltigsten Einbruch in die Solidarität der Demokraten rechtfertigen. Es ist leider nicht anmaßend, sondern traurige Wahrheit, wenn wir feststellen müssen, daß nur noch die Unionsparteien den erforderlichen „geschlossenen und entschlossenen Widerstand gegen die Unterwanderung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung" leisten.Herr Kollege Hirsch, Sie fragten, welche verfassungspolitischen Konsequenzen ich ziehen wolle. Da kann ich nur sagen: verfassungspolitische Konsequenz sollte sein, daß die Demokraten in diesem Land gemeinsam sagen, wo die Grenzen sind, wo die Übergriffe auf die freiheitliche Ordnung dieses Staates sind. Wenn sie gemeinsam sagen, daß es ein imperatives Mandat verfassungsmäßig nicht geben kann, daß Demokraten mit Verfassungsfeinden, mit Antidemokraten keine gemeinsame Sache machen dürfen,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5075
Vogel
meine Damen und Herren, wenn das die verfassungspolitische Konsequenz aller hier im Hause wäre, dann brauchten wir uns im nächsten Jahr eine solche Debatte nicht mehr zu leisten.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ostman von der Leye?
Bitte, Herr Kollege Ostman von der Leye.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Vogel, wären Sie, nachdem Sie doch eine Verfassungsdebatte beantragt haben, nun endlich so freundlich, den Unterschied zwischen dem Verfassungsrecht, das wir alle wahren wollen, und der Wirtschaftspolitik, die Sie hier als Verfassungsrecht ausgeben, deutlich zu machen?
Herr Kollege von der Leye, entweder waren Sie heute morgen nicht da, als Herr Kollege Dregger den Antrag begründete, oder Sie haben nicht richtig zugehört, oder Sie haben es nicht verstanden. Diese drei Möglichkeiten gibt es.
Ich meine, daß Herr Kollege Dregger den Zusammenhang sehr deutlich dargelegt hat. Wir haben nicht für uns in Anspruch genommen, daß das Grundgesetz einseitig für eine bestimmte wirtschaftliche Ordnung plädiert. Aber Herr Kollege Dregger hat deutlich gemacht, welcher Zusammenhang zwischen den Prinzipien sozialer Marktwirtschaft und den Möglichkeiten der Freiheitsverwirklichung in diesem Lande besteht. Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler a. D. Ludwig Erhard sitzt hier unter uns. Er ist das beredteste Zeugnis dafür, was an Freiheitsverwirklichung in diesem Lande möglich ist. Es ist möglich gewesen durch die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ostman von der Leye?
Bitte sehr!
Freiherr Ostman von der Leye: Herr Kollege Vogel, würden Sie mir, wenn Sie das mit. den Ausführungen des Abgeordneten Dregger von heute morgen verbinden, dann bitte die Frage erlauben, ob Sie nicht den Unterschied zwischen einer Wirtschaft in einer Aufbauphase und der Wirtschaft in einer
Phase der Marktsättigung sehen?
Ob wir diese Frage jetzt als eine Verfassungsfrage zulassen, das ist doch das Problem!
Meine Damen und Herren, eine der zentralen Verfassungsfragen ist, wie der freiheitliche Anspruch dieses Grundgesetzes verwirklicht werden kann. Für uns gehört dazu auch die soziale Marktwirtschaft. Es mag sein, daß Sie in der Abbauphase sozialer Marktwirtschaft damit nicht mehr auskommen.Ich habe vorhin davon gesprochen, wie die Solidarität der Demokraten durch den Grenzverkehr verlorengegangen ist, der zwischen den linken Flügeln der SPD und der FDP und den Kommunisten stattfindet. Ich möchte hier nicht verhehlen, daß ich gerade denjenigen unter den freidemokratischen Politikern außerordentlich dankbar bin, die hier durch Wachsamkeit und durch Härte verhindert haben, daß das in den Ländern und im Bund zum Prinzip erhoben wird.
Was schlimmer ist als der Grenzverkehr, ist die geistige Verwirrung, die sich in seinem Gefolge breitgemacht hat und ihrerseits eine immer größere Intensivierung gefördert hat. Sie hat bereits zu einer so weitgehenden — ich möchte es einmal so bezeichnen — roten Verfärbung des politischen Grundwassers unserer Verfassungsordnung geführt, daß die Solidarität der Sozialisten nicht nur mancherorts stärker geworden ist als die Solidarität der Demokraten, sondern bereits so sehr das politische Bewußtsein trägt, daß versucht wird, Nichtsozialisten aus unserer Verfassungsordnung hinauszudrängen. Ich möchte gar nicht auf das hinweisen, was sich heute morgen hier ergeben hat, als Namen wie Lübbe und Nipperdey genannt wurden. Allein die Reaktionen sprechen eine Sprache für sich. Aber es gibt schlimmere Vorgänge in diesem Lande.In Eschborn in Hessen — Herr Ministerpräsident Osswald, ein Fall, um die Sie sich vielleicht einmal kümmern können - hat die Vollversammlung des Stadtjugendrings am 26. Oktober 1973 mit den Stimmen der Jungsozialisten die Aufnahme der Jungen Union abgelehnt und gleichzeitig die Aufnahme der SDAJ beschlossen,
und zwar mit folgender Begründung: die Junge Union befähige junge Menschen nicht zum kritischen Denken und Handeln; sie könne die Interessen der Jugend in der Öffentlichkeit nicht vertreten; sie wirke den autoritären, totalitären, nationalistischen und militärischen Tendenzen nicht entgegen. Ich muß sicher davon ausgehen, daß der SDAJ diese Eigenschaften zuerkannt worden sind. Das sind Fälle, mit denen Sie sich beschäftigen mögen. Ein gleicher Vorfall hat sich in Bad Homburg vollzogen. Das ist für
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Vogel
mich die reaktionäre Sprache des Potsdamer Abkommens. Das sind waschechte kommunistische Argumente.
Was tut die SPD dagegen? Was tut die SPD gegen solche Vorgänge? Was haben wir von der SPD gehört, als die neue Juso-Vorsitzende, Frau Wieczorek-Zeul, erklärte, daß ihr der MSB Spartakus näherstehe als der RCDS? Das ist genau das, was dem RCDS an allen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland begegnet.Unter den — häufig genug ermunternd zwinkernden — Augen führender Sozialdemokraten wird systematisch ein Klima der Intoleranz gegenüber den Christlichen Demokraten erzeugt, die mit Vokabeln wie „reaktionär", „rechtsradikal", „Rechtskartell" usw. belegt werden. Gleichzeitig macht sich Toleranz gegenüber den Kommunisten breit. Was kann in einem solchen Klima von der „Solidarität der Demokraten" noch übrigbleiben? Es nimmt nicht Wunder, wenn angesichts des demokratischen Versagens der Sozialdemokraten etwa der Abgrenzungsbeschluß des DGB gegenüber linksextremen Organisationen ausdrücklich DKP, SDAJ und MSB Spartakus ausnimmt. Wer ein solches Klima im Lande sich entwickeln läßt, zuschaut und dagegen nicht vorgeht, eher augenzwinkernd fördert, der macht schon gemeinsame Sache mit den Verfassungsfeinden.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wilhelm?
Ja, bitte!
Herr Kollege Vogel, Sie sprachen vorhin erneut vom imperativen Mandat mit Blick auf die SPD. Ich möchte Sie fragen: Wie würden Sie einen Vorgang bewerten, der sich Mitte der sechziger Jahre in diesem Hause abgespielt hat, als über das Röhrenembargo diskutiert und abgestimmt werden sollte und als Geschäftsführer Ihrer Fraktion bei der Auszählung hier vor dem Plenarsaal ihre Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, sicherlich mit Billigung Ihres Fraktionsvorstandes, daran hinderten, den Saal zu betreten, um damit den Bundestag beschlußunfähig zu machen? Würden Sie darin auch eine gewisse Form des imperativen Mandats und vielleicht sogar der Nötigung sehen?
Herr Kollege Wilhelm, was würden Sie sagen, wenn aus Furcht, daß Abgeordnete nicht so abstimmen, wie es ihre Fraktionsführung erwartet, dafür gesorgt wird, daß sie bei einer Abstimmung auf ihren Plätzen sitzenbleiben?
Ich habe gesagt: Wer ein solches Klima im Lande sich entwickeln läßt, zuschaut und dagegen nicht vorgeht, eher augenzwinkernd fördert, der macht schon gemeinsame Sache mit den Verfassungsfeinden. Es klingt elitär arrogant, wenn unter solchen Umständen der Antrag der CDU/CSU damit abgetan wird, man könne doch wohl schlecht dazu auffordern, das Grundgesetz einzuhalten. Ich habe den Eindruck, es ist Zeit aufzufordern, daß überall und gegenüber jedermann das Grundgesetz eingehalten wird. Deshalb unser Antrag und deshalb diese Debatte.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Groß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie, Herr Vogel, mir eine Vorbemerkung. Sie kritisierten vorhin die Abwesenheit von Herrn Genscher. Ich meine, in solchen Fällen wäre es zweckmäßig — das gilt sicher für alle —, sich vorher nach dem Grunde zu erkundigen. Wenn Sie den Grund gekannt hätten, dann hätten Sie diese Bemerkung auch unterlassen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Groß, sind Sie bereit, entgegenzunehmen, daß ich das bedauere? Ich habe es nicht gewußt und habe festgestellt, daß Herr Genscher kurze Zeit später wieder hier war.
Vielen Dank, Herr Vogel, für diese Erklärung. Sie kennen die Gründe. Aber ich meine, wir sollten uns in Zukunft mit solchen Bemerkungen etwas zurückhalten.
Herr Dr. Dregger hat heute morgen ein Bild von dieser Verfassung und von der Verfassungswirklichkeit gezeichnet, von dem ich in seinem und in seiner Partei Interesse hoffen möchte, daß er es selbst für unrealistisch hält. Denn sonst müßte man an tiefgreifende Auseinandersetzungen innerhalb der CDU glauben. Wenn man nämlich dieses Bild für realistisch hielte und meinen sollte, daß das Auffassung der CDU insgesamt wäre, dann wären alle jene Versuche des Vorsitzenden der CDU, Herrn Kohl, und des Generalsekretärs der CDU, Herrn Biedenkopf, der CDU ein zukunftsträchtigeres Bild — vielleicht auch ein zukunftsträchtigeres Programm — zu geben, zunichte.Herr Dr. Dregger hat das Dilemma deutlich gemacht, vor dem die CDU/CSU steht. Er ist ausgegangen von der heilen Welt, die es nie gab und nie geben wird.
Er ist gestoßen auf die heile Welt von Sozialtheologen und Utopisten, die, ebenso in ihre Vorstellunlen verliebt, nicht bereit sind, die Realitäten ins Auge zu fassen. Beide diese heilen Welten müssen
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Großsich notwendigerweise aneinander reiben. Aber das Ergebnis ist allenfalls Wärme, Hitze, aber keine Ausgangsbasis für eine realistische Politik.Herr Dr. Dregger hat erneut den alten Fehler all derer exerziert, die, ihrer selbst und ihrer Auffassungen nicht mehr sicher, ihre Zuflucht zu harten Maßnahmen, mindestens zu harten Worten nehmen, die sich nicht mehr fragen, warum der Tatbestand, den sie beklagen, so sein könnte. Sie nehmen dabei Zuflucht zu Formeln und Regeln. So wie man in der Außenpolitik jahrelang versucht hat, mit Hilfe juristischer Formeln — sprich: Hallstein-Doktrin — Politik in ein Korsett zu drängen, so versucht man das auch hier wieder, versucht, an den Symptomen herumzukurieren, statt nach den Ursachen dieser Erscheinungen zu fragen.Ein seiner selbst sicheres offenes System — wenn Sie wollen, ein Widerspruch in sich —, eine solche Ordnung kann auf solche Formeln, an denen man zu seiner eigenen Sicherheit abzählen kann, ob man auf dem rechten Wege ist oder nicht, verzichten. Dieses offene System, diese offene Ordnung kann sich dann aber auch nicht davor drücken, sich auseinanderzusetzen, den Konflikt auszutragen, statt in die Vorstellung von einer heilen Welt zu flüchten.Herr Dr. Dregger zeigt sich erneut als ein Meister in der Beschränkung auf Provinzielles in Hessen, in Baden-Württemberg, in Berlin und anderswo. Er tut damit so, als ob die Auseinandersetzungen, die sich unter jungen Menschen an Hochschulen anderswo abspielen, eine Erscheinung seien, die sich ausschließlich in der Bundesrepublik abspiele.Warum eigentlich begann diese Auseinandersetzung, dieses Auftreten sozialistischer Vorstellungen marxistisch-leninistischer Provenienz nicht zuerst im Lande Hessen, sondern in den Vereinigten Staaten an der Universität Berkeley, in einem Land, dessen Präsident politisch vermutlich der Opposition näherstand als uns? Warum eigentlich begannen die Auseinandersetzungen in einem Land wie Frankreich, dessen Präsidenten der Opposition politisch sicher nähergestanden haben und näherstehen als den beiden Parteien der Regierungskoalition?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller ?
Ja, bitte!
Herr Kollege Groß, ich habe die Entwicklung in Berkeley selbst beobachten können. Sie haben gesagt: Dort war ein Präsident, welcher der Opposition nahestand. Heißt das, daß Präsident Kennedy der CDU/CSU nahestand?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dr. Müller, nach meiner Erinnerung waren diese Auseinandersetzungen Mitte der 60er Jahre. Nach meiner Erinnerung war zu dieser Zeit der von Ihnen zitierte Präsident bereits ermordet, und Präsident Johnson war an der Regierung. Ihn und seinen Nachfolger meinte ich.Ich bin weder Historiker noch Psychologe. Deshalb will ich auch nicht eine abschließende Antwort auf einige Fragen geben, die sich hier einem nachdenklichen Betrachter der Szene stellen. Aber ich will Fragen stellen, die meines Erachtens auf die Ursachen zurückführen könnten, während wir uns hier bisher nur mit den äußeren Erscheinungen auseinandergesetzt haben. War es Zufall, daß in den USA diese Erscheinungen auftraten als Reaktion auf die moralische Krise, in welche die Vereinigten Staaten — oder ihre Regierungen — durch das Verhalten in Vietnam gekommen waren? War es ein Zufall, daß sich diese Unruhe unter Studenten mit all ihren extremen Ausuferungen als Reaktion auf die moralische Krise nach dem Krieg in Algerien ergab?Wieso eigentlich, meine Damen und Herren, stammen die meisten jener extremen Kräfte, die uns heute beschäftigen, genau aus jenem Bürgertum, das mit einem hohen moralischen Anspruch aufgetreten ist, diesen hohen moralischen Anspruch aber weder in der Zeit der Weimarer Republik noch im Dritten Reich hat realisieren können? Bestehen nicht Zusammenhänge zwischen der totalen Konzentration aller Kräfte in der Nachkriegszeit auf den Wiederaufbau und Aufbau in dieser Bundesrepublik und der moralischen und zeitlichen Vernachlässigung eben der Kinder jenes Bürgertums, die mehr wissen wollten, als eben nur die Anbetung des Wohlstands zu zelebrieren?Ist eigentlich die als „Wohlstand für alle" gepriesene und meines Erachtens doch wohl materialistische Auffassung für junge Menschen so attraktiv gewesen? Ist sie eine emotional ansprechende und intellektuell überzeugende Leitidee für Achtzehn- und Neunzehnjährige gewesen? Ist die Schärfe der Auseinandersetzung zwischen Älteren und Jüngeren nicht auch darin zu suchen, daß hier Väter, die wegen des Krieges nie jung sein durften, auf Söhne und Töchter stoßen, die alle Vorrechte der Jugend für sich in Anspruch nehmen?Soll hier der Staat nachträglich das leisten, was das. Elternhaus und die Schule nicht schafften oder nicht schaffen konnten?
Haben wir Demokraten, wir alle, die wir in diesem Saal sitzen, die wir draußen in den demokratischen Parteien agieren', die Demokratie so vorgelebt, daß wir glaubwürdig gewesen sind?Ich war noch weit entfernt von diesem Hause, als Wolfgang Döring in diesem Hause meinen späteren kurzzeitigen Platznachbarn Rudolf Augstein gegen eine Auffassung verteidigte, die einseitig staatliche — noch dazu rechtsstaatswidrige — Auffassungen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stellte.Ich will jetzt nicht polemisieren, aber konnte eigentlich ein Verhalten, das innerhalb und außerhalb dieses Hauses in den fünfziger und sechziger Jahren oft genug dargestellt wurde, glaubwürdig wirken? Konnten bestimmte Politiker — die Namen Krüger und Oberländer sind manchem noch in Er-
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Großinnerung — ein glaubwürdiges Zeugnis für diese Demokratie ablegen und damit ein Vorbild sein für eben diese jungen Menschen? Diese Fragen müssen wir stellen.Herr Kohl hat in einer schon zitierten Rede gesagt, die Regierung beschönige Rechtsbrüche. Meine Damen und Herren, wenn dem so wäre: Es soll Zeiten gegeben haben, in denen auch in diesem Hause darüber gestritten wurde, daß eine Regierung Rechtsbrüche selbst begeht. Es ist in diesem Hause ja wohl einiges zu diesem Thema gesagt worden.Herr Dregger hat zu Recht die Frage gestellt: Wie soll eigentlich in den Herzen und in den Köpfen der jungen Menschen diese Verfassung verankert werden? Genau das ist die Frage. Ich werde die Verfassung nicht verankern können, indem ich lediglich nach der Polizei und dem Richter rufe, nicht aber bereit bin, Demokratie vorzuleben und vorzupraktizieren.
Hier tragen wir an den Folgen der fünfziger und sechziger Jahre.
Herr Abgeordneter Groß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sauer?
Herr Kollege Groß, Sie haben gerade die fünfziger und sechziger Jahre erwähnt. Wären Sie als niedersächsischer Landesvorsitzender der FDP bereit, insbesondere die Minister hier einzubeziehen, die uns Ihre Partei drüben einmal als Kultusminister präsentiert hat?
Herr Sauer, ich beziehe sämtliche Parteien ein, und ich nehme für mich in Anspruch, auch als Parteimitglied — das war für mich mit ein Motiv, in diese Partei einzutreten — diese Leute auf das energischste zu bekämpfen, und wie Sie sehen, mit Erfolg.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie im Anschluß daran noch eine weitere, schon angemeldete Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Herr Kollege, muß nicht die ständige kritische Distanz derjenigen zum Staate, die in Hessen, in Frankfurt, seit 20 Jahren regieren und verpflichtet sind, diesen Staat oder Teile von ihm zu repräsentieren, entweder zur Radikalität oder zur Resignation führen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich könnte es mir einfach machen und die Frage zurückgeben, ob nicht diejenigen, die in Bayern über Jahrzehnte hinweg — mit einer vierjährigen Unterbrechung — eine CSU-Regierung erlebt haben, ebenso frustriert sein können. Herr Kroll-Schlüter, wir haben zu allen Zeiten eine tiefe Abneigung gegen absolute Mehrheiten gehabt — ganz gleich, wer sie hat —, undwir bekämpfen sie auch ganz gleich, wer sie ha-ben könnte —, denn wir wissen, daß eine solche absolute Mehrheit einer Partei zum Machtmißbrauch verführt, und es ist bei genügend Gelegenheiten davon auch Gebrauch gemacht worden bei den Parteien, die ,die absolute Mehrheit haben oder hatten. Ich nehme da niemanden aus.Meine Damen und Herren, müssen wir nicht zu einer besseren Antwort auf die hier zu behandelnde Frage kommen? Wir sollten — und jetzt spreche ich Herrn Vogel an — dem erschrockenen Bürger dieses Staates nicht das seltsame Schauspiel bieten, uns hier unter Demokraten, wenn auch gelegentlich mit Vorbehalten und Einschränkungen, draußen aber dann um so gröber, des vorsätzlichen Verfassungsbruchs, des Gedankens an Verfassungsbruch oder zumindest des fahrlässigen Verfassungsbruchs zu bezichtigen. Meine Damen und Herren, kommen wir weiter, wenn auf die Frage nach — ein beliebiges Beispiel — Vorgängen in Eschborn oder Vorgängen an anderen Orten nun wiederum anders zitiert wird? Es ist leicht, dieses Spiel hin- und herzu-spielen und dem Bürger eine totale Verwirrung vorzumachen.
Es ist doch leicht, den Hinweis auf die Universität Bremen mit dem Namen „Kosiek" zu kontern; dann wird sich Herr Filbinger in Baden-Württemberg angesprochen fühlen. Aber was soll das, meine Damen und Herren? Wir können natürlich fragen, aber es führt zu nichts.Als 1968 die studentische Jugend rebellierte, waren alle Parteiführer bereit, zu sagen: Nun geht bitte in die Parteien; spielt keine außerparlamentarische Opposition, sondern geht in die Parteien und versucht dort, eure oppositionellen Ansichten durchzusetzen! Das war das gemeinsame Rezept. Einige haben das realisiert. Teilweise ist es schiefgegangen. Aber sollte die CDU/CSU berechtigt sein, den Zeigefinger zu erheben, wenn es ihr — zum Teil wenigstens — gelungen ist, die NPD und Teile von ihr zu integrieren? Daraus mache ich der CDU keinen Vorwurf; ich würde es als eine Leistung einer demokratischen Partei ansehen, wenn sie eine extreme Seite binden, möglicherweise sogar integrieren könnte. Aber wo bleibt dann das moralische Recht, den Zeigefinger zu erheben, wenn eine andere Partei dies auch versucht, dabei aber teilweise Fehler macht, diese Fehler zugesteht und gerade damit vielleicht glaubwürdiger ist als jener Pharisäismus, der heute hier Triumphe gefeiert hat?Meine Damen und Herren, Herr Filbinger hat einen klugen Satz geprägt. Er hat gesagt, man solle sprachlich genau sein. Genau dies ist richtig, aber er hat sich leider selbst nicht daran gehalten. Auch er hat sich dieser modischen Verpackungskunst bedient und hat von „Radikalen" gesprochen. Es geht aber nicht um Radikale, denn ich wüßte in allen Fraktionen eine ganze Reihe hockgeschätzter Mitglieder, die sich selbst in dieser oder jener Frage als Radikale bezeichnen. Meine Damen und Herren, es geht darum, Verfassungsfeinde — Leute, die nicht bereit sind, aktiv diese parlamentarische Demokratie, diese freiheitlich-demokratische Grundordnung
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Großzu unterstützen - nicht in den öffentlichen Dienst aufzunehmen.
Ein anderes Beispiel für die merkwürdige Sprachverwirrung oder Verschleierungstaktik ist dieser seltsame Begriff „Berufsverbot". Ich möchte hier feststellen: es gibt keine Berufsverbote. Es gibt sie allenfalls in der Phantasie einiger. Und in ,der Propaganda dient dieser Begriff geschickten Demagogen und ihrem gutwilligen Anhang.Es geht hier um die Frage, ob wir es zulassen wollen, daß Menschen, die politische Ansichten vertreten, die vom Grundgesetz nicht gebilligt werden, in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden. Meine Damen und Herren, wie wäre es, wenn wir uns in dieser Auseinandersetzung so verhielten, daß nicht durch Provokationen unsererseits — ich appelliere hier an die von Herrn Vogel zitierte Solidarität der Demokraten — neue Provokationen angeheizt würden? Wäre es nicht ,denkbar, daß wir ,den harten Kern jener, die wir alle gemeinsam nicht wollen, die wir entschieden ablehnen, isolieren, daß wir ihn trennen von jenen vielen Harmlosen, Gutwilligen, Blauäugigen — oder wie Sie sie bezeichnen wollen die sich immer dann mit diesen extremen Kräften solidarisieren, wenn wir ihnen durch Ungeschick dazu einen Anlaß geben? Wenn wir uns nämlich so verhielten, diese Provokationen zu unterlassen, würden wir sehr schnell fetsstellen, daß der harte Kern sehr klein ist und daß es dann auch möglich ist, diesen harten Kern in der Diskussion so zu isolieren, daß wir dann auch deutlich in der Lage sind, mit ihm fertig zu werden. Ich sehe es als ein Zeichen der Schwäche an, wenn wir dies nicht fertigbekommen.Meine Damen und Herren, Demokratie ist verwundbar. Sie zeigt im ersten Ansturm ihrer Gegner oft Schwächen, auch diese. Jede Ordnung, die nicht auf Aggression ausgerichtet ist, muß diese Schwächen zeigen. Aber die innere Stärke dieser verfassungsmäßigen Ordnung zeigt sich dann, wenn es um die Mobilisierung aller Kräfte geht. Und diese Kräfte, meine Damen und Herren, können Sie nur mobilisieren, wenn wir in unserem Verhalten alle glaubwürdig gewesen sind. Festigkeit, meine Damen und Herren, ist nicht eine Frage von starken Worten, ist auch keine Frage von Verpackungskünsten; sie ist in keiner Weise durch administrative Maßnahmen zu ersetzen.Für uns Freie Demokraten steht fest: Wer nicht bereit ist, aktiv für diese freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, darf nicht in den öffentlichen Dienst.
- Herr Seiters, darauf kommen wir gleich noch einmal zu sprechen. Aber vielleicht gestatten Sie, daß ich auf die von Herrn Dregger in seiner Rede zitierten Niedersächsischen Rahmenrichtlinien eingehe. Nun, Herr Dregger, wir befinden uns in Niedersachsen in einem Wahlkampf gegen die alleinregierenden Sozialdemokraten. Sie werden verstehen, daßwir ein Interesse daran haben, auch Argumente gegen dieselben zu finden. Aber die Richtlinien, von denen Sie gesprochen haben, Herr Dregger, habe ich nirgendwo finden können, und zwar deswegen, weil es sie nicht gibt.
-- Herr Seiters, dann müssen Sie also zunächst einmal bei Herrn von Oertzen nachfragen; der hatte sie nämlich auch nicht.
— Man muß aber um Herrn Filbinger zu zitieren, Herr Seiters — sprachlich genau sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Ja.
Herr Kollege Groß, darf ich Ihnen dann empfehlen, einmal die Handreichungen des niedersächsischen Kultusministeriums mit dem gleichen Inhalt zu lesen, die vor einigen Monaten herausgekommen sind?
Verehrter Herr Kollege Franke, ich brauche dieses Papier nicht zu lesen, weil ich es kenne.
Weil ich es aber gelesen habe, kann ich feststellen, daß sie es nicht gelesen haben; denn sonst hätten Sie diese Schlußfolgerung nicht gezogen.
Ich habe also keinerlei Sympathien für vieles, was dort geschieht. Ich will hier aber keine Wahlkampfauseinandersetzung führen. Wenn Sie jedoch jetzt einen Vergleich ziehen wollen, dann, Herr Franke, sollten Sie sauber sein und im übrigen korrekterweise auch noch Rahmenrichtlinien erste Fassung, zweite Fassung, usw. unterscheiden und darüber sprechen.
Aber das hat Herr Dregger auch nicht nötig gehabt.Die Treue zur Verfassung, meine Damen und Herren, die wir von den Angehörigen der öffentlichen Verwaltung verlangen, ist nicht ein Formelverhalten, das auch dadurch zu realisieren ist, daß man, wie es einmal in einem anderen Zusammenhang hieß, in die Nische tritt. Wie ernst es die Verfassung mit der Treue zur Verfassung meint, weist eindeutig Art. 5 des Grundgesetzes aus, der von den im übrigen in seiner Meinungs- und Lehrfreiheit nicht eingeschränkten Hochschullehrern verlangt, daß er sich treu gegenüber der Verfassung verhält. Dies alles, meine Damen und Herren, muß aber im Einzelfall geprüft werden. Das besagt, daß lediglich individuelles Verhalten, das politische Verhalten geprüft und überprüft werden kann. Und dies, meine Damen und Herren, muß ohne Ansehen der
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5080 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
GroßPerson gelten. Niemand darf mit Erfolg hoffen, er könne schon deshalb nicht abgelehnt werden, weil er einer Partei angehört, die nicht verboten ist.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zur Rede von Herrn Ministerpräsident Filbinger. Ich verstehe einfach nicht, warum er nicht auf die klare Frage von Herrn Ravens eine klare Antwort gegeben hat. Herr Filbinger wußte es ja, er hatte es in seiner Aktentasche, was die Koalitionsparteien möchten und was die Bundesregierung vorschlagen will, was sie aber zweckmäßigerweise, da wir nicht an parteipolitischen Auseinandersetzungen, sondern am Erfolg einer gemeinsamen Haltung interessiert sind, zunächst einmal mit den Innenministern der Länder und dann mit den Ministerpräsidenten morgen erörtern will. Warum hat Herr Filbinger dies nicht gesagt? Er hat genau das getan, was Rainer Barzel kritisiert hat. Er hat parteipolitischen Vorteil aus einer Situation ziehen wollen, die nur einige kannten, viele aber nicht.
Meine Damen und Herren, ich will in dieser Auseinandersetzung nicht von jenen reden, die laut schreien, wenn ein Kommunist, ein Marxist-Leninist, um es präziser zu sagen, im öffentlichen Dienst abgelehnt wird, die aber ebenso heftig schreien, wenn ein Nationaldemokrat, ein Nationalsozialist aufgenommen wird. Diese Schizophrenie mag treiben, wer will; wir sind damit nicht zu packen.Meine Damen und Herren, ich höre natürlich jetzt den Einwand: Wenn wir solch ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren einführen, besteht die Gefahr, daß doch jemand in diesen öffentlichen Dienst gelangen könnte, der nicht einwandfrei auf dem Boden dieses Grundgesetzes steht. Dies müssen wir in Kauf nehmen. Ich frage Sie allen Ernstes: Haben Sie denn jene Angst, die hier heute kultiviert wird, vor solchen Leuten gehabt, die wir alle nicht mögen, als nach 1945 die öffentliche Verwaltung wieder mit Kräften anfangen mußte, bei denen Zweifel über ihr demokratisches Verhalten nicht nur angebracht, sondern in vielen Fällen auch begründet waren.
Meine Damen und Herren, dieser Staat ist nicht untergegangen, obwohl viele, die hier sitzen, Lehrer gehabt haben, die als Nationalsozialisten oder Deutschnationale erzogen worden sind.
Wenn diese Gleichung richtig wäre, daß ein autoritär oder totalitär eingestellter Lehrer automatisch auch solche Schüler züchtet, gäbe es dieses Parlament nicht mehr.Wir sollten uns hier auch ein wenig an dem orientieren, was außerhalb unseres Landes zu dieser Diskussion gesagt wird. Sie alle kennen das Lächeln mancher Nachbarn, die sich fragen, was die Deutschen in der Bundesrepublik für Sorgen haben. Wir haben Sorgen, meine Damen und Herren, aber wir haben diese Sorgen so ernst zu nehmen, daß wir uns nicht aus lauter Angst vor einigen Erscheinungennun jeder Aktionsfähigkeit berauben. Wir sind mit jenen Erscheinungen nach dem Kriege fertiggeworden, die zahlenmäßig sicher sehr viel größer waren als das, was uns heute beschäftigt und in der Zukunft möglicherweise beschäftigen wird. Meine Damen und Herren, das Thema taugt nicht für den Wahlkampf. Aus der Verantwortung für das Gewesene und für manche Ursachen des Heutigen kann sich keiner von uns davonstehlen, auch nicht die Kollegen von der CDU/CSU.Meine Damen und Herren, hier ist von Herrn Vogel vom Grenzverkehr gesprochen worden. Herr Vogel, meinen Sie das wirklich so, wie Sie das sagen? Meinen Sie, daß es einen solchen Grenzverkehr nur dort gegeben hat, wo Sie ihn zu sehen glauben? Hat es nicht auch einen anderen Grenzverkehr gegeben? Ist hier nicht in der Vergangenheit manches passiert, was uns allen nicht gefallen hat, auch was Ihre Partei und was die CSU betraf? Meine Damen und Herren, demagogische Gespensterbeschwörung hilft uns hier nicht weiter.Wenn heute ein Mann wie Richard Wagner begehrte, in Bayern oder Baden-Württemberg in den öffentlichen Dienst aufgenommen zu werden, so würden ihn manche, die heute gern alljährlich nach Bayreuth pilgern, wegen revolutionärer Ansichten und Tragens langer Haare nicht in den öffentlichen Dienst aufnehmen.Hier hat Helmut Kohl völlig zu Recht erklärt — ich darf das mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —: Jeder, der sich irgendwann einmal zur Feindschaft gegen unsere Verfassungsordnung hat verleiten lassen, muß auch die ehrliche Chance haben, zu ihr zurückzufinden. Dem ist kein Wort hinzuzusetzen. Aber ich habe den Eindruck, daß dieser Satz mehr an die Adresse der CDU/CSU als an die der Koalitionsparteien gerichtet war.In Ihrer Verlegenheit um Argumente scheuen Sie vor Unlogik und vor Geschichtsklitterung nicht zurück.Herr Professor Carstens hat vor einiger Zeit gesagt, — ich zitiere das —, das dritte Jahr der Inflation benutzten sie, diese ominösen Radikalen, um ihren Angriff gegen die freiheitliche Ordnung und die soziale Marktwirtschaft zu fahren. So einfach ist das. Diese Radikalen gibt es offenbar erst seit drei Jahren. Nach meiner historischen Kenntnis traten diese Erscheinungen schon im Jahre 1967 auf, als die Welt, insbesondere auch die finanzielle Welt — wenn ich Franz Josef Strauß folgen soll — noch vollkommen in Ordnung war.Meine Damen und Herren, was soll dies?Ich schließe ab. Es gibt zwei Wege, zur Revolution zu kommen: den einen, indem man versucht, den Umsturz mit Gewalt zu erreichen, den anderen, indem man sich statisch gegen jede Veränderung stemmt, um damit jenen, die stets neue Argumente für ihre revolutionären Ansichten suchen, neue Argumente zu liefern; damit führt dieses statische Verhalten zu einer Revolution wie nach der anderen Methode.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5081
GroßWir haben keine Angst vor der Auseinandersetzung. Wir haben keine Angst vor der Auseinandersetzung mit Radikalen aller Spielarten und speziell mit Extremisten. Die FDP ist selbstbewußt genug, auf dem Boden dieser Verfassung diese Auseinandersetzung mit allen, die es angeht, zu führen. Aber ich habe eine Sorge. Wenn es uns nicht gelingt, diese Solidarität zwischen den Demokraten ohne Mentalreservationen zu halten, dann werden wir es erleben, daß uns aus der Reaktion auf diese Extremisten eine Gegenentwicklung beschert wird, vor der ich nun allerdings wirklich Angst habe. Denn die Reaktion auf solche extremistischen Vorgänge kanndafür ist die Weimarer Zeit in der Tat ein Beispiel -- uns alle und alle Demokraten hier in den Abgrund führen. Darum sollten wir uns bemühen, dies mit allen Kräften zu verhindern und damit auch zu der notwendigen Solidarität zu kommen.
Das Wort hat der Herr Ministerpräsident des Landes Hessen, Ministerpräsident Osswald.
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition hat einige Akte ihres heutigen verfassungspolitischen Dramas nach Hessen verlegt. Dies konnte sicher nicht anders sein angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen. Dort kennen wir Herrn Dregger allerdings besser als Sie hier in diesem Bundestag. Man darf ihn nicht ganz so ernst nehmen, wie er sich heute hier darzustellen versucht hat.
Herr Dregger hat heute morgen hier das Bild einer Republik gezeichnet. Es ist sein Bild, das er gezeichnet hat, ein Bild, das in seiner Vorstellungswelt lebt, das aber mit Hessen nicht übereinstimmt. Vielleicht überzeugt Sie das, was ich Ihnen sagen darf — die Ergebnisse entsprechender Umfragen hat Herr Dregger ja auch —, nämlich daß 60 % der Bevölkerung unseres Landes mit diesem Land sehr zufrieden sind, mit großer Freude darin wohnen und stolz auf die Leistungen in diesem Lande sind.
Dies ist die Position, nach der wir in Hessen die politische Landschaft über die Zeit, in der Sozialdemokraten dort politische Verantwortung getragen haben, nach liberalen, sozialen Grundsätzen gestaltet und damit unsere Bevölkerung mit jenen Leistungen ausgestattet haben, die sich in den Sachergebnissen draußen im Lande als Leistungen für die Bürger erweisen lassen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Jawohl!
Herr Ministerpräsident, nachdem Sie pauschal von dem Land gesprochen haben, das nach Meinung von Herrn Dregger anders aussieht als nach Ihrer Meinung, wäre ich Ihnen recht dankbar, wenn Sie mir als einem Abgeordneten, der nicht aus Hessen kommt, die Fakten widerlegen könnten, die Herr Dregger in seiner Rede genannt hat, z. B. die Schwierigkeiten bezüglich des Hochschulrechtsrahmengesetzes, die Schwierigkeiten, die Sie an ihren Universitäten haben, und insbesondere die Schwierigkeiten, die Sie mit Ihren Jungsozialisten haben.
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Sie müssen sich freundlicherweise einen Augenblick gedulden; ich habe meine Rede gerade erst begonnen. Aber Sie bekommen von mir noch die Antworten, auf die Sie warten, Antworten auf das, was Herr Dregger hier dargelegt hat.
— Ich werde darauf im Laufe meiner Rede eingehen. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, dann hier zu sein und zuzuhören.Ich kann mich nur fragen, welcher Zweck hinter einer Veranstaltung steht, in der rechtliche Gemeinplätze beteuert werden und zugleich die Verfassung zum Gesetz des sozialen Status quo umgemünzt wird. Was mag die Opposition, insbesondere den Kollegen Dregger, wohl auf den Gedanken gebracht haben, politische Phantasie durch die Beschwörung der Verfassung zu ersetzen?
Dies ist doch das Problem. Auf eine Antwort auf diese Frage warten wir alle.Eine der Fragen möchte ich gleich beantworten. Nehmen wir einmal den gesamten Bildungsbereich und schließen wir in die Debatte das mit ein, was hier zu den Rahmenrichtlinien fälschlicherweise von denen behauptet und festgestellt wurde, die es eigentlich besser wissen müßten, wenn sie sich um die Sache gekümmert hätten.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU befindet sich in der angenehmen Situation, daß sie in der Bildungspolitik fast ein Jahrzehnt lang hinter der Entwicklung hergelaufen
und dann in den Zug eingestiegen ist, der sich aus der bildungspolitischen Dynamik fortschrittlicher Länder in unserer Bundesrepublik ergeben hat.
Dies war die Position der CDU, als sie für die kleinen Dorfschulen kämpfte und sich gegen Gemeinschaftsschulen sperrte, dies war ihre Position, als sie
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5082 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Ministerpräsident Osswalduns in Hessen in der ersten Stunde die Konfessionsschule aufzwingen wollte,
und dies war Ihre Position, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, als Sie gegen die Entwicklung zur Gesamtschule gekämpft haben.Da Ihnen nun auf Grund dieser Entwicklung in der vergangenen Phase bildungspolitisch die Dinge entglitten sind,
da sich jetzt eine gewisse Übereinstimmung, eine Annäherung an das, was in den Bundesländern von Sozialdemokraten und inzwischen auch von einigen CDU-Kultusministern verantwortet wird, ergibt und die Probleme, die in der Vergangenheit nicht bewältigt worden sind, für Sie kein Reizthema mehr sind, haben Sie sich die Rahmenrichtlinien, d. h. die Modernisierung und Neuformulierung der Bildungsinhalte, ausgesucht. Ich hoffe, mit Ihnen in der Grundfrage übereinzustimmen; denn ich wüßte nicht, aus welchen anderen Gründen sich das Land Rheinland-Pfalz
— Augenblick, ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen; Sie bekommen Ihre Frage beantwortet — der Mühe unterzogen hätte, Bildungspläne und Richtlinien zu erarbeiten. Wenn Sie den Text einmal studieren, werden Sie in weiten Passagen ähnliche Anregungen finden, wie wir sie gegeben haben. Dies festzustellen, ist Ihnen nur deshalb unangenehm, weil Sie dann nicht mehr polemisieren können
und die Dinge nicht so vereinfachen können, wie Sie es tun, indem Sie das, was wir mit den Rahmenrichtlinien auf dem Gebiet der inneren Schulreform in Gang setzen wollen, mit der Kurzformel „Marx" abtun. Damit glauben Sie Ihre Pflichtübungen erledigt zu haben.
Sie glauben, sich mit der Thematik inhaltlich nicht auseinandersetzen zu müssen. Zu dieser Auseinandersetzung werden Sie aber gezwungen sein.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pfeffermann?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Jawohl.
Herr Ministerpräsident, wenn Sie es schon für sehr geschmackvoll halten, nachdem Sie Mitte des vergangenen Jahres Gespräche mit den katholischen Bischöfen über die Kulturpolitik des Landes Hessen geführt haben, heute auf die Konfessionsschule zu sprechen zu kommen — —;
wenn Sie es also für richtig erachten, dann, wenn Sie über Kulturpolitik sprechen, auf das Jahr 1948 statt auf die Situation im Jahre 1974 zu sprechen zu kommen, muß ich Sie fragen: Hielten Sie es nicht vielleicht für besser, dann, wenn Sie auf das Schulkonzept Hessens und vielleicht auch auf die Modernität dieses Schulsystems zu sprechen kommen, hier eventuell auch etwas über die Gesamtschule zu sagen, weil dies über das Schulsystem mehr aussagt — —
Herr Kollege, seien Sie mir nicht böse, Sie kommen mit Ihrer Frage nicht zu Ende. Sie kennen doch die Geschäftsordnung. Herr Kollege, jetzt kommen Sie bitte zu einer klaren und präzisen Frage, wie sie die Geschäftsordnung verlangt.
Dann frage ich anders.
Herr Präsident, ich möchte Ihre Geduld nicht mißbrauchen. Lassen Sie es mich anders formulieren. Herr Ministerpräsident, hielten Sie es nicht für gut, statt auf das Jahr 1948 abzulenken, auf die schulische Situation des Jahres 1974 in Hessen zu sprechen zu kommen und den ernsthaften Versuch zu unternehmen, sich mit dem Anliegen auseinanderzusetzen, das der Kollege Dregger heute morgen hier vorgetragen hat?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Hessen war schon immer — von Beginn an — ein sozial fortschrittliches Land. Wir konnten mit den Bischöfen zu einer Zeit, als die CDU noch für die Konfessionsschule kämpfte, Übereinstimmung darüber erreichen, die Konfessionsschule in Hessen nicht zu etablieren. Stellen Sie sich dies einmal vor! Dies wirkt bis heute in diesen guten Beziehungen fort.
Das ist eine Position, die sich durchaus sehen lassen kann. Ich bedaure, daß Sie die Bischöfe beschimpfen, daß sie sich damals nicht anders verhalten haben. Dies tut mir in diesem Zusammenhang sehr leid.
Nun zu Ihrer Frage betreffend die Gesamtschule bzw. das, was bei uns in Hessen bildungspolitisch in der Diskussion ist. Bei uns befindet sich die Gesamtschule nicht mehr im Stadium des Experiments oder des Versuchs, sondern im Stadium der praktischen Erprobung. Wir stellen fest, daß die Ergebnisse, die in der Schulpraxis zu verzeichnen sind, sich sehen lassen können. Sie stellen sicher, daß das, was wir wollen, erreicht wird, nämlich daß mehr Arbeiter-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5083
Ministerpräsident Osswaldkinder als seither mit einer qualifizierten Bildung ausgestattet werden.
Dies erreichen wir mit unserem bildungspolitischen Konzept in unserem Lande in einem hohen Maße. Deshalb haben wir ja den Konflikt mit der CDU; sie will nicht, daß die Menschen zu klug werden.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Bitte schön!
Herr Ministerpräsident Osswald, wären Sie bereit, dem Hohen Hause, das die hessische Verfassung nicht so genau kennt, wie Sie sie kennen sollten, mitzuteilen, daß in Art. 56 der hessischen Verfassung die Schule zur Staatssache gemacht wird und die Form der Gemeinschaftsschule statuiert wird, daß Art. 156 der hessischen Verfassung die Möglichkeit einräumt, im Wege der Wiedergutmachung eine Konfessionsschule dort, wo sie von den Nazis aufgelöst worden ist, wieder zu errichten? Wären Sie weiterhin bereit, hier mitzuteilen, daß seit dem Zeitpunkt, zu dem sowohl die SPD als auch die CDU die hessische Verfassung angenommen haben, von der CDU kein einziger Antrag auf Errichtung einer Konfessionsschule gestellt wurde?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Herr Abgeordneter, Sie haben richtig formuliert: kein Antrag gestellt wurde. Aber in der öffentlichen Diskussion wurde es durch verschiedene Vertreter gefordert. Das ist eine kleine Differenz.
Dies war die Tatsache. Ich will den alten Herrn Cuno Raabe, den Amtsvorgänger von Herrn Dregger, in diesem Zusammenhang nicht noch besonders erwähnen.Aber wir wollen noch ein bißchen länger bei diesen Rahmenrichtlinien bleiben. Das scheint doch das richtige Reizthema für Sie zu sein.
Anscheinend ist es noch nicht so richtig griffig, wie Sie es gern hätten.Nun, meine Damen und Herren, ich darf Ihnen vielleicht einmal vortragen, was wir in Hessen im Hinblick auf die Rahmenrichtlinien tun. Nur hätte ich an Sie die Bitte, dies dann auch zur Kenntnis zu nehmen und diesen Bundestag nicht immer wieder mit Fragen zu belästigen, die hier nicht zu entscheiden und im sachlichen Inhalt wahrscheinlich gar nicht zu diskutieren sind.
Wir sind in unserem Land zur Zeit dabei, Bildungspläne zu erproben. Ich möchte hier betonen, daß diese Bildungspläne nicht in Kraft gesetzt sind. Sie werden in einem offenen Prozeß der Dikussion mit der interessierten Öffentlichkeit erörtert und darüber hinaus in der Schule erprobt.
— Es ist eine ganze Anzahl von Schulen. Sie ändert sich von Tag zu Tag. Sind es Ihnen zuwenig? Wir werden dafür sorgen, daß wir noch ein paar dazubekommen.
Die Pläne werden also erprobt. Aber Sie tun hier ständig so, als ob sie in Hessen ohne Mitbeteiligung der Eltern durch Verordnung in Kraft gesetzt worden wären. Ständig tun Sie so! Das ist nicht der Fall; nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis!Außerdem ist in der 'hessischen Verfassung das Elternrecht wie in keiner anderen Verfassung der Bundesländer so deutlich festgelegt, daß in allen Phasen der Entwicklung zur endgültigen Gestaltung dieser Rahmenrichtlinien der hessische Landeselternbeirat, die jeweiligen Elternbeiräte in den Schulen und die gesamte Lehrerschaft sowie die Öffentlichkeit durch die Diskussionen, die ich in Gang gesetzt 'habe, in diesen Prozeß der Meinungsfindung zur Verbesserung der inhaltlichen Gestaltung dieser Rahmenrichtlinien einbezogen werden. Nun frage ich Sie, meine Damen und Herren: Wo gibt es ein demokratischeres Verfahren als dieses, an dem alle Gruppen beteiligt sind? Wo gibt es das?
Ich wundere mich sehr darüber, daß dies ein solches Reizwort für Sie ist. Aber die CDU in unserem Land hat sich, wie dies leider — ich betone: leider — in der Bildungspolitik so oft der Fall war, durch ihre eigene Entscheidung erneut ins Abseits gestellt.
Sie war gar nicht bereit, inhaltlich mitzudiskutieren, sondern setzte an 'den Beginn 'der Diskussion 'die Forderung: Das muß vom Tisch! Sie forderte das, ohne über die Zielsetzung dessen, was andere Länder, auch CDU-regierte Länder, mit diesen Rahmenrichtlinien als inneres Schulreformprogramm beabsichtigten, auch nur einmal mit sich reden zu lassen. Aber, meine Damen und Herren, wenn Sie die hessischen Verhältnisse kennen, wissen Sie, daß wir diesen Zustand in unserem Land schon öfter gehabt haben, wobei wir hinterher 'feststellten, daß sich die CDU beeilen mußte, noch auf den fahrenden Zug zu springen. Sie ist dann ganz hinten drauf gewesen. Dann ist sie nach vorn gerannt und wollte zur Lokomotive; wenn ein Bahnhof kam, wollte sie ihre Fahne heraushängen.
Das war die Situation, wie sie sich immer bei unseren schulpolitischen Auseinandersetzungen ergeben hat.
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5084 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Ministerpräsident OsswaldÜber die schulpraktische Anwendung der Richtlinien während des laufenden Erprobungsverfahrens entscheiden die Lehrer und Schulen frei nach Beteiligung der Elternvertretungen. Sie sollten das hier bitte einmal zur Kenntnis nehmen! Vielleicht hilft dies mit, daß wir uns möglicherweise doch über die Grundübereinstimmung, die ich in den Fragen der bildungspolitischen Reform, soweit es die Bildungsinhalte angeht, für notwendig halte, noch verständigen. können.Es müßte auch in diesem Hause und unter den demokratischen Parteien unstrittig sein, daß die alten Bildungspläne aus den 50er Jahren abgelöst werden müssen. Sie sind noch einem starren Fächerkanon verhaftet und auf das traditionelle dreigliedrige Schulsystem festgelegt. Meine Damen und Herren, dort ist doch der eigentliche Konfliktpunkt! Sie haben in Ihrem schulpolitischen Konzept noch nicht von diesem Schulsystem Abschied genommen, das nicht mehr in die moderne Landschaft der Zukunft paßt.
Das ist doch die Situation, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, und nicht die Fragen, die Sie am Rande aufwerfen und dabei Marx falsch zitieren die meisten, die ihn zitieren, haben ihn nämlich nicht gelesen. - ,
oder die Rahmenrichtlinien, die Sie zitieren; die meisten haben auch diese nicht gelesen. Dann werden Sie hier in diesem Bundestag bedauerlicherweise aus Ihren eigenen Reihen mit einem solchen Thema befaßt, weil Sie glauben, hier politisch anheizen zu können für den Wahlkampf in Hessen, wo man sich zunächst von der Sache her mit den Dingen vertraut gemacht haben muß, ehe man im einzelnen in diese Sache hineingehen kann.
— Darf ich Ihnen einmal etwas sagen, Herr Carstens. Wir sind in Hessen sogar so weit gegangen, daß wir die beiden Herren — und darin wollen Sie bitte auch die tolerante Haltung dieser meiner Regierung sehen zu den öffentlichen Diskussionsforen einladen und sie ans Podium setzen, damit sie dem Volk ihre Meinung kundtun können. Das haben wir getan.
Herr Nipperdey ist in unserem Lande dazu aufgefordert worden, und die Herren haben mit dabeigesessen. Verlangen Sie denn noch mehr, Herr Carstens? Ich lade auch Sie ein, wenn Sie um die Rahmenrichtlinien in Hessen mitstreiten wollen. Herzlich willkommen in unserem Lande, herzlich willkommen!
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Bitte schön!
Herr Ministerpräsident, würden Sie das Urteil, das Sie vorhin über die Abgeordneten pauschal gefällt haben, sie hätten sich nicht ausreichend mit den Rahmenrichtlinien beschäftigt, wie die Diskussionen gerade hier gezeigt hätten, auch über die Professoren — Sie haben einen genannt — Nipperdey und Lübbe fällen, die Ihrer Partei angehören und die diese Richtlinien aufs schärfste verurteilt haben?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Sie haben mir im Augenblick wieder nicht richtig zugehört.
Ich habe gesagt: Beide Herren sind von mir eingeladen gewesen. Einer der Herren hat an den öffentlichen Podiumsdiskussionen teilgenommen, um über diese Inhalte zu diskutieren. Die Sache ist doch noch nicht fertig. Sie ist in der Diskussion. Sie behaupten, sie sei fertig. Ich sage, das ist ein Prozeß der Meinungsfindung zum besten Modell, und darum streiten wir. Wenn Sie sagen, sie seien fertig, dann kommen Sie doch nach Hessen! Wir können das vertreten. Ich kann Ihnen sagen: sie sind nicht fertig.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Luda?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Bitte; den habe ich noch gut in Erinnerung aus der Zeit, als ich schon mal im Bundestag war.
Ich frage Sie: Wie verträgt sich das, was Sie eben gesagt haben, mit der Tatsache, daß es den in Hessen herrschenden Kräften im Landtagswahlkampf 1970 gelungen war, zu verhindern, daß Herr Dregger im dortigen Fernsehen im Wahlkampf wesentlich auftreten konnte?Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Ich werde diese Ihre Frage an die ARD und an das ZDF weitergeben und werde Ihnen dann eine schriftliche Antwort erteilen; denn etwas anderes kann ich Ihnen dazu wirklich nicht sagen.
Ich bin weder im Rundfunkrat noch habe ich irgendeinen Einfluß darauf. Aber ich will gern die Gremien befragen, damit ich Ihnen eine Antwort auf diese Frage zuteil werden lassen kann.Meine Damen und Herren, hier war häufig von Systemveränderern, von Radikalen und von Verfassungsfeinden die Rede, die es von Schulen, Hochschulen und Behörden fernzuhalten gelte. Ich frage mich immer wieder: Welchen Sinn 'haben solche sterilen Bekenntnisdebatten, die dauernd zur Wie-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5085
Ministerpräsident Osswaldderholung ,des gesetzlichen Grundsatzes nötigen, daß die Angehörigen des öffentlichen Dienstes zur aktiven Verfassungstreue verpflichtet sind?Hier lassen Sie mich bitte eines einfügen, was Herr Filbinger vorhin gegenüber dem Innenminister nach meiner Auffassung nicht korrekt dargelegt hat. In dem Gespräch bei dem Herrn Bundeskanzler im Beisein des Bundesinnenministers, als der Kollege Filbinger noch Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz war, gab es jene Übereinstimmung mit dem Kanzler über die inhaltliche Gestaltung dieses Gesetzes, ,das er hier heute monierte. Die Forderung von Herrn Filbinger an Herrn Genscher war aber: Bevor dieses Gesetz von der Bundesregierung vorgelegt wird, sollte es mit den Ministerpräsidenten erörtert werden.
Das war die Forderung von Herrn Filbinger in diesem Gespräch. Ich habe mich gewundert, wie er dies vergessen haben konnte. Denn die Mehrzahl der Ministerpräsidenten war dabei. Die Bundesregierung würde nicht sachgemäß handeln, wenn sie ihren Entwurf, bevor sie ihn endgültig verabschiedet, nicht vorher sowohl in der Innenministerkonferenz der Länder als auch mit den Ministerpräsidenten erörtern läßt. Dies war nicht korrekt, entspricht nicht den Tatsachen. Deshalb fühle ich mich veranlaßt, das hier richtigzustellen.Nun, da wir dies wissen, bin ich doch der Meinung, daß in dieser Debatte etwas mehr Selbstsicherheit und mehr demokratische Souveränität vonnöten ist.
Ich meine, daß die Fragen nach Verfassung und Gesetz ziemlich klar zu beantworten sind. Etwaige Zweifel mögen durch ein Rahmengesetz des Bundes und notfalls vom Bundesverfassungsgericht behoben werden. In Hessen — und dies sollten Sie auch gegenüber allen Unkenrufen zur Kenntnis nehmen verfahren wir seit über zwei Jahrzehnten hier wurde der Innenminister aus dieser Zeit zitiert unangefochten nach den Gesetzen der freiheitlichen Demokratie, die auch ihren Gegnern nur mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnen darf, wenn sie sich nicht selbst untreu werden will.
Wir lassen uns nicht durch Panikmache von praktischer Politik ablenken und zum Aufbau von Apparaten verführen, in denen Dossiers über die Tiraden von Revolutionsschauspielern gesammelt werden.
Daran haben wir keinen Bedarf.
Wir haben keinen Bedarf an Gesinnungsschnüffelei, aber auch kein Defizit an Staatsgesinnung. Das sollten Sie hier zur Kenntnis nehmen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lenz?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Bitte schön!
Herr Ministerpräsident, wenn Sie seit zwei Jahrzehnten nach diesen Grundsätzen verfahren, wie kommt es dann, daß in der Gegend von Wiesbaden eine Lehrerin unterrichtet, die in Rheinland-Pfalz, durch ein Urteil des Oberlandesgerichts bestätigt, als ungeeignet für den öffentlichen Dienst und für den Lehrberuf bezeichnet worden ist?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Dazu kann ich Ihnen sofort eine ganz klare Antwort geben. Diese Lehrerin ist bei uns auf Grund eines Stundenvertrages mit 14 Wochenstunden beschäftigt, nicht in einem Beamtenverhältnis.
Entschuldigen Sie bitte, und hören Sie jetzt einen Augenblick zu. Das erste Urteil war für die Lehrerin. Dann ist man in die zweite Instanz gegangen; das Urteil war gegen die Lehrerin. Daraufhin habe ich meinem Kultusminister gesagt: Sagen Sie bitte dieser Dame, wenn sie jetzt nicht Revision einlegt und später nicht zum Bundesverfassungsgericht geht, muß sie aus unseren Diensten ausscheiden. Dann haben wir den ersten Fall, in dem wir vielleicht einmal jetzt eine Klärung bekommen, wie wir sie schon lange haben wollen.
Nun eine Bemerkung von mir. Ich bin nicht so verfahren wie Herr Filbinger, der seinen NPD-Mann gestern schnell noch hinausgesetzt hat, nachdem ihn sein Kultusminister monatelang verteidigt hat.
Der Anteil der Links- und Rechtsextremisten —
— Ich darf jetzt erst meine Gedanken zu Ende bringen. — Zu diesem Vorgang, bitte, gern!
Bitte schön, Herr Abgeordneter Dr. Lenz!
Herr Ministerpräsident, würden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es richtig ist, auch im öffentlichen Dienst einen Fehler, den man begangen hat, unverzüglich zu korrigieren und nicht erst einen Prozeß zu führen, obwohl man genau weiß, daß bereits ein Oberlandesgericht anders entschieden hat und die Anstellung der Lehrerin ja auch bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hätte vertagt werden können?
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5086 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen:Augenblick bitte! Wir können den Fall doch sachgemäß klären, damit er nicht wieder irrtümlich aufgerollt wird. Diese Lehrerin war vorher nicht bei uns beschäftigt — das wissen Sie , und zwar bereits zu einer Zeit, in der diese Fragen noch nicht so hochgespielt waren wie heute; also Jahre, bevor Entscheidungen der Ministerpräsidenten untereinander und in Absprachen mit dem Bundeskanzler diese Frage unter den Gesichtspunkt stellten, wie wir ihn in Übereinstimmung mit dem Bundeskanzler festgelegt haben.Daher resultiert der Vertrag von 14 Wochenstunden. Da gab es den ersten Prozeß, den sie gewonnen hat. Ich stehe ganz klar zu der Position, die ich hier vertrete: Wenn das Bundesverfassungsgericht gegen diese Lehrerin entscheidet, wird sie von mir entlassen. Das ist ein ganz klarer Standpunkt. Aber solange das nicht geschehen ist, solange nicht ein Gericht in letzter Instanz ein Urteil gefällt hat, sollten Sie nach den Rechtsstaatsprinzipien, die Sie heute nach der Verfassung vertreten sehen wollen, auch jedem sein Recht zugestehen.
Nun, der Anteil an Links- und Rechtsextremisten im öffentlichen Dienst Hessens ist nach Promille zu berechnen und führt in unserem Lande nur die Opposition zu Rauschzuständen, sonst niemanden.
Ich frage mich, wodurch unsere Verfassung mehr gefährdet wird, Herr Dregger — diese Frage richte ich ernsthaft an Sie, weil ich viele Reden von Ihnen aus unserem Landtag kenne; neben Ihnen sitzt ja der Kollege Wallmann, der in diesen Fragen damals gegenüber Herrn Zinn auch gewisse Äußerungen gemacht hatte —: durch die winzige Gruppe radikaler Lehrer, die z. B. — das will ich nur als Beispiel nennen — in Frankreich niemanden um den Schlaf brächten, oder durch die Anmaßung einer Partei, die über die Verfassungstreue anderer Parteien richten möchte. Das möchte ich Sie einmal fragen.
Ich verstehe durchaus, daß die Opposition Aufwind verspürt, wenn radikale Studentenkader die geistige Liberalität unserer Universitäten zynisch ausbeuten.
— Lesen Sie es. Das müssen Sie gelegentlich auch tun.
Ich mache nicht das, was andere tun würden. Vielleicht kann ich Ihnen eine kurze Abhandlung über das geben, was ich getan habe und was wir in Frankfurt dabei an Ergebnissen zu sehen haben.Hierbei geht es nicht um spefizische Probleme des hessischen Hochschulrechts. Das ist hier heute angeklungen. Das Problem der Universitäten ist in seiner Dimension und in seinem Inhalt ein umfassendes Problem, das alle oder die Mehrheit der Universitäten, die ganze Bundesrepublik, d. h. auch die verschiedenen Bundesländer, betrifft. Ich habe mich über Herrn Filbinger gewundert, der immer Heidelberg zitierte und dann meinte, in Hessen sei es schlecht. Das war eben das Komische bei ihm. Ich weiß nicht, wo er das im einzelnen hergenommen hat.
Ich würde auch der Opposition angeraten sein lassen, ihre politischen Freunde aus den Ländern nach ihrer Haltung, die sie noch vor wenigen Jahren im Hinblick auf ein Ordnungsrecht hatten, selbst noch einmal zu befragen. Denn es waren auch namhafte politische Vertreter aus Ihrem Bereich, die in dieser Frage sehr zurückhaltend waren und die hier das Entstehen einer Rechtsebene sahen, die nicht unter Kontrolle wäre.Außerdem warne ich vor der Illusion zu glauben, mit einem Ordnungsrecht die Probleme in den Universitäten regeln zu können. Ich warne vor dieser Illusion!
Diese Probleme sind viel tiefgreifender.
— Sie sehen, vorhin haben Sie noch von mir ge-. wünscht, daß ich etwas dazu sage. Jetzt wollen Sie es für Herrn Dohnanyi haben.
Ich halte nichts davon, wenn die Opposition glaubt, daß sie diese Probleme nur mit dem Ordnungsrecht regeln könnte. Hier sind wir alle, auch die CDU, als Demokraten gefordert, aber nicht im Sinne von Demonstrationen, sondern im Sinne einer echten politischen Mithilfe für alle Gruppen in den Universitäten zur Regelung ihrer eigenen Probleme.
Hier ist ein gemeinsamer Auftrag. Entweder gelingt es uns, diese gemeinsame Aufgabe zu lösen, oder wir werden immer wieder Situationen finden, wie sie sich ja doch nicht erst in der jetzigen Regierungsepoche oder in den letzten Wochen in Frankfurt gezeigt haben. Ich erinnere an die Zeiten der außerparlamentarischen Opposition — dies fällt doch noch in die Phase Ihrer Verantwortung für die Bundespolitik —, als die Jugend in der damaligen Zeit rebellierte und Sie ihr in dieser Phase nichts anbieten konnten. Nichts konnten Sie ihr anbieten!
Das sind doch Positionen, die Sie nicht vergessen sollten, wenn Sie in Ruhe einmal darüber nachdenken, wie wir vielleicht gemeinsam Lösungen finden können.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5087
Ministerpräsident Osswald— Ich möchte Ihnen dies hier nur mit auf den Weg geben. Wir reden über die Verfassung, und da gibt es gemeinsame Verpflichtungen für Demokraten. Ich glaube, daß wir doch noch jene Grundübereinstimmung haben können. Wenn das nicht mehr geht, dann machen wir nur noch in Konflikt, wie Herr Dregger das heute morgen andeutete.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Ministerpräsident, ist Ihnen die Umfrage Ihrer Partei aus dem Monat Mai 1973 bekannt, aus der klipp und klar hervorgeht, daß der Wunsch nach Orientierung, nach Inhalten noch nie so groß war wie im Jahre 1973 und folglich auch heute?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Forschen wir nach den Ursachen. Dies ist ja eigentlich der Konflikt, der heute hier auszutragen wäre, nämlich die Frage nach den Ursachen. Könnte es nicht sein, daß sich durch nicht zeitig genug in Gang gesetzte Reformen in unserer gesellschaftlichen Entwicklung ein Stau gebildet hat, der uns letzten Endes in die Situation geführt hat, für die Sie uns heute mit leichter Hand verantwortlich machen wollen?
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine zweite Frage des Herrn Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Bitte!
Ich bin dankbar für diese Auseinandersetzung. Aus dieser Umfrage geht ebenfalls hervor,
daß die Mehrheit der Jugend ja sagt zu diesem Staat und im Vordergrund aller Zukunftsüberlegungen ein glückliches Familienleben steht.
— Das können Sie Ihrer Umfrage entnehmen. Sind Sie nicht der Meinung, daß diese Bundesregierung gerade vor der Familie versagt hat?
Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Da kann ich Ihnen wieder eine wunderbare Antwort geben: Ich habe ein glückliches Familienleben, und ich wünsche nur, daß alle anderen es auch haben!
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?Osswald, Ministerpräsident des Landes Hessen: Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt doch erst einige Gedanken zu Ende bringen — ich sehe, der Saal füllt sich allmählich —; sonst nehme ich hier eine Redezeit in Anspruch, für die ich mich bei diesem Hohen Hause und bei allen, die sich noch in diesem Hause befinden, entschuldigen muß.
Wenn Sie mich so viel fragen, komme ich nicht zu meinen Texten. Darf ich erst einmal ein bißchen aus meiner Rede vortragen? — Sehr schön!
Es ist doch klar, daß Lehre und Forschung nur in einer Atmosphäre der Freiheit und der Toleranz gedeihen können. Wer die Richtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse Mehrheitsabstimmungen unterwerfen will, hat ein falsches Wissenschaftsverständnis, und wer die freie Lehre und Forschung durch permanenten Gruppenkampf stört, verwirkt nach meiner Auffassung das Bürgerrecht auf akademische Bildung. Dies habe ich deutlich gemacht, und dies müssen wir auch ganz klar sehen.Wir haben vor kurzem diesen Konflikt an der Universität Frankfurt am Main nach meiner Auffassung mit angemessenen Mitteln, mit Überzeugung und offensiver Diskussion beilegen können. Der Vorlesungsboykott ist gescheitert, die Störer sind nach meiner Auffassung politisch isoliert. Aber ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß in dem nächsten Semester nicht wieder gleiche oder andersartige Probleme in dieser Art auftreten könnten. Die Masse der lernwilligen Studenten aber hat diesen Gruppen — und das sehe ich bei unserem Vorgehen in der Frankfurter Universität als entscheidend an — die Solidarität verweigert. Und darum muß es uns doch gehen, daß sie sich nicht mit den Anarchisten solidarisieren.
Ich nehme an, das ist doch auch Ihr Anliegen in der Sache. Wir leisten in unserem Lande den im Interesse von Forschung und Lehre notwendigen Freiheitsschutz, aber ohne Anleihe bei reaktionärer Konfliktstrategie.Meine Damen und Herren, Sie werden bald vor dieser Frage stehen, und Sie können Ihren Beitrag leisten, indem Sie das Hochschulrechtsrahmengesetz, dessen Förderung ich Ihnen sehr anempfehlen möchte, beschleunigt verabschieden, auch mit den Stimmen der CDU.
Dann haben Sie einen bewußten, sachbezogenen Beitrag geleistet, und wir können dann gemeinsam die Probleme sicher noch besser lösen.Nun aber zu einigen anderen Fragen, die hier angesprochen worden sind, und wo ich Risiken sehe, die aus der Debatte — Staatsverständnis Dr. Dregger, der ja seine eigene Perspektive hat, und das, was uns als Demokraten eigentlich noch gemeinsam
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5088 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Ministerpräsident Osswaldverbinden sollte — entstehen. Ich warne vor diesen vereinfachten Formeln, Herr Dr. Dregger, die Sie uns hier angeboten haben im Sinne eines FreundFeind-Verhältnisses.
Die Verfassungswirklichkeit und der Alltag sind differenzierter, als daß sie nur mit dem Lösungsmittel der Ruhe — und sei es Friedhofsruhe geregelt werden könnten.
Sie sind viel komplizierter und schwieriger in der internen Auseinandersetzung mit den politischen Kräften, auch mit den jungen Menschen in unserem Lande und auch Teilen der Jugend, die Unbehagen empfinden über diese unsere Demokratie und ihre innere Ausstattung.Was ist denn nun geschehen? Als sich diese Koalitionsregierung hier in Bonn auf den Weg begab, die sozialstaatlichen Inhalte unserer Verfassung, jenen Wechsel, den man, als man die Verfassung schuf, den Arbeitnehmern ausgestellt hatte, in die Wirklichkeit umzusetzen durch mehr Mitbestimmung, durch mehr Verfassung, versuchten Sie, diese Entscheidungen an den Rand der Verfassung zu drängen, indem Sie Verfassungsklage oder andere Maßnahmen ankündigten.
Soll dies in der Zukunft der Inhalt der Auseinandersetzungen sein über erforderliche Reformen in unserer Gesellschaft und die sozialstaatlichen Inhalte, die wir dabei für die große Mehrheit unserer Bürger anreichern wollen? Denn diese Aufbauleistung, das, was wir heute in der Freiheit dieses Grundgesetzes feiern, was wir in der Stabilität dieses freien Staates feiern, entspringt der Arbeitsleistung von Millionen Arbeitnehmern, die sich aus diesem Staate nicht hinausdrängen lassen,
sondern die mitten in diesem Staate stehen und das Fundament tragen, auf dem dieser Staat steht. Es ist ein solides Fundament. Und da lassen wir es auch nicht zu — das ist immer ein beliebtes Spiel von Ihnen gewesen , daß Sie einzelne Mitglieder Sozialdemokratischen Partei oder einzelne Gruppen aus den Jungsozialisten herausnehmen und so vergröbern und verallgemeinern, daß Sie die gesamte Sozialdemokratie oder alle Jungsozialisten dabei diffamieren. Das lassen wir nicht zu; seien Sie davon überzeugt.
Hier werden wir uns offensiv, mit einem klaren Konzept - diese Bundesregierung hat es deutlich werden lassen, was Fragen der Vermögensbildung und Mitbestimmung betrifft; sie wird es in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen deutlich machen — mit Ihnen auseinandersetzen, und zwar politisch auseinandersetzen; denn dort sind die Entscheidungen zu treffen. Es wäre schlimm um unsere Verfassung bestellt, wenn man einer der in diesem Parlament vorhandenen demokratischen Parteien - ich schließe dabei alle Abgeordneten ein — auch nurstreitig machen wollte, daß sic auf der Grundlage dieses unseres Verfassungsrechts steht. Das wäre schlimm. Dies müssen wir doch miteinander als Übereinstimmung festhalten. Es muß doch auch Ihr Anliegen sein, daß wir dies festhalten und dadurch diesen unseren Staat durch gemeinsame Anstrengungen in den politischen Entscheidungen, die differenziert sein müssen und sein werden, dann anreichern.Ich bedaure dabei, meine Damen und Herren, daß Sie sich in dieser politischen Auseinandersetzung nicht zu den konservativen Grundsätzen Ihrer Partei bekennen. Ich bedaure das, denn dann wären die Fronten etwas deutlicher. Das ist doch mit das eigentliche Problem, um das es hier geht!
Hier zeigen sich doch auch die Schwierigkeiten, wenn wir aneinander vorbeireden.
Ich warne nur davor, daß Sie solche Utopien als verfassungsrechtliche Wahrheiten ausgeben. Und wissen Sie, da ist auch mit solchen Zwischenrufen nichts getan. Ich habe in dieser Frage eine ganz klare Haltung.
— Die ist nicht polemischer als die von Herrn Dregger.
Sie beschweren sich immer, wenn man Ihnen einmal in gleicher Münze zurückzahlt. Das ist ein komische Sache im politischen Geschäft. Wenn sich dann einmal jemand auch dieser Art und Form der Argumentation bedient, werden Sie auf einmal empfindlich.
Ich frage aber, warum. Sie sollten nicht empfindlich werden, meine Damen und Herren!
Wir sollten uns politisch das sagen, was notwendig ist, aber als Demokraten auch sehen, daß es viele Fragen gibt, wo wir zusammenstehen müssen, um diese unsere freiheitliche Demokratie gemeinsam zu verteidigen — eine ganze Menge Fragen!
Nun, ich glaube, hier müssen wir sehen, daß sich nicht folgendes vollzieht; und dies klang in Ihren Ausführungen, Herr Dr. Dregger, an. Wir fürchten, daß Sie die ganze Struktur unserer Wirtschaftspolitik in die Verfassung einbunkern wollen, um sie dadurch dann unbeweglich werden zu lassen.
Diese Ordnung ist nicht festgeschrieben in unserer Verfassung; das Grundgesetz ist in dieser Frage eine offene Verfassung. Sie haben die Entwicklungen der letzten 20 Jahre im Rahmen dieser offenen Verfassung in Gang gesetzt. Dabei sind wir ein gan-
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Ministerpräsident Osswaldzes Stück weitergekommen. Dies wird Ihnen niemand bestreiten, am allerwenigsten ich. Das, was dabei mit versäumt worden ist, in den sozialstaatlichen, sozialpolitischen und sozialrechtlichen Inhalten jene Anreicherungen zu vollziehen, um das Ganze sich entwickeln zu lassen. Dies ist doch das Problem, über das wir streiten. Und jetzt kommen ein paar Reformen; da sind Sie gleich wieder auf dem Wege, um sie zu bekämpfen.
Das ist die Frage, hier setzen wir uns auseinander, und hier werden wir dann auch aus unserer Sicht unseren politischen Beitrag in der Form leisten, wie ich ihn hier angedeutet habe.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen bitte festhalten, daß das Grundgesetz kein Totalkonzept für die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung enthält. Es hat die Lösung sozialer Konflikte nicht vorprogrammiert. Wohl hat die Verfassung durch ihre Grundentscheidung für den demokratischen Sozialstaat dem Gesetzgeber das Mandat zur sozialen Evolution erteilt; dabei bindet sie als geltungsstärkste Norm jede Umsetzung politischer Programme. Sie sichert grundrechtliche Freiräume, trifft Wertentscheidungen, bestimmt die Regeln der politischen Auseinandersetzung und bindet die Rechtsetzung an übergreifende Prinzipien des Rechtsstaates und einer chancengleichen Verteilungsgerechtigkeit. Zugleich aber läßt sie dem Gesetzgeber einen Raum eigener Gestaltungsfreiheit, in dem nur die Ideen zählen, die der Wähler honoriert. Ein Raum bleibt offen, in dem die Parlamente — zwar in Bindung an die Grundrechte, aber doch in großer Freiheit — neue staatliche Ziele festlegen und die überkommenen Strukturen so verändern können, daß die demokratische Gesellschaft auch für die kommende Generation eine lebenswerte Ordnung ist.Und darum bemühen wir uns in unserem politischen Kampf. Dazu sind aber Antworten auf Fragen zu finden, die die Arbeitswelt betreffen,
auf Fragen, die die Umwelt betreffen, auf Fragen, die die Bildungsreform und Bildungsgerechtigkeit, das Bürgerrecht auf Bildung, das Recht auf humane Stadtplanung, auf eine Ausrichtung der Produktion auf die Grenzen des Wachstums betreffen — ein Problem, auf das uns nach meiner Auffassung die Energiekrise viel früher gebracht hat, als es uns sonst bewußt geworden wäre. Solche Fragen hat der demokratische Gesetzgeber im Interesse einer besseren Lebensqualität für die Mehrheit der Bürger im Konflikt mit Gruppeninteressen zu entscheiden.Für diese Konfliktentscheidung hält die Verfassung kein Arsenal fertiger Handlungsweisungen parat, sondern überwiegend nur grundrechtliche Schutzmarken der menschlichen Eigensphäre. Meine Damen und Herren von der Opposition, verengen wir den politischen Diskussionshorizont nicht auf die einfache Freund-Feind-Formel:
Wer ist für oder wer ist gegen die Verfassung!
Das wird nicht gelingen. Sie verletzen damit nach meiner Auffassung das Lebensgesetz der Demokratie: daß nämlich die demokratische Verfassung die rechtliche Grundordnung für das politische Wirken aller Parteien ist, die dieses Grundgesetz zuläßt.Dieses Grundgesetz gründet sich auf die Konkurrenz einer Vielzahl politischer Gruppen, denen in einem System politischer Toleranz und geistiger Offenheit die gleichberechtigte Chance politischer Betätigung verbürgt sein soll. Das Freiheitssystem ist rechtlich durch nichts als die Verfassung selbst beschränkt und in der täglichen Praxis nur durch die Einsicht begrenzt, daß Freiheit vornehmlich die Freiheit des Andersdenkenden ist. Und denken Sie, meine Damen und Herren, dabei immer an eines: Das Grundgesetz ist kein Paternoster, mit dem sich die CDU/CSU in den Alleinbesitz der Staatsmacht zurückbefördern kann.
Das Wort hat der Herr Kultusminister Maier .Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keine Angst, ich will den homerischen Streit der deutschen Stämme und Länder nicht fortsetzen. Ich möchte die Debatte auch nicht allzusehr auf die Bundesrats-Bank verlagern und dem baden-württembergisch-hessischen Schlagabtausch einen hessischbayerischen nachschicken. Aber einige „Fragen eines lesenden Arbeiters" zu dem hier skizzierten Bild des fortschrittlichen Hessen drängen sich doch auf.
Erste Frage zu den Richtlinien: Wenn sie so schön sind, die Richtlinien, und so unumstritten, warum, Herr Kollege Osswald, haben Sie sie dann kurz vor dem Hessen-Forum mindestens im ersten Entwurf — zurückgezogen?
Zweite Frage: Wenn die Eltern so stark beteiligt waren, warum hat dann der Landeselternbeirat mehrfach gegen die Rahmenrichtlinien Stellung genommen und eben jenes Gutachten bei den SPD-Kollegen Nipperdey und Lübbe in Auftrag gegeben, das zu dem Ergebnis kommt, wesentliche Teile der Rahmenrichtlinien des ersten Entwurfs seien verfassungswidrig?
Dritte Frage eines lesenden oder eines mithörenden Arbeiters: Wenn nur alte Inhalte neu gestaltet worden sind, wie erklären Sie sich dann das Urteil von Golo Mann — ich zitiere ihn mit Erlaubnis der Frau Präsidentin --:
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5090 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Landesminister Dr. MaierDie Verfasser sagen, die Geschichte erhalte in den hessischen Rahmenrichtlinien einen neuen Stellenwert. Den erhält sie: im Mülleimer.Das ist Golo Mann.
— Das ist ein Zitat von Golo Mann. Es war nicht von mir. Zu den hessischen Rahmenrichtlinien ist ihm wahrscheinlich nichts Besseres eingefallen.
Vierte Frage: Wenn sich die Gesamtschule in Hessen so bewährt hat, warum kommt dann die schärfste Kritik an den augenblicklichen Gesamtschulversuchen gerade aus dem Kollegium der Ernst-Reuter-Schule in Frankfurt? Das wird ja unter Pädagogen bundesweit diskutiert.Fünfte Frage: Wenn Hessen in der Schul- und Hochschulpolitik immer voran war, wie erklären Sie dann den merkwürdigen Sachverhalt, daß Hessen bis heute keine neue Hochschule gegründet hat? Denn die Gesamthochschule Kassel ist nur eine Erweiterung schon bestehender Hochschulen. Wie erklären Sie sich, daß CDU- und CSU-Kultusminister, Mikat in Nordrhein-Westfalen, Hahn in Baden-Württemberg, Huber in Bayern, eine große Anzahl neuer Hochschulen gegründet haben, lange bevor Hessen auch nur seinen augenblicklichen Bestand an Studienplätzen aufgestockt hat?
Hessen liegt im Augenblick mit seiner Zahl an Studienplätzen unter dem Durchschnitt der Bundesrepublik. Das läßt sich nachweisen.
Ich sage das nicht aus kleinlicher Kritik. Es gibt viele Punkte, in denen auch CDU-Länder Nachholbedarf haben.
— Selbstverständlich, das habe ich nie bestritten.— Es gibt auch viele Punkte, wo SPD-Länder Nachholbedarf haben. Das sollte in einem föderalistischen System ein edler Wettstreit sein, und man sollte nicht alle Lorbeeren auf ein Haupt und auf ein Land häufen. Im übrigen stimme ich Herrn Osswald sehr zu in der Hochschulpolitik, wenn er kürzlich erklärt hat, er wolle Flagge zeigen. Nur, Herr Kollege Osswald, das sollte nicht die weiße Flagge sein.
Zurück zu dieser Debatte.
Es geht in dieser Debatte nicht darum, irgendeiner Partei die Schelle mangelnder Verfassungsloyalität umzuhängen.
Das wäre ebenso anmaßend wie töricht.
Es geht auch nicht darum, daß eine Partei gegenüber der anderen recht behält. Damit wäre dem notwendigen Konsens der demokratischen Kräfte in diesen Fragen nicht gedient.
Es geht in dieser Debatte, wenn ich sie recht verstanden habe, um drei Dinge, erstens um das gemeinsame Verfassungsverständnis aller demokratischen Parteien — das gemeinsame Verfassungsverständnis! —, zweitens um die Beurteilung dessen, was sich am Rande oder außerhalb dieses Verfassungsverständnisses in den letzten Jahren an Kräften und Bewegungen in diesem Lande entwickelt hat,
und drittens — und das ist das Wichtigste — um ein solidarisches Handeln der demokratischen Parteien gegenüber diesen Kräften.
Dabei liegt der Streit viel weniger in der Theorie als vielmehr in der Praxis. Ich könnte allem zustimmen, was der Verfassungminister des Bundes heute mittag zur Eröffnung der Debatte gesagt hat. Das hätte ein Unionspolitiker sicher nicht besser sagen können.
Die Frage ist gar nicht: Ist dieses oder jenes verfassungsrechtlich oder verfassungspolitisch problematisch? Darüber erzielt man mit SPD-Kollegen rasch Einigkeit, manchmal unter vier Augen rascher als in der Öffentlichkeit.
Sondern die Frage ist: Was tun wir dagegen? Hier fangen die Fragen, die Zweifel und die Bedenklichkeiten an. Diese Debatte hat sie nicht beheben können. Denn ich habe eine Antwort auf die Fragen der Unionsfraktion nicht gehört.
— Nein, gerade von Ihnen, Herr Kollege Schäfer. Ich komme noch darauf zurück.
Zunächst zum Verfassungsverständnis! Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung eines Staates. Sie ist die Ordnung unseres gemeinsamen Zusammenlebens. Sie ist die Spielregel für den Austrag unserer Konflikte. Sie ist auch — darin stimme ich den SPD-Rednern zu — der Grundriß für den Ausbau dieser Demokratie. Sie ist aber vor allem ein gesetztes Maß, das eingehalten werden muß. Sie gilt. Sie darf nicht verletzt werden. Sie muß beachtet werden.Man sage nicht, das sei statisches Denken. Jeder weiß, daß Verfassungen sich entwickeln. Jeder weiß, daß wir heute das Grundgesetz mit anderen Augen sehen, anders interpretieren, andere Akzente setzen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5091
Landesminister Dr. Maierals 1949. Aber in aller Entwicklung, die stets offen ist und die offengehalten werden muß, müssen Grundmaße unverrückt bleiben, die zu beachten der Verfassungsgeber sich selbst verpflichtet hat. Das sind die Menschenrechte, vor allem das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, das ist die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip, die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. So hat das Bundesverfassungsgericht in verbindlicher Auslegung unseres Grundgesetzes die freiheitlich-demokratische Grundordnung umschrieben, und man sollte sich heute daran erinnern, daß diese Abgrenzung vom Verfassungsgericht zuerst nach rechts befestigt worden ist, nämlich im SRP-Urteil von 1952. Ich hoffe, diese freiheitliche Grundordnung ist eine verpflichtende Regel für alle.Es wird nicht bestritten, daß das Grundgesetz breite Zonen der Ausgestaltung und Weiterentwicklung enthält. Ich will nur an die Begriffe Demokratie, Sozialstaat, Leistungsstaat, aber auch Rechtsstaat denken; denn auch 'der Rechtsstaat ist keineswegs abgeschlossen, vollendet. Hier liegt das legitime Kampffeld aller Parteien. Hier geht auch die Auseinandersetzung vor sich, ganz zu Recht, um die Fragen Sozialismus, Demokratie, Mitbestimmung und was man immer hier nennen mag. Aber es wäre verfehlt — ich halbe das ein paarmal in Beiträgen der Regierungsparteien anklingen hören, die Einhaltung geltenden Verfassungsrechts, geltender Verfassungsgrundsätze von 'dem Postulat der sozialen Weiterentwicklung des Grundgesetzes abhängig zu machen. Wenn die Unionsparteien ganz selbstverständlich sich dazu bekennen, daß das Grundgesetz nichts Abgeschlossenes ist, sondern der Weiterentwicklung ebenso fähig wie bedürftig ist, wenn sie ohne weiteres den Satz unterschreiben, daß ein Rechtsstaat ohne soziale Gerechtigkeit heute eine Leerformel ist, etwas Leeres, so sollte auch die SPD einräumen, daß 'die freiheitlich-demokratische Grundordnung in jedem Fall der Diskussion der Parteien entzogen ist
und nicht unter ein Gebot einer sozialen, sozialstaatlichen oder sozialistischen Ausfüllung, gewissermaßen unter einen Ausfüllungsvorbehalt gestellt werden kann.
Ich räume ein: es gibt sicher Politiker, die zu lernen haben, daß eine Verfassung ein offenes System ist und daß man sie weiterentwickeln muß, oder 'die mehr auf diesem Gebiet zu lernen haben. Aber ebenso sollten andere Politiker lernen, daß die Verfassung nicht erst durch ,den Gesetzgeber erfüllt wird, sondern daß sie schon in ihrer Grundordnung, in ihrer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein Bestand ist, der gilt, der zu beachten ist und gegen dessen Verletzung alle Parteien eintreten müssen, ganz unabhängig von ihren — je nachdem — andersgearteten politischen Zielen.Soviel nur zur Einleitung. Ich meine, diese Grundbesinnung und diese Überlegung sind notwendig; denn wir stehen gemeinsam vor den gleichen Aufgaben, die ich jetzt kurz darstellen will.Zweifellos haben sich in den letzten Jahren Kräfte entwickelt, die über den lange Zeit unbestrittenen Grundkonsens unserer Verfassung hinausdrängen. Es ist ja nur ein kleines Symptom, wenn in einer gestern erschienenen Infas-Umfrage unter Gymnasiasten und Studenten bekannt wird, daß sich 10 % für eine Revolution aussprechen, daß nur wenige am Bestehenden Vergnügen finden. Man sollte das weder unterschätzen noch überschätzen. Es ist das gute Recht junger Menschen, sich nicht mit dem Bestehenden zu begnügen. Hier liegt nicht das eigentliche Problem. Es ist auch klar, daß diese Jugend, die keine Erfahrung mehr mit dem Dritten Reich gehabt hat, die auch keine Erfahrung mit kommunistischen Diktaturen hat, nicht den gleichen Zugang zur Verfassung und zu der Erfahrungsgrundlage dieser Verfassung hat wie die mittlere und ältere Generation.Vizepräsident 'Frau Funcke: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Bitte schön!
Herr Minister, können Sie mir bei der Auswertung dieser Umfrage zustimmen, wenn ich sage, daß dies ein ungewöhnlich günstiges Ergebnis ist, wenn es heißt, ,daß nur 10 % ihre politischen Vorstellungen nicht im Rahmen der Verfassung verwirklichen wollen, verglichen mit der Verhaltensweise aller hier anwesenden Abgeordneten zu dem Zeitpunkt, als sie 18 Jahre alt waren?Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Ich habe schon gesagt, daß ich die Ergebnisse solcher Studien nicht überbewerte, zumal es heute einem gewissen modischen Trend entspricht, für Veränderung, auch für Revolution zu sein.Aber hier scheint mir nicht ,das Problem zu liegen. Wir müssen auch betonen: nicht die Jugend allein hat die Verantwortung für diese Entwicklung. Oft ist die Saat des radikalen Zweifels an überlieferten Werten schon in der Famile gesät worden, von Eltern, die angesichts der rapiden Veränderungen in ihrer Umwelt immer weniger in der Lage waren, ihren Kindern erzieherische Werte mitzugeben. Was als Aufstand gegen alle Autorität erscheint, ist oft nur eine Reaktion auf verweigerte Autorität, vorenthaltenen Widerstand, auf ein Fehlen von Vorbildern der Lebensgestaltung, und hier sind wir alle mitverantwortlich. Die Folge ist jenes große Mißtrauen, das heute jeder Erzieher, aber auch jeder Politiker zu spüren bekommt, der mit der Jugend zu tun hat.Eines aber möchte ich sagen: Je mehr Erwachsene, je mehr Politiker, je mehr demokratische Parteien darauf relativistisch oder „jugendverstehend"-lau reagieren, desto stärker wird die Empfänglichkeit
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5092 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974
Landesminister Dr. Maierder jungen Generation für absolute und totale Lösungen und für die Revolution sein, desto stärker wird der Wunsch sein, wenn nicht geliebt, so doch wenigstens bekämpft zu werden.
Die Unsicherheit der älteren Generation und der abstrakte Moralismus der Jüngeren bieten eine Chance für Verführer, die sich im Besitz von Totalerklärungen für alle Lebensprobleme und Lebensrätsel wähnen. Hieraus erklärt sich wenigstens zum Teil die Anziehungskraft des Neomarxismus und seiner verschiedenen Organisationen auf die junge Generation. Genau hier ist der Punkt, wo Verwaltung und Gesetzgebung, wo wir alle, meine Damen und Herren, ein waches Gespür für die Folgewirkungen geistiger Bewegungen in der Tiefe der Gesellschaft entwickeln müssen,
wo wir versuchen müssen, zerstörerischen Radikalismus abzuwehren, ohne die Fragen der jungen Generation zu verdrängen, wo wir Grenzen ziehen müssen, um die Freiheit und Pluralität der Wissenschaft gegen ideologische Zwangsmuster, gegen Schulungskurse zu sichern, seien sie nun durch Richtlinien oder durch Studienordnungen eines sozialistischen Studiums abgesichert. Das ist eine gemeinsame Aufgabe aller Parteien; denn wir finden die gleiche Lage und die gleiche Psychologie der jungen Generation überall, in allen Ländern und in allen Parteien, vor.Aber ohne Frage — das sei keine Kritik — leidet die SPD unter dieser Entwicklung im Augenblick besonders stark. Ich darf es, um jede Mißdeutung abzuwehren, mit den Worten eines der Ihren sagen. Bruno Friedrich hat davon gesprochen, ,daß die SPD in gewissem Sinne den Preis ihres Sieges von 1972 zahlen müsse, und zwar durch den Zustrom vieler Mitglieder, die — ich zitiere —nach ihrem Herkommen und ihrem Denken wenig von dem wissen, was die Sozialdemokratie bisher geprägt hat. Es gibt Großstädte, vor allem Universitätsstädte, in denen die SPD in zwei Jahren mehr als ein Drittel der Mitglieder neu hinzugewonnen hat, und es gibt Mitgliederversammlungen, in denen mehr als die Hälfte der Anwesenden neue Mitglieder sind.Er sagt im gleichen Artikel in der „Zeit" vom 6. April 1973 — ich zitiere wiederum —:Es wäre untunlich, hier zu verschweigen oder zu kaschieren, daß, von den Hochschulen kommend, ein den Reformsozialismus ablehnender, weltanschaulich formulierter Marxismus in der SPD Boden gewinnen will.Ich glaube, in der Schärfe hat es kein Debattenredner der Unionsparteien gesagt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Ich möchte das Zitat noch zu Ende führen; dann gern!
Ich zitiere weiter:
Das von den Hochschulen kommende wachsende Potential der Kommunisten und die von der Studentenselbstverwaltung zur politischen Aktionseinheit durchschlagende Studentensolidarität wird die SPD zwingen, stärker als bisher auf eine klare Abgrenzung zum Kommunismus zu achten.
Anderes würde ich auch nicht sagen. Anderes hat, wenn ich ihn recht verstanden habe, auch Herr Dregger nicht gesagt.
Das, meine Damen und Herren von der SPD, sind die Fragen, die wir an Sie haben. Wie gesagt, ich sehe noch nicht, daß sie befriedigend beantwortet worden wären.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glotz?
Herr Staatsminister, würden Sie mir denn zugestehen, daß die Sozialdemokratie diesem Staat und dieser Verfassung dadurch, daß sie seit 1968 viele der jungen Kritiker unserer Staatsordnung in eine reformistische Arbeiterbewegung integriert hat, einen großen Dienst geleistet hat?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Insoweit, als sie es tatsächlich getan hat, Herr Kollege Glotz, erkenne ich das voll an.
Meine Kritik beginnt dort — ich glaube, Sie werden mir in der Diagnose zustimmen —, wo aus Integration Anpassung, d. h. aus Kritik an dieser Gruppe und aus Zurechtweisung und Eingliederung eine bedingungslose Anpassung geworden ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Herr Minister, was, meinen Sie, würde der Herr Kollege Glotz sagen, wenn sich ein gleicher Vorgang im rechten Spektrum vollzogen hätte und die CDU NPD-Mitglieder in ihre Reihen aufgenommen hätte?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Da die Frage an den Herrn Kollegen Glotz gerichtet ist und ich mir nicht gut seinen Kopf zerbrechen kann, kann ich keine Antwort geben. Aber vielleicht können sich die beiden Interpellanten selbst verständigen.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Bitte!
Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, daß sich die Problematik für die CDU/CSU im Verhältnis zur NPD und ihren Angehörigen genauso stellt?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Nein, denn ich kenne keine NPD-Mitglieder, die bewußt versucht haben, in einer Doppelstrategie — ich komme gleich darauf zurück — Aktionseinheiten, Organisationen und Institutionen der Unionsparteien zu unterwandern und sie für ihre Ziele mit der Absicht einzuspannen, aus den Unionsparteien eine andere Partei zu machen.
Herr Minister, vermögen Sie nicht zu erkennen, daß es insbesondere bei der CSU einer Unterwanderung gar nicht bedurfte, sondern man directement tätig werden konnte?
Ich darf zurückkommen —
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
— Meine Damen und Herren, es ist eine Zwischenfrage angekündigt; ich bitte um Ruhe.
Herr Staatsminister, erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß die CDU/CSU und die NPD 1969 gemeinsam Herrn Schröder zum Bundespräsidenten machen wollten?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: „Gemeinsam machen wollten" setzt eine Absprache voraus. Davon kann überhaupt keine Rede sein.
Gestatten Sie cine letzte Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, daß der SPD-Abgeordnete Vahlberg, der Sie gerade gefragt hat, im Bundestagswahlkampf 1969 auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit Kommunisten gesprochen hat?
Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Das ist mir nicht bekannt.
Ich kehre jetzt wieder zu meiner Rede zurück, wenn es gestattet ist.
— Bitte jetzt keine Zwischenfrage mehr!
Meine Damen und Herren, der Herr Staatsminister hat vor der letzten Frage gebeten, keine Zwischenfragen mehr stellen zu lassen. Ich glaube, es liegt in unser aller Interesse, daß die Rede jetzt fortgesetzt und nicht wieder unterbrochen wird.
— Der Herr Staatsminister hat mich gebeten, keine Zusatzfragen mehr zuzulassen. Ich bitte, dies zur Kenntnis zu nehmen.Dr. Maier, Minister des Landes Bayern: Ja, das trifft zu. Ich bitte um Entschuldigung. Aber ich möchte das Hohe Haus auch nicht gegen den Bundesrat aufbringen, weil er seine Redezeit hier überzieht. Aber vielleicht können nachher zu anderen Themen noch Fragen gestellt werden.Ich komme zum letzten Teil meiner Ausführungen, nämlich zu der Frage: Was tun? Meine Damen und Herren, ich darf es wiederholen: In der Diagnose der Verhältnisse in Schulen und Hochschulen sind die Unionsparteien und die hiesigen Regierungsfraktionen näher beieinander, als man glaubt. Ich sehe gerade in der Hochschulpolitik eine gewisse Wendung auch in der Beurteilung mancher Dinge durch SPD-Kollegen. Ich bin weit davon entfernt, diesen bitteren Triumph auszukosten. Man hat uns vor Jahren noch geprügelt und in eine rechte Ecke gestellt, wenn wir von Ordnung an Hochschulen sprachen, wenn wir ein Ordnungsrecht für eine unter anderen notwendigen Maßnahmen hielten. Daß es die allein notwendige sei und daß damit
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Landesminister Dr. Maierallein die Hochschulen zu retten seien, hat niemals ein Unionspolitiker behauptet.
Aber es ist schon etwas beschämend, wenn heute das Ordnungsrecht von seiten der SPD gefordert wird und man nicht mit jenem kleinen Rest von Courtoisie, die auch in der Politik üblich sein sollte, zugibt, daß die SPD damit nach dreijähriger Verspätung eine Position der Unionsparteien eingeholt hat. Meine Damen und Herren, man sollte sich nicht fortschrittlich nennen, wenn man eine so lange Leitung hat und drei Jahre länger braucht als andere;
sosehr ich der Meinung bin, daß unser Bildungswesen auch für langsamer lernende Schüler etwas tun muß.
Lassen Sie mich nun zurückkommen. Ich sagte: In der Diagnose stimmen wir vielfach überein. Ich darf wiederum einen sozialdemokratischen Kollegen zitieren, Richard Löwenthal. Er hat gesagt, das Experiment der demokratisierten Universität, der Freien Universität in Berlin sei gescheitert. Ich zitiere aus einem Vortrag zum 25. Jahrestag der Gründung der FU. Er steht in der „FAZ" vom 5. Dezember 1973. Es heißt dort:Dieser Lösungsversuch ist gescheitert. Die durch das Gesetz von 1969 geschaffene, „demokratisierte" Universität hat weder die inhaltliche Reform des Studiums geleistet noch die Integration der Extremisten verwirklicht, noch auch nur den äußeren Frieden, die elementarste Bedingung wissenschaftlicher Arbeit und freiheitlicher Erziehung, wiederhergestellt. Aber Berlin braucht eine Universität — eine wahrhaft freie Universität. Wenn die FU eine Zukunft haben soll, wenn sie wieder in Freiheit nach Wahrheit streben soll, so muß ein neuer Versuch gewagt werden — und dieser Versuch kann nicht den bequemen Weg des geringsten Widerstandes gehen.
Meine Damen und Herren, ich möchte das verallgemeinern und fragen: Was tun wir in dieser Situation gegenüber den Problemen, die wir gemeinsam vorfinden und an die wir mit verschiedenen Traditionen und verschiedenen politischen Zielvorstellungen, aber gemeinsam der Verfassung verpflichtet herangehen?Zunächst: Es scheint mir keineswegs nötig zu sein, eine waffenstarrende, abwehrbereite Demokratie in Szene zu setzen. Großzügigkeit und Gelassenheit müssen auch für uns das Richtmaß sein. Das ist von allen Seiten dieses Hauses gesagt worden. Aber es gibt drei deutliche Grenzen, anknüpfend an das, was ich einleitend gesagt habe.Die eine Grenze ist die folgende. Es mag Extremisten in der Gesellschaft geben. Aber — um Herrn Neubauer zu zitieren — Nationalsozialisten undKommunisten haben in unserer Gesellschaft keinenAnspruch auf Ämter dieses demokratischen Staates.
Man kann vom Staat viel an Toleranz verlangen. Man kann aber nicht von ihm verlangen, daß er den Selbstmord der Demokratie prämiiert.
Man kann von ihm auch nicht verlangen, daß er der Subventionierung der Revolution zustimmt und daß er Leute auf Planstellen setzt, die von dieser Basis her diese Demokratie, die unsere gemeinsame Basis ist, zerstören. Das kann man nicht verlangen.
Insofern steht die Antwort, die klare, präzise Antwort der SPD — in allgemeiner Form ist das gesagt worden — zu der Frage des Extremistenerlasses und der Praxis des Extremistenerlasses immer noch aus. Ich wehre mich auch dagegen, daß hier immer gesagt wird: der Erlaß der Ministerpräsidenten. Es ist der Erlaß der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers, meine Damen und Herren.
Ich habe nicht gehört, daß er seine Unterschrift zurückgezogen hätte.Die zweite Maxime, auf die sich alle Seiten einigen sollten, ist: Keine Zusammenarbeit mit extremistischen Kräften!
Es geht heute quer durch die SPD, vor allem in den großen Städten, eine Auseinandersetzung um die Fragen der Zusammenarbeit oder Nichtzusammenarbeit und der Abgrenzung nach links. Ich könnte hier aus der Münchner Szenerie eine Fülle von Äußerungen zitieren, von Herrn Kronawitter über Herrn Preisinger und Herrn Johann bis zu Herrn Bundesminister Vogel. Ich will mir das ersparen. Ich möchte auch gar nicht Salz in die Wunden der SPD streuen. Meine Damen und Herren, was ich von Ihnen erwartet hätte, wäre nur gewesen, daß Sie wenigstens die Lage so geschildert hätten, wie sie ist.
Man sollte das doch wenigstens aussprechen und nicht so tun, als sei man der einzige Fremdling in Jerusalem, der davon noch nie gehört hat.
Das ist politisches Biedermeier.
Das dritte — und damit komme ich zur Hochschulpolitik — ist eine Gemeinsamkeit in den Grundfragen der Hochschulpolitik. Es genügt nicht, wenn der Bundeswissenschaftsminister jetzt auf einmal von der Notwendigkeit eines Ordnungsrechts spricht. Ich sage Ihnen sehr deutlich als einer, der dieses Ordnungsrecht durchgekämpft hat, auch gegen Sie und Ihre Partei: Damit allein ist überhaupt nichts gewonnen. Wenn Sie nicht den Vertrauensschwund stoppen, wenn Sie nicht die Verantwor-
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Landesminister Dr. Maiertungsbereiche klar regeln, wenn Sie nicht denen, die zu Forschung und Lehre verpflichtet sind und das in der Urkunde, in der Bestallung, bekommen, die Möglichkeit geben, sich in den Gremien durchzusetzen — Sie können sie ja nicht mit Boxhandschuhen ausstatten —, dann nützt Ihnen ein nachträglich imputiertes Ordnungsrecht überhaupt nichts.
Bei diesem Punkt — wenn man schon über die Frage der Verfassungskonformität spricht und über die Haltung der SPD zur Verfassung und wenn man mit Recht die Verfassungsloyalität der SPD betont— hätte ich auch ein Wort zu den Fragen der Anpassung sozialdemokratischer Länderhochschulgesetze an das Urteil des Karlsruher Gerichts erwartet
— davon ist nicht gesprochen worden — und eine Äußerung zur Frage des künftigen Hochschulrahmengesetzes; aber das wird vielleicht noch kommen. Denn auch hier ist festzustellen, daß das Karlsruher Urteil in einem zentralen Punkt durch eine taktische Umsteuerung unterlaufen wird. Ich will es mir jetzt versagen, auf Einzelheiten einzugehen.Wenn man die Verfassung weiter entwickeln will, muß man sie zunächst einmal einhalten.
Wenn man den Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht beschwört bei gleichzeitiger Offenheit der Kritik — denn dies steht allen frei —, dann sollte man auch in diesem Punkt, wo das Gericht sehr dezidiert gesprochen und Positionen der SPD-Hochschulpolitik für nichtig erklärt, die Courtoisie, die Ehrlichkeit und den Anstand haben zu sagen: Gut, hier haben wir geirrt, und hier revidieren wir unseren falschen Ansatz. Das ist leider nicht geschehen.Abschließend: Wir führen hier keine Debatte gegen die SPD, das wäre anmaßend oder lächerlich. Wir führen aber sehr wohl eine Debatte gegen die USPD in den allzu breiten Mantelfalten der heutigen SPD.
Mir scheint — und nicht nur mir allein —, die Zeit für eine deutlichere Unterscheidung ist hier gekommen, im Interesse dieser Republik, aber auch im eigenen Interesse dieser Regierung und vor allem der SPD. Diese Entscheidung wird Ihnen niemand abnehmen, und der Bundeskanzler sollte vor dieser Entscheidung nicht in eine ebenso faltenreiche wie konsequenzlose Rhetorik flüchten.
Ich kann verstehen, daß man sagt: man muß jeden Versuch der Integration unternehmen. Dafür habe ich Verständnis. Aber es gibt extremistische Kräfte, die können Sie nicht eingliedern; denn die werden immer die SPD als Vehikel und Durchgangsstation für einen ganz anderen Staat ansehen. Und am Ende werden Sie dann auch noch die Wähler verlieren, die auf die SPD gesetzt haben als Anwalt der Schwachen gegen Gewalttätigkeit und als Anwalt des Rechts gegen Gewalttäter.Ich schließe mit einer Äußerung, die vor kurzem der Bundespräsident beim Wissenschaftsrat und Bildungsrat getan hat:Mit dem Grundgesetz nicht in Einklang zu bringen sind alle Bestrebungen, auf dem Wege über Schule und Hochschule aus der Bundesrepublik einen Klassenstaat oder einen Weltanschauungsstaat zu machen. Das Grundgesetz schützt die Koalitionsfreiheit, die Freiheit des Gewissens und das Recht auf die eigene Meinung, aber es gibt keinem einzelnen und keiner Gruppe das Recht, ihre Meinung, ihren Glauben oder ihre Weltanschauung zur verbindlichen Staatslehre zu erheben.Dem ist nichts hinzuzufügen — es sei denn der Appell an alle Demokraten, sich auf diese Sätze auch für die gemeinsame Resolution zu einigen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Benedix.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte hat schon mehrfach die Situation der Schule und der Hochschule eine entscheidende Rolle gespielt. Ich meine, das ist eine Tatsache, die an sich schon ein Zeichen ist, das nicht übersehen werden darf. Wenn ich mich jetzt erneut diesem Fragenbereich zuwende, dann deshalb, weil ich der Auffassung bin, daß das Verhältnis der Jugend zu diesem unseren Staat, der Bundesrepublik Deutschland, nicht nur eine entscheidende, sondern ich möchte sagen: eine existentielle Frage für den Fortbestand dieser demokratischen Ordnung ist.Ehe ich auf diese Fragen eingehe, kann ich mir allerdings nicht versagen, Ihnen, Herr Ministerpräsident Osswald — sind Sie noch da? — eine Antwort zu geben.
— Er ist weg. Schade. — Ich hatte nämlich vor etwa zwei Jahren, als ich noch dem niedersächsischen Landtag angehörte, das Vergnügen, einmal mit einer interfraktionellen Gruppe Hessen zu bereisen, weil Hessen so fortschrittlich ist und wir uns dort die integrierten Gesamtschulen ansehen wollten. Es waren übrigens auch einige Herren Ihres Ministeriums, Herr Minister von Oertzen, dabei.Als wir nach zwei Tagen nur Schulen besucht hatten, die zwei Jahrgänge umfaßten — bekanntlich treten die Probleme erst dann auf, wenn die Schulen größer sind, also erst beim vierten, fünften Jahrgang —, bestanden wir darauf, nicht unverrichteter Dinge umzukehren und endlich einmal eine solche Schule zu sehen. Wo führte man uns hin? Nach Wolfshagen. Der Direktor empfing uns und sagte: „Nanu, wie kommt das? Sie sind sicher fehlgeleitet; wir sind keine integrierte Gesamtschule, sondern eine kooperative. Ich muß Sie enttäuschen."Die Diskussion, die sich dann ergab, war sehr, sehr aufschlußreich insofern, als wir erst einmal erfuh-
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Frau Benedixren, was Sie von der SPD unter Chancengleichheit verstehen. Das war für mich eine Offenbarung. Da wurde erst einmal deutlich, daß Sie damit meinen, der Gesellschaft der Gleichen näherzukommen, d. h. jeden etwa mit dem kleinen Level ins sogenannte Leben zu entlassen. Da schieden sich die Geister; denn wir meinen, Chancengleichheit heißt, daß man jeden so weit fördern, wie es möglich ist, und daß es ein schwerer Verstoß gegen das Recht des einzelnen auf die ihm gemäße Bildung ist, wenn man sie so versteht wie Sie.Aber wir fragten uns bei der Abreise alle: Warum eigentlich versteckt man etwas, was doch so fortschrittlich und so beispielhaft ist, vor Gästen, die ja immerhin sachkundig und nicht so ganz bedeutungslos sind?Ein Weiteres: Zu dieser Gruppe gehörte auch Ihr Staatssekretär. Der hat einmal die integrierte Gesamtschule in Frankfurt Nordwest-Stadt geleitet. Ich erinnerte ihn an etwas, was ihm offenbar recht peinlich war. Ich hatte nämlich das Vergnügen, in der ersten Elternversammlung anwesend zu sein, wo die Eltern mit all ihren Klagen ankamen. Dieser Staatssekretär, damals Leiter dieser Schule Frankfurt Nordwest-Stadt, hob zum Schluß beide Hände hoch und sagte: „Ja, meine lieben Eltern, ich kann es auch nicht ändern: von einer bestimmten Größe ab schlägt die Masse abrupt in eine andere Qualität um." Ich fragte ihn, ob er zu neuen Erkenntnissen gekommen wäre. Die Antwort lautete nein.Ich kann Ihnen nur sagen: Wir verließen dieses fortschrittliche Hessen mit dem Eindruck, daß der Fortschritt darin besteht, daß Sie sich in einer fortschreitenden Krankheit befinden.
Nun aber zu meinem eigentlichen Thema. Viele Gespräche mit jungen Menschen, und wir führen diese ja — Gott sei Dank wir alle —, in Schulen, Hochschule und Betrieben müssen uns doch wirklich zutiefst unruhig machen. Vorhin wurde Professor Löwenthal zitiert. Er sagt, daß vieles in unserer Demokratie heute gefährdet ist. Er sagt, daß die Demokratie bei uns in der Bundesrepublik eine viel tiefere Krise durchmacht als in den westlichen Demokratien. Es sagt, daß eine besonders gefährliche Einbruchstelle bei uns in der Schule zu suchen ist.Dies zu sehen, Herr Minister von Oertzen, ist kein reaktionäres Verständnis. Die Väter des Grundgesetzes wußten sehr wohl, warum sie die streitbare Demokratie wollten, eine Demokratie mit hoher Wachsamkeit. Zu dieser Wachsamkeit sind wir hier, an diesem Punkt, besonders herausgefordert, weil es sich nämlich um eine neue Art der Gefährdung handelt, um die Bewußtseinsbildung, die sich ja lautlos und langsam vollzieht. Hier schlägt keine Alarmglocke an. Wenn wir, die Opposition, dieser Aufgabe nicht gerecht werden, wäre dies allerdings gleichbedeutend mit der Selbstaufgabe dieses Staates.
Herr Minister von Oertzen, es geht auch nicht, wie Sie in Ihrer großen Rede gesagt haben, um die Kraft zum Überleben. Nein, es geht um die Kraftzum Leben, und zwar zu dem einzigen, das diesen Namen verdient: zum Leben in Würde und Freiheit. Diese Kraft — da stimme ich Ihnen allerdings zu —kann nicht allein aus der Geschlossenheit der rechtlichen Institutionen bezogen werden — so sagten Sie —; dazu bedarf es des leidenschaftlichen Engagements der Bürger - da stimme ich Ihnen zufür die Erhaltung der Vielfalt gegen Monopolisierung, für mehr soziale Gerechtigkeit. Es bedarf vor allen Dingen des Engagements der jungen Generation.Aber das, wofür ich mich engagieren soll, was ich vor Gefahren schützen will, was ich weiterentwickeln will, muß ich doch zunächst einmal kennen,
und zwar in seinem wirklichen Sein und nicht in einem Zerrbild.
Ich möchte sagen: Kennen ist noch zu wenig; ich muß es verstehen, begreifen, bejahen.
Meine Herren Kultusminister der SPD, wir können weiß Gott nicht davon ausgehen, daß unsere Jugend das nötige Verständnis für die Funktionen unserer vielfältigen demokratischen Organe a priori besitzt. Wir können doch auch nicht davon ausgehen, daß sie zum Beispiel weiß, woher die Produktivkraft unserer Wirtschaft kommt, was sie so überlegen macht gegenüber allen staatskapitalistischen Systemen. Nein, wir erleben täglich das Gegenteil, nämlich daß unter jungen Leuten in der Mehrzahl die Neigung herrscht, in dem gegenwärtigen System nur die Mängel, im sozialistischen Gegenbild nur die Vorzüge zu sehen. Dies ist übrigens eine Feststellung von Herrn Professor Losch in einem Buch von Professor Ortlieb, der sicher nicht CDU-verdächtig ist. Professor Losch weist auch darauf hin, daß sich in erschreckendem Maße eine Emotionalisierung und Ideologisierung des gesellschaftlichen Denkens breit macht.Da frage ich vor allem die Kultusminister der SPD-regierten Länder, die hier eine besondere Verantwortung tragen: Was tragen Sie eigentlich dazu bei, dieser Ideologisierung entgegenzuwirken, dieser Jugend diesen Staat, den Verfassungsauftrag begreifbar zu machen?
Sie wissen ebensogut wie wir, daß diese Jugend es mit einem solchen Engagement schwer hat, denn sie kennt ja nicht die Abwesenheit von Freiheit, aber sie erlebt täglich die Abwesenheit von Gerechtigkeit. Dadurch verstärkt sich der Vorwurf, den wir Ihnen machen müssen: Was tragen Sie dazu bei, um dieser Jugend Freiheit erlebbar zu machen, um sie für sie erfahrbar zu machen, ich muß sagen: auch als Gefühlswert erfahrbar zu machen?Sie wissen genau, wie schwer es die Demokratie hat, die Jugend zum Engagement zu bringen; denn wie erlebt die Jugend den demokratischen Staat? Wir sind hier immer besonders voran, wir haben ja, was die Symbole anlangt, wieder einmal Kahl-
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Frau Benedixschlag betrieben. Wie erlebt die Jugend unseren Staat, wie begegnet er ihr? Doch meistens in Behörden, in Aktenschränken, in Polizei, im Parteihader und Beispielen aus diesem Hohen Hause, wie man mit seinem politischen Gegner umgeht.
Einen solchen Staat soll ich bejahen, soll mich für ihn engagieren, soll mich mit ihm identifizieren, ja, soll ihn als letzte Konsequenz mit Leib und Leben verteidigen? Können wir uns eigentlich noch wundern, wenn die Haltung unserer Jugend diesem Staat gegenüber vielfach distanziert, ja systemfeindlich ist? Jeder von uns wird solche Erfahrungen, solche Erlebnisse täglich haben. Ich darf Ihnen einige aus den letzten Wochen aufzählen.Ich komme mit einer Gruppe ehemaliger Schüler nach Ost-Berlin. Wir haben die Gelegenheit, an einer Diskussion teilzunehmen zwischen einer Jugendgruppe der DDR und einer der Bundesrepublik. Ich fahre zurück. Ich frage meine Gruppe, wie ihre Beurteilung ist. Die Beurteilung lautet: beachtlicher Informationsstand, großartige Argumentation. Dann hieß es: „Aber wissen Sie, was uns auffiel? — Die von der DDR-Gruppe fühlten sich immer persönlich angegriffen. Das war ihr Staat, den sie verteidigten. Und unsere Leute? — Sie verhielten sich etwa so wie ein etwas unterkühlter Rechtsanwalt, der seinen Mandanten verteidigt." — Ich muß sagen: eine ganz großartige Analyse.Ein zweites Beispiel: Wenige Tage später die Diskussion in einer 13. Klasse eines Gymnasiums. Es waren alle Parteien vertreten. Wir waren natürlich sehr schnell auch bei der Frage der Wehretats und bei der Frage der Wehrbereitschaft. Und da kam es heraus, daß bei diesen Gymnasiasten alle Wehrdienstverweigerer waren. Es war ein SPD-Kollege, der nachher sagte: „Ist das denn wirklich möglich? Diesen Staat, der euch so viel Entfaltungsmöglichkeit, so viele Chancen der Freiheit gibt, wollt ihr nicht verteidigen?" Antwort: „Diese Frage stellt sich nicht." Oder allenfalls: „Na ja, soziale Verteidigung". Sie kennen das: passiver Widerstand, wenn die Okkupation vollzogen ist.Und ein drittes Beispiel: Das war ausgerechnet an dem Tage des Todes von Jan Pallach, der sich als lebendige Fackel dargeboten hat, um die Lauen aufzurütteln, ausgerechnet an dem Tage, als in den Zeitungen sehr ausführlich berichtet wurde über den Leidensweg von Solschenyzin und über die uns alle beeindruckende und packende Art, wie er Widerstand leistet gegen die Mächte der Menschenverachtung. Ausgerechnet an diesem Tage sagt mir einer der Schüler einer Fachoberschule, als wir auf die Frage der Freiheit kamen: „Ach, hören Sie, Freiheit, was ist denn das? — Ein abstrakter Begriff!" Meine Damen und Herren, es saßen etwa 70, 75 Schüler da. Keiner von ihnen widersprach; alle stimmten dieser Erklärung zu.Ich wundere mich nicht mehr über eine solche Haltung nach alledem, was in die Erfahrungs- und Bewußtseinswelt dieser jungen Leute eindringt. Aber ich bin zutiefst erschüttert, daß Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, das alles offenbar so ernst nicht nehmen, daß Sie sogar der Meinung sind, eine Debatte darüber sei überflüssig.
Wenn wir feststellen müssen, daß unsere Jugend kein Verständnis zu unserem Staat hat, daß sie ihm kühl, distanziert, ablehnend, ja feindlich gegenübersteht, dann ist das ein Tatbestand, der uns, die wir hier sitzen, eigentlich alle miteinander nicht mehr schlafen lassen dürfte.
In der Geschichte gibt es bekanntlich keine Rückfahrkarten. Wenn man den Zeitpunkt nicht erkennt, die Zeichen nicht mehr sieht, hat man die Chance zur Kurskorrektur verspielt. Diese Debatte hier muß mit Härte und Leidenschaftlichkeit geführt werden. Aber wenn nicht mehr alle von Ihnen — und das schien mir heute oft so — in der Lage sind, sich speziell dieser Frage mit ganzem Ernst zuzuwenden, sind wir bereits mitten drin, diese Chance wieder zu verspielen.
Wir sind uns einig — ich hoffe es —: Kein Staat ohne Staatsbewußtsein, kein Staatsbewußtsein ohne Staatsbejahung, keine Staatsbejahung — das gilt vor allen Dingen für die Jugend — ohne Identifikation mit diesem Staat! Die Jugend mit ihrer revolutionären Kraft und ihrer Begeisterungsfähigkeit, mit ihrem sozialen Engagement kennt keine Vakuumräume, sie verträgt sie nicht. Und wie ist Ihre Antwort, die Antwort z. B. des Herrn Ministers Girgensohn in seiner Essener Rede: Ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren: „Eine Identifikation mit dem Staat, wie sie in den 50er Jahren geherrscht hat, sei gefährlich und müsse abgelehnt werden."
Und bei den Erläuterungen im Parlament sagte derselbe Minister, der Mehrheit der Lehrer täte ein Schub in Richtung radikalsozialistischen Bewußtseins und revolutionärer Ideen gut.
Auf dem Münchener SPD-Parteitag hörte es sich so an: Nicht kommunistische Erzieher stellen eine Gefahr für die Kinder dar, sondern die autoritätshörigen, politisch bewußtlosen und konservativen Verhältnisse an unseren Schulen.
Das Protokoll vermerkt: großer Beifall.
Meine Damen und Herren, was soll man von solchen Erklärungen halten, wie soll man sie deuten, wenn sich gleichzeitig bei den Wissenschaftlern und Pädagogen, die Sie, meine Herren Kultusminister von der SPD, mit der Erarbeitung von Richtlinien oder Handreichungen für den modernen Unterricht beauftragen, das durchgängige Unterrichts-
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Frau Benedixprinzip etwa wie folgt darstellt: Der Schüler muß schon sehr früh lernen, sein Unbehagen zu artikulieren, Unbehagen an den gegebenen Ordnungstrukturen, die er nicht geschaffen hat — Familie, Schule, Staat —, Unbehagen über die Disziplin, die man ihm aufzwingt, die Leistung, die gefordert wird usw. Ursache des Unbehagens — das würde er sehr schnell erkennen — sind die Sozialisationsprozesse, denen er unterworfen ist. Möglichkeit: Befreiung, Emanzipation, d. h. Umbruch oder — in der Tarnsprache — Veränderung der Gesellschaftsordnung.So in das totale Konfliktbewußtsein hineingeführt, ist es dem jungen Menschen nicht mehr möglich — das ist eine notwendige Folge —, sich zu identifizieren. Und da er darüber hinaus durch die ständige Selbstbeschäftigung zunehmend auch die Wirklichkeit nicht mehr wahrnimmt und da der junge Mensch mit seiner Begeisterungsfähigkeit die Leere nicht ertragen kann, bleibt ihm existenznotwendig nur die Flucht in eine neue Heilslehre, in das scheinbar so geschlossene Gedankengebäude einer Ideologie.Meine Damen und Herren, weltanschaulicher Fanatismus wäre nie chancenreich gewesen, wenn die Lehrer dieses Fanatismus nicht Leere im Sinne von Vakuum vorgefunden hätten.
Deshalb ist dieses Prinzip so diabolisch. Professor Lübbe, der heute schon oft zitiert wurde, sagt: Solchen Schülern bleibt nichts anderes übrig, als sich vor dem Schultor vom Spartakus abholen zu lassen. — Sagen Sie nur nicht, das alles sei Ihnen nicht hinlänglich bekannt. Und sagen Sie mir bitte nicht, es sei Ihnen nicht hinlänglich bekannt, wie die Auflagenziffer der Taschenbücher mit linkslastigem und nicht mehr verfassungskonformem Inhalt, der sich an die Zielgruppe „Jugend" wendet, ständig steigt, wie Jugend- und Kindersendungen mit kommunistischem Weltbild allmählich nicht mehr ungewöhnlich sind und wie sich ihre Sprache und damit auch die Sprache der Schüler mehr und mehr ideologisiert.Die Zahl der kämpferischen sozialistischen Lehrer steigt; allein in Frankfurt bekennen sich 600 zum sozialistischen Lehrerbund. Diese Lehrer, meine Damen und Herren, wollen die Bewußtseinsrevolution. Sie sagen das, sie schreiben das, sie erklären das, und sie sehen die Schule als Strategiefeld Nr. 1 an. Sie sind vielfach Lehrer geworden, um dieses Ziel zu verwirklichen. Wer kann uns eigentlich glauben machen, daß sie ausgerechnet dann, wenn sie dieses Ziel erreicht haben, auf seine Verwirklichung aus Loyalitätsgründen verzichten würden?Meine Damen und Herren, ich habe da z. B. die Anforderungen für die Zulassungsprüfung für Bewerber ohne Reifezeugnis an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen. Es heißt da: Schriftliche Prüfung: Die Themen werden den folgenden Problemkomplexen entnommen. 1) Bildungschancen und Entwicklungsmöglichkeiten des einzelnen und ihre Abhängigkeit vom Gesellschaftssystem. 2) Siedlung, Wohnen, Wohnung. — Zur Vorbereitung empfiehlt man die Lektüre folgender Bücher: Zu 1) Weber: Privilegien durch Bildung. Über die Ungleichheit derBildungschancen in der Bundesrepublik. Ortmann und Pross.Zu 2) Kursbuch 27, Herausgeber: Enzensberger! Michel, — Mitscherlich: Die Unwirtschaftlichkeit unserer Städte; Schultz: Umwelt aus Beton oder unsere unmenschlichen Städte.Zum dritten Thema „Mitarbeit in Organisationen und Vereinen wird empfohlen: Mayntz: Soziologie der Organisation; See: Volkspartei im Klassenstaat oder das Dilemma der innerparteilichen Demokratie.Zu Punkt 3) — Berufsbildung/Lehrlingsausbildung — werden empfohlen: Haug/Maessen: Was wollen die Lehrlinge? und Lempert: Leistungsprinzip und Emanzipation. Und so geht das weiter. Für die mündliche Prüfung sind die gleichen Autoren vorgesehen, zu denen noch folgende hinzukommen: Menschik, Reich, Wallraff, Holzer, Jochimsen, Hund.Die Einseitigkeit, meine Damen und Herren, ist komplett. Man versetze sich in die Lage eines Prüflings, der sich dem Risiko einer externen Prüfung gegenübersieht. Er muß sich diese und nur diese Gedanken zu eigen machen und wird später aus dieser Einbahnstraße nicht mehr herausfinden. Wie sollte er auch, da er mit ziemlicher Gewißheit mit diesen Gedankengängen auch während des Studiums immer wieder und vielleicht sogar ausschließlich konfrontiert wird! Und so erschrickt man schon nicht mehr, wenn man erfährt, daß Studenten an einer Fachhochschule für Sozialpädagogik in den letzten Semestern die Ergebnisse der Genetik, der Molekularbiologie, der Anthropologie, der Verhaltensforschung und der Mikrophysik überhaupt nicht kennen. Als ich dann fragte: „Wie konnte man Sie nur um ein pluralistisches Wissenschaftsbild bringen? Hat man Ihnen hier nicht die Wahrheit vorenthalten?" kam die erschreckende Antwort: „Wieso? Der Neomarxismus — das ist doch die Wahrheit."
Sie können natürlich, meine Damen und Herren, sagen: Gut, Freiheit muß das alles verkraften können; schön. Aber was tun Sie, um der jungen Generation diese Kraft für diese ideologische Auseinandersetzung zu geben? Wo sind Ihre Handreichungen für Lehrer, die unsere Ordnung darstellen wollen, sie für den Schüler transparent erlebbar machen? Wo ist die Fülle der Alternativen unserer rechtsstaatlichen Ordnung, die Chance der Freiheit, die der Lehrer darstellen möchte, die Darstellung der offenen Gesellschaft, in die die Jugend zu gehen vermag? Wo stellen Sie die wirtschaftliche Kraft und Kapazität dar, die unsere Marktwirtschaft hervorzubringen vermag, wo ihre hohe Ergiebigkeit, ihre große Beweglichkeit, ihr begrenztes Risiko? Wo stellen sie dar, welche Möglichkeit sie gibt, Solidarität zu üben, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, und zwar nicht auf Kosten anderer, welche Möglichkeit sie gibt, Hilfe für die Schwachen und Entwicklungshilfe zu leisten? Wo sprechen Sie in Ihren Richtlinien von der Gefährdung dieser Freiheit von innen und von außen, wo von der Verpflichtung, diesen Staat, der so relativ viel Chancen der Freiheit gibt, auch für verteidigungswürdig zu halten?
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Frau BenedixUnd, Herr Minister von Oertzen, wir haben einmal im Niedersächsischen Landtag darüber diskutiert, auf welche Motive sich Verteidigungsbereitschaft gründen kann; Sie werden sich erinnern können. Wir haben damals übereinstimmend gesagt, daß sie nicht auf Emotionen gründen darf. Das können die diktatorisch regierten Staaten tun, indem sie die Nation glorifizieren und den Feind auf verabscheuungswürdige Weise darstellen. Wir wollten sie nicht gründen — Sie erinnern sich — auf Tradition, die das Verhalten unreflektiert übernimmt. Wir wollten sie auch nicht gründen etwa auf Freude an äußeren Formen, etwa auf ein Biwak-Bedürfnis, auf ein Bedürfnis nach Kameradschaft, nach Gemeinschaft in einer Kampfatmosphäre.Wir haben dann gesagt — Herr Minister von Oertzen, ich erinnere Sie —: Weil wir all das nicht wollen, müssen wir um so mehr tun, um sie zur Einsicht und rationalen Erkenntnis zu befähigen, diese Pflicht zu tun und diesen Auftrag anzunehmen. Und so frage ich Sie, Herr von Friedeburg, Herr Girgensohn und Herr von Oertzen: Wo vermitteln Sie diese Einsicht, diese Erkenntnis,
daß es sich lohnt, sich für diesen Staat einzusetzen, ihn zu bejahen, ihn zu verteidigen,
und zwar so, wie er besteht und wie er die Kraft zur Weiterentwicklung in sich trägt?Es muß gesagt werden, daß man die Probleme unserer Zeit nicht mit den in Ihren Handreichungen dargebotenen marxistischen Instrumentarien aus dem vorigen Jahrhundert und auch nicht mit einem simulierten Klassenkampfgemälde lösen kann.
Was Sie in den Richtlinien anbieten, leistet Vorschub für die Erziehung revolutionärer Fanatiker oder revolutionärer Träumer.
Nicht die heile Welt von morgen, sondern die unvollständige freiheitliche Demokratie von heute und der Einsatz für etwas weniger Unvollkommenheit für morgen müssen das Erziehungsziel sein.Meine Damen und Herren, in den Tagen, als man glaubte, daß man dem Sozialismus tschechoslowakischer Prägung ein menschliches Antlitz würde geben können, sagte ein bedeutender tschechoslowakischer Politiker in der letzten Fernsehsendung, die er einem westlichen Journalistenteam geben konnte:Freiheit ist das Kostbarste, darum hat sie auch einen hohen Preis. Wir müssen ihn täglich neu entrichten. Wer es versäumt, muß mit dem höchsten Preis bezahlen, mit dem Verlust der Freiheit . . .Wir sind uns wohl einig: es darf nicht geschehen, daß die junge heranwachsende Generation durch unser Versagen oder durch unser Wegsehen, also dadurch daß wir eine solche Bewußtseinsverengung zulassen, diesen höchsten Preis noch einmal zahlen muß.Wir fordern Sie deshalb auf, zwei Dinge sofort zu tun:1. Es muß aufgehört werden mit der Vermischung fundamentaler Unterschiede in Schulbüchern, Arbeitsbogen, Handreichungen. Diktatur in der DDR muß wieder Diktatur und Demokratie bei uns muß wieder Demokratie genannt werden; Feuer muß wieder Feuer und Wasser wieder Wasser genannt werden; sie können sich nicht vermischen.
Nur was ich beim Namen nenne, kann ich begreifen, verstehen und verteidigen.2. Vor die Kritik unserer Ordnung, die notwendig ist, muß die Beschreibung, die Darstellung, die Funktionskraft dieser Ordnung gesetzt werden.Ich darf noch einmal Professor Löwenthal zitieren. Er sagt:Identitätsbewußtsein ist keine Frage der Proklamation, der Propaganda, es bildet sich nur in längeren Zeiträumen. Das wichtigste Instrument ist die Schule. Sie kann diese Aufgabe nicht erfüllen ohne die klare Zielsetzung durch die politische Führung. Darum ist die Rolle der Schule eine Lebensfrage der Demokratie.Ich habe dieser Aussage nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schuchardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich mich recht erinnere, diskutieren wir über einen Zehnpunkte-Antrag der CDU. Der erste Redner der CDU heute hat bereits zu erkennen gegeben, aus welcher Ecke dieser Antrag kommt.
— Verzeihung: und CSU. Das ist nicht ganz unwichtig in diesem Zusammenhang.Nun will ich gar nicht unterstellen, daß alle CDU- und CSU-Mitglieder dieses Hauses diesem Antrag zustimmen. Das Erschütternde an ihm ist aber, daß er die Mehrheit gefunden hat.Dieser Antrag ist ja bewußt so gefaßt, daß ihm die Koalitionsfraktionen nicht zustimmen können.
Einem Antrag, der Verfassungsfeinde so definiert, daß auch politisch Andersdenkende mit erfaßt werden, die sehr wohl noch auf dem Boden dieser Verfassung stehen, kann ein solider Demokrat nicht zustimmen.
Das demagogische Streufeuer der CDU wird uns nach Ablehnung dieses Antrages vollends alle zu Verfassungsfeinden erklären, da wir ja dann dem Satz „Zur freiheitlich-demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes gibt es keine Alternativen" nicht zugestimmt haben.
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Frau SchuchardtNun ist es nicht nur dieser Antrag, mit dem die Oppostion in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, sie habe ein Monopol in der Erhaltung des Grundgesetzes. Die rhetorische Entgleisung des Fraktionsvorsitzenden beim 22. Parteitag der CDU, daß allein die CDU/CSU die einzige geschlossen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung kämpfende Partei sei,
ist eine ungeheuerliche Anmaßung und läßt außer-dem die Achtung vor dem Grundgesetz vermissen.
Wenn darüber 'hinaus der Bundesvorsitzende der CDU, Kohl, vor der katholischen Akademie in München am 8. Dezember 1973 den Abgesang des Grundgesetzes vornimmt, sein Referat mit -dem Satz beginnt: „Das Grundgesetz w a r ein Vierteljahrhundert lang die selbstverständliche Grundlage der Politik aller 'demokratischen Parteien", dann unter anderem fortfährt: „Dies ist heute nicht mehr so" und dies auch eindeutig in Richtung auf die FDP ausdehnt, so ist das eine Überheblichkeit, die die Schwelle der Verantwortlichkeit gegenüber dem Bürger längst überschritten hat.
Dieser Satz beweist: Christus' größte Widersacher waren die Pharisäer. Heute nennen sich die größten Pharisäer Christen.Letztendlich haben wir noch einen weiteren CDU-Politiker vorzustellen, Herrn Filbinger, der heute eine sehr eigenartige Vorstellung seiner Haltung zum Grundgesetz gegeben hat. Ich frage mich, wie die CDU eigentlich diese Verfassung schützen will, wenn sie solche Ministerpräsidenten hat.
Ich wünschte manchmal einem jeden von Ihnen, auf den Plätzen der FDP zu sitzen. Da kriegen Sie nämlich sehr eigenartige Zwischenrufe zu hören. Ich möchte Ihnen nur zwei nennen, die heute gefallen sind in dem Zusammenhang mit dem Vorfall heute morgen. Da meinte Kollege Müller , dies sei Faschismus — in Richtung auf unsere Präsidentin —, und der Herr Becher meinte gar, das sei eine Volkskammerpräsidentin.
Das ist das Demokratieverständnis einiger aus der Fraktion, die sich hier zum Hüter der Verfassung aufspielen.
Frau Schuchardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller? — Bitte!
Frau Schuchardt, ich will mich nicht zu Ihrer Äußerung äußern.
Aber ich möchte Ihnen die Frage stellen, ob Ihre Mitarbeit an einer Broschüre der prokommunistischen „Demokratischen Aktion" ein Beitrag zum Kampf um das Grundgesetz ist.
Herr Müller, Sie werden sich vielleicht wundern, aber ich habe bereits in dieser Broschüre einmal mitgearbeitet, und ich scheue mich auch nicht, dies wieder zu tun, wenn es darum geht, daß ich meine Vorstellungen zum Grundgesetz darin so formuliere, wie ich es wahrnehmen will.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?
Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Sie nach der Erklärung der Frau Präsidentin von heute morgen und der Antwort unseres Parlamentarischen Gschäftsführers den Vorfall als endgültig beendet ansehen oder ob Sie ihn wieder neu aufnehmen wollen?
Verzeihen Sie, ich habe nicht den Vorfall als nicht beendet erklärt, sondern ich habe mir erlaubt, einmal einige CSU-Mitglieder zu zitieren — was nämlich hier vorne nicht ankommt — die ein ganz eigenartiges Demokratieverständnis entwickeln.
Ganz gleich, welcher Vorfall dazu auch führen mag. Aber wenn man die Präsidentin dieses Hauses zur Volkskammerpräsidentin erklärt, dann, meine ich, hat das längst das zulässige Maß überschritten.
Frau Schuchardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel? — Bitte!
Frau Kollegin, die Frage von Herrn Müller gibt mir Veranlassung, Sie zu fragen, ob Ihnen vielleicht bekannt ist, daß von Herrn Müller, als er noch nicht als Juso-Bundesvorsitzender auf ein CSU-Bundestagsmandat spekulierte, sondern noch Revolutionsschauspieler Ende der 50er Jahre beim Münchener SDS war, Äußerungen überliefert sind, auf Grund deren er bei Zugrundelegung des baden-württembergischen Entwurfes zur Staatsfeindfrage zwar noch Abgeordneter dieses Hauses werden könnte, aber nicht mehr z. B. Lehrer im öffentlichen Dienst? Und stimmen Sie mit mir darin überein, daß dies möglicherweise mehr für die Anpassungsfähigkeit von Herrn Müller spricht als für den baden-württembergischen Entwurf?
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Herr Gansel, ich möchte Ihnen darauf ganz kurz antworten. Ich hätte keine Bedenken, Herrn Müller einzustellen, und werde mich von Herrn Müller auch nicht irritieren lassen, wenn ich mich für manch andere einsetze, die in diesen Staatsdienst übernommen werden sollen.
Meine Damen und Herren, der Wortlaut des Punktes 5 des CDU-Antrages geht in erschütternder Weise, geradezu fahrlässig auf das Grundgesetz ein. Es heißt da zum Beispiel, unsere Schulen dürften nicht von „Systemveränderern" mißbraucht werden. Damit gibt die CDU bereits erstmals bereits offiziell zu, daß es ihr nicht darum geht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, sondern daß sie es als Vehikel benutzt, um politisch Andersdenkende auszuschalten. Weiter spricht die CDU in dieser These nicht mehr von der ,,freiheitlich-demnokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung", wie etwa in Punkt 1, sondern nur noch von der „freiheitlichen Ordnung". Entweder ist das eine enorme Schlamperei oder, was wahrscheinlicher ist, System. Das bedeutet, sie setzt nicht mehr voraus, daß diese Ordnung demokratisch entsteht und diese Freiheit rechtsstaatlich geschützt ist.Meine Damen und Herren, ich darf an ein Wort erinnern, das Herr Vogel vorhin in seiner Rede gesagt hat. Er erklärte, wenn sich Kräfte innerhalb der SPD und FDP zum Ministerpräsidentenbeschluß äußerten und meinten, daß rechtsstaatliche Methoden angewendet werden sollten, sei dies ein Zeichen dafür, daß man geltende Gesetze unterhöhlen wolle. Dies ist eine sehr gefährliche Interpretation dessen, was wir in der Öffentlichkeit gefordert haben.Die Situation an den Hochschulen und an den Schulen wurde eindeutig so geschildert, als stehen sie bereits vor dem Umkippen in die restlose Verfassungswidrigkeit. Ich meine, daß die CDU damit erneut bewiesen hat, wie bildungsfeindlich sie ist.
Denn das Schlimmste, was Bildungspolitiker und überhaupt Politiker tun können, ist, einen Keil zwischen Schule und Elternhaus und zwischen Gesellschaft und Hochschule zu treiben,
und genau das haben Sie heute hier in sehr deutlicher Form getan.
Beide Sprecher aus meiner Fraktion haben darauf hingewiesen, daß es uns allein darauf ankommt, die Ursachen extremen Verhaltens zu erkennen und uns dagegen zu wenden. Dies will ich nicht weiter ausführen.
Ich möchte nur noch einige Worte zu dem vielzitierten Ordnungsrecht sagen. Auf dieses Trittbrett versuchen einige mehr und mehr zu springen. Die FDP hat bis heute keine Veranlassung gesehen, von ihrer Ablehnung des Ordnungsrechts abzugehen. Wir sind der Meinung, daß die bestehendenGesetze ausgeschöpft und angewendet werden sollten. Dies werden sie bis heute nicht. Wenn gar Länderminister von uns erwarten, daß wir das Hochschulrahmengesetz mit einem Ordnungsrecht anreichern sollten, ihre Intention aber bei der Debatte über das Hochschulrahmengesetz nur darin bestand, dieses Gesetz soweit wie möglich zu „verarmen", dann kann man das doch nur so verstehen, daß die Länder den Bund hier als Vehikel benutzen wollen, um etwas durchzusetzen, das sie selbst politisch nicht durchstehen.
Dazu sollte das Hochschulrahmengesetz nicht mißbraucht werden, meine ich.Meine Damen und Herren, das Bildungssystem, ob Schule oder Hochschule, ist kein politischer Freiraum. Gerade in den Schulen müssen Demokraten von morgen befähigt werden. Der Auftrag der Schule besteht unserer Auffassung nach darin, den einzelnen zur Selbstbestimmung und zu demokratischem Handeln zu befähigen.Die Kritik der FDP im Hessischen Landtag an den Rahmenrichtlinien war nie eine Pauschalkritik. Die FDP hat versucht, hier ein differenziertes Votum abzugeben. Unser Standpunkt war es nie, diese hessischen Rahmenrichtlinien vom Tisch zu bekommen, sondern sie zu verbessern. Ich glaube, man kann sagen, und das ist uns in wesentlichen Punkten auch gelungen; die bestimmenden Punkte unserer Kritik an den Rahmenrichtlinien lassen sich wie folgt zusammenfassen: erstens die Legitimation der Autoren, zweitens die Anerkennung des Pluralismus und drittens das Prinzip der Toleranz.Erstens. Die Autoren der Rahmenrichtlinien nahmen selbstverständlich an zu wissen, wer das richtige demokratische Bewußtsein hat und wer es vermissen läßt. Nun ist es gerade dies, was die CDU/CSU mit den Autoren offenbar gemeinsam hat; ich meine, sie hat mit ihrem Antrag bewiesen, daß sie am allerwenigsten das Recht hat, das Verhalten der Autoren der Richtlinien zu kritisieren.Zweitens. Der Pluralismus der Anschauungen in unserem Staat gebietet es, die Standpunkte der jeweils Andersdenkenden zu respektieren und gegebenenfalls zu berücksichtigen. Daß dies in den hessischen Rahmenrichtlinien zu Anfang nicht hinreichend geschehen ist, haben wir bemängelt. Der Zufall will es nun aber, daß auch dieses Argument voll auf den Antrag der CDU/CSU und damit die CDU/CSU selbst anzuwenden ist.Drittens haben wir immer darauf hingewiesen, daß die wesentliche Voraussetzung für unsere Demokratie die Toleranz ist und daß dies in den Rahmenrichtlinien nicht hinreichend ausgearbeitet worden sei. Auch dies kann man nahtlos auf die CDU/CSU und ihren Antrag übertragen. Ich meine, es gab heute genug Debattenbeiträge, die jegliche Toleranz vermissen ließen.Es hat aber auch zwei positive Aspekte gegeben. Wir beschäftigen uns nun endgültig damit, was die Schule zukünftig eigentlich leisten soll. Wir be-
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Frau Schuchardtschäftigen uns nun endlich auch damit, daß die Zeit der dirigistischen Entscheidungsvorhaben von oben vorbei ist und daß Lernzielsetzung aus der Gesellschaft heraus erfolgen muß. Die FDP hat immer betont, daß die Schule sich auch mit den Konflikten innerhalb der Gesellschaft zu befassen hat und daß die Diskrepanz zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit dabei einzuarbeiten ist. Ich meine, daß die öffentliche Diskussion über die Rahmenrichtlinien gezeigt hat, wie stark das Interesse gerade der Eltern und Schüler an diesem Thema ist. Ich kann nur hoffen, daß auch all diejenigen Lernzielsetzungen, die wir heute immer noch haben, ebenso wie neue Formen auf diese Art und Weise in der Öffentlichkeit einmal angegangen werden.Meine Damen und Herren, der Antrag der CDU/ CSU beweist eindeutig, daß die CDU/CSU das Grundgesetz offenbar als ein Ermächtigungsgesetz ansieht.
— Verzeihen Sie, verstehen Sie das Wort doch einmal so, wie es vom Inhalt her gemeint ist. In dem Antrag der CDU/CSU ist nämlich im wesentlichen von Verboten und Sanktionen die Rede. Auf den wesentlichen Kern unseres Grundgesetzes, nämlich den Auftrag, unsere Gesellschaft sozialstaatlich zu entwickeln, wird darin kaum eingegangen.Im Zusammenhang mit der Einstellung, oder besser: Nichteinstellung einiger Bewerber in den öffentlichen Dienst ist immer wieder auf unsere streitbare Demokratie hingewiesen worden. In diesem Begriff liegt aber gleichzeitig die große Gefahr verborgen, daß sich eine Demokratie bis zur Unkenntlichkeit schützen kann. Ich fürchte, daß dies von vielen bis heute nicht einmal bemerkt worden ist. Wir haben in den letzten Jahren wiederholt die Erfahrung machen müssen, daß sich Parteien oder Parlamentarier, ja, sogar Verwaltungen anmaßten, über Verfassungswidrigkeit entscheiden zu wollen. Wir haben erfahren müssen, daß dabei der Willkür Tür und Tor geöffnet war.Demokratie ist untrennbar mit Toleranz verknüpft.
Wo Toleranz aufhört, hört auch die Demokratie auf.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß wir uns mit extremen Kräften innerhalb dieser Gesellschaft politisch auseinandersetzen müssen. Ich bedaure es deshalb außerordentlich, daß weder die CDU/CSU noch die SPD an Podiumsveranstaltungen teilnehmen, zu denen extreme Gruppen eingeladen sind.
In Hamburg ist es neuerdings allein die FDP, die auf dem politischen Parkett den Kampf mit diesen Gruppen wagt. Ich hoffe, daß das nicht ein Beispiel für andere Landesverbände der SPD ist.Der Toleranzpegel ist von Mensch zu Mensch und von Gruppe zu Gruppe sehr unterschiedlich. DieLiberalen zeichnen sich dadurch aus, daß ihr Toleranzpegel etwas höher liegt als der von anderen. Toleranz denen gegenüber zu pflegen, die tolerant sind, ist noch nicht liberal. Die Liberalität beginnt erst dort, wo Toleranz auch noch gegenüber Intoleranz geübt wird.
Wir werden dieses Grundgesetz mit seinem tiefen Ansatz, so wie es Herr Hirsch heute morgen umschrieben hat, politisch verteidigen und ausfüllen, auch gegen Intoleranz aus den Reihen demokratischer Parteien.
Das Wort hat Herr Bundesminister von Dohnanyi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist spät geworden. Ich will mich daher darauf beschränken, hier die Fragen zu beantworten, Herr Kollege Maier, die Sie vorhin an Herrn Osswald gestellt haben, der inzwischen nicht mehr hier ist, weil er, wie Sie wissen, mit den Ministerpräsidenten zusammensitzt. Die gestellten Fragen sollten nicht unbeantwortet bleiben.Sie haben gefragt: Warum sind die ersten Entwürfe der Rahmenrichtlinien zurückgezogen worden? Der Grund liegt darin, daß wir den Versuch machen, Neuland zu betreten, mit neuen didaktischen Methoden vorzugehen. Dabei müssen selbstverständlich Erfahrungen gesammelt und folglich auch einmal bestimmte Entwürfe zurückgezogen werden. Das ist demokratisch, und das ist besser, Herr Maier, als wenn man eine Sache verordnet und sie stehenläßt.
Zweitens. Herr Maier, Sie haben gefragt, warum der Elternbeirat hier so einstimmig gegen die Rahmenrichtlinien votiert habe. Herr Maier, ich habe die Stimmen der Arbeitereltern in dieser Auseinandersetzung noch nicht gehört. Das ist nämlich das Problem: Hier nimmt sich eine Gruppe heraus, für alle Eltern zu sprechen. Das muß man klar sehen.
Sie haben dann mit einem gewissen Recht, Herr Maier, auf die Kritik von Herrn Nipperdey und Herrn Lübbe hingewiesen. Aber, meine Damen und Herren, das sind ja auch die beiden einzigen, die hier immer wieder zitiert werden. Man könnte auch z. B. den Präsidenten des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zitieren, der gesagt hat, daß die Erfahrungen mit Gesamtschulversuchen, die vom Deutschen Bildungsrat empfohlen wurden, auch dazu geführt haben, daß man inhaltliche Veränderungen vornimmt. Und dann sagte er — ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren —:Dieses Problem ist theoretisch seit langem behandelt worden. Im Entwurf der hessischen Rahmenrichtlinien werden aus ihm zum erstenmal praktische Konsequenzen gezogen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Februar 1974 5103
Bundesminister Dr. von DohnanyiAuch das muß man sehen. Das sind eben Befürworter. Es gibt nicht nur Gegner.Drittens. Sie haben mit Recht das Zitat von Golo Mann gebracht. Es gibt gerade aus dem Bereich der Historiker Kritik an diesen ersten Versuchen. Das ist unbestritten. Aber auch ein Kritiker wie Hans Mommsen, der, wie Sie wissen, hinsichtlich des Geschichtsverständnisses dieser Rahmenrichtlinien ebenfalls Fragen stellt, sagt dazu — ich darf wiederum zitieren —:Die Rahmenrichtlinien „Gesellschaftslehre" stellen einen bedeutsamen Ansatzpunkt dazu dar, die herkömmlichen, nach Schultypen differenzierten und im wesentlichen stofforientierten Lehrpläne durch ein neuartiges Unterrichtskonzept zu ersetzen, das von bestimmten Lernzielen ausgeht und diese mit spezifischen Lernfeldern in Beziehung setzt.Ich zitiere weiter:Ein solcher Versuch ist grundsätzlich zu begrüßen.Also auch hier keine einseitigen Feststellungen!Viertens. Herr Kollege Maier, Sie haben Herrn Osswald gefragt, warum hört man denn, wenn die Gesamtschulen so gut sind, die meiste Kritik von hessischen Gesamtschulen? Meine Damen und Herren, woher soll man denn die Kritik über solche Versuche sonst hören? Etwa von bayerischen Gesamtschulen, die es gar nicht gibt? Man kann ja nur aus Hessen, also von dort etwas hören, wo die Ver- suche gemacht werden.
Fünftens. Herr Maier, Sie haben gerügt, daß „Hessen vorn" immer noch ein Schlagwort sei, dabei aber der Ausbau gerade der Universitäten in Hessen nicht so schnell verlaufen sei. Nun muß ich Ihnen ehrlich sagen: Die Hessen sind eben insofern vorn, als sie es verstanden haben, daß es nicht nur um den Hochschulausbau, sondern auch um den Ausbau von Schulen, Berufsschulen und der Berufsbildung geht.
— Es ist gar kein Zweifel, daß das so ist. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen da schon zuhören. Es ist doch eine Doppelzüngigkeit, auf der einen Seite zu sagen, man müsse alles für Abiturienten tun, und auf der anderen Seite vor dem sogenannten akademischen Proletariat zu warnen. So kann man doch auch hier nicht vorgehen.
Sechstens. Hier ist gesagt worden, wir hätten in der Frage des Ordnungsrechts eine Umkehr vollzogen.
Meine Damen und Herren und Herr Professor Carstens, das ist nicht so. Wir haben schon 1972 gesagt,
daß man, wenn die Fachleute draußen, insbesondere Rektoren, Präsidenten und Kultusminister, der Auffassung sind, daß hier zusätzliche Instrumente erforderlich seien, diese wohl schaffen müßte. Nur eines: Die Debatte um diese Frage ging quer durch die Parteien. Wenn wir die Sachverständigen hören werden, sollten wir vielleicht auch den Generalsekretär der CDU laden, der als Rektor von Bochum im Jahre 1969 gesagt hat — ich darf wieder zitieren —:Nichts in der Diskussion um die Neugestaltungdes Disziplinarrechts begründet jedoch die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung.So Professor Biedenkopf im Jahre 1969! Auch das muß man wissen.Schließlich, Herr Maier, haben Sie eine Rede gehalten, die auch einen persönlichen Ton hatte. Aber ich will hier doch zugleich unterstreichen, daß Ihre These, nur wir hätten uns in manchen Fragen der Erfahrung Ihren bildungspolitischen Vorstellungen angepaßt, ganz sicher falsch ist. Sie haben heute eine Reihe von Gemeinsamkeiten der Bildungspolitik festgestellt, Gemeinsamkeiten, die auch Reformcharakter haben, Herr Maier. Ich gebe durchaus zu, daß in Ihrer Zustimmung zum Bildungsgesamtplan auch ein — wenn auch in kritischen Fragen, so scheint mir, begrenztes — Reforminteresse und Reformbedürfnis steckt. Allerdings haben Sie — ich will mit der Erlaubnis der Präsidentin wieder zitieren — im Jahre 1972, wenn ich das richtig sehe, nach einem Bericht der Nachrichten aus Bayreuth gesagt:Ohnehin bin ich überzeugt, daß die wichtigsten Reformen geschehen sind, bevor man von Reformen zu reden begann: in den hinter uns liegenden 20 Jahren.Meine Damen und Herren, wer das von der Bildungspolitik sagt und dem Bildungsgesamtplan zustimmt, der ist seinerseits auch einen Schritt in Richtung auf Reformen gegangen. Wir begrüßen das. Aber man sollte nicht so einseitig diskutieren.
Das Wort hat der Herr Kultusminister von Oertzen, Niedersachsen.Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte hat, was ich verstehen kann und als Kultusminister ganz besonders, in der letzten Zeit eigentlich eine Wendung zu einer Schul- und Hochschuldebatte genommen. Auch wenn ich einräume, daß wesentliche Fragen des Verfassungsverständnisses auf diesem Gebiet sichtbar wer. den und beantwortet werden müssen, so ist die Debatte um unsere Verfassungsordnung im Kern ja denn doch nicht eine Debatte ausschließlich übe] Schul- und Hochschulfragen.Nichtsdestoweniger lassen Sie mich ein paar Bemerkungen machen, weil ich persönlich hier angesprochen worden bin und weil Herr Kollege Dregger heute morgen eine Feststellung getroffen hat, die
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Landesminister Dr. von Oertzenschon Herr Kollege Carstens vorher irrtümlicherweise getroffen hat. Mein Landsmann Herr Groß von der FDP-Fraktion hat sie bereits ein wenig zurechtgerückt. Er hat von niedersächsischen Rahmenrichtlinien gesprochen, die nicht am Grundgesetz orientiert seien. Es gibt keine niedersächsischen Rahmenrichtlinien, was ich sehr bedauere; aber sie sind erst in der Erarbeitung. Es gibt Handreichungen; das sind freiwillige, von den Schulen anzunehmende oder abzulehnende Angebot von Kursen für die Arbeit in der gymnasialen Oberstufe. Von den über hundert, die bisher erschienen sind, sind zwei in die kritische Auseinandersetzung geraten. Im einen Fall haben sich die Autoren mit den Kritikern geeinigt und eine verbesserte Fassung vorgelegt. Im anderen Fall sind die Meinungsverschiedenheiten bestehengeblieben. Hier von einer Indoktrination der niedersächsischen Schulen zu sprechen, wäre, glaube ich, ein wenig übertrieben.Was die Bemerkung betrifft, daß wir nicht bereit gewesen seien, dem Gebot des Bundesverfassungsgerichts zu folgen: Wir haben das Gesetz, das teilweise — nicht vollständig — für verfassungswidrig erklärt worden ist, auf dem schnellsten Wege novelliert; wie wir meinen, in Übereinstimmung mit dem Karlsruher Urteil. Daß die Damen und Herren von unserer Landesopposition, die mit der Bundesopposition identisch ist, damit nicht einverstanden sind, das sei ihnen unbenommen. Wir haben ein gutes Gewissen, hiermit das Gebot des Bundesverfassungsgerichts erfüllt zu haben. Aber dies, meine ich, sollte nicht im Mittelpunkt der Diskussion stehen.Ich möchte vielmehr an die allgemeinen Äußerungen, die insbesondere mein hochschätzbarer Kollege Herr Staatsminister Maier hier gemacht hat, anknüpfen, weil ich meine, daß er mit dem Scharfsinn und der Beredsamkeit, die ihn auszeichnen und die wir von ihm kennen, hier eine Position aufgebaut hat, die auf Anhieb außerordentlich sympathisch und einnehmend wirkt, die aber im wesentlichen die Funktion hat, was davor und daneben aus den Reihen der konservativen Opposition in diesem Hause und außerhalb dieses Hauses gesagt worden ist, in Vergessenheit geraten zu lassen.Ich möchte das, was Herr Kollege Dregger hier heute morgen gesagt hat, eben nicht in Vergessenheit geraten lassen. Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß er einen Kernsatz des geltenden Parteiprogramms der Sozialdemokratischen Partei herausgegriffen hat, den Satz, daß die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt werde, und daran eine Folgerung geknüpft hat, die ich mir wörtlich mitgeschrieben habe, weil man diese Formulierung in der Tat auf der Zunge zergehen lassen und sie in Gegensatz zu der Forderung nach Großzügigkeit und Gelassenheit setzen muß, die Herr Kollege Maier völlig zu Recht hier aufgestellt hat. Er hat nämlich gesagt, dies sei eine Forderung, die antipluralistisch sei — nun gut, dies mag noch hingehen, obwohl auch dies ein ziemlich schwerer Vorwurf ist —, antidemokratisch und im Grunde totalitär.
— Da Sie das noch einmal bekräftigt haben, kann ich mir weitere Argumentationen in dieser Richtung ersparen.
Sie übernehmen das als Ihre Überzeugung. Ich stelle hiermit fest, die CDU/CSU-Fraktion dieses Hauses hat durch ihren Beifall kund und zu wissen getan, daß sie einen wesentlichen Bestandteil des gültigen Parteiprogramms der SPD für totalitär hält. Wir werden uns das merken.
Aber da ich es dabei nicht bewenden lassen will und da heute morgen ein sehr scharfer Zwischenruf gemacht worden ist — es ist Herrn Kollegen Dregger Ignoranz vorgeworfen worden; dieses Wort würde ich ihm gegenüber niemals in den Mund nehmen, ich würde lieber auf deutsch von Unwissenheit sprechen,
das ist ebenso wahr, aber weniger kränkend , darf ich mir erlauben — und das wird das einzige Zitat sein, Frau Präsidentin —, eine Passage aus der politischen Rede eines in relativ führender Position tätigen Sozialdemokraten zu verlesen, aus der der Standpunkt unserer Partei zu diesem Thema deutlich hervorgeht. Dort wird gesagt:Sozialismus ist vollendete Demokratie. Ein „undemokratischer Sozialismus" ist nicht etwa ein Sozialismus mit kleinen Fehlern, sondern hat das sozialistische Ziel in seinem wesentlichen Inhalt überhaupt verfehlt. Demokratische Meinungs- und Willensbildung ist nur auf der Grundlage uneingeschränkter individueller und sozialer Freiheit möglich. Gewissens- und Meinungsfreiheit, institutionelle Sicherung freier Kritik, Wissenschaftsfreiheit, Pressefreiheit, Organisations- und Koalitionsfreiheit, Minderheitenschutz usw., kurz, die klassischen Errungenschaften des demokratischen und liberalen Rechtsstaates müssen infolgedessen im Sozialismus uneingeschränkt erhalten bleiben. In der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sind diese Errungenschaften in dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung enthalten. Die Verteidigung der Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gegen reaktionäre Einengung und pseudorevolutionäre Relativierung ist daher für den Sozialismus nicht nur eine taktische, sondern eine prinzipielle Aufgabe.
Ich darf nun auch sagen, wer das gesagt hat und wo es gesagt worden ist. Ich bin es selbst, der das gesagt hat.
Landesminister Dr. von Oertzen— Ich wollte mir das Vergnügen Ihrer freudigen Überraschung nicht nehmen lassen, meine Damen und Herren von der Opposition. Es wird Sie vielleicht interessieren, wo und unter welchen Umständen: nämlich vor deni Parteitag der so viel diskutierten und so arg berüchtigten Frankfurter Sozialdemokratie. In der Diskussion hat kein einziger der Diskussionsteilnehmer diesen Feststellungen widersprochen. Wenn sie diese Auffassung, die die uneingeschränkte und einmütige Auffassung der Sozialdemokratischen Partei ist,
mit der Äußerung vergleichen, die Herr Kollege Dregger heute morgen getan hat, dann stoßen wir auf den Grundirrtum der Diskussion, die Sie hier zu führen gedenken.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gerster?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Nein.
Sie verwischen nämlich — ich will nicht unterstellen: vorsätzlich — die Ebenen der politischen Diskussion, die Ebene der aktuellen politischen Meinungsverschiedenheiten, der grundlegenden gesellschaftspolitischen Gegensätze — Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus —, und schließlich die Ebene, auf der der Konsensus aller Demokraten in der Bejahung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung seinen Ort hat. Wir haben im Gegensatz zu Ihnen, jedenfalls heute, niemals versucht, jene zu verketzern, die die Demokratie durch eine andere Wirtschafts- und Sozialordnung erfüllt sehen wollten als wir. Aber Sie haben versucht dafür haben Sie heute wieder vielfach Beweise geliefert —, die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung, die von Ihnen so genannte soziale Marktwirtschaft, als ein positives und zwingendes Verfassungsgebot darzustellen
- darauf werde ich sofort kommen - und alle jene
als verfassungsfeindliche Systemveränderer zu verdächtigen, die im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung diese Gesellschaft verändern wollen.
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ver- I pflichtet nicht auf eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialordnung. Das hat Herr Kollege Vogel — das will ich einräumen — auch in einer Passage seines Diskussionsbeitrages ausdrücklich gesagt und hat gleichzeitig Herrn Ministerpräsidenten Filbinger beigepflichtet, der die Forderung nach Vergesellschaftung der Banken entgegen dem Wortlaut
und dein Geist des Art. 15 des Grundgesetzes — für
einen verfassungfeindlichen Akt erklärt hat.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Nein.
Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, noch ein Zitat zu hören. Dann bin ich gerne bereit, die Zwischenfrage von Herrn Kollegen Vogel zu beantworten.
Mein wissenschaftlicher Kollege Biedenkopf-wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich um den Generalsekretär der CDU -
hat am 15. September des vergangenen Jahres auf dem Rheinischen Mittelstandstag in Neuß folgendes gesagt — ich bitte herzlich, wenn Sie schon meinen Worten nicht lauschen wollen, wenigstens den Worten Ihres Generalsekretärs einen Augenblick Aufmerksamkeit zu schenkenDie soziale Marktwirtschaft ist die verfassungsrechtliche Form der Machtkontrolle in einer freiheitlichen Gesellschaft.
Ich sage bewußt verfassungsrechtlich; denn es ist meine Überzeugung, daß die Grundzüge dieses am System der Gewaltenteilung orientierten Prinzips der Machtkontrolle in unserer Verfassung festgeschrieben sind.
- Ja bitte! Das aus der abwägenden Sprache des Wirtschaftsjuristen in simple politische Umgangsrede übersetzt heißt doch: Sie halten also die Forderung nach Änderung der Wirtschaftsordnung, soweit damit die Änderung der Marktwirtschaft gemeint ist, für verfassungswidrig. Und genau das habe ich behauptet.
Darüber hinaus hat Herr Kollege Biedenkopf außerdem noch behauptet, daß eine voll entwikkelte sozialistische Wirtschaft überhaupt, unter gar
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Landesminister Dr. von Oertzenkeinen Umständen, nicht einmal durch Verfassungsänderung eingeführt werden könnte, sondern lediglich durch eine revolutionäre Änderung der Verfassung. Genau diese Art und Weise, Auffassungen — die Sie von Ihrem Standpunkt aus politisch bekämpfen mögen; das Recht wird Ihnen niemand bestreiten — dadurch diskreditieren zu wollen, daß Sie sie mit Kunstgriffen für verfassungswidrig erklären,
diese Tatsache ist es, die ich gegenüber den schönen Reden von Herrn Maier noch einmal deutlich herausstellen wollte.
Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Bitte.
Herr Minister von Oertzen, ist Ihnen entgangen, daß ich den Wortlaut des Art. 15 des Grundgesetzes vorgelesen habe, daß sich daraus ergibt, daß eine Verstaatlichung von Banken und Versicherungen nicht möglich ist, daß sie nicht grundgesetzkonform wäre, und sind Sie im übrigen bereit, sich von Ihrem Parteifreund Professor Kriele darüber belehren zu lassen, daß eine Zentralverwaltungswirtschaft mit dem Grundgesetz nicht vereinbar wäre?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Herr Kollege Vogel, in Art. 15 des Grundgesetzes steht, daß die Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln zulässig ist.
Es geht um die Deutung des Begriffes „Produktionsmittel".
Es handelt sich eindeutig um eine Kategorie, die Eigentum bezeichnet, also zum Beispiel Aktienkapital. Es widerspräche jeder wirtschaftlichen Vernunft und einer sinnvollen Ausdeutung des Begriffs „Produktionsmittel", wenn man beispielsweise theoretisch nach Art. 15 des Grundgesetzes das Kapitaleigentum an einem Produktionsbetrieb, nicht aber jene Bank, die beispielsweise das Eigentum an dieser Aktienmehrheit in Händen hält, der öffentlichen Kontrolle durch Sozialisierung unterwerfen dürfte.
Ich bin also der Meinung, daß der Begriff „Produktionsmittel" selbstverständlich das Bank- und Kreditwesen mit einschließt.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stauffenberg?
Herr Minister von Oertzen, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie vorher gesagt haben, daß der Art. 15 des Grundgesetzes in seinem Wortlaut — in seinem Wortlaut! — die Verstaatlichung von Banken gestattet, während Sie jetzt eine mühsame Interpretation Ihrer Art gegeben haben, die mit dem Wortlaut nichts zu tun hat?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Ich habe gesagt, daß der Art. 15 die Verstaatlichung von Banken und Versicherungsgesellschaften gestattet. Dieser Meinung bin ich auch.
Sie haben gesagt „im Wortlaut". Bleiben Sie doch bei dem, was Sie gesagt haben!
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Selbstverständlich; weil ich der Meinung bin, daß Banken und Versicherungsgesellschaften durch den Begriff „Produktionsmittel" gedeckt werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Ja, bitte!
Herr Minister, stimmen Sie mir zu, daß dieses juristische Detailproblem ebenso wie viele andere Probleme durch einen Blick in den Kommentar von Maunz-DürigHerzog gelöst werden könnte, auch durch einen Blick in die Schrift über Eigentum und Sozialisierung des Professors Klein, der aber nicht identisch ist mit unserem H. H. Klein aus Göttingen?Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich stimme Ihnen darin zu.Das entscheidende Problem in der Auseinandersetzung um die Verfassungswirklichkeit und die Verfassungspolitik ist, wie ich glaube, heute morgen in einem Satz von Herrn Kollegen Genscher deutlich gemacht worden, in dem er nämlich von der Freiheit im Risiko sprach und von der Grenze zwischen der freien geistigen Auseinandersetzung und der Abwehr aktiver verfassungsfeindlicher und gewaltsamer Tendenzen. Es besteht immer die Gefahr, diese Grenze zu verwischen. Die Extremisten verwischen sie auf ihre Weise genauso wie diejenigen, die alles das, was ihnen weltanschaulich oder poli-
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Landesminister Dr. von Oertzentisch nicht in den Kram paßt, sofort mit dem Makel der Verfassungsfeindlichkeit belegen wollen.In diesem Zusammenhang darf ich noch ein paar Bemerkungen zu dem Diskussionsbeitrag von Herrn Kollegen Vogel machen. Er hat gesagt — dem ist ohne weiteres zuzustimmen —: An der Inkorporation in das Verfassungsgefüge der streitbaren Demokratie nehmen nur diejenigen Parteien teil, die auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen. Das ist richtig. Aber er hat nicht gesagt, daß diese Feststellung, ob eine solche Partei auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung steht, nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes eben nicht durch eine Opposition, nicht durch eine Exekutive, nicht einmal durch das Parlament, sondern ausschließlich durch das Bundesverfassungsgericht getroffen werden kann.
Er hat dann weiter in einer sehr ironischen Art und Weise — und ich habe mich eigentlich gewundert, daß das ohne Protest von irgendeiner Seite hier hingenommen worden ist —
davon gesprochen, die häufig erhobene Forderung, im Kampf gegen Verfassungsfeinde ein Höchstmaß an Rechtsstaatlichkeit zu wahren, sei im Grunde nur so eine Art Deckmantel vor einer Schwächung der materiellen Rechtsstaatlichkeit. Ich kann nicht finden, daß die Forderung nach einem Höchstmaß an Rechtsstaatlichkeit irgend etwas wie eine solche Schwächung der Rechtsstaatlichkeit darstellen könnte.Er hat in diesem Zusammenhang dann gemeint, die Solidarität der Linken überlagere die Solidarität der Demokraten. Herr Kollege Maier hat seinerseits zum solidarischen Handeln aller Demokraten aufgerufen. So richtig diese Feststellung ist, ist doch die Frage, die wir stellen müssen: Wo ist hier heute, wenn wir Ihre tatsächlichen Aussagen nicht über kleine Randgruppen, nicht über Gewalttäter, nicht über extremistische Splitter, sondern über Programm und politische Forderungen dieser Sozialdemokratischen Partei als ganzer vor uns Revue passieren lassen, die Solidarität der Demokraten?
Sie betrachten einen Kernsatz unseres Programms als totalitär. Sie betrachten bereits die Forderung auf Verstaatlichung eines Wirtschaftszweiges als verfassungswidrig. Sie bauen aus dem vielberufenen imperativen Mandat einen Buh-Mann auf, um damit auf die Mehrheitsparteien dieses Hauses loszuschlagen. Ist das die Solidarität der Demokraten, die Sie beschwören? Sie können nicht erwarten, daß wir auf der Basis einer solchen Polemik diese Solidarität akzeptieren.
Ich darf gerade zu dem vielumstrittenen Thema des imperativen Mandats noch einige Bemerkungen machen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Ja, bitte.
Herr Minister von Oertzen, sind Meldungen falsch, nach denen Sie in Frankfurt sich von dem imperativen Mandat ausdrücklich distanziert haben?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Die Meldungen sind richtig. Und es hat mir — das ist das Komische — bis hin zu den extremsten Jungsozialisten in dieser Konferenz niemand widersprochen. Das glauben Sie wohl nicht?
Unser Grundgesetz und die Verfassungen besagen, daß die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen seien. Trotzdem wissen wir, meine Damen und Herren — ich glaube, im Ernst kann das nicht geleugnet werden —, daß Abgeordnete natürlich vielerlei politischen Einflüssen unterliegen: ihrer Fraktion, ihrer Parteiorganisation und ihrer Wähler. Was mit dem Art. 38 gesagt wird - und das ist unbestritten —, ist, daß es keine Rechtspflicht zur Stimmabgabe auf Weisung und keine Möglichkeit der Abberufung während der Wahlperiode gibt. Diese gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Institutionen zu verändern, hat niemand gefordert, weder die Sozialdemokratische Partei als ganze noch irgend jemand in ihren Reihen.
Aber ebenso unstreitig ist es - es sind ja heutemorgen auch aus Ihren Reihen mehrere Beispiele dafür genannt worden —, daß es eine freiwillige Bindung an Mehrheitsbeschlüsse der eigenen Partei und der eigenen Fraktion gibt. Es ist unbestritten, daß es einer Partei freisteht, einen Abgeordneten, der immer wieder gegen Fraktions- und Parteibeschlüsse handelt, nicht wieder aufzustellen. Es ist jeder Partei freigestellt — und es ist in allen Parteien vorgekommen —, Abgeordnete aus Fraktionen oder wegen Zuwiderhandelns gegen Parteibeschlüsse aus Parteien auszuschließen. Auch das ist, glaube ich, unstreitig, und niemand kann im Ernst in Abrede stellen, daß es sich hier um rechtmäßige Maßnahmen handelt.Dahinter aber, meine Damen und Herren, steht doch ein ganz anderes Problem. Im Ernst wird doch niemand leugnen können, daß es in dem Maße, in dem soziale Spannung und aktive Anteilnahme der Bürger in unserer Gesellschaft zunehmen, in dem die unbestrittene Autorität der Obrigkeit — nennen wir es einmal so — auch der gewählten Volksvertreter in Frage gezogen wird, so etwas wie ein Parla-
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Landesminister Dr. von Oertzenments- und Parlamentarierproblem im demokratischen Staat gibt, daß es Entfremdungserscheinungen gibt zwischen gewählten Volksvertretern und ihren Wählern sowohl als ihren Parteiorganisationen und wachsende Spannungen auch in den einzelnen Parteien. Es wäre doch einfach leichtfertig oder, wenn es vorsätzlich als politische Waffe mißbraucht wird, auch noch Schlimmeres, wenn man den Parteien das Recht bestreiten wollte, den Versuch zu unternehmen, die Frage zu klären, die da lautet: Wie können die gewählten Volksvertreter in Übereinstimmung mit dem Auftrag ihrer Wähler und in Übereinstimmung mit dem politischen Willen der Partei, die sie entsandt hat und der sie doch sehr weitgehend ihr Mandat verdanken, gebracht werdenHerr Kollege Maier hat mit Recht darauf hingewiesen, daß es gerade bei der jungen Generation eine Art von Unsicherheit gibt. Und er hat, wie ich glaube auch zu Recht gesagt, daß vieles davon auf das erzieherische Versagen der Elternhäuser zurückzuführen ist; ich würde aber hinzufügen: sicherlich auch manches auf Versäumnisse der Politik, auf Versäumnisse des Staates und der öffentlichen Erziehung. Es geht nicht darum, die Probleme, die daraus entspringen, nun zu leugnen oder Lösungsversuche von vornherein zu verketzern. Es geht darum, falsche Alternativen zu vermeiden.Herr Kollege Maier hat gemeint, relativistische Verständnisbereitschaft, also widerstandsloses Nachgeben gegenüber unruhigen, fordernden oder gar extremistischen Kräften sei falsch. Das ist sicher richtig. Und er hat die rechte Autorität, das Vermitteln von Werten und den Appell an Vorbilder dagegengesetzt. Das ist sicherlich ebenso richtig. Aber die Frage ist doch entscheidend die, wie diese Vorbilder aussehen sollen, ob es etwa das Vorbild einer starren, jede denkbare oder auch nur halbwegs sich entwickelnde Abweichung verketzernden Interpretation der geltenden Verfassung ist. Niemand bestreitet, daß das geltende Verfassungsrecht Gültigkeit hat und daß die geltende Verfassung eingehalten werden muß, aber ebensosehr kann doch niemand bestreiten, daß geschriebene Verfassungen und der Gehorsam der Verfassung, daß Staatstreue und Loyalität nicht im luftleeren Raume schweben.
— Nein, aber die Art und Weise, in der Sie auf breiter Front — und ich meine, ich habe eine Reihe von Belegen hier vorgebracht — immer wieder den Versuch machen, der Sozialdemokratie als ganzer in ihrer gesellschaftsverändernden — nennen wir sie systemverändernden, nämlich das gesellschaftliche System verändernden — Politik den Makel der mindestens möglichen Verfassungswidrigkeit aufzudrücken, zeigt ganz deutlich, daß Sie diese Grenze eines starren, eines im Grunde bloß bewahrenden— um nicht zu sagen: reaktionären — Verfassungsverständnisses eben nicht überschreiten wollen.
Wir wissen, daß der Weg zwischen den Gefahren der Erstarrung auf der einen Seite und dem Ab-gleiten in eine uferlose und zerstörerische, im schlechten Sinne des Wortes revolutionäre Entwicklung auf der anderen Seite ein sehr schmaler und ein sehr gefährlicher Weg ist. Die Sozialdemokratische Partei ist in ihrer ganzen langen Geschichte diesen Weg trotz mancher Irrtümer und vieler Niederlagen, die wir ja auch zu verzeichnen haben -das wollen wir nicht leugnen ,
unbeirrt gegangen, und sie wird sich auch von Ihnen von diesem Wege nicht abbringen lassen.Eines lassen Sie mich zum Schluß sagen: In Sachen Verfassungstreue bedarf die Sozialdemokratische Partei von Ihrer Seite keiner Belehrung!
Meine Damen und Herren, es ist nach 21 Uhr. Der Ältestenrat hat vereinbart, daß die Sitzung zu diesem Zeitpunkt geschlossen werden sollte. Bevor ich die Sitzung schließe, erteile ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Müller zu einer persönlichen Bemerkung das Wort.
Danke schön, Frau Präsidentin! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Äußerung des Kollegen Gansel, ich hätte in früheren Erklärungen in den 50er Jahren 1 Aussprüche getätigt, die mich heute unter den Radikalenerlaß fallen ließen, weise ich zurück. Herr Gansel konnte keinerlei konkrete Angaben machen, er hat auch keine gemacht, und er kann auch in Zukunft keine machen.
Richtig ist, daß ich schon im Jahre 1958 als Rechter aus dem SDS von Thomas von der Vring, Immanuel Geiß, Ulrike Meinhof und Erika Runge ausgeschieden bin, von dem sich die SPD erst 1962 getrennt hat.
In einer Festschrift des SHB aus dem Jahre 1970
wird mir wörtlich seit meinem Eintritt in die SPD 1955 permanent reaktionäre Gesinnung vorgeworfen.
Diesen Vorwurf habe ich akzeptiert, da jene Kräfte
Reaktion mit Treue zum Grundgesetz gleichsetzen.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat der Abgeordnete Gansel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war mir leider nicht möglich, in einer Zwischenfrage meine Äußerung zu konkreti-
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Gansel sieren. Es ist aber so, daß diese Zwischenfrage eine typische Reaktion auf die humoristischen Zwischenfragen war, die Herr Müller heute gemacht hat. Ich stehe allerdings zu dem, was ich gesagt habe, und scheue mich nicht, den Wahrheitsbeweis anzutreten, wenn Herr Müller ihn von mir fordert.
Meine Damen und Herren, damit ist die Sitzung beendet.
Ich berufe das Haus auf morgen, Freitag, den 15. Februar, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.