Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll Punkt 8 e — Sozialbericht 1973 von der Tagesordnung abgesetzt werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall; dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über das Erbbaurecht
— Drucksache 7/118 —
Bericht und Antrag des Rechtsausschusses
— Drucksache 7/1285
Berichterstatter:
Abgeordneter Kunz Abgeordneter Gnädinger
Wünschen die Herren Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird in der allgemeinen Aussprache das Wort gewünscht? — Auch ,das ist nicht Eder Fall.
Ich rufe Art. 1 Nr. 1 auf. Hierzu liegt der Änderungsantrag Drucksache 7/1354 der Fraktion der CDU/CSU vor. Herr Abgeordneter Kunz, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits in der ersten Lesung hat mein Kollege Orgaß auf die Notwendigkeit der Novellierung der Erbbaurechtsverordnung hingewiesen. Ich kann darauf Bezug nehmen.
Die CDU/CSU hatte bereits ,im 6. Deutschen Bundestag einen Antrag auf Novellierung des Erbbaurechts eingebracht. Diesem Antrag und der Mitwirkung an ,dem hier zu beratenden Regierungsentwurf liegt das Bemühen zugrunde, zu einer stärkeren sozialen Bindung des Erbbaurechts zu kommen.
Die stärkere soziale Bindung des Erbbaurechts ist ein allgemeines Problem. Seine Lösung ist aus folgenden Gründen erforderlich. In Erbbaurechtsverträgen finden sich vielfach Gleitklauseln. Diese sehen einen gleitenden Erbbauzins vor. Der gleitende Erbbauzins wiederum knüpft an die Erhöhung von Bodenwerten an, d. h., die Erhöhung von Bodenwerten führt zu höheren Erbbauzinsen. Das hat vielfach zu Belastungen im sozialen Bereich geführt, die über das erträgliche Maß hinausgehen. Insoweit herrscht Übereinstimmung.
Die Frage ist, wie man das Problem lösen kann. Sowohl der seinerzeitige Entwurf der CDU/CSU als auch der hier zu behandelnde Entwurf der Bundesregierung wollen das geschilderte Problem dadurch lösen, daß die Anpassungsklauseln begrenzt werden, insbesondere mit der Zielrichtung, sozial schädliche Auswirkungen abzubauen. Sowohl in den zuständigen Ausschüssen als auch in interfraktionellen Gremien hat es darüber Diskussionen gegeben, die sich über Jahre hingezogen haben.
Ich möchte feststellen, daß die CDU/CSU erstens dafür ist, dieses soziale Erbbaurecht zu schaffen. Zweitens sind wir dafür, dieses soziale Erbbaurecht so zu schaffen, daß wir die Anpassungsklauseln begrenzen. Drittens ist nach Auffassung der CDU/CSU der zu findenden Regelung Rückwirkung insoweit beizulegen, als die Anpassungsklauseln, die bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes wirksam sind, von diesem Gesetz betroffen werden sollten.
Das eigentliche Problem — und dies ist auch der Gegenstand meiner Begründung zu unserem Änderungsantrag — besteht darin, daß wir uns die Frage stellen müssen: Wie begrenzen wir die Anpassungsklauseln?
Im federführenden Rechtsausschuß hat die Regierungskoalition mit Mehrheit einen Weg eingeschlagen, der dahin führen soll, daß die Erhöhung durch den Begriff „Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse" begrenzt ist. Auf diesen Begriff wird noch einzugehen sein.
Die CSU/CSU hat als Minderheit im Rechtsausschuß einen Antrag gestellt, der mit dem hier vorliegenden Änderungsantrag identisch ist. Danach soll die Eingrenzung dadurch herbeigeführt werden, daß bei Erhöhungen, sofern sie überhaupt zulässig sind, als Obergrenze auf den „Anstieg des Preisindexes für die Lebenshaltung nach Maßgabe der Veröffent-
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Kunz
lichung des Statistischen Bundesamtes" abgestellt wird. Dieser Antrag ist nicht neu. Er lag nämlich schon den Beratungen im Ausschuß für Städtebau, Bauwesen und Raumordnung zugrunde, und er ist nach unserer Auffassung und nach der damaligen Auffassung aller Fraktionen
— auch der SPD und der FDP — die einzige Möglichkeit, auf einer sicheren Grundlage zu einer Eingrenzung zu kommen.
Die nunmehr vorgesehene Formulierung, nämlich „Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse", ist ein Begriff, der überhaupt nicht eindeutig ist, der überhaupt nicht zur Grundlage einer Rechtsfindung dienen kann, der insbesondere keine soziale Sicherheit schafft und der, wie noch nachzuweisen sein wird, den Sinn, nämlich mehr Sozialbindung im Erbbaurecht zu schaffen, geradezu in sein Gegenteil zu verkehren in der Lage ist.
— So ist es.
Ich glaube deshalb, daß man einmal die Frage stellen muß: Wie kam es eigentlich zu diesem Begriff „Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse"? Es kam zu diesem Begriff, weil das Bundeswirtschaftsministerium sagte, ein Abstellen auf den Anstieg der Lebenshaltungskosten würde bedeuten, daß das Nominalprinzip unserer Währung, also das Prinzip Mark gleich Mark, verletzt würde; das würde weiterhin bedeuten, daß man die Inflationsmentalität stärken und überhaupt der Inflation auf diesem Wege nicht begegnen würde.
Meine Damen und Herren, es scheint mir ein überaus frommer Wunsch zu sein, zu meinen, man könne die Inflation unter anderem dadurch bekämpfen, daß man auf eine Klausel verzichte, die auf den Anstieg der Lebenshaltungskosten abstellt. Die Inflation ist leider da, und wir bekommen sie nicht dadurch weg, daß wir uns immer wieder auf bestimmte Prinzipien berufen. Das geht insbesondere nicht zu einem Zeitpunkt, wo in der Rechtsprechung gerade gestern konnte man das in allen Zeitungen lesen — wieder unterstrichen wurde, daß angesichts der Inflation das Abstellen auf den allgemeinen Anstieg der Lebenshaltungskosten ein vielfach brauchbarer Weg zum Ausgleich von Interessengegensätzen sein kann. Allerdings wurde dabei, wie ich einräume, nicht auf das hier zu behandelnde Problem abgestellt, sondern auf ein anderes Problem. Aber immerhin finden Sie eine solche Tendenz in der Rechtsprechung mehr und mehr.
Ich möchte fragen, meine Damen und Herren: Was soll eigentlich ein Richter und man muß Gesetze doch wohl so machen, daß sie zumindest ein Richter anwenden kann; das ist ohnehin wenig, viel zu wenig; aber wenigstens der muß doch mit diesem Instrument umgehen können — mit einer Regelung machen, die auf eine „Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse" abstellt? Da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist der Richter wirtschaftlich besonders kundig; dann wird er mit diesem Begriff, weil er nicht einmal volkswirtschaftlich präzis ist, nichts anfangen können. Oder der Richter ist wirtschaftlich nicht besonders kundig; dann kann er auch nichts damit anfangen.
— Das bedeutet also, daß wir hier einen Begriff haben, Herr Kollege Schäfer, der so unkonkret ist, so uferlos, daß er im Grunde nur eine Formel ist, die vielleicht für die Koalition Zusammenhalt bringen mag, die aber der Lösung des Problems nicht dient.
Ich habe mich natürlich im Rechtsausschuß erkundigt: Was soll man überhaupt unter einer solchen Formel verstehen? Es wurde uns gesagt: Ja, der Begriff „Änderung der .allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse" bedeutet, daß in diesen Begriff außer den Lebenshaltungskosten alle Verhältnisse
— ich darf zitieren — „einfließen sollen, ,die in 'der Wirtschaft Änderung erfahren".
Meine Damen und Herren, welche Verhältnisse erfahren denn in der Wirtschaft keine Änderung? Das ist doch geradezu das Postulat des schwammigen Begriffes.
So meine ich, wir sollten uns bemühen, diesen Begriff durch einen besseren Begriff zu ersetzen, nämlich durch das, was wir vorgeschlagen haben: den Anstieg der Lebenshaltungskosten. So ist auch unser Antrag zu verstehen.
Erlauben Sie mir, auch darauf hinzuweisen, ,daß es mir äußerstbedenklich zu sein scheint, in einem Rechtsstaat Begriffe zu verwenden, die so unpräzis sind, daß im 'Grunde die dritte Gewalt nicht mehr begreifen kann, was die erste Gewalt will.
Das ist sogar ein allgemeines verfassungspolitisches Problem. Ich muß sagen: Nicht nur bei diesem Gesetz, sondern auch bei anderen Gesetzen wird zunehmend eine Tendenz erkennbar, Recht so unpräzis zu schaffen, daß im Grunde kein Recht mehr vorliegt.
Wozu wird der Begriff — ich komme noch einmal auf ihn zurück — „Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse" im Erbbaurecht führen? Jeder Richter wird doch förmlich darum bitten müssen, einen Vergleich abzuschließen. Wenn man bei dieser Materie zunehmend Vergleiche abschließt, wird 'das dazu führen, daß im Zweifel dem sozialen Sinn dieses Entwurfes mit Ihrer Formulierung nicht nur nicht entsprochen werden wird, sondern der soziale Sinn wird in sein Gegenteil verkehrt.
Ich möchte Sie deshalb bitten: Helfen Sie mit, daß
ein Gesetz, das sozial sein will, auch sozial sein
kann, und unterstützen Sie deshalb unseren Antrag.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gnädinger.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4109
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst zur Drucksache 7/1354 Stellung nehmen. Ich glaube, daß dazu zwei Bemerkungen notwendig sind.
Eine erste Bemerkung dazu, wie ,die CDU/CSU-Fraktion das vorliegende Problem parlamentarisch bisher behandelt hat: Wir hatten schon im 5. Deutschen Bundestag einen Gruppenantrag aus Ihren Reihen,
der dann im Rechtsausschuß mit Hilfe der Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt worden ist.
— Darüber hinaus hatten wir, Herr Orgaß, im letzten Deutschen Bundestag einen Antrag ,der Bundesregierung und einen Antrag der Opposition. Die Opposition hat darauf verzichtet, ihren eigenen Antrag wieder einzubringen, sondern legt heute etwas vor, das in einem früheren Stadium dieses Gesetzgebungsverfahrens von Abgeordneten der Koalition ausgearbeitet worden ist. Sie sind heutzutage also nicht einmal in der Lage, einen eigenen neuen Vorschlag dazu zu machen.
Das ist das eine, was man zum Prozeduralen sagen muß.
Zum zweiten muß man zum Inhalt sagen, daß der von Ihnen vorgelegte Antrag auf währungspolitische Bedenken stößt.
Diese währungspolitischen Bedenken sind sowohl im Wirtschaftsausschuß — nein, ich muß zügig vorankommen, Frau Präsidentin — .. .
Der Redner läßt keine Zwischenfrage zu, Herr Kollege Orgaß.
... behandelt, als auch von der Bundesbank vorgetragen worden.
Außerdem — und darauf muß ich im Namen der SPD-Fraktion hinweisen liegt ein Kabinettsbeschluß vor, der auch diese währungspolitischen Bedenken zum Inhalt hat. Da wir uns an Koalitionsabsprachen halten möchten,
ist dieser Vorschlag nicht durchführbar. Und „aha" nützt überhaupt nichts!
Ich möchte mich nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, insbesondere mit dem, was der Rechtsausschuß als Antrag hier eingebracht hat, kurz befassen. Ich glaube nicht, daß es im Augenblick angebracht ist, ausgedehnte Erläuterungen über die gedanklichen Grundlagen des Erbbaurechtes zu geben. Wir meinen, daß es neben seiner Sozialfunktion auch eine wichtige Funktion in einer künftigen Bodenordnung haben kann.
Das Anliegen des heute vorliegenden Gesetzentwurfes ist jedoch, der Aushöhlung der Sozialfunktion des Erbbaurechtes entgegenzutreten. In einer Anhörung von Sachverständigen, die in der vergangenen Wahlperiode stattgefunden hat, wurde deutlich, in welch starkem Maße viele Erbbauberechtigte Erhöhungsverlangen ausgesetzt sind. Sie können wirtschaftlich oftmals nicht mehr getragen werden; manche Erbbauberechtigte sind sogar in Notlagen geraten.
Wer sich einmal einschlägige Gerichtsurteile aus der jüngsten Zeit ansieht, wird sehen, wie schwer sich die Gerichte getan haben,
die Erhöhungsverlangen nur etwas zu dämpfen.
Diese Situation macht verständlich, warum es an parlamentarischen Initiativen zu diesem Problemkreis nicht gefehlt hat. Meine Fraktion erfüllt es mit Genugtuung, heute am erfolgreichen Ende dieses — so möchte ich sagen — Leidensweges eines Gesetzgebungsverfahrens zu stehen. Wie schwierig die Lösung gewesen ist, mag zeigen, daß auch wir von seiten der sozialdemokratischen Fraktion in drei wesentlichen Punkten Änderungen zu dem von der Regierung eingebrachten Entwurf beschließen mußten.
Die erste Änderung bezieht sich auf die Billigkeitsklausel. Es bleibt dabei, daß Erhöhungsverlangen nur dann als gerechtfertigt anzusehen sind, wenn sie unter Berücksichtigung des Einzelfalles nicht als unbillig erachtet werden müssen.
Es kommt jedoch hinzu, daß die nach dieser Billigkeitsformel möglichen Erhöhungen durch zwei weitere Kriterien nach oben hin begrenzt werden.
Das geschieht einmal dadurch, daß Erhöhungen, die über die sonst zu beobachtende Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse hinausgehen, in aller Regel als unbillig anzusehen sind. Diese Vorschrift bei der Billigkeitsprüfung, die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse als Obergrenze zu beachten, soll nicht dazu dienen, einen Index einzuführen. Diese Formulierung soll aber klarmachen, daß Zinsanhebungen — mögen sie im Einzelfall noch so begründet sein — dann nicht zugelassen werden, wenn sie aus dem Rahmen der allgemeinen Steigerungsrate, die wir innerhalb der Volkswirtschaften haben, herausfal-
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Gnädinger
len. Jeder Erbbauberechtigte und Erbbaugeber kann daran ablesen, daß übertriebene Forderungen, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt haben, mit diesem Gesetz nicht mehr in Einklang zu bringen sind.
Zum zweiten wird der Anstieg der allgemeinen Grundstückspreise zur Begründung von Erhöhungsverlangen nicht mehr herangezogen werden können. Gerade die Zugrundlegung von Grundstückspreisen war doch in der Vergangenheit eine der Hauptursachen dafür, daß wir hier einen Mißstand zu beklagen hatten. Wir meinen, damit für die Beteiligten und die Gerichte deutliche Formulierungen gefunden zu haben, die alle beanstandungswürdigen Zinserhöhungen unmöglich machen. Niemand kann also ernsthaft behaupten — wie Sie das getan haben, Herr Vorredner —, daß eine solche Regelung die Sozialfunktion des Erbbaurechts beeinträchtige,
sondern richtig ist, daß die bisher beeinträchtigte Sozialfunktion durch dieses Gesetz wiederhergestellt wird.
Ich möchte diese zweite Lesung jetzt nicht allzusehr ausdehnen und verzichte auf eine Reihe von Dingen,
die ich vorgetragen hätte und die nicht im Zusammenhang mit dem stehen, Herr Orgaß, was Sie als Zwischenruf einwerfen.
Ich darf eine abschließende Bemerkung machen. Ein sich über drei Legislaturperioden hinziehendes Gesetzgebungsverfahren ist abgeschlossen. Die vom Rechtsausschuß vorgeschlagene Regelung erfüllt die Erwartung vieler, die unter dem bisherigen Rechtszustand zu leiden hatten. Wir sind sicher, daß sich das Gesetz in der Praxis bewähren wird. Die SPD-
Fraktion stimmt dem Entwurf zu.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Gnädinger ist ein sehr höflicher Mensch; deshalb hat er gesagt, die CDU habe unseren Antrag so übernommen, wie wir ihn zunächst einmal mit viel Schmerzen, viel Mühe und sehr viel sorgfältigen Überlegungen hier zur Einbringung vorgesehen hatten. Herr Kunz, Sie waren schließlich der Meinung, unserem Antrag könne man sich von Ihrer Seite aus anschließen.
— Herr Orgaß, wenn Sie zuhören, erfahren Sie, was
ich sagen will. — Herr Kunz, Sie waren damals so
freundlich, zuzugeben, daß das eine ausgewogene Lösung war. Nun haben Sie nicht diese Lösung übernommen, sondern sind weit dahinter zurückgegangen, und zwar wieder auf das, was Sie ursprünglich schon einmal hier eingebracht hatten, und haben sämtliche Differenzierungen, die wir angebracht haben,
bei dieser Übernahme weggelassen. Und jetzt kommen Sie hierher — und da wird die Sache mindestens skurril —
und sagen, wir täten etwas gegen die Rechtssicherheit. So kann man mit der Logik und der Juristerei nicht umgehen.
Wo sind Sie, möchte ich sagen, die vom breiten Stein der Rechtssicherheit nicht wankten und nicht wichen? Ich sehe hier doch einige der Herren, die aus guten, wohlerwogenen Gründen stets darauf beharren, daß wir den Grundsatz „pacta sunt servanda" hochhalten, daß wir dafür sorgen, daß die Leute wissen, was mit unserem Recht wird — auch in zehn Jahren —, wenn sie heute einen Vertrag abschließen. Und jetzt gehen Sie her und greifen als Gesetzgeber in Rechtsverhältnisse, .die von erwachsenen Menschen sehenden Auges geschlossen worden sind, ein und sagen: Wenn ihr damals eine Preisgleitklausel vereinbart habt, kann uns das heute nicht mehr interessieren.
Derjenige, der das Grundstück gegeben hat, muß sich doch auch nach den Lebenshaltungskosten richten. Hätte er das Grundstück nicht in Erbbaurecht zu einem kulanten Erbbauzins vergeben, könnte er es heute zu einem Vielfachen verkaufen und einen weit höheren Zins davon bekommen. Deshalb hat damals der Verkäufer den Erbbauzins in vielen Fällen auch an den Wert des Grundstücks geknüpft. Von Hause aus ist das eine vernünftige Überlegung. Genauso wie damals der Erbbaurechtsgeber ein Risiko getragen hat, hat natürlich auch der Nehmer ein Risiko übernommen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Kleinert, geben Sie zu, daß bei Begebung eines Erbbaurechts vom gültigen Verkehrswert ausgegangen und das dann abgezinst wird auf die Zukunft, und kann man dann nicht genauso die konkrete Einhaltung verlangen wie sonst beim Verkauf eines Grundstücks, wo auch ein Verkäufer nie geltend machen kann, er hätte ja später mehr bekommen können, weil das Grundstück im Wert gestiegen ist?
Mir scheint, die Sache ist ungeheuer kompliziert. Was Sie soeben sagen, ist schön, wenn die Parteien es vereinbart haben.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4111
Kleinert
Ich spreche hier im Moment über Vertragstreue. Die Parteien haben wegen der besonderen Lage auf dem Bodenmarkt vereinbart, daß das Erbbaurecht nicht so abgezinst wird, wie Sie es soeben dargestellt haben — andernfalls hätten wir jetzt diese Debatte nicht —, sondern daß die Verzinsung angepaßt wird, sei es an die Grundstücksentwicklung, sei es an andere Indizes. Das ist sehr verschieden.
Jetzt haben wir die Erscheinung — und die beklagen wir auch —, daß durch die exorbitanten Grundstückswertsteigerungen,
zum Teil in Gegenden, wo der Erbbauberechtigte davon, jedenfalls für seine Nutzung, gar keinen Vorteil hat, wo vielmehr völlig andere Interessen, vielleicht gewerbliche, maßgebend waren, Probleme entstehen. Nun sagen wir uns: Wir müssen die Leute, die da zwar mit einer irgendwie ansteigenden Entwicklung der Grundstückspreise und 'damit auch ihrer Zinsbelastung gerechnet, aber natürlich nicht daran gedacht haben, daß sich die Entwicklung in exorbitanter Weise, völlig aus dem Rahmen fallend, vollzieht, dagegen schützen, für ihr Einfamilierthaus — —
— Herr Orgaß, ich entwickle Ihnen das alles. Ich mache es richtig schön deutlich — versuche das jedenfalls —, damit es auch verstanden wird.
Wir haben also gesagt: Da müssen Mißbräuche ausgeschaltet werden. Aber wenn ich in einen bestehenden Vertrag eingreife, dann kann ich nicht auf einmal das, was die Parteien gewollt haben, durch etwas absolut anderes ersetzen. Die haben gesagt: Wir richten uns nach der Entwicklung der Beamtengehälter, oder die haben gesagt: Wir richten uns nach der Entwicklung der Grundstückspreise. Jetzt kommt Herr Orgaß und sagt: Was ihr vereinbart habt, interessiert mich als Gesetzgeber überhaupt nicht;
ab sofort richtet sich das Ganze nach der Entwicklung des Lebenshaltungskostenindex.
Das ist doch ein Eingriff in die Vertragsfreiheit von sehr erheblicher Wucht. Ich meine, das kann sich ein Gesetzgeber, der auch in die Regelungen, die er heute beschließt, Vertrauen haben will, nicht erlauben. In dieser Zwickmühle sind wir hier, wenn wir den Leuten helfen wollen, die durch übermäßige Steigerungen bei den Indizes, die vereinbart waren, zu sehr bedrückt werden.
Wenn wir das machen, dann müssen wir uns, so meine ich — ich finde, gerade bei Ihnen sollte das auf besonderes Verständnis stoßen; darum wundere ich mich so sehr, daß Sie bei der Rechtssicherheit anfangen, Herr Kunz —, zuerst an das halten, was die Parteien mit freiem Willen vereinbarten haben. Dann erst müssen wir die inzwischen entstandene Notlage berücksichtigen und überlegen, wie wir in dem Konflikt, auf der einen Seite möglichst wenig in die Vertragsfreiheit einzugreifen, auf der anderen
Seite möglichst wirksam die Auswüchse zu bekämpfen, zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Kleinert, darf ich Sie darauf hinweisen, daß es hier in keiner Weise darum gehen kann, irgendwie in die Vertragsfreiheit substantiell einzugreifen, sondern Mißbräuche der Vertragsfreiheit zu unterbinden. Darf ich Sie weiter darauf hinweisen —
Hinweisen nicht, nur fragen!
Ich frage Sie, ob es stimmt, daß Sie es waren, Herr Kollege, der damals diese Indexklausel mit abgesegnet hat, daß es dann die Interventionen des Wirtschaftsministeriums waren, die Sie zu einer anderen Weisheit kommen ließen.
Herr Kunz, wenn Sie unsere alte Formulierung noch einmal zur Hand nähmen, stellten Sie fest, daß wir gesagt haben: Grundlegend ist die Klausel, die vereinbart wurde; die wird nicht ersetzt, sondern die ist zunächst einmal maßgebend. Nur dann, wenn die Entwicklung auf Grund der vereinbarten Klausel die Obergrenze des Index übersteigt, besteht die Vermutung, daß eine solche Erhöhungsforderung unbillig ist. Das ist ein Hinweis für den Richter, das ist aber nicht die grobe Axt, mit der Sie hier zu Werke gegangen sind.
Außerdem haben wir, um eine weitere Verneigung vor der Vertragsfreiheit und der Vertragstreue zu machen, gesagt: Wenn im einzelnen aus den und den Anhaltspunkten zu vermuten ist, daß auch eine Entwicklung oberhalb des Index nicht unbillig ist, dann kann auch oberhalb des Index die alte, die frei vereinbarte Klausel weitergelten. Das sind zwei Dinge, die in Ihrem Antrag fehlen. Das sind zwei sehr wichtige Dinge, wenn es darum geht, den Konflikt zwischen Vertragstreue und der notwendigen Anpassung an die Entwicklung sachgerecht zu lösen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Kleinert, ist Ihnen entgangen, daß die Gerichte, zumindest das Hamburger Landgericht, mit viel groberer Axt zu Werke gegangen sind, indem sie einen Erbbauvertrag ohne Gleitklausel wegen Wegfall der Geschäftsgrundlage aufgehoben und dann als Grundlage für eine Indexsteigerung die Verkehrswerte des Grundstücks genommen haben?
Ich finde, das ist für den Gesetzgeber eine etwas schlichte Betrachtungsweise, Herr
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Kleinert
Orgaß. Wir können doch nicht hergehen und landgerichtliche Urteile in Gesetze schreiben, sondern wir müssen dafür sorgen, daß die landgerichtlichen Urteile sich möglichst nach dem richten, was wir nach sorgfältiger Überlegung hier für wünschenswert halten.
— Die gesetzliche Grundlage geben wir hier.
— Es handelt sich doch nur um die Frage, wie grob ich bei dem Eingriff in die Vertragsfreiheit zu Werke gehe, und Sie gehen dabei viel zu grob zu Werke.
Unser Vorschlag war da etwas ausgewogener. Gegen unseren Vorschlag haben sich aber nicht nur der Bundeswirtschaftsminister, sondern auch die Deutsche Bundesbank mit Bedenken gewendet, die sich allerdings hören ließen. Es geht einfach um einen wichtigen Grundsatz, der erhebliche psychologische Auswirkungen und sicher auch Auswirkungen auf die weitere Gesetzgebungsarbeit hätte. Wir können hier nicht so verfahren, wie Sie vorschlagen, nämlich das Nominalprinzip in einem Gesetz erstmals aufheben, ein Prinzip, das bis heute unser ,gesamtes Rechtswesen und unsere gesamte Gesetzgebung beherrscht hat.
Das war die weitere Erwägung, aus der wir auch in der von uns gewählten ausgewogeneren Form die natürlich für die Berechnung im Einzelfall hilfreiche Bezugnahme auf den Index unterlassen haben. Das war der weitere, der stabilitätspolitische Grund.
Zum Schluß möchte ich Ihnen, da die Sache etwas sehr fachlich ist und wir vielleicht viele Kollegen zu sehr strapazieren, nur noch eines sagen. Es geht nicht an, daß Sie sich hier bei jeder Gelegenheit hinstellen und die Bundesregierung zu möglichst stabilitätsbewußtem Verhalten auffordern, aber bei der nächsten Gelegenheit, bei der Sie ein paar Stimmen fangen zu können glauben, hergehen und all diese Grundsätze ohne Rücksicht auf Verluste über Bord werfen!
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, Wir kommen damit zur Abstimmung über den Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 7/1354. Ist das Haus damit einverstanden, daß wir über die Punkte a) und b) gemeinsam abstimmen? — Das ist der Fall.
Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe Art. 1, 2, 3, 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! —Enthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Beratung angenommen.
Ich eröffne die
dritte Beratung.
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung beamten- und richterrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 7/821 —
Bericht und Antrag des Innenausschusses
— Drucksache 7/1316 —
Berichterstatter: Abgeordneter Berger
Abgeordneter Dr. Wernitz
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Aussprache in zweiter Beratung gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe Art. 1, 2, 3, 4, 4 a, 5, 6, Einleitung und Überschrift in ,der Fassung des Ausschußantrages auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Wir haben noch über Nr. 2 des Antrags des Innenausschusses auf Drucksache 7/1316 abzustimmen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, gebe das Zeichen. — Danke schön. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Erhöhung der jährlichen Sonderzuwendung
— Drucksachen 7/1244, 7/1293 —
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4113
Präsident Frau Renger
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/1356 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Riedl
b) Bericht und Antrag des Innenausschusses
— Drucksache 7/1317 —
Berichterstatter: Abgeordneter Berger
Abgeordneter Liedtke
Wünschen die Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort in der Aussprache in zweiter Beratung gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen damit zur Abstimmung in zweiter Lesung. Ich rufe Art. I, II, III, IV, V, Einleitung und Überschrift in der Fassung des Ausschußantrages auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in der Schlußabstimmung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Steuerreformgesetzes
hier: Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer — aus Drucksache 7/78 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/1355 —Berichterstatter: Abgeordneter Leicht
b) Bericht und Antrag des Finanzausschusses
— Drucksachen 7/1329, 7/1333 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Becker
Abgeordneter Huonker
Wünschen die Berichterstatter das Wort? — Bitte, Herr Kollege Dr. Becker!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem von den Fraktionen der SPD und FDP vorgelegten Entwurf eines Erbschaftsteuergesetzes — Drucksache 7/78 —, das auf einer Regierungsvorlage gleichen Inhalts aus dem 6. Deutschen Bundestag basiert, beschäftigte sich der Finanzausschuß sehr eingehend in acht Sitzungen. Es bestand Einigkeit über die bedeutendsten Ziele der Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Dazu gehört vor allem ein neuer Tarif, der kleinere und mittlere Erwerber schont und größere Erbschaften und Schenkungen maßvoll stärker belastet.
Außerdem soll durch eine verkehrsnähere Bewertung ides Grundvermögens, das mit 140 % der Einheitswerte auf der Basis 1964 angesetzt wird, die nicht mehr zu rechtfertigende Unterbewertung des Grundbesitzes gegenüber anderen Vermögensarten gemildert werden.
Daneben, meine Damen und Herren, sieht die Vorlage eine wesentliche Erhöhung der persönlichen Freibeträge sowie besondere Versorgungsfreibeträge vor. Zudem wird den zu erwartenden Liquiditätsproblemen von Unternehmen durch eine Erweiterung der Stundungsmöglichkeiten Rechnung getragen.
Die Höhe der Kinderfreibeträge im Gesetzentwurf wurde im Ausschuß auf Antrag der CDU/CSU diskutiert. Die Opposition machte den Vorschlag, den Freibetrag für das Kind so zu bemessen, daß im Regelfall gebildetes Vermögen — bis hin zu einer Eigentumswohnung oder einem bescheidenen Einfamilienhaus — geschont wird. Die Opposition schlug eine Erhöhung von 50 000 DM auf 90 000 DM vor; es setzte sich aber schließlich ein Antrag der Mehrheit auf 70 000 DM durch.
Besondere Bedeutung hat der Ausschuß der Behandlung von Stiftungen beigemessen. Hierzu hat die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag über die steuerliche Begünstigung von Arbeitnehmerstiftungen eingebracht. Eine solche Begünstigung wurde damit begründet, daß die Umwandlung eines Unternehmens in eine Stiftung zugunsten der Arbeitnehmerschaft im allgemeinen an der Erbschaftsteuer scheitert. Der vorliegende Antrag fand aber keine Mehrheit.
Auf Antrag der Koalitionsfraktionen schlägt der Ausschuß eine periodisch wiederkehrende Erbschaftsbesteuerung von Familienstiftungen vor. Die vorgeschlagene Regelung unterwirft die Familienstiftungen in Zeiträumen von 30 Jahren der Erbschaftsteuer; das soll auch für bereits bestehende Stiftungen gelten. Fällt bei den Stiftungen der Zeitpunkt des ersten Übergangs von Vermögen auf den 1. Januar 1948 oder früher, so entsteht die Steuer erstmals im Jahre 1978.
Die Opposition rügte die sehr kurzfristige Behandlung. Sie hatte insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung einer rückwirkenden Besteuerung. Der mitberatende Wirtschaftsausschuß regte eine Überprüfung des Vorschlages der Koalitionsparteien aus eben diesen Gründen an. Die Mehrheit des Rechtsausschusses lehnte eine Un-
4114 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Becker
tersuchung der Verfassungsmäßigkeit der neuen Lösung ab.
Eine Reihe weiterer Vorschläge bei den Verhandlungen im Finanzausschuß von Opposition und Koalition milderten den Übergang auf das neue Recht in Einzelfällen, so bei der Erbschaftsteuerversicherung, bei Abfindungen nach Gesellschaftsverträgen und den neuen schenkungsteuerlichen Folgen der Begründung einer ehelichen Gütergemeinschaft.
Die Koalitionsparteien befürworteten grundsätzlich die Notwendigkeit der Anpassung der Steuersätze bei einer künftigen Änderung der Einheitswerte auf Grund einer neuen Hauptfeststellung. Die CDU/CSU beantragte, in einer gesetzlichen Regelung festzulegen, daß die Besteuerungsmaßstäbe neu zu bestimmen seien, wenn die Einheitswerte geändert werden. Die Mehrheit lehnte die Übernahme einer entsprechenden Absichtserklärung in das Gesetz aber ab.
Da in der öffentlichen Diskussion neuerdings Unklarheit über die zu erwartenden Mehreinnahmen aus dem Gesetz besteht, fragte ein Mitglied der Opposition in der letzten Sitzung des Ausschusses am 28. November 1973, ob man mit den bisher geschätzten Mehreinnahmen von rund 180 Millionen DM rechnen könne. Ein Vertreter der Bundesregierung versicherte, daß diese Schätzung für 1974 nach wie vor Gültigkeit habe.
Bei der Schlußabstimmung hat die Fraktion der CDU/CSU erklärt, daß sie ihre Zustimmung zu dem Gesetz aus den genannten Gründen versage, den Entwurf im Grundsatz aber nicht ablehne und hoffe, daß die Koaliationsparteien es ihr durch Eingehen auf ihre Vorstellungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren ermöglichen würden, das Gesetz insgesamt mitzuverantworten.
Namens der Mehrheit des Ausschusses bitten die Berichterstatter das Hohe Haus, dem Gesetzentwurf in der vorgeschlagenen Fassung die Zustimmung zu geben.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort in der Aussprache hat der Herr Abgeordnete Huonker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Erbschaft-und Schenkungsteuerrechts wird ein weiterer wichtiger Teil des Zweiten Steuerreformgesetzes verwirklicht. Das neue Grundsteuergesetz ist bereits verabschiedet worden; es tritt am 1. Januar 1974 in Kraft. Die Beratungen des neuen Vermögensteuergesetzes und des Gewerbesteuergesetzes wurden gestern im Finanzausschuß abgeschlossen. Diese Gesetze werden in der nächsten Woche vom Bundestag verabschiedet werden. Damit können alle Teile des Zweiten Steuerreformgesetzes zum 1. Januar 1974 in Kraft treten. Dies bedeutet erstens, daß ab 1. Januar 1974 die neuen Einheitswerte für die Besteuerung des Grundbesitzes gelten, zweitens, daß kleine und mittlere Vermögen von der Vermögen- und von der Erbschaftsteuer bzw. Schenkungsteuer
weitgehend verschont und größere Vermögen künftig stärker besteuert werden, und drittens, daß gut die Hälfte aller Gewerbetreibenden künftig keine Gewerbesteuer mehr zu zahlen hat.
Meine Damen und Herren, die sozialliberale Koalition wird also Ende dieses Jahres, nur ein Jahr nach Beginn dieser Legislaturperiode, mit der Verabschiedung aller Teile des Zweiten Steuerreformgesetzes ein Kernstück der gesamten Steuerreform verwirklicht haben.
Wichtigstes Ziel der Steuerreform — dies gilt gerade auch für die Reform des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts — ist es, mehr soziale Gerechtigkeit im Steuerrecht zu verwirklichen. Wer dies will, muß mit dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit des einzelnen Ernst machen. Wir wollen dies; der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Beweis dafür.
Das neue Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht mildert die unerträgliche Begünstigung des Grundbesitzes im geltenden Recht. Die bis heute geltenden, fast 40 Jahre alten Einheitswerte von 1935 entsprechen etwa einem Zehntel des wirklichen Werts. Wer dagegen Kapitalvermögen, z. B. ein Sparguthaben oder Wertpapiere erbt, muß die Erbschaft zum tatsächlichen Wert versteuern. Die extreme Begünstigung des Grundbesitzes widerspricht dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Sie verstößt gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Sie kann daher aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden.
Der Gesetzentwurf legt deshalb die Einheitswerte 1964 — erhöht um 40 % — der Bewertung zugrunde. Diese pauschale Erhöhung um 40 % ist nötig, weil die schon wiederum 10 Jahre alten Einheitswerte 1964 durch die Entwicklung längst überholt sind. Die von uns angestrebte Einzelbewertung nach dem Verkehrswert ist gegenwärtig leider aus verwaltungstechnischen Gründen nicht möglich.
Mit dieser verkehrswertnäheren Bewertung von Grund und Boden leistet das Gesetz zugleich einen Beitrag zur Eindämmung der Bodenspekulation, erhöht die Mobilität auf dem Bodenmarkt und wirkt den Preissteigerungen bei Bauland entgegen. Denn es wird sich künftig weniger lohnen, Vermögen in Grundstücken anzulegen, um Erbschaftsteuer zu sparen.
Mehr soziale Gerechtigkeit verwirklicht das Gesetz ferner durch die Entlastung kleinerer und mittlerer Vermögen und durch die maßvolle Mehrbelastung von großen Erbschaften und Schenkungen. Die massive Erhöhung der Freibeträge, insbesondere für Erbschaften und Schenkungen innerhalb der engeren Familie, führt zu weitgehenden Entlastungen. Der überlebende Ehegatte, und zwar mit und ohne Kinder, erhält einen Freibetrag von 250 000 DM gegenüber den 30 000 DM des geltenden Rechts. Hinzu kommt ein Versorgungsfreibetrag von weiteren 250 000 DM, der sich allerdings um die Höhe nicht erbschaftsteuerpflichtiger Versorgungsbeträge mindert und der von 20 000 DM auf 40 000 DM erhöhte Haushaltsfreibetrag. Eine Ehegatte kann als künftig ein Vermögen von mehr als einer halben Million
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steuerfrei erben. Kinder erhalten einen von heute 30 000 auf 70 000 DM erhöhten Freibetrag. Zusätzlich bekommen sie einen besonderen Versorgungsfreibetrag, der je nach Lebensalter gestaffelt ist und mit dem 27. Lebensjahr ausläuft. Nimmt man Tarif und Freibetrag zusammen, so werden bei Kindern Erbschaften bis zu einer Million DM, Erbschaften überlebender Ehegatten bis zu drei Millionen DM entlastet.
Trotz der Höherbewertung des Grundbesitzes werden wegen der Erhöhung der Freibeträge in Zukunft weniger Erben überhaupt Erbschaftsteuer zahlen müssen. Die große Masse aller Erbschaften in diesem Land bleiben erbschaftssteuerfrei. Die neuen Freibeträge stellen sicher, daß ein' überlebender Ehegatte zwei normale Einfamilienhäuser steuerfrei erben kann — und noch einiges dazu —, ein Kind in aller Regel eines. Erbt ein Kind ein ausgesprochen aufwendiges Einfamilienhaus, so muß es etwa ganze zweieinhalbtausend Mark Steuer zahlen. Ist dieses Haus auch nur geringfügig hypothekarisch belastet, so fällt auch bei einem aufwendigen Einfamilienhaus, das von einem Kind geerbt wird, keine Erbschaftsteuer an.
Einem Schreckgespenst der letzten Wahlkämpfe, die Sozialdemokraten würden nämlich den kleinen Leuten ihr Eigenheim durch die Erbschaftsteuer wegnehmen, macht der vorliegende Gesetzentwurf, nun auch für den Letzten erkennbar, endgültig den Garaus. Der böse Rat, man tue gut daran, sein Haus so rasch wie möglich auf seine Kinder zu überschreiben, um diese Attacke der SPD, auf die Häuser zu unterlaufen, muß nun sogar im Schwabenland, wo wir ein besonderes Verhältnis zum Häusle haben, in der Rumpelkammer für stumpf gewordene Verunsicherungsinstrumente verschwinden.
Große Erbschaften und Schenkungen werden etwas stärker besteuert als bisher. Heute endet der Tarif bereits bei Erbschaften von über zehn Millionen DM und einem Spitzensteuersatz von 15 % in Steuerklasse I. Der Gesetzentwurf sieht eine Progression für Erbschaften und Schenkungen bis über 100 Millionen DM und einen Spitzensteuersatz von 35 % in Steuerklasse I vor. In den Steuerklassen II, III und IV betragen die neuen Spitzensätze 50, 65 und 70 %. Bei Großvermögen, die häufig zu einem erheblichen Teil aus Grundbesitz bestehen, wirkt sich die neue Bewertung des Grundvermögens zusätzlich aus. Um trotz der Erhöhung der Erbschaftsteuer für größere Großvermögen die notwendige Liquidität der Betriebe zu gewährleisten, sieht der Gesetzentwurf für die Erben eines Unternehmens einen Rechtsanspruch auf Stundung der Steuer bis zu fünf Jahren vor, wenn diese zur Erhaltung des Betriebs notwendig ist.
Meine Damen und Herren, die vorgesehene höhere Besteuerung großer Vermögen wäre reine Augenwischerei, wenn nicht gleichzeitig die zahlreichen Schlupflöcher im geltenden Erbschaftsteuerrecht endlich verstopft würden.
Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache. Die starke Vermögenskonzentration in der Bundesrepublik wird von niemandem ernstlich bestritten. Dennoch findet man in der Erbschaftsteuerstatistik des Jahres 1969 lediglich fünf Erbschaftsfälle zwischen 5 und 10 Millionen DM und ganze zwei Fälle über 10 Millionen DM. Ähnlich sieht es in früheren Jahren aus.
Diese Zahlen machen ,deutlich, in welchem Ausmaß die Eigentümer großer Vermögen die Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer legal umgehen. Deshalb bildet die Beseitigung der zahlreichen Möglichkeiten, Erbschaftsteuer zu sparen oder ganz zu vermeiden, ein Kernstück des neuen Erbschaftsteuerrechts.
Das neue Gesetz wird einmal die Lücken des geltenden Rechts schließen, die durch geschickte Vereinbarungen in Gesellschaftsverträgen genutzt werden können, sei es z. B. durch Einräumung einer unangemessen hohen Gewinnbeteiligung für einen Gesellschafter, sei es durch besondere Regelungen für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters. Solche Vorgänge werden künftig der Schenkung- und Erbschaftsteuer unterworfen. Ferner unterliegt künftig das gesamte übertragene Vermögen auch dann der Steuer, wenn es mit einem Nießbrauch oder sonstigen Nutzungsrechten belastet geschenkt wird.
Heute kann auch Steuern umgehen, wer nur vorübergehend, aber zur rechten Zeit, seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt. Nach dem neuen Gesetz bleibt ein deutscher Steuerpflichtiger fünf Jahre lang unbeschränkt steuerpflichtig, wenn er seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt ins Ausland verlegt. Neue Erbschaftsteuerversicherungen werden nicht mehr steuerlich begünstigt; bei bestehenden wird die Begünstigung stufenweise abgebaut.
Meine Damen und Herren, besonders wichtig für uns ist die Besteuerung der Familienstiftungen und der Vereine, deren Zweck die Bindung von Vermögen ist. Nach geltendem Recht können die in den ca. 420 Familienstiftungen und Vereinen gebundenen Vermögenswerte von ca. fünf Milliarden DM über viele Generationen hinweg vererbt werden ohne daß auch nur ein Pfennig Erschaftsteuer gezahlt werden muß. Die Familienstiftungen schütten meist nur einen geringen Teil des Gewinns aus. Dadurch entstehen immer größere, der Erbschaftsteuer auf Dauer entzogene Vermögen. Schon bei der Gründung wird die Familienstiftung gegenüber allen anderen Übertragungen auf juristische Personen begünstigt, und die Begünstigung setzt sich fort, wenn die Stiftung doch einmal aufgelöst werden sollte.
Welches Motiv bei der Gründung einer Familienstiftung oder eines Vereins auch immer im Vordergrund gestanden haben mag, Vermögenszersplittrung durch Erbgänge vorzubeugen oder Erbschaft. steuer zu sparen: objektiv ist die Familienstiftunç ein vorzügliches und bei Großvermögen vielfach be vorzugtes Mittel, die Erbschaftsteuer zu vermeiden Das Gesetz wird die Privilegierung der Familien Stiftungen abbauen.
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Huonker
Wie fast immer, wenn es um den Abbau ungerechtfertigter Steuerprivilegien für Spitzenverdiener oder Großvermögen geht, wird von interessierter Seite die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Regelung bezweifelt und auf steuersystematische Bedenken hingewiesen. Gewiß, die Fiktion eines Erbfalls im Steuerrecht ist neu; aber auch die Privilegierung der Familienstiftungen im geltenden Erbschaftsteuerrecht ist ein deutlicher Systembruch. Außerdem sollte niemand so tun, als sei das Steuersystem vom Himmel gefallen und dürfte deshalb nicht weiterentwickelt werden. Die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung zur Besteuerung der Familienstiftung ist auch verfassungskonform. Dies ist unter allen Aspekten geprüft worden.
Eines der vordringlichsten Ziele der Erbschaftsteuerreform ist die Beseitigung der Umgehungsmöglichkeiten des geltenden Erbschaftsteuerrechts. Wer will all denen, meine Damen und Herren von der Opposition, die bisher von Gesetzeslücken Gebrauch machen konnten -- und es sind häufig genug kleinere und mittlere Unternehmen —, klarmachen, warum alle bekannten Schlupflöcher im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht verstopft werden, mit Ausnahme der Familienstiftungen, für die in der Öffentlichkeit die Namen bekannter Großunternehmerfamilien stehen? Wer eine glaubwürdige Reform des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts will, muß jetzt die Familienstiftungen der Erbschaftsteuer unterwerfen.
Die SPD-Fraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Zeitel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fragen der Erbschaftsbesteuerung sind immer in besonderem Maße durch politische Wertungs- und Zielvorstellungen geprägt und lassen politische Meinungsverschiedenheiten deutlicher werden als andere Abgabenänderungen. Dies gilt auch für den vorliegenden Gesetzentwurf.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt und unterstützt das Anliegen der Reform einer Abgabe, die in ihren wesentlichen Ausformungen auf das Jahr 1925 zurückgeht. Wir haben eine solche Reform lange gefordert. Bei der politischen Würdigung der angestrebten Erbschaftsteuerreform darf eine Reihe von weitergreifenden Bezugselementen und Ausgangspositionen nicht übersehen werden. Ich möchte auf sie hinweisen, nicht zuletzt deshalb, weil sie in der öffentlichen Diskussion vielfach übersehen werden.
Die Erschaftsbesteuerung steht in einem engen Zusammenhang mit anderen Vermögensabgaben, insbesondere mit der Vermögensteuer, aber ebenso mit der Abgabenordnung, der Gewerbesteuer und nicht zuletzt mit der geplanten Vermögensbildungsabgabe. Nimmt man die Belastung aus allen relevanten Abgaben zusammen, so ergibt sich, daß die Steuerbelastung in diesem Bereich in unserem
Lande nicht so niedrig ist, wie das vielfach dargestellt wird, sondern sie liegt im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern eher höher.
Es hat sich in den Beratungen dieses Gesetzentwurfes als hinderlich erwiesen, daß auf Grund neuerer Gesetzesvorlagen der Regierung die Verabschiedung der Abgabenordnung noch immer nicht erfolgt ist. Es hat auch nicht zur so oft proklamierten Transparenz der politischen Willensbildung beigetragen, daß sich die Koalition noch immer nicht über die Vermögensbildungsabgabe einigen konnte, die die Gesamtbelastung der Bürger in der Zukunft mitbestimmen wird.
Die tatsächliche Veränderung der Steuerlast auf Grund des vorliegenden Gesetzentwurfes wird nicht allein und in erster Linie durch den Tarif, sondern durch die zugrunde gelegten Wertansätze bestimmt. Durch die neue Einheitsbewertung steigen die Wertansätze für Mietwohngrundstücke etwa um das 21/2- bis 3fache, bei Geschäftsgrundstücken um das 5fache und bei Ein- und Zweifamilienhäusern um das 4fache. Das ist ein Sachverhalt, der für bestimmte Gesetzesregeln, insbesondere auch für die Höhe der Freibetragsregelung, erhebliches Gewicht hat.
Es kann auch nicht länger unbeachtet bleiben, daß die Geldwertverschlechterung entgegen den Regierungsversprechungen noch immer anhält, ja, daß sogar mit höheren Preissteigerungen für die nächste Zukunft gerechnet werden muß. Diese sind im Zusammenhang mit weiteren Anpassungen der Einheitswerte zu sehen. Im Hinblick auf die mangelnde Durchschaubarkeit der Reformfortschritte fällt es schwer, zu einer abgewogenen Urteilsbildung zu kommen. Wir betrachten es als einen grundlegenden Mangel der gegenwärtigen Reformpolitik der Regierung, daß diese in Teilstrecken erfolgt, mit immer neuen Haltepunkten und Kursänderungen, bei denen die Konturen der Gesamtreform nur noch schemenhaft erkennbar werden.
Inwieweit die gerade von der FDP-Fraktion geforderte Aufkommensneutralität noch gewährleistet ist, wird immer schwerer berechenbar. Es überrascht kaum noch, wenn geäußerte Vermutungen über ein höheres Mehraufkommen erst dementiert und dann doch bestätigt werden müssen.
So dürfte auch die Erbschaftsteuerreform ein höheres Aufkommen als die von der Regierung angegebenen 200 Millionen DM erbringen.
Entsprechend Pressemitteilungen, die auf Informationen aus dem Finanzministerium beruhen, ist mit einem Mehraufkommen von 600 Millionen DM zu rechnen.
In jedem Fall sind es höhere Belastungen, als uns bisher bekanntgemacht wurde. Insgesamt gewinnt der fiskalische Aspekt in der Reformpolitik größeres Gewicht, wie nicht zuletzt auch an dem schrittweisen Vorziehen von Mehreinnahmeregelungen zu erkennen ist.
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Dr. Zeitel
Es dient auch nicht — lassen Sie mich 'das hier in aller Offenheit sagen — einem guten Beratungsstil, wenn Änderungsanträge der Opposition in den Beratungen monatelang verzögert, dann nach langem Koalitionsgerangel wenige Wochen vor Abschluß .der Beratungen neue Eckwerte oder — besser — Bruchwerte ohne Regierungsbeschluß in die Beratung eingeführt werden, wie das in bezug ,auf die Familienstiftungen geschehen ist.
Bei einer derartigen Beratungsweise mag ein PlanSoll abgehakt werden können, eine ausgereifte größere Reform ist bei einer solchen Beratungsweise jedoch schwerlich zu realisieren.
Diese Beratungsweise hat dazu geführt, daß von der Koalitionsmehrheit sogar eine gutachtliche Stellungnahme des Rechtsausschusses zur Frage der Verfassungsmäßigkeit bestimmter Regeln abgelehnt worden ist.
Gleichwohl hat sich die CDU/CSU-Fraktion zu einer zügigen Beratung bereit gefunden, und wir haben wesentliche Anliegen dieses Gesetzentwurfs im Ausschuß mitgetragen. Das gilt insbesondere für ein Kernstück der Reform, nämlich die Tarifgestaltung, die in den obersten Tarifstufen zu nicht unerheblichen Mehrbelastungen führt. Während meiner Fraktion in Übereinstimmung mit der Koalition diese Regelung für Größtvermögen aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit noch vertretbar erscheint, legt sie um so mehr Wert auf Freibetragsregelungen, die keine Mehrbelastung bei kleineren und mittleren Vermögen zur Folge haben.
Wir unterstützen auch die Gesetzesänderungen, die nicht mehr zeitgerecht erscheinende bzw. ungerechtfertigte Sonderregelungen beinhalten und zu Steuervermeidungen Anlaß geben, so im Familienrecht und in bestimmten Teilen des Gesellschaftsrechts. Wir unterstützen auch die neue Nießbrauchregelung und die stufenweise Beseitigung ,der Erbschaftsteu erversicherung.
Die Fraktion der CDU/CSU hält freilich einige wichtige Gesetzesänderungen nach wie vor für nicht befriedigend. Dabei geht es einerseits darum, daß im Bereich kleinerer Vermögensanfälle möglichst keine Mehrbelastung und auch im Bereich der mittelständischen Vermögensbildung keine Belastung eintritt, die geeignet ist, die private Eigentumsbildung zu hemmen.
Wir möchten nicht, daß die Vermögensbildung in breiteren Bevölkerungskreisen mit erheblichen staatlichen Mitteln gefördert wird, die dann einer erhöhten Erbschaftsbesteuerung unterliegen.
Diesen politischen Anliegen entsprechen verhältnismäßig großzügige Regelungen bei den subjektiven und objektiven Befreiungen. Wir legen hierauf um so mehr Wert, als auf diesem Wege auch am
ehesten die ohnehin schwierige Verwaltungsvereinfachung zu erreichen ist. Während die Regelung für Vermögensanfälle bei Ehepartnern von uns als angemessen erachtet wird, halten wir eine stärkere Erhöhung der übrigen persönlichen Freibeträge für notwendig. Dies gilt besonders für Erbanfälle bei Kindern, wo nach unserer Auffassung ein Familieneigenheim immer steuerfrei bleiben sollte. Der im Gesetzentwurf vorgesehene Freibetrag reicht hierzu nicht aus, um so mehr, als in Zukunft die Ausstattung von Kindern zur Finanzierung eines angemessenen Haushalts nicht mehr steuerfrei sein wird. Es sollte unseres Erachtens auch vermieden werden, ,daß bei Erbgängen in der Familie in kleineren mittelständischen Betrieben größere Erbschaftsteuerbelastungen fällig werden, die zu einer weiteren Entmutigung der Tätigkeit in diesem Wirtschaftsbereich Anlaß geben, in Betrieben, von denen wir überzeugt sind, daß sie die Basis unserer Wirtschaftsordnung sind.
Die Opposition hat bereits im Juli dieses Jahres einen Änderungsantrag eingebracht, der die erb-schaftsteuerliche Begünstigung von Arbeitnehmerstiftungen vorsieht. Wir erblicken in den Arbeitnehmerstiftungen ein weiteres Instrument zur Förderung der Eigentumsbildung in breiten Bevölkerungsschichten sowie des partnerschaftlichen Zusammenwirkens in den Betrieben. Eine ausführliche Erörterung dieses gravierenden Änderungsantrags wurde erst verzögert und kam letztlich nicht zustande, weil SPD und FDP offenkundig andere, kollektivistische Formen der Vermögensbildung vorziehen.
Dieser Grundzug der Reformvorstellungen wird noch deutlicher im Hinblick auf die erbschaftsteuerliche Sonderbehandlung von Familienstiftungen. Wir bestreiten nicht, daß dieses Instrument bestimmte Umgehungsmöglichkeiten beinhaltet. Aber wir halten die hier getroffene Sonderbehandlung nicht für richtig, die — und das muß man ja wohl hinzufügen — erst nach längerem Koalitionsgerangel zustande gekommen ist, bei dem diejenigen Kräfte in der FDP unterlegen sind, die unsere Meinung für richtig halten.
Wenn man das Gesamtproblem, das hier aufgeworfen ist, richtig sehen will, dann muß man erkennen, daß bei den Familienstiftungen zum erstenmal ein Sonderweg in Gestalt der Besteuerung der sogenannten toten Hand oder einer Erbersatzsteuer beschritten wird.
Nun ist dies eine wiederholt diskutierte Frage. Aber wenn man sie angeht, dann muß man den Gesamtkomplex der juristischen Personen in Betracht ziehen.
Es kann nicht angehen, daß auf der einen Seite bestimmte Formen privater Konzentration angeprangert werden und auf der anderen Seite noch viel
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Dr. Zeitel
gravierendere Konzentrationsformen bei juristischen Personen nicht gesehen werden,
auch dann nicht — lassen Sie mich das hinzufügen —, wenn sich diese Konzentrationsvorgänge unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit vollziehen.
Dann muß in diesem Zusammenhang auch die Frage der Erbschaftsbesteuerung der „Neuen Heimat" ventiliert werden, und erst dann sind wir bei einer gerechten Beurteilung.
So, wie die Dinge hier vorgetragen werden, sind sie mit neuen Ungerechtigkeiten behaftet, die wir ablehnen. Es kann doch keine gerechte Lösung sein, daß die Familienstiftung steuerlich diskriminiert wird, während — ich darf es einmal scherzhaft formulieren -- die Stiftung zugunsten einer Geliebten steuerfrei sein kann.
— Herr Huonker, stellen Sie die Dinge doch nicht so dar, als wenn wir in der Lage wären, alle Schlupflöcher zu schließen! Ein Staat, der dies tut, begibt sich häufig der Rechtmäßigkeit. Wir haben aus diesem Grunde gegen die Sonderbesteuerung von Familienstiftungen erhebliche, nicht zuletzt auch verfassungsmäßige Bedenken.
Der dritte Hauptgrund, warum wir diesen Gesetzentwurf ablehnen, ist, daß angesichts der Geldwertentwicklung bei der Neufestsetzung von Einheitswerten nach unserer Auffassung auch gesetzliche Vorsorge dafür getroffen werden muß, daß eine Überprüfung der Tarifgestaltung erfolgt.
Aus diesen Gründen halten wir den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht für ausgereift. Wir werden ihn ablehnen. Aber wir hoffen, daß im Laufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens jene, wenn Sie so wollen, kollektivistische Schlagseite verlorengeht, die es uns jetzt nicht ermöglicht, zuzustimmen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Mit dem jetzt vorliegenden Erbschaftsteuerrecht verabschieden wir einen organischen Teil der Steuerreform, nachdem wir bereits im Sommer dieses Jahres die Grundsteuer als ersten Schritt verabschiedet haben. Übrigens, Herr Zeitel, falls Sie das vergessen haben sollten: einstimmig mit den Stimmen Ihrer Fraktion, so daß Ihre soeben geäußerte Kritik sich gegen Sie selbst richtete. Das kann natürlich passieren.
Die Erbschaftsteuer ist ein Teil der Gesamtsteuerreform, und zwar ein organisch eingeordneter Teil. Wir verschweigen nicht, daß für uns ein Grundsatz der Steuerreform war, die Steuereform im Gesamtzusammenhang zu sehen und zu verabschieden. Dazu stehen wir. Deshalb haben wir die Versuche, von welcher Seite auch immer, die Dinge Stück für Stück mit Vorschaltgesetzen und Einzeländerungen auseinanderzubringen, abgelehnt. Wir wollten keine Provisorien, denn erwiesenermaßen gibt es kaum etwas Haltbareres als Provisorien, von den Verwaltungserschwernissen ganz abgesehen.
Nein, wir wollten eine endgültige und organische Steuerreform. Darum ist in der Art und Weise, wie wir jetzt verfahren, festgesetzt, daß wir zwar ails verfassungsrechtlichen Gründen die einheitswertabhängigen Steuern zum 1. Januar 1974 bereits in Kraft setzen, dabei aber sicherstellen, daß bis zum Inkrafttreten der Einkommensteuerreform, des Kindergeldes, der Sparförderung — und was noch alles zur Steuerreform gehört — Aufkommensneutralität besteht.
Herr Zeitel hat gemeint, die Beratungszeit kritisch aufgreifen zu müssen. Wir haben mit der Beratung des Erbschaftsteuergesetzes im September begonnen. Jetzt haben wir Dezember. Das sind drei Monate. Da die CDU/CSU nahezu allen Paragraphen in der Einzelberatung zugestimmt hat, kann ja wohl der Vorwurf einer übereilten und überhasteten Beratung nicht ganz stimmen.
— Jawohl, Herr Zeitel, ich komme gleich darauf. — Abgesehen davon haben die Eckwerte mit Ausnahme der Verbesserungen bei den Freibeträgen ja bereits seit 1971, für jeden erkennbar, vorgelegen.
Nun, was den Vorschlag der Besteuerung der Familienstiftungen angeht, so ist es sicherlich nicht ungewöhnlich — ich könnte Ihnen Dutzende von Beispielen aus der Vergangenheit nennen—, daß sich während einer Beratung dort, wo sich Lücken zeigen — seien es Lücken im Gesetz, seien es Vergünstigungen, die über den Kreis der ursprünglich Gemeinten hinaus genutzt werden —, zusätzliche Überlegungen ergeben. Meine Damen und Herren von der Opposition, wie oft haben wir noch während der Beratungen ganze Gesetzentwürfe nachgeschoben und in relativ kurzer Zeit beraten? Dies jetzt als einen Grund für Ihre Ablehnung zu nennen, scheint mir in der Tat an der Sache vorbeizugehen.
Das Erbschaftsteuergesetz geht vorrangig davon aus, daß gemäß Verfassungsgerichtsauftrag die neuen Einheitswerte in Kraft gesetzt werden müssen, und zwar in einer zeitnahen Form. Daß der Vervielfältiger von 1,4 der Einheitswerte von 1964 nicht die volle Zeitnähe bringt, ist uns allen bewußt. Aber wir wissen auf der anderen Seite, wie stark — Herr Zeitel hat das ja mit Zahlenbeispielen deutlich gemacht — die Werterhöhung im Grundbesitzbereich tatsächlich ist. Von daher bietet sich eine Pauschalierung der Wertanhebung an, solange wir keine neuen Einheitswerte haben, die human verläuft. Das ist nicht
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Frau Funcke
ungewollt. Die persönlichen Freibeträge werden nicht unerheblich erhöht. Wenn jetzt darüber hinaus noch eine weitere Erhöhung vorgesehen wird, müßte die Opposition zugleich sagen, wie sie die dadurch entstehenden Steuerausfälle decken will, d. h., welche Mehrsteuern zu Lasten der Steuerpflichtigen sie an anderer Stelle vorschlagen will.
Meine Damen und Herren, die Gründe, aus denen Sie Vorschaltgesetze und Einzelregelungen anstatt der Gesamtreform haben wollen, sind sehr durchsichtig. Diese Art und Weise der Behandlung soll es Ihnen ersparen, ein Gesamtkonzept mit Gesamtausgleich vorlegen zu müssen. So können Sie die günstigen Dinge bei jeder Gelegenheit den Steuerpflichtigen vortragen, und die weniger günstigen ersparen Sie sich und sagen: das machen wir bei den anderen Steuergesetzen. So einfach sollten Sie es sich nicht machen! Wir wüßten sehr gern, wie Sie die Ausfälle auf der anderen Seite jeweils ersetzen wollen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege!
Frau Kollegin, haben Sie eine Deckung für Ihre Eckwerte? Ich erinnere mich, daß in Ihren Eckwerten etwa 10 Milliarden DM Einnahmen fehlen. Woher wollen Sie die nehmen?
Frau Funcke: : Wir haben einen Ausgleich über mehrere Jahre vorgesehen. Eine Aufkommensneutralität kann sich nicht buchhalterisch auf ein einziges Jahr beziehen das wissen Sie so gut wie wir —, weil sich jedes Jahr durch die progressive Entwicklung der Lohn- und Einkommensteuer mehr ergibt und dadurch bereits im zweiten Jahr der Steuerreform ein Mehraufkommen ergeben würde. Darum ist die Aufkommensneutralität so gestaltet, daß sie auf mehrere Jahre 'hin den Ausgleich bringt.
Das ist bei der Erbschaftsteuer aber nicht der Fall.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Frau Abgeordnete?
Bitte schön, Herr von Bokkelberg!
Darf ich fragen, woher Sie den Deckungsvorschlag für die Erhöhung der Freibeträge auf 70 000 DM genommen haben?
Wir haben darüber gesprochen. Dieser Freibetrag ist auf Grund der Neuberechnungen möglich gewesen; aber diese Neuberechnungen ergaben keinen Freibetrag von 90 000 DM.
— Das ist doch ganz eindeutig. Hier haben neue Berechnungen vorgelegen — das wissen Sie genau —,
und im Rahmen dieser Neuberechnung war eine Anhebung der Freibeträge möglich. Zugleich haben wir einen Teil des Ausgleichs, wie Sie wissen, im Verlauf der obersten Tarife vorgesehen.
— Ich sage ja, Sie müßten nicht den Ausgleich für die Erbschaftsteuer allein finden, sondern Sie müßten uns dann mindestens andeuten, an welcher Stelle Sie — etwa im Bereich des Kindergeldes, der Einkommen-, der Vermögensteuer oder was auch immer — den Ausgleich schaffen wollen. Sie werden uns am .Ende genau sagen müssen, wenn wir in einem halben Jahr die gesamte Steuerreform beraten, an welcher Stelle Sie Verbesserungen und wo Sie Mehrbelastungen haben wollen.
Es ist schon gesagt worden, daß die Freibeträge mit 70 000 DM pro Kind sicherstellen, daß gegenüber dem heutigen Verfahren ein Erbanfall pro Kind von 1 Million DM noch steuergünstiger ist als in der Vergangenheit, wobei ich gern einräume
— sonst kommt der Zwischenruf von selbst, wie ich annehme —, daß natürlich diese 1 Million DM
heute etwas schneller als in der Vergangenheit erreicht wird, wenn wir die neuen Einheitswerte einsetzen.
Im neuen Erbschaftsteuerrecht wird der Gedanke deutlich, daß wir Vermögensbildung nicht zuletzt im Sinne der Lebenssicherung verstehen. Daher unser Wunsch nach breiter Streuung des Eigentums, weil jeder Mensch heute ein wachsendes Existenzrisiko hat. Zugleich muß dort, wo das Alter nicht durch Renten oder Pensionen in dynamischer Höhe gesichert ist, ein Vermögen dasein. Unter diesem Gesichtspunkt sieht die Erbschaftsteuerregelung jetzt vor, den nicht durch Renten und Pensionen gesicherten Witwen einen doppelten Freibetrag bis zu einer halben Million DM zu geben. Deswegen ist auch vorgesehen, daß Kinder, die noch in der Ausbildung sind, einen erhöhten Freibetrag bekommen. Sie brauchen ihn, um erst einmal in die Lage versetzt zu werden, auf eigenen Füßen zu stehen. Es gilt eben, das Eigentum zu verstehen im Sinne der Sicherung. Dazu sollten und wollen wir mehr tun als in der Vergangenheit.
Jetzt greifen Sie, Herr Zeitel, die Frage der Familienstiftung auf. Ich darf Ihnen sagen, das Problem war von uns in der Sache nicht bestritten. Wir wollen nicht, daß die Wahl einer bestimmten Rechtsform von eindeutigen Steuervorteilen bestimmt wird. Rechtsformen sollten aus der Sache heraus gewählt werden und dann vergleichbaren steuerlichen Belastungen unterliegen. Wenn Familienstiftungen aus der Sache heraus richtig sind, werden
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Frau Funcke
sie auch weiterhin bestehenbleiben, nachdem eine adäquate Besteuerung eingeführt sein wird, adäquat im Verhältnis zu jenem Steuerpflichtigen, der der Erbschaftsteuer unterliegt.
Es kann doch kein Zweifel sein, daß das Umgehen der Erbschaftsteuer einen Tatbestand schafft, der gerade im wirtschaftlichen Bereich Wettbewerbsverzerrungen mit sich bringt. Denn ein Betrieb in Personenhand ist gegenüber einer Familienstiftung auf längere Sicht zweifelsohne benachteiligt, weil bei ihm in der Generationenfolge Erbfälle entstehen, die
auch wenn vorübergehend eine Übertragung auf die Witwe erfolgt — je Generationswechsel Erbschaftsteuer auslösen. Die Familienstiftung aber erspart sich das, und damit ergibt sich ein Wettbewerbsvorteil. Sonst wären ja gerade in letzter Zeit nicht in so besonders starkem Maße Familienstiftungen gegründet worden.
Auf der anderen Seite wissen wir, daß die Stiftungen natürlich einen vernünftigen Zweck haben, wenn sie Vermögen binden wollen, das sonst in der Generationenfolge auseinanderfiele, wodurch die Betriebseinheit gefährdet würde. Deswegen bleibt ihr Sinn auch weiterhin bestehen. Darum st in diesen Fällen auch eine Abschwächung der Erbschaftsbesteuerung vorgesehen. Sie wird praktisch so gehandhabt, als hätten zwei Kinder ihren Vater beerbt und als wäre damit eine normale Personenerbschaft entstanden. Zwei Kinder dürften heute etwa der Durchschnitt sein. Dabei wird nicht einmal in Rechnung gestellt, daß manchmal auch an Neffen und Nichten vererbt wird und somit höhere Steuern anfallen. Wir haben vielmehr eine normale Erbschaft konstruiert: eine Vererbung auf zwei Abkömmlinge mit jeweils zwei Freibeträgen und jeweils der Steuerklasse I. Dies ist, glaube ich, durchaus eine vernünftige Regelung.
Sollte sich dennoch jemand nachteilig behandelt fühlen, gibt es ja für die Auflösung eine Übergangsregelung, die keine Verschlechterung, sondern teilweise eine Verbesserung bringt. Der Antrag, den wir vorgelegt haben, sieht bei der Auflösung der Stiftung vor, daß mindestens der Besitzstand gewahrt wird. Der Besitzstand aber ist recht günstig. Wer also meint, aus steuerlichen Gründen die Familienstiftung nicht mehr aufrechterhalten zu können, hat so eine faire Möglichkeit, sie aufzulösen.
Dieser Gedanke des Übergangs hat uns auch an verschiedenen anderen Stellen geleitet. Aus Gerechtigkeitsgründen ist es notwendig, auch Schenkungen unter Ehegatten von einer bestimmten Höhe an der Erbschaftsteuer zu unterwerfen. Wir wissen, daß auch da aus rein steuerlichen Gründen manches hin und her geht. Dies muß nicht alles steuerfrei sein. Es muß aber bei dieser Gelegenheit sichergestellt werden, daß frühere vermögensrechtliche Gestaltungen, wie sie etwa bei der Einführung der Zugewinngemeinschaft einseitig durch einen Ehepartner festgelegt werden konnten, ohne steuerliche Belastung revidiert werden können, so daß der Ehemann, der seinerzeit einseitig die Gütertrennung für richtig hielt, jetzt eine vernünftige Art und Weise der Aufteilung zwischen sich und seiner Ehefrau sicherstellen kann.
Das gleiche gilt für diejenigen, die in einem Gesellschaftsvertrag Buchwertabfindungen vorgesehen haben und damit beim Ausscheiden eines Gesellschafters die übrigen Gesellschafter vermögensmäßig begünstigen. Auch hier soll, bevor eine Besteuerung Platz greift, eine Umgestaltung des Gesellschaftsvertrags möglich sein.
Meine Herren und Damen, wir sehen in diesem Gesetzentwurf und den in der kommenden Woche zu verabschiedenden weiteren einheitswertabhängigen Steuergesetzen einen wesentlichen Teil der Steuerreform, und wir sind entschlossen, das Gesamtreformwerk zusammen mit dem Koalitionspartner organisch und zeitgerecht zu vollenden.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Porzner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn der Bundestag das neue Erbschafts- und Schenkungsteuergesetz verabschiedet, so ist das ein weiterer Schritt zur Verwirklichung der Steuerreform. Damit kommen wir ein gutes Stück voran auf dem Weg, den Bundeskanzler Willy Brandt in der Regierungserklärung vom 18. Januar vorgezeichnet hat, wo es heißt: „zügige Fortsetzung der in der vergangenen Legislaturperiode begonnenen Arbeit an der Steuerreform". Daß von allen, die sich an dieser Arbeit beteiligen, das Programm bisher eingehalten werden konnte, zeigt die Entschlossenheit, die Steuerreform als eine der großen politischen Aufgaben dieser Legislaturperiode erfolgreich abzuschließen.
In der vergangenen Legislaturperiode wurde die Reform des Außensteuerrechts bereits beschlossen. Der mißbräuchlichen Ausnutzung des Steuergefälles, .das es gegenüber einigen Staaten gibt, wurde ein Riegel vorgeschoben. Die Verlagerung von Einkommen und Vermögen und der Wohnsitzwechsel ins Ausland haben an steuerlichem Reiz verloren. Dieses Außensteuergesetz dient aber auch unserer Wirtschaft, deren Wettbewerbssituation gegenüber dem Ausland auf steuerlichem Gebiet verbessert wurde.
Als zweites Gesetz im Rahmen der Steuerreform wurde im Frühjahr .das Gesetz zur Reform des Grundsteuerrechts vom Deutschen Bundestag verabschiedet, und zwar einstimmig. 'Bei der Grundsteuerreform werden die Steuerlasten gerechter auf die einzelnen Grundstücksarten verteilt. Das neue Grundsteuerrecht bringt den Gemeinden die seit langem geforderte und von allen akzeptierte höhere Steuereinnahme von rund 800 Millionen DM ab nächstem Jahr.
Drittens. Mit der heute zur Beratung anstehenden Reform der Erbschaft- und Schenkungssteuer wird ein weiterer Teil der Steuerreform verabschiedet.
Viertens. Der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages hat in dieser Woche die Beratungen zur Reform der Vermögensteuer abgeschlossen.
Damit kann ab 1. Januar 1974 der wesentliche Inhalt des Zweiten Steuerreformgesetzes wirksam
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Parl. Staatssekretär Porzner
werden. Der wesentliche Inhalt besteht darin, daß die Einheitswerte von 1964 bei allen einheitswertabhängigen Steuern angewandt werden.
Fünftens. Ich möchte hinzufügen, daß der Finanzausschuß des Bundestages weiterhin beschlossen hat, die Änderungen im Gewerbesteuerrecht, vor allem ,die Erhöhung des Freibetrages, zusammen mit der Reform ,der Einkommensteuer 1975 in Kraft zu setzen. Danach hat die Hälfte aller gewerbesteuerpflichtigen Unternehmungen, nämlich 800 000 von rund 1,6 Millionen, künftig keine Gewerbesteuer mehr zu zahlen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben damit die Ziele erreicht, die sie sich für dieses Jahr in ,der Steuerreform gesetzt haben.
Der Finanzausschuß des Bundestages hat durch seine konzentrierte Arbeit — und dafür möchte ich im Namen der Bundesregierung danken — ermöglicht, seine Terminplanung einzuhalten, obwohl neben den Steuerreformgesetzen in diesem Jahr auch die zahlreichen und schwierigen steuerlichen Beschlüsse im Rahmen des Stabilitätsprogramms zu fassen waren.
Bei der bevorstehenden Beratung des Dritten Steuerreformgesetzes, das dm Oktober von der Bundesregierung beschlossen wurde, müssen wir der Reform der Einkommen- und Lohnsteuer und der grundlegenden Neugestaltung des Kindergeldsystems den Vorrang einräumen, damit ab 1975 die unteren und mittleren Einkommen gezielt entlastet werden und alle Familien auch die gleiche steuerliche Vergünstigung für ihre Kinder erhalten.
Der Schwerpunkt des Erbschaftsteuergesetzes liegt bei der Einführung der Einheitswerte von 1964 anstelle der völlig überholten Einheitswerte aus dem Jahre 1935. Künftig wird bei der Besteuerung von Grundbesitz nicht mehr von Einheitswerten auszugehen sein, die nahezu 40 Jahre alt sind und im Durchschnitt nur noch einem Zehntel des tatsächlichen Wertes entsprechen. Eine der größten steuerlichen Subventionen, die sich im Laufe der Jahrzehnte im Verborgenen entwickelt hat, wird damit abgebaut. Durch diesen steuerlichen Mißstand wurden Bodenspekulationen und Bodenpreissteigerungen angeheizt. Es ist daher auch ein Stück Bodenreform, ,das wir mit diesem Gesetz machen.
Verfassungsrechtlich sind die alten Einheitswerte ohnehin nicht mehr länger hinzunehmen, weil sie zu einer steuerlichen Bevorzugung des Grundbesitzes gegenüber anderen Vermögen — z. B. Sparguthaben oder Wertpapieren geführt haben. Mit der Steuerreform werden ab Januar des kommenden Jahres dank der Anwendung der Einheitswerte von 1964 die krassen Verzerrungen beseitigt. Die Besteuerung ,des Grundbesitzes wird bei der Erbschaft- und Vermögensteuer der Besteuerung der übrigen Vermögensarten angenähert.
Meine Damen und Herren, die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen wird durch eine Reihe anderer Regelungen gerechter gestaltet. Großvermögen werden höher belastet. Der Erwerb kleinerer und mittlerer Vermögen wird durch hohe Freibeträge steuerlich entlastet. Auch die große Zahl der Besitzer von Ein- und Zweifamilienhäusern wird durch die Steuerreform und durch die Anwendung der neuen Einheitswerte nicht zusätzlich belastet; vielmehr brauchen viele Besitzer eines Ein- oder Zweifamilienhauses oder einer Eigentumswohnung künftig weniger oder gar keine Steuern zu zahlen, bei denen heute noch Erbschaft- oder Vermögensteuer anfällt.
Ungerechtfertigte Steuervorteile werden verhindert. Ich erwähne in diesem Zusammenhang nur die neue Nießbrauchsregelung, die Besteuerung der Familienstiftungen und die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten im Gesellschaftsrecht, die nunmehr in die steuerpflichtigen Tatbestände einbezogen werden.
Ich darf eine Anmerkung zu den Ausführungen des Herrn Abgeordneten Zeitel von der CDU/CSU-
Fraktion machen. Ich bitte, wenn von den Familienstiftungen geredet wird, darum, nicht den Eindruck zu erwecken, als handele es sich dabei um eine Besteuerung der Vermögen der Familien. In Familienstiftungen sind zur Zeit rund 5 Milliarden DM organisiert. Allein rund 4 Milliarden DM, also 80 % des in Familienstiftungen verwalteten Vermögens, sind im Besitz von 20 Familien. Das heißt, je Familie ergeben sich im Durchschnitt 200 Millionen DM.
Im Rahmen dieser Steuerreformarbeit hat der Finanzausschuß des Bundestages beschlossen, daß auch solche Vermögen, die in Stiftungen verwaltet werden, künftig erbschaftsteuerlich ähnlich wie Vermögen, das in anderer Form behalten und organisiert wird, behandelt werden sollen.
CDU und CSU sind im Prinzip für die Erbschaftsteuerreform, lehnen aber das Gesetz mit Argumenten ab, die sich im großen und ganzen mit Randproblemen des Erbschaftsteuerrechts befassen. Offensichtlich will die Opposition die Privillegien des geltenden Rechts aufrechterhalten.
Ich bitte den Deutschen Bundestag um die Zustimmung zu diesem Gesetz.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung. Meine Damen und Herren, ich darf darauf hinweisen, daß die Art. 1, 3, 4, 5, 6 und von Art. 7 in Abs. 1 die Nummern 1, 2, 5, 6, 7, 8 und 9 sowie Abs. 2 nicht aufgerufen werden, da die entsprechenden Bestimmungen bereits als Gesetz verkündet worden bzw. einer späteren Beratung vorbehalten sind. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich rufe daher Art. 2 §§ 1 bis 13 auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen.
— Wie Sie wollen. — Wer dem Art. 2 § 1 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen.
— Gegenprobe!— Enthaltungen? — Mit Mehrheit
angenommen.
4122 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Präsident Frau Renger
Ich rufe dann Art. 2 §§ 2 bis 13 auf.
— Ich rufe also § 2 auf. Wer dem § 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich
um ein Handzeichen. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe § 3 in der Ausschußfassung auf. Wer diesem Paragraphen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Gegenstimme angenommen.
Ich rufe § 4 in der Ausschußfassung auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke. Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe den § 5 auf. Wer diesem zuzustimmen
wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung
angenommen.
Ich rufe den § 6 auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe den § 7 auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit zwei Gegenstimmen angenommen.
Ich rufe § 8 — den wollten Sie auch noch getrennt aufgerufen haben — auf. Wer diesem zuzustimmen
wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! - Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Dann darf ich jetzt die §§ 9 bis 13 aufrufen.
Herr Kollege Häfele, Sie haben gesagt: bis § 8. —
Ich rufe § 9 auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe § 10 auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe § 11 auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe § 12 auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe § 13 auf. Wer diesem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Auf Drucksache 7/1349 liegt Ihnen, meine Damen und Herren, ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor, in dem die Einführung eines § 13 a beantragt wird.
Das Wort zur Begründung des Änderungsantrags hat der Herr Abgeordnete Wagner .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Änderungsantrag auf Drucksache 7/1349 sieht die Einfügung eines § 13 a vor. Durch diesen Paragraphen soll Erbschaftsteuerfreiheit für Arbeitnehmerstiftungen gewährleistet werden; das Problem ist im Finanzausschuß erörtert worden.
Es handelt sich darum, daß die Zuwendung eines Unternehmers an eine Stiftung, die den Zweck hat, die Arbeitnehmer des Unternehmens am Ertrag des Unternehmens zu beteiligen, heute auf erhebliche steuerliche Schwierigkeiten und Behinderungen stößt. Diese Behinderungen liegen namentlich im Bereich der Erbschaftsteuer, sie liegen aber auch im ertragsteuerlichen Bereich. Bei der Erbschaftsteuer muß gesehen werden, daß Besteuerung nach Steuerklasse IV anfällt. Dies würde bedeuten, daß etwa bei einem Unternehmen mit 100 Beschäftigten, wenn von einem Zuwendungsbetrag von 10 000 DM pro Kopf ausgegangen wird, also eine Gesamtzuwendung von 1 Million DM erreicht wird, eine Erbschaftsteuerbelastung von 440 000 DM, also von fast der Hälfte des zugewandten Betrages anfällt. Es ist selbstverständlich, daß eine solche Belastung prohibitiv wirkt, die Zuwendungen an die Arbeitnehmerstiftung also unmöglich macht.
Hinderlich sind ferner Bestimmungen im ertragsteuerlichen Bereich, insbesondere die Tatsache, daß Doppelbelastung vorliegt, nämlich einmal die Belastung der Stiftung selbst, für ihr Einkommen, durch die Körperschaftsteuer, zum anderen die einkommen- oder lohnsteuerliche Belastung bei den Arbeitnehmern, wenn sie über die Stiftung am Ertrag des Unternehmens beteiligt werden.
Unser Antrag sieht daher vor, daß Zuwendungen an Arbeitnehmerstiftungen, die im einzelnen klar definiert sind, erbschaftsteuerfrei sein sollen. Er sieht ferner durch eine Änderung ides Körperschaftsteuergesetzes eine Beseitigung der Doppelbesteuerung in diesem Bereich vor.
Durch die Formulierung unseres Antrages ist dafür Sorge getragen, daß mißbräuchliche Nutzung dieses Instituts der Arbeitnehmerstiftung ausgeschlossen ist. Insbesondere ist klargestellt, daß die Stiftung nicht den Zweck verfolgen darf, dem Stifter oder seinen Angehörigen Vorteile gegenüber ,den Arbeitnehmern zu sichern. Es ist auch klargestellt, daß Angehörige der Stifter nicht etwa die Mehrheit der Begünstigten der Stiftung darstellen dürfen.
Gegen diesen Antrag sind im Finanzausschuß seitens der Regierungsparteien alle möglichen Einwände vorgebracht worden. Diese Einwände liefen zum Teil darauf hinaus, daß ,der Antrag in Wirklichkeit nicht abstimmungsreif sei. Wir glauben, sie widerlegt zu haben. Der Antrag kann heute hier so verabschiedet werden, ohne daß das zu irgendwelchen Komplikationen und Schwierigkeiten führen würde. Der eigentliche Punkt ist aber auch nicht die-
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Dr. Wagner
ser. Bei der Ausschußberatung ist deutlich geworden
wir werden nachher sehen, ob es bei der Abstimmung im Plenum dabei bleibt —, daß die Koalitionsparteien diesen Antrag aus politischen Gründen nicht wollen.
Es handelt sich hier um einen wichtigen Schritt im Bereich der Vermögensbildungspolitik. Es handelt sich darum, daß das für kleine und mittlere Unternehmen ideale Instrument der Arbeitnehmerstiftung — ideal zur Beteiligung der Arbeitnehmer kleinerer und mittlerer Unternehmen am Ertrag des Unternehmens — von den Koalitionsparteien ganz offensichtlich nicht gewollt wird. Dies ist das Problem, und darüber sollten wir hier auch reden.
Es ist nicht so, Herr Staatssekretär Porzner, daß dieses Problem wie auch die anderen, die wir aufgeworfen haben und von denen wir unser Votum zu diesem Gesetz letztlich abhängig gemacht haben, ein Randproblem darstellt. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Antrag, der einen erheblichen Schritt im Bereich der Vermögensbildung darstellt bzw. bei seiner Annahme darstellen würde. Daß dieser Schritt möglicherweise oder mit Sicherheit nicht in die vermögenspolitische Richtung geht, in die Sie sich bewegen wollen, ist eine andere Frage und steht auf einem anderen Blatt. Sicher ist aber, daß mit Annahme dieses Antrags dieses Gesetz sich ein gutes Stück mehr Anspruch erwerben würde, als ein Reformgesetz bezeichnet zu werden, sehr viel mehr als heute, wo wir doch sagen müssen, daß es sich in Wahrheit um ein etwas größeres Steueränderungsgesetz handelt.
Es hat uns gewundert, daß diesem Antrag auch von der FDP nicht zugestimmt wurde. Wir wissen, daß die Sozialdemokraten auf Grund ihrer Gesamttendenz in diesem Bereich und auf Grund ihrer Beschlüsse von Hannover zu einer Vermögensbildung, die auf dem Gedanken der Partnerschaft im Unternehmen beruht, nicht bereit sein können und nicht bereit sind. Nach den allgemeinen Deklarationen der Freien Demokraten hätte man vermuten müssen, daß sie es wären. Es hat sich herausgestellt, daß sie es in diesem Punkte eben nicht waren. Sie mögen der Öffentlichkeit erklären, warum. Es hilft doch nicht, wenn darauf verwiesen wird, daß .die Vermögensbildungspläne kämen, sondern es kommt darauf an, jetzt etwas zu tun.
Wir halten diesen Antrag nicht für ,die große Lösung für die Vermögensbildung. Wahrscheinlich gibt es hier — wie in anderen Bereichen — die große Lösung auf einmal eben nicht. Wir halten ihn aber für einen wichtigen Schritt, und wir bitten daher das Haus um seine Zustimmung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vohrer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren!
Sie machen uns bei der Ablehnung der Arbeitnehmerstiftung den Vorwurf, wir stellten uns hier von vornherein gegen diese Unternehmungsform.
Wenn Sie den Ausschußbericht lesen, dann sehen Sie, daß wir in aller Deutlichkeit gesagt haben, daß wir für die Arbeitnehmerstiftung Sympathien haben, daß wir sie jedoch in dem größeren Zusammenhang mit der Vermögensbildung sehen und dort auch diskutieren wollen.
Dann noch eines zu diesem Punkt — nachdem Sie, Herr Zeitel, hier die Frage ansprachen , daß wir Ihnen im Ausschuß zu wenig Zeit zur Beratung gelassen haben. Dazu muß ich feststellen, daß Sie sich einerseits darüber beschweren, daß die Zeit nicht ausgereicht habe, über diesen oder jenen Punkt vertieft zu diskutieren; andererseits haben Sie in die Beratungen des Erbschaftsteuergesetzes den Vorschlag einer ganz neuen Unternehmensform eingefügt, der, wenn wir ihn wirklich mit der notwendigen Intensität beraten hätten, jeglichen Zeitplan durcheinandergebracht hätte.
Ich habe den Eindruck, daß Sie in Ihrem Profilierungsbedürfnis nach links die Problematik der Firma Lip in Frankreich aufgegriffen haben, um sich hier mit der Arbeitnehmerstiftung hervorzutun, und hier eine Unternehmungsform vorschlagen, die insgesamt eine Summe von Ungereimtheiten darstellt.
Seien Sie doch beruhigt, ich werde diese Punkte im einzelnen ja begründen. — Zuvor aber noch eine Frage an Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Wie erklären Sie denn die Gemengelage zwischen Arbeitnehmerstiftung und den anderen vermögenspolitischen Vorstellungen Ihrer Partei? Wie wollen Sie denn den Burgbacher-Plan mit ihrer Arbeitnehmerstiftung verquicken? Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage ,des Abgeordneten von Bockelberg?
Ich gebe zu, daß die Zwischenfrage jetzt durch ein Versehen etwas zu spät kommt. Können Sie mir das Datum sagen, wann die CDU/CSU diesen Antrag „Arbeitnehmerstiftungen" im Finanzausschuß zu spät eingebracht hat?
Herr von Bockelberg, es ist ja überhaupt nicht die Rede von dem Zeitpunkt der Einbringung, sondern von der verfügbaren Beratungszeit im Ausschuß. Die war nach der Ansicht Ihrer Partei nicht ausreichend. Herr Häfele, ich wäre da an Ihrer Stelle etwas vorsichtig; wenn man die
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Dr. Vohrer
Zeit zur Ausschußberatung in so geringem Maße auszudehnen bereit ist, wie Sie es bislang gehandhabt haben, dann soll man uns hier nicht den Vorwurf machen, daß wir Ihnen nicht genügend Zeit zur Verfügung stellten, solche Vorschläge im Ausschuß zu beraten.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Eine Zusatzfrage! Halten Sie es nicht für ausreichend, eine Zeit von Juli bis Anfang Dezember für die Beratung zur Verfügung zu haben?
Ich kann es nur nochmals wiederholen: es geht nicht um den Zeitraum, wie lange der Vorschlag vorliegt, sondern es geht um die Zeit, die im Ausschuß zur Beratung zur Verfügung steht, und die wird nicht länger, wenn Sie einen Antrag früher vorlegen, sondern hier zählen nur die Tage und die Stunden — und die sind eben wirklich knapp genug —, die wir im Ausschuß zur Verfügung haben.
Ich würde gerne in der Sache fortfahren. Sie wollen mit Ihrer Arbeitnehmerstiftung die Arbeitnehmer begünstigen und haben dabei die Rolle der Familienangehörigen des Unternehmers, der die Stiftung überhaupt ins Leben ruft, nicht genügend definiert. Wir wissen nicht genau, durch welche Nießbrauchregelungen breite Personenkreise — insbesondere Familienangehörige — am Fiskus vorbei Einkommen beziehen. Für mich ist es ganz interessant, hierbei festzustellen, daß der Kreis der Familienangehörigen, die hier begünstigt werden, bis zu den Adoptivkindern und Verlobten reicht. Dabei ist es wirklich im Hinblick auf die Haltung der CDU ein Phänomen, daß Sie den Verlobten bei der Begünstigung aus den Unternehmergewinnen weitgehendere Rechte einräumen wollen als in anderen Bereichen, die für Verlobte in der Regel relevanter sind.
Was die Vertretung im Stiftungsrat anbetrifft, so ist die Rolle der Arbeitnehmer oder ihrer Vertreter bei der Mitbestimmung im Stiftungsrat für uns keineswegs ausreichend abgeklärt. Die Frage, ob der Stifter oder sonst jemand die Stiftungsratsmitglieder beruft, ist ebenfalls nicht ausreichend definiert. Die Regelung der Bezüge des Stiftungsrates ist völlig offen, d. h. man ermöglicht Steuerumgehungen, und die Tätigkeit der Verwaltungsrats- oder Stiftungsratsmitglieder kann zu neuen Pfründen im Stiftungsbereich führen.
Auch mit der Ausschüttung der Gewinne ist bei Ihnen nichts klar. — Mögliche Regelungen sind: höchstens soundso viel oder mindestens soundso viel, womit der Stiftungsgedanke bis zu einem gewissen Grade unterlaufen wird. Dadurch kann man nämlich
Gewinne in einem Maße thesaurieren, daß der Stiftungsgedanke für den Arbeitnehmer jeglichen Anreiz verliert.
Darüber hinaus ist die Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne bei den Arbeitnehmern in Ihrem Vorschlag auch noch nicht eindeutig geklärt. Herr Zeitel, ein Gegensatz zwischen einer breiten Streuung des Eigentums und ,der vorliegenden Erbschaftsteuerregelung besteht meiner Ansicht nach überhaupt nicht. Wenn er aber bestünde, würde er durch Ihren Gesetzesantrag zur Arbeitnehmerstiftung keineswegs aufgehoben. Hier den Koalitionsparteien Neigung zu kollektivistischen Formen der Vermögensbildung vorzuwerfen, gleichzeitig aber einen Gesetzentwurf zur Arbeitnehmerstiftung zu präsentieren, der in wichtigen Punkten nicht konkretisiert ist, erscheint mir absurd.
Herr Wagner, Sie haben zu Recht gesagt, unsere Ablehnung habe politische Gründe. Das stimmt und das sollte man auch nicht verschweigen. Wir wollen bei dem Vermögensbildungsmodell, das wir anstreben, eine überbetriebliche Gewinnbeteiligung. Insofern machen wir uns sehr viele Gedanken darüber, inwieweit die Form der Arbeitnehmerstiftung und der Gedanke überbetrieblicher Gewinnbeteiligung miteinander zu koordinieren sind. Wir wollen aber keine neuen steuerlichen Anreize dafür geben, daß Stiftungsformen geschaffen werden, die wir in unsere vermögenspolitischen Gesamtvorstellungen nicht einordnen können. Aus diesem Grunde müssen erst vertiefte Arbeiten über diesen Bereich vorgelegt werden, bevor wir einer solchen Arbeitnehmerstiftung unsere Zustimmung geben können.
Es ist nicht richtig, Herr Wagner, daß wir die Arbeitnehmerstiftung nicht gewollt hätten; dies soll zum Schluß noch einmal klargestellt werden. Wir wünschen die Arbeitnehmerstiftung, wenn sie sich in unsere vermögenspolitische Vorstellungen integrieren läßt.
Insofern gibt es vernünftige Gründe, hier den Vorstellungen der Koalitionsparteien zuzustimmen und dennoch eine Arbeitnehmerstiftung, wie Sie sie uns vorlegen, abzulehnen.
Wird zu diesem Punkt weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1349, einen neuen § 13 a einzufügen. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zu den §§ 14 und 15. Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen
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Vizepräsident Dr. Jaeger
Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Es ist so beschlossen.
Wir kommen zu § 16 und gleichzeitig zum Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1350. Er wird vom Herrn Abgeordneten Bremer begründet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit den Ziffern 2 bis 4 dieses Antrags möchte die CDU/CSU-Fraktion eine Erhöhung der Freibeträge gegenüber dem Ausschußvorschlag erreichen. Wir möchten in der Steuerklasse I, soweit die Kinder, die unmittelbaren Abkömmlinge betroffen sind, gern eine Erhöhung auf 90 000 DM, in der Steuerklasse II, in der vor allem die Enkelkinder untergebracht sind, eine Erhöhung auf 50 000 DM und in der Steuerklasse III dort sind vor allen Dingen die Geschwister und Eltern aufgeführt — eine Erhöhung auf 10 000 DM erreichen. Wir sind der Meinung, daß die im Ausschuß beschlossenen und von der Koalition getragenen Freibeträge nicht ausreichen und nicht den Gegebenheiten der Wertentwicklung Rechnung tragen.
Es ist von Herrn Staatssekretär Porzner gesagt worden, daß das Bestreben der CDU/CSU anscheinend dahin gehe, Privilegien zu erhalten. Wir nehmen den Vorhalt gern auf uns, mit einem Antrag auf Erhöhung der Freibeträge — für Kinder z. B. auf 90 000 DM Privilegien zu erhalten.
Ich möchte dies an einigen Beispielen erläutern. Wir sind uns ja darin einig — die Koalition hat das, genau wie wir, immer wieder ausgeführt —, daß das Einfamilienhaus unter Hinzurechnung eines kleinen Sparbetrages der Maßstab sein soll, wonach die Freibeträge in der Steuerklasse I, also die Freibeträge für die Kinder zu bemessen sind. Ich zitiere Ihnen jetzt einmal Zahlen aus statistischen Unterlagen eines Bundeslandes, um Ihnen zu beweisen, daß diese Freibeträge in vielen Fällen nicht ausreichen. Der Einheitswert von 1935 für ein Einfamilienhaus von 20 000 DM erhöht sich nach der Bemessungsgrundlage von 1964 auf fast 300 %, auf 59 200 DM. Der 1,4fache Wert beträgt 82 900 DM. Bisher wäre keine Steuer angefallen. In Zukunft sollen nach dem Koalitionsvorschlag 516 DM/Steuer gezahlt werden. Nach unserem Vorschlag — Erhöhung auf 90 000 DM — wäre keine Steuer zu zahlen.
Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel, bei dem es um Geschwister geht. Der Einheitswert von 1935 für ein Grundstück von 6 000 DM — das ist in der Tat ein sehr niedriger Wert — erhöht sich nach der Bemessungsgrundlage von 1964 auf 265 %, auf 15 900 DM. Der 1,4fache Wert in diesem statisch nachweisbaren Fall beträgt 22 200 DM. Nach bisher geltendem Recht sind von den Geschwistern 360 DM zu zahlen. Nach dem Vorschlag der Koalition werden 1 672 DM zu zahlen sein. Nach unserem Vorschlag wäre nichts zu zahlen.
Ich meine, hier handelt es sich in der Tat um Größenanordnungen, von denen man mit Fug und Recht
sagen kann und im Hinblick auf die man fordern muß, daß sie nicht mit in eine Erbschaftsbesteuerung einbezogen werden.
Von der Koalition wird hier schließlich immer wieder betont, es handle sich um eine kräftige Erhöhung der Freibeträge. Ich möchte darauf hinweisen, daß die Freibeträge samt und sonders aus dem Jahre 1934 stammen. Ich brauche, glaube ich, nicht die Statistik zur Hand zu nehmen, um Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, davon zu überzeugen, daß diese Werte auf der Basis des Jahres 1934 mittlerweile überholt sind und mindestens um das 3fache erhöht werden müßten. Wir wollen diese Freibeträge auch nur um das 3fache erhöht wissen.
Am Schluß ist von Frau Kollegin Funcke die Frage der Deckung noch einmal angesprochen worden. Einige der Kollegen haben schon darauf hingewiesen, daß auch hinsichtlich der neuen Eckwerte der Regierung — es geht hier um ein finanzielles Volumen in Höhe von 10,5 Milliarden DM — von einem Deckungsvorschlag bisher keine Rede sein kann. Von einem Deckungsvorschlag war auch keine Rede, als die Koalition im Finanzausschuß die Freibeträge dankenswerterweise schon von 50 000 auf 70 000 DM angehoben hat.
Schließlich wird ein Mehraufkommen aus der Erbschaftsteuer in Höhe von 200 Millionen DM erwartet. Es pfeifen doch aber die Spatzen von den Dächern, daß dies der niedrigste Wert ist, der in der Schätzung überhaupt anzusetzen war.
Wahrscheinlich wird das Mehraufkommen viel höher sein. Der Betrag, um den es hier geht, der hier gebraucht würde, liegt durchaus im Rahmen der Schätzungsgrenze. Ich bitte daher, diesen Antrag anzunehmen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes möchte ich hier feststellen, daß die Koalitionsfraktionen überhaupt keinen Anlaß sehen, die Angaben der Regierung in bezug auf das geschätzte Mehraufkommen aus der Erbschaftsteuer zu bezweifeln. Die Opposition hat gestern im Finanzausschuß anläßlich der Beratung einer Vorlage über die Mehr- und Mindereinnahmen aus den einheitswertabhängigen Steuern die Frage gestellt, ob Meldungen der „Welt" zuträfen, wonach das zu erwartende Aufkommen viel höher sein werde. Die Regierung hat daraufhin erklärt, dies entbehre jeder Grundlage. Ich verstehe nicht ganz, warum dieses Thema von der Opposition heute in diesem Hohen Hause zur Sprache gebracht wird, ausgehend von Zeitungsmeldungen, in denen wieder einmal versucht wird, mit Vermutungen gegen eine
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Frau Huber
Reform zu polemisieren. Das muß ich hier deutlich sagen.
Zweitens sind die Koalitionsfraktionen der Auffassung, daß das Mehraufkommen bei der Erbschaftsteuer — das ja gewollt ist, weil nämlich durch die Einführung der neuen Einheitswerte endlich einmal die ungerechtfertigten Steuervorteile beseitigt werden, die bisher durch die krasse Unterbewertung von Grundvermögen entstanden sind — nicht durch unvertretbar hohe Anhebung der Freibeträge kompensiert werden darf.
Drittens. Wenn wir über die Freibeträge reden, so richten wir uns nach zwei Kriterien aus. Das eine ist die zeitliche Anpassung. Hier möchte ich sagen, daß alle persönlichen Freibeträge in sämtlichen Steuerklassen verdoppelt bis verdreifacht worden sind.
Das zweite Kriterium sind die sozialen Erfordernisse. Da haben auch wir uns durchaus Gedanken darüber gemacht, wie denn der überlebende Ehegatte und die Kinder — um die geht es ja vornehmlich -abzusichern sind. Ich will hier nicht mehr alles ausführen, was schon mein Kollege Huonker darüber gesagt hat. Der überlebende Ehegatte hat ja 250 000 DM persönlichen Freibetrag plus 250 000 DM Versorgungsfreibetrag plus 40 000 DM Hausratsfreibetrag plus kleinere Freibeträge für einzelne andere Gegenstände, wodurch abgesichert ist, daß selbst ein gutes Grundvermögen nicht unter die Erbschaftsteuer fällt.
Die Opposition hat deshalb hier heute in erster Linie auf die Kinder abgehoben. Die Vorlage weist aus, daß die Koalitionsfraktionen hier die Beträge ebenfalls angehoben haben.
Sie bringen nun Beispiele dafür, wie fürchterlich die Auswirkungen für die nahen Erben eines Verstorbenen sind. Dazu möchte ich sagen, daß ein normales Einfamilienhaus mit einem durchschnittlichen Einheitswert — bitte, nicht Verkehrswert! — zwischen 30 000 und 50 000 DM steuerfrei bleibt, daß ein besonders gut ausgestattetes Haus eine Steuer von ungefähr 1000 DM auslöst, wenn ein einziges Kind Erbe ist, und daß selbst ein aufwendiges Haus mit einem Einheitswert von 100 000 DM zu einer Steuer von knapp 2 500 DM führt, wenn e i n Kind es erbt. Das kann man ja wohl nicht als krasse Benachteiligung ansehen. Nach unserer Ansicht leben in der Bundesrepublik sehr viele Bürger, die in einem ganzen Arbeitsleben nicht so viel Vermögen zusammenkratzen können, wie hier steuerfrei bleibt. Das muß auch einmal gesagt werden.
Vielleicht erinnern sich einige, die hier so geklatscht haben, einmal an die Beschlüsse der CDU-Sozialausschüsse zur Erbschaftsteuer. Das war sicherlich härter als das, was wir beschlossen haben.
Die Einheitswerte sind, wie gesagt, noch lange keine Verkehrswerte. Alle, die Grundvermögen haben, sind immer noch bevorzugt gegenüber denen, die anderes Vermögen schon lange nach Mark und Pfennig versteuern müssen. Im übrigen sind auch die die Freibeträge übersteigenden Erwerbe — das muß deutlich gesehen werden — im Tarif, den wir im Finanzausschuß ja einvernehmlich beschlossen haben, in den unteren Bereichen und in den unteren Steuerklassen sehr milde besteuert.
Aus all diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Opposition ab.
Die Angelegenheit ist damit offenbar ohne weitere Diskussion abstimmungsreif.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1350. Wer ihm zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe.
— Das zweite ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen über § 16 in der Ausschußfassung ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die §§ 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 23 a und 24 auf.
Zu § 24 a liegt kein Änderungsantrag vor.
— Schön. Das Wort wind nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen bis einschließlich § 24 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich 'bitte um die Gegenprobe. — Es ist
so beschlossen.
Dann wird § 24 a gesondert aufgerufen. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. -- Ich bitte um die Gegenprobe. — Bei zahlreichen Gegenstimmen angenommen.
Kann ich jetzt wieder gemeinsam aufrufen?
— Dann rufe ich die §§ 25 bis 34 auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. —Es ist so beschlossen.
Ich komme zu § 35 und dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1351.
Zur Begründung hat der Abgeordnete Bremer das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Antrag möchte die Opposition sichergestellt wissen, daß zukünftige Erhöhungen bei der Einheitsbewertung des Grundbesitzes grundsätzlich nicht zu einer automatischen Mehrbelastung bei der Erbschaftsteuer führen. Wir wissen, daß für den 1. Januar 1975 die nächste Hauptfeststellung bei den Einheitswerten für den Grundbesitz ansteht und daß auch auf der Basis 1964 plus 40 % kräftige Erhöhungen der Einheitswerte zu erwarten sind.
Nun hat dieses Hohe Haus bereits in der Vergangenheit mehrfach zum Ausdruck gebracht — und auch die Regierung —, daß derartige Höherfestsetzungen von Einheitswerten nicht jedesmal automatisch auch zu einer Erhöhung der Belastung durch die sogenannten einheitswertabhängigen Steuern — das sind also die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und die Grundsteuer — führen sollten. Das ist bei mehreren Anlässen zum Ausdruck gekommen, etwa bei der Verabschiedung des Bewertungsänderungsgesetzes 1965 oder auch in der Regierungsbegründung zum Bewertungsänderungsgesetz 1971. Überall wird zum Ausdruck gebracht, daß hier eine Anpassung auch hinsichtlich der Freibeträge und der sonstigen Besteuerungsgrundlagen zu erfolgen hat. Ich zitiere hier mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus der Regierungsbegründung zum Bewertungsänderungsgesetz 1971:
Mit der steuerlichen Anwendung der neuen Einheitswerte ist daher notwendig eine neue Regelung der Besteuerungsmaßstäbe, vor allem der Freibeträge und Tarife, bei den einheitswertabhängigen Steuern verbunden.
Nun hat die CDU/CSU dies bereits im Finanzausschuß vorgebracht, und die Regierung hat geantwortet, das sehe auch sie so. Sie hat eine Absichtserklärung in dieser Richtung abgegeben. Wir haben daraufhin allerdings zu fragen, warum denn diese Absichtserklärung nicht ihren Niederschlag im Gesetz selbst finden soll.
Die Koalition hat uns entgegengehalten, dafür gebe es gesetzgebungspolitische Gründe; denn der Gesetzgeber sei ohnehin durch eine solche Bestimmung nicht gebunden. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, es gibt doch auch andere gesetzgeberische Bereiche aus der jüngsten Vergangenheit, wo wir derartige Aufträge an den Gesetzgeber selbst sozusagen in das Gesetz hineingegossen haben! Ich erinnere etwa an den § 65 des Bundesbesoldungsgesetzes, wo der Auftrag zur Anpassung der Besoldung der Beamten an die laufende wirtschaftliche Entwicklung niedergelegt worden ist. Dies ist eine ähnliche Bestimmung.
Aus diesen systematischen Gründen ist die Entgegnung der Koalition nicht überzeugend.
Im übrigen wird, wie Sie feststellen, wenn Sie in diesen unseren Änderungsantrag hineinschauen, damit auch gar keine Automatik begründet, sondern nur ein Zwang zum Nachdenken — so möchte ich
es einmal formulieren — und eine Tendenz zur Anpassung — nicht in vollem Umfang; dies wird hier gar nicht gefordert — der Besteuerungsgrundlagen, vor allem der Freibeträge, zum Ausdruck gebracht. Nachdem Sie unseren Antrag auf Erhöhung der Freibeträge eben abgelehnt haben, erscheint es uns um so notwendiger und um so mehr geboten, sicherzustellen, daß mit der nun schon vor der Haustür stehenden Hauptfeststellung und damit Neufestsetzung der Einheitswerte diese Freibetragsregelung, die wir hier beschlossen haben, nicht sofort schon wieder überholt ist.
Ein Letztes. Wir wissen, daß die Öffentlichkeit über die beabsichtigte Neuregelung der Erbschaftsteuer recht beunruhigt ist. Sie wissen, daß sich sehr viele ratlos und ratsuchend an Steuerberater, an Rechtsanwälte wenden. Ich meine, es wäre auch ein Mittel, die Öffentlichkeit, in der gerade im Hinblick auf die Neufestsetzung der Einheitswerte am 1. Januar 1975 Unsicherheit besteht, zu beruhigen, wenn wir mit einer solchen Bestimmung alle miteinander uns selbst einen Auftrag erteilten, in der Zukunft bei der Erhöhung der Einheitswerte auch erhöhte Freibeträge festzusetzen. Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen halten es grundsätzlich nicht für sinnvoll, Absichtserklärungen für einen unbestimmten späteren Zeitpunkt in das Gesetz zu schreiben. Eine Absichtserklärung ist sowieso nicht bindend. Aber davon abgesehen, hat der Gesetzgeber jederzeit die Möglichkeit und auch die Aufgabe, neuen Tatbeständen dadurch Rechnung zu tragen, daß er die Folgewirkungen überprüft und gegebenenfalls neue gesetzliche Bestimmungen trifft.
Die Besteuerungsmaßstäbe sollen natürlich überprüft werden, wenn sich die Einheitswerte ändern. Die SPD- und FDP-Abgeordneten haben das im Finanzausschuß ebenfalls erklärt; es ist ins Protokoll aufgenommen worden. Wir möchten nur nicht, daß der Text ins Gesetz kommt.
Herr Abgeordneter Bremer hat soeben gesagt, es solle nur ein Zwang zum Nachdenken sein. Sehr geehrter Herr Kollege Bremer, Zwang zum Nachdenken besteht immer. Ich möchte im Namen der Koalition bitten, den Antrag abzulehnen.
Wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wer dem Änderungsantrrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1351 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das zweite ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich komme zu § 35 in der Ausschußfassung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Hand-
4128 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Vizepräsident Dr. Jaeger
zeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? -- Mit Mehrheit beschlossen.
Ich rufe die §§ 36 und 37 in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich komme nunmehr zu Art. 2 a, b, c, d und e. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich komme nunmehr zu Art. 2 f. Zur Begründung des Änderungsantrages der Fraktionen der SPD und der FDP auf Drucksache 7/1361 hat Frau Abgeordnete Funcke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Soeben hat bei der Beratung der Familienstiftung die Opposition verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Das wird von unserer Seite bestritten; denn es kann doch wohl nicht angehen, daß die Änderung eines Steuergesetzes nur für diejenigen gilt, die in Zukunft irgendwelche Entscheidungen treffen, und alle diejenigen ausnimmt, die auf der Grundlage früherer Steuergesetze irgendwann einmal einen privaten Vertrag gemacht oder eine Vermögensverfügung getroffen haben. Wenn das so wäre, dann könnten wir ja nie ein Steuergesetz ändern. Denn jedes Steuergesetz hat natürlich in bestehende Verhältnisse hinein seine Wirkung.
Dennoch ist es, so meine ich, bei dem Umfang der steuerlichen Belastungen angezeigt und im Verhältnis von Staatsbürger und Staat richtig und fair, daß die Betroffenen bei entscheidenden Änderungen oder neuen Besteuerungsarten eine hinreichende Übergangsfrist haben und daß man Übergänge schafft und Sorge dafür trägt, daß man sich zeitlich und sachlich auf die neuen Verhältnisse einrichten kann.
Dem wird in verschiedenen Paragraphen des Gesetzes bezüglich der Familienstiftung ja Rechnung getragen. Die erste Besteuerung haben wir erst ab 1978 vorgesehen, und wir haben bis zu diesem Zeitpunkt — in Übereinstimmung aller Fraktionen — bei der Überführung der Familienstiftung auf die Destinatäre die Steuerklasse eins vorgesehen, weil es sich ja unter Umständen um unmittelbare Angehörige des früheren Schenkers oder Stifters handelt. Dabei hat sich jetzt herausgestellt, daß es — nicht auf Grund des alten Gesetzes, sondern durch die Rechtsprechung entwickelt — für einzelne Fälle bisher eine günstigere Art der Rückwandlung gab, um Mehrfachbesteuerung zu vermeiden.
Da wir keine Verschlechterung eintreten lassen wollen, wollen wir mit diesem Antrag sicherstellen, daß der betreffenden Stiftung die Möglichkeit der Wahl bleibt, entweder die Steuerart nach dem bisherigen Recht oder die vorgesehene Übergangsmöglichkeit des neuen Rechtes zu wählen. Wir möchten keine Verschlechterung des Rechtes bei der Umwandlung, sondern wir möchten durch diese faire
Art und Weise erreichen, daß sich jeder auf die neuen Verhältnisse einstellen kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Frau Funcke, eine Verschlechterung ist ohne Zweifel die Bestimmung für Familienstiftungen, die Sie hier einführen wollen. Mit Ihren Bemerkungen über die Verfassungsmäßigkeit sind diese Bedenken keineswegs ausgeräumt. Sie wissen, daß der Wirtschaftsausschuß gebeten hatte, der Rechtsausschuß solle die Verfassungsmäßigkeit noch einmal prüfen. Wir haben dann während der letzten Sitzung — das sollte alles sehr schnell gehen — den Rechtsausschuß gebeten, sich dazu zu äußern; das hatten die CDU/CSU-Kollegen im Rechtsausschuß auch zugesagt. Dann hat die Mehrheit des Rechtsausschusses es aber abgelehnt, überhaupt ein solches Urteil abzugeben. Ich meine, das wäre doch eine wenig erfreuliche Methode bei der Verabschiedung so wichtiger Gesetze.
— Diese eilige Stellungnahme vom Rechtsausschuß hat die Mehrheit des Ausschusses — also Ihre Kollegen — erbeten und nicht etwa die CDU/CSUFraktion; so ist das in Wirklichkeit gewesen.
Die rückwirkenden Belastungen für die Familienstiftungen sind außerordentlich. Soeben sind über das Volumen dieser Stiftungen noch einmal Zahlen genannt worden. Diese Zahlen sind zwar genannt worden, es ist aber nicht gesagt worden, wie viele Arbeitsplätze mit diesen Milliarden DM errichtet worden sind, und es ist auch nicht gesagt worden, daß durch diese hohe Belastung der größeren Familienstiftungen mit mehreren 10 Prozent Erbschaftsteuer, die zum erstenmal im Jahre 1978 eintreten, ganz ohne Zweifel Arbeitsplätze gefährdet werden können.
Dieser Vorschlag, Frau Funcke, den Sie erst heute hier auf den Tisch legen, ist vielleicht eine etwas günstigere Regelung, wie Sie gesagt haben; aber sie bringt keinerlei Erleichterung für den ganzen Problemkreis. Deshalb lehnen wir auch diesen zusätzlichen Antrag ab.
Wird weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich komme zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und der FDP auf Drucksache 7/1361. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Mit Mehrheit angenommen.
Ich komme damit zum Art. 2 f, Ausschußfassung mit soeben beschlossener Änderung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4129
Vizepräsident Dr. Jaeger
Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
Ich komme nunmehr zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1349, einen Art. 2 g und einen Art. 2 h einzufügen. Wird der Antrag noch begründet?
— Er ist also schon ausreichend begründet. Wird das Wort gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall. Sind Sie damit einverstanden, daß ich über Ziffer 2 als Ganzes abstimmen lasse, obwohl sie zwei verschiedene Steuern betrifft?
— Gut.
Wer dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/1349 Ziffer 2, Einfügung der Art. 2 g und 2 h, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Mit Mehrheit abgelehnt!
Ich rufe nunmehr Art. 7, 8, 9, Einleitung und Überschrift auf. Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Es ist so beschlossen.
Ich komme zur
dritten Beratung
und eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Das Thema ist offenbar ausgiebig diskutiert. Ich schließe die allgemeine Aussprache und komme zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um ,die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ohne Enthaltungen bei zahlreichen Gegenstimmen angenommen.
Ich komme zum zweiten Antrag des Ausschusses, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Abwicklung der unter Sonderverwaltung stehenden Vermögen von Kreditinstituten, Versicherungsunternehmen und Bausparkassen
— Drucksache 7/613 —
Bericht und Antrag des Finanzausschusses
— Drucksache 7/1321
Berichterstatter: Abgeordneter Halfmeier
Ich danke dem Berichterstatter, Herrn Abgeordneten Halfmeier, für seinen Bericht und komme zur Abstimmung in zweiter Beratung. Es sind die Art. 1, 1 a, 1 b, 2, 3 sowie Einleitung und Überschrift. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung verabschiedet.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Es wünscht niemand das Wort. Dann schließe ich die allgemeine Aussprache.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. Soweit ich sehe, keine Gegenstimme. — Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.
Ich komme zu ,dem Antrag des Ausschusses, die Petitionen für erledigt zu erklären. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
Ich komme nunmehr zu Punkt 7 der Tagesordnung:
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU
betr. Maßnahmen gegen den Numerus clausus
— Drucksachen 7/919, 7/1313 —
Wünscht einer der Fragesteller das Wort? — Herr Abgeordneter Gölter!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 30. Oktober 1970 hat die Bundesregierung in dem Bericht über Sofortmaßnahmen zum Abbau des Numerus clausus die Ankündigung von sich gegeben, sie werde zusammen mit den Ländern alle Anstrengungen unternehmen, um den Numerus clausus in allen betroffenen Fachbereichen bis 1975 abzubauen und in der allgemeinen Medizin wesentlich zu lindern. Wenn man diese Ankündigung, die von den Betroffenen ernst genommen und als Zusage verstanden worden war, drei Jahre später der Wirklichkeit und den Perspektiven der kommenden Jahre gegenüberstellt, so bleibt eigentlich nur die Frage, was an dieser Ankündigung aus dem Jahre 1970 beeindruckender ist: die Unwissenheit oder die Unverfrorenheit derjenigen, die diese Aussage zu verantworten haben.
Der zitierte Bericht aus dem Spätjahr 1970 trägt zwar die Unterschrift des damaligen Bundesministers Prof. Leussink; da der damalige Parlamentarische Staatssekretär von Dohnanyi jedoch gegenüber jedem, der es wissen wollte oder auch nicht, den Eindruck zu vertiefen bemüht war, er sei der starke Mann dieses Ministeriums, muß sich der heutige Bundesminister von Dohnanyi schon damit einverstanden erklären, daß wir ihm die damalige Ankündigung vorhalten und ihn dafür zumindest mitverantwortlich machen. Die Bundesregierung hat Wechsel ausgestellt, die jetzt und in Zukunft nicht
4130 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Gölter
eingelöst werden können und infolgedessen in diesen Jahren zu Protest gehen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Perspektiven waren aus unserer Sicht bereits vor drei Jahren — wir haben das deutlich zum Ausdruck gebracht — schlicht unrealistisch, Täuschung oder Selbsttäuschung, wie man will. Wir haben den Eindruck, daß man damals im Ministerium für Bildung und Wissenschaft im Gegensatz zu heute die vorhandenen Zahlen nach dem Motto, daß nicht ist, was nicht sein darf, kurzerhand vom Tisch gefegt hat: Was interessieren uns Zahlen, wir werden das Ding schon schaukeln!
Wir erkennen an, daß die Beantwortung unserer Großen Anfrage und der uns gestern zugänglich gemachte Bericht der Bundesregierung über Nachfrage und Angebot bei Studienplätzen — beides ist im Wortlaut weitgehend identisch — wenigstens in Teilaspekten durch eine nüchterne und realistischere Einschätzung der Lage gekennzeichnet sind.
Eine solch nüchterne Einschätzung, Herr Kollege Dr. Meinecke, war auch vor drei Jahren bereits möglich. Bereits damals war klar, daß der Anteil der Abiturienten am Altersjahrgang sprunghaft im Steigen begriffen war, ist er doch allein von 1966 bis 1968 von 7,0 auf 9,3 % und bis 1970 auf 9,9 % gestiegen.
Nach Aussagen der Bundesregierung haben 1965 insgesamt knapp 12 % eines Jahrgangs ein Hochschulstudium aufgenommen, 1970 waren es bereits 14 %. Auch wenn der Bundesregierung zugute gehalten wird, daß sie die Zahlen des Jahres 1970 im Herbst des gleichen Jahres noch nicht zur Verfügung haben konnte, die Entwicklung der Jahre 1966 bis 1969 allein zeigte überdeutlich, welche Belastungen auf die Hochschulen in den nächsten Jahren zukommen würden. Damals zeigte bereits ein kurzer und einfacher Blick auf die Schülerzahlen aller Gymnasien der Bundesrepublik Deutschland, daß die stärkeren Geburtsjahrgänge der Jahre um 1952 Anfang der siebziger Jahre in die Hochschulen hineindrängen würden. Aber die Bundesregierung glaubte es sich leisten zu können, die Fakten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie krönte ihre Perspektiven sogar noch durch die Ankündigung des Bildungsberichts — ich zitiere —:
Im Laufe der vor uns liegenden Dekade sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß etwa die Hälfte eines Altersjahrganges das Abitur II erwerben kann, von der wiederum etwa die Hälfte in den Gesamthochschulbereich eintritt.
Meine Damen und Herren, das kann man ja wollen, daß jeder Zweite den Abschluß der Sekundarstufe II erwirbt. Man kann ja das Konzept vertreten, daß von diesen wiederum nur jeder Zweite ein Studium aufnimmt. Was man dann aber beim besten Willen nicht kann und nicht darf, sind derartige Ankündigungen, im Jahre 1975 sei bis auf Medizin kein Numerus clausus mehr vorhanden.
Wir haben damals schon immer wieder darauf hingewiesen, daß diese bildungspolitischen Bruchstücke nicht aufeinander passen, daß die an den Zahlen abzulesende Entwicklung und die gerade von der Bundesregierung aufgezeigten bildungspolitischen Perspektiven zusammen eine bislang ungekannte Verschärfung des Numerus clausus mit sich bringen müssen.
Die Bundesregierung nennt nun in der Beantwortung der Großen Anfrage eine Vielzahl von Fakten, die ursächlich dafür sein sollen, daß ihre optimistischen Prognosen nicht erfüllt werden konnten. Beispielsweise führt sie an, schuld sei daran u. a. die Eröffnung weiterer Hochschulzugangsmöglichkeiten. Das war doch aber ein gemeinsam gewolltes Ziel aller Parteien, aller Landesregierungen. Dinge, die man gewollt hat und die man selbst immer wieder vertreten hat, heute als Entschuldigung dafür anzuführen, daß die eigenen Prognosen nicht eingetreten sind — dies ist doch ganz einfach kein sauberes Verfahren.
Dies ist nichts anderes als der einfache Beweis dafür, daß man nicht in der Lage war, die Ausgangsdaten nüchtern auf einem großen Blatt Papier nebeneinanderzustellen und die notwendigen Erkenntnisse daraus zu ziehen.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel anführen für Ankündigungen, die man im Schwange der Begeisterung in die Welt gesetzt hat. Wir alle wissen, wie notwendig Kapazitätsberechnungsmodelle sind, wenn eine optimale Ausnutzung der vorhandenen Gebäude und eine vernünftige Planung gesichert sein sollen. Wir wissen alle auch, wie schwierig es ist, derartige vernünftige Kapazitätsberechnungsmodelle zu erarbeiten. Im März 1970 hat die Bundesregierung jedoch ein komplettes System für Jahresende 1970 in Aussicht gestellt. Bis jetzt ist es trotz gemeinsamer Bemühungen von Bund und Ländern nicht gelungen, sich auf ein solches zweifelsfreies Modell zu einigen.
Unsere Große Anfrage, die Antwort der Bundesregierung und diese Debatte, dies alles hat zunächst einmal die Aufgabe, den Nebel hinwegzuschieben, der sich in der bildungspolitischen Landschaft breit gemacht hat. Das Ziel muß sein, gegenüber den Betroffenen und gegenüber der interessierten Offentlichkeit zu offenen und ehrlichen Antworten zu kommen.
Die Bundesregierung hat mit der Beantwortung unserer Großen Anfrage die Auffassung bestätigt, daß die Studienchancen der Abiturienten im Sinne einer freien Berufswahl noch nie so schlecht waren wie heute. Die Zahlen auf Seite 1 der Antwort sprechen eine beredte Sprache. Während 1968 in der Medizin von knapp 12 000 Bewerbern noch gut 4 500 zugelassen werden konnten — also rund 38 % —, mußten 1972 von 26 000 Bewerbern 20 500 abgewiesen werden. Die Zulassungsquote ging auf 21,6 %
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Dr. Gölter
zurück. Noch schlimmer sieht es im Fach Zahnmedizin aus. Konnten 1968 noch rund ein Viertel der Bewerber zugelassen werden, so waren es 1972 noch nicht einmal mehr 10 %. Auch im Fach Tiermedizin hat sich die Situation weiter erheblich verschlechtert.
Die neuesten Prozentzahlen sehen nur unwesentlich besser aus. In der Zahnmedizin konnten lediglich 15 % der Bewerber zugelassen werden; in der allgemeinen Medizin waren es nach Aussage der Bundesregierung mittlerweile wieder rund 30 % — angesichts der im Bereich Medizin erschreckenden und von uns nicht gebilligten Zulassungszahlen der letzten Jahre eine immerhin erfreuliche Steigerung.
Die Bundesregierung hat mit ihren Fakten unsere Wertungen bestätigt. Sie versucht, dieser Wertung zu widersprechen, indem sie auf den allgemeinen Zuwachs der Studentenzahlen verweist. Sie verweist darauf, daß die Studienplatzbeschränkung fächerspezifisch und regional bedingt sei. Auch heute noch, so die Bundesregierung — Sie können das in der Antwort auf unsere Anfrage lesen — finde jeder Studienbewerber einen Studienplatz, wenn er bereit. sei, seine Wünsche bezüglich des Hochschulortes und des Studienfaches zu modifizieren.
Meine Damen und Herren, wir halten es für durchaus zumutbar, an einem anderen Ort als dem der eigenen Wahl zu studieren. Die Formulierung bezüglich der Modifizierung des Studienwunsches ist in dieser Form jedoch nichts anderes als blanker Zynismus. Die Entscheidung für einen bestimmter. Studiengang und dies heißt doch die Entscheidung für in der Regel 40 Jahre Beruf als beträchtlicher Teil der menschlichen Existenz — läßt sich doch nicht auf das Niveau eines Autokaufs reduzieren, bei dem lediglich zweitrangige Fragen zur Entscheidung anstehen, da der Zweck der Fortbewegung bei jeder Marke garantiert ist.
Wenn man sich die hehren Forderungen der letzten Jahre in Erinnerung ruft, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß viele sozialdemokratische Bildungspolitiker sich rundweg geweigert haben, die Frage des gesellschaftlichen Bedarfs überhaupt in die Überlegungen mit einzubeziehen, dann ist die Beantwortung der Großen Anfrage wie der neueste Bericht der Bundesregierung über Nachfrage und Angebot bei Studienplätzen nichts anderes als das nackte Eingeständnis des Scheiterns der bildungspolitischen Perspektiven der Bundesregierung.
Es heißt dort, es werde nicht mehr für jeden Studienbewerber ein Studienplatz zur Verfügung stehen. In dem Bericht heißt es darüber hinaus — ich zitiere wörtlich —:
Es muß offen gesagt werden, daß sich das Risiko vergrößert, keinen Arbeitsplatz zu finden, der nach bisherigem Verständnis dem erreichten Bildungsabschluß entspricht.
Hier wird klar gesagt, daß der Numerus clausus verewigt werden soll, daß wir strukturell mit dem Numerus clausus auch auf lange Dauer leben müssen — ja, es wird sogar gesagt, daß die Bundesregierung mit dem Numers clausus leben will, wenn
sie sich heute noch zu den Zielvorstellungen des Bildungsberichts bekennt, jeder Zweite solle den Sekundarabschluß II und damit die Studienberechtigung erwerben.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen kurzen Einschub. Ich hatte eben die Auffassung der Bundesregierung zitiert, das Risiko vergrößere sich, keinen Arbeitsplatz zu finden, der nach bisherigem Verständnis dem erreichten Bildungsabschluß entspricht. Wenn von „bisherigem" Verständnis die Rede ist, dann muß man ja auch das künftige Verständnis abfragen dürfen. Sollte es eventuell so sein, daß man dem möglichen Überhang an Akademikern um das schreckliche Wort „Überproduktion" zu vermeiden — mit dem Hinweis entgegentreten will, ein junger Mensch mit akademischer Ausbildung müsse ja gar nicht in einem entsprechenden Beruf tätig sein? Der emanzipatorische Charakter der Bildung sei doch so wertvoll, die Zielsetzung des „aufgeklärten Bürgers" sei doch so wichtig, daß sich akademische Bildung aus sich heraus rechtfertige und der Mensch eben auf Grund seiner Bildung allein glücklich zu werden habe auch ohne die Möglichkeit, seine Voraussetzungen in Lebensleistung umzusetzen.
Ich frage das vor allem deshalb, weil manche großen Propheten der letzten Jahre, denen jetzt angesichts der Entwicklung mulmig wird, nach neuen Begründungen und Ausflüchten Ausschau halten.
In dem Zusammenhang möchte ich das, was in Berlin im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in den letzten Jahren produziert worden ist, ausdrücklich einbeziehen.
Die Union bejaht den emanzipatorischen Charakter der Bildung.
Wir sehen aber auch, welcher Zynismus, ja, welche Menschenverachtung im letzten hinter Vorstellungen steckt, der Staat habe dem einzelnen ja zur Bildung verholfen, jetzt solle der einzelne gucken, wie er mit seinem Leben ohne entsprechende Berufschancen fertig werden könne.
Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Antwort auf unsere Große Anfrage und den neuesten Bericht zum Numerus clausus aufmerksam zur Kenntnis nehmen, dann finden Sie ganze Klagepassagen, die die derzeitigen Schwierigkeiten erklären sollen: 95 % aller Studienberechtigten nähmen heute ein Hochschulstudium auf; zu viele an Fachhochschulen graduierte Ingenieure und Betriebswirte setzten ihr Studium in sogenannten Langzeitstudiengängen fort. In der Klage über die durchschnittliche Verweildauer an unseren Hochschulen kann sich die Bundesregierung seit neuestem gar nicht mehr genug tun.
Gestatten Sie mir hier nur die kurze Bemerkung: Die Union hat immer wieder auf allen Ebenen — überall, wo über Bildungspolitik diskutiert wurde —
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Dr. Gölter
auf die Problematik vieler Entwicklungen und die damit verbundenen Gefahren hingewiesen. Wir haben vor allem immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie falsch es eben ist, die Explosion in der Bildungspolitik ausschließlich auf die Spitze ,der Bildungspyramide hochzuziehen. Wir haben immer wieder gesagt, wie falsch es ist, Bildungspolitik nicht auch nach den Chancen und Alternativen an bestimmten Weggabelungen zu messen, sondern ausschließlich am sogenannten Ausstoß, der „ganz oben" erzielt wird.
Wenn wir in den vergangenen Jahren auf die überlangen durchschnittlichen Studienzeiten hingewiesen haben, dann haben wir als Antwort keine Auseinandersetzung in der Sache erhalten, sondern immer nur den Vorwurf, wir seien eben gegen, wir wollten nicht, usw.; das war vor allem das recht einfache Strickmuster des Herrn von Dohnanyi.
Die Tatsache, daß der Bundesregierung jetzt selbst einiges zu dämmern beginnt, ist möglicherweise eine gute Ausgangslage für eine nüchternere und realistischere Diskussion; dies ist gerade beim Numerus clausus die Voraussetzung für eine gemeinsame Bewältigung der entstandenen Schwierigkeiten.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, mit wenigen Sätzen noch auf einen weiteren Fetisch eingehen, den die Bundesregierung in allmählich nicht mehr zu verstehender Form vor sich herträgt. Sie verweist in der Beantwortung der Großen Anfrage, im Bericht zur Situation des Numerus clausus wie auch im Bericht zur Berufs- und Laufbahnreform, der am 19. Oktober dieses Jahres veröffentlicht worden ist, auf einen angeblichen Zusammenhang zwischen Numerus clausus und integrierter Gesamtschule. Mit anderen Worten: Die in weiten Teilen der Bundesrepublik umstrittene integrierte Gesamtschule wird als Ursache für den Numerus clausus auf die Bühne der Auseinandersetzung gestellt. Dies ist in meinen Augen nichts anderes als der in der Tat ebenso einfache wie hilflose Versuch, über die Fakten hinwegzugehen. Für mich stellt sich wirklich die Frage, ob diejenigen, meine Damen und Herren, die derartige Papiere abzuzeichnen haben, überhaupt das für Bildungspolitik notwendige Minimum an Sachverstand aufweisen.
Beispielsweise von der Integration der beruflichen Bildung in der Sekundarstufe II einen Rückgang der Studienbewerber und den Aufbau attraktiver Alternativen zum Hochschulstudium zu erwarten, wie es die Bundesregierung in den genannten Unterlagen tut, ist eine reine Illusion. Integration beruflicher Bildung in der Sekundarstufe II bringt die berufliche Bildung gerade um die Chance, zu einem gleichwertigen und gleichberechtigten Teil unseres Bildungswesens weiterentwickelt zu werden.
Im Bereich der beruflichen Bildung müssen wir die Chance nutzen, Bildungsgänge zu entwickeln, die sowohl berufsbezogen als auch studienbezogen sind. Wir wollen doch gemeinsam die Attraktivität beruflicher Bildung erhöhen, wenn ich dies recht sehe. Dies ist jedoch nicht über die Auflösung, sondern nur über die Stärkung beruflicher Bildung möglich.
Wenn wirklich von der Gesamtschule ein Rückgang der Studienbewerber zu erwarten wäre, müßte dies ja beispielsweise in Schweden eingetreten sein. Das Gegenteil ist der Fall, wie jede Statistik beweist. Wenn das wirklich der Fall wäre, müßte beispielsweise das Land Hessen in seinen zukünftigen Perspektiven eine geringere Zahl von Studienbewerbern einsetzen, aber das Gegenteil ist der Fall. Das Land Hessen denkt nicht daran, trotz seinem Ja zur Gesamtschule eine geringere Zahl von Studienbewerbern in seine Planungen einzusetzen als die Länder der CDU/CSU.
Lassen Sie mich kurz in Erinnerung rufen, was, von vielen leider nicht beachtet, Mitte Juni 1971 in den Pressemitteilungen des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft zu lesen war. Ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten:
Bei allen Überlegungen und Planungen müssen wir immer wieder realisieren, daß die Gesamtschulentwicklung in der Bundesrepublik noch ganz und gar in den Kinderschuhen steckt und ganz einfach Zeit braucht. Deshalb meine ich, daß unser Engagement zunächst und vor allem der Qualität und nicht so sehr der Quantität der Modellversuche gelten muß . . . Gesamtschulversuche beginnen, von Ausnahmen abgesehen, ohne daß eine für Lehrer, Wissenschaftler und Schulverwalter ausreichende Planungs- und Vorbereitungszeit vorangegangen ist . . . Noch mehr Kopfzerbrechen bereitet die Entwicklung neuer Curricula, die optimale Organisation und Differenzierung von Lernprozessen, von Fakten vermittelnden über die zur Anwendung befähigenden bis zur kreativen Stufe und schließlich die Erfolgskontrolle. Das sind die zentralen Probleme für eine tatsächliche Veränderung der Schule geworden . . . Wie sie tatsächlich zu lösen sind, hierfür weiß niemand ein genaues Erfolgsrezept.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Passage aus dem Pressedienst des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft Mitte Juni 1971 stammt von niemand anderem als der damaligen Staatssekretärin im BMBW, Frau Dr. Hamm-Brücher, die in dieser Aussage für dieses Jahrzehnt übrigens maximal 200 Gesamtschulen in der ganzen Bundesrepublik für möglich hält.
Im Zusammenhang mit der Bewältigung des Numerus clausus das Heil jetzt von der Gesamtschule zu erwarten und dies in allen Papieren immer wieder zentral als den großen Fetisch hinzustellen, meine Damen und Herren, dies ist in der Tat nichts anderes als die klare Erklärung des eigenen konzeptionellen Bankrotts.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt eine Reihe von Fragen; die heute vorhandenen Antworten sind nicht befriedigend:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4133
Dr. Gölter
1. Wie sieht die Gesellschafts- und mit ihr die Beschäftigungsstruktur in naher und mittlerer Zukunft aus?
2. Wie entwickelt sich die individuelle Bildungsnachfrage?
3. Welche Lösungsmöglichkeiten haben wir zur Hand, wenn individuelle Nachfrage und gesellschaftlicher Bedarf miteinander in Konflikt geraten?
Die Bildungsplanung und die Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland haben in den letzten Jahren zu einseitig Auskunft über Form und Zahl wünschenswerter Bildungsgänge gegeben. Dies hatte seinen Grund darin, daß Bildungspolitik unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung der Chancengleichheit und der bestmöglichen individuellen Förderung des einzelnen diskutiert wurde. Die Strukturfragen standen im Vordergrund, die Inhalts- und Zielfragen sind darüber zu kurz gekommen.
Bei aller Anerkennung ,der Arbeit, die in der Bund-Länder-Kommission von Bund und Ländern gemeinsam geleistet worden ist, müssen wir nüchtern feststellen, daß unsere Entscheidungsgrundlagen gerade im Bereich des gezielten weiteren Hochschulausbaus weitgehend ungesichert sind. Alle Untersuchungen, die sich mit Bedarfs- und Nachfrageproblemen beschäftigen, kommen zwar übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß wir 1980/81 um 1,4 Millionen Erwerbspersonen mit Hochschulausbildung in ,der Bundesrepublik aufzuweisen haben. Wenn man dann aber untersucht, wie diese Zahlen in sich aussehen, kommt man zu erheblichen Differenzen. Ich verweise nur auf die beiden großen Untersuchungen, die unter den Namen Widmaier 1971 und Alex 1972 veröffentlicht worden sind. Die Differenz zwischen Widmaier und Alex im kulturwissenschaftlichen Bereich in der Prognose für 1980/81 beträgt 260 000. Im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften beträgt die prognostizierte Differenz 200 000 Erwerbspersonen. Im Bereich der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beträgt die prognostizierte Differenz 150 000. Lediglich im Bereich der Medizin stimmen Widmaier und Alex das sind die beiden letzten großen Untersuchungen, abgesehen von der Detailuntersuchung Medizin, die das Ministerium jetzt veröffentlicht hat — überein.
Lassen Sie mich hier ganz kurz eine Stellungnahme des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Erlangen zu den beiden Studien. Widmaier und Alex zitieren. Der Zweck ,derartiger Prognosen liege „in der Verdeutlichung der Ungleichgewichte, die einträten, wenn sich die getroffenen Annahmen bewahrheiten sollten, jedoch nicht, wie irrtümlich oft angenommen, in einer möglichst wirklichkeitsnahen Vorausschätzung". Wir wollen daher die Bundesregierung mit allem Nachdruck auffordern, zusammen mit .den Ländern, den wissenschaftlichen Instituten, den Sozialpartnern, für die gerade auf diesem Gebiet noch ein weites Betätigungsfeld liegt, bessere und gesichertere Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten. Wenn man sieht, welcher wissenschaftliche Sachverstand in manchen Bereichen eingesetzt wird — und der Schreibtisch eines Bundestagsabgeordneten ist ja angesichts dessen, was darüber läuft, ein Beweis dafür —, wie ungesichert aber die Entscheidungsgrundlagen gerade im Bereich des Bedarfs und der individuellen Nachfrage sind, dann bleibt nur zu hoffen, daß angesichts der schwierigen Passage, die jetzt auf uns zukommt, gesichertere Grundlagen vorliegen. Dies ist Voraussetzung für einen optimalen Einsatz der Finanzen, Voraussetzung für eine verbesserte Berufs- und Studienberatung, die neben dem Aspekt der individuellen Neigung und Eignung verstärkt klare Aussagen über die Berufschancen enthält.
Gestatten Sie mir eine kurze Bemerkung zu der Antwort auf Frage 8. Hier haben wir uns gegen eine Kürzung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulausbau" ausgesprochen. Im weiteren Verlauf der Debatte werden die Sprecher der Regierungsparteien mit Sicherheit darauf zurückkommen, daß die vom Bund bereitgestellten Mittel von den Ländern nicht in vollem Umfang abgerufen worden sind. Ich darf hier zu Beginn der Debatte nur feststellen — Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion werden darauf zurückkommen —: dies ist keine Bösartigkeit der Länder, sondern eine Frage ihrer Finanzausstattung. Es ist die falsche Antwort, jetzt die Bundesmittel zu kürzen. Es ist die falsche Antwort, in der mittelfristigen Finanzplanung die Aufwendungen zurückzuschrauben. Die richtige Antwort wäre eine verbesserte Finanzausstattung der Länder oder, wenn man dazu nicht bereit ist, eine Änderung des Finanzierungsschlüssels nach dem HochschulbauFörderungsgesetz. Wenn die Bundesregierung mehr Geld zur Verfügung hat als die Länder, warum weigert sie sich dann beispielsweise, einer alten Forderung der CDU/CSU nachzukommen, den Ländern die Kosten für das Ausländerstudium zu ersetzen? Dies ist eine Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik, und der Ersatz dieser Aufwendungen wäre auch bei der gegebenen Verfassungslage durchaus gerechtfertigt und würde hier im Haus einstimmige Zustimmung finden.
Eine kurze Bemerkung zu den Antworten auf die Fragen 9 und 14. Wir haben in diesen Fragen die Bundesregierung nach der Verwirklichung mehrerer Maßnahmen, insbesondere der Studienreform und der Reform der Lehrkörperstruktur, gefragt.
Wir stimmen mit der Bundesregierung hinsichtlich der Notwendigkeit der Studienreform überein. Die Studiengänge, vor allem in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, müssen von unnötigem Ballast frei gemacht werden. Die Schulung logischen Denkens und der methodischen Fähigkeiten müssen stärker im Vordergrund stehen. Wir unterstreichen, daß eine zügige Studienreform Voraussetzung für die Einführung von Regelstudienzeiten ist, wenn diese Regelstudienzeiten wirklich dieses Wort verdienen und nicht nur unverbindliche Planstudienzeiten sein sollen. Nur, was wir schlechthin für lächerlich halten, ist der Versuch der Bundesregierung, die in Teilen fehlende Studienreform zu einer Hauptursache des Numerus clausus hochzustilisieren und für das Feh-
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Dr. Gölter
len — wie könnte es anders sein — allein die CDU/CSU haftbar zu machen. Dazu wenige Bemerkungen:
Erstens. Der Numerus clausus ist in der Medizin und der Pharmazie am drückendsten. Genau in diesen Bereichen sind die Bemühungen um die Studienreform jedoch am weitesten fortgeschritten. Irgendwo muß auch von einem Minister für Bildung und Wissenschaft noch ein Rest Logik verlangt werden.
Wenn der Numerus clausus dort am härtesten ist, wo die Studienreform am weitesten fortgeschritten ist, dann kann doch beim besten Willen die Studienreform nicht zur Hauptursache für den Numerus clausus hochstilisiert werden.
Zweitens. Die Bundesregierung neigt in der Bildungspolitik gelegentlich dazu, Positionen zu überziehen. Es ist ganz einfach nicht seriös, jetzt den Eindruck zu erwecken, als seien von der Studienreform und der Reform der Lehrkörperstruktur sehr schnell unmittelbare Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Numerus clausus zu erwarten. Auch wenn es gelingt, 1974 zu einem Hochschulrahmengesetz zu kommen, sind jahrelange Umstellungen und Anpassungen in den Ländern notwendig.
Drittens. Das Hochschulrahmengesetz ist in der letzten Legislaturperiode nicht daran gescheitert, daß die CDU/CSU kein Gesetz wollte. Es ist ausschließlich daran gescheitert, daß die Union im Bundestag und im Bundesrat nicht bereit war, ein in Teilen, wie sich jetzt erwiesen hat, eindeutig verfassungswidriges Gesetz zu verabschieden.
Die Union hat die Regierung davor bewahrt, daß das Hochschulrahmengesetz in Karlsruhe kassiert wurde, und dafür sollte die Regierung der Opposition dankbar sein.
Die Union hat nein zu einem Gesetz gesagt, das in kritischen Fragen den Weg der Gummiparagraphen eingeschlagen hätte, Paragraphen, die von jedem beliebig in jede Richtung hätten gedehnt werden können. Dann, sagen wir, ist kein Gesetz besser als ein Gesetz.
Viertens. Da die neue Vorlage selbst nach Auffassung vieler Kollegen von SPD und FDP erneut verfassungswidrig ist, da sie zudem in wichtigen Fragen antiquierte Vorstellungen verfolgt, wie beispielsweise bei der Lehrkörperstruktur in der Gestalt .des Assistenzprofessors, den mittlerweile kaum jemand in der Bundesrepublik, der ernst genommen wird, für richtig hält, da dies also die Ausgangslage ist, wird man es sich auf seiten der Koalition schon gefallen lassen müssen, daß wir auch in dieser Legislaturperiode unsere Auffassung mit Nachdruck vertreten.
Im übrigen sollte es sich die .Bundesregierung mit dem Hinweis auf die CDU/CSU nicht so einfach machen. Es gibt Strategen, beispielsweise in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, die jetzt bereits wieder bestimmte Termine des Jahres 1975 im Zusammenhang mit dem Hochschulrahmengesetz einplanen, und es gibt „bedeutende" Kultusminister der SPD, die der Auffassung sind, daß es besser wäre, kein Gesetz zu haben, wenn sie durch das Hochschulrahmengesetz festgelegt würden.
Also hier ein bißchen mehr Vorsicht bei dem Hinweis auf uns!
Eine kurze Bemerkung, meine Damen und Herren, zur Frage 15. Wir haben hier die Bundesregierung auf die Notwendigkeit der Entwicklung attraktiver Bildungsgänge neben dem Hochschulstudium hingewiesen. Die Bundesregierung verweist auf ihren Bericht zur Berufs- und Laufbahnreform. Die Opposition nimmt zugunsten des Bundesinnenministers und des Bundeswirtschaftsministers ,an, daß dieser Bericht an den beiden Häusern vorbeigelaufen ist und ausschließlich vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft konzipiert wurde. Auch dort wird wieder gesagt, die Einführung der Gesamtschule sei Voraussetzung für die Berufs- und Laufbahnreform. Meine Damen und Herren, 70 % aller Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik ergreifen einen Arbeitsplatz, dessen Laufbahn und dessen Besoldung vom Bund bestimmt wird oder dessen Laufbahn und Besoldung sich an den Bestimmungen des Bundes orientieren. Die Einführung .der Gesamtschule hat mit der Frage der Eröffnung attraktiver Alternativen beispielsweise im öffentlichen Dienst nicht das allergeringste zu tun,
und es gibt nirgendwo einen Sachverständigen, der diese Auffassung vertritt. Deshalb sollte die Bundesregierung aufhören, an derartigen Kinkerlitzchen in ihren Papieren weiter festzuhalten.
Meine Damen und Herren, diese Debatte — die
Große Anfrage und die Antwort — soll einen Beitrag zur Veränderung des politischen Klimas in der Bundesrepublik leisten. Wir brauchen ehrliche und offene Antworten. Die Zeit sollte vorbei sein, in der jedes Argument verteufelt wurde, das auf Probleme hinweist, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Wir hoffen auch, daß die neuen, realistischen Erkenntnisse der Bundesregierung an die Landtagsfraktionen weitergegeben werden. Wir wollen einmal sehen, wie dort in Zukunft argumentiert wird.
Wir alle wissen, daß wir in diesem Jahrzehnt angesichts der steigenden Abiturientenzahlen, insbesondere in den Jahren 1977/78, in einigen Fachbereichen mit dem Numerus clausus werden leben müssen. Wir alle wissen, daß erst in den 80er Jahren eine spürbare Entlastung auf uns zukommt. Das Problem, das vor uns steht, macht wirklich die Zusammenarbeit von Bund und Ländern notwendig.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4135
Dr. Gölter
Ich unterstütze hier die Meinung von Herrn Picht,
dies sei eine Aufgabe, der sich beispielsweise auch
der Herr Bundeskanzler einmal annehmen sollte.
Wir brauchen eine entschlossene Politik, die berufliche Bildung zu einem gleichwertigen Teil unseres Bildungswesens ausbaut und nicht abbaut.
Wir brauchen die Entwicklung attraktiver Alternativen zum Hochschulstudium. Wir brauchen eine entschlossene Studienreform, die die Hochschulen endlich aus dem Grabenkrieg der Gruppenkämpfer herausführt und ihnen die Möglichkeit gibt, sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuzuwenden.
Wir brauchen eine Politik, die den Argumenten entgegentritt, die Fachausbildung müsse minimiert werden. Diese Argumente sind ja erst neuerdings auf manchen bildungspolitischen Kongressen des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter enger Umarmung mit Herrn von Dohnanyi vorgetragen worden. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Politik, die klar nein sagt, wenn berufsbezogene Studiengänge in unseren Hochschulen als ein Element der Systemstabilisierung von vornherein abgelehnt werden.
Die Regierung konzentriert ihre Kräfte leider immer mehr auf Nebenkriegsschauplätze dritter und vierter Kategorie. Wir haben in der Großen Anfrage konkrete Vorschläge für eine nüchterne und realistische Hochschulpolitik unterbreitet. Wir haben in der vorliegenden Entschließung darauf hingewiesen, welche Maßnahmen wir bei der Bekämpfung des Numerus clausus für notwendig halten, wobei selbstverständlich auch wir uns gar keinen Illusionen hingeben. Die Regierung hat in der Antwort zum Ausdruck gebracht, daß sie uns im wesentlichen zustimmt. Dann soll sie jetzt aber bitte auch Nägel mit Köpfen machen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Glotz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir uns eben die Rede des Herrn Kollegen Gölter so angehört haben
— ich komme gleich darauf, wie gut sie war —, sind wir zu der Überzeugung gekommen: Dies war eine sehr entschlossen vorgetragene Rede gegen die CDU/CSU-Ministerpräsidenten, die gerade den Bildungsgesamtplan unterschrieben haben. Da wir gegen diese CDU/CSU-Ministerpräsidenten auch
einige politische Einwände haben, sind wir insoweit,
Herr Kollege Gölter, mit Ihnen ganz einer Meinung.
Ich will Ihnen gleich noch eine weitere Vorleistung machen. Es gibt Situationen, in denen man gar nicht umhin kann, der Opposition zuzustimmen, Herr Kollege Gölter. Ich möchte das jetzt an einem ganz besonderen Beispiel verdeutlichen, nämlich am Beispiel der Presseerklärung, die Ihr Kollege Pfeifer vor zwei Tagen zu der Antwort der Bundesregierung zum Numerus clausus abgegeben hat. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitiere ich nur einen Satz:
Die Antwort der Bundesregierung macht deutlich, daß der in den 60er Jahren
— Sie haben das schon viel geschickter formuliert, Herr Gölter —
den jungen Menschen im Hinblick auf ihre Berufs- und Lebenschancen ausgestellte Wechsel jetzt zu Protest geht.
Auch damit, Herr Kollege Gölter, hat Herr Pfeifer zweifellos recht. Er hat allerdings, glaube ich, eines übersehen, nämlich daß in den 60er Jahren eine von der Sozialdemokratie geführte Bundesregierung, getragen von einer sozialliberalen Koalition, ganze zwei Monate regiert hat. Sie haben außerdem vergessen zu erwähnen, daß der damals zuständige Bildungsminister, der jetzige Ministerpräsident Stoltenberg, der auch heute noch manchmal wie Jung-Siegfried durch die ganze Bundesrepublik reist, obwohl er schon bald andere Rollen singen müßte, im Jahre 1969 die Mittel für den Hochschulausbau um 20 Millionen DM, von 640 auf 620 Millionen DM heruntergesetzt hat und daß die Mittel im ersten Jahr der sozialliberalen Koalition auf 940 Millionen DM gestiegen sind und 1972 schon bei 1 600 Millionen DM standen.
Meine Damen und Herren, Sie haben durchaus recht — und ich unterschreibe das — —
— Nein. Ich sage: Viele der Wechsel, die in den 60er Jahren ausgestellt worden sind, gehen heute zu Protest. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie sollten das allerdings nicht sagen, denn mit einer solchen Äußerung schneiden Sie sich ins eigene Fleisch.
Sie haben gerade so genüßlich sozialdemokratische Zitate ausgebreitet. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen nur zwei kurze Zitate aus dem eigenen Verein nachschiebe. So hat beispielsweise der Herr Kollege Heck hier im Jahre 1960 am Ende einer bedeuten-. den kulturpolitischen Rede folgenden schönen Satz gesagt — ich zitiere wörtlich —: „Die Wissenschaft muß wieder die hohe, die himmlische Göttin werden."
4136 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Glotz
Im Protokoll wird dann Beifall bei der CDU/CSU und der DP verzeichnet. Da kann man nur bedauern, daß die DP in diesem Hause nicht mehr vertreten ist. Sie würde vielleicht heute noch klatschen. Sie haben ja inzwischen so viel gelernt, daß Sie bei solchen Phrasen nicht mehr klatschen. Aber das haben Sie auch nur in der Debatte mit sozialliberalen Bildungspolitikern gelernt.
Wissen Sie, „Arroganz" sollten Sie nicht sagen, nachdem wir gerade die Rede des Herrn Gölter hier gehört haben.
Nun will ich Ihnen noch ein zweites Zitat bringen. Ich gebe zu, daß aus Ihren Reihen auch weniger lyrische Äußerungen gekommen sind. Ich zitiere noch einmal einen Forschungsminister aus Ihren Reihen, Herrn Lenz. Er hat im Jahre 1963 in diesem Haus erklärt, die Studentenzahl werde 1964 einen Höhepunkt von 236 500 haben und dann abfallen.
— Herr Kollege, lassen Sie mich nur noch das schöne Zitat bringen, damit Sie darauf Bezug nehmen können! — 1970 werde die Zahl etwa zum alten Stand von 232 000 zurückkehren. In Wirklichkeit, Herr Kollege, hatten wir im Jahre 1970 510 500 Studenten, wie ebenfalls der jetzt vorliegende Bericht der Bundesregierung ausweist. Sie sehen, Sie sollten das Kramen in alten bildungspolitischen Zitaten — da gibt es falsche auf allen Seiten — nicht betreiben;
denn damit schießen Sie sich lauter Eigentore, eines nach dem anderen, christ-demokratische und christlich-soziale Eigentore. — Und jetzt haben Sie die Gelegenheit zu einem weiteren Tor.
Zu einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Franke .
Herr Kollege Dr. Glotz, habe ich Sie eben richtig verstanden, daß Sie den Herrn Wissenschaftsminister Dr. Lenz der CDU zugerechnet haben? Ist Ihnen entgangen, daß er der FDP angehörte?
Quod erat demonstrandum: Lassen Sie das Zitieren sein!
Lieber Herr Kollege, Sie werden mir wohl nicht bestreiten können, daß es der Forschungsminister einer von Ihnen geführten Regierung war.
— Zweitens haben wir Sozialdemokraten und diese sozialliberale Koalition auch gar keinen Grund, Herr Kollege Carstens, noch ein paar Kameraden aus der Traditionskompanie des Herrn Major Mende hier zu verteidigen.
Dazu haben wir alle miteinander keinen Grund. Der ist ja jetzt bei Ihnen gelandet.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe!
Ich freue mich, daß ich Sie schon in so kurzer Zeit in freudige Erregung bringen konnte.
Artikulieren Sie sich doch einmal ein bißchen! Wenn Sie so undeutlich murmeln, dann kann die Öffentlichkeit nur glauben, daß Sie wieder einen Ihrer Kanzlerkandidaten abschießen wollen; das wäre doch nicht gut.
Jetzt lassen Sie mich bitte auf folgendes hinweisen. In einem Punkt bin ich mit Ihnen, Herr Kollege Gölter, einig. Es ist ein wichtiger Punkt. Ich glaube, Herr Gölter, Sie haben recht, daß wir auf allen Seiten eine Wendung zur illusionslos nüchternen Reformmühe und zur selbstkritischen Bestandsaufnahme betreiben sollten. Wie Sie verstehen werden, glauben wir nicht, daß diese Anfrage gerade der Ansatzpunkt zu dieser Wendung sein kann. Aber die Wendung ist — das will ich Ihnen gern zugestehen — auf allen Seiten notwendig. Ich will Ihnen auch zugestehen, Herr Kollege Gölter, daß uns in der Bildungspolitik linkes Feuilleton genauso wenig weiterhilft wie konservative Idyllik.
— Medienpolitik diskutieren wir auch noch einmal, meine Damen und Herren; dazu haben wir noch viel Gelegenheit.
Ich möchte deswegen drei Feststellungen treffen, über die wir uns verständigen sollten.
Erstens. In dem Maße, wie der Anteil der Kinder aus den breiteren Arbeitnehmerschichten auf den höheren Schulen wächst, wächst bei unserem heutigen Schulsystem notwendigerweise auch die jährliche Zahl der Abiturienten. Von dem Ziel — das muß man erst einmal festhalten —, mehr Chancengleichheit herzustellen,
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4137
Dr. Glotz
vor allem für die unterprivilegierten Schichten, von dem Ziel, endlich davon abzukommen, Herr Probst, daß nur die Kinder höherer Beamter wieder höhere Beamte werden können und nur die Kinder von Ärzten wieder Ärzte werden, von diesem Ziel haben wir nichts abzustreichen.
Zweitens. Im gegenwärtigen Bildungssystem bildet die Sekundarstufe II in erster Linie für das Hochschulstudium aus. Die Nichtzulassung zum Studium bedeutet deshalb heute für den Abiturienten den unfreiwilligen vorzeitigen Abbruch eines beruflichen Bildungsweges. Hier muß die Reform ansetzen.
Drittens. Der Numerus clausus war in den vergangenen Jahren deshalb ein Ausdruck einer planlosen Bildungspolitik.
— Jetzt wollen wir mal aufhören mit dem Aufrechnen. Ich sage, der Numerus clausus — so sollten wir das definieren; das ist ein Vorschlag zur Definition — ist Ausdruck einer planlosen Überfüllung der Studienmöglichkeiten. Es ist doch unbestreitbar, daß der notwendige Ausbau der Hochschulen zu spät begonnen worden ist.
Wem das zuzurechnen ist, will ich jetzt ebenfalls nicht weiter diskutieren; denn wir wollen ja weiterkommen. Ich gebe auch zu, noch heute sind wir von einer an den gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierten Ausbauplanung weit entfernt, selbstverständlich.
Andererseits kann aber — und jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt — der Ausbau der Hochschulen nicht nach der Zahl der Studienbewerber bemessen werden. Es ist richtig, wir können nicht beliebig viele Studienplätze schaffen, weil diese Gemeinschaftsaufgabe mit anderen Gemeinschaftsaufgaben, für die wir auch Geld brauchen, konkurriert. Jede Mark, die wir in den Hochschulausbau stecken, kann eine Mark sein, die wir nicht in den Ausbau etwa des beruflichen Bildungswesens stekken können. Da muß man sich eben genau überlegen, wo die Mark im einzelnen hingehört.
Auch müssen wir uns an den zu erwartenden Beschäftigungschancen der Absolventen mit orientieren, soweit diese uns bekannt sind und wir sie überhaupt voraussehen können. Dies ist die entscheidende Einschränkung dabei. An diesen aussichtslosen Alternativen dürfen wir uns nicht vorbeidrücken. Das ist richtig.
Da wir offen miteinander reden wollen, will ich Ihnen gern zugeben, daß viele von uns — und jetzt wiederhole ich das: in allen Parteien — an solchen Alternativen vorbeigeredet haben. Es gibt eine große Kiste voll bildungspolitischer Überspanntheiten, in die die meisten von uns, die dieses Geschäft schon einige Zeit betreiben, greifen könnten, um möglicherweise das eine oder andere eigene Zitat dabei herauszufischen. So ist es. Es hat aber auch schon immer den Mut zu realistischen Aussagen gegeben, Herr Kollege Waigel.
Weil wir heute unter anderem einen Bericht zitieren, an dem der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft beteiligt ist, will ich auch ihn einmal zitieren. Der hat schon im Jahre 1971, uns allen zugänglich, in einer großen Wochenzeitung, in der „Zeit", folgendes gesagt — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:
In erster Linie
sagt Herr von Dohnanyi —
müssen wir uns klarmachen, daß Bildung zwar ein Gut faktisch unbegrenzten Bedarfs darstellt, daß dieses Gut aber weder heute noch in Zukunft unbegrenzt angeboten werden kann.
An anderer Stelle haben Sie gesagt, Herr Minister: „Nicht jeder wird studieren können, der dies gern möchte." Sie können nicht bestreiten, daß dies klare und auch unmißverständliche Aussagen sind. Ich gebe Ihnen gern zu, daß nicht allen diese Aussagen gefallen haben, auch nicht allen aus unseren Reihen.
Der Artikel, Herr Kollege Probst, aus dem ich hier zitiert habe, hat die Überschrift getragen: „Wo die Reform wehtut". Ich würde sagen, es wäre gut, wenn wir in allen Parlamenten dieser Bundesrepublik diese Frage, wo die Reform nämlich wehtut, wirklich mit weniger Camouflage auf allen Seiten stellten.
— Also, Herr Kollege, dann lassen Sie uns damit aufhören, uns gegenseitig, je nachdem, ob wir gerade in der Opposition oder in der Regierung sind, ständig mit unerfüllbaren Forderungen zu bedenken,
und lassen Sie uns aufhören, Herr Kollege Probst, auf der Welle des Unmutes Politik machen zu wollen, beispielsweise des Unmuts der Lehrer, die mehr besoldet werden wollen, der Schüler, die keinen Studienplatz bekommen, oder der Eltern, deren Kinder nicht auch Juristen oder auch Ärzte werden können. Lassen Sie uns damit aufhören, auf dieser Welle Politik machen zu wollen!
— Wer meint, Herr Kollege Probst, er könne diese
Stimmungen schlau auf die eigenen Mühlen lenken,
4138 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Glotz
der zerstört das bißchen Rationalität, das in der Politik vielleicht noch möglich ist.
— Wie ich auf sie gekommen bin, will ich Ihnen jetzt erläutern. Ich möchte nämlich Ihnen nun auch offen sagen, daß ich den Verdacht nicht loswerde, daß Sie zur Zeit genau auf einer solchen Welle des Unmuts mit dieser Großen Anfrage zum Numerus clausus reiten wollen.
Taktisch ist das gar nicht schlecht ausgedacht. Das gebe ich Ihnen auch zu.
— Hören Sie doch noch fünf Minuten zu;
dann können wir die Debatte ja artikuliert weiterführen.
Schauen Sie: Wie der frisch habilitierte Privatdozent möglicherweise allzu leicht, ohne es selber zu bemerken, blitzschnell die Eigenschaften des Großordinarius übernimmt, unter denen er gerade noch gelitten hat so etwas gibt es ja —,
genauso gibt es möglicherweise Aufsteiger in dieser Gesellschaft, deren Kinder durch eine soziale Bildungspolitik zum Abitur gebracht wurden und nun auch die vollen Belohnungen des alten elitären Bildungssystems für sich verlangen. Dann mag es vielen ganz gleichgültig sein, ob die Auswahl der Studienplätze, die vielleicht zu stark nach Abiturnoten vorgenommen wird, auch eine ungerechte soziale Auslese bedeutet. Man selbst hat diese Auslese ja bestanden, und man verlangt nun, daß sie auch exekutiert wird. Wir sehen, daß deshalb vernünftige Maßnahmen wie etwa die Relativierung des Abiturs in den Zugangsbestimmungen im Hochschulrahmengesetz zu Stimmungswellen, ja ansatzweise durchaus zu Proteststürmen aus den Mittelschichten führen können. Deswegen ist der Ansatz, den Sie gewählt haben, vielleicht taktisch gut gewählt.
Sehen Sie, wir haben auf Grund Ihrer Großen Anfrage und der Art der Argumentation von Herrn Gölter den Eindruck gewonnen, daß Sie zur Zeit eben nicht bereit sind, mit uns über die schwierigen und schmerzhaften Fragen, wie die Reform aussehen soll, zu diskutieren, sondern daß Sie erst einmal auf dieser Welle des Unmuts reiten wollen. Herr Kollege Gölter, das ist das Problem.
Wir warnen vor einer solchen Strategie. Sie können sich natürlich, Herr Kollege Gölter — und jetzt lassen Sie mich das eine Beispiel nehmen —, zum Anwalt des Arztes machen.
— Lassen Sie mich einmal ein ernsthaftes Argument bringen.
— Soviel Beifall von der Opposition freut einen immer, meine Damen und Herren.
Ich wiederhole: Sie können sich zum Anwalt des Arztes machen, für den die größte Ungerechtigkeit auf dieser Welt die Tatsache ist, daß sein Sohn seine Praxis nicht übernehmen kann.
Aber denken Sie daran, um wieviel größer, Herr Kollege Franke, die Ungerechtigkeit
unseres gesellschaftlichen Systems den Arbeitersohn trifft, der trotz mancher Verbesserung der Verhältnisse und trotz guter Begabung immer noch mit zehn Jahren ausgesondert wird; der möglicherweise auf eine ausgepowerte Hauptschule geschickt werden muß, ohne viel Hilfe von zu Hause,
ohne viel Hilfe von einem oft überlasteten — in
allen Ländern, von wem sie auch regiert werden Lehrer und mit der sicheren Aussicht auf eine lebenslange wenig befriedigende mechanische Tätigkeit.
Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Lassen Sie uns gemeinsam nach Lösungen suchen, mit deren Hilfe wir die Engpässe und die Schwierigkeiten, die heute gegeben sind, überwinden können. Aber wenn Sie sich darauf verlassen, daß die Welle dieses Unmuts, die Sie heute artikulieren, und noch eines anderen Unmuts Sie wieder in die Regierung zurückträgt, dann werden Sie sich täuschen, meine Damen und Herren.
— Einverstanden! Das wollen wir wirklich.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4139
Dr. Glotz
Ich sage das vor allem im Hinblick auf Ihre in der Tat für mich provokative Frage Nr. 4, in der Sie unterstellen — ich zitiere —,
daß die Studierchancen der Abiturienten in der Bundesrepublik Deutschland noch nie so schlecht waren wie derzeit.
Bitte überlegen Sie sich den Ansatz dieser Frage. Die Bundesregierung hat Ihnen in der Antwort auf diese Frage mitgeteilt, daß im Jahre 1960 nur 5 % eine Studienberechtigung erwarben und daß es heute 15 % sind. Sie hat Ihnen mitgeteilt, wie der Anteil von Arbeiterkindern seitdem gewachsen ist, und Ihr Kommentar ist: Noch nie so schlecht wie derzeit. Dieser Kommentar ist unsozial und unvernünftig!
Wir brauchen möglichst viele und möglichst gut ausgebildete junge Menschen. Wir wissen, daß auf den Oberstufen unserer Gymnasien und auch auf den Hochschulen u. a. auch viel überflüssiges Zeug in die Köpfe der jungen Leute hineingetrichtert wird.
— Schauen Sie, auf d e r Basis diskutieren Sie jetzt, nicht wir.
Wir wissen, daß der Andrang auf unseren Hochschulen zu viel zu großen Verweilzeiten zwingt — auch das ist dargestellt , und wir wissen, wie unsinnig es ist, daß die sogenannte akademische Bildung anderer beruflicher Bildung in so übertriebener Weise übergeordnet wird. Wenn Sie dies kritisieren, haben Sie uns zum Partner. Wenn Sie aber — das hört man doch aus konservativen Kreisen allzuoft
die Bescheidung predigen, wenn Sie dunkel vom akademischen Proletariat erzählen und wenn Sie mit dem Kopf nicken, wenn irgendein Etablierter sagt: Es muß auf der Welt schließlich auch noch Dumme geben, die die Schmutzarbeit machen, dann müssen Sie mit unserem Widerstand rechnen.
— Herr Gölter, ich gebe Ihnen zu, daß Sie und auch der Kollege Pfeifer im allgemeinen nicht so argumentieren. Aber Sie müssen uns auch zugeben, daß zwei Schwalben noch keinen Sommer und zwei liberalkonservative Bildungspolitiker im Bundestag noch lange nicht aufwiegen, was Sie an Kultusministern in Baden-Württemberg und in Bayern anzubieten haben.
Anders ausgedrückt: Uns hat es skeptisch gemacht, Herr Gölter, daß Sie diese Große Anfrage
mit aller Gewalt getrennt vom Hochschulrahmengesetz und von der Debatte um das Hochschulrahmengesetz diskutieren wollten.
— Es ist Ihnen zugesichert worden. Das ist selbstverständlich; wenn Sie es wünschen, muß es gemacht werden. Nur hat uns das skeptisch gemacht, weil wir glauben, daß in diesem Hochschulrahmengesetz auf eine Reihe von Fragen, die Sie hier gestellt haben, Antworten gegeben worden sind oder gegeben werden. Ich nenne das Beispiel Numerus clausus. Da gibt es eine Lösung, die jetzt auf dem Tisch liegt. Ich nenne das Beispiel Studienreform. Wir haben zur Verkürzung und Straffung etwas gesagt: Thema der Regelstudienzeiten. Wir fürchten, daß Sie diese Antworten nicht hören wollten und daß Sie lieber auf der anderen Stimmung Schlitten
fahren möchten.
Lassen Sie uns den Versuch machen, ernsthafte Reformvorschläge im einzelnen auch in dieser Debatte anzusprechen. Herr Kollege Gölter, wenn wir das Problem der Knappheit der Studienplätze überwinden wollen, wird das in der Tat von niemandem von uns schmerzlos zu erledigen sein: für uns nicht, aber auch nicht für Sie.
Ich kann über die notwendigen Reformmaßnahmen, über die wir dann eigentlich diskutieren müßten, über die ich aber hier nichts gehört habe, hier natürlich nicht im einzelnen sprechen. Schlagwortartig möchte ich aber folgendes sagen. Herr Kollege Waigel, vielleicht können Sie — Sie werden hier gleich antworten auf so etwas eingehen. Langfristig müßte die Lösung dieses Problems darin bestehen, durch eine Reform der Sekundarstufe II, von der ich zur Zeit und bisher bei Ihnen nichts gehört habe, deren einseitige Ausrichtung auf das Hochschulstudium zu beseitigen, berufliche und theoretische Bildungsgänge nahe aneinander heranzurücken und sie, wo und sobald es möglich ist, zu integrieren. Man sollte prüfen, ob nicht prinzipiell jeder Volljährige für eine Berufstätigkeit qualifiziert sein sollte, so daß jedem Hochschulstudium eine Berufsausbildung vorauszugehen hätte. Wir müßten in diesem Zusammenhang die Funktion des Abiturs prüfen.
Das sind keine Patentrezepte, das ist nicht von heute auf morgen zu verwirklichen; das ist selbstverständlich. Aber wir müßten hier in diesem Haus und auch in den Landesparlamenten ernsthaft darüber reden.
— Wenn Sie dies ernsthaft tun, Herr Probst, werden
Sie allerdings mit Ihren Hilfstruppen, vom Philologenverband bis zum Bund Freiheit der Wissen-
4140 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Glotz
schaft, in große Schwierigkeiten geraten. Das müssen Sie sehen.
Kurzfristig geht es darum, sicherzustellen, daß die Knappheit an Studienplätzen nun nicht gerade zu Lasten derjenigen Studienbewerber geht, die aus den unteren sozialen Schichten kommen, aus den Arbeitnehmerschichten. Es geht also um eine sozial gerechte Verteilung der knappen Studienplätze. Wir haben dazu im Hochschulrahmengesetz einen Vorschlag gemacht. Sie sind jetzt am Zug. Wir bitten Sie, auch hier in dieser Debatte einmal zu sagen, was Sie denn von diesem Vorschlag im Hochschulrahmengesetz halten.
Über eines erbitten wir Klarheit zwischen uns: daß das Argument, ,daß in den sechziger oder schon in den fünfziger Jahren zuviel Bildungswerbung betrieben worden sei, fallengelassen werden muß. Wir geben zu: Wir müssen die Leute zum Teil — wir haben das immer gesagt — anders ausbilden als heute, aber wir dürfen doch nicht weniger Menschen gut ausbilden. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Die gängige Kritik, Frau Benedix, die ich immer wieder höre, es sei zuviel Bildungswerbung betrieben worden,
läuft doch darauf hinaus, daß man den Numerus clausus aus der Hochschule hinunterverlegt in die Sekundarstufe II.
Dies ist fast so schlimm wie das, was beispielsweise in einem Bundesland — und das kenne ich genau genug —, in Bayern, heute schon betrieben wird: daß man den Numerus clausus auf dem Rücken der Zehnjährigen durch scharfe Eingangsverfahren in das Gymnasium verlegt. Das ist doch die andere Situation.
Ich sage zusammenfassend: Wir wollen die Hochschulkapazität noch weiter ausbauen, sicherlich besonders in Engpaßfächern; das finden Sie auch in unserer Entschließung. Wir können aber keinen Ausbau für 35 % eines Jahrgangs -- wie in Schweden — oder für 50 % wie in den Vereinigten Staaten — in den Bildungsplan, wie er jetzt vorliegt, einkalkulieren. Wir halten uns an die 22 bis 24 % in dem von allen beschlossenen Zeitraum, die der Bildungsgesamtplan vorsieht. Diese Zahlen, 22 bis 24 %, werden wir auch schneller erreichen, als wir alle miteinander es eigentlich geplant haben.
Für eine ernsthafte Diskussion darüber, wie man durch qualitative und dann manchmal schmerzhafte Reformen unseres Bildungswesens diese Probleme lösen kann, sind wir zu haben. Wer aber mit dem Thema Numerus clausus Ressentiments aufwühlen will, der wird von uns an seine eigenen bildungspolitischen Sünden erinnert. Und Ihr Beichtzettel in dieser Beziehung ist sehr, sehr lang, meine Damen und Herren.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schuchardt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst kurz eingehen auf die Zwischenfrage betreffend meinen früheren Kollegen Herrn Lenz. Es war natürlich eine Zwischenfrage an den falschen Vertreter dieser Koalition, und ich glaube, ich sollte als Mitglied der FDP einiges dazu sagen.
Herr Glotz, es ist natürlich nicht so, daß Herr Lenz in die Reihen um Herrn Mende einzuordnen ist;
vielmehr gehörte er zu den heftigen Kritikern Mendes. Die gab es damals auch schon. Wir leugnen aber nicht, daß die damaligen Prognosen nicht brauchbar waren, und zwar nicht nur im Bund, sondern eben auch in allen Ländern. Wir haben gar keine Furcht, zuzugeben, daß auch einige Minister in der Vergangenheit auf Grund solcher falschen Prognosen politische Entscheidungen getroffen haben.
Wir stehen zu unserer Tradition, und wir korrigieren falsche Entscheidungen.
— Meine Damen und Herren, es erstaunt mich überhaupt nicht, daß die CDU hier lacht, da sie ihre Tradition häufiger leugnet als Liberale.
Im übrigen hat Herr Lenz — das muß man hier, glaube ich, noch hinzufügen — den Anfang gemacht, die bildungspolitischen Kompetenzen aus den unterschiedlichen Ressorts in einer Hand zu vereinigen, und damit eine wesentliche Voraussetzung — und zwar gegen den Widerstand der CDU — dafür geschaffen, daß wir heute als Bildungspolitiker überhaupt einen Ansprechpartner in der Regierung haben. Ich meine, man sollte dies noch anführen, da Herr Lenz insoweit ein wesentliches Verdienst um heutige Diskussionen hat.
Ich möchte, damit wir nicht immer nur dann vom Numerus clausus sprechen, wenn es um Hochschulfragen geht, doch einmal das Gesamtdilemma, in dem Bildungspolitiker heute stecken, kurz aufzeigen. Numerus clausus Herr Glotz hat es ja bereits angesprochen — ist keineswegs eine typische Frage der Hochschulen. Wir haben Numerus clausus bei Kindergartenplätzen. Wir haben Numerus clausus in den Grundschulen; nur haben wir die Schulpflicht, und da lösen wir den Numerus clausus einfach durch höhere Klassenfrequenzen. Wir haben den Numerus clausus bei Gymnasien und Realschulen; dort können wir ihn natürlich auch steuern, indem man eben einfach siebt. Weiterhin haben wir den Numerus clausus in den beruflichen Schulen; den lösen wir auf eine ganz besondere Weise, indem wir nämlich nur die Hälfte der Unterrichtsstunden anbieten. Wohlgemerkt, alles in den Ländern, damit wir uns nicht falsch verstehen.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4141
Frau Schuchardt
Nur wenn es um die Hochschulen geht, dann ist das Gezeter um das Problem des Numerus clausus besonders groß, ein weiterer Beweis dafür, wie privilegiert dieser Bereich der Bildung in der Vergangenheit war. Er ist nun erstmalig .in die gleiche Situation gekommen, wie es alle anderen Bildungsbereiche schon seit langem und vielleicht schon immer waren.
Ich möchte gleich zu Anfang gar keinen Zweifel daran lassen, ,daß es der FDP-Fraktion recht wäre, wenn der Adressat dieser Großen Anfrage, nämlich die Bundesregierung, tatsächlich der zuständige wäre. Leider aber hat gerade die Opposition einen großen Anteil daran, daß der Bund nach wie vor die Entwicklung im Bildungssystem und gerade auch im Hochschulsystem nur in sehr geringem Maße beeinflussen kann. Die CDU hatte zwar mal kurz den Mut, einen Parteitagsbeschluß zu fassen es war, glaube ich, das Berliner Programm —, hat sich aber schnellstens wieder zurückgezogen, da man politisch vernünftige Regelungen manchmal davon abhängig macht, ob sie von eigenen politischen Freunden vertreten werden oder nicht. Zu einer solchen fadenscheinigen Argumentation haben wir uns nie bekannt.
Es bedarf deshalb keiner großen Phantasie, um festzustellen, daß die CDU/CSU mit dieser Großen Anfrage den Versuch unternimmt, die sozialliberale Koalition im Bund für die fehlenden Studienplätze in einigen Fachbereichen verantwortlich zu machen und damit — das hat Herr Gölter hier beeindrukkend dargelegt — abzulenken von den Versäumnissen in den eigenen, von der CDU und CSU regierten Ländern.
Positiv an dieser Anfrage ist sicherlich, daß sich dieses Haus einmal mit dem Gesamtproblem befaßt. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zeigt deutlich, und die genannten Zahlen halten einer Nachprüfung stand, daß in den Jahren 1970 bis heute auf dein Gebiet des Hochschulausbaus und der Vermehrung der Studienplätze generell ganz Erhebliches geleistet wurde, und zwar sehr viel mehr als vor der sozialliberalen Koalition.
Es zeigt sich jedoch, daß die Zahl der Studenten und Studienbewerber in noch weiterem Maße gestiegen ist. Das Problem des Numerus clausus für die Hochschulen — ich sagte es eingangs — ist ein vergleichsweise junges Problem, und wir haben bis heute lediglich mit konventionellen Methoden versucht, Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Hiernach kann man den N. C. in absehbarer Zeit nur dadurch beseitigen, daß entweder durch restriktive Maßnahmen der Hochschulberechtigten herabgesetzt wird oder daß sich Bund und Länder finanziell in einer Weise engagieren, die nicht einmal Bildungspolitiker erhoffen. Das erste ist nicht wünschenswert, das zweite ist nicht machbar.
Daß gerade heute der Numerus clausus ein so großes Problem ist, liegt in erster Linie daran, daß sich der Prozentsatz derjenigen, die eine Studienberechtigung erwerben, seit 1960 verdreifacht hat, nämlich auf 15 %. Ich möchte hier klar sagen, daß mir dies bei aller Unerfreulichkeit der heutigen Numerus-clausus-Situation lieber ist als der frühere
Zustand, als dem Eintritt in ein Gymnasium für viele fast unüberwindliche Schranken entgegenstanden. Deshalb unterstreiche ich die Aussage der Bundesregierung, daß die Studienchancen noch nie so groß waren wie heute. Nur müssen wir dem Abiturienten mehrere Möglichkeiten anbieten; wir können ihn nicht nach 9 Jahren Gymnasium vor die vollendete Tatsache stellen, daß er keinen Studienplatz hat.
Es war das erklärte Ziel meiner Partei, möglichst vielen Jugendlichen die weiterführenden Schulen zu öffnen. Diese Möglichkeit wird auch von immer mehr Heranwachsenden wahrgenommen, was zu einem steigenden prozentualen Anteil von Gymnasiasten führt. Parallel dazu war es der Wille meiner Partei, auch berufsqualifizierende Abschlüsse so aufzuwerten, daß sie ohne Umweg und Zeitverlust zum Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen berechtigen.
Die Dreigliedrigkeit unseres heutigen Schulsystems, für deren Weiterexistenz die Vertreter der CDU/CSU ja heute auch wieder nachdrücklich eingetreten sind, hat zur Folge, daß nach wie vor die allgemeine Bildung höher bewertet wird als die praktische. Sozialprestige, Aufstiegschancen und Verdienstchancen sind unmittelbar abhängig von den Berechtigungsscheinen, die ein Schüler oder Student während seiner Erstausbildung erworben hat. Das Abitur gibt z. B. die Hochschulberechtigung. Daß die weitaus größte Zahl der Abiturienten auch tatsächlich in die Hochschulen drängt, liegt nicht zuletzt daran, daß das Abitur gerade eben nur dazu berechtigt und daß nicht gleichzeitig eine berufliche Qualifikation erworben werden kann.
Die Ausbildung in der Sekundarstufe II und die berufliche Bildung laufen heute parallel nebeneinander her. Ein Umsteigen ist so gut wie unmöglich. Bei einer Integration der beruflichen Bildung in die Sekundarstufe II bieten sich jedoch dem Absolventen — im Gegensatz zu heute — zwei Möglichkeiten: entweder zu studieren oder in den Beruf einzutreten.
Eine integrierte Sekundärstufe II bringt aber ihrerseits noch keine Entlastung für die Hochschule, wenn weiterhin die Entscheidung, nach dem Abschluß der Sekundarstufe II in den Beruf zu gehen, dadurch erschwert wird, daß nach wie vor diejenigen bessere Chancen haben, die sich für die Fortsetzung der Ausbildung entscheiden.
Die politische Aufgabe muß also in erster Linie darin liegen, daß der Ausstieg aus der Erstausbildung ebenso attraktiv ist wie das Weiterstudium. Es hat sich in der Vergangenheit geradezu als selbstverständlich durchgesetzt, daß ein Studium allein schon zu besserem Verdienen berechtigt. Dies hat in den letzten Jahren dazu geführt, daß bestimmte Berufsgruppen eine längere, qualifiziertere Ausbildung anstreben — natürlich besonders unter dem Gesichtspunkt, auf diese Weise im Besoldungsgefüge höher eingestuft zu werden.
Ich meine, daß ein derartiges Besoldungssystem nicht unerheblich schuld daran ist, daß immer mehr Menschen immer länger studieren wollen. Die heu-
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Frau Schuchardt
tigen Laufbahn- und Besoldungsregelungen im öffentlichen Dienst z. B. orientieren sich stark an diesem bereits beschriebenen Berechtigungswesen. Dies führt zu fast unerträglichen Unterschieden bei Besoldung und Aufstiegschancen, die sicherlich nicht mit Unterschieden in der Leistungsfähigkeit erklärt werden können.
Wenn beispielsweise ein Diplomingenieur gegenüber einem graduierten Ingenieur vier — oder zukünftig drei — Besoldungsgruppen höher eingestuft wird und auch bessere Aufstiegschancen hat, brauchen wir uns überhaupt nicht zu wundern, daß Fachhochschulabsolventen lieber auf die Hochschulen gehen, um ein Diplom zu machen, als gleich in den Beruf einsteigen.
Ich meine, daß Bildungspolitiker aufgerufen sind, in einer solchen Debatte die Besoldungspolitiker darauf hinzuweisen, wie negativ sich Laufbahn- und Besoldungsregelungen auf ein Bildungssystem auswirken können.
Frau Abgeordnete Schuchardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner ?
Ja. Vizepräsident Dr. Jaeger: Bitte sehr!
Frau Kollegin, da Sie beklagt haben, daß die Fachhochschulingenieure bei der Besoldung im Vergleich zu den Diplomingenieuren so sehr benachteiligt sind, möchte ich Sie fragen: Wie rechtfertigen Sie dann die Einstellung der Regierungskoalition und namentlich des Herrn Bundesinnenministers, auch bescheidene Ansätze zur Verbesserung der Besoldung der Fachhochschulingenieure und der Absolventen der früheren Ingenieurschulen, wie sie von der CDU/CSU beantragt worden sind, abzulehnen?
Herr Kollege, Ihnen ist offenbar ein Satz entgangen, den ich vorher bewußt eingefügt hatte: daß nämlich längeres Studieren nicht automatisch zu mehr Verdienst führen darf.
Ich möchte hier keine besoldungspolitische Debatte führen, aber Sie wissen doch genau, daß wir von Bildungsreform überhaupt nicht mehr zu reden brauchen, wenn Sie die öffentlichen Haushalte durch immer mehr Ausgaben für Personal belasten.
— Was heißt „Aha!"? Das spricht für eine beinerkenswerte Unorientiertheit und Unlogik, die ja z. B.
Herr Dr. Gölter dem Minister hier vorgeworfen hat.
Frau Abgeordnete Schuchardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Frau Kollegin, nachdem Sie die Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wagner so mit einer Handbewegung weggewischt haben, frage ich Sie: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie bei mir als einem Mitglied des Innenausschusses nicht den Eindruck erweckt haben, daß Sie von dem angeschnittenen Problem der Besoldung eine Ahnung haben?
Das ist natürlich eine phantastische Zwischenfrage, die nicht gerade von einem besonderen politischen Gefühl gekennzeichnet ist.
Die Attraktivität für einen Jugendlichen, aus dem Erstausbildungssystem auszusteigen, ist weiterhin dadurch erschwert, daß wir ein nur mangelhaft ausgebildetes Weiterbildungsangebot haben. Ein Jugendlicher, der aussteigt, weiß, daß damit für ihn die Aufstiegschancen verlorengegangen sind. Wir müssen den Hochschuleinrichtungen vergleichbare Weiterbildungssysteme zur Verfügung stellen, um ihm die Aufstiegschancen auch weiterhin zu erhalten.
Dies alles befreit uns aber nicht von der Aufgabe, weiterhin alles zu unternehmen, um ein ausreichendes Angebot von Studienplätzen zur Verfügung zu stellen. Wenn von der Erhöhung der Kapazität der Hochschulen die Rede ist, wird nicht selten von der „Akademikerschwemme" oder vom „akademischen Proletariat" gesprochen. Hier muß man wirklich anführen, daß diejenigen Fächer am stärksten unter dem Numerus clausus leiden, bei denen der Mangel am größten ist, nämlich die medizinischen Fächer.
Wenn von gleichwertigen Alternativen zum Hochschulstudium die Rede ist — als Beispiel möchte ich hier einmal die Ausbildung zum gehobenen Dienst anführen —, so sollte man aber gleichzeitig darauf hinweisen, daß zwar kurzsichtig gesehen unsere öffentlichen Hochschulen entlastet werden, andererseits aber Fachhochschulen entstehen, die ebenso aus Steuermitteln finanziert werden und nur in einem anderen Haushaltstitel erscheinen. Dasselbe gilt z. B. auch für die Bundeswehrhochschulen. Aus bildungspolitischer Sicht sollte man diese Ausbildungen nicht als Alternative deklarieren, sondern ebenso in das öffentliche Bildungssystem eingliedern.
Ich habe bereits an früherer Stelle darauf hingewiesen, daß die Kapazität unserer Hochschulen unnötig dadurch belastet wird, daß Fachhochschulabsolventen ein Hochschulstudium anschließen. Eine ähnliche Belastung der Hochschulen ergibt sich dadurch, daß Studenten keinen Platz in ihrem gewünschten Fachbereich finden und stattdessen zunächst einmal
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Frau Schuchardt
eine Studienrichtung wählen, die benachbart ist. Zum Beispiel ist das Fach Biologie zu einem Numerusclausus-Fach geworden, weil es zu einem Wartestudium für verhinderte Mediziner geworden ist.
Um es vorab zu sagen: Die Freien Demokraten wären froh, wenn die CDU/CSU auch tatsächlich bei der Studienreform aktiv mitarbeitete. Herr Dr. Gölter hat ja darauf hingewiesen, daß eine wesentliche Aufgabe in diesem Bereich liegt.
Es ist sehr verwunderlich, daß die CDU/CSU der Bundesregierung das Ausbleiben der Studienreform vorwirft, da gerade die Opposition bisher wesentlich daran beteiligt war, die entscheidenden Initiativen des Bundes — davon abzulenken, ist Herrn Dr. Gölter nicht ganz gelungen —, nämlich das Hochschulrahmengesetz in der letzten Legislaturperiode scheitern zu lassen. Wir können nur hoffen, daß sich die CDU/CSU in dieser Legislaturperiode kooperativer verhält.
Meine Damen und Herren, es ist hier bereits angesprochen worden, daß die schlechte finanzielle Absicherung eines großen Teils der Studenten mit dazu führt, daß sich die durchschnittlichen Studienzeiten durch Zuverdienste verlängern. Hier muß man sehen, daß die Bildungspolitiker aller drei Fraktionen im gleichen Boot sitzen und wir es in den nächsten Monaten zu bewerkstelligen haben, unsere Haushaltspolitiker davon zu überzeugen, daß es sogar wirtschaftlich vernünftig ist, an der einen Stelle rechtzeitig zu investieren, um langfristig Subventionen zu verhindern.
Die Streckung der Hochschulbaumittel wird von der CDU natürlich immer wieder angeführt, immer mit einem neuen Dreh. Jetzt ist darauf hingewiesen worden, daß das Geld von den Ländern gar nicht abgerufen wird. Von der CDU wird aber auch immer wieder verlangt, man solle doch die Länder mit einem besseren Finanzvolumen ausstatten. Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß das keineswegs garantiert, daß die Mittel dann auch ins Bildungssystem fließen. Andererseits können Sie dem Bund wohl kaum zumuten, sich finanziell mehr zu engagieren, wenn er politisch keine Einflußmöglichkeiten hat.
Die CDU/CSU fordert den gezielten Ausbau von Fachhochschulen. Ich hoffe, es ist vorhin hinreichend gelungen, anzumerken, daß die Fachhochschulen keineswegs als gleichwertige Alternativen zum Hochschulstudium akzeptiert werden. Die FDP fordert die integrierte Gesamthochschule und wird sich deshalb dem Ausbau jeder Hochschuleinrichtung, die dem Ziel entgegensteht, eine integrierte Gesamthochschule zu schaffen, widersetzen. Studiengänge können nur gleichwertig sein und als gleichwertig bezeichnet werden, wenn sie auch vergleichbare Abschlüsse bieten. Insoweit ist es wichtig, daß die Studienreform inhaltlich und zeitlich gestufte, integrierte und aufeinander bezogene Studiengänge mit entsprechenden Abschlüssen schafft.
Der Entwurf eines Hochschulrahmengesetzes ist in seiner jetzigen Fassung geeignet, derartige Reformen einzuleiten, Wenn die CDU/CSU es mit ihrer Forderung ernst meint, es müßten gleichwertige Studiengänge angeboten werden, so wird sie sich der Forderung nach einer integrierten Gesamthochschule anschließen müssen.
Aus den Antworten zu den Fragen bezüglich der Feststellung der Kapazitäten ist zu entnehmen, wie wenig es in den letzten Jahren gelungen ist, hierfür ein geeignetes Instrumentarium zu finden. Auch dafür liegt die Verantwortlichkeit nicht primär beim Bund, was natürlich auch die Opposition weiß. Alle diskutierten Modellrechnungen, die sich auf formale Kriterien wie z. B. die Relation Hochschullehrer — Studenten oder das Raumangebot stützten, haben sich letztlich als ungeeignet herausgestellt.
Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß auch die Kapazitäten nicht unwesentlich von der Studienreform abhängig sein werden. Es wird wohl kein Studienfach geben, das in seiner Gesamtkapazität begrenzt ist. Die Anzahl der Zulassungen für ein Semester wird vielmehr im wesentlichen von wenigen Engpaßveranstaltungen bestimmt. Dies kann z. B. bei den Medizinern die Anzahl der verfügbaren Leichen in der Anatomie sein oder zuwenig Laborplätze oder bestimmte Pflichtvorlesungen. Es ist in der Vergangenheit immer wieder von der besseren Auslastung der Hochschuleinrichtungen gesprochen worden. Von den Hochschulen wird entgegengehalten, daß in den Semesterferien bereits eine gleichmäßige Auslastung der Laborplätze garantiert sei. Dies will ich nicht bestreiten. Andererseits muß man aber kritisch darauf hinweisen, daß der Mangel an Laborplätzen sehr wohl durch Schichtpraktika oder der Engpaß bei Pflichtvorlesungen z. B. durch Parallelveranstaltungen gemildert werden könnte.
In diesem Zusammenhang kommt der Forderung im Hochschulrahmengesetz eine besondere Bedeutung zu, daß die Hochschulen mindestens einen Monat vor Anordnung einer Zulassungsbeschränkung in einem Studiengang ihre Vorstellungen über die Zahl der aufzunehmenden Studenten mit der Angabe mitteilen müssen, wie die Ausbildungskapazität berechnet worden ist. Nur durch diese Praxis und die Tatsache, daß die Zulassungsbeschränkungen jährlich neu zu begründen sind, können langfristig einheitliche Maßstäbe der Ausbildungskapazität erarbeitet werden.
Durch die derzeitige Verfassungslage ist es für den Bund sehr problematisch, eigenständig ein System des Fernstudiums im Medienverbund zu schaffen. Ich will überhaupt kein Hehl daraus machen, daß wir Freien Demokraten uns sehr wohl eine Bundesgesamthochschule für das Fernstudium vorstellen könnten. Leider zeigt aber die Realität, daß sich die Länder über ein gemeinsames System nicht einigen können, andererseits aber eifersüchtig darüber wachen, daß ihre Kompetenzen ja nicht eingeengt werden, selbst dann nicht, wenn Schüler und Studenten die Leidtragenden sind. Das Fernstudium im Medienverbund könnte ein wesentlicher Bestandteil des Hochschul- und auch Weiterbildungssystem werden und auch zur Erleichterung der Kapazitätsengpässe beitragen. Wir fordern hier wieder die Bundesregierung auf, von ihren verfassungsmäßigen Rechten weitestgehend Gebrauch zu machen.
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Frau Schuchardt
Die Hochschulzulassung, die für die Numerus-clausus-Fächer notwendig geworden ist, ist z. Z. durch einen Staatsvertrag geregelt. Ich habe an anderer Stelle schon einmal darauf hingewiesen, daß mit dem Instrument des Staatsvertrages graue Zonen des Parlamentarismus geschaffen werden, daß bundeseinheitliche Regelungen sich stark im Raum stoßen mit der Kulturhoheit und hier eben nur der Staatsvertrag als Möglichkeit der Länder übrigbleibt. Ich glaube, daß man dies nicht als parlamentarische Befassung und angemessen für unser parlamentarisches System bezeichnen sollte.
Abschließend muß realistisch festgestellt werden, daß die völlige Beseitigung des Mangels an Studienplätzen in allen Fächern in absehbarer Zeit nicht möglich ist. Daraus ergibt sich die Aufgabe — so negativ dies Wort klingt —, diesen Mangel möglichst sachgerecht zu verwalten und zu einer gerechten Verteilung des knappen Angebots zu kommen. Auch dies ist durch den Staatsvertrag keineswegs gewährleistet. Ich glaube, daß hier der Entwurf des Hochschulrahmengesetzes bereits gute Lösungsmöglichkeiten anbietet. Ob sie genutzt werden, wird davon abhängen, wie sehr die CDU im nächsten halben Jahr der zügigen Beratung und vor allem auch Verabschiedung zustimmt, und davon, daß dieses Hochschulrahmengesetz nicht wieder einmal an unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat scheitert. Erst dann können wir beurteilen, ob die heutige Große Anfrage nur eine Show war oder ein tatsächliches Anliegen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Opposition verfolgt das Ziel, der Regierung Irrtümer, Versäumnisse, Fehlplanungen nachzuweisen. Es ist Sache des Hauses und der Öffentlichkeit, zu beurteilen, ob das gelungen ist.
Die Regierung stellt an dieser Stelle — um nicht zu viel zu wiederholen — noch einmal folgendes fest:
Erstens. Die Zahl der Studienplätze, die gebaut wurden — und es ist ja in erster Linie der Bau, der im Hochschulbereich in unserer Verantwortung steht — ist größer, als dies 1970 von irgendeiner Seite dieses Hauses geplant war.
Zweitens. Die Zahl der Studenten ist heute größer, als früher angenommen. Sie, Herr Kollege Gölter, haben diese Frage heute morgen ja noch einmal aufgegriffen. Aus Ihren eigenen Zitaten aus dem Januar 1970 ergibt sich, daß Sie damals für 1980 680 000 Studenten vorausgesehen hatten. Wir haben jetzt wahrscheinlich etwa 740 000.
Die Länder das muß man sehen — produzieren die Abiturienten gewissermaßen in dem Bildungs- und Schulsystem, über das Frau Schuchardt soeben gesprochen hat. Ich will einen Bereich nennen: Medizin, in dem man trotz aller Kritik feststellen muß, daß von 1965 bis 1969 die Zahl der Studienanfänger von 5 300 etwa auf 4 500 zurückging, dann 1970 auf 4 900 stieg und in diesem Jahr etwa bei 7 000 liegt. Ich will das gar nicht auf unser Konto schreiben; dieses ist genauso das Konto der Länder. Vorbereitungen dafür waren auch schon getroffen. Aber man muß, wenn man über die Dinge debattiert, natürlich auch da bei den Fakten bleiben.
Ich sehe Herrn Kollegen Gölter im Augenblick nicht. Ich bedauere das, weil er heute morgen eine so offensive Rede gehalten hat. Ich hätte ihm gern dazu einige Bemerkungen gemacht. Er ist mindestens der erste Bildungspolitiker in diesem Bundestag — oder auch sonst irgendwo , der feststellt, daß Studienreform und Hochschulkapazität nicht zusammengehören. Dies ist eine einmalige Feststellung. Ich kenne keinen Kultusminister, gleich welcher Farbe, der nicht sagt, daß Studienreform eine der Voraussetzungen dafür ist, daß wir die Kapazitäten an den Hochschulen besser nutzen können.
Insofern hängt natürlich die Frage des sogenannten Numerus clausus mit dem Problem der Studienreform zusammen.
Drittens will ich feststellen, daß die Regierung immer gesagt hat, daß nicht mehr als 25 % eines Jahrgangs in die Hochschulen gehen sollten. Dies war unsere vielgescholtene Obergrenze. Ich stelle fest, daß das heute in etwa die gleiche Größenordnung ist, die die BLK anvisiert, nämlich 22 bis 24 %. Herr Gölter hat heute morgen gesagt, wir hätten damals gesagt, 50 % müßten Abitur II machen. Demgegenüber kann ich heute nur feststellen, daß dieses Abitur II inhaltlich dem entspricht, was wir mit dem Sekundarabschluß II im Bildungsgesamtplan — unterschrieben von allen Kultusministern der Länder, von den Ministerpräsidenten und dem Bundeskanzler — heute bezeichnen, und daß die BLK für 1980 42 % Vollzeitschulabschlüsse einplant. Das ist nahe an den 50 %, die damals, das gebe ich zu, in einer Grobplanung standen. Also auch hier sollte man bei der Wahrheit bleiben.
Viertens. Die Regierung stellt fest: wir nähern uns dieser Grenze der 25 % — oder jetzt 22 bis 24 % — schneller, als wir früher angenommen haben. Das wirft große Probleme auf; ich habe das für die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage und in dem Bericht festgestellt, der Ihnen — ich bedauere das — wegen Abstimmungsfragen in der Regierung etwas spät zugegangen ist.
Meine Damen und Herren, während die Opposition, wie mir scheint, in ihrem Angriff heute morgen im wesentlichen auf die Vergangenheit zielte und sich an der Vergangenheit orientierte, hat die Regierung ein Interesse daran, aus dieser Debatte einen Einschnitt für eine Politik zu machen, mit der wir — vielleicht gemeinsam — Fragen, die in der Zukunft auf uns zukommen werden, lösen können. Ich mache auf die Bemerkungen aufmerksam, die ich im Ausblick auf eine möglicherweise krisenhafte
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Bundesminister Dr. von Dohnanyi
Entwicklung am Schluß des Berichts über Angebot
und Nachfrage bei Studienplätzen formuliert habe.
Manchmal muß man sich auch selber zitieren. Vor fast vier Jahren, am 21. Januar 1970, habe ich in einer Auseinandersetzung mit Kultusminister Vogel von dieser Stelle aus gesagt, daß es bei dem von ihm so genannten Problem des Numerus clausus eben nicht nur um Fragen der Hochschulstruktur, wie er sagte, sondern um das gesamte Bildungswesen gehe. Ich habe damals eine Frage an die Opposition gerichtet, und es war die gleiche Frage, die sich jetzt aus unserer Antwort auf die Große Anfrage erneut stellt und die ich hier noch einmal stellen möchte. Ich habe im Januar 1970 gesagt, ohne eine Strukturreform des Bildungswesens gebe es keinen Fortschritt, keinen entscheidenden Fortschritt in der heute hier debattierten Frage, nämlich der Frage des Numerus clausus.
Diese Frage nach der Strukturreform im gesamten Bildungswesen stellen wir auch heute. Unser Konzept ist klar;
es steht in den Mehrheitsvoten und in den vielen gemeinsamen Voten des Bildungsgesamtplans. Meine Damen und Herren, ich muß Sie fragen: Wo ist Ihr Konzept, wo stehen Sie in diesen Kernfragen der Strukturreform?
— Ich will Ihnen, Herr Pfeifer, Gelegenheit geben — wir stehen kurz vor der Mittagspause , vielleicht nachher auf die Fragen zu antworten, die wir stellen müssen. Unser Föderalismus macht es notwendig, daß hier an dieser Stelle, in diesem Hause, die Debatte ,über politische Fragen dieser Art stattfindet. Der Bundesrat ist ja in dem Sinne kein Gremium, in dem die verschiedenen Seiten politisch so debattieren, wie man es hier tun kann.
— Sie wissen, daß das im Bundesrat auf Grund der dort üblichen Verfahren etwas anders verläuft.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfeifer?
Ja, selbstverständlich!
Herr Minister, nachdem Sie eine Frage an uns gerichtet haben, möchte ich mit einer Gegenfrage antworten: Sind Ihnen nicht genauso wie mir die Voten bekannt, die die CDU CSU-Kultusminister in der Bund/Länder-Kommission zu den Strukturfragen des Bildungswesens dargestellt haben? Ursprünglich waren es vierzehn Voten; davon sind drei Sondervoten übriggeblieben. Damit sind doch unsere Strukturvorstellungen genauso auf dem Tisch wie Ihre.
Herr Pfeifer, dies ist mir bekannt. Ich frage mich nur, ob die Opposition den Bildungsgesamtplan gelesen hat und ob sie dazu stehen wird. Ich werde meine Fragen jetzt stellen; dann werden wir das ja feststellen.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Abgeordneten Pfeifer?
Sicherlich, wenn Sie fragen möchten!
Herr Minister, ist Ihnen entgangen, daß die Opposition Ihnen in ihrer Kritik zum Hochschulrahmengesetzentwurf den Vorwurf macht, daß Sie nicht mehr zum Bildungsgesamtplan stehen, weil nämlich das, was darin z. B. zum Problem der Hochschulstruktur gesagt ist, im Entwurf der Bundesregierung zum Hochschulrahmengesetz nicht mehr enthalten ist?
Herr Kollege Pfeifer, dies ist mir bekannt. In diesem Zusammenhang muß ich sagen: Ihre Behauptung spricht dafür, daß Sie weder den Bildungsgesamtplan noch das Hochschulrahmengesetz gelesen haben,
weil sich nämlich die Übereinstimmung aus beidem klar ergibt. Aber ich bin bereit, Ihnen das in der nächsten Woche Punkt für Punkt im Zusammenhang mit der Gesamthochschule nachzuweisen.
Erste Frage. Die Bund/Länder-Kommission plant mit 22 bis 24 % eines Jahrgangs. Meine Frage ist: Will die Opposition mehr, oder steht sie zu dieser Planung? Die Koalitionsentschließung, die heute vorliegt, ist in dieser Beziehung sehr viel mutiger und deutlicher als die der Opposition; denn darin steht:
Gleichwohl wird in einigen Jahren die geplante Gesamtkapazität des Hochschulsystems ... kleiner bleiben als die Gesamtzahl der Studienberechtigten.
Ich frage also die Opposition, ob sie bei diesen 22 bis 24 % bleibt oder ob sie das nicht tun wird.
Zweite Frage: Ist die Opposition mit uns der Meinung, daß wir uns diesem Punkt schneller nähern, als ursprünglich angenommen wurde, d. h. daß schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Phase, in der 22 bis 24 % aufgenommen werden, erreicht wird , wenn nicht wesentliche Schritte getan werden?
Dritte Frage: Gibt die Opposition, wenn Sie diese Meinung teilt, zu, daß wir hinsichtlich des Ausbaus
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Bundesminister Dr. von Dohnanyi
der Hochschulen für viele Bereiche in der Vergangenheit sehr viel getan haben und bald genug getan haben werden , z. B. für den Ausbau der Kapazität jener Stätten, an denen Lehrer ausgebildet werden? 1970 betrug die Gesamtzahl der Studenten, die das Lehramt anstreben, 170 000. 1973/74 sind es 270 000. Die Frage ist also: Wo wollen Sie mehr? Wir müssen uns über das Ausbauprogramm an Hand der genannten 22 bis 24 % einigen.
Vierte Frage: Ist die Opposition bereit, mit uns festzustellen, daß die Abiturienten heute über keine ausreichende Vorbildung zum Studium verfügen? Glaubt die Opposition in der Tat, daß wir ohne eine Reform der Oberstufe durchkommen? Wenn das der Fall ist, frage ich: Ist die Opposition wirklich der Meinung, daß die Integration der Berufsbildung in die Sekundarstufe II ein Fehler ist, oder steht sie hier zum Bildungsgesamtplan,
in dem es nämlich heißt: Die Sekundarstufe II umfaßt alle Bildungsgänge, die auf dem Sekundarbereich I unmittelbar aufbauen? Unter den im Bildungsgesamtplan genannten Bildungsgängen befindet sich auch der berufsqualifizierende Bildungsgang.
— Wir haben auch nicht „integrierte Form" gesagt, sondern: Integration der Berufsbildung in das gesamte Bildungssystem. Das können Sie nachlesen. So lauten auch die Beschlüsse. So haben wir gesagt. Ich nehme aber gern zur Kenntnis, daß Sie für diese Integration in die Sekundarstufe II sind.
— Die Integration in die Sekundarstufe II wurde auch im Bildungsgesamtplan beschlossen. Jetzt sagen Sie, Herr Pfeifer, Sie seien dagegen. Das war ja mein Verdacht: Sie stützen den Bildungsgesamtplan nicht. Das wollte ich ja feststellen.
Nun gibt es hier eine bayerische Fußnote. Normalerweise sollen nach dem Bildungsgesamtplan die beruflichen und allgemeinen Bildungsgänge in der Sekundarstufe II miteinander abgestimmt und verzahnt werden. Gegen das Wort „Verzahnung" hat Kultusminister Maier mit demselben Argument ein Veto eingelegt, das Herr Gölter heute morgen benutzt hat, nämlich mit dem Argument der Eigenständigkeit der beruflichen Bildung. Es gibt also an dieser Stelle eine bayerische Fußnote: keine Verzahnung. Dieses Anliegen wird also allein von Bayern getragen. Die Frage an Sie lautet: Stehen Sie mehr dort, wo Herr Gölter und Herr Maier stehen, die keine Verzahnung wünschen, oder stehen Sie
— mit der Mehrheit in der Bund-Länder-Kommission — auf dem Standpunkt: Ja, wir wollen eine Verzahnung? Diese Frage müssen Sie hier beantworten, wenn wir zusammen Berufsbildungspolitik machen wollen.
Fünfte Frage: Ist die Opposition bereit, zuzugeben, daß alle Alternativen zum Studium so lange und das heißt: sehr lange — nur sehr begrenzt helfen können, als die Einkommenschancen des Akademikers wesentlich besser bleiben als die des Nichtakademikers? Die Berufschancen eines Arztes und einer medizinisch-technischen Assistentin sind ja nun einmal nicht zu vergleichen.
Ist die Opposition dann bereit, mit uns die Konsequenz daraus zu ziehen, daß z. B. im Fach Medizin auch in Zukunft ein Andrang bestehen wird und teilt sie unsere Meinung, daß hier ein gerechteres Zugangsverfahren gefunden werden muß? Ich möchte hier unterstreichen, was Frau Schuchardt gesagt hat: Wir können im Fach Medizin doch nicht weiterhin unsinnige Maßstäbe mit Durchschnittsnoten und Wartezeiten anlegen. Wird die Opposition also hier im Bundestag ein Hochschulzugangsverfahren unterstützen? Wird sich die Opposition dabei vom Staatsvertrag, der die Zulassung nur auf Abiturnoten und Wartezeiten stützt, distanzieren oder nicht? Wenn die Opposition auch in Zukunft das Abiturnotensystem beibehalten will: Weiß sie nicht, daß sie damit die Studienplätze unerträglich ungerecht verteilt?
Siebente Frage: Ist die Opposition der Auffassung, daß angesichts der großen Vorteile, die eine Studienchance vermittelt, Chancengleichheit wenigstens auf dem Weg zur Hochschule gegeben werden muß? Hier ist die Regierung der Meinung, daß eine solche Chancengleichheit nicht gegeben werden kann, solange die Weichen — Frau Schuchardt hat darauf hingewiesen — bei den Zehnjährigen gestellt werden.
Herr Kollege Gölter, Sie haben heute morgen gesagt, wir setzten die Gesamtschule als Problemlöser für den Numerus clausus ein. Das ist doch Unsinn.
— Nein, ich habe gesagt: Ohne die Schulreform werden diese Probleme nicht wirklich lösbar sein. Sie werden aus folgendem Grund nicht lösbar sein: Wenn man die Eltern Zehnjähriger faktisch zwingt, Bildungschancen dadurch wahrzunehmen, daß sie ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, weil das fünfte und das sechste Schuljahr sonst nicht mehr die Aussichten eröffnen wie die anderen Schulen, dann entsteht eine so große Expansion der Gymnasien, wie wir sie jetzt haben, und man kommt eventuell dazu — Herr Glotz hat darauf hingewiesen — dort wieder Eingangsprüfungen zu machen, was wir nicht wollen können. Dann aber muß man die Weichenstellung erst bei den 15-, 16jährigen vornehmen, wo man gerechtere Maßstäbe anlegen kann und wo der einzelne auch schon mehr Erfahrungen mit seinen Fähigkeiten gemacht hat.
Insofern ist in der Tat die Zusammenfassung des Schulsystems ein wesentlicher Bestandteil der Ge-
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Bundesminister Dr. von Dohnanyi
Samtreform, die auch hier im Zusammenhang mit den Fragen des Zugangs zur Hochschule eine Rolle spielt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Probst?
Herr Bundesminister, sind Sie der Meinung, daß Sie mit Ihrem Integrationssystem, wenn Sie die Entscheidungen auf die 15jährigen verlagern, den Zugang zur Hochschulbildung verhindern werden?
Nein. Aber, Herr Kollege Probst, ich kann mehr Gerechtigkeit beim Eingang in die verschiedenen Bildungsmöglichkeiten der Sekundarstufe II schaffen, wenn ich sie beim Eingang ins Gymnasium schaffe. Das ist das Entscheidende.
Insofern hilft die Gesamtschule, als man bezüglich der Zehnjährigen sagt: Jeder muß die weiteren Möglichkeiten haben. Denn bei Zehnjährigen kann man wirklich noch nichts Genaueres wissen. Je später die Entscheidung getroffen wird, um so mehr kann dem einzelnen ein Teil der Verantwortung angelastet werden. Insofern brauchen wir die Gesamtschule auch zur Lösung dieses Problems.
Meine Damen und Herren, wenn das so ist, frage ich die Opposition, ob sie bereit sein wird, uns im Rahmen der uns gegebenen Zuständigkeiten in einer pragmatischen, realistischen Umwandlung des dreigliedrigen Schulsystems von Hauptschule, Realschule und Gymnasium zu einem Stufensystem zu unterstützen, oder nicht. Diese Frage muß gestellt und beantwortet werden. Das beginnt mit einer wirklichen Orientierungsstufe, die wirklich durchlässig ist, und die nicht die Vorentscheidung wieder durch die Ansiedlung bei der jeweiligen Schule enthält.
Zur Berufsbildung habe ich schon etwas gesagt. Bezüglich des Hochschulrahmengesetzes schließe ich mich dem an, was Frau Schuchardt gesagt hat.
Ich meine, wenn wir zur Lösung von Strukturfragen hier eine gemeinsame Grundlage herstellen können, dann kann diese Debatte in gewisser Weise auch eine Wende bringen. Wenn wir das nicht können, sind wir allerdings da, wo wir 1970 waren, als ich der Opposition die gleichen Fragen stellte. Die Antwort ist bis heute ausgeblieben.
Herr Kollege Glotz hat mit Recht darauf hingewiesen: Es hat in der Vergangenheit von allen Seiten Worte, oft unverständliche und auch oft zu große Worte in der Bildungspolitik gegeben. Ich bestreite das nicht. Ich habe vor Jahren darauf hingewiesen, daß man Reformen nicht machen kann, ohne den Betroffenen auch wehzutun. Man kann ohne Wahrheit in der Analyse, ohne Klarheit in den Zielen und ohne Härte in den Entscheidungen Reformen
eben nicht vollziehen. lind nichts, meine Damen und Herren — hier richte ich mich ganz ausdrücklich an die Opposition —, schadet der Bildungspolitik mehr als jener grassierende Opportunismus, die Versuchung, allen nach dem Mund zu reden.
Es ist eben Opportunismus, meine Damen und Herren von der Opposition, die Verkürzung der Studienzeiten zu fordern und dann Regelstudienzeiten einfach als Verschulung zu verketzern. Das ist Opportunismus.
Es ist Opportunismus, Herr Kollege Gölter, die Erhöhung der Lehrkapazität zu fordern, aber die Studienreform nicht als ein Instrument dafür anzusehen und das Recht auf Feststellung von Lehrverpflichtungen, wie wir es im Hochschulrahmengesetz machen wollen, wo dann auch einmal die Professoren herhalten müssen, als einen Eingriff in die Freiheit von Forschung und Lehre zu bezeichnen. Das ist Opportunismus.
Und es ist Opportunismus, die Beseitigung des ungerechten Numerus-clausus-Verfahrens zu fordern und sich einem gerechteren Zugangsverfahren, wie wir es im Hochschulrahmengesetz wollen, nicht zu stellen, sondern wie bisher nichts anderes zu tun, als den bestehenden Staatsvertrag weitergelten zu lassen. Das ist Opportunismus.
Meine Damen und Herren, ich sage ganz klar: Die Zeiten werden schwieriger. Länder und Bund werden die Probleme nur gemeinsam bewältigen können. Wir brauchen die Entscheidungen zur Struktur, nicht deswegen, Herr Kollege Gölter, weil sie kurzfristig wirksam sind, sondern gerade weil sie nur langfristig wirksam sind. Wir können Entscheidungen in der Studienreform, in der Schulreform, in der Berufsbildung nicht deswegen hinausschieben, weil sie ohnehin erst in einigen Jahren wirksam werden. Ich sage das ganz offen: Die Opposition hat sich hier in diesem Hause um ein klares Bekenntnis zur Struktur des Bildungswesens, zu den Problemen und zu den Schmerzen der Reform gedrückt. Ich meine, die Opposition sollte jetzt Farbe bekennen und in der Sache stehen. Dann können wir auch gemeinsam mit den Problemen fertig werden.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein.
Die Sitzung wird um 13.30 Uhr mit der Fragestunde wiederaufgenommen. Ich unterbreche die Sitzung bis dahin.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung.
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen Wir treten ein in die
Fragestunde
— Drucksache 7/1320 —
Ich rufe zunächst die in der gestrigen Fragestunde noch nicht erledigten Fragen aus dem Geschäftsbereich des Herrn Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Berkhan zur Verfügung.
Die Frage 28 ist von dem Herrn Abgeordneten Jäger eingereicht worden:
Steht die kommentarlose und unwidersprochene Verbreitung polnischer nationalistischer Forderungen auf Änderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts , auf Änderung der geltenden politischen Prinzipien für die deutsche Gesetzgebung und deren Anpassung an den polnischen Rechtszustand (S. 22), auf weitere deutsche Wiedergutmachungsleistungen (S. 25) und auf Verhinderung des „Aufbauschens" der Schwierigkeiten hei der Familienzusammenführung in der „Information für die Truppe 7/73" nicht im Widerspruch zur Pflicht der Bundesregierung zur Wahrung der Grundrechtssphäre aller Deutschen und nunmehr auch im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1971, in dem die grundgesetzlich gebotene Sicherung aller Deutschen gegen die Aberkennung ihrer Staatsangehörigkeit durch andere Staaten, die Verpflichtung aller Staatsorgane auf volle Garantie der Grundrechte für alle deutschen Staatsangehörigen und die Verpflichtung zur verfassungsmäßigen Vertretung deutscher Rechtspositionen gegen fremde Einmischung für alle Staatsorgane verbindlich gemacht wird?
Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege Jäger! Ich beantworte heute Ihre zweite Frage.
Das Besondere des Aufsatzkomplexes in Heft 7/73 der „Information für die Truppe" war, daß hier zum erstenmal die Soldaten der Bundeswehr in einer Veröffentlichung des Verteidigungsministeriums mit polnischen Originaltexten konfrontiert wurden. Das ist nicht nur dem erreichten Stand der Beziehungen zwischen den beiden Staaten angemessen, sondern entspricht auch den Forderungen nach objektiver politischer 'Bildung.
Es ist wichtig, daß der junge Mensch die Argumente der anderen Seite, aber auch deren Sprach- und Denkstil kennenlernt. Jener polnischen Aussage einen deutschen Kommentar gegenüberstellen zu wollen wäre schon aus Platzgründen unmöglich gewesen.
Darüber hinaus entspräche eine derartige Gegenüberstellung auch nicht den Linien, denen die Erwachsenenpädagogik sonst frönt. Wir müssen — damit komme ich auf das von mir bereits gestern Gesagte — zu unseren jungen Soldaten das Vertrauen haben, daß sie auch Texte ausländischer Autoren zureichend einordnen können.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung, daß eine Schrift wie die „Information für die Truppe", die offiziellen Charakter hat, beim Verzicht auf eine Gegendarstellung der Auffassung der Bundesregierung zu diesen einseitigen polnischen Forderungen ihrerseits in Polen Hoffnungen erwecken muß, daß die polnischen Forderungen — ich denke insbesondere an
die Forderungen bezüglich der Staatsangehörigkeit — eines Tages von der Bundesregierung erfüllt werden?
Nein.
eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung, daß gerade die von Ihnen angesprochene objektive Unterrichtung der Soldaten über die polnische Auffassung es erforderlich gemacht hätte, daß die Bundesregierung dann genauso objektiv ihre eigene Sicht dieser Ding in dieser Schrift gegenübergestellt hätte, und daß dazu auch ausreichend Platz in diesem Heft vorhanden gewesen wäre?
Nein, Herr Kollege. Wenn ich Ihnen den Stapel an Heften zeige, die sich nur mit dieser Politik beschäftigen, dann sehen Sie, daß dazu ausreichend Gelegenheit gegeben wurde. Ich will nicht das von gestern wiederholen, ich will Sie nur daran erinnern, daß ich die Schriftenreihe als Ganzes ansehe, als Unterrichtsmaterial neben anderen Unterrichtsmaterialien, die zur Verfügung stehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatssekretär, besteht nicht sogar die Pflicht aller Staatsorgane, in diesen Fragen auf die Wahrung der personalen Rechte deutscher Staatsangehöriger und auf den diesbezüglichen Rechtsstand hinzuweisen, um so mehr als es bei den angeschnittenen Fragen, die mit Seiten zitiert sind, um den Kern der Grundrechte im Grundgesetz geht?
Herr Dr. Czaja, ich vermag nicht zu sehen, inwiefern hier ein Recht gekränkt oder eine Pflicht verletzt wurde. Hier wurde nur kundgetan, was polnische Wissenschaftler zu dieser Frage denken, nicht mehr und nicht weniger.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Staatssekretär, da Sie soeben von weiterem Unterrichtsmaterial gesprochen haben, frage ich Sie: Können Sie uns Auskunft geben, um welches weitere Unterrichtsmaterial es sich bezüglich des deutsch-polnischen Verhältnisses handelt?
In Heft 1/71 ist der deutschpolnische Vertrag als Text abgedruckt. In Heft 7/71 befindet sich ein Aufsatz des damaligen Verteidi-
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„Deutschland und seine östlichen Nachbarn". In Heft 7/72 — ich habe darauf gestern schon Bezug genommen — ist die gemeinsame Entschließung der drei im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zu den Ostverträgen vom 17. Mai 1972 abgedruckt. Dann folgt die Schrift, die strittig ist; ich brauche sie nicht zu zitieren. In Heft 10/70 befindet sich der Wortlaut des deutsch-sowjetischen Vertrages. Ich erspare es mir, Ihnen die anderen Hefte alle aufzuzählen.
Ich rufe die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Sauer auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Diese und die von ihm eingereichte Frage 30 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Werner auf:
Warum berichtet die „Information für die Truppe 7'73" über „Die Bundesrepublik und Polen" einseitig nur von der Germanisierungspolitik „Preußen—Deutschlands" ins 19. Jahrhundert und verschweigt aber völlig die durch den Völkerbund und die zeitgeschichtliche Forschung wiederholt festgestellte und verurteilte Polonisierungspolitik gegen Deutsche im 20. Jahrhundert ebenso wie die polnische nationalistische Diskriminierung Deutscher in der Gegenwart?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Werner, der Hauptgesichtspunkt bei der Auswahl der Texte war die Herausarbeitung der historischen Entwicklungslinien, die zu der Katastrophe des Jahres 1939 geführt haben. Besonders bei der Jugend — und dazu gehören die wehrpflichtigen Soldaten der Bundeswehr — gilt es, Verständnis dafür zu wecken, daß das Verhältnis zwischen den beiden Staaten noch auf lange Sicht belastet sein wird durch die Erinnerung vieler Polen an Jahre namenloser Greuel, die von Deutschen oder im Namen deutscher Stellen verübt worden sind. Polnische Schikanen in Vergangenheit und Gegenwart sind verwerflich, mindern aber nicht die deutsche Schuld.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Meinung, daß, wenn solche Fragen einmal in einem offiziellen Text angesprochen werden, wie das hier geschehen ist, dann die Dinge in beiderlei Hinsicht auch wirklich beim Namen genannt werden sollten, und gehört in diesen Gesamtkomplex nicht auch etwa eine sachliche Darstellung der Entwicklung im Rahmen der Familienzusammenführung seit jenen von Ihnen vorher genannten Verträgen?
Herr Kollege Werner, es ging bei dieser Auseinandersetzung nicht um die Familienzusammenführung, sondern es ging darum, bei Soldaten Verständnis dafür zu wecken, wie sich das deutsch-polnische Verhältnis in der Geschichte entwickelt hat und auf welche Fragen es jetzt ankommt. Die Familienzusammenführung ist eine Sache, die einen hohen Rang hat, die aber in diesem Zusammenhang nach meiner festen Überzeugung nicht genannt werden mußte.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, sich dafür einzusetzen, daß in einem zukünftigen Heft, das sich ebenfalls mit dem Problem des deutsch-polnischen Verhältnisses beschäftigen könnte, stärker die sachlich, auch wissenschaftlich objektiv festgehaltenen Tatbestände wiedergegeben werden? Ich erinnere nicht zuletzt an Jacob Burkhardt und die Danziger Mission und alles ,das, was in diesem Zusammenhang mitgeteilt wurde.
Herr Kollege Werner, ich bedaure außerordentlich, daß Sie die wissenschaftliche Qualifikation des Professor Jacobsen hier indirekt angezweifelt haben. Herr Professor Jacobsen ist zu einer Zeit, als Minister Ihrer Fraktion Verteidigungsminister waren, ein Mitarbeiter des Hauses gewesen, er ist zur Zeit ein angesehener Wissenschaftler der Bonner Universität, er ist Mitglied des Beirats für Innere Führung. Wenn Sie meinen, daß die wissenschaftlichen Aussagen von Herrn Professor Jacobsen anzuzweifeln sind, steht es Ihnen frei, einen Leserbrief dazu zu schreiben und es zurechtzurücken.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, sind nicht auch Sie der Meinung, daß zu den grundsätzlichen Entwicklungslinien in der deutschpolnischen Geschichte, die nach Ihrer Auffassung hier in diesem Heft wiedergegeben werden sollten, auch ganz entscheidend jene Ereignisse gehören, die in die 20er Jahre fallen und bei denen die Republik Polen den Versuch unternommen hat, entgegen dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes Teile dieses deutschen Volkes zu polonisieren?
Wenn ich das richtig betrachte, ist das im Aufsatz, von Professor Jacobsen, der auszugsweise abgedruckt ist, angesprochen. Daß eine Schriftenreihe als Information für die Truppe kein historisches Werk darstellen kann, darüber müssen wir uns wohl klar sein, Herr Kollege Jäger.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, ist es nicht etwas auffallend, daß Herr Professor Jacobsen mit den Jahren 1945/46 die Phasen des deutsch-
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Dr. Hupka
polnischen Verhältnisses beschließt und keine Gelegenheit nimmt, auch das zu beschreiben, was nachher geschehen ist?
Dies ist nicht der Fall, Herr Kollege Dr. Hupka. Dies ist ein Auszug aus einem Sammelband, in dem sowohl deutsche Wissenschaftler wie polnische Wissenschaftler geschrieben haben. Dies ist ein Auszug aus dem Teil, den Herr Professor Jacobsen verfaßt hat, genauso, wie von Herrn Professor Tomala nur ein Auszug erschienen ist. Wenn Sie den gesamten Aufsatz von Professor Jacobsen lesen, werden Sie merken, daß er nicht abgebrochen hat, sondern daß wir nur einen Auszug gebracht haben. Das ist also die Auswahl der Redaktion gewesen.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 32 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Warum wird in der „Information für die Truppe 7/73" die Ostpolitik der Weimarer Republik völlig irreführend dargestellt, und warum werden Beschuldigungen gegen den diplomatischen Dienst der Weimarer Republik, deren „Eliten" der Linken und gegen Professor Hoetzsch deshalb erhoben, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen vertraten?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Dr. Czaja, Kernstück des Veröffentlichungskomplexes in Heft 7/73 war der Aufsatz des polnischen Professors Tomala aus einem Gemeinschaftswerk, in dem die deutsche Position von Professor Jacobsen dargelegt wird. Es lag nahe, die beiden Aufsätze nebeneinanderzustellen, um so mehr, als der Aufsatz von Professor Jacobsen auf dem zur Verfügung stehenden knappen Raum eine nüchterne und abgewogene Darstellung des historischen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen bietet. Daß die wissenschaftliche Diskussion in Einzelfragen unterschiedliche und von der Position von Professor Jacobsen abweichende Ergebnisse zeitigt, ist ganz selbstverständlich.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir die Frage, die gestellt ist, beantworten, warum in dieser „Information für die Truppe" die Ostpolitik der Weimarer Republik, sowohl was den diplomatischen Dienst als auch was — wie es wörtlich in dem Büchlein heißt — „die Eliten der Linken" und Professor Hoetzsch betrifft, irreführend dargestellt ist und warum dieser in Rußland und in den USA hochgeachtete Vater der deutschen Osteuropaforschung, Professor Hoetzsch, der vom Dritten Reich amtsenthoben wurde, in dieser Weise in der Broschüre diqualifiziert wird?
Herr Kollege Dr. Czaja, ich lehne es ab, mich in einen Streit zwischen Wissenschaftlern einzumischen. Die Auseinandersetzungen
müssen die Wissenschaftler selbst führen. Ich denke, Sie meinen die Stelle auf der Seite 44, an der Herr Jacobsen schreibt:
Ein so prominenter Gelehrter und Politiker wie Otto Hoetzsch sprach von der „temporären Feindschaft", solange das Selbstbestimmungsrecht in den von Deutschland an Polen abgetretenen Gebieten noch nicht verwirklicht worden sei.
Ich denke, Sie meinen diese Stelle; ich weiß es aber nicht genau. Ich kann Ihnen nur sagen: Die wissenschaftliche Diskussion ist nicht zu Ende. Es steht Ihnen frei, andere Wissenschaftler zu animieren, sich hierzu zu äußern. Sie können auch einen Leserbrief schreiben, und wir werden sehen, was die Diskussion bringt. Es war Ziel und Zweck, die Diskussion anzuregen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie es nicht für richtig halten, daß das Bundesverteidigungsministerium, das für die Herausgabe dieser Hefte zuständig ist, sich bemühen würde, die Ostpolitik der Weimarer Republik in einer objektiveren Weise in einem der nächsten Hefte festzuhalten — ohne Leserbriefe —, nachdem die in schwerem Ringen um ihre demokratische Selbstachtung und Selbstwahrung befindliche Weimarer Republik gerade unter Leuten, die erheblich verfolgt worden sind, einen Weg gegangen ist, der wenigstens in einer Informationsschrift für die Truppe dargestellt werden muß?
Nach meinen, wenn auch schwachen, geschichtlichen Kenntnissen — —
— Es tut mir leid, Herr Kollege, Sie reden hier nicht mit einem Historiker; Sie reden mit einem Politiker, der von Hause aus Ingenieur ist. Ich kann nicht verstehen, daß Sie Beifall klatschen, wenn ich sage, daß meine Geschichtskenntnisse nicht zureichend sind, um in einer wissenschaftlichen Diskussion bestehen zu können.
Nach meinen, wenn auch schwachen, geschichtlichen Kenntnissen komme ich nicht zu dem Ergebnis, daß hier die Objektivität durch Professor Jacobsen verletzt worden ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes.
Herr Staatssekretär, besteht die Möglichkeit, daß ein neues Heft der „Information für die Truppe" herausgegeben wird, dessen Inhalt eine ergänzende Darstellung des Problems ist, die den Gesichtspunkten, die hier vorgetragen wurden, Rechnung tragen wird? Denn
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Dr. Mertes
Fragen der historischen Objektivität sind immer auch vermischt mit politischen Meinungen.
Ich gehe davon aus, daß die Redaktion dieser Zeitschrift mit Interesse diese Fragestunde verfolgt. So wie ich gestern einem Kollegen meiner Fraktion gesagt habe, daß ich nicht in die Pressefreiheit eingreifen werde, so sage ich Ihnen, daß ich auch hier nicht in die Redaktionsfreiheit eingreife. Ich gehe davon aus, daß man sich Gedanken darüber macht, ob es an der Zeit ist, diese Diskussion zu erweitern. Nur, Herr Kollege Mertes, ich selbst lehne es ab, durch Order oder Weisung so etwas in Gang zu bringen, weil ich davon ausgehe, daß der Vorspann, den ich hier gestern wörtlich zitiert habe, die Soldaten zureichend darauf hinweist, daß es auch andere Quellen gibt, in denen man sorgfältig studieren kann, wie andere Wissenschaftler oder andere Politiker über diese Frage denken.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Historiker, die sich um das deutsch-polnische Verhältnis besonders bemüht haben, in den deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen für sich selber feststellen mußten, daß es mit der Objektivität der Geschichtsschreibung in bezug auf dieses Verhältnis nicht weit her ist und daß jeder Versuch der Ergänzung ebenso mangelnder Objektivität beschuldigt würde, wie das, was in diesen Informationen für die Truppe steht?
Herr Kollege Dr. Sperling, ich kann mich an den Geschichtsunterricht erinnern, den ich in einem Hamburger Gymnasium in der Weimarer Zeit über die polnische Geschichte gehabt habe. Es schmerzt mich noch heute, daß ich ein so unzureichendes Bild von einem Nachbarn bekommen habe, mit dem wir später in schwierige politische und militärische Verwicklungen geraten sind. Das schmerzt mich noch heute, und ich wäre dankbar, wenn eines Tages einmal diese Kommissionen, die jetzt versuchen, die Geschichte aufzuarbeiten, ein Geschichtsbild entwickelten, das wenigstens in den großen Zügen von beiden Nationen angenommen werden kann.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, darf ich mich einmal nicht an den Historiker, sondern an den Politiker wenden? Ist es nicht auffallend, daß so verdienstvolle Politiker der Weimarer Republik wie der preußische Ministerpräsident Otto Braun und der Außenminister Gustav Stresemann in ihrer Haltung zum deutsch-polnischen Verhältnis in dieser Broschüre einfach unterschlagen werden?
Herr Kollege Dr. Hupka, es ist wirklich nicht angemessen, daß ich jetzt hier zu Gustav Stresemann und Otto Braun Stellung nehme, aber gestatten Sie mir bitte, daß ich meine eigene Meinung sage, ohne daß ich die Regierung festlege. Ich glaube, daß auch in der Weimarer Republik nicht immer eine kluge Politik gegenüber Polen betrieben worden ist. Ich schließe nicht aus, daß die polnische Seite auch manches unterlassen oder nicht getan hat, was diese kluge Politik hätte initiieren können. Ich denke nur, daß die Geschichtsforschung in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages uns nicht weiterhilft. Es wird jetzt darauf ankommen, zwischen unseren Völkern ein Verhältnis zu entwikkeln, in dem wir miteinander leben können, weil wir miteinander leben müssen. Ansonsten könnten wir uns nur noch gemeinsam umbringen, und das gilt es zu verhindern.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Warum werden in der „Information für die Truppe 7/73" auf S. 53 Stettin und Breslau im großen Druck mit den polnischen Namen und nur in Kleindruck mit den amtlichen deutschen Ortsbezeichnungen benannt, obwohl alle bisherigen Bundesregierungen und nunmehr in der für alle Staatsorgane verpflichtenden Auslegung des Grundgesetzes auch das Bundesverfassungsgericht von der im Grundgesetz verankerten Fortexistenz des Deutschen Reiches und dein Annexionsverbot sowie von der Verantwortung der Bundesrepublik auch für die Integrität ganz Deutschlands ausgehen?
Herr Kollege Dr. Czaja, die in diesem Zusammenhang abgedruckten Karten sind wegen ihrer besonderen Anschaulichkeit ausgewählt worden.
Zusatzfrage.
Können Sie mir sagen, Herr Staatssekretär, warum diese Karten entgegen den Pflichten, die auf allen Staatsorganen ruhen, nicht die amtlichen deutschen Ortsbezeichnungen enthalten und auch wahrheitswidrig aus dem Jahre 1250 nicht bestehende, sondern extra gezeichnete Karten hauptsächlich polnische Ortsnamen für Breslau und andere Orte enthalten, obwohl bereits damals diese Städte nach deutschem Recht errichtet waren und deutsche Namen trugen?
Herr Dr. Czaja, ich antworte hier noch einmal, indem ich mich wiederhole: Der Streit, ob 1250 Breslau eine polnische oder eine deutsche Stadt war, ist unter den Wissenschaftlern nicht geklärt. Ich will mich in diesen wissenschaftlichen Streit nicht einmischen. Daß der Graphiker bei acht Karten die Systematik einheitlich gestaltet hat, nimmt mich nicht wunder. Ich glaube nicht, daß Sie dahinter ein großes politisches oder historisches
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Parl. Staatssekretär Berkhan
Geheimnis vermuten müssen. Es ist zwar richtig, daß der tschechische Name oben steht, aber „Breslau" steht darunter, beides gut leserlich.
Eine weitere Zusatzfrage.
Abgesehen davon, Herr Staatssekretär, daß es hier nicht einen tschechischen, sondern einen polnischen Namen gibt, möchte ich Sie fragen, ob nicht angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das verbindlich für alle Staatsorgane die Wahrung und Vertretung der Fortexistenz des Deutschen Reiches unter ausdrücklicher Nennung der Rechtsqualität der Grenze vom 31. Dezember 1937 festgelegt hat, die Verantwortung auf allen Staatsorganen ruht, für die Integrität ganz Deutschlands und für die amtlichen Ortsbezeichnungen auch in der für heute veröffentlichten Karte einzutreten. Würden Sie mir das beantworten?
Herr Kollege Dr. Czaja, erst einmal möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie mich auf meinen Versprecher aufmerksam gemacht haben.
Zum anderen kann ich nicht sehen, was diese Karten und die Ortsbezeichnungen mit dem Verfassungsgerichtsurteil zu tun haben. Ich sehe nicht, daß durch Abdruck dieser Karten, die im übrigen einer Zeitschrift entnommen wurden, der Auftrag, für die Rechte einzutreten, verletzt worden wäre.
Ich lasse noch zwei Zusatzfragen zu, eine des Herrn Abgeordneten Wischnewski und eine des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
— Das liegt im Ermessen des amtierenden Präsidenten. Offensichtlich kennt der Herr Zwischenrufer immer noch nicht die Geschäftsordnung.
Bitte!
Herr Staatssekretär, ist Ihr Haus bereit, diese „Information für die Truppe" Nr. 7/73, die drei deutsche Beiträge, zwei polnische Beiträge und einen Schweizer Beitrag enthält und damit in hervorragender Weise ausgewogen ist und den Dialog fördert, allen Mitgliedern des Hauses zur weiteren Diskussion zur Verfügung zu stellen?
Herr Kollege Wischnewski, ich werde nachzählen lassen, ob es bei uns im Archiv noch ausreichend Exemplare gibt. Die Exemplare werden normalerweise an die Truppe ausgeliefert oder an interessierte Schulen versandt.
Wenn wir noch ausreichend Exemplare haben, werde ich dafür sorgen, daß die Kollegen des Hauses je eines erhalten. Wenn das nicht mehr möglich ist, Herr Kollege Wischnewski, werde ich vier oder fünf Exemplare in der Bibliothek einstellen lassen.
Die letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin gesagt, die Karten seien anschaulich. Können Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es nicht so wichtig ist, daß die Karten anschaulich sind, sondern daß es darum geht, daß sie richtig sind? Die angesprochene Karte ist unrichtig, denn Oppeln und Niederschlesien waren im Jahre 1250 kein Bestandteil von Polen.
Herr Kollege Dr. Hupka, ich beziehe mich auf die schon gegebene Antwort. In den wissenschaftlichen Streit will ich mich nicht einmischen. Ich weiß, daß Sie Fachhistoriker sind. Es steht Ihnen frei, in einem Leserbrief eine Richtigstellung zu bringen. Dadurch käme es ja dazu, daß sich diejenigen, die das hineingebracht haben ich weiß gar nicht, ob das die Redaktion war oder der Verfasser des Aufsatzes selbst —, Gedanken darüber machen müssen, ob sie zureichende Dokumente verwendet haben.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung abgeschlossen. Herr Staatssekretär, ich möchte Ihnen für die Beantwortung der Fragen sehr danken.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur Beantwortung der eingereichten Fragen steht Herr Bundesminister Dr. Eppler zur Verfügung.
Ich rufe Frage 2 des Herrn Abgeordneten Dr. Todenhöfer auf:
Treffen Bericht zu, wonach die Bundesregierung Jugoslawien über den bereits gewährten Kredit von 300 Millionen DM hinaus einen weiteren Kapitalhilfekredit von 700 Millionen DM gewähren will?
Bitte, Herr Bundesminister!
Herr Präsident, gestatten Sie bitte, daß ich die Fragen 2 und 3 gemeinsam beantworte.
Der Herr Fragesteller hat dies ausdrücklich abgelehnt. Ich bin der Meinung, Herr Minister, daß Sie die beiden Fragen unter diesen Umständen gesondert behandeln sollten. Bitte!
Selbstverständlich, Herr Kollege. Nachdem in der Regierung der Großen Koalition zwischen dem damaligen Bundeskanzler Kiesinger
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Bundesminister Dr. Eppler
und dem damaligen Außenminister Brandt eine grundsätzliche Übereinkunft getroffen worden war, die Folgen des zweiten Weltkriegs durch eine in die Zukunft gerichtete Kooperation unter Einschluß von Kapitalhilfe zu bereinigen, hat sich der Bundeskanzler bei seinem Besuch in Jugoslawien im April 1973 mit Marschall Tito auf diesen Grundsatz geeinigt.
Eine Zahl wurde bei diesen Gesprächen nicht genannt. Offizielle Verhandlungen haben noch nicht stattgefunden, jedoch haben Vorgespräche ergeben, daß ein Betrag von 700 Millionen DM, verteilt auf hint Jahre, für beide Seiten annehmbar erscheinen könnte.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Minister, warum erwecken Sie den Eindruck, dieser Wiedergutmachungskredit an Jugoslawien beruhe auf einer Zusage des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger, obwohl Sie sich anhand der Protokolle und der Akten im Bundeskanzleramt davon überzeugen könnten, daß dies schlicht und einfach nicht die Wahrheit ist?
Herr Kollege Todenhöfer, ich habe den Vermerk, der über das Gespräch zwischen Kiesinger und Brandt am 9. Juni 1968 von dem inzwischen verstorbenen Staatssekretär Duckwitz gemacht worden ist, gelesen, und ich kenne auch die Summe, die von der Bundesregierung damals bereits in Aussicht gestellt worden ist.
Herr Kollege Todenhöfer, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Minister, sind Sie nicht der Ansicht, daß dieser Kredit an Jugoslawien die Wirkung eines Dammbruchs haben wird und daß andere Länder — wie die Sowjetunion, Polen, die CSSR und weitere — ähnliche Wiedergutmachungsansprüche stellen werden?
Herr Kollege Todenhöfer, Sie wissen genauso gut wie ich, daß Jugoslawien das einzige Land von denen ist, die Sie jetzt genannt haben, das in der OECD-Liste der Entwicklungsländer steht. Dies ist auch der Grund dafür, daß schon in der Großen Koalition ein grundsätzliches Einvernehmen über dieses Thema entstanden ist. Der Dammbruch, den Sie befürchten, könnte nur dann entstehen, wenn es Ihnen gelingen sollte, diese in die Zukunft gerichtete Entwicklungshilfe tatsächlich als Wiedergutmachung darzustellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Minister, auf welcher Ebene wurden die Gespräche bzw. die Verhandlungen bisher geführt?
Über diesen Kredit wurden bisher keine Verhandlungen geführt; andere Verhandlungen mit Jugoslawien hat es natürlich immer gegeben. Es sind Gespräche, informelle Gespräche, gewesen, in die auch der hiesige Botschafter eingeschaltet war.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Köhler.
Da die Gesamtsumme der zur Verfügung stehenden Mittel immerhin begrenzt ist, möchte ich Sie, Herr Minister, fragen, wie man zu der Auffassung kommen kann, die ich als Ihre Äußerung gelesen habe, daß nun ein solcher Kapitalkredit für Jugoslawien in keiner Weise auf Kosten der übrigen Entwicklungsländer gehen sollte.
Herr Kollege Köhler, ich habe diese Bemerkung zuerst im Zusammenhang mit einem anderen Kredit gemacht, über den wir seinerzeit im Ausschuß gesprochen haben. Sie wissen, daß wir für die Entwicklungshilfe eine neue Finanzplanung haben — eine sehr viel großzügigere Finanzplanung als bisher — , in der dieser Kredit untergebracht werden kann. Im übrigen beabsichtigt der Finanzminister, eine Sonderverpflichtungsermächtigung auszubringen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück.
Herr Bundesminister, ist es das erste Mal, daß Jugoslawien zinsgünstige Kredite erhält, oder hat Jugoslawien nicht schon in früheren Jahren, in einer Zeit, als die CDU/CSU die Bundesregierung trug, Kredite zu äußerst günstigen Bedingungen erhalten?
Herr Kollege Brück, die zweite Regierung Adenauer hat im Jahre 1956 an Jugoslawien einen Kredit über 240 Millionen DM zinslos auf 99 Jahre vergeben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Becher.
Herr Bundesminister, hat die Bundesregierung bei der Vergabe dieses Kredits, der also zum Teil als Wiedergutmachungskredit bezeichnet wird, nicht bedacht, daß die 600 000 Deutschen, die aus Jugoslawien vertrieben wurden — 100 000 von ihnen sind bei der Vertreibung ermordert worden —, ein Nationalvermö-
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Dr. Becher
gen in der Höhe von heute 16 Milliarden DM zurückgelassen haben?
Herr Kollege Becher, es ist nicht die Meinung dieser Regierung, daß wir bei einem Versuch der Aufrechnung mit diesem unserem Nachbarn besonders gut abschneiden würden.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Dr. Wolf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, da Sie diesen Kredit als Kapitalhilfekredit der Entwicklungshilfe einstufen, bitte ich Sie, uns einmal zu sagen, in welchem Verhältnis die Leistungen an Jugoslawien zu den Leistungen gegenüber den least developed countries im Jahre 1973 stehen.
Frau Kollegin Wolf, ich habe die gesamten Zahlen für die least developed countries jetzt nicht bei mir. Ich bin gern bereit, Ihnen dies schriftlich mitzuteilen.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wulff.
Herr Minister, halten Sie es denn nicht für zutreffend, daß bei dem relativen Rückgang unserer öffentlichen Entwicklungshilfe durch diese große Hilfe an Jugoslawien die ärmsten Länder dieser Welt benachteiligt werden?
Nein, Herr Kollege Dr. Wulff. Ich habe schon einmal gesagt, die Verpflichtungsermächtigungen, die wir in den letzten Jahren ausgebracht haben, die sich seit 1969 jedes Jahr um 11 % erhöht haben — und auf diesen Verpflichtungsermächtigungen beruht unsere Entwicklungshilfe, denn sie müssen später in jedem Falle abgedeckt werden , haben Jugoslawien nicht eingeschlossen. Diese Verpflichtungsermächtigungen sind also voll für andere Länder verbraucht worden.
Ich rufe die Frage 3 des Herrn Abgeordneten Dr. Todenhöfer auf:
Welchen entwicklungspolitischen Wert mißt die Bundesregierung einem derartigen Kredit bei?
Herr Minister.
Herr Kollege, Jugoslawien zählt zu den Ländern, die vom Entwicklungshilfeausschuß der OECD als Entwicklungsland anerkannt sind. Gemessen am Bruttosozialprodukt pro Kopf, das 1970 — das ist die letzte Zahl, die ich hier sicher habe —rund 650 US-Dollar betrug, liegt es hinter anderen
Entwicklungsländern wie Mexiko, Uruguay, Chile auf einer Stufe mit Gabun und dem Libanon. Es gehört damit zu dem Kreis der Länder, die aus dem Einzelplan 23 Zuschüsse und Kredite zu günstigen Konditionen empfangen können. Wegen seines fortgeschrittenen Entwicklungsstandes erhält Jugoslawien jedoch keine Zuschüsse, sondern lediglich zinsgünstige Kredite, die innerhalb von 30 Jahren wie die anderen auch zurückzuzahlen sind. Die Bundesregierung wird in den kommenden Verhandlungen darauf drängen, daß ein beträchtlicher Teil dieser Mittel projektgebunden vergeben wird. Insgesamt dienen Kredite an Jugoslawien demselben Ziel wie andere Kapitalhilfekredite, dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Menschen in dem jeweiligen Entwicklungsland, also in diesem Falle in Jugoslawien. Die Bundesregierung wird bei den Verhandlungen mit Jugoslawien darauf drängen, daß der Schaffung von Arbeitsplätzen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Dies entspricht der entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesregierung im allgemeinen ebenso wie den Bedürfnissen eines Landes, aus dem, wie Sie wissen, jeder fünfte Gastarbeiter in der Bundesrepublik kommt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Todenhöfer.
Herr Minister, ich möchte hier nicht darauf eingehen, daß Sie am Mittwoch vor vielen Journalisten gesagt haben, dies sei ein Stück Wiedergutmachung — so wörtlich und sich damit selbst widersprechen. Ich möchte Sie vielmehr fragen: Wie rechtfertigen Sie es, daß die sechs Sahel-Länder, die von einer verheerenden Hunger- und Dürrekatastrophe bedroht sind, und Äthiopien nur einen Bruchteil dessen bekommen, was Jugoslawien von Ihnen an Entwicklungshilfe bekommt?
Es ist nicht richtig, Herr Kollege Todenhöfer, daß für das Jahr 1974 — und nur darum kann es hier gehen — die Sahel-Länder zusammengenommen weniger bekämen, als für Jugoslawien vorgesehen ist. Dies können Sie an den Planungen feststellen.
Ich darf aber noch, obwohl dies keine Frage war, auf Ihre ursprüngliche Bemerkung eingehen: Erstens habe ich das so nicht gesagt, und zweitens bitte ich Sie, bei der Entwicklungshilfe zwischen dem Ziel einer Entwicklungshilfe und den Motiven einer Entwicklungshilfe zu unterscheiden. Ziel einer Entwicklungshilfe ist immer der wirtschaftliche und soziale Fortschritt im jeweiligen Land. Die Motive waren immer sehr verschieden. Wir haben z. B. nie behauptet, daß die Entwicklungshilfe, die zu Zeiten der CDU-Regierungen aus Gründen der HallsteinDoktrin vergeben worden sind, keine Entwicklungshilfe gewesen wären.
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Einen Augenblick, Herr Kollege Werner, zunächst hat der Herr Kollege Dr. Todenhöfer noch das Recht auf eine weitere Zusatzfrage. — Sie wollen auf eine weitere Zusatzfrage verzichten? — Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Kollegen Werner.
Herr Minister, wie können Sie uns den Widerspruch zwischen Ihrer früheren Aussage, daß Sie wenig Verständnis dafür hätten, daß etwa Reparationen an Israel im Rahmen der Entwicklungshilfe abgewickelt worden seien, und diesem Kapitalhilfeangebot an Jugoslawien erklären, hinter dem offensichtlich erneut andere Absichten stehen und das wiederum über Ihren Etat, den Einzelplan 23, abgewickelt wird?
Kollege Werner, Sie haben vielleicht bemerkt, daß ich dieses Thema von mir aus hier nicht angesprochen habe. Nachdem Sie es aber getan haben, muß ich sagen, wie das war. Ich habe erklärt, daß eine Partei, die die Verantwortung dafür trägt, daß seit 1962 zuerst geheim und dann offen im Einzelplan 23 eine wesentlich höhere Summe insgesamt für Israel ausgebracht wurde, als sie jetzt für Jugoslowien vorgesehen ist, keinen Grund hat, im Augenblick über Entfremdung von Entwicklungshilfe zu lamentieren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Köhler.
Herr Minister, einer der erklärten Schwerpunkte der deutschen Entwicklungshilfepolitik ist ja die Hilfe für die „least developed countries". So ist es auch im Entwicklungsbericht für 1972 ausgewiesen.
Wie kann diese Zielsetzung angesichts der Jugoslawien-Kredite weiter durchgehalten werden?
Herr Kollege, der Finanzminister wird eine Sonderverpflichtungsermächtigung ausbringen. In der Rahmenplanung, die wir — völlig unabhängig vom Jugoslawien-Kredit — für 1974 z. B. schon gemacht haben, ist allein für die Sahel-Länder einschließlich Äthiopiens wesentlich mehr enthalten als für Jugoslawien. Es ist vorgesehen, daß diese Rahmenplanung durch den JugoslawienKredit nicht tangiert wird. Deshalb die Sonderverpflichtungsermächtigung.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling!
Herr Minister, können Sie mich darüber aufklären, ob die verehrten Kollegen
von der Opposition gegen die Kreditgewährung an Jugoslawien sind, weil sie gegen Jugoslawien sind, ober ob sie die Kreditgewährung befürworten, obwohl sie gegen Jugoslawien sind?
Herr Abgeordneter Sperling, diese Zusatzfrage ist nach den Richtlinien für die Fragestunde nicht zulässig.
Ich rufe die nächste Zusatzfrage — des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja — auf.
Herr Minister, nachdem Sie vorher in unpräziser Weise auf einen Vermerk von Herrn Duckwitz über ein Gespräch von Herrn Brandt mit Herrn Kiesinger Bezug genommen haben, frage ich Sie im Zusammenhang mit dieser Frage, ob sich aus diesem Vermerk ergibt, daß auch damals eine Bereitstellung aus Entwicklungshilfemitteln in Aussicht genommen war, und ob es zutrifft, daß die jetzt genannten Summen, wie Sie vorher ausführten, in diesem Vermerk enthalten sind.
Auf Grund des damaligen Vermerks hat es in der Regierung der Großen Koalition zwischen den zuständigen Ressorts Gespräche gegeben, in denen bereits eine Kapitalhilfesumme genannt wurde. Die Jugoslawen haben uns dann vor der Bundstagswahl 1969, also noch zur Regierungszeit der Großen Koalition, mitgeteilt, daß sie damit nicht einverstanden seien, sondern eine andere Summe für richtig hielten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Minister, teilen Sie meine Meinung, daß das Problem Israel mit dem Problem Jugoslawien überhaupt nicht vergleichbar ist?
Verehrter Herr Kollege Josten, erstens habe ich das Thema in diesem Hause nicht aufgebracht. Zweitens ist das Tertium comparationis dies, daß in beiden Fällen versucht werden sollte, ein Problem, das aus der Vergangenheit, und zwar nicht nur aus der Vergangenheit einer Partei, sondern aus der Vergangenheit dieses Volkes, übrig war, durch eine in die Zukunft gerichtete Kooperation zu erledigen. Das ist das Tertium comparationis.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wehner.
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Herr Bundesminister, ist bei Gelegenheit des von der zweiten Regierung Adenauer gewährten zinslosen Kredits auf 99 Jahre seitens der Regierung bzw. der Koalition oder der Opposition von Wiedergutmachung oder von Entwicklungshilfe oder überhaupt wovon gesprochen worden?
Herr Kollege Wehner, damals ist dieses Thema genausowenig wie das Thema Israel von der damaligen Opposition hochgespielt worden, weil sich die damalige Opposition im klaren darüber war, daß es sich um die Folgen unserer gemeinsamen Geschichte handelt.
Ich rufe die nächste Frage — des Herrn Abgeordneten Dr. Köhler — auf, Frage 88:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Anteil deutscher Consultants an von der Weltbank finanzierten Projekten, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das deutsche Beratungswesen bei der Herstellung engerer Kontakte zur Weltbank zu beteiligen?
Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege Köhler, der Anteil deutscher Consulting-Firmen an Aufträgen, die von der Weltbank selbst oder im Zusammenhang mit von der Weltbank finanzierten Projekten vergeben werden, ist mit 2,03 % im Jahre 1972/73 gering. Zum Vergleich: der Anteil der USA 40 %, Großbritanniens 20 %, Frankreichs 7,8 %. Dies beruht vor allem darauf, daß in der Vergangenheit den deutschen Consulting-Firmen die notwendige internationale Erfahrung, insbesondere auch Erfahrung in Entwicklungsländern, fehlte, so daß die Firmen erst relativ spät für Weltbankaufträge eingesetzt wurden. Hinzu kam, daß vor allem in den ehemaligen Kolonialländern die englischen, französischen und holländischen Firmen bei den jeweiligen Projektträgern wesentlich besser bekannt und eingeführt waren.
Ein wesentlicher Nachteil war schließlich der Umstand, daß viele deutsche Beratungsfirmen nicht den von der Weltbank gewünschten umfassenden Service — außer technischen Leistungen auch Wirtschafts- und Managementberatung — anzubieten vermochten. In letzter Zeit verzeichnen die deutschen Consultants eine verstärkte Berücksichtigung. Gut eingeführte deutsche Consulting-Firmen werden kontinuierlich beschäftigt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Minister, können Sie mir versichern, daß von den zuständigen Stellen, vor allem von der Bundesstelle für Außenhandelsinformation, in diesen Beteiligungsfragen den deutschen Firmen wirklich ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt werden?
Verehrter Herr Kollege, das ist eigentlich der Inhalt der Antwort auf Ihre zweite Frage.
Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich das jetzt tun.
Herr Minister, Sie überraschen uns gemeinsam. Auch ich finde unter den Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich nur noch die Frage, in der alles enthalten ist, und das ist die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Köhler.
Entschuldigung, ich habe hier zwei Fragen, und die zweite lautet:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das deutsche Beratungswesen bei der Herstellung engerer Kontakte zur Weltbank zu beteiligen?
Auf diese zweite Frage beziehe ich mich. Die Zusatzfrage ist im Grunde bereits ein Teil der zweiten Frage gewesen.
Ja, sie sind in einer Frage zusammengefaßt worden.
Es tut mir leid; ich bin hier anders informiert worden.
Herr Kollege, der deutsche Exekutivdirektor bemüht sich, deutsche Beratungsfirmen bei der Weltbank stärker ins Geschäft zu bringen. Dies geschieht durch mündliche und schriftliche Beratung sowie vor allem durch die Vermittlung von Kontakten zu den zuständigen Stellen der Weltbank. Nicht zuletzt den Bemühungen des deutschen Exekutivdirektors um eine frühere und verbesserte Unterrichtung über zu- künftige Weltbankprojekte, die Consultant-Leistungen erforderlich machen, ist es zu verdanken, daß die „Monthly Operational Summaries" von der Geschäftsleitung der Weltbank für eine Versendung an interessierte Industrie- und Beratungsfirmen freigegeben werden.
Die Bundesstelle für Außenhandelsinformation unterrichtet die deutsche Wirtschaft durch Übersendung dieser „Monthly Summaries" an die interessierten Verbände, um sie bereits vom Antragsstadium an auf Einsatzmöglichkeiten hinzuweisen. Angaben über einzelne Projekte übersendet ebenfalls die Bundesstelle für Außenhandelsinformation demselben Empfängerkreis.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4157
Herr Abgeordneter Dr. Köhler, haben Sie jetzt noch eine Zusatzfrage?
Ich hätte gern eine Zusatzfrage gestellt, Herr Präsident.
Ich gebe sie Ihnen noch nach diesem Irrtum. Bitte!
Herr Minister, ich frage Sie, ob Sie auch der Auffassung sind, daß deutsche Consulting-Firmen im Rahmen der Tätigkeit des im Aufbau befindlichen Instituts für Entwicklungsländertechnologie beteiligt werden können.
Ich glaube, daß das Technologieinstitut zuerst einmal als eigenständiges Institut aufgebaut werden muß. Selbstverständlich kann es dann mit Consulting-Firmen zusammenarbeiten.
Herr Bundesminister, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Moersch zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, ich rufe die erste Frage — Frage 142 des Herrn Abgeordneten Dr. Franz — auf :
Treffen Pressemeldungen zu, die Bundesregierung beabsichtige, Polen einen ungebundenen Kredit von einer Milliarde DM zu einem Zinssatz von 3 % anzubieten, nachdem Polen mit einem Zinssatz von 4 % nicht einverstanden gewesen sei, und wie hoch würden die Beträge sein, die nach Polen zu überweisen wären, wenn Sozialversicherungsleistungen an weiter unter politischer Herrschaft lebende Deutsche ermöglicht würden?
Herr Abgeordneter, die Pressemeldungen treffen in dieser Form nicht zu. Es ist nicht vorgesehen, Polen einen Zinssatz von 3 % anzubieten. Die Beträge, die nach Polen zu überweisen wären, wenn Sozialversicherungsleistungen an weiter unter polnischer Herrschaft lebende Deutsche ermöglicht würden, können zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht annähernd geschätzt werden.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 143 des Herrn Abgeordneten Dr. Franz auf:
Treffen Pressemeldungen zu, die amerikanische Regierung habe wegen deutscher Lieferungen von Funkgeräten an Libyen und Syrien interveniert, und ist, falls die Meldungen zutreffen und die Lieferungen tatsächlich erfolgt sind, mit einer neuerlichen Belastung der deutsch-amerikanischen Beziehungen zu rechnen?
Herr Abgeordneter, Pressemeldungen in der zitierten Form sind unrichtig. Die
amerikanische Regierung hat vielmehr in einer Intervention vorgebracht, eine deutsche Firma habe ohne Genehmigung amerikanische Funksprechgeräte nachgebaut. Die Bundesregierung hat sich an das fragliche Unternehmen gewandt und dieses zu einer Stellungnahme aufgefordert. Diese Stellungnahme wird in Kürze erwartet und der US-amerikanischen Regierung übermittelt werden. Eine Belastung der deutsch-amerikanischen Beziehungen wird durch die Angelegenheit nicht erwartet.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 144 des Herrn Abgeordneten Thürk auf:
Ist die Bundesregierung bereit, ihren Einfluß in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere im Ministerrat, dahin geltend zu machen, daß der Antrag der Regierung von Ägypten, ihrem Land 451 000 Tonnen Weizen schenkweise zu überlassen, mindestens so lange zurückgestellt und ihm nicht entsprochen wird, bis Ägypten sich offenkundig und erfolgreich für die Aufhebung des Ölboykotts auch der Lieferungsbeschränkungen der arabischen Staaten gegenüber den Ländern der EG, insbesondere aber der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt hat, weil die Gefährdung der wärmemäßigen Versorgung der deutschen Bevölkerung nicht weniger ein humanitäres Problem ist als die Gefährdung der ernährungsmäßigen Versorgung Ägyptens?
Bitte, Herr Staatssekretär Apel!
Herr Kollege, die Europäische Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahren im Rahmen ihrer vertraglichen Verpflichtungen aus dem Nahrungshilfeübereinkommen Ägypten regelmäßig Nahrungsmittelhilfe gewährt. Die Regierung Ägyptens hat auch für das Jahr 1973/74 — es ist das dritte Lieferjahr im Rahmen des Nahrungshilfeübereinkommens — einen Antrag auf Nahrungsmittelhilfe gestellt. Im einzelnen erbittet Ägypten 300 000t Weizen, 100 000 t Weizenmehl, 6 000 t Milchpulver, 4 000 t Butteröl und 2 000 t Butter. Die ägyptische Regierung begründet diesen Antrag damit, daß sie 1,5 bis 2 Millionen Flüchtlinge aus der Kanalzone zusätzlich hat aufnehmen müssen.
Wir werden in Brüssel erst Mitte Dezember über diesen Antrag beraten, zugleich über die Anträge einer Reihe anderer notleidender Länder. Wir werden uns bei der Entscheidung über diese Frage von humanitären Gesichtspunkten leiten lassen, aber natürlich auch die politische Situation mit einfließen lassen. Herr Kollege, ich halte es aber nicht für angemessen, jetzt öffentlich im einzelnen über diese Frage zu debattieren oder hier Vorentscheidungen zu treffen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, ich respektiere das, was Sie zuletzt gesagt haben, wenn wir darüber möglicherweise noch eine weitere Korrespondenz führen können und Sie dann darüber Aufklärung geben. Ist es richtig, daß in den vergangenen Jahren, mindestens aber im vergangenen Jahr, ein ähnlicher Antrag von Ägypten, den Sie selbst auch erwähnt haben, nur zu einem Teil positiv beschieden worden ist, und zwar unter Hinweis
4158 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Thürk
darauf, daß Ägypten in der Lage sei, statt einer kostenlosen Annahme die gelieferten Waren zu bezahlen; diese Bezahlung wurde später von Ägypten auch für den Rest der Sendung vorgenommen, woraus sich ergibt, daß Ägypten durchaus in der Lage war, solche finanziellen Leistungen zu erbringen?
Herr Kollege, wenn ich Ihre Frage richtig begriffen habe — jetzt wollen Sie der Sache ja einen anderen Dreh geben —, wollen Sie den Zusammenhang zwischen den aktuellen Nahostproblemen, den Mineralölproblemen auf der einen Seite und der Nahrungshilfe auf der anderen Seite herstellen. Ich habe Ihnen dazu gesagt, daß ich nicht bereit bin, darüber öffentlich zu reden, um so mehr als wir am Montag und Dienstag in einer vertraulichen Sitzung der Außenminister, über deren Inhalt auch nichts mitgeteilt wurde, das ganze Problem sehr detailliert behandelt haben. Ich möchte es dabei belassen, wobei ich erneut unterstreiche: Humanitäre Fragen sollten nur sehr bedingt und sehr vorsichtig mit Außenpolitik vermischt werden.
Eine weitere Zusatzfrage. Ich bitte aber um Verständnis, wenn ich darauf hinweise, daß die Fragen knapp und klar sein müssen, damit sie auch wirklich sachgerecht beantwortet werden können.
Stimmen Sie mir wenigstens darin zu — dies ist bereits in meiner Anfrage zum Ausdruck gekommen, bis jetzt haben Sie darauf aber noch keine Antwort gegeben —, daß die wärmemäßige Versorgung der deutschen Bevölkerung genauso eine humanitäre Frage ist und bei Ihren Verhandlungen somit berücksichtigt werden muß?
Herr Kollege, ich kann Ihnen versichern, daß das ganze Problem als eine Einheit gesehen wird und daß wir in den Verhandlungen mit aller Delikatesse sicherzustellen versuchen werden, daß alle Interessen gleichmäßig und gleichwertig berücksichtigt werden. Natürlich haben wir auch Probleme. Dies sagen wir unseren arabischen Gesprächspartnern permanent in der geeigneten Weise.
Ich rufe die Frage 145 der Abgeordneten Frau Pieser auf:
Seit wann werden Urteile des Bundesverfassungsgerichts im ,.Bundesanzeiger" veröffentlicht, und hat die Bundesregierung nicht bereits bei Verkündung des Urteils am 31. Juli 1973 in Übereinstimmung mit dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht den Wortlaut des Urteils erhalten, so daß es ein Leichtes gewesen wäre, im Laufe des Monats August 1973 im „Bulletin der Bundesregierung" das Urteil ebenso abzudrucken wie dort auch der Wortlaut des Grundvertrags abgedruckt worden war?
Herr Staatssekretär Moersch!
Frau Abgeordnete, Urteile des Bundesverfassungsgerichts werden nicht im Bundesanzeiger veröffentlicht. Nach § 31 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wird die Entscheidungsformel vielmehr durch den Bundesminister der Justiz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Wenn ich in meiner Zusatzantwort am 19. Oktober zu dieser Verwechslung von Bundesanzeiger und Bundesgesetzblatt beigetragen haben sollte, bitte ich um Entschuldigung. Ich könnte mir denken, daß Ihre Frage auf dieser Zusatzantwort beruht. Dies war ein Mißverständnis von mir.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf den Antrag der bayerischen Staatsregierung zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 ist demgemäß in einer Bekanntmachung vom 14. August 1973 durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt 1973 Teil I Nr. 70, herausgegeben am 30. August 1973, veröffentlicht worden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die deutsche Öffentlichkeit an einer Veröffentlichung gerade dieses Urteils großes Interesse hat, und hätte die Bundesregierung nicht die Möglichkeit wahrnehmen sollen eventuell unter Inanspruchnahme von Mitteln aus der Position 531 01 des Einzelplans 27, die unter dem Titel „Herstellung, Erwerb und Verbreitung von Publikationen gesamtdeutschen Charakters" läuft —, diesem Informationsbedürfnis durch eine solche Veröffentlichung Rechnung zu tragen?
Frau Abgeordnete, soweit mir bekannt ist, hat der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen seinerseits eine Veröffentlichung vorgenommen. Ich glaube, wir haben hier in der Fragestunde davon gesprochen. Aber ich darf auf die Frage noch einmal im Zusammenhang mit der Beantwortung Ihrer zweiten Frage zurückkommen.
Vizepräsident Dr. 'Schmitt-Vockenhausen: Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 146 der Abgeordneten Frau Pieser auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß mit Ausnahme des „Bayernkuriers" das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 in keiner deutschen Zeitung im Wortlaut veröffentlicht wurde, so daß die deutschen Auslandsvertretungen kaum Gelegenheit hatten, den Wortlaut der Entscheidung kennenzulernen?
Herr Staatssekretär!
Frau Abgeordnete, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist einschließlich der Gründe in der „Neuen Juristischen Wochenschrift" vom 28. August 1973, Heft 35, veröffentlicht worden. Die „Neue Juristische Wochenschrift" geht regelmäßig etwa 100 Auslandsvertretungen zu. Das ist ein Tatbestand, der mir bei der letzten Fragestunde im Zusammenhang mit diesem Thema nicht bewußt gewesen ist; das mußte ich auch erst recherchieren.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4159
Parl. Staatssekretär Moersch
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß die wesentlichen Teile der Urteilsgründe in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in der „Süddeutschen Zeitung" und in den „Stuttgarter Nachrichten" veröffentlicht worden sind. Unbeschadet dessen wird das Urteil allen Auslandsvertretungen in vollem Wortlaut noch einmal zugehen, sobald es in der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts vom Gericht selbst publiziert sein wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Zu welchem Termin ist mit dieser genannten Veröffentlichung zu rechnen?
Frau Abgeordnete, die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Sie kann vielleicht vom Bundesminister der Justiz beantwortet werden. Ich bin aber gern bereit, Ihnen die Antwort schriftlich nachzureichen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, da abweichend vom Zivil- und Prozeßrecht das Urteil amtlich mit den Gründen verkündet worden ist, nachdem es der Bundesregierung in vollem Wortlaut zugegangen ist und es daher nicht noch irgendeines Abdrucks bedarf, frage ich Sie, warum die tragenden Gründe, die im Bundesgesetzblatt nicht bekanntgemacht sind, die aber Gesetzeskraft haben und
verbindlich sind — auch nach dem Tenor des Urteils —, im Bulletin der Bundesregierung nicht abgedruckt worden sind.
Herr Abgeordneter Dr. Czaja, diese Zusatzfrage steht nicht in dem erforderlichen unmittelbaren Zusammenhang mit der Hauptfrage.
Daher lasse ich die Zusatzfrage nicht zu.
Ich rufe die Frage 147 des Abgeordneten Dr. Lenz auf:
Warum wurde von der Praxis des Auswärtigen Amts, wie sie sich in der Weisung vom 19. Mai 1972 konkretisiert, in bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgewichen, obwohl nach dem Grundgesetz dem Urteil staats- und völkerrechtlich eine noch größere Bedeutung zukommt als einer politischen Entschließung des Deutschen Bundestages?
Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, zur Sache selbst darf ich folgendes darstellen. In den interfraktionellen Gesprächen, die zu der Entschließung des Bundestages vom 17. Mai 1972 führten, war seinerzeit vereinbart worden, alle Länder, mit denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhält, vom Inhalt der Entschließung auf ,diplomatischem Wege in geeigneter Form zu unterrichten. Ein solches Vorgehen war angebracht, weil die Entschließung als ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland von völkerrechtlichem Rang der sowjetischen und der polnischen Seite noch vor Inkrafttreten der Verträge von Moskau und Warschau offiziell mitgeteilt worden war.
Anders als bei diesem auf den zwischenstaatlichen Bereich gerichteten, primär politischen Vorgang handelt es sich bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundvertrag um einen nach innen gerichteten Urteilsspruch zur Verfassungsmäßigkeit eines Vertrages.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Dr. Lenz.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Bundesregierung ebenso wie alle anderen Staatsorgane nach dem Grundgesetz an die Verfassung und das Recht gebunden ist und daß dieses Urteil zum Recht im Sinne dieser Verfassungsvorschrift gehört und deswegen, weil es sich auf einen außenpolitisch wichtigen Tatbestand bezog, den deutschen Auslandsvertretungen so komplex wie möglich hätte mitgeteilt und den Weisungen entsprechend berücksichtigt werden müssen?
Herr Abgeordneter, die Weisungen sind selbstverständlich gegeben worden. Ich habe eben auf die Frage der Frau Kollegin Pieser mitgeteilt, daß das Urteil sofort nach seinem Erscheinen in der „Neuen Juristischen Wochenschrift" in 100 Exemplaren an die Auslandsvertretungen gegangen ist und daß es, wenn das Verfassungsgericht die Publikation selber vorgenommen hat, an alle Auslandsvertretungen gehen wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe das wohl gehört. Deswegen darf ich noch einmal die Frage an Sie richten: Wenn Sie dieser Auffassung sind, was ich nicht bestreite, warum machen Sie dann einen solchen Unterschied zwischen der völkerrechtlich verbindlichen Entschließung und der angeblich nur innerstaatlichen Wirkung des Urteilsspruchs?
Herr Abgeordneter, wir haben hier am 19. Oktober glaube ich, ausführlich dargelegt, wo die Probleme liegen. Ich habe das auch in der Antwort, die ich Ihnen eben gegeben habe, selber dargestellt. Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Weil es sich bei der Entschließung um eine Absprache unter den Fraktionen und mit den Vertretern anderer Mächte und um eine Zustellung an diese gehandelt hat, war dies in der Tat ein ungewöhnlicher Fall.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wehner.
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Herr Parlamentarischer Staatssekretär, da von Weisungen die Rede ist: Irre ich mich, wenn ich davon ausgehe, daß allein der Tenor des Urteils verbindlich ist und nicht die Begründung?
Herr Abgeordneter, in diesem Falle hat das Verfassungsgericht selber erklärt, daß die tragenden Gründe die gleiche Verbindlichkeit hätten wie der Urteilsspruch selbst.
— Moment! — Ich will aber hinzufügen, daß von sehr angesehenen Juristen durchaus die Frage gestellt und auch in der Wissenschaft diskutiert wird, ob das Verfassungsgericht nach dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht in der Lage gewesen sei, diese Feststellungen zu treffen.
— Diese Gutachten gibt es, und die Wissenschaft befindet sich in der Diskussion darüber.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die Frage des Kollegen Lenz vorhin wieder nicht beantwortet haben, möchte ich Sie fragen: Wie vereinbaren Sie Ihre Aussage, daß dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur nach innen gerichtete Wirkung habe, mit der Tatsache, daß das Verfassungsgericht ausdrücklich erklärt hat, daß der Grundlagenvertrag nur in der in diesem Urteil aufgeführten Auslegung Geltung besitze und der Wegfall dieser Geltung natürlich auch einen bedeutenden außenpolitischen Tatbestand bilden würde?
Einen Augenblick, Herr Staatssekretär. — Ich möchte allgemein folgendes sagen, Herr Abgeordneter Jäger. Ich bitte dringend, daß, wer eine Zusatzfrage stellt, diese nicht mit der Wertung verbindet: „Da Sie die Fragen des Herrn Abgeordneten nicht beantwortet haben." Sie haben Zusatzfragen zu stellen. Ich werde darauf achten.
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, ich habe mich bemüht, die Unterschiedlichkeit der beiden Vorgänge hier darzustellen. Ich darf mich darauf beziehen und auf das, was ich bereits am 19. Oktober in der Fragestunde hierzu ausgeführt habe.
Ich rufe die nächste Frage auf, die Frage 148 des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es nach dein Grundgesetz zwar verschiedene Verfassungsorgane gibt, die Wahrung der grundgesetzlichen Ordnung aber ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht anvertraut ist?
Die Bundesregierung ist sich der Rolle des Bundesverfassungsgerichts bewußt, die ausschließlich in der Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen liegt.
Keine Zusatzfragen. — Ich rufe die Frage 149 des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes auf:
Welche Gründe haben die Bundesregierung veranlaßt, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 über die Vereinbarkeit des innerdeutschen Grundvertrags mit dem Grundgesetz, das mit seinen tragenden Gründen Gesetzeskraft besitzt, in ihren diplomatischen Beziehungen anders zu behandeln als die Entschließung des Deutschen Bundestags vom 17. Mai 1972, die nach Auskunft des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Auswärtigen in der Fragestunde vom 19. Oktober 1973 den deutschen Auslandsvertretungen mit der Weisung übersandt wurde, „die Außenministerien der Gastländer unter Übergabe eines Textes mit einer im Auswärtigen Amt gefertigten englischen, französischen und spanischen Übersetzung über diesen wichtigen Vorgang zu unterrichten."?
Herr Präsident, es handelt sich um die gleiche Antwort, die ich auf die Frage 147 des Herrn Abgeordneten Lenz gegeben habe. Ich darf auf diese Antwort verweisen.
Trotzdem hat der Herr Kollege ebenfalls zwei Zusatzfragen. Ich frage deshalb ausdrücklich, Herr Kollege, ob Sie von Ihrem Recht Gebrauch machen wollen.
Ja.
Bitte.
Herr Staatssekretär, gibt es nicht Gründe, die es nahelegen, daß der Inhalt der Gemeinsamen Entschließung und der Inhalt des Bundesverfassungsgerichtsurteils als die maßgebenden Elemente unserer Interpretation der Gesamtheit der Ostverträge anzusehen sind und daß deshalb hier ein paralleles Interesse der Notifizierung bestanden hat?
Herr Abgeordneter, die Notifizierung als solche, daß nämlich Parlamentsresolutionen ausländischen Staaten zur Kenntnis gebracht werden, ist in der Staatenpraxis ein ungewöhnlicher Vorgang. Ich habe in der Antwort, die ich dem Kollegen Dr. Lenz gegeben habe und die ich gern noch einmal vorlese, die nämlich die gleiche ist, die auch Sie zu erwarten hatten, darauf hingewiesen, daß auf Grund einer Absprache interfraktioneller Art und der Gespräche, die mit Vertretern einer ausländischen Macht hier stattgefunden haben, dieser Weg bei dieser Resolution gewählt worden ist.
Herr Staatssekretär, dennoch: Teilen Sie nicht meine Auffasfung, daß auch im Falle des Grundvertrages und der Notwendigkeit einer klaren Interpretation außerordentliche Gründe vorgelegen haben, die die Noti-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4161
Dr. Mertes
fizierung an die Staaten, mit denen wir Beziehungen haben, nahegelegt hätten?
Nein, Herr Abgeordneter. Ich habe hier schon dargelegt, daß die Weisung an unsere Vertretungen, die übrigens in diesem Fall überflüssig ist, weil die Beamten durchaus wissen, was ihre Pflicht ist, nämlich dieses Urteil zu berücksichtigen, noch zusätzlich gegeben worden ist und daß die Interpretation unserer Politik zu keinerlei Fragen in dieser Richtung Anlaß gibt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bei der Beantwortung der Frage, bei der Sie auf das verwiesen haben, was Sie Herrn Lenz geantwortet haben, bezüglich der Außenwirkung entgangen, daß das Bundesverfassungsgericht diese Außenwirkung mit bindender Wirkung in den tragenden Gründen unter VI.3 festgestellt hat und daß es diese Außenwirkung sowohl auf das Völkergewohnheitsrecht als •auch auf Art. 46 der Wiener Vertragsrechtskonvention gründet?
Herr Abgeordneter, mir ist das keineswegs entgangen, sondern ich stelle hier noch einmal fest, damit gar kein Zweifel besteht: Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind, soweit sie Gesetzeskraft haben, für die Bundesregierung bindend. Aber Urteile des Bundesverfassungsgerichts können niemanden in der Welt sonst binden.
Ich rufe die Frage 150 des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes auf.
Ist es — wie durch das Auswärtige Amt mit Weisung vom 19. Mai 1972 geschehen - in der Praxis der Staatengemeinschaft üblich, politische Entschließungen von Parlamenten, die in der Regel Verfassungsorgane sind, den Staaten, mit denen diplomatische Beziehungen bestehen, zur Kenntnis zu bringen, obwohl nicht auszuschließen ist, daß damit das Parlament selbst „zum Gegenstand internationaler Kontroversen und Angriffe wird"?
Herr Abgeordneter, ich glaube, Sie haben diese Frage noch einmal mündlich gestellt.
Im Grunde ist diese Frage bereits durch Ihre mündliche Zusatzfrage gestellt.
Es ist in der Staatenpraxis ein ungewöhnlicher Vorgang, Parlamentsresolutionen ausländischen Staaten zur Kenntnis zu bringen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 151 des Herrn Abgeordneten Schirmer auf:
Seit wann ist der Bundesregierung bekannt, daß große Teile der Bevölkerung in Äthiopien nicht lebensnotwendig versorgt sind , und welche Versuche und Maßnahmen hat sie zur Linderung der Not angeboten, realisiert und künftig vorgesehen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist seit Mitte September 1973 über die Hungersnot in einigen Provinzen Äthiopiens unterrichtet. Noch im Oktober hat die Bundesregierung mit Hilfsmaßnahmen begonnen und zunächst Fahrzeuge und dann Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Für den Transport privater Spendengüter aus Deutschland, insbesondere aus der sehr eindrucksvollen „Stern"-Spendenaktion, nach Äthiopien wurde eine Luftbrücke eingerichtet. Die Hilfe wird auch 1974 fortgesetzt. Langfristige Maßnahmen werden zur Zeit im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geprüft.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Bundesregierung bisher Leistungen im Werte von etwa 9 Millionen DM erbracht hat. Dieser Betrag wird sich noch erhöhen. Die Bundesrepublik steht damit mit Abstand an der Spitze der hilfeleistenden Länder.
Herr Kollege, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß bei der Bundesregierung inzwischen ein Katastrophenstab eingerichtet ist, der sichern soll, daß unsere Hilfen schwerpunktmäßig besonders in die beiden von Ihnen genannten Provinzen geleistet werden und daß eine Koordination zwischen der öffentlichen Hilfe und den Hilfsmaßnahmen der privaten Organisationen erreicht wird?
Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich jetzt nicht präzise darauf antworten kann. Ich ersehe aber aus meinen Unterlagen, daß tatsächlich ein solcher Katastrophenstab zur Koordinierung beim Bundesminister des Innern eingerichtet worden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schirmer, wollen Sie hier noch eine zweite Zusatzfrage stellen, oder wollen Sie zunächst einmal die Beantwortung der nächsten Frage abwarten?
Nein, ich möchte hierzu eine zweite Zusatzfrage stellen.
Bitte, Herr Kollege!
Herr Staatssekretär, angesichts des Ausmaßes und der erkennbar anhaltenden Dauer der katastrophalen Zustände in Äthiopien frage ich Sie: Ist von Ihnen vorgesehen, in Zusammenarbeit mit all den sich privat beteiligenden Organisationen und Personen auch im folgenden
4162 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Schirmer
Jahr solche Hilfsmaßnahmen fortzusetzen? Ist anzunehmen, daß dafür von der Bundesregierung im Haushaltsplan 1974 entsprechende Mittel veranschlagt werden?
Herr Abgeordneter, die Haushaltspläne enthalten in jedem Jahr eine Global-summe für Notmaßnahmen dieser Art. Es ist bisherige Praxis, daß in besonderen Fällen durch überplanmäßige Bewilligung durch den Finanzminister zusätzlich Hilfe geleistet werden kann. Das kommt etwa in Jahren mit großen Überschwemmungskatastrophen vor, z. B. damals in Rumänien und anderswo. Dies ist ganz unvermeidbar. Wir sind trotz der oft limitierten Haushaltsansätze durchaus flexibel, weil man solche Katastrophenjahre nicht in jedem Fall mit dem Haushaltsplan in Übereinstimmung bringen kann. Sie dürfen davon ausgehen: Wenn sich die Notwendigkeit herausstellt, flexibel zu verfahren, wird das ganz sicherlich in diesem Fall geschehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Köhler.
Herr Staatssekretär, die Situation in einigen Provinzen Äthiopiens steht ja in einem Gesamtzusammenhang mit der gesamten Sahel-Situation. Nun fehlt uns seit geraumer Zeit noch ein Bindeglied in der Kette des Gesamtüberblicks. Deshalb frage ich: Liegen Ihnen inzwischen Meldungen über die Situation im Sudan vor?
Ich kann den neuesten Stand über den Sudan jetzt nicht berichten. Ich war selbst vor einigen Monaten in diesem Gebiet und hatte dort den Eindruck, daß inzwischen nicht zuletzt auch durch die Hilfe, die wir geleistet haben und die von dem UNO-Vertreter als vorbildlich angesehen worden ist, vor allen Dingen auch die Hilfe, welche die Caritas dort leistet, und durch Fahrzeuge, die wir gestellt haben und die jetzt vom Bundestag unter dem Titel „Ausrüstungshilfe" gebilligt worden sind — eine Verbesserung der Lage der Bevölkerung eingetreten war. Über den letzten Stand der Dinge im Südsudan bin ich allerdings nicht unterrichtet, jedenfalls im Augenblick nicht; ich könnte Sie zusätzlich unterrichten.
Ich rufe die Frage 152 des Abgeordneten Schirmer auf:
Ist die Bundesregierung bereit, durch geeignete Maßnahmen, z. B. einen Appell an die UNO, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die großen Schwierigkeiten in Äthiopien zu lenken, um eine weltweite Hille zu erreichen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Die Bundesregierung, Herr Abgeordneter, konzentriert sich auf die deutschen
Hilfsmaßnahmen. Die eigenen Appelle Äthiopiens an die Vereinten Nationen haben Erfolg gehabt. Ein weiterer Aufruf unsererseits ist daher entbehrlich.
Herr Abgeordneter Wende hat um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 153 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 154 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Ist die Bundesregierung bereit, bei den bevorstehenden Verhandlungen mit der Regierung der Volksrepublik Polen dahin zu wirken, daß es — unbeschadet der Rechtsvorbehalte, die sich aus unserer Verantwortung für Gesamtdeutschland und aus dem noch ausstehenden Friedensvertrag ergeben — zu einer vertraglichen Vereinbarung über die freie Ausreise der Deutschen und über die Sicherung der Individual- und Gruppenrechte der in der Heimat verbleibenden Deutschen kommt?
Herr Abgeordneter, zu Ihrer Frage möchte ich vorab bemerken, daß ich es zu diesem Zeitpunkt — die Gespräche der beiden Außenminister finden heute und morgen statt — nicht für opportun halte, hier im einzelnen darzulegen, welches die Verhandlungsziele der Bundesregierung sind. Ich bitte Sie dafür um Verständnis.
Generell darf ich wiederholen, was ich an dieser Stelle schon oft betont habe. Die Bundesregierung wird sich wie bisher intensiv für diejenigen Personnen einsetzen, die auf Grund der in der Information der Regierung der Volksrepublik Polen genannten Kriterien zur Ausreise berechtigt sind.
Zu Ihrer Frage nach der Sicherung der Individual-und Gruppenrechte der in Polen verbliebenen Deutschen möchte ich auf die Erörterung dieses Themas im Rahmen der Ratifizierungsdebatte über den Warschauer Vertrag hinweisen. Ihnen, Herr Abgeordneter, ist bekannt, daß die Volksrepublik Polen im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Staaten, UdSSR, Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn, fremden Volksgruppen keinen rechtlichen Sonderstatus gewährt. Sie wissen auch, daß diese Frage im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen noch zusätzlich durch die Vergangenheit belastet ist. Nur durch die konsequente Fortführung des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses werden Erleichterungen für diese Menschen ermöglicht werden können.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir darin zustimmen, daß die Bundesregierung, wenn das zu ihrer Obhutspflicht gehört, sich auch um diese elementaren Menschenrechte der Deutschen jenseits von Oder und Görlitzer Neiße kümmern müßte?
Herr Abgeordneter, die Politik dieser Bundesregierung war darauf gerichtet, überhaupt eine Möglichkeit zu erhalten, sich für diese Menschen einsetzen zu können. Die Politik der Verständigung auch mit den Staaten Osteuropas und
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4163
Parl. Staatssekretär Moersch
den Völkern, die dort leben, hat dazu beigetragen, daß wir diese Fragen heute so konkret erörtern können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht die belastete Vergangenheit angesprochen. Gehört es nicht mit zur Aufarbeitung dieser belasteten Vergangenheit, daß man nicht die gleichen Fehler wiederholt, die der Nationalsozialismus mit umgekehrten Vorzeichen den Polen gegenüber begangen hat und die jetzt vom Kommunismus gegenüber ,den Deutschen begangen werden?
Herr Abgeordneter, Sie hatten vorhin hier Gelegenheit, diese kleine Geschichtsdebatte mitzuerleben. Ich halte es für eine Verhaltensweise, die zum Untergang aller Völker Europas beitragen kann und nach meiner Ansicht beitragen wird, wenn in irgendeiner Form nationalistische Ressentiments weiter gefördert oder gezüchtet werden. Jeder in diesem Hause hat sicher Gelegenheit, dieser unheilvollen Entwicklung durch eigenes Verhalten entgegenzuwirken.
Ich rule die Frage 155 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Hält es die Bundesregierung für in Übereinstimmung mit Artikel 5 der „Information" zum Warschauer Vertrag befindlich, wenn ein Besucher in der Bundesrepublik Deutschland, der wegen eines plötzlich notwendig gewordenen Krankenhausaufenthaltes um Verlängerung der Aufenthaltsdauer nachsuchen mußte, von seiner polnischen Firma fristlos entlassen wird?
Herr Abgeordneter, in Art. 5 der „Information" hat sich die polnische Regierung verpflichtet, nach Inkrafttreten des Warschauer Vertrages bei Verwandtenbesuchsreisen nach Polen die gleichen Grundsätze anzuwenden, die gegenüber anderen Staaten Westeuropas üblich sind. Diese Verpflichtung hat die polnische Regierung erfüllt; denn sie wendet bereits seit Herbst 1972 diese Grundsätze auch auf Reisen von Besuchern aus der Bundesrepublik 'Deutschland an. Ein Verstoß der polnischen Firma gegen Art. 5 der „Information" ist bei dem von Ihnen in der Frage geschilderten Fall, dessen Umstände mir nicht bekannt sind, nicht ersichtlich. Es handelt sich offensichtlich um eine umgekehrte Fragestellung.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal die Obhutspflicht ansprechen. Es handelt sich um einen Deutschen, der sich zum deutschen Volkstum bekennt und der hier von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Halten Sie es für eine Erfüllung dieses Art. 5 der Information, wenn er mit seiner Entlassung bestraft wird, weil
er krank geworden ist, nicht rechtzeitig zurückkehren konnte und sich rechtzeitig gemeldet hat?
Herr Abgeordneter, ich habe Ihnen in meiner Antwort gesagt: wir kennen den Fall nicht.
Man kann seine Pflicht nur dann erfüllen davon sprechen Sie —, wenn man Kenntnis von einem Fall hat. Wenn Sie uns von diesem Fall Kenntnis geben, werden wir uns selbstverständlich bemühen, hier der polnischen Seite die Umstände darzulegen, die zu diesem Härtefall geführt haben. Ich kann mir denken, daß die polnische Seite dann so reagieren wird, wie Sie das erwarten.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Wäre die Bundesregierung überhaupt bereit, derartige Härtefälle, die sich hier aus Besuchsreisen ergeben, zu klären und etwa auch auf eine Änderung der Regelung hinzuwirken, nach der Besucher immer nur allein ohne ihre Familienangehörigen kommen können?
Herr Abgeordneter, ich glaube, wir haben diese Frage hier schon erörtert. Wenn ich Ihnen vorhin sagte, daß wir umfassende Gespräche über alle Fragen des menschlichen Kontaktes führen, sollte man es, wie ich glaube, heute bei dieser Antwort bewenden lassen.
Ich rufe die Frage 156 des Herrn Abgeordneten Sick auf:
Trifft es zu, daß der von der Europäischen Gipfelkonferenz den Gemeinschaftsorganen erteilte Auftrag, den Plan einer „Europäischen Union" konkret zu definieren, bisher zu keinem Ergebnis geführt hat?
Herr Kollege, die Gipfelkonferenz der neun Regierungschefs und Staatspräsidenten hat im Oktober 1972 in Ziffer 16 zu dem Fragen-komplex, den Sie angesprochen haben, folgendes beschlossen:
Die Staats- und Regierungschefs, die sich als vornehmstes Ziel gesetzt haben, vor dem Ende dieses Jahrzehnts in absoluter Einhaltung der bereits geschlossenen Verträge die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedstaaten in eine Europäische Union umzuwandeln,
— und nun kommt das Entscheidende —
bitten die Organe der Gemeinschaft, hierüber vor Ende 1975 einen Bericht auszuarbeiten, der einer späteren Gipfelkonferenz unterbreitet werden soll.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede am 13. November 1973 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg angeregt, diese Fristen zu verkürzen
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Parl. Staatssekretär Dr. Apel
so daß wir also vorher bereits die Europäische Union erreichen und damit auch vorher einen entsprechenden Bericht brauchen. Darauf fehlen bisher Reaktionen der anderen Mitgliedsregierungen. In jedem Fall werden wir als Bundesrepublik eine besondere Verantwortung tragen, weil wir ab 1. Januar 1974 die Präsidentschaft in der EG haben werden. Wir werden also alles in unseren Kräften Stehende tun, um das hier genannte Datum, möglichst aber ein früheres, zu erreichen.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe dann die Frage 157 auf, Herr Kollege Sick:
Wäre die Bundesregierung bereit, dem Vorschlag des Mitgliedes der Europäischen Kommission Altiero Spinelli folgend, dem Ministerrat vorzuschlagen, das Europäische Parlament aufzufordern, einen konkreten Plan für eine europäische politische Union zu erarbeiten?
Bitte!
Herr Kollege Sick, in dem von mir verwandten Zitat habe ich bereits darauf hingewiesen, daß alle Organe der Gemeinschaft eingeladen sind, zu diesem Bericht beizutragen, also auch das Europäische Parlament. Wir haben wiederholt mit den Kollegen gesprochen. Ich würde mich freuen, wenn das Europäische Parlament einen möglichst kräftigen Beitrag zur Europäischen Union und ihrer Perspektiven ausarbeitete.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, stimmen wir darin überein, daß es nötig wäre, das Europäische Parlament als solches in die Dinge möglichst mit hineinzubringen, so daß Sie auf meine zweite Frage hin die Initiative der Bundesregierung mit veranlassen würden?
Herr Kollege Sick, aus meiner eigenen Erfahrung nach einem Jahr Ministerrat mit der dort immer noch herrschenden Regel der Einstimmigkeit komme ich zu dem Ergebnis, daß es mit Europa überhaupt nur vorangeht, wenn wir nicht nur im Ministerrat andere Abstimmungsmechanismen finden, sondern auch das Europäische Parlament ins Spiel bringen. Dies war immer übereinstimmende Meinung dieses Hauses; die Schwierigkeiten in dieser Frage liegen anderswo.
Ich rufe die Frage 158 des Herrn Abgeordneten Vahlberg auf:
Entspricht es den Tatsachen, daß die Bundesregierung die deutschen Botschaften in Lateinamerika — mit Ausnahme der Botschaft in Santiago — angewiesen hat, Flüchtlinge, die aus Chile stammen und in die Bundesrepublik Deutschland wollen, zurückzuverweisen?
Herr Abgeordneter, das, was in dieser Frage dargestellt wird, entspricht so nicht den Tatsachen. Die von Ihnen erwähnten Botschaften sind angewiesen worden, Chile-Flüchtlinge in Drittländern dann für eine Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland vorzuschlagen, wenn sie durch drohende Abschiebung nach Chile oder in andere Staaten, in denen sie politisch verfolgt würden, gefährdet sind. In solchen Fallen werden also diese Flüchtlinge mit den Personen gleichbehandelt, die unmittelbar aus Chile in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden wollen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß sich verfolgte Personen in anderen lateinamerikanischen Ländern befinden und dort einen Touristenstatus haben, der befristet ist, so daß sie nach Ablauf dieser Frist Gefahr laufen, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden? Trägt die Bundesregierung dieser Tatsache Rechnung?
Herr Abgeordneter, das glaube ich mit meiner Antwort ausgedrückt zu haben. Ich habe ja ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Weisung dann, wenn diese Flüchtlinge in der Gefahr der Abschiebung stehen, klar ist.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Es gibt ferner die Möglichkeit, daß Familien im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chile auseinandergerissen worden sind, daß sich also ein Teil einer Familie nach der Einreise in Deutschland befindet und ein anderer Teil in einem anderen lateinamerikanischen Land, dort aber nicht unmittelbar verfolgt ist. Wird die Bundesregierung einer Familienzusammenführung stattgeben?
Herr Abgeordneter, mir ist kein Fall aktenkundig, in dem diese Frage aufgetaucht wäre. Aber Sie können sicher sein, daß wir von der Notwendigkeit einer Familienzusammenführung ausgehen.
Ich rufe Ihre Frage 159 auf, Herr Abgeordneter Vahlberg:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, denjenigen politisch verfolgten Chilenen zu helfen, die nicht in einer Botschaft in Santiago Zuflucht gefunden haben und sich in Lagern befinden?
Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Möglichkeit einer Aufnahme durch die Bundesrepublik Deutschland steht den in den Lagern von Santiago untergebrachten Verfolgten genauso offen wie denjenigen, die in der Residenz des deutschen Botschafters einstweilige Zuflucht gefunden haben. Zur Zeit führt die Leitung der dem Hohen Flüchtlingskom-
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missar der Vereinten Nationen unterstehenden Lager auf Bitte der deutschen Botschaft in Santiago eine Fragebogenaktion durch mit dem Ziel, festzustellen, wer von der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden möchte.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Ausreisegenehmigungen bis zum Jahresende befristet sein werden, und können Sie die Frage beantworten, wie lange die Überprüfung derjenigen Personen dauern wird, die sich in den Lagern befinden, und ist dabei in Rechnung gestellt, daß die Ausreisegenehmigungen befristet erteilt werden?
Die Frage der Befristung ist im Augenblick, nach dem jüngsten Stand der Dinge, nicht eindeutig zu beantworten. Ich kann also jetzt darauf keine Antwort geben. Wie lange eine Überprüfung jeweils dauert, hängt natürlich auch von den Umständen und von dem einzelnen Fall ab. Da gibt es keine generelle Angabe der Zeit.
Herr Abgeordneter, Sie haben keine weitere Zusatzfrage. — Dann Herr Abgeordneter Gansel zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß die deutsche Botschaft in Santiago Anträge an die Stellen der Militärjunta zur Ausreise politischer Flüchtlinge in die Bundesrepublik erst dann stellt, wenn durch einen Entsandten des Verfassungsschutzes eine Sicherheitsüberprüfung in Chile stattgefunden hat, wenn das Ergebnis dieser Untersuchung in die Bundesrepublik gemeldet worden ist und wenn hier eine Nachuntersuchung stattgefunden hat?
Herr Abgeordneter, ich glaubte, daß in der letzten Fragestunde ausführlich auf diese Fragen eingegangen worden sei. Außerdem ist der zuständige Unterausschuß des Hauses damit befaßt gewesen. Die meisten Staaten, die Flüchtlinge aufnehmen, nehmen Überprüfungen in Santiago selbst vor, z. B. auch die Schweiz und andere. Natürlich wird das Plazet erst gegeben, wenn sichergestellt ist, daß es sich wirklich um einen politischen Asylsuchenden handelt und nicht etwa um jemanden, der unter dieser Flagge aus ganz anderen Gründen ausreisen möchte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß der für den Verfassungsschutz zuständige Minister der Minister Genscher ist und daß Briefe und Telegramme um Hilfe für solche chilenische Flüchtlinge an seine Adresse mehr Erfolg versprechen als Briefe an die Adresse der chilenischen Botschaft oder der chilenischen Junta?
Herr Abgeordneter, ich kann offengestanden den Sinn der Frage nicht erkennen. Ich glaube, mein Kollege Baum hatte diese Fragen hier beantwortet. Eines ist doch in jedem Falle richtig: Ohne die Zustimmung der chilenischen Regierung kann niemand das Land verlassen, der sich in unseren Botschaftsräumen befindet oder der in einem Lager ausgewählt ist. Ich glaube, auf diesen Punkt sollten Sie Ihre Aufmerksamkeit konzentrieren.
Ich rufe die Frage 160 des Herrn Abgeordneten Dr. Schwencke auf:
Für wieviel politisch verfolgte Chilenen und Angehörige anderer Nationalitäten, die sich zur Zeit der Machtergreifung der Militärjunta in Chile aufhielten, hat die Bundesregierung inzwischen die Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik Deutschland bewirkt?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Die deutsche Botschaft in Santiago hat bis zur Stunde für politisch verfolgte Chilenen und Angehörige anderer Nationalitäten 42 Ausreisegenehmigungen erwirkt. Das chilenische Außenministerium hat außerdem zugesagt, daß weitere Ausreisegenehmigungen zügig erteilt werden. Auf Grund dieser Sachlage sind von unserer Botschaft alle Vorbereitungen dafür getroffen worden, daß noch im Verlaufe dieser Woche insgesamt rund 60 Personen auf dem Luftwege in die Bundesrepublik Deutschland verbracht werden können.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wodurch erklären Sie es sich, daß diese Zahl so außergewöhnlich klein ist, zumal sie in anderen Ländern wesentlich höher ist? — Darf ich Sie fragen, ob das damit zusammenhängt, daß die Prüfungen, die seitens der Bundesrepublik vorgenommen werden, so umständlich, so zeitraubend und so vielfältig sind.
Herr Abgeordneter, das ist bereits die Antwort auf die zweite Frage, die Sie gestellt haben.
Ich rufe die Frage 161 des Herrn Abgeordneten Dr. Schwencke auf:
Womit begründet die Bundesregierung die Tatsache, daß —
anders als in anderen europäischen Ländern — noch keine Einreisen von Chilenen in die Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Einreise von solchen Chilenen in die Bundesrepublik Deutschland war deshalb nicht früher möglich, weil die Erteilung von Ausreisegenehmigungen durch das chilenische Außenministerium sich verzögert hat. Bei einem Vergleich mit anderen europäischen Ländern ist zu bedenken, daß dort — ich erinnere etwa an die Schweiz zunächst in erster Linie Nicht-Chilenen aufgenommen wurden, für die Ausreisegenehmigungen naturgemäß anfänglich rascher erteilt worden sind. Nachdem aber die Erteilung von Genehmigungen zur Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland jetzt angelaufen ist, kann, wie ich in meiner Antwort auf Ihre erste Frage bereits ausgeführt habe, mit einer zügigen Abwicklung der verbleibenden Fälle gerechnet werden.
Ich füge hinzu, Herr Abgeordneter, es scheint mir hier viel Mißverständnis durch den Umstand aufgekommen zu sein, daß nicht nur Chilenen Asyl suchen, sondern daß vorwiegend zunächst Nicht-Chilenen Asyl gesucht hatten.
Sie haben eine Zusatzfrage, bitte!
Herr Staatssekretär, können Sie diesem Haus zusagen, daß die Abwicklung von Anträgen in Zukunft schneller erfolgt und daß das Mitglied des Verfassungsschutzes, das bei der „Prüfung" mitwirkt, tatsächlich keinen Einfluß auf die letzte Entscheidung für die Erteilung von Genehmigungen zur Einreise in die Bundesrepublik hat?
Herr Abgeordneter, ich kann bestätigen, was mein Kollege Baum hier vor acht Tagen zu diesem Tatbestand gesagt hat. Das ist zutreffend, und daran ändert sich auch nichts.
Ich kann hinzufügen, daß wir, um eine Beschleunigung zu erreichen, an der uns wegen des großen Andranges in der Botschaft sehr gelegen ist — Sie wissen, der Botschafter mußte woanders Unterkunft suchen, weil er in seiner eigenen Residenz nicht mehr bleiben konnte —, einen Beamten hingeschickt haben, der Vollmachten besitzt, dort auch organisatorische Maßnahmen vorzunehmen. Das ist ja auch eine Frage, die den normalen Botschaftsbetrieb weit übersteigt. Mit den von Ihnen hier genannten Beamten hat diese Prozedur keinen Zusammenhang, denn er hat zu beraten und dafür zu sorgen, daß nicht etwa hier bei der Einreise neue Komplikationen entstehen. Wir wollen das zügig abwickeln.
Sie haben eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie uns mitteilen, wie groß die Zahl der augenblicklich vorliegenden Anträge auf Genehmigung der Einreise in die BRD ist und wie viele davon die Chance haben, bewilligt zu werden?
Herr Abgeordneter, ich kann die Zahl der Anträge 'zur Stunde nicht feststellen. Das ist ja kein Thema der Frage gewesen. Ich habe Ihnen eben die Zahl der Anträge genannt, die von chilenischer Seite bewilligt worden sind. Das ist die entscheidende Zahl. Wir hoffen, daß wir im Zuge dieser Aktion alle gestellten Anträge bei der anderen Seite durchbekommen, so daß die hier angebotene Platzzahl alsbald erreicht werden kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Vahlberg.
Herr Staatssekretär, Sie haben ausgeführt, in wie vielen Fällen eine Ausreisegenehmigung erwirkt worden ist. Ich möchte Sie fragen: In wie vielen Fällen ist durch die deutsche Botschaft in Santiago ein Ausreiseantrag gegenüber der chilenischen Regierung gestellt worden?
Diese Zahl kann ich zur Stunde nicht nennen. Daß sie sehr viel höher ist als die andere, haben Sie aus meiner Antwort bereits ersehen. Es sind einige hundert Fälle, die ja zum Teil schon abgewickelt worden sind. Dazu kommen die Familienangehörigen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, nachdem nun eine Reihe von Ausreisegenehmigungen erteilt worden ist, möchte ich Sie fragen, wie lange es auf Grund der bisher gesammelten Erfahrungen vom Gesuch des politisch Verfolgten bei der deutschen Botschaft über die Überprüfung durch den Verfassungsschutz, die Meldung nach Bonn, die nochmalige Überprüfung in Bonn, die Rückmeldung an die deutsche Botschaft in Santiago bis zum Antrag der Botschaft an die chilenische Junta im Durchschnitt dauert.
Herr Abgeordneter, ich habe keine Durchschnittszahlen, aber eines kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Am längsten war bisher die Zeit zwischen dem Antrag auf Ausreisegenehmigung und der Erteilung der Genehmigung durch die chilenischen Behörden. Das ist dabei die einzig relevante Spanne.
Ich rufe Frage 162 des Herrn Abgeordneten Dr. Kunz auf:
Triftt die Meldung zu, daß die Rundfunkstation „Freies Deutschland", die von Bonn aus in russischer Sprache nach Osten gerichtet ihre Sendungen ausstrahlt, nach 25jähriger Arbeit auf Geheiß der Bundesregierung ihre Sendungen einstellen mußte?
Herr Abgeordneter, Sie sprechen in Ihrer Frage, von einer Rundfunkstation
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4167
Parl. Staatssekretär Moersch
„Freies Deutschland". Ich nehme an, es handelt sich um die Rundfunkstation, die sich „Freies Rußland" nennt.
Das ist berichtigt worden, Herr Staatssekretär.
In der mir vorgelegten Drucksache ist das leider nicht berichtigt. Das hat, wie Sie sich vorstellen können, zu einer großen Unsicherheit in der Fahndung geführt, weil ja dieser Titel in dem Zusammenhang einmalig ist.
Das Auswärtige Amt ist davon unterrichtet, daß die von Ihnen zitierte Meldung insofern zutrifft, als der offensichtlich von Emigrantenkreisen getragene Sender „Freies Rußland" seine Sendungen vom Bundesgebiet aus eingestellt hat. Diese Einstellung ist eine Folge der Tatsache, daß es überhaupt keine Sendelizenz für einen Sender dieser Art je gegeben hat. Eine Einwirkung durch Entzug der Sendegenehmigung konnte daher auch nicht erfolgen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, wäre es denkbar, daß die Aufforderung der Bundesregierung zur Einstellung dieser Sendungen in einem Zusammenhang mit einem entsprechenden Verlangen der sowjetischen Regierung steht, oder war die Einstellung als Gastgeschenk des Besuchs des bundesdeutschen Außenministers in Moskau gedacht, der wenige Tage darauf erfolgte?
Herr Abgeordneter, Sie vermuten falsch; es hat keine Intervention dieser Art gegeben. Wie ich den Akten hier entnehme, war dem Auswärtigen Amt dieser Tatbestand überhaupt nicht bekannt. Wie Sie wissen, hat das Auswärtige Amt z. B. mit Sendelizenzen nichts zu tun; das fällt in einen anderen Geschäftsbereich.
Nach deutschem Recht, an dessen Formulierung Sie selbst mitwirken, darf im Bundesgebiet ein Sendebetrieb ohne Lizenz nicht unterhalten werden. Es ist von den Behörden ganz offensichtlich lediglich etwas getan worden, was ihre Pflicht ist: illegale Tätigkeit auf dem Gebiete der Nachrichtenvermittlung einzustellen.
Bitte, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, beabsichtigt die Bundesregierung, nachdem sie den Sendebetrieb des Senders „Freies Rußland" eingestellt hat, auch weitere Sender, die von deutschem Boden aus den Gedanken der Demokratie und der Freiheit in den Osten ausstrahlen, zum Schweigen zu bringen?
Herr Abgeordneter, diese Frage steht nicht in dem geforderten unmittelbaren Zusammenhang mit der von Ihnen eingereichten Frage; ich lasse sie nicht zu. Sie haben eine weitere Zusatzfrage. — Sie haben keine weitere Frage? — Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts beantwortet.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Staatssekretär Wolters zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Härzschel auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Warnung deutscher Strahlenschutzärzte, daß in der Bundesrepublik Deutschland zuviel geröntgt würde, und hat die Bundesregierung wissenschaftliche Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen vor allem über die Spätschäden des Röntgens — eingeleitet oder durchgeführt?
Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Härzschel, die Warnung deutscher Strahlenschutzärzte vor übermäßiger medizinischer Strahlenbelastung beruht auf dem Bericht des amerikanischen Wissenschaftlers Morgan, vorgetragen auf einer Jahrestagung des Fachverbandes für Strahlenschutz. Dieser Bericht über das Thema „Mögliche Folgen einer übermäßigen medizinischen Strahlenbelastung in den Vereinigten Staaten" ist vom Bundesgesundheitsamt im Hinblick auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik ausgewertet worden.
In der Bundesrepublik ist der Schutz des Patienten vor übermäßiger diagnostischer und therapeutischer Anwendung von Röntgenstrahlen durch die Röntgenverordnung, die am 1. September dieses Jahres in Kraft getreten ist, bereits weitgehend geregelt. Auf Grund der Röntgenverordnung können auch die erforderlichen Daten für die notwendigen wissenschaftlichen Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen insbesondere über die Spätschäden des Röntgens erfaßt und dem Bundesgesundheitsamt zur Auswertung zu geleitet werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung die Absicht, einen Forschungsauftrag zu vergeben bzw. besteht bereits ein solcher, der gesicherte Erkenntnisse über diese Aussagen der Fachärzte bewirken könnte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es besteht zur Zeit kein in diese Richtung zielender Forschungsauftrag. Wenn die systematische Erfassung der Daten, die auf Grund der Röntgenverordnung möglich wird und die ich gerade erwähnt habe, vorliegt, wird zu entscheiden sein, ob die Auswertung im Rahmen der Kapazitäten des Bundesgesundheitsamts allein möglich ist oder ob man dafür besser einen Forschungsauftrag vergibt.
4168 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie es nicht aus eigener Erfahrung für notwendig halten, daß Sie mit dem Bundesgesundheitsamt und den Standesorganisationen der Ärzte einmal überprüfen, ob es nicht möglich ist, daß die Ärzte bei Röntgenuntersuchungen zumindest jeweils fragen, wie oft in der letzten Zeit eine Untersuchung stattgefunden hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist ein wesentlicher Bestandteil der erlassenen Röntgenverordnung, daß solche Aufzeichnungen geführt werden, nachdem entsprechende Befragungen der Patienten vorausgegangen sind.
Eine weitere Folge ist, daß in Fortbildungsveranstaltungen, die auch von den Standesorganisationen getragen werden — aber nicht nur von ihnen —, Hinweise auf diese Notwendigkeiten und Bestimmungen des Strahlenschutzes überhaupt gegeben werden.
Ich rufe die Frage 35 des Herrn Abgeordneten Härzschel auf:
Was sind die Ursachen der hohen Säuglingssterblichkeit in der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, die Frage 42 des Abgeordneten Lambinus steht mit der Frage 35 des Abgeordneten Härzschel in einem engen Sachzusammenhang. Ich bitte, damit einverstanden zu sein, die beiden Fragen gemeinsam beantworten zu können.
Der Fragesteller Lambinus ist ebenfalls einverstanden.
Ich rufe also auch die Frage 42 des Abgeordneten Lambinus auf:
Worauf führt die Bundesregierung die Tatsache zurück, daft in der Bundesrepublik Deutschland auf 100 000 Lebendgeborene 680,9 Sterbefälle auf Geburtsverletzungen, Regelwidrigkeiten der Geburt und sonstige durch Anoxie und Hypoxie hervorgerufene Zustände zurückzuführen sind, während die Vergleichszahlen z. B. in der DDR bei 368,8 und in Frankreich bei 379,0 liegen, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, uns dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die genauen Ursachen für die in der Bundesrepublik im Vergleich mit anderen Industriestaaten höhere Säuglingssterblichkeit sind nur zum Teil bekannt. Es handelt sich nicht um Einzelursachen, sondern um eine Vielzahl von Faktoren, die in den zu vergleichenden Ländern jeweils unterschiedliche Einflüsse haben. Einige Gründe sind: unterschiedliche Definitionen und Erfassungsverfahren, die für die statistischen Aussagen Bedeutung
haben; unterschiedliches Gesundheitsverhalten während der Schwangerschaft, hier insbesondere das Zigarettenrauchen mit seinem direkten Einfluß auf das Körpergewicht der Neugeborenen; u. a. damit zusammenhängend der unterschiedliche Anteil von Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 2500 Gramm, mit dem eine Gefahrengrenze markiert wird; unterschiedlich große Anteile sozialer Randgruppen mit erhöhter Säuglingssterblichkeit; unterschiedliche Intensität wirksamer Außenfaktoren wie Streßbelastungen, die zu einer Verkürzung der Schwangerschaft führen können.
Die Säuglingssterblichkeit hat 1971 mit 22,5 auf 1 000 Lebendgeborene in der Bundesrepublik Deutschland einen Tiefstand erreicht. Zum Vergleich: sie betrug im Jahre 1970 23,4. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß die mit der Säuglingssterblichkeit verbundenen Fragen besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei aber eine größere Inanspruchnahme der angebotenen Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft, die durch verstärkte gesundheitliche Aufklärung erreicht werden muß. Ebenso kommt es darauf an, durch verbesserte apparative und personelle Ausstattung der geburtshilflichen Abteilungen in den Krankenhäusern eine weitere Senkung der Säuglingssterblichkeit zu erreichen. Dabei ist ferner, insbesondere bei der Betreuung von Risikogeburten, eine reibungslose Zusammenarbeit mit den pädiatrischen Abteilungen wichtig. Schließlich ist auch die Erweiterung von Forschungskapazitäten in der perinatalen Medizin notwendig. Für alle diese Maßnahmen sind in erster Linie die Bundesländer als Träger der Krankenhausversorgung und der Universitäten zuständig. Aus dem komplexen Ursachenspektrum der Säuglingssterblichkeit ergibt sich außerdem, daß zu ihrer Senkung weiterhin alle familienpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung indirekt beitragen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben von einigen unerforschten Ursachen gesprochen. Darf ich Sie fragen, was die Bundesregierung in den vergangenen Jahren getan hat, um diese Ursachen zu ergründen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt seit einer ganzen Reihe von Jahren die Gesellschaft für perinatale Medizin, die sich ganz besonders dem Komplex der Ursachen von Sterblichkeit um die Geburtsperiode herum widmet. Darüber hinaus gibt es natürlich auch unabhängig von der Existenz dieser Gesellschaft erhebliche Forschungsaktivitäten zu diesen Fragen an allen Universitäten, die mit Universitätskliniken und damit auch mit geburtshilflichen Kliniken verbunden sind.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4169
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß sich die Bundesregierung etwas mehr Mühe machen müßte und daß sie diesem Bereich in der Zukunft etwas mehr Aufmerksamkeit zuwenden muß?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe eine ganze Reihe von Maßnahmen genannt, die deutlich machen, daß die Bundesregierung, soweit es in ihrer Zuständigkeit liegt, diese Aufmerksamkeit durchaus aufwendet, dies zu einem großen Teil aber ein Problem der Länder ist.
Ich kann ergänzend hinzufügen, daß die Gesundheitsministerkonferenz, an der der Bund teilnimmt, seit etwa einem Jahr eine besondere Arbeitsgruppe eingesetzt hat, wiederum unter Beteiligung von Mitarbeitern meines Hauses, um herauszufinden, wo man über die Aktivitäten der Universitäten hinaus gezielte Forschungsaufträge vergeben könnte.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der Fragestunde. Die Fragen A 103, 129, 131, 132 und 136 sind von den Fragestellern zurückgezogen. Die übrigen nicht mehr beantworteten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Seiters das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beantwortung der von der CDU/CSU gestellten Fragen zum Kapitalhilfekredit für Jugoslawien macht nach unserer Auffassung eine weitere Behandlung dieses Themas hier im Plenum des Bundestages erforderlich. Ich beantrage daher eine Aktuelle Stunde.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß der Antrag entsprechend unterstützt wird. Wir treten also ein in die
Aktuelle Stunde.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in der Frage der Kapitalhilfe für Jugoslawien die Öffentlichkeit und das Parlament mehrfach falsch informiert.
Sie hat darüber hinaus bei der Gewährung der ersten 300 Millionen DM die zuständigen Bundestagsausschüsse in gesetzwidriger Form übergangen.
Wir halten das für einen schwerwiegenden Verstoß gegen fundamentale Grundsätze der parlamentarischen Demokratie.
Die Stellungnahmen der Bundesregierung zu diesem Kredit haben unsere Zweifel verstärkt, ob die Bundesregierung ihre eigene entwicklungspolitische Konzeption überhaupt noch ernst nimmt. Wichtigstes Kriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe war bisher die Hilfsbedürftigkeit des jeweiligen Entwicklungslandes. Jugoslawien aber gehört mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 750 Dollar pro Jahr zu den wohlhabendsten Entwicklungsländern. Wie wollen Sie unserer Bevölkerung klarmachen, daß die verhungernden und verdorrenden sechs Sahel-Länder weniger Hilfe bekommen als Jugoslawien?
Eine Milliarde für Jugoslawien und 158 Millionen für die Sahel-Länder, das darf doch einfach nicht wahr sein, Herr Minister!
Wir lehnen den Milliarden-Kredit aus zwei weiteren Gründen ab. Erstens gefährdet er den Hilfecharakter der deutschen Entwicklungspolitik, weil er sich an Zielen orientiert, die mit Entwicklungshilfe überhaupt nichts zu tun haben.
Zweitens wird er als Wiedergutmachungskredit die Wirkung eines Dammbruchs haben. Denn die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, Polen und andere werden nun mit Nachdruck ebenfalls Wiedergutmachungsansprüche stellen.
Auch wir sind der Ansicht, daß zwischen der Bundesrepublik und Jugoslawien noch viele Probleme gelöst werden müssen. Aber, Herr Eppler, das muß man dann auf der Basis der Gegenseitigkeit und offen und ehrlich machen und nicht hinter dem Rükken der Wähler, denen man vor der Wahl mehr Demokratie versprochen hat.
Im Falle Polens, meine ich sogar, gibt es Schäden, die wir überhaupt nicht wiedergutmachen sollen, — können. Aber beim Besuch Olszowskis — —
— Ich werde es Ihnen sagen: die wir nicht wiedergutmachen könne n.
— Herr Wehner, mäßigen Sie sich! — Aber beim Besuch Olszowskis, Herr Wehner, geht es doch um ganz andere Dinge.
Es geht darum, daß Olszowski Rechnungen vorlegt, von denen Sie vor den Wahlen gesagt haben, sie seien längst beglichen. Das ist der Tatbestand.
Wenn Sie, Herr Minister Eppler, der Ansicht sind, daß es falsch war, Israel aus dem Etat der Entwicklungshilfe Wiedergutmachung zu leisten, dann frage
4170 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Todenhöfer
ich Sie: warum haben Sie dasselbe im Falle Jugoslawien getan?
Wenn Sie, wie Sie im Ausschuß sagten, dagegen waren, daß die Wiedergutmachung an Jugoslawien als Warenhilfe und nicht projektgebunden gegeben wurde, warum haben Sie dann die ersten 300 Millionen auf dem ebenfalls entwicklungspolitisch wertlosen Weg der Warenhilfe gegeben?
Herr Eppler, Sie haben in den letzten Tagen zu dem Milliardenkredit an Jugoslawien Erstaunliches gesagt. Sie werden vielleicht sogar noch weitere Begründungen finden. Nur eines sollten Sie unterlassen: den Eindruck zu erwecken, die Wiedergutmachung für Jugoslawien beruhe auf einer Zusage des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger. Das ist ganz schlicht die Unwahrheit.
Es kommt nicht darauf an, was Kiesinger und Brandt 1968 diskutiert haben mögen, sondern was später, Anfang 1969, in einem Gespräch zwischen dem jugoslawischen Außenhandelsminister und Kiesinger vereinbart worden ist.
Herr Abgeordneter!
Dort hat Kiesinger wörtlich gesagt, er sei nicht in der Lage, eine Zusage zu machen.
Ich komme zum Schluß — darum ging es wohl, Herr Präsident —: Herr Minister, es besteht nicht nur die Gefahr, daß mit dem Milliardenkredit zu 2 % Gelder verschenkt werden, die die Bürger dieses Landes der Regierung zu ganz anderen Zwecken anvertraut haben, es besteht vielmehr auch die Gefahr, daß der Kredit der deutschen Entwicklungspolitik verschenkt wird. Dies ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anknüpfend an die letzten Worte meines Vorredners, muß ich sagen, daß es dabei nicht nur oder nicht einfach um den Kredit der deutschen Entwicklungspolitik geht. Denn es verzerrt ja das Thema, hier darüber zu klagen, angeblich würde Entwicklungshilfe an andere Not leiden, weil Jugoslawien oder Sie haben dann gleich noch herein-gepackt: es werden andere noch weiter ausdehnen — Polen Gelder bekommen.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß das gebraucht wird; das ist ein Reizthema. Es geht aber um Probleme von hohem staatspolitischen Rang. Ihre Ausnützung dieser Probleme zu Zwecken innenpolitischer Angriffe gegen die Regierung mit dem Ziel, diese madig zu machen, ist vom Grundsatz aus
verwerflich, — damit Sie unseren Standpunkt kennen.
Warum wollen Sie denn nicht hören, daß die zweite Regierung Dr. Konrad Adenauers zinslose Kredite mit 99 Jahren Laufzeit gegeben hat,
wenn das damals unangreifbar war?
Wie ist es nun zu erklären, daß die heute die Opposition darstellenden Epigonen der damaligen Partei Adenauers eine Handlung gegenüber demselben Land, gegenüber dem Adenauer es für richtig hielt, sich so zu verhalten, jetzt zu einer Attacke gegen die Bundesregierung ausnützen? Oder, anders gefragt: warum ist es für die Bundesrepublik Deutschland von Nutzen, wenn ein Bundeskanzler aus den Reihen der CDU etwas tut, aber angeblich von Schaden, wenn das Entsprechende von einem Bundeskanzler aus den Reihen der SPD getan wird?
— Jawohl, darum geht es, meine Damen und Herren. Das zeugt aber von einem falschen Staatsverständnis bei Ihnen, nicht bei uns.
Denn wir, die damalige Opposition, haben uns nicht aufgeführt wie Sie, die damalige Regierung bzw. die Epigonen der damaligen Regierung, denn keiner von Ihnen war ja damals in der Verantwortung.
— Das ist das einzige, was Sie können, Herr.
Hier geht es nicht darum, Handlungen nach der Parteizugehörigkeit des Bundeskanzlers oder der von ihm geführten Regierung zu werten, ebensowenig nach der Färbung des Partnerlandes, sondern allein darum, sie nach den Interessen der. Bundesrepublik Deutschland zu werten.
Was damals richtig war, ist heute auch richtig, jedenfalls nicht falsch, bloß weil wir es jetzt machen und es damals Ihr Bundeskanzler gemacht hat.
Sie bringen die Bundesrepublik Deutschland in den Geruch der Unseriosität.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4171
Wehner
Das wollen Sie sogar. Sie spielen damit, weil es Ihnen so paßt,
und Sie schaden mit Ihrer Art von Attacken dem Ansehen und der Vertrauenswürdigkeit unseres Staates.
Ihre Handlungsweise ist mehr als bedenklich, meine Damen und Herren. Sie ist, soweit Sie dies bewußt und nicht nur mit Heulen treiben, sogar verächtlich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Josten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Wehner, der Millionenkredit an Jugoslawien aus Mitteln der Entwicklungshilfe ist nicht in Ordnung. Ich sage es Ihnen, ich sage es den Kollegen von der SPD, ich sage es der Regierung, und ich sage es Herrn Minister Eppler: Der Zug geht in die falsche Richtung.
Der Hilfecharakter der deutschen Entwicklungspolitik ist nicht mehr Maßstab. Bisher war es unser gemeinsames Ziel, diesem Maßstab gerecht zu werden. Der Hilfecharakter unserer Entwicklungspolitik war für die Maßnahmen entscheidend, die im Parlament und auch im Ausschuß beschlossen wurden. Leider sind wir davon abgekommen. Herr Kollege Wehner, Sie sagten, uns gehe es darum, die Regierung madig zu machen. Nein, das haben Sie in Moskau getan. Ich mache hier die Regierung nicht madig.
Meine Damen und Herren, wir haben als Opposition, wenn wir etwas feststellen, das falsch ist — und hier geht der Zug in die falsche Richtung —, die Pflicht, uns zu melden. Ich empfehle Ihnen und auch Ihnen, Herr Kollege Wehner, doch einmal den Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung — es handelt sich um die Drucksache 7/1236 — zur Hand zu nehmen. Wir haben ja nur fünf Minuten Redezeit. Daher kann ich nur empfehlen, einmal das zu lesen, was die Bundesregierung schreibt.
— Nein, das ist nicht verwerflich, Kollege Althammer. Hier haben wir schwarz auf weiß viel gut zusammengetragenes Material, das wir auch jetzt in dieser Aktuellen Stunde gebrauchen können. Dort sind z. B. die Lebensbedingungen aufgezeigt. Unter
der Überschrift „Die soziale und wirtschaftliche Lage der Entwicklungsländer am Beginn der zweiten Dekade" heißt es z. B.:
Hunger und Mangelernährung sind immer noch in fast allen Ländern der Dritten Welt weit verbreitet. Die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen . . . schätzt die Zahl der Unterernährten in den Entwicklungsländern auf 300 bis 500 Millionen Menschen. Von Mangelernährung sind mindestens ein Viertel, möglicherweise sogar die Hälfte der Bevölkerung in den Entwicklungsländern betroffen. Die unzureichende Versorgung mit Eiweiß führt bei Kindern zu nicht mehr behebbaren Wachstumsschäden.
Das steht in dem Bericht, den die Bundesregierung uns diese Woche auf den Tisch gelegt hat. Das ist die Wahrheit. So sieht die Welt aus, in der wir leben. Wir haben, wenn wir Entwicklungshilfe leisten, die Pflicht, die Hilfsbedürftigkeit als Maßstab für unsere Leistungen zu nehmen, so wie wir das bisher getan haben. Die Not ist ungeheuer groß. In diesen Tagen wird überall gesammelt. Ich nenne hier nur die Aktion „Brot für die Welt" und die Aktion „Adveniat". Die Bürger unseres Landes spenden doch, um den Ärmsten in dieser Welt zu helfen, nicht aber unter dem Gesichtspunkt, der jetzt hier ins Spiel gebracht wird, daß wir einen Kredit in Höhe von 700 Millionen DM nach Jugoslawien geben. Hier muß man sich als Mitglied des Ausschusses melden.
Meine Damen und Herren, die Regierung hat uns diese Woche eine gute Zusammenstellung vorgelegt. Es heißt in dem Bericht unter anderem:
Was die Bildung und Wissenschaft angeht, so besucht ,die Hälfte der Kinder auch heute noch keine Schule. Weitere 20 % kommen nicht über das zweite Schuljahr hinaus. Die Zahl der Analphabeten geht zwar relativ zurück, absolut gesehen gab es auf der Welt jedoch noch nie so viele Analphabeten wie heute.
Meine Damen und Herren, seien wir ehrlich: Die Industrieländer haben manches versäumt. Wir sollten aus den Fehlern, die wir vielleicht mit gemacht haben, lernen. Herr Minister, Sie machten vorhin in der Fragestunde die Bemerkung im Hinblick auf Israel. Ich habe dazu ja gleich gesagt, daß man Israel in diesem Fall nicht mit Jugoslawien vergleichen kann. Wenn Sie glauben, dieser Weg sei falsch gewesen, kann ich Sie nur bitten: Gehen Sie den gleichen Weg wenigstens nicht noch einmal, sondern legen Sie wieder den Maßstab an, dessen Anlegung Ausschuß und Parlament immer gewünscht haben. Regierung und Parlament sind aufgerufen, zuerst dort zu helfen, wo die Not am größten ist. Das ist die Meinung der Christlich Demokratischen Union gewesen, und dazu stehen wir, meine Damen und Herren. Hauptkriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe muß die Hilfsbedürftigkeit der Entwicklungsländer bleiben. Daran gemessen, kann ich im Hinblick auf diesen 700-Millionen-Kredit, der zu 2 % Zinsen gegeben werden soll — wie Sie selbst vorhin sagten —, und im Hinblick auch auf die an-
4172 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Josten
deren Maßstäbe, die Sie nannten, nur sagen: Hier können wir nicht zustimmen. Hier müssen wir als Opposition unsere Bedenken anmelden. Wir müssen Sie bitten, in der Regierung darauf hinzuwirken, daß hier ein neuer Weg beschritten wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Josten, ich stimme Ihnen völlig zu
— Sie sollten zuerst abwarten, was ich sage —, wenn Sie sagen, daß wir den Menschen, die in dieser Welt Not leiden, helfen müssen, wenn Sie hier die Hungernden aufzählen.
Aber das, Herr Kollege Josten, galt auch schon in den 50er Jahren. In einer Zeit, in der es den Begriff „Entwicklungshilfe" noch gar nicht gab, haben Sie den Kredit an Jugoslawien gewährt.
— Herr Kollege Carstens, Sie können hier oben gleich eine Erklärung für das abgeben, was Sie damals getan haben. Ich warte mit meinen Freunden immer noch auf eine Erklärung für die Haltung der Regierung Adenauer in den 50er Jahren.
Hier gibt es ein Problem zu lösen, für das wir alle die Verantwortung tragen.
Aber, meine Damen und Herren, ich pflichte dem bei, was die „Stuttgarter Nachrichten" geschrieben haben. Ich darf es mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren:
Denn alle Parteien müssen erleichtert sein, wenn das Verhältnis zu Jugoslawien endlich bereinigt wird. Es darf auch im Interesse unseres Staates nicht länger Gegenstand unnützer und schädlicher Polemik sein.
Ich wende mich dagegen, daß Sie daraus hier eine parteipolitische Auseinandersetzung machen,
statt sich mit zu bemühen, hier eine gemeinsame Lösung des Problems zu suchen.
Meine Damen und Herren, Jugoslawien ist Entwicklungsland. Wenn Sie einem Entwicklungsland Entwicklungshilfe verweigern, dann müssen andere als entwicklungspolitische Gründe ausschlaggebend sein,
und dann sollten Sie das auch offen und ehrlich so sagen.
Ich habe hier eine Erklärung des Kollegen Todenhöfer, in der er sich für ein entwicklungspolitisches Gastarbeiterprogramm einsetzt, wo er fordert, daß wir den Ländern, aus denen Gastarbeiter zu uns in die Bundesrepublik kommen, Mittel zur Verfügung stellen. Jugoslawien ist nach der Türkei das Land, das die meisten Gastarbeiter hierher entsendet. Herr Kollege Todenhöfer, Sie haben damals auch gesagt, daß das dann auch hilft, unsere inneren Probleme mit zu lösen. Deshalb werden wir mit der Hilfe an Jugoslawien versuchen, Arbeitsplätze dort zu schaffen, wo die Menschen ihre Heimat haben. Das ist etwas, was auch Sie ständig gefordert haben.
Aber ich weiß ja, daß Sie, wenn Sie gegen diesen Kredit an Jugoslawien sind, andere als entwicklungspolitische Motive haben. Das sollten Sie dann auch so sagen.
Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Zurufe so machten, daß der Redner im Hause verständlich bleibt, damit sich die nachfolgenden Redner entsprechend vorbereiten können.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Werner.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten das Ganze wieder ein bißchen versachlichen.
— Sie klatschen — wie meistens — zu früh. — Wenn Sie und die Bundesregierung wiederholt davon gesprochen haben, daß es dabei auch darum gehe, ein Stück Wiedergutmachung zu leisten — so jüngst, am vergangenen Mittwoch, Herr Minister Eppler; er konnte vorher auch nicht definitiv ausräumen, so am vergangenen Mittwoch gegenüber Journalisten gesprochen zu haben —, dann muß man Ihnen doch zunächst die Frage stellen: Welche anderweitigen und weiteren Absichten stecken hinter den Ihren, meine Damen und Herren?
Wenn Sie davon sprechen und darüber rechten wollen, was in den fünfziger Jahren richtig war und
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4173
Werner
was demzufolge heute billig sein muß, so möchte ich vor allen Dingen im Hinblick auf das, was Herr Kollege Wehner gesagt hat, hier eindeutig eines feststellen: Sie können doch nicht immer dann, wenn es Ihren parteipolitischen Interessen nützt, uns die Schuld für die Vergangenheit zuschieben und allüberall, wo Sie Kapital für sich herauszuschlagen versuchen, so tun, als sei das nur uns anzulasten.
Worum handelte es sich denn bei den angesprochenen Krediten? Es handelte sich doch nicht uni Entwicklungshilfe! Wir haben hier zu monieren, daß zusätzlich zu bereits bewilligten 300 Millionen DM im Rahmen der Entwicklungshilfe noch 700 Millionen DM gegeben werden.
Eine weitere Bemerkung. Es ist doch auffällig, wie sehr die Presse immer wieder darüber geklagt hat, daß man eigentlich vollkommen im unklaren bleibe und gehalten werde, Herr Minister Eppler, worum es eigentlich gehe. Da war es doch so: Im Frühjahr ging man am Parlament vorbei. Da sagte Herr Staatssekretär Moersch am 15. Juni in der Fragestunde, Kapitalhilfe werde nie aus einem Entwicklungsetat geleistet.
Da hörte man dann plötzlich aus Belgrad die Nachricht: 700 Millionen DM. Herr Wechmar dementierte am 3. August. Herr Eppler, Sie haben am 19. September gegenüber Herrn Kollegen Todenhöfer erklärt, das Ganze sei unzutreffend, und selbst wenn es so wäre,
dann stellte die Summe, von der man spreche, einen kleinen Fisch dar.
Das ist doch die Situation. Wo sind die konkreten Aussagen, auf die wir hier im Parlament und im Ausschuß ein Recht haben und auf die auch die Öffentlichkeit ein Recht hat, meine sehr geehrten Damen und Herren?
Deswegen wollen wir doch endlich einmal Schluß machen, Herr Eppler, mit diesem Spiel, das hier gespielt wird, mit der steten Politik der Verschleierung der Tatsachen, die hier getrieben wird und in der die eigentlichen Antriebskräfte dieses Handelns von Ihnen nicht klar dargestellt werden,
und wollen wir endlich einmal klarstellen, wie es sich hier mit Anspruch und Wirklichkeit verhält!
Es genügt nicht mehr, der deutschen Öffentlichkeit moralische Postulate hier vorzugaukeln
und dabei dann, wenn es ganz konkret um die Finanzen geht, das Ganze, was man sonst auch im Rahmen von bilateraler Wirtschaftshilfe abseits der Entwicklungshilfe leisten könnte, der Entwicklungshilfe aufzuschulden. Das ist die Situation. Herr
Eppler, hier bedarf es einmal dringend eines Wortes der Klärung, ob man von Ihrem Hause aus weiter so verfahren möchte, die Entwicklungshilfe in dieser Weise zu diskreditieren und zu zweckentfremden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Haase, Sie sollten auch als Zwischenrufer hier nicht so vorschnell mit dem Wort sein.
Meine Damen und Herren, ein aktuelles Thema in dieser Aktuellen Stunde! Die CDU war gewiß nicht schlecht beraten, als sie eine Diskussion, die die Öffentlichkeit bewegt, in dieses Haus brachte.
Aber, meine Damen und Herren, wenn wir uns um die Beantwortung der gestellten Fragen bemühen, dann sollten wir die Diskussion nicht auf einer Woge überschwappenden Gefühls führen
— das sage ich an alle Teilnehmer dieser Diskussion —, sondern wir sollten uns einem ernsten Thema wie der Entwicklungspolitik — und die Opposition hat in den Debattebeiträgen selbst darauf verwiesen — auch mit allem Ernst und großer Sachlichkeit zuwenden.
Die Sprecher der Opposition argumentieren: Der Zug geht in die falsche Richtung. Ihren kritischen Vorwurf kann man, wenn er mit Fakten belegt ist und Sorgen begründen könnte, sachlich erörtern. Es gibt jedoch gute überzeugende Gründe, mit denen Ihre Sorgen und Ihre Kritik ausgeräumt werden können. Aber, meine Damen und Herren, man hat manchmal den Eindruck, Sie wollten nicht mit uns darüber reden, ob der Zug in die falsche oder in die richtige Richtung fährt, Sie wollten hier nur Dampf ablassen,
und genau dazu sollte uns allen dieses Thema zu schade sein.
Sie sagen, Sie müßten die Forderung nach verstärkter Entwicklungshilfe ablehnen, weil hier keine Entwicklungshilfe geleistet werde. Nun, wir setzen dem die bestätigende und die bekräftigende Feststellung entgegen, daß der Hilfscharakter der Entwicklungshilfe Maßstab für die Leistungen der Entwicklungshilfe gewesen ist und Maßstab für die Leistung auch für die Zukunft bleiben muß.
Wenn Sie sich heute auf diesen Maßstab so sehr viel zugute halten, so muß ich Ihnen sagen, daß Sie
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Hoppe
selbst sich mit der inzwischen durch die Politik der Regierungskoalition — Gott sei Dank — überwundenen Hallstein-Doktrin viele Jahre jene Steine in den Weg gerollt haben, die eine Politik nach dem soeben beschworenen und von uns bejahten Maßstab im Bereich der Entwicklungspolitik gerade unmöglich gemacht haben. Ich rate Ihnen im übrigen, uns allen nicht jene Wirkung einzureden und sich selbst aufzuschwatzen, die mit dieser entwicklungspolitischen Maßnahme nicht verbunden ist und nicht verbunden sein darf.
Es soll keine Wiedergutmachung sein, und es ist keine präjudizierende Kredithilfe für die Länder des Ostblocks.
— Nein, meine Damen und Herren, genau das soll es nicht sein. — Es handelt sich
um Entwicklungshilfe für ein Land, das diese Entwicklungshilfe auch verdient. Für eine so verstandene und gewiß richtige Politik würde ich der Regierung allerdings gern etwas mehr Mut für den Umgang
mit dem Parlament und für eine bessere Information
seiner Ausschüsse und der Öffentlichkeit wünschen.
Denn — ich kann und will es nicht verschweigen —: Wenn wir am Mittwoch der vergangenen Woche im Haushaltsausschuß über die Entwicklungshilfe an Jugoslawien in Höhe von 300 Millionen DM diskutieren und fragen: Wie steht's mit der Aufstockung dieses Betrages?, und uns wird dort erklärt: Davon ist nichts bekannt,
dann meine ich, mangelt es entweder am Informationsfluß in der Regierung und von der Regierung zum Parlament oder es mangelt am notwendigen Mut, eine richtige Politik überzeugend zu vertreten.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Konrad Adenauer
hat sich darum bemüht, mit der Tragödie der deutschen Vergangenheit so weit fertig zu werden, so weit das damals überhaupt möglich war. Er hat in dieser historischen Entwicklung ein großes Glück gehabt; denn er hatte es mit einer Opposition im
Deutschen Bundestag zu tun, die ihm dabei geholfen hat.
Sie aber glauben, daß ein so entscheidendes Problem dazu angetan ist, kleinkariertes parteipolitisches Kapital daraus zu schlagen.
Vom Jahre 1966 bis zum Jahre 1968 war ich Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Während dieser Zeit hat mich der damalige Bundeskanzler Kiesinger angesprochen und hat gesagt: Wir müssen etwas tun für die wirtschaftliche Entwicklung Jugoslawiens unter dem Gesichtspunkt der Tragödie der Vergangenheit zwischen unsern beiden Ländern.
Dann habe ich ihm gesagt: „Herr Bundeskanzler, Jugoslawien ist ein Entwicklungsland; ich sehe hier eine Möglichkeit." Und der damalige Bundeskanzler hat gesagt: „Herr Kollege Wischnewski, das ist ein guter Weg." — Ich bedaure, daß Sie sich daran nicht mehr erinnern können.
Zweitens. Ich bedaure, daß Sie mit der Haltung, die Sie jetzt einnehmen, noch in einer weiteren Frage mit den westlichen Ländern in Konflikt geraten. Jugoslawien ist ein Entwicklungsland auf Grund eines Beschlusses der OECD. Diese Haltung haben wir gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, mit Frankreich, mit Großbritannien und mit unseren anderen Verbündeten eingenommen. Ich bedaure, daß Sie sich daran nicht halten.
Drittens. Wenn eine solche Kapitalhilfe gewährt wird, ist das sachgerecht. Jugoslawien hat Regionen mit einer Arbeitslosenquote von über 20 %.
Es hat mehr als 500 000 Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Es hat gegenüber der Bundesrepublik ein
Außenhandelsdefizit von mehr als 1 Milliarde DM.
Die Weltbank, die für Entwicklungskredite zuständig ist, gewährt Jugoslawien Kredite, und das ganz spezielle Institut, das die Entwicklungsexperten kennen, IFC, die „International Finance Corporation", hat für sechs Projekte Kapitalhilfe zur Verfügung gestellt.
Nun zum letzten, was Sie mich bitte sagen lassen. Ich freue mich, daß zwischen Jugoslawien und der Bundesrepublik Deutschland außerordentlich gute Beziehungen bestehen, und ich hoffe, daß der heutige Beitrag von Ihrer Seite nicht dazu beiträgt, diese guten Beziehungen zu verändern. Wir werden uns darum bemühen, dies im Interesse unseres
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4175
Wischnewski
Landes und im Interesse der guten Beziehungen zu Jugoslawien zu verhindern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wulff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Wischnewski, niemand in diesem Hause hat die guten Beziehungen zu Jugoslawien für sich gepachtet.
Ich darf sagen, daß ich die Entscheidung der damaligen Regierung Adenauer für richtig halte und daß das meine Fraktion ebenso billigt wie viele andere in diesem Hause.
Aber heute geht es um eine andere Entscheidung: heute geht es darum, ob dieser Kredit in Höhe von 1 Milliarden DM Entwicklungshilfe ist oder nicht; darum wird sachlich gerungen. Verehrter Herr Kollege Wehner, ich weiß nicht, warum Sie soeben so heftig gegen die Debatte polemisiert haben, wenn doch Ihr Koalitionsfreund, Herr Hoppe, von der Wichtigkeit dieser Debatte und der Fragestellung überzeugt war. Es scheint in der Koalition also doch so zu sein, daß man nicht einhellig gegen diese Aktuelle Stunde ist, sondern sehr gegenteilige Meinungen, was die Wichtigkeit dieser Debatte anbelangt hat.
Ich meine, das sollte einmal gesagt werden.
Lassen Sie mich vorweg noch etwas sagen. Die Fraktion der CDU/CSU ist für gute wirtschaftliche Kooperation mit Jugoslawien,
sie ist für eine optimale Zusammenarbeit zum Nutzen beider Staaten. Wir schätzen Jugoslawien viel zu hoch ein, als daß ,diese Opposition etwas unternehmen würde, was sich gegen das jugoslawische Volk richten würde.
Im Gegenteil: Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um das Verhältnis zu den Völkern des Ostens und speziell zu Jugoslawien zu verbessern, aber auf eine Art, die dem optimalen Nutzen beider Staaten gerecht wird.
Lassen Sie mich aber eines in aller Deutlichkeit sagen. Ich glaube, daß es der Versöhnung zwischen den Staaten — die Geschichte hat es bewiesen noch niemals gedient hat, wenn Reparationen verlangt und gezahlt wurden.
Reparationen waren niemals einer inneren Versöhnung von Völkern dienlich,
sondern Idas Gegenteil war der Fall. Deshalb sind wir der Ansicht, daß wir hier über das Problem der Entwicklungshilfe und über diesen Kredit von 1 Milliarde DM sprechen sollten.
Verehrter Herr Minister Eppler, die Bundesrepublik das wissen wir alle — gehört, gemessen an der absoluten Höhe der Leistungen, zu den großen Geberländern. Darauf sind wir stolz, und dabei wird es bleiben. Die Opposition der CDU/CSU wird alles daransetzen, daß 'diese Hilfe auch trotz mancher gegenteiliger Meinungen in der Öffentlichkeit vergrößert wird.
Die von uns erbrachten Gesamtleistungen, einschließlich der privaten Leistungen, von mehr als 5 1/2 Milliarden DM wurden nur von den USA, Japan und Frankreich übertroffen. Bei der öffentlichen Hilfe hingegen nahm die Bundesrepublik mit 2,6 Milliarden DM hinter den USA und Frankreich zwar den dritten Platz ein, aber gemessen am Bruttosozialprodukt hat sie international, zumindest was die Europäische Gemeinschaft anlangt, ausgenommen Italien, das Schlußlicht übernommen.
Wenn wir bei einem Rückgang der öffentlichen Leistungen auf 0,31 %, verehrter Herr Kollege Wehner, bei versprochenen 0,7 %
eine Kapitalhilfe von fast 1 Milliarde DM leisten, so muß man sich fragen, ob damit nicht die Hilfe zugunsten der Länder, die sie weiß Gott noch nötiger haben als Jugoslawien, zurückgeht.
Wenn wir in dem Bericht der Bundesregierung lesen, daß die öffentliche Hilfe bis 1978 von 0,31 % vielleicht auf 0,48 % gesteigert werden kann, so fragen wir uns in der Tat, in welchem Verhältnis der vorgesehene Kredit zu diesen etwaigen Steigerungen steht. Herr Wehner, das ist keine Polemik, sondern hier treten wir ein für die Entwicklungshilfe zugunsten derjenigen, die sie benötigen.
Zum Schluß noch ein einfacher Hinweis. Das durchschnittliche Wachstum des Bruttosozialprodukts je Kopf der Bevölkerung betrug in Jugoslawien im Jahre 1970, glaube ich, 4,4 %, in Indien 1,2 % und in Zaire 2,7 %. Wir mißgönnen den Jugoslawen unsere Unterstützung sicher nicht, im Gegenteil! Meine Freunde und ich werden versuchen, die richtigen Lösungen zu finden.
Verehrter Herr Kollege Eppler, wenn ich diesen Kredit im Rahmen unserer gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe sehe, so fällt mir Ihr Buch ein „Wenig Zeit für die dritte Welt", das ich mit großem Interesse gelesen habe und von dem ich viele Passagen auch als meine Meinung apostrophieren möchte. In diesem Buch steht der Satz: „Die dritte Welt hat nur noch wenig Zeit, und wir haben wenig Zeit für die dritte Welt." Ich habe den Eindruck, daß wir die wenige Zeit, die wir noch haben, vertun.
4176 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Das Wort hat Bundesminister Dr. Eppler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will gar nicht Betreiten, Herr Kollege Wulff, daß Sie das, was Sie jetzt gesagt haben, auch so meinen.
Ich bitte Sie nur, noch einmal auf die Geschichte dieses Kredits zurückzublicken.
Auf Grund von Schätzungen des damaligen Bundesministeriums der Finanzen in der Großen Koalition hat das Auswärtige Amt damals einen Kredit für Jugoslawien in einer bestimmten Höhe vorgesehen.
Dieser Kredit ist deshalb nicht zum Zuge gekommen, weil uns die Jugoslawen noch während der Großen Koalition mitgeteilt haben, daß sie die Vergangenheit nur bei einem Kredit als bereinigt ansehen könnten, der — hören Sie jetzt bitte genau zu —
wesentlich höher lag als der Kredit, der jetzt gewährt wird. 'Dies ist die Wahrheit.
Wir haben im Augenblick mit den Jugoslawen eine Lösung gefunden, die etwa bei der Hälfte dessen liegt, was seinerzeit von der Regierung der Großen Koalition gefordert wurde.
— Ich sage Ihnen nur: Ich wundere mich — und ein kleines bißchen schäme ich mich —, hier in einem Parlament zu sprechen, wo wir so tun, als sei die deutsche Geschichte nur eine Geschichte der Sozialdemokratie.
— Keiner von uns kann dieser Geschichte entlaufen, auch Sie nicht, und sogar dann nicht, wenn Sie in Opposition sind.
Nun aber zu den Argumenten von Herrn Todenhöfer. Sie haben z. B. einen Trick angewandt, vielleicht sogar unfreiwillig und auch unbeabsichtigt. Sie haben das, was wir für Jugoslawien möglicherweise für fünf Jahre vorhaben, einfach in ein Verhältnis zu dem gesetzt, was wir in einem Jahr in der Sahel-Zone machen. Es ist natürlich einfach, damit Effekte zu erzielen.
Im übrigen: wenn Sie, Herr Kollege Josten und Herr Kollege Wulff, sagen, hier werde Entwicklungshilfe an ein Land gegeben, das sie weniger brauche als z. B. die Sahel-Länder, dann will ich Ihnen sagen, daß, wenn dieser Kredit so wird, wie wir es für möglich halten — es hat noch keine offiziellen Verhandlungen gegeben —, dann vielleicht 140 Millionen DM im Jahr fällig werden. Das ist genau dieselbe Summe, die wir im Augenblick für Israel im Haushalt haben. Früher hatten wir 160 Millionen im Haushalt, und damals, in den sechziger Jahren, waren dies noch 10 bis 12 % unseres damaligen Haushalts. Wenn unsere Finanzplanung durchgeht, dann wird der Jugoslawien-Kredit in einigen Jahren 2 % unseres Haushalts betragen. Und dann kommen Sie und lamentieren hier, daß die Entwicklungshilfe jemandem gegeben werde, der sie eigentlich nicht brauche.
Im übrigen ist hier gesagt worden, ich hätte den Ausschuß im unklaren gelassen.
Ich nehme an, daß hier einige 'der Kollegen im Saale sind, die dies bestätigen können: Als wir über die 300 Millionen sprachen, wurde ich von der Opposition im Ausschuß gefragt, ob dies das Ende sei, 'der letzte Kredit. Das habe ich gesagt: nein. Und weil ich nein gesagt habe, hat die Opposition damals einen Antrag gestellt, daß keine Kredite mehr gegeben werden sollen. Dieser Antrag ist dann abgelehnt worden. Die Behauptung, ich hätte den Ausschuß im unklaren gelassen, ist schlicht und einfach unwahr. Ich habe lediglich gesagt, ich könne in diesem Augenblick noch nicht über eine Summe reden, weil 'darüber auch mit den Jugoslawen noch nicht der Ansatz einer Klarheit bestehe.
Meine Damen und Herren, dies ist die Wahrheit, und das kann jeder bestätigen, der im Ausschuß war.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4177
Bundesminister Dr. Eppler
Sie reden hier über die Motive. Entwicklungshilfe für Jugoslawien, für ein Land, aus dem jeder fünfte Gastarbeiter bei uns kommt und das eine Analphabetenquote von über 20 % hat,
ist genauso Entwicklungshilfe wie diejenige für Tunesien.
Sie sagen jetzt, bei den Motiven spiele etwas mit, was aus der Vergangenheit komme. Ich habe dazu immer gesagt: ja. Und da ist auch dieser mißverständliche Satz, den Sie sich von einem Journalisten haben kolportieren lassen und den Sie allen Ernstes hier vorzubringen wagen.
Wenn Sie nach den Motiven der Entwicklungshilfe fragen, dann war doch das Motiv der Vergabe von Entwicklungshilfe jahrelang die Aufrechterhaltung der Hallstein-Doktrin, und dies haben Sie immer für richtig gehalten.
Herr Minister, ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Sie wissen, daß die Bundesregierung zugesagt hatte, sich bei der Redezeit an den üblichen Ablauf der Aktuellen Stunde zu halten.
Meine Damen und Herren, noch eines. Sie haben ein Interesse daran, daß wir hier erklären, dies sei Wiedergutmachung. Aber ich sage Ihnen, das deutsche Volk hat dieses Interesse nicht, und zwar deshalb nicht, weil, da diese Entwicklungshilfe auf die Zukunft gerichtet ist und für ein Entwicklungsland in dem Katalog der OECD gegeben wird, die Präzedenzwirkungen die Sie befürchten, nicht möglich sind. In dem Augenblick, wo wir das tun würden, was Sie von uns verlangen, würden wir unsere Verhandlungsposition gegenüber allen anderen Ländern schwächen und gegen die Interessen dieses Volkes verstoßen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß hier einiges zurechtrücken, weil wiederum vieles falsch gesagt worden ist.
Die CDU/CSU tritt dafür ein, den Gastarbeiterländern in der Tat zu helfen. Aber wir haben in unserem entwicklungspolitischen Gastarbeiterpapier — wie wir glauben, überzeugend — darauf hingewiesen, daß man die Gastarbeiterländer in zwei
Gruppen unterteilen muß. Die eine Gruppe umfaßt die Türkei, Tunesien, Marokko und Algerien, also Länder, bei denen die Auswanderungsquote weiter steigt, und zu der anderen Gruppe gehören Griechenland, Jugoslawien, Portugal und Spanien, wo die Auswanderungsquote sinkt. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß nur in der Gruppe Türkei usw. verstärkte öffentliche Hilfe möglich ist.
Und lassen Sie mich, Herr Minister Eppler, auch noch einmal sagen: Wir wenden uns nicht gegen Jugoslawien,
sondern gegen Ihre Verschleierungspolitik und dagegen, daß Sie die Entwicklungshilfe korrumpieren.
Und wir müssen doch ein weiteres sagen, Herr Minister: Diese Reise der großen Kredite ist doch nicht zu Ende. Das war Jugoslawien, dann kommt Prag, dann kommt Warschau, dann kommt Moskau.
Geht es uns denn im Augenblick so gut, Herr Minister, daß wir mit unseren Milliarden im Osten die Reformen finanzieren können, die Sie uns vor den Wahlen für dieses Land versprochen haben,
mit den Milliarden, die wir benötigen, um das zu leisten, was wir den Entwicklungsländern zugesagt haben?
Dann haben Sie, Herr Minister Eppler, von dem Zahlenvergleich gesprochen. Aber allein für 1972 hat Jugoslawien eine Zusage von 300 Millionen DM bekommen, und diese Zusage liegt über denen für alle 25 least developed countries, die nach Ihren Aussagen im Vordergrund der deutschen Entwicklungspolitik stehen sollen. Jugoslawien erhält 1972 mehr als alle 25 ärmsten Entwicklungsländer!
Herr Minister, Sie haben vorhin in der Fragestunde gesagt, wir seien verantwortungslos, denn wir hätten von Wiedergutmachung gesprochen. Wir? Stand das nicht zuerst in vielen deutschen Zeitungen?
Haben nicht Sie in einer Pressekonferenz, die dpa zitiert hat, gesagt: dies ist ein Stück Wiedergutmachung? Und glauben Sie wirklich, daß die Russen so naiv sind, daß sie auf diese Debatte warten, um herauszubekommen, daß das Wiedergutmachung ist? Das muß man doch hier sagen!
Herr Minister, um einmal zu zeigen, wie Sie mit Worten spielen: Sie haben gesagt, Sie hätten uns im Ausschuß nicht die Unwahrheit gesagt. Nun, Sie haben im Ausschuß auf meine Frage, ob es weitere 700 Millionen gibt, so daß es zu einer Milliarde
4178 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Todenhöfer
kommt, geantwortet: Es hat niemand eine Zusage gemacht.
Es habe niemand, so sagten Sie, eine Zusage gemacht, auch der Bundeskanzler nicht. Natürlich ist das dann wörtlich richtig, aber das ist doch Sophistik. Sie haben uns doch mit diesen Aussagen irregeführt!
Herr Minister, Sie haben mit diesem Kredit von einer Milliarde die Qualität der deutschen Entwicklungspolitik nicht verbessert. Glauben Sie eigentlich wirklich, Herr Minister, daß Sie in dieser Sache recht haben, und glauben Sie wirklich, daß die Richtung der deutschen Entwicklungspolitik noch stimmt?
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Holtz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die aktuelle Stunde nutzen, um der teilweise geäußerten Polemik
der CDU/CSU nüchtern klare Argumente entgegenzuhalten.
Es ist eben von Herren Kollegen Todenhöfer die Unterstellung gemacht worden, daß es sich bei der Gewährung von Krediten an Jugoslawien möglicherweise um ostpolitisch motivierte Hilfeleistungen handelt. Diese Unterstellung weisen wir deutlich zurück!
Unser Verhältnis zu Jugoslawien
ist vielmehr geprägt durch die Blockfreiheit dieses Staates, der bekanntlich kein Mitglied des Warschauer Paktes ist — eine Tatsache, die anscheinend von früheren CDU/CSU-Regierungen dementsprechend honoriert worden ist; allerdings hatten sie andere Hoffnungen damit verbunden.
Beide Regierungen, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die der Volksrepublik Jugoslawien haben sich geeinigt, die noch offenen Fragen aus der Vergangenheit auf eine Weise zu lösen,
die den gegenseitigen Interessen entspricht.
Sie sind übereingekommen, dies durch eine langfristige Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, entwicklungspolitischem Gebiet und anderen Gebieten zu erreichen.
Bei diesen Überlegungen gehen wir davon aus, daß wir nicht unberücksichtigt lassen dürfen, daß es zur Lösung der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien noch offenen Fragen aus der Vergangenheit auch im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einer besonderen Anstrengung bedarf. Auch und gerade als junger Abgeordneter füge ich hinzu: Ich bin nicht willens, die historische Hypothek, die wir gegenüber Jugoslawien tragen, dir nichts mir nichts, wie einige hier im Hause, abzuschütteln.
Ich meine, wir müssen diesen Leistungen genauso volles Verständnis entgegenbringen, wie es damals Israel gegenüber geschehen ist und heute noch Israel gegenüber geschieht.
Deswegen kann ich zu den Ausführungen des Kollegen Becher, der soeben versuchte, eine Aufrechnung etwa der uns entstandenen Vermögensschäden vorzubringen, nur sagen: Wenn Sie solche Aufrechnungen anstellen, dann vergessen Sie bitte nicht, daß schließlich das Dritte Reich den Weltkrieg angezettelt hat! Fallen Sie hier nicht in deutschnationale Argumentationen zurück!
Außerdem weise ich auch als unseriös zurück, wenn hier behauptet oder der Eindruck hervorgerufen wird, als ob praktisch in den nächsten Monaten alle Gelder nach Jugoslawien abflössen. Diese von Ihnen vorgetragenen Zahlenspielereien ergeben doch ein völlig falsches Bild.
— Vielleicht gefällt es Ihnen auch noch, daß hier ein Jungsozialist steht.
Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Jugoslawien und der Bundesrepublik sollen gestärkt werden; das wunde vorhin auch von Ihrer Seite gesagt.
— Danke schön. — In diesem Sinne wollen wir Sozialdemokraten, daß keine Reparationen gezahlt werden.
Es handelt sich hier nicht um übliche Wiedergutmachungszahlungen,
etwa um Gelder, die à fonds perdu gezahlt werden, sondern im Gegenteil; wir wollen die wirtschaftlichen Beziehungen zueinander ausbauen.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4179
Dr. Holtz
Wir wollen darüber hinaus entwicklungspolitisch sinnvolle Projekte und Programme fördern;
hier wird also nichts verschenkt und hinausgeschleudert. Wir wollen helfen, daß das Nord-Süd-Gefälle in Jugoslawien, in diesem Entwicklungsland, langsam aber sicher abgebaut wird. Wir wollen erreichen, daß durch die Verlagerung deutscher Produktionsstätten nach Jugoslawien die Bekämpfung der dortigen hohen Arbeitslosigkeit erleichtert wird.
Wir wollen dadurch gleichzeitig erreichen, daß die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik eingedämmt wird. Durch diese Vergabe von Kapitalhilfe an Jugoslawien können sich eben nicht andere osteuropäische Länder darauf berufen, ebenfalls Kapitalhilfe zu erhalten,
eben deshalb, weil es sich aus den von mir vorgetragenen Gründen um entwicklungspolitisch motivierte Hilfeleistungen handelt — und dabei bleiben wir auch.
Zusammenfassend kann ich also sagen, daß wir die Unterstellungen der CDU/CSU, es handele sich nicht um Entwicklungshilfe, hier würde ein Präzidenzfall geschaffen,
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Becher .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer aus dem österreichischen Raum stammt, wird der letzte sein, der sich heute weigern würde, den Völkern Jugoslawiens, wo immer es auch nur geht, zu helfen.
Gebe Gott, daß das Damoklesschwert, das heute über ihnen schwebt — Sie wissen, was ich meine —,
vorübergeht und ihnen nicht das Unglück bereitet, das möglich wäre.
Ich bin also, wie wahrscheinlich alle in diesem Hause, für jede Form von Solidarität und Kooperation, soweit es wirtschaftlich möglich ist und etwa aus dem Gedanken des regionalen Wirtschaftsausbaues in einem freien Europa heraus vertreten werden kann.
Um was es mir hier geht und warum ich in diesem Rahmen das Wort ergreife, ist, daß diese Zusammenarbeit ehrlich und unter dem richtigen Titel erfolgen müßte.
Hier ist gesagt worden, wir hätten das Thema Wiedergutmachung zur Diskussion gestellt und in die Diskussion gebracht. Wenn man durchliest, was der Herr Minister gesagt hat, stellt man fest, daß das nicht stimmt. Es stimmt auch nicht, wenn man auf die Anmerkungen Bezug nimmt, die hier vorgebracht wurden.
Wenn man von Wiedergutmachung und von der „Tragödie der Vergangenheit" spricht, meine sehr verehrten Kollegen, muß ich sagen: wir können die Tragödie der Deutschen in diesem Raum nicht vergessen, die schuldlos Opfer dieser Tragödie geworden sind. Ich sagte es im Rahmen der Fragestunde: Sie können solche Diskussionen nicht führen, ohne daß im Deutschen Bundestag wenigstens an einer Stelle im Fall Jugoslawiens an die 600 000 Deutschen erinnert wird, von denen 100 000 im Zuge der Vertreibung umgekommen sind, die über die besten Böden Südosteuropas verfügten und die ein Gesamtvermögen von etwa 15 Milliarden DM zurückgelassen haben.
Da frage ich Sie: Haben diese Menschen, wenn wir an anderer Stelle von den legitimen Rechten aller Völker sprechen, kein Recht auf Wiedergutmachung dessen, was ihnen angetan wurde? Haben diese Menschen kein Recht auf Wiedergutmachung dessen, was ihnen an kriminellen Verbrechen angetan wurde? Bisher ist auf diesem Gebiet nichts geschehen. Haben sie kein Recht auf Wiedergutmachung, wenn wir davon ausgehen, daß der sogenannte Lastenausgleich ja nur eine Nutzungsentschädigung war?
Wer zahlt den Jugoslawiendeutschen, die nicht sicher in ihre Heimat zurückkehren können, das, um was sie gebracht wurden? Sind wir in der Lage, hier über dieses Gebiet zu diskutieren und das auszuklammern?
Ich meine, wir sollten doch zur Kenntnis nehmen, wie diejenigen Betroffenen über dieses Thema denken, die zuerst vertrieben und um ihr gesamtes Vermögen gebracht wurden und sich dann, wenn wir in falschen Zusammenhängen und unter falschen Titeln kooperieren, sagen müssen: Jetzt müssen wir mit unseren Steuermitteln noch diejenigen bezahlen, die uns beraubt und enteignet und nichts gegeben haben!
Hier wurde in irgendeinem Zusammenhang gesagt — ich glaube, Herr Wischnewski hat daran erinnert —, die jugoslawische Seite hätte schon zu
4180 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Becker
Zeiten der Großen Koalition erklärt: Wenn etwas mehr gezahlt wird, als ihr geben wollt, dann ist für uns die Vergangenheit bereinigt! — Ich meine: So können wir uns doch eine europäische Vergangenheitsbereinigung nicht vorstellen.
Wir alle wollen in die Zukunft hinein leben, wir alle wollen zu einer Partnerschaft und zu einer Gemeinsamkeit mit diesen Völkern kommen; sie sind ebenso bereit wie wir. Aber diese Vergangenheit wird nur dann wirklich bereinigt werden, wenn sie auf der Basis der Wahrhaftigkeit und des Rechts bereinigt wird, und dafür sollten wir eintreten!
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Matthöfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten Herrn Becher dankbar dafür sein, daß er endlich deutlich gemacht hat, welche Motive bei der CDU/CSU hinter dieser Debatte stecken.
Nun noch schnell vorher eine Richtigstellung zu dem, was Minister Eppler im Ausschuß gesagt hat. Eine Überprüfung des Protokolls wird ergeben, daß er drei Dinge gesagt hat: 1. weitere Kredite sind erforderlich; 2. es liegen noch keine Zusagen vor; 3. eine Zahl kann noch nicht genannt werden. Das ist die Wahrheit. Jeder, der sich die Mühe macht, das Protokoll zu studieren, kann das feststellen.
Ich meine aber, die Opposition müßte hier nun endlich einmal zu der eigentlichen Kernfrage Stellung nehmen, was denn nun — Herr Dr. Wulff, der Sie so freundliche Worte zum deutsch-jugoslawischen Verhältnis gefunden haben — Ihre Auffassung ist. Sind die CDU-Epigonen, die sich hier heute vorgeführt haben, im Gegensatz zu früheren CDU-Regierungen dafür, — dagegen, daß an Jugoslawien Hilfe gewährt wird,
oder sind sie in Wirklichkeit dafür, und sie meinen nur, es solle keine Entwicklungshilfe sein? Ich jedenfalls kann mir keinen besseren Weg vorstellen, das Verhältnis des deutschen zum jugoslawischen Volke auf eine solide, lebens- und entwicklungsfähige Grundlage zu stellen. Wir sollten versuchen, diesem Volk in unserer Nachbarschaft, das von unserem Wohlstand weit entfernt ist
— da haben auch deutsche Einflüsse dazu beigetragen —, bei seinen eigenen beachtlichen Anstrengungen zu helfen, selbsttragenden wirtschaftlichen Fortschritt in Gang zu setzen.
Gestatten Sir mir noch eine einzige weitere Bemerkung. Ich halte das unbedingte Bestehen auf der Behauptung, das ununterbrochene Wiederholen
der Feststellung, dies hier sei Wiedergutmachung und nichts anderes, hier würden Präzedenzfälle für andere geschaffen, für abträglich, für nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegend, für schädlich, für leichtfertig, für gedankenlos, für unverantwortlich.
Jugoslawien ist Entwicklungsland. Sie müssen sich die Frage stellen, die Ihnen ja auch schon mehrfach im Ausschuß gestellt worden ist, sehr verehrter Herr Dr. Todenhöfer,
wo denn das deutsche Interesse liegt in dieser Insistenz.
Ich weiß nicht, welche Interessen Sie hier vertreten, ganz sicher nicht die der Bundesrepublik Deutschland.
Vielleicht glauben Sie, das Interesse Ihrer Partei stünde über dem unseres Volkes, das von dieser Bundesregierung vertreten wird, die in diesem Sinne auch Ihre Regierung ist.
Sollten Sie das glauben, so kann ich eine solche Einstellung nur als pflichtvergessen betrachten. Das sind in der Tat Schäden, Herr Dr. Todenhöfer, die nicht wiedergutgemacht werden können. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden noch bereuen,
diesen Mangel an Staatsbewußtsein heute an den Tag gelegt zu haben.
Damit ist die Aktuelle Stunde zu Ende.
Wir fahren mit den Beratungen des Vormittags fort. Bei Eintritt in die Mittagspause hatte das Haus den Punkt 7, die Große Anfrage der CDU/CSU betreffend Maßnahmen gegen den Numerus clausus, behandelt.
— Meine Damen und Herren, ich unterbreche für wenige Sekunden, um den Kolleginnen und Kollegen, die zu Ausschußsitzungen oder anderen Verpflichtungen gehen wollen, die Möglichkeit zu geben, den Saal zu verlassen. Ich bitte aber darum, uns die Fortsetzung der Debatte möglichst rasch zu ermöglichen.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4181
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Waigel.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat es sich in seinen Ausführungen heute etwas zu leicht gemacht. Anstatt auf die gestellten Fragen zu antworten, formulierte er billige Gegenfragen, die er sich nach einem Blick in den Bildungsgesamtplan selbst hätte beantworten können.
Er nutzte die Fernsehzeit vor der Mittagspause aus, verschwand und kommt jetzt nicht zurück, wo wir darüber weiter diskutieren sollen.
Außerdem können wir ihm nur den Rat geben, sich mit diesen Fragen an die sozialdemokratisch regierten Länder zu wenden und uns dann eine Antwort darauf zu geben, warum dort das Problem des Numerus clausus um keinen Deut besser gelöst ist als woanders, sondern warum es eher noch schlechter gelöst ist.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu dem machen, was der Kollege Dr. Glotz gesagt hat. Es ist eine eigenartige Methode, zuerst kräftige Polemik zu treiben, und dann einen Aufruf zur Sachlichkeit zu erlassen. Wir lassen uns jedenfalls nicht das Recht nehmen, brennende Probleme im Bildungsbereich aufzugreifen und die entsprechenden Fragen zu stellen. Es ist geradezu unsere Pflicht, das zu tun. Das ist keine Frage von Ressentiments. Vielmehr ist es eine Frage von Ressentiments, wenn man darauf hinweist, daß durch die Anstrengungen der Bundesregierung die Zahl der Arbeiterkinder unter den Studienanfängern jetzt größer sei als früher. Wir kommt die Bundesregierung dazu, eine solche Behauptung aufzustellen? Mich würde interessieren, ob uns der Herr Kollege Glotz oder der Bundesminister oder der Herr Staatssekretär eine Aufstellung geben kann, aus der hervorgeht, daß die Verhältnisse in Bayern und Baden-Württemberg anders sind als in Hessen oder anderswo.
Alles andere ist doch Polemik. Ich bin gespannt, wie lange diese Regierungskoalition und diese Regierung noch jedwede Verantwortung, die ihnen nicht passen, auf frühere Regierungen abschieben. Das ist die alte Methode, sich alle schönen Dinge an ,den Hut zu stecken, und alles, was einem nicht paßt, auf frühere Regierungen abzuschieben. Ich glaube, diese Regierung würde das, wenn sie dazu, was ich nicht hoffe, die Möglichkeit hätte noch jahrzehntelang tun.
Nun wird immer wieder auf das noch nicht verabschiedete Hochschulrechtsrahmengesetz hingewiesen. Wir werden ja nächste Woche die Möglichkeit haben, darüber zu diskutieren. Ich kann dazu nur sagen: zuerst war es notwendig, durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sozialdemokratisches Hochschulverständnis wieder auf den Boden des Grundgesetzes zurückzuführen.
Die Abgeordneten der Regierungskoalition haben — ich glaube, einer von ihnen war der Kollege Glotz — auf einen Satz des Kollegen Pfeifer hingewiesen, daß nunmehr der Wechsel eingelöst werden müsse, der in ,den 60er Jahren ausgestellt worden sei. Ich kann dazu nur sagen: genau diesen Satz hat der Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen vor einigen Wochen in Tutzing gesagt. Man sollte sich also an ihn wenden.
Noch eine Bemerkung zu einigen Ausführungen der Frau Kollegin Schuchardt. Sie haben darauf hingewiesen, daß sich das Problem eigentlich in den Ländern stelle.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage es Herrn Abgeordneten Meinecke?
Bitte schön!
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft soeben das Plenum betreten hat, und sich für Ihre flapsige Äußerung zu entschuldigen?
Herr Kollege Meinecke, ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Zu dem Zeitpunkt, als ich meine Äußerung tat, war er nicht im Raum. Darum habe ich keinen Anlaß, irgend etwas zurückzunehmen.
— Ich habe das Notwendige dazu gesagt. Durch das Erscheinen erübrigt sich die Kritik.
Frau Kollegin Schuchardt, Sie haben auf die Studienplätze in den CDU/CSU-regierten Ländern hingewiesen; zumindest klang das so ,durch. Ich bitte Sie, dann aber auch zur Kenntnis zu nehmen, daß gerade die Flächenstaaten Bayern und Baden-Württemberg — Bayern ist zudem ein finanzschwacher Staat — Überschußländer sind, was Studienplätze betrifft, und daß sie in erster Linie Studienanfänger aus sozialdemokratisch regierten Ländern aufnehmen müssen.
Ein Weiteres. Es scheint Ihnen auch entgangen zu sein, daß Hochschulneugründungen in den letzten
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Dr. Waigel
fünfzehn Jahren hauptsächlich in Bayern, Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen zu einer Zeit erfolgt sind, als Professor Mikat Kultusminister in Nordrhein-Westfalen war. Wenn man sich an das traurige 15jährige Schauspiel der Universitätsneugründung in Bremen erinnert, haben Sie allen Anlaß, in Ihre eigenen Taschen zu sehen.
— Das Ergebnis ist auch entsprechend, ähnlich wie an einer Universität, die sich früher zu Recht „frei" nennen durfte.
Die Aussichten der Abiturienten waren noch nie so gut, heißt es in der Antwort der Bundesregierung. Warum dann die Feststellung in den Berichten, daß das Risiko für die Abiturienten größer werde und noch nie so groß gewesen sei, keinen Studienplatz zu bekommen? Was stimmt nun, die erste oder die zweite Feststellung?
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat in einem Interview mit dem „General-Anzeiger" vom 4. April 1973 auf die Frage, ob es überhaupt möglich sei, Bildungsangebot und Arbeitskräftebedarf auf die Dauer in Einklang zu halten, unter anderem folgendes ausgeführt — ich zitiere mit der Erlaubnis der Frau Präsidentin —:
Man sollte sich vielleicht etwas mehr leisten, als zum jeweiligen Zeitpunkt vom Bedarf der Arbeitswelt her gesehen notwendig erscheint. Aber dieser Flexibilität sind finanzielle Grenzen gesetzt, und natürlich wird dann auch der Akademiker ein gewisses Risiko in Kauf nehmen müssen.
Noch vor einem Jahr also hat Herr Bundesminister von Dohnanyi gemeint, man solle sich mehr leisten, als vom Bedarf her notwendig erscheint. Demgegenüber stimmt die Bundesregierung in der Beantwortung der Großen Anfrage ausdrücklich der Empfehlung des Wissenschaftsrates zu, die künftige Ausbauplanung in erster Linie an dem erkennbaren Bedarf in einzelnen Fächern und an den beruflichen Möglichkeiten der Absolventen auszurichten. Damit deutet sich eine totale Kehrtwendung sozialliberaler Bildungspolitik an, denn das bisherige Hauptanliegen war doch, Bildungspolitik fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Erhöhung von Akademikerzahlen zu betreiben. Wir sind der Meinung, daß ein bildungspolitisches Quantitätsdenken ohne gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bezug zum Bankrott der Bildungspolitik führen muß.
Doch mit dem Eingeständnis dieser Forderung und allgemeinen Hinweisen wird die Bundesregierung der existentiellen Not vieler unberücksichtigter Abiturienten und derer, die sich jahrelang auf das Abitur vorbereiten, nicht gerecht. Die Verschärfung des Numerus clausus, die dauernde Heraufsetzung der notwendigen Noten führen zu einer unerträglichen persönlichen Situation der Schüler lange vor dem Abitur. Die Schüler haben ein Anrecht auf ungeschminkte Wahrheit und eine realistische Darstellung ihrer Berufsmöglichkeiten.
Die CDU/CSU legt daher in ihrem Entschließungsantrag ein 8-Punkte-Programm vor, ein Maßnahmenbündel zur Bewältigung des Numerus clausus. Diese Vorschläge sind eine Zusammenfassung brauchbarer und wirksamer Maßnahmen auf vielen Gebieten. Sie zielen auf eine stärkere Ausgewogenheit zwischen individuellem Bildungswunsch und gesellschaftlichem Bedarf. Sie enthalten ,die Forderung nach einer Verbesserung der Bedarfsprognose und die Forderung nach regelmäßiger Erstattung eines Berichtes, um der Bundesregierung künftig beschämende Fehlprognosen, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hat, zu ersparen. Vielleicht kann damit verhindert werden, daß die Regierung um mit Herbert Wehner zu sprechen, hier gelegentlich etwas überzieht, wie es die Bundesminister Leussink und von Dohnanyi in dieser Frage bisher getan haben.
Zu dem zweiten Punkt. Angesichts der auch von der Bundesregierung geschilderten Engpässe im Bereich der Hochschulen ist ,die Kürzung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulausbau" unverständlich. Wo bleibt jene vielgepriesene Priorität, wenn unter allen Gemeinschaftsaufgaben nur im Bereich des Hochschulbaus Kürzungen und Strekkungen vorgenommen werden? Diese Kürzungen sind angesichts der inflationären Entwicklung gerade auf dem Investitionssektor unverantwortlich. Im Widerspruch zu seinen früheren Prioritätsbekundungen im Hinblick 'auf die Bildungspolitik hat das Bundeskabinett beschlossen, die für die Gemeinschaftsaufgabe nach Art. 91 a des Grundgesetzes vorgesehenen Ausgaben im Haushaltsjahr 1974 um 615 Millionen DM zu strecken. Daraufhin hat der Planungsausschuß eine Streckung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulausbau" im Bundeshaushalt 1974 beschlossen, was zu einem Minderabfluß von 330 Millionen DM im Jahre 1974 führt. Offensichtlich hat sich hier der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft wieder einmal gegenüber dem Bundesfinanzminister nicht durchsetzen können.
Bei einer Diskussion um das Thema des Numerus clausus mutet es geradezu grotesk an, daß ausgerechnet jetzt der Hochschulausbau als einzige Gemeinschaftsaufgabe mit dieser Kürzung — es ist auch dann Kürzung, wenn man es Streckung nennt — belegt wird. Diese Tatsache wiegt um so schwerer, als die Steigerungen in diesem Bereich in der mittelfristigen Finanzplanung ohnehin nicht dem gerecht werden, was wir uns davon versprechen.
Zu Punkt 3. Wir sind der Meinung, daß ein weiterer Ausbau der Fachhochschulen zu einer gewissen Entlastung der Universitäten führen kann. Wir legen aber auch großen Wert darauf, daß Iden Abiturienten qualifizierte berufsbezogene Bildungsgänge außerhalb der Hochschulen angeboten werden. Gerade das in Baden-Württemberg entwickelte Konzept der Berufsakademien scheint uns hier ein prüfenswerter Vorschlag zu sein. Es geht aus von der Pluralität der Lernorte mit einem dualen System auch im tertiären Bereich, wo Betrieb und Arbeitsplatz, Berufs- und Fachschulen, Institutionen des Gesamthochschulbereichs und Einrichtungen privat-
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Dr. Waigel
rechtlichen Charakters als Lernorte in Frage kommen: mit einer beruflichen Erstausbildung, einer Vertiefung der dort erworbenen Kenntnisse und mit der Möglichkeit einer dritten Stufe, eines Aufbaustudiums im Hochschulbereich. Wenn es gelänge,damit 10 % eines Abiturientenjahrganges für diese Möglichkeiten zu gewinnen, dann wäre das bereits eine große Entlastung der Hochschulen.
Leider enthält der Bericht über die Berufs- und Laufbahnreform der Bundesregierung nichts als eine Ansammlung bekannter, nichtssagender Selbstverständlichkeiten ohne erkennbare Konzeption, ohne Konsequenzen, ohne konkrete Maßnahme.
Der Bericht verrät eine rein passive Haltung, daß man abwarten möchte, bis die Bildungsreform zum Stillstand gekommen ist. Wer dies jedoch im Bildungsbereich erwartet oder erhofft, gibt sich einer trügerischen Illusion hin.
Wir begrüßen daher die in anderem Zusammenhang abgegebene Ankündigung des Gesetzentwurfs zur Neuregelung der Zugangsvoraussetzungen und der Ausbildung für den gehobenen Dienst auf Fachhochschulebene mit den entsprechenden Änderungen des Steuerbeamtenausbildungsgesetzes und des Rechtspflegergesetzes.
Wir müssen aber, worauf bereits Frau Kollegin Schuchardt hingewiesen hat, auch die besoldungsmäßigen Konsequenzen aus dieser Entwicklung ziehen. Sie sind von entscheidender Bedeutung für eine Milderung des Numerus clausus an den Hochschulen. Nur wenn es gelingt, hier eine größere Flexibilität einzubauen und den Fachhochschulabsolventen differenziertere Laufbahnmöglichkeiten zu eröffnen, kann eine Entlastung der Universität erreicht werden. Jene Überlegungen bei den Beratungen zum Zweiten Besoldungsvereinheitlichungs- und -neuregelungsgesetz, wonach die Absolventen dieser Fachhochschulen in A 11 eingestuft werden und Beförderungsmöglichkeiten bis A 14 haben sollten, wären ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Wir begrüßen die in dem Bericht der Bundesregierung über Nachfrage und Angebot bei Studienplätzen getroffene Feststellung, wonach die Prognosen auch als Grundlage für die Beratung der Abiturienten und Studienbewerber dienen. Der Hinweis auf die Vergrößerung des Risikos, keinen Arbeitsplatz zu finden, ist notwendig, um persönliche Enttäuschungen, Fehlentwicklungen und unvertretbaren finanziellen Aufwand zu verhindern.
Gerade angesichts der unhaltbaren Enge an den Hochschulen ist es unvertretbar, wenn Studenten deswegen länger studieren, weil eine zu geringe Ausbildungsförderung sie zum Nebenverdienst zwingt. Auch dieses Problem wurde angesprochen.
Meine Damen und Herren, Studentenwohnheimbau und Hochschulausbau stehen in engstem Zusammenhang. Damit könnte der Entwicklung begegnet werden, daß ein immer geringerer Prozentsatz von Studenten die Möglichkeit erhält, in Studentenwohnheimen zu leben. Ich verweise auf den Gesetzesvorschlag der CDU/CSU, wonach der Studentenwohnheimbau in die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulausbau einbezogen werden soll.
Noch ein Wort zu einem funktionsfähigen Instrumentarium, zur Kapazitätsfeststellung und zur zentralen Nutzungssteuerung. Die Antwort der Bundesregierung in dieser Frage ist völlig unbefriedigend und beweist, daß sich die Bundesregierung diesem wichtigen Problem nicht mit der notwendigen Intensität gewidmet hat. Allein der Zeitunterschied zwischen Ankündigung im Jahre 1970 und Vorlage des Modells frühestens 1975 ist ein weiterer Beweis für die großspurigen Programmankündigungen dieser Regierung ohne konkreten Vollzug.
In diesem Zusammenhang muß auch nochmals überprüft werden, wie ein optimaler Weg für die Vergabe der Studienplätze gefunden werden kann. Ein einigermaßen gerechtes, stärker auf individuelle Leistungen abgestelltes Zulassungsverfahren könnte dadurch erreicht werden, daß eine fließende Grenze für die zur Zulassung erforderliche Punktzahl eingeführt wird. Dies käme jenen zugute, die knapp unter den geforderten Notendurchschnitten liegen und deswegen unter Umständen jahrelang warten müssen. Solche Bewerber sollten in einem fachspezifisch angelegten Qualifikationsverfahren eine zusätzliche Chance erhalten.
Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung und der Bericht der Bundesregierung über Nachfrage und Angebot bei Studienplätzen lassen ein stärkeres Realitätsbewußtsein der Regierung in dieser Frage gegenüber früheren Meinungen erkennen. Die Opposition begrüßt dies. Wir vermissen jedoch ein wirksames, umfassendes Programm zur Bewältigung dieses Problems. Wir vermissen eine entsprechende finanzielle Darstellung zur Bewältigung dieses Problems. Die Ansätze in der mittelfristigen Finanzplanung und die Streckung genau dieser Mittel im Haushaltsjahr 1974 um 30 % lassen befürchten, daß die Regierung bisher jedenfalls nicht in der Lage ist, dieses Problem zu lösen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lattmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch dies, Herr Kollege Waigel, war leider ein krauses Gemisch von Polemik am Anfang und dann allerdings dem Herstellen eines sachlicheren Tones. Ich möchte aus dem, was der Kollege Gölter und was Sie gesagt haben, jetzt ganz bewußt nur jene Ansätze herausgreifen, von denen ich hoffe, daß sie es ermöglichen, zu sachlichen Gemeinsamkeiten zu kommen.
Allerdings ist es, wenn man den Debatten dieses
Tages seit heute früh aufmerksam gefolgt ist, sicherlich schwierig, hier jetzt das Klima für eine solche
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Lattmann
sachliche Fortsetzung herzustellen. Ich will mich aber darum bemühen. Ich will deswegen auf Zahlen zu sprechen kommen, zu Beginn aber sagen: Wenn man zu wiederholten Malen die Große Anfrage der CDU/CSU zum Numerus clausus gelesen hat, dann mag man die Hoffnung schöpfen, daß die Opposition in diesem Hause in Zukunft bereit sein wird, für ein volleres Ausschöpfen der Bundeskompetenz im Bildungsbereich einzutreten;
denn in ihrer Fragestellung liegt so viel Bundesverantwortung, so viel Erwartung an uns als Bundespolitiker in diesem Bereich, daß dies unmöglich ohne ein volleres Ausschöpfen des im Rahmen des Grundgesetzes Möglichen realisierbar ist.
Meine Damen und Herren, vor allen Dingen aber möchte ich stärker, als 'es bisher geschehen ist, die Situation der unmittelbar Betroffenen hier in unseren Blick rücken. Diese Betroffenen haben hier nicht Stimme. Aber sie haben uns hierher gewählt, und zwar nicht, damit wir uns unentwegt um Bundes- und Länderkompetenzen streiten, sondern damit wir dieses Problem in einer irgend realisierbaren Weise lösen.
Sie wissen genauso gut wie wir von der Koalition, daß dieses Thema Gefahr läuft, unentwegt öffentlich zur Polemik mißbraucht zu werden, daß uns dies aber nicht weiterhilft.
Wir haben es, Herr Gölter, außerordentlich bedauert, daß Sie nicht bereit waren, zuzustimmen, daß wir das Hochschulrahmengesetz gemeinsam mit dem Numerus clausus diskutieren. Denn wir sind der Auffassung, man muß das gemeinsam sehen: die Strukturpolitik, die Studienreform und die Probleme des Numerus clausus, aber von den Betroffenen ausgehend. Stellen wir sie doch hier auf die Gefahr hin, daß es ein wenig theatralisch wirkt, einmal in den Raum, jene Zigtausende, Hunderttausende, die von diesem Gesetz, das wir machen wollen, dem Hochschulrahmengesetz, in den nächsten Jahren in ihrer beruflichen, in ihrer persönlichen Situation praktisch betroffen sind. Soundso viele hängen daran. Das ist ein gesellschaftliches Problem, von dem wir nicht wegkommen, eine Hauptreformaufgabe überhaupt.
Wir alle miteinander haben in früheren Zeiten nicht das zuwege gebracht, was z. B. die Engländer zuwege gebracht haben. Sie haben es eben geschafft, in den 50er Jahren die Zahl der Studienplätze zu verdreifachen.
Wir hinken nach. Die Gründe sind oft diskutiert. Ich will mich nicht noch einmal mit den Gründen beschäftigen, sondern mit der Zukunft, mit dem, was wir tun müssen.
Das ist es in allererster Linie, was wir uns klarmachen müssen: Es stehen zwei Unvereinbarkeiten im Hintergrund unserer Debatte. Auf der einen Seite wissen wir, daß die Gesamtproblematik — wissenschaftlich, wirtschaftlich und auch kulturell — unseres Lebens und Arbeitens immer mehr in Richtung der Problematik Europas geht. Auf der anderen Seite haben wir Verfestigungen einer Kulturzuständigkeit, die, wenn sie diesen Weg nach Europa nicht mitmacht, eines Tages, und zwar verhältnismäßig bald, Gefahr läuft, im Regionalismus provinziell zu werden.
Deswegen müssen wir die Courage haben, zu sagen: Ein Teil der Probleme, die wir zu lösen haben, wird nur lösbar sein, wenn wir Mehrheiten machen, die über die Mehrheit im Bundesrat hinaus Gemeinsamkeit ermöglichen. Deswegen ist jeder Politiker aufgefordert, den betroffenen Studenten draußen klipp und klar zu sagen: Wieweit geht die Opposition, was trägt sie mit und was nicht? Da kommen Sie nicht weiter, wenn Sie uns ständig Verantwortung für etwas zuschieben, wofür Sie in den Ländern eben die Hauptverantwortung tragen.
Aber jetzt zum Instrumentarium der Zahlen. Wir müssen — Sie, Herr Kollege Gölter, haben es auch gefordert — den Studenten sagen: Was geht, was geht nicht, was ist los? Wir haben ja am nächsten Donnerstag an dieser Stelle die Gelegenheit, den Versuch zu machen und zu sehen, wieweit wir miteinander kommen, etwa mit dem Instrumentarium von § 32 des Hochschulrahmengesetzes.
Denn, meine Damen und Herren, nehmen wir einmal diese beiden Situationen, die ich ansprechen wollte. Ein Fall: Der Sohn aus einer Arbeitnehmerfamilie, der erste, der überhaupt aus einer solchen Familie studieren kann, der schon eine Weile gewartet hat. Die ganze Familie bringt Opfer dafür. Er kommt jetzt nicht an und lebt in einer Wohngemeinschaft, wo außer ihm überhaupt niemand weiß, was Numerus clausus oder was Curriculum ist. Wenn wir das draußen klarmachen wollen, müssen wir uns im übrigen auch noch angewöhnen, eine bildungspolitische Sprache zu sprechen, die verstahden wird.
— Herr Gölter, lassen Sie mich bitte ruhig fortfahren. Ich glaube, das ist für die Debatte vernünftiger.
Oder auf der anderen Seite ein typisches Beispiel: Der Arztsohn aus einer Familie, wo seit Generationen die Väter Ärzte waren, wo Wohlhabenheit herrscht, der in der Schule nicht mitkam und nun draußen hängt und schlichtweg empört ist, empört darüber, daß er die ihm selbstverständlich zugewachsenen Privilegien nicht weiter gesichert sieht. Da gibt es dann solche Einfälle — die wir Sozial-
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Lattmann
demokraten allerdings nicht gutheißen können — wie die Idee des Hartmannbunds, solche Probleme aufzufangen mit einer privaten Universität in Kemp-ten und damit wieder eine Situation zu schaffen, die Privilegierten weiter Privilegien einräumen soll und damit soziale Ungerechtigkeit festschreibt.
Wir haben zwar bildungspolitische Beschlüsse in Bremen, in Mainz, in Wiesbaden, in Stuttgart und in München, aber wir haben in der Bundesrepublik doch wohl immer noch und hoffentlich weiterhin eine deutsche Wissenschaft und eine deutsche Kultur. Wir können uns nicht derartig im Kompetenzstreit aufhalten, wenn das eines unserer wichtigsten Probleme ist.
Die Zahlen des Bildungsgesamtplans — wir wissen es miteinander; wir müssen den Schneid haben, dies klar zu sagen — sind bereits durch die Trendfeststellungen überholt. Der Bildungsgesamtplan, der vorsieht, daß wir etwa im Jahre 1985 eine Million Studenten haben werden, stimmt nicht mehr. Wir übersehen im Augenblick bereits, daß wir Gefahr laufen, diese Zahl 1978 oder 1979 zu erreichen, und wir haben das Phänomen, daß so viele mittlerweile begriffen haben, daß die Verwissenschaftlichung unserer gesamten Berufswelt diese Entwicklung notwendig macht, aber wir haben auf der anderen Seite nicht genügend Alternativmodelle. Es ist vieles im Bildungsgesamtplan und im Hochschulrahmengesetz enthalten; aber wir müssen es durch eine gemeinsam getragene Studienreform qualifizieren.
Die Zahlen sehen so aus: Es wird die Realität sein, daß jedes Jahr in der vorhersehbaren Zukunft eine bedenklich große Zahl nicht die Freibeweglichkeit im Studium nach dem Grundgesetz haben kann. Aber wir haben andererseits auch Erfahrungen in der zentralen Vergabestelle, daß im Vergleich zu den 37 000, die diesmal abgelehnt wurden, überraschenderweise auch 5000 vorhanden sind, welche die Chance hatten, zu studieren, sie aber nicht angenommen haben; darunter waren sogar 20 % Mediziner. Offenbar gibt es also auch den Fall, daß manche, die von der Qualifikation durch ihr Abitur her zum Studium ankommen könnten, plötzlich gar nicht mehr daran interessiert sind, wenn es sich nicht um den Ort ihrer Wahl handelt.
Aber im Hochschulrahmengesetz — ich bin sehr gespannt zu hören, was Sie am nächsten Donnerstag dazu sagen werden — sind Instrumentarien vorgesehen, genau hier zu helfen, nämlich daß das Wartestudium, das bisher dazu führt, daß wir in den ersten Semestern ständig Wechsel haben und daß bei einem Fachstudium, z. B. im Bereich der Medizin, bereits bis zu 50 % in einem Erstsemester von anderen Fächern kommen, abgebaut wird: ein Wartestudium soll nicht mehr als Wartezeit gerechnet werden.
Ich möchte aber im Rahmen meiner Redezeit vor allen Dingen noch eine Alternative aufgreifen, die auch von Frau Kollegin Schuchardt genannt worden ist: Wir sehen sie am englischen Beispiel der Open University eindrucksvoll in der Praxis. Sie haben sich wahrscheinlich auch über Zahlen informiert und
wissen, daß man dort 38 000 Studenten im Fernstudium im Medienverbund hat und daß in den ersten Lehrgängen von 24 000 Studenten die verblüffend große Zahl von rund 15 000 Studenten nach wenigen Jahren mit einem Examen herausgekommen ist. Dieses Modell sollten wir bei voller Ausschöpfung der bundespolitischen Kompetenz übernehmen.
In der Künstlichkeit des Schaffens eines Kodex, einer Norm für den Studienzugang müssen wir auch berücksichtigen, daß der normale Mensch im Lande es schlichtweg nicht begreift, wenn man ihn mit dem Notenterror vom 10. Lebensjahr an im Abitur zum Sklaven einer Figuration unter den Etiketten von Numerierungen macht;
denn historisch beweisbar ist, daß eine erhebliche Zahl solcher Menschen im Lande, die in der Schule verhältnismäßig miserable Schüler waren, später Außerordentliches in ihrem Leben vollbracht haben.
Man hat zwar unlängst in einer Illustrierten lesen können, daß gerade unter namhaften Politikern ein nicht geringer Prozentsatz ist, der verhältnismäßig gute Abiturnoten hatte; aber vielleicht ist es so, daß sich unter Politikern manche schon immer strebend bemüht haben, wenn auch nirgends geschrieben steht, daß sie — um im Sprichwort fortzufahren — dafür auch erlöst werden; für das Problem der Hochschulreform ganz gewiß nicht.
Wir sollten auch sehen — damit möchte ich zum Schluß meiner Ausführungen kommen — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte!
Herr Kollege Lattmann, wie können Sie Ihr Wort vom Notenterror vom 10. Lebensjahr ab mit dem auch von Ihnen angeblich bejahten Leistungsprinzip vereinbaren?
Herr Kollege Fuchs, ich glaube, man muß hier sehr genau differenzieren und sagen, daß das bloße Fassen in Notensystemen den Menschen natürlich nicht qualifizieren kann, sondern daß dies nur ein Behelf ist, von dem wir niemals herunterkommen. Deswegen ja auch in § 32 des Hochschulrahmengesetzes ergänzende Qualifikationen. — Ich bitte Sie aber jetzt, Herr Kollege, da meine Zeit zu Ende geht, mir zu erlauben, daß ich hier zum Abschluß komme.
Weil wir im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft mit Ihnen Probleme hatten, welche Gruppen von Studenten wir hören sollten, wenn es um die Meinung der Studenten geht, möchte ich abschließend sagen, daß wir sehr vieles, was sich in Amerika entwickelt hat, nach unserer ganzen Erfahrung einige Jahre später hier bei uns bekommen. Das war mit Op, mit Pop und den Hippies so und auch mit einem wesentlichen Teil der Studentenbewegung.
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Lattmann
Deswegen sehen wir auf diese Erfahrungen und stellen sie in den Zusammenhang mit Vorgängen an unseren Universitäten. In Amerika haben wir in überraschendem Maße eine junge Studentengeneration der Anfangssemester, die versachlicht ist, die politisch nicht resigniert, aber nach einem absolut versachlichten Neuanfang verlangt. Universitätsprofessoren und auch Studenten in unserem Lande bestätigen, daß wir die Anfänge einer entsprechenden Entwicklung auch bei uns haben. Deswegen sollten wir uns sagen, daß die reformpolitische Vernunft es gebietet, nun nicht Stimmungen an den Universitäten, die weiterhin zu extremen Entwicklungen tendieren, dadurch neu aggressiv zu stärken, daß wir jede Begebenheit, die uns nicht paßt, in der Offentlichkeit zum Paukenschlag geraten lassen und daraus politisch Kapital schlagen.
Meine Damen und Herren, wir können von der Ernüchterung der jungen Generation, die auch bei uns eingesetzt hat,
insofern profitieren, als wir hier — wir müssen sehen, wieweit wir gemeinsam kommen — die Aufgabe haben, dies aufzugreifen und durchzuhalten. Wir von der Koalition sind gespannt, wie konstruktiv Ihre Beiträge am nächsten Donnerstag zu den Einzelheiten unseres Entwurfs für das Hochschulrahmengesetz sein werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Möllemann.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Fraktion der FDP möchte ich in Ergänzung zu den Ausführungen meiner Kollegin Schuchardt zu einigen Aspekten der Großen Anfrage und auch zu einigen Aspekten der Antwort der Bundesregierung Stellung nehmen und dabei auch auf die Äußerungen eingehen, die hier gefallen sind, im wesentlichen auf die Äußerungen der Kollegen Gölter und Waigel. Dabei will ich gar nicht vorweg behaupten, daß ich auf Polemik verzichten will das geht nicht gut —, aber ich will sehen, daß die Polemik so sachbezogen wie möglich bleibt.
Bei kritischer Lektüre der Großen Anfrage, aber auch beim Anhören der Debattenbeiträge der geschätzten Kollegen kann man sich nur mühsam des Eindrucks erwehren, daß der von uns schon seit langem beklagte Kompetenzwirrwarr — ich muß ihn, Kollege Lattmann, Sie entschuldigen, doch noch einmal erwähnen in der Bildungspolitik nun auch dazu geführt hat, daß Ihre Einschätzung der Möglichkeiten der Kompetenzlage hier in die Diskussion etwas wirr war. Wer dem Bund nicht die Kompetenzen einräumt, die er bräuchte, wenn er alles das, was Sie von ihm verlangen, tun sollte, der sollte dann auch nicht den Eindruck erwecken, als habe der Bund die Kompetenzen und damit die Möglichkeit und Verpflichtung, Ihren Forderungen zu entsprechen.
Sie haben seinerzeit in der These 26 Ihres Berliner Programms daraus gedanklich eine Konsequenz gezogen, haben das aber nachher revidiert. Ich bedaure das eigentlich sehr. Wenn das praktisch geworden wäre, stünden wir in dieser Debatte wahrscheinlich nicht an diesem Punkt.
Herr Kollege Gölter, ich denke, ich werde auf einige Ihrer Ausführungen nachher sowieso noch präzise eingehen; vielleicht stellen Sie Ihre Meinung dann in Form von Zwischenfragen hier zur Diskussion.
Ein Weiteres fällt mir an Ihren Einlassungen immer wieder auf. Sie sprechen neuerdings, vor allen Dingen im Hinblick auf die Lehrpläne, stets von der großen Bedeutung eines kritischen Geschichtsbewußtseins. Nur scheint sich Ihr kritisches Bewußtsein gegenüber Ihrer eigenen jüngeren Geschichte im Verdrängen derselben zu erschöpfen, jedenfalls bei solchen Diskussionen.
Wir verlangen überhaupt nicht, daß Sie in einer gewissen Mea-culpa-Haltung auf jede Kritik neuerer Entwicklungen verzichten.
Nur würde Ihre Kritik etwas glaubwürdiger und annehmbarer erscheinen, wenn Sie dabei erkennen ließen, daß Sie um Ihre eigenen Versäumnisse wissen, und Leistungen dieser Regierung z. B. beim Ausbau des Hochschulsektors in Relation setzten zu dem, was Sie geschafft haben, und dem, was Sie eben nicht geschafft haben bzw. was die von Ihrer Partei regierten Länder auch nicht schaffen. Dann würden Sie jedenfalls Fragen wie die unter Punkt 4 formulierte nicht stellen, in der Sie schlichtweg behaupten, die Studienchancen für Absolventen seien noch nie so gering gewesen wie heute. Bei kritischer Prüfung der dazu vorgelegten Zahlen werden Sie wahrscheinlich diese Auffassung selbst revidieren.
Unabhängig von dieser kritischen Einleitung möchte ich allerdings, um zur Sache selbst zu kommen, klarstellen, daß auch wir die derzeitige Situation im Hinblick auf den Numerus clausus für unbefriedigend halten und uns mit Nachdruck dafür einsetzen wollen, daß der Bund seinen Beitrag zur Verbesserung der Lage leistet, so wie er das bisher getan hat, und möglichst noch darüber hinaus.
— Ja, Herr Kollege Probst, der eine hat zumindest ab und zu noch eine spontane Erkenntnis, der andere noch nicht einmal das.
In Anfrage und Antwort werden hierzu einige Möglichkeiten aufgezeigt, auf die ich hier kurz ein-
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Möllemann
gehen will. Dabei läßt es sich nicht vermeiden, quasi im Vorgriff auf die Debatte über das Hochschulrahmengesetz, die wir in der nächsten Woche hier haben werden und bei der wir diese Bereiche grundsätzlicher werden behandeln müssen, einige Aspekte dieses Gesetzes mit einzubeziehen. Wir gehen davon aus, daß die wesentliche Ursache für den Numerus clausus nicht nur die unzureichenden Personal- und Raumkapazitäten sind, sondern daß mindestens ebenso negative Auswirkungen ihren Grund darin haben, daß immer noch keine Studienreform geleistet worden ist. Ich nehme an, Herr Kollege Gölter, daß Sie sich heute morgen etwas mißverständlich ausgedrückt haben, als Sie davon sprachen, die Erwartung, durch Studienreform den Numerus clausus mildern zu können, sei irreal.
— Ich habe Sie anders verstanden. Sie haben folgendermaßen abgeleitet, um das einmal deutlich zu machen: Da, wo Studienreform geleistet worden ist, gibt es den krassesten Numerus clausus: in der Medizin. Also bringt die Studienreform offenbar nichts. So ungefähr war Ihre Logik. Sie haben damit wieder einmal Äpfel und Birnen verglichen, wie das des öfteren hier geschieht.
Die Hochschulen haben es in ihrer überkommenen Struktur, präziser gesagt: während der Wirksamkeit des Ordinarienprinzips nicht einmal zu Ansätzen echter Studienreform gebracht, die zur Bewältigung des von uns gewollten Massenansturms nötig gewesen wären. Dies hatte seinen Grund meines Erachtens sowohl in der undemokratischen Struktur der Hochschulen als auch im Mangel an geeigneten Instrumentarien, und beidem wollen wir im Hochschulrahmengesetz Rechnung tragen. Wir wollen konkret dafür sorgen, daß nicht mehr nur eine privilegierte Gruppe in der Hochschule bestimmt, was geschieht, bzw. in diesem Fall, was nicht geschieht. Wir wollen den dann demokratisch strukturierten Hochschulorganen die Instrumentarien geben, mit denen man Studienreform überhaupt erst durchführen kann.
Wenn der Kollege Gölter heute sagte — ich erlaube mir, zu zitieren —, wir brauchen eine entschlossene Studienreform, die aus dem Grabenkrieg der Gruppeninteressen herausführt, dann will ich jedenfalls offen sagen, daß dies nur gelingen kann, wenn keine Gruppe für sich in Anspruch nimmt, alle anderen unterbuttern zu können. Wir sollten uns hier hüten, in der politischen Debatte den Eindruck aufkommen zu lassen, als gäbe es eine Partei, die diese eine Gruppe, die partiell diesen Anspruch geltend macht, unterstützen wollte.
— Das wäre sogar bei dem einen oder anderen Posten hier in diesem Hohen Hause angebracht.
Die wissenschaftliche Autonomie der Hochschule, die wir dadurch verdeutlichen, daß wie jede Fachaufsicht ablehnen, leidet nicht unter diesen staatlichen Maßnahmen. Sie erhält nur die notwendigen Hilfsmittel bzw. den angemessenen strukturellen Rahmen. Es ist doch nicht die einzige Zielsetzung der Studienreform, die Voraussetzung für eine Herabsetzung der durchschnittlichen Verweildauer zu schaffen.
Im Hinblick auf die Numerus-clausus-Problematik aber möchte ich jetzt nur von dieser Perspektive ausgehen und nachdrücklich die Auffassung der Bundesregierung unterstreichen, daß jeder, der eine Entspannung der Situation im Hochschulzugang will, mit uns durch eine schnelle Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes dafür sorgen sollte, daß die dort initiierte Studienreform mit den dort angesetzten Instrumentarien in Gang kommt. Auf die spezielle Problematik der Regelstudienzeiten möchte ich erst in der nächsten Woche bei einer intensiveren Debatte dieses Problems eingehen.
Darüber hinaus müssen wir deutlich sagen, daß wir insbesondere von der Gruppe der Hochschullehrer 'besondere Anstrengungen auf diesem Gebiet erwarten können und müssen. Die von dieser Gruppe in Anspruch genommene Sonderstellung kann auch nur so einigermaßen gerechtfertigt werden.
Etwas skeptisch stehe ich der Auffassung gegenüber, die Reform der Lehrkörperstruktur für sich bringe schon die großen Erweiterungen der Kapazitäten. Dies bleibt meines Erachtens abzuwarten.
— Dem stimme ich zu, Herr Kollege Pfeifer; wir werden sicherlich in der nächsten Woche im einzelnen darüber diskutieren können, wie diese Reform der Lehrkörperstruktur im Detail auszusehen hat.
Wesentlicher erscheint mir der Ansatz, durch eine gezielte Förderung des Hochschullehrernachwuchses die personellen Engpässe, die es zweifellos noch gibt, zu beseitigen. Diese Bundesregierung leistet diese Aufgabe durch das Graduiertenförderungsgesetz. Das Problem der Länder ist es, eine ausreichende Anzahl von Planstellen zu schaffen.
Hier ist es, Herr Kollege Gölter, natürlich nicht ganz richtig, einfach zu sagen, die Länder könnten ganz einfach nicht die notwendigen Mittel zum personellen und räumlichen Ausbau der Hochschulen bereitstellen. Das sagten Sie heute morgen, als wir Sie darauf hinwiesen, daß manche Mittel gar nicht abberufen werden. Ich habe manchmal den Eindruck, die Länder wollen schlicht und ergreifend manchmal bestimmte Mittel auch nicht abrufen.
Mir ist jedenfalls im Bereich der Planstellen und im
Bereich des Hochschulausbaus entgegen den Ausführungen des Kollegen Waigel hier nicht deutlich ge-
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Möllemann
worden, daß die CDU/CSU-regierten Länder auf diesem Gebiet etwa führend wären.
Möglicherweise würden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, für die Lage der Schüler und Hochschüler, die Sie offenbar sehr bedrückt, mehr tun können, wenn Sie auf die eine oder die andere Deklamation hier in Bonn verzichteten und statt dessen Ihre Energie darauf richteten, Ihre Kollegen in den Ländern zur Realisierung Ihrer hier geäußerten großen Ansprüche zu bewegen.
Zumindest sollten Sie sie überzeugen, daß es gerade für die Bekämpfung des Numerus clausus besser wäre, wenn die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat konstruktiv an der beschleunigten Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes mitarbeiten würde.
— Herr Gölter, „konstruktiv" definieren Sie möglicherweise anders als ich; das will ich jetzt nicht zu einem Streit ausweiten. Jedenfalls haben Sie hier heute versucht, den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie in der letzten Legislaturperiode allein auf Grund verfassungsrechtlicher Bedenken die Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes abgewürgt.
Dahinter stand doch ganz klar — wir brauchen uns ria nichts vorzumachen, denn das war doch an der ganzen politischen Lage deutlich abzulesen — eine ganze Reihe von taktischen machtpolitischen Überlegungen, ,die mit ,der besonderen Lage in der 6. Legislaturperiode in Zusammenhang zu sehen sind.
— Herr Kollege, ich weiß nun nicht, ob Sie sich immer nur zu den Dingen äußern, die Sie selbst hier erlebt haben. Ich hatte den Eindruck, daß sich hier .der eine oder der andere, der auch nicht viel älter ist als ich, auch schon einmal erlaubt, vier, fünf oder auch zehn Jahre zurückzugehen. Wenn es Ihr historisches Verständnis ist, daß man immer nur über das letzte Jahr sprechen darf, dann mögen Sie weiterhin dieser Meinung sein.
Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pfeifer?
Ja, bitte schön!
Herr Kollege Möllemann, ohne jetzt auf die Beratung des Hochschulrahmengesetzes in der letzten Legislaturperiode nochmals
voll einzugehen, möchte ich Sie fragen: Ist es nicht legitim, wenn man gegen die Verabschiedung eines Gesetzes ist, das man für verfassungswidrig hält?
Zweifellos ist das legitim. Nur sollten Sie — um das deutlich zu sagen — heute nicht den Eindruck erwecken, als hätten Sie das Votum des Gerichts vorher gekannt. Ihr Ring Christlich-Demokratischer Studenten tritt noch heute für die Drittelparität ein. Sie haben sicherlich in Ihren Reihen lange diskutiert, ob man nicht die Drittelparität einführen könne. Heute tun Sie so, als hätten Sie schon immer gewußt, daß die Drittelparität verfassungswidrig ist. Ich muß Ihnen offen sagen, ich halte die Drittelparität auch nach dem Votum des Gerichts mit gewissen Modifikationen immer noch für verfassungsgemäß.
Dies ist eine einseitige Begründung. Geben Sie doch einfach zu, daß in der letzten Legislaturperiode das Verhalten Ihrer Fraktion nicht nur gegenüber diesem Vorhaben, sondern auch bei einer ganzen Reihe anderer Vorhaben von ganz anderen Gesichtspunkten bestimmt war.
— Ich überlasse es Ihrem Einfühlungsvermögen
oder dem Studium der Akten, das herauszufinden.
Im Hinblick auf die Beratung von Schülern und Studenten begrüßen wir die in der Antwort der Bundesregierung geschilderten Bemühungen der Regierung. Im übrigen glauben wir, daß der Katalog von Empfehlungen, der im Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 14. September 1973 aufgeführt wird, geeignet ist, insbesondere die Aktivitäten der Länder und der Hochschulen auf diesem Gebiet wirksamer zu gestalten. Auch hier bietet sich diese Chance den CDU-regierten Ländern in dem gleichen Ausmaß wie allen anderen.
Beim Studentenwohnheimbau wird die Gesamtproblematik, um die es geht, besonders deutlich. Alle vor Jahren angestellten Schätzungen, alle auf der Basis dieser Schätzungen formulierten Zielwerte haben einen Fehler: Niemand hat — auch niemand in Ihrer Fraktion — erwartet, daß der Zustrom zu weiterbildenden Schulen und in der Folge zu den Hochschulen so überaus schnell anwachsen würde. Von daher war es zum damaligen Zeitpunkt in dieser Hinsicht auch nicht unrealistisch, als Zielvorstellung zu formulieren, man wolle etwa 30 % aller Studierenden einen Wohnheimplatz anbieten. Heute sind die im Bildungsgesamtplan veranschlagten Zielpunkte realistischer und, wie ich meine, insgesamt akzeptabel.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle betreffend den Bildungsgesamtplan einschieben, daß wir diesen Plan zwar für sehr respektabel halten, unsere Fraktion aber diesen Plan weder mitberaten noch mitverabschiedet hat und sich also stets die Freiheit nehmen wird, dann, wenn sie in einzelnen Punk-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4189
Möllemann
ten eine andere Auffassung hat, dies hier auch deutlich zu machen.
Die Bildungspolitiker auf Bundesebene sollten nach meiner Auffassung — ebenfalls im Bereich des Studentenwohnheimbaus — darauf hinwirken, daß die Länder die Möglichkeiten voll ausschöpfen und z. B. die stilliegenden Gelder, die ja noch vorhanden sind, abrufen.
Ein anderer Aspekt spielte heute in der Debatte bereits eine Rolle, und zwar die Frage: Nach welchen Kriterien sollen Plätze dort vergeben werden, wo Engpässe bestehen? Ich möchte hier mit allem Nachdruck auf die Fragwürdigkeit hinweisen, die in der Vergabe von Studienplätzen nach Notenschnitten liegt. Mir jedenfalls fällt es sehr schwer, zu wissen, wie sehr die Notengebung von Schule zu Schule, von Land zu Land differiert,
auch zu wissen, wie wenig in den meisten Studienbereichen Notenschnitte über die Qualifikation zum Studium bestimmter Fächer aussagen können, und dann doch darauf zu beharren, daß möglichst viele Studienplätze nach eben diesem fragwürdigen Kriterium vergeben werden. Der Hochschulrahmengesetzentwurf nimmt diese Überlegung auf und kommt jedenfalls zu anderen Ergebnissen als der Staatsvertrag; wir werden diese Bestimmungen hier im einzelnen zu prüfen haben. Auf jeden Fall aber wird der Staatsvertrag durch die bundesgesetzliche Regelung abzulösen sein. Dafür sprechen neben den vor mir hier genannten Gründen auch die, die Frau Schuchardt hier dargelegt hat.
Lassen Sie mich abschließend eine grundsätzliche Bemerkung machen: Bund und Länder sollten gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, um den Numerus clausus so schnell und so weit wie möglich zu verringern.
Dies nicht aus einer gefühlsmäßigen Gemeinsamkeit, sondern, weil es die Pflicht dieser beiden Körperschaften ist.
Dies gilt insbesondere für die Bereiche, in denen ein starker öffentlicher Bedarf unverkennbar vorhanden ist, z. B. in der Medizin. In diesem speziellen Bereich wird z. B. dafür Sorge zu tragen sein, daß nicht aus gewissen Gründen — trotz ständig steigender Personal- und Sachaufwendungen — die Ausbildungskapazität bzw. die Zulassungszahl fast gleich niedrig bleibt; hier ist jedenfalls meines Erachtens der öffentliche Bedarf höher einzuschätzen als ein bestimmter Interessenklüngel. Bund und Länder müssen mindestens die im Bildungsgesamtplan formulierten Zielwerte erreichen.
Eines aber müßte in dieser Debatte, insbesondere durch die Informationen, die von der Bundesregierung in Beantwortung Ihrer Großen Anfrage gegeben worden sind, deutlich geworden sein: Bei allen Anstrengungen, die wir unternehmen wollen und müssen, wird es nicht möglich sein, der Gesamtzahl
an Studienberechtigten, die auf uns zukommt, eine ebenso hohe Zahl an Studienplätzen gegenüberzustellen. Wir sind uns sehr wohl dessen bewußt, daß hier der Konflikt zwischen der Freiheit der Wahl des Studiums und des Berufs auf der einen und der Möglichkeit und den Grenzen dieser Möglichkeit der Gesellschaft auf der anderen Seite deutlich wird. Wir wollen uns die Lösung dieses Konfliktes auch nicht leicht machen; nur wollen wir verdeutlichen, daß wir im Moment ganz konkret in diesem Konflikt stehen und daß es keine Patentlösung gibt.
Auf dieser Einschätzung aufbauend wird es unsere Aufgabe sein, durch eine verstärkte Bedarfsberechnung und ein Maximum an Transparenz und Information eine vernünftige Synthese aus diesen beiden Ansprüchen zu finden. Solange allerdings die derzeitige Kompetenzenverteilung weitergeht, wird dies nur in enger Kooperation zwischen Bund und Ländern möglich sein. Ich würde es deshalb als positives Ergebnis der Debatte werten, wenn Sie sich in den Ländern, in denen Sie Regierungsverantwortung haben, an den Maßstäben messen lassen würden, die Sie selbst in Ihrer Anfrage aufgestellt haben, und somit ebenso wie wir zu einer Verbesserung der bedauerlichen Situation im Bereich des Numerus clausus beitragen würden.
Das Wort hat der Abgeordnete Oldenstädt.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird meine Aufgabe sein, die Debatte auf das eigentliche Thema zurückzuführen. Über das Hochschulrechtsrahmengesetz werden wir uns in der nächsten Woche unterhalten. Ich werde insbesondere zu den Punkten 15 und 16 unserer Großen Anfrage zum Numerus clausus sprechen, d. h. also zu den Fragen: Was hat die Bundesregierung konkret unternommen, um den Abiturienten neben dem Hochschulstudium neue attraktive Bildungswege und Berufsbilder anzubieten, und was hat sie getan, um zu verhindern, daß sich neben den durch begrenzte Kapazität der Hochschulen bedingten Zulassungsbeschränkungen nunmehr auch noch ein sozialer Numerus clausus auszubrechen beginnt?
Bevor ich jedoch auf diese Frage eingehe, möchte ich erstens auf einige Äußerungen meiner Damen und Herren Vorredner aus den Koalitionsfraktionen eingehen und zweitens einer Sorge Ausdruck geben, die mich als einen Neuling in diesem Parlament zunehmend bewegt.
Herr Kollege Glotz, Sie haben die Rede von Herrn Gölter eine Rede gegen die Ministerpräsidenten der CDU/CSU und gegen den Bildungsgesamtplan genannt. Sie haben das behauptet; begründet haben Sie es nicht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß der Bildungsgesamtplan auch die Grundlage unserer bildungspolitischen Überlegungen ist.
Allerdings gehören die Sondervoten unserer Länder
zu diesem Plan hinzu. Daß es darüber hinaus Interpretationsdifferenzen zwischen Ihnen und uns geben
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Dr. Ing. Oldenstädt
mag, ist, so meine ich, aus den Darlegungen des Herrn Ministers zur Frage der Integration heute morgen bereits deutlich geworden.
Sie haben Herrn Pfeifer wegen seiner Presseerklärung vom 4. Dezember angegriffen, in der Kollege Pfeifer festgestellt hatte, daß der Wechsel der 60er Jahre jetzt zu Protest gehe, und haben gemeint, das falle nicht in Ihre, sondern in unsere Kompetenz. Das ist doppelt falsch, Herr Kollege Glotz, weil einmal die Zuständigkeit der Länder in dieser Frage von Ihnen außer acht gelassen wurde und weil zum anderen feststeht, daß die Initiativen der einseitigen Bildungswerbung wesentlich durch die SPD bestimmt wurden.
Sie, Herr Kollege Glotz, haben zu jener Zeit nur noch nicht geahnt, daß Sie die Suppe, die Sie sich einbrockten, ab 1969 selbst auslöffeln müssen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege, würden Sie uns erstens endlich einmal erklären, was einseitige Bildungswerbung ist, und würden Sie uns zweitens sagen, ob Sie nach wie vor zu der in Frage 4 Ihrer Großen Anfrage enthaltenen These stehen, daß es trotz der Tatsache, daß jetzt mehr Arbeiterkinder und nicht 5 % sondern 15 % eines Jahrgangs studieren, derzeit schlechter ist als jemals vorher.
Ja, selbstverständlich, Herr Glotz. Auf die Frage der Arbeiterkinder werde ich noch zurückkommen. Außerdem habe ich eingangs gesagt, daß ich hier nicht im wesentlichen zur Frage 4 Stellung nehmen werde, sondern zu den Fragen 15 und 16. Zu Frage 4 ist hinreichend gesprochen worden.
Nun aber zu der ersten Frage, was ich unter einseitiger Bildungswerbung verstehe: Die Bildungswerbung, die einseitig auf die allgemeine Schulbildung herkömmlicher Art, sprich: Sekundarstufe I und II, gerichtet war.
— Ja, gut, verspätete humanistische Bildungsideale.
Zur Frage des Anteils der Arbeiterkinder an der Gesamtzahl der Studierenden darf ich Sie, Herr Glotz, nur darauf hinweisen, daß dieser Anteil auch bereits vor 1969 stetig gestiegen ist, und diese Stetigkeit halte ich auch für sinnvoll. Ich weiß in dieser Frage, wovon ich rede, denn mit einer kleinen Einschränkung kann ich mich vielleicht als ein Kind aus einer Arbeiterfamilie betrachten.
Schlußbemerkung zu Ihnen, Herr Glotz: Herr Dr. Gölter hat eine engagierte Rede gehalten — da gebe ich Ihnen recht —, die aber nicht nur engagiert
war, sondern auch Stoff hatte. Sie hingegen haben
sich vor allem an rhetorischen Floskeln begeistert,
wenn Sie zum Beispiel von den Etablierten reden, die da meinen, es müsse auch noch Menschen geben, die die Schmutzarbeit machen, und wenn Sie dann mit diesen so charakterisierten Etablierten wie selbstverständlich natürlich die CDU/CSU gleichsetzen.
Frau Kollegin Schuchardt, Sie haben die Schulentwicklung begrüßt, weil sie Ihrer Auffassung nach die unüberwindbaren Barrieren vor den Gymnasien abgebaut habe. Lassen Sie mich dazu erstens feststellen: Unüberwindbare Barrieren vor den Gymnasien hat es nie gegeben. Zweitens. Mit der von Ihnen bestimmten Schulpolitik haben Sie die noch bestehenden Hindernisse lediglich vor die Tore der Hochschule verlegt.
Sie, Frau Kollegin, und mehrere Redner sonst noch haben an dieser Stelle ihre Hoffnung ausgedrückt, die Opposition möge sich bei der Beratung des Hochschulrechtsrahmengesetzes kooperativ verhalten. Sie können sicher sein: Wir werden auch bei diesem Gesetz unsere Aufgabe als Opposition wahrnehmen. Wir werden allerdings auch zukünftig nicht bereit sein, gegen die Verfassung zu verstoßen.
Herr Lattmann, ich habe Ihre sehr versöhnliche und sehr vorsichtige, ausgewogene Rede hier sehr begrüßt. Sie haben von den englischen Entwicklungen gesprochen, die sich von unseren so sehr unterscheiden. Sie haben gesagt, die Engländer hätten es geschafft, die Zahl ihrer Studienplätze in den fünfziger Jahren zu verdreifachen. Daß sie das geschafft haben oder daß sie besser mit ihren Bildungsfragen fertig geworden sind als wir, liegt aber nicht nur an dieser Tatsache, sondern es liegt vor allen Dingen daran, daß das Problem in England nicht in dem Maße ideologisiert wurde wie bei uns
und daß man seine Zeit nicht ausschließlich durch Mitbestimmungsfragen ausfüllte, schließlich und endlich daran, daß man im ganzen in seinen Ansprüchen bescheidener war und ist.
— Auch an Ihre, Herr Kollege Wehner. — Pardon, Herr Professor Schäfer.
— Auch an meine eigene, ja.
Was wollte die Fraktion der CDU/CSU mit ihrer Großen Anfrage und was will sie mit dieser Debatte erreichen? Zunächst einmal — das ist hier schon mehrfach gesagt worden —, daß die Abiturienten mehr Klarheit und ehrliche Antworten auf ihre Fragen nach den Studienchancen der Zukunft
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4191
Dr. Ing. Oldenstädt
erhalten. Darauf haben sie um so mehr einen Anspruch, als sich immer deutlicher zeigt, daß weder die Versprechungen der Bildungswerbung der sechziger Jahre noch jene aus dem Bildungsbericht 1970 erfüllt werden können, daß auch die von Bundesminister Leussink im Jahre 1971 ausgesprochene Erwartung, der Numerus clausus könne bis 1975 beseitigt werden, eine Illusion war.
Unser Anliegen war es aber auch — und für mich
trifft das im besonderen und uneingeschränkt zu —, den eigenen Informationsstand durch diese Große Anfrage zu erhöhen, aber mit nüchternen Daten und mit klaren Auskünften. Unser Ziel ist eben nicht, Herr Glotz, auf der Welle des Unmuts hier zu reiten.
Wie soll denn in diesem Hause Meinungsbildung geschehen? Wie sollen hier denn Entscheidungen getroffen werden, wenn nicht eine saubere Analyse vorausgeht, zu der die Bundesregierung, die doch dafür den Apparat hat, mit Fakten beiträgt?
Statt dessen scheint die Bundesregierung nur das eine Ziel zu haben, ihre Versäumnisse durch Zahlenspiele zu rechtfertigen, mehr zu verschleiern als offenzulegen.
Was soll man denn z. B. mit jener Tabelle auf Seite 1 der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage anfangen, in der die Bewerbungen von Studenten den Zulassungen gegenübergestellt sind und bei der in einer Fußnote darauf hingewiesen wird, daß die Zahlen über die Bewerbungen Doppelzählungen enthalten, „da Bewerber zweiter und niedrigerer Präferenz sowie solche, die sich jeweils im SS und WS des gleichen Jahres beworben haben, mitgezählt wurden"? Hier werden Zahlen einander zugeordnet, die keinen auswertbaren Bezug zueinander haben und deshalb als Antwort auf unsere Frage wertlos sind.
Oder, sehr geehrter Herr Staatssekretär Zander, was denken Sie sich dabei, wenn Sie auf eine Frage meines Fraktionskollegen Dr. Wagner nach der Entwicklung der Zahl der Studienplätze für Medizinstudenten in den letzten zehn Jahren zunächst die Zahl für das Jahr 1963, dann für 1971 und 1972 mitteilen und dann anfügen, daß die Zahl von 1971 gegenüber der von 1963 eine Steigerung von 16 %, die Zahl von 1972 gegenüber der von 1963 sogar eine Steigerung von 32 % bedeute? Hier ist doch lediglich das Bestreben erkennbar, möglichst hohe Steigerungsraten zu nennen, und zwar ohne Rücksicht auf deren Bedeutung und Aussagewert.
—
Wenn wir uns so informieren, meine sehr verehrten Damen und Herren, verhalten wir uns meiner Auffassung nach wie zwei Anwälte, die sich gegenseitig mit langen und möglichst verwirrenden Schriftsätzen eindecken, um dem anderen immer wieder neue Lasten des Beweises aufzubürden. Auf diese Weise wird uns die Analyse nicht gelingen und werden wir auch nicht die Wege finden, die uns letztlich doch gemeinsam aus der Bildungsmisere, in der wir sind, herausführen sollten.
Die Ansicht meiner Fraktion, daß den Abiturienten neben den Möglichkeiten des Hochschulstudiums neue attraktive Bildungswege und Berufsbilder angeboten werden müssen, wird offensichtlich von allen Mitgliedern dieses Hauses und von der Bundesregierung geteilt. Den zweiten Teil der Frage 15 nach den konkreten Maßnahmen zur Realisierung dieser Ansicht beantwortet die Bundesregierung jedoch wiederum pauschal und meiner Auffassung nach mit Absichtserklärungen. Dabei ist das angesprochene Problem keineswegs neu. Ich darf daran erinnern, daß meine Fraktion bereits in der letzten Legislaturperiode, und zwar am 3. November 1970, einen Antrag eingebracht hatte, in dem die Bundesregierung ersucht wurde, zu prüfen, in welchem Umfang die Berufs- und Laufbahnstrukturen in Wirtschaft und Verwaltung von den neuen Bildungsabschlüssen voraussichtlich verändert werden, und umgekehrt Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie Berufe und Laufbahnen reformiert werden könnten, um sie den neuen Bildungsabschlüssen anzupassen. Der Antrag scheiterte im wesentlichen am Widerstand der SPD-Mitglieder des federführenden Wirtschaftsausschusses und des mitberatenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung.
In dieser Legislaturperiode wurde der Antrag -wiederum durch die CDU/CSU initiiert — vom Deutschen Bundestag in seiner 42. Sitzung am 14. Juni angenommen. Dem Beschluß entsprechend wurden die Mitglieder dieses Hauses am 19. Oktober durch die Drucksache 7/1129 zur Berufs- und Laufbahnreform unterrichtet. Die Bundesregierung ließ wissen — hier zitiere ich mit Erlaubnis der Frau Präsidentin — :
Die Bundesanstalt für Arbeit unternimmt vielfältige Bemühungen, den zukünftigen Bedarf an beruflichen Tätigkeiten abzuschätzen ...
An einer anderen Stelle heißt es:
Die Bundesanstalt für Arbeit und ihr Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erwarten aufgrund einer Berufsverlaufsuntersuchung in Kürze Aufschlüsse über den beruflichen Weg ... Das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung in Berlin hat sich in einer Vorstudie und Problemanalyse mit ... befaßt .. .
Der Bundesausschuß für Berufsbildung hat nach eingehenden Vorarbeiten im Januar 1973 Kriterien gesetzt, nach denen Einzelprojekte der Ausbildungsgänge für Abiturienten beurteilt werden sollen ...
Schließlich heißt es:
Das Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in München hat in den Jahren 1971/1972 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft eine empirische Untersuchung über Ausbildungsmöglichkeiten für Abiturienten außerhalb der Hochschulen durchgeführt. Nach dem Ergebnis, das in Kürze veröffentlicht wird, zeichnet sich ab, daß die Zahl der Abiturienten, die ohne Studium in das Berufsleben eintritt, seit Jahren ständig abnimmt.
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Dr. Ing. Oldenstädt
Diese Zitate wären zu erweitern, aber ich will mir das versagen. Sie zeigen deutlich, daß die Bundesregierung konkrete Initiativen zu neuen Bildungswegen und Berufsbildern für Abiturienten ohne Hochschulstudium nicht entwickelt hat.
Die Bundesregierung hätte besser unsere darauf abzielende Frage mit einem klaren Nein beantwortet als mit allgemeinen Erörterungen über Ersatzangebote, über Modellversuche und über verkürzte Ausbildungszeiten von Abiturienten, die eine Berufsausbildung nach dem Berufsausbildungsgesetz absolvieren wollen.
Von diesen Allgemeinplätzen heben sich die konkreten Maßnahmen des Landes Baden-Württemberg wohltuend ab. In Baden-Württemberg wird gehandelt. Die Aufgabe, neue Bildungswege zu entwikkeln, ist aber nicht nur eine Aufgabe des Staates und der Bildungspolitiker — also unsere Aufgabe —; sie ist zugleich ein Anspruch auch an die Wirtschaft. dem sie besser gerecht werden sollte als bisher.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon überschritten.
Die Frau Präsidentin macht mich darauf aufmerksam, daß meine Redezeit abgelaufen ist. Ich hätte gern noch etwas zu der Frage 16 gesagt.
— Gut, in der nächsten Woche.
Ich fasse zusammen. Die Bilanz der Maßnahmen dieser Bundesregierung gegen ,den Numerus clausus ist der Auffassung meiner Fraktion nach eindeutig negativ. Es ist an der Zeit, daß wir nicht mehr nur reden, sondern etwas tun. Der Entschließungsantrag der CDU/CSU weist den Weg dahin. Wir sollten diesen Weg beschreiten.
Meine Damen und Herren, zur allgemeinen Aussprache liegt keine Wortmeldung mehr vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Uns liegen der Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, FDP auf Drucksache 7/1360 und der Entschließungsantrag der Fraktion ,der CDU/CSU auf Drucksache 7/1362 vor. Der amtierende Präsident hat sich mit großem Eifer bemüht, festzustellen, welches der weitergehende Antrag ist. Um dabei jedoch zu einem Ergebnis zu kommen, müßte man die Maßstäbe dafür, was weitergehend ist, kennen: die Quantität der Studienplätze oder die Höhe der staatlichen Ausgaben oder die Qualität .des Bildungswertes? Bitte haben Sie deswegen Verständnis dafür, daß ich nach der Reihenfolge des Eingangs vorgehe und den Antrag Drucksache 7/1360 zuerst aufrufe. Zur Begründung hat der Abgeordnete Meinecke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte die Absicht — ich frage jetzt, ob dies möglich ist —, zu beiden Anträgen Stellung zu nehmen. Damit wäre die Stellungnahme zu diesen Anträgen in einem Durchlauf, aber auch eine Diskussion über die Anträge, möglich.
Wer möchte denn von der anderen Seite noch eine Begründung geben? Wir können die Debatte natürlich damit verbinden.
— Die Begründung ist bereits erfolgt? Dann würde ich sagen, Herr Kollege Meinecke kann mit der Begründung auch gleich die Stellungnahme verbinden, denn er wäre ohnehin als erster Redner an der Reihe. — Sie sind einverstanden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es liegen zwei Entschließungsanträge vor. Der Inhalt dieser beiden Anträge spiegelt den Gang der Diskussion und damit auch die unterschiedlichen Auffassungen wider. In dem Antrag der Fraktionen der SPD, FDP heißt es:
Der Bundestag stellt fest, daß Bund und Länder den Ausbau und Neubau der Hochschulen schneller vorangetrieben haben als ,dies in den Planungen 1970 und im Bildungsbericht '70 vorgesehen war. Allerdings hat auch die Zahl der Studienbewerber ,schneller zugenommen, als damals vorauszusehen war.
Es ist unterschlagen worden, daß dies mit dem zusätzlichen Bericht demonstriert und belegt werden kann, den uns die Bundesregierung vorgelegt hat. Der Bericht macht deutlich und sagt der deutschen Öffentlichkeit, daß in den letzten sechs Jahren die Zahl der Studenten und der Studierenden um 250 000 — das ist eine Viertelmillion — zugenommen hat. Das bedeutet in der Struktur: 5 neue Universitäten von der Größe der Universität Marburg, 20 Pädagogische Hochschulen von der Größe der Hochschule Köln und 15 Fachhochschulen von der Größe der Fachhochschule Aachen. Dies wollen wir einmal in den Raum stellen, weil damit klar wird, daß kein Antrag akzeptiert werden kann, der nicht zuvor einmal feststellt, daß diese Leistung gewürdigt werden muß.
Wir haben dann im weiteren Verlauf unseres Antrags klargemacht, daß wir für die Dauer und für die Zukunft erkennen müssen, daß die Zahl derjenigen, die eine Studienberechtigung haben, immer größer sein wird als die Zahl der Studienplätze. Das ist vielleicht eine bittere Erkenntnis. Aber es ist auch gut, das auszusprechen.
Genau um diesen Punkt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben Sie sich in Ihrer Aussage herumgedrückt. Es war doch im Gegenteil bitter, Ihr Zitat entgegenzunehmen, daß wir uns damals mit der Bildungswerbung, mit der Eröffnung der Möglichkeiten, die weiterführenden Schulen zu durchlaufen, eine Suppe eingebrockt haben, die wir jetzt auslöffeln können. Dies war gewissermaßen
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4193
Dr. Meinecke
entlarvend. Denn wir sind uns darüber im klaren, daß wir, wenn die Politik fortgesetzt worden wäre, die in den 60er Jahren betrieben wurde, natürlich heute das Numerus-clausus-Problem nicht hätten. Wir hätten es dann vielmehr in den verschiedenen Stufen unseres Schulwesens, und dann könnten nur höchstens 4 bis 5 % oder 8 % eines Jahrgangs studieren, so daß wir nur eine geringe Zahl von Zulassungsbeschränkungen brauchten. Das ist das kardinale Problem. Es handelt sich hier um den letzten großen Engpaß, den wir bewältigen müssen.
Dies bringen wir in unserem Entschließungsantrag zum Ausdruck, in dem wir in Ziffer 2 Buchst. a und b fordern, ,die Arbeit an den Bedarfsprognosen voranzutreiben und die Studienplätze in Engpaßfächern mit besonderem Bedarf vorrangig auszubauen. Außerdem fordern wir in Buchst. c die Errichtung eines Fernstudiums im Medienverbund, z. B. durch eine offene Universität. Das sollte in die Debatte und in die neuen Unternehmungen einbezogen werden.
Der Entschließungsantrag der CDU/CSU dagegen bringt einen Katalog von Maßnahmen, der unseres Erachtens nicht angenommen zu werden braucht, weil ein Teil dieser Maßnahmen eingeleitet worden ist und ein Teil bereits realisiert ist. Ich will Ihnen hierzu nur eine Zahl nennen. Sie haben vorhin gemeint, es sei überhaupt eine schlechte Sache, daß die Länder nicht imstande seien, gewissermaßen der „Angebotsdiktatur des Bundes" zu folgen und die gleichen Summen abzurufen, die der Bund zur Verfügung stellt. Dann sollte man die Länder finanziell besserstellen.
Was Sie sagen, meine Damen und Herren, ist hier doch gar nicht die Frage. Hier ist die Frage, daß wir alljährlich darum gekämpft und gerungen haben, im Bundeshaushalt eine bestimmte Summe für die Länder zur Verfügung zu stellen und zu erreichen, daß auf Grund der Verfassung und des Hochschulbauförderungsgesetzes von beiden Partnern zu gleichen Teilen die Summe gemeinsam aufgebracht wird.
Wie sieht das im Jahre 1972 aus? Der Bund stellt 1,569 Milliarden DM, und die Länder stellen 974 Millionen DM zur Verfügung. Nun will ich zugeben, daß die Situation der Länder schwieriger ist, weil sie die Folgelasten und die Personalkosten mitzutragen haben. Aber indem Sie dauernd die Summen des Bundes kritisieren und die der Länder außer acht lassen, kommen wir diesem Problem nicht näher.
Für unnötig halten wir es, daß in dem Entschließungsantrag dem Bundestag heute zwei Probleme zur Entscheidung vorgelegt werden, über die jetzt im Grunde genommen nicht beschlossen werden muß, sondern die im normalen Gesetzgebungsverfahren in den nächsten Wochen hier behandelt werden.
Erstens. Wir wissen alle, daß auf Grund des Ausbildungsförderungsgesetzes die Regierung noch in diesen Wochen einen Bericht vorlegt, ,der ,die soziale Situation der Schüler und der Studenten analysiert und dann zu Schlüssen führt, die wir im kommenden Jahr hier gemeinsam zu treffen haben, nämlich die Erhöhung der Förderungssätze. Dies heute ohne diesen Bericht zu beschließen ist unnötig.
Zweitens. Im Gesetzgebungsverfahren befindet sich ein Antrag des Bundesrats und Ihrer Fraktion zur Änderung des Hochschulbauförderungsgesetzes. Wir beraten ihn zur Zeit in den Ausschüssen. Wir werden sehen, wie wir die Zurverfügungstellung von Studentenwohnheimen für Studierende in den nächsten Jahren verbessern und die Zahl der bereitgestellten Wohnungen erhöhen können und Möglichkeiten finden, unbürokratisch und ohne großes Planungsverfahren auch die Zahl der sogenannten „Buden" im ganzen Land zu erhöhen.
Politisch hat die Debatte heute durch die Begründung des Kollegen Gölter und einige zusätzliche Begründungen von Ihrer Seite ergeben, daß vor der heutigen sachlichen Beratung unserer wichtigen Problematik von Ihnen die Bankrotterklärung dieser Regierung in Sachen „Ausbau und Neubau von Hochschulen" postuliert wurde. Dies — das habe ich Ihnen an den Zahlen nachgewiesen — ist nicht der Fall. Im Gegenteil, wir haben eine stolze Leistungsbilanz aufzuweisen, die international durchaus vergleichbar ist, wenn auch — das geben wir zu — nicht das erreicht werden konnte, was wir uns vor fünf oder zehn Jahren einmal vorgestellt haben.
Da die Grundlage dieser Bankrotterklärung von uns nicht akzeptiert werden kann und wir den Inhalt Ihres Entschließungsantrags zum Teil für erledigt halten, er zum anderen Teil ohnehin in der nächsten Zeit an Hand anderer Gesetzesvorlagen zu diskutieren ist, müssen wir vorschlagen, den Antrag der Fraktion der SPD und der FDP anzunehmen und den Antrag der CDU/CSU-Fraktion abzulehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gölter.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will auf den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU im einzelnen nicht mehr eingehen. Die Kollegen Dr. Waigel und Dr. Oldenstädt haben dies heute nachmittag getan.
Eine zweite Bemerkung. Wir sind davon ausgegangen, daß trotz gelegentlich harter Kontroversen in der Aussprache zu diesem Thema das Bemühen um eine gemeinsame Lösung dieses Problems im Vordergrund stehen sollte. So haben wir diese Debatte verstanden. Wir haben diese Debatte so verstanden, daß heute einmal der Nebel weggezogen werden sollte, der sich in erster Linie durch Erklärungen dieser Bundesregierung in der bildungspolitischen Landschaft breitgemacht hat.
Wir waren vor diesem Hintergrund der Auffassung, daß die Debatte über unseren Entschließungsantrag und den der SPD und der FDP im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft in nächster Zeit fortgeführt werden sollte. Es gibt eine ganze Reihe von gemeinsamen Überlegungen, die nicht durch eine
4194 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Dr. Gölter
kontroverse Abstimmung hier unter den Tisch gekehrt zu werden brauchten.
Wenn man von Gemeinsamkeit in der Bildungspolitik spricht, dann muß man diese Gemeinsamkeit auch praktizieren. Hier darf ich bitten, daß Sie einmal Seite 2 Ihres Entschließungsantrags zur Hand nehmen. Hieran stimmt ganz einfach nicht, daß der Bildungsgesamtplan die Gesamtschule festgeschrieben habe. Das war der eine kontroverse Punkt. Die gemeinsame Verabschiedung durch Bundeskanzler und Ministerpräsidenten ist eben unter dem Vorbehalt erfolgt, daß hier einige kontroverse Fragen in den Bildungsgesamtplan mit einbezogen werden. Es ist doch ein zu billiges Verfahren, derartige Dinge, die festgelegt waren und die Grundlage der Übereinstimmung in der Konferenz der Ministerpräsidenten waren, jetzt hier durch eine entsprechende Formulierung zu umgehen zu versuchen.
Der Vorschlag von SPD und FDP, hier über die Entschließungsanträge abzustimmen, schadet der Sache. Ich stelle den Gegenantrag, beide Entschließungsanträge dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Hier wird sich zeigen, wer der Sache dienen will und wer nicht.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Es ist beantragt, beide Entschließungsanträge an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Dieser Antrag geht vor. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? —
Das zweite war die Mehrheit. Der Überweisungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen dann zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Ich rufe zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und der FDP auf Drucksache 7/1360 auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit.
Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 7/1362 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das letztere war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe nunmehr Punkt 8 a der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung
— Drucksache 7/1281 —
Zur Begründung hat das Wort Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Bundesregierung lege ich Ihnen einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vor. Durch die vorgeschlagene Regelung wird die Rentenreform von 1972 ergänzt und abgerundet. Sie ist für über zwölf Millionen Arbeitnehmer von größter Bedeutung.
Durch das Gesetz sollen die freiwilligen Zusagen der Arbeitgeber auf Leistungen der Altersversorgung arbeitsrechtlich abgesichert werden, d. h. diese Leistungen werden weitgehend vor Verfall und Auszehrung geschützt. Sie werden außerdem an die flexible Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung angepaßt. Damit wird eine Lücke unserer Rechtsordnung geschlossen, die in zunehmendem Maße die Praxis in den Betrieben und die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte vor schwerwiegende, kaum lösbare Aufgaben gestellt hat.
Die vorgeschlagene gesetzliche Regelung bewirkt eine stärkere soziale Sicherheit für die Arbeitnehmer. Sie führt zugleich zu einer größeren Rechtssicherheit für alle Beteiligten, d. h. für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung stellen eine wertvolle Ergänzung der gesetzlichen Alterssicherung dar. Die bisherigen Regelungen sind aber mit einigen Schönheitsfehlern behaftet, die ihre Wirksamkeit beeinträchtigen und deshalb beseitigt werden müssen. Als einen erheblichen Mangel betrachte ich z. B., daß ein Arbeitnehmer seine Ansprüche verliert, wenn er den Betrieb wechselt. In der Regel verfallen die Ansprüche sogar dann, wenn der Arbeitnehmer dem Betrieb jahrzehntelang angehört hat.
Ein zweiter Mangel ist die heute meist übliche Kürzung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung im Gefolge der Erhöhung anderer Versorgungsleistungen. So wird vielfach der Erhöhungsbetrag des gesetzlichen Altersruhegeldes auf die Versorgungsleistung der Betriebe angerechnet, und das heißt mit anderen Worten: die Betriebsrente wird dadurch praktisch auf- und ausgezehrt.
Von großem Nachteil für die Arbeitnehmer ist auch die bisher fehlende Harmonisierung der Fälligkeitstermine für betriebliche Versorgungsleistungen und das flexible Altersruhegeld. Mancher Arbeitnehmer muß heute auf die Inanspruchnahme des flexiblen Altersruhegeldes verzichten und bis zum 65. Lebensjahr weiterarbeiten, weil er erst dann die betrieblichen Leistungen erhält. Das sind nach meiner Meinung drei schwerwiegende Mängel, die wir beseitigen wollen.
Im einzelnen schlägt die Bundesregierung folgende Neuregelung vor.
Erstens. Betriebliche Versorgungsanwartschaften, die mindestens zehn Jahre bestanden haben, verfal-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4195
Bundesminister Arendt
len nicht mehr, wenn der Arbeitnehmer nach der Vollendung des 35. Lebensjahres aus dem Betrieb ausscheidet. Das gilt auch für Anwartschaften, die noch nicht zehn Jahre bestanden haben, wenn der Arbeitnehmer dem Betrieb mindestens 15 Jahre angehört hat. Der Verfall betrieblicher Versorgungsanwartschaften wird damit weitgehend beseitigt.
Zweitens. Betriebliche Versorgungsleistungen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzentwurfs nur noch in beschränktem Umfang durch Anrechnung anderweitiger Versorgungen gekürzt werden. Die Anrechnung von Versorgungsbezügen, die überwiegend auf freiwilligen Beiträgen der Arbeitnehmer beruhen, wird untersagt. Ferner dürfen die bei Eintritt des Versorgungsfalles festgesetzten Leistungen der betrieblichen Altersversorgung später nicht mehr deswegen gemindert werden, weil anderweitige Versorgungsbezüge, insbesondere die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, im Rahmen der Dynamisierung gestiegen sind. Damit wird die Auszehrung der Betriebsrenten unterbunden.
Drittens ist vorgesehen, den Beginn der Leistungen in der betrieblichen Altersversorgung mit dem Leistungsbeginn in der gesetzlichen Rentenversicherung zu harmonisieren. Wenn ein Arbeitnehmer sein Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor dem 65. Lebensjahr in Anspruch nimmt, soll er auch vom gleichen Zeitpunkt an die betrieblichen Versorgungsleistungen beanspruchen können. Diese Angleichung der Altersgrenze in der betrieblichen Altersversorgung an die der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht der Ergänzungsfunktion der betrieblichen Versorgung. Sie trägt der Bedeutung dieser Versorgung im Rahmen der Gesamtversorgung des Arbeitnehmers Rechnung.
Diese arbeitsrechtlichen Regelungen werden durch steuerrechtliche Vorschriften unterstützt und durch dienstrechtliche Bestimmungen für Beamte, Richter und Berufssoldaten ergänzt. Die in den verschiedensten Rechtsbereichen angesiedelten Vorschriften über die betriebliche Altersversorgung im weitesten Sinne werden damit in überschaubarer Weise in einem Gesetz zusammengefaßt.
In diesem ersten Entwurf konnten noch nicht alle Probleme der betrieblichen Altersversorgung geregelt werden. Ich erwähne hier besonders die Sicherung der Versorgungsansprüche und -anwartschaften bei Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens. Die Bundesregierung bemüht sich seit geraumer Zeit auch für diese Frage um eine wirksame Lösung. Wir haben beispielsweise ein Forschungsgutachten in Auftrag gegeben, und wir haben kürzlich den Rohentwurf erhalten. Außerdem wurden in der Vergangenheit Gespräche mit den Tarifvertragsparteien geführt. Die Vorbereitungen sind jetzt so weit fortgeschritten, daß noch im Laufe der Beratungen in diesem Hohen Hause Formulierungsvorschläge unterbreitet und in den Entwurf eingearbeitet werden können.
Die betriebliche Altersversorgung soll durch dieses Gesetz für die Arbeitnehmer wirkungsvoller und sicherer werden. Damit wird auch der Platz der betrieblichen Altersversorgung in unserem System der
sozialen Sicherung gefestigt. Das kommt zunächst den über 12 Millionen Arbeitnehmern zugute, die bereits heute schon Zusagen auf betriebliche Versorgungsleistungen haben. Ich hoffe, daß die Arbeitgeber und die Tarifvertragsparteien dafür sorgen, daß möglichst bald alle Arbeitnehmer in der Bundesrepublik in den Genuß betrieblicher Versorgungsleistungen kommen.
Der Punkt 8 a wird für sich allein beraten. Danach werden wir in die Beratung von Punkt 8 b eintreten. Das Wort hat der Abgeordnete Zink.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU bekennt sich bezüglich der Sicherung im Alter zur Drei-Säulen-Theorie. Das heißt: a) die gesetzliche Rentenversicherung als Grundversorgung, b) die betriebliche Altersversorgung und c) die individuelle Altersversorgung, z. B. durch Lebensversicherungsverträge und Eigentumsbildung. Wir sehen in der betrieblichen Altersversorgung bei entsprechender Ausgestaltung ein wertvolles und eigenständiges Glied der Altersvorsorge, das soziale und ökonomische Zielsetzungen harmonisch in sich vereinigen kann.
In den letzten Jahren sind Mängel in der Gestaltung der betrieblichen Altersversorgung bekanntgeworden. Diese waren Anlaß dazu, ,daß die CDU/CSU eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat. Wir haben uns verschiedentlich zu diesem Problem geäußert und die Lösung durch die Vorlage eines Gesetzes gefordert. Bevor ich mich mit den sich uns darstellenden Problemen beschäftige, darf ich feststellen, daß die Opposition vor diesem Hintergrund den Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung begrüßt. Wir werden bemüht sein, das Unsrige dazu beizutragen, daß wir zu einer baldigen Verabschiedung des Gesetzes kommen; dies insbesondere, weil die gegenwärtige Konjunktur- und Arbeitsmarktlage die Lösung der Probleme der Unverfallbarkeit und der Insolvenz erneut dringlich macht.
Der erste Punkt, der auch wesentlicher Punkt der Regierungsvorlage ist, ist die Frage der Unverfallbarkeit der Pensionsansprüche bei Arbeitsplatzwechsel. Der Grundtendenz, die Unverfallbarkeit an gewisse Voraussetzungen zu knüpfen, stimmen wir zu. Wir stellen aber die Frage, ob die 15jährige Betriebszugehörigkeit nicht herabgesetzt werden könnte und ob das Lebensalter von 35 Jahren nicht noch einmal durchdacht und herabgesetzt werden müßte. Die Altersgrenze, im Zusammenhang mit der Fluktuation gesehen, könnte niedriger sein. Die Erfahrung zeigt, daß bei mehr als 28 Jahren die Fluktuation erheblich nachläßt und damit der Verwaltungsaufwand für die Betriebe geringer wird.
Aber auch für die berufstätigen Frauen treten bei dieser Altersgrenze Schwierigkeiten auf. Lassen Sie mich dies an einem praktischen Beispiel klarmachen. Es steht für mehrere Fälle, die uns als Fraktion schriftlich vorgetragen wurden. Z. B. hat eine An-
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Zink
gestellte die zehn Jahre der Pensionszusage erfüllt, und zwar bevor sie in diesem Fall das 35. Lebensjahr erreicht hat. Ihr Mann hat sein Studium beendet. Sie möchten Kinder haben. Um sich ihren Anspruch zu sichern, wäre die Frau in dem vorliegenden Fall gezwungen, noch zwei Jahre weiterzuarbeiten. Deshalb unsere Forderung, diese Altersgrenze noch einmal zu überdenken.
Der zweite für uns wichtige Punkt ist die Frage der Insolvenzsicherung bei Zahlungsunfähigkeit des Betriebes. Diese Frage ist bis jetzt im Gesetzentwurf nicht geregelt. Nur wenn dieser Punkt geregelt wird, kann nach unserer Auffassung das Ziel erreicht werden, für den Arbeitnehmer die betriebliche Altersversorgung zu einer ergänzenden Altersversorgung werden zu lassen.
Die Art der Insolvenzsicherung sollte von den Trägern der betrieblichen Altersversorgung selbst bestimmt werden können, damit für das jeweilige Versorgungssystem eine adäquate und kostengünstige Form gefunden werden kann. Als Träger der Insolvenzsicherung kämen insbesondere gemeinsame Garantiehaftungsverbände der Betriebe und die bereits vorhandenen Versicherungseinrichtungen in Frage. Schwierigkeiten bei der Durchführung der Insolvenzsicherung könnten durch Einführung eines Kontrahierungszwanges vermieden werden.
Eine zentrale staatliche Einrichtung zur Sicherung der betrieblichen Altersversorgung ist nach unserer Auffassung nicht notwendig. Zu begrüßen ist die von Bundesrat in Sachen Insolvenzsicherung einstimmig gefaßte Entschließung, die den Bundestag auffordert, dieses Problem zu lösen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat zwischenzeitlich angekündigt -und er hat es soeben wiederholt —, er wolle im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eine Vorlage nachreichen.
Zusammenfassend darf ich feststellen, daß die CDU/CSU die Frage der Insolvenzsicherung als einen der wichtigsten Punkte ihres Programms ansieht und Wert auf ihre Verwirklichung legt.
Im Punkt 3, der Kürzung der Betriebsrenten durch Verbesserungen von Versorgungsbezügen und Sozialversicherungsrenten, stimmen wir der Regierungsvorlage vollinhaltlich zu. Eine weitere Auszehrung der Betriebsrenten, wenn sie heute auch nur noch relativ vorkommt, sollte nach unserer Auffassung nicht mehr möglich sein.
Schwieriger zu lösen dürfte aber das vierte Problem sein, die Anpassung der betrieblichen Leistung an die wirtschaftliche Entwicklung oder, anders ausgedrückt, die Dynamisierung. Hierzu sagt der Gesetzentwurf nichts aus. Bekanntlich hat aber das Bundessozialgericht ein Urteil gefällt, das allerdings keine ständige Anpassung vorsieht, sondern nur dann, wenn seit der ersten Zahlung der Betriebsrente eine relativ selten hohe Steigerung der Lebenshaltungskosten eingetreten ist. Wir meinen, daß ein solches Urteil von uns nicht so ohne weiteres ignoriert werden dürfte.
Ich möchte auf Grund verschiedener Rückfragen bei uns klarstellen, daß die Lösung dieses Problems hohe Kosten verursachen wird, so daß es nur mittel-
oder langfristig gelöst werden kann. Die CDU/CSU fordert deshalb auch keine Volldynamisierung, sondern lediglich die Überlegung einer steuerlichen Förderung der Anpassung der Betriebsrenten von Zeit zu Zeit, damit etwa entsprechend dem Urteil des Bundessozialgerichts, das von einer 40%igen Lebenshaltungskostensteigerung ausgeht, verfahren werden kann.
Ich will aber nicht verhehlen, daß uns gerade zur Lösung dieser Frage sehr viele Petitionen von Betroffenen zugegangen sind, interessanterweise vor allem von leitenden Angestellten, die überhaupt nur von einer Betriebsrente leben. Sie beklagen sich darüber, daß sie durch die heutigen Preissteigerungen hier besonders in Schwierigkeiten geraten seien. Die Dynamisierung wird uns also auch nach Verabschiedung dieses Gesetzes hier im Deutschen Bundestag sicherlich weiter beschäftigen müssen.
Als nächste Frage stellt sich für uns das Problem, daß nur rund 60 % der Arbeitnehmer in den Genuß einer betrieblichen Altersversorgung kommen. Die Chancengleichheit gebietet, nach Mitteln und Wegen zu suchen, auch den restlichen 40 % zu helfen, die vornehmlich in Klein- und Mittelbetrieben beschäftigt sind. Wir begrüßen an dieser Stelle die Regierungsvorlage, die durch Verbesserungen in ihrem steuerrechtlichen Teil hier Verbesserungen anbietet. Langfristig gesehen wird hier noch eine Reihe weiterer Überlegungen notwendig sein. Hier kann man nur hoffen, daß das Angebot der Direktversicherung, wie es in der Vorlage enthalten ist, in Anspruch genommen wird.
Zustimmend möchte ich mich auch zu dem dritten Teil des Gesetzentwurfs, nämlich den dienstrechtlichen Vorschriften für unversorgt Ausscheidende im öffentlichen Dienst aussprechen. Hier sollten wir jedoch darauf achten, daß wir dem Staat als Arbeitgeber die gleichen Auflagen erteilen, wie wir sie auch der privaten Wirtschaft auferlegen.
Letztes sich für uns stellendes Problem ist die Regelung der Leistung der betrieblichen Altersversorgung bei Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze. Hier stimmen wir der Regierungsvorlage zu, daß bei Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze die betriebliche Altersversorgung gleichzeitig gezahlt werden sollte und daß die Zahlung der Betriebsrente keine Bremswirkung auf die Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze ausüben darf. Sichergestellt sollte aber auch umgekehrt sein, daß bei einer Nebenerwerbstätigkeit auch im eigenen Betrieb bis zu 690 DM im Monat — nach dem Stand 1973 — hinsichtlich der Betriebsrente keine Nachteile für die Betroffenen entstehen dürfen.
Meine Damen. und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Die von mir hier aufgeworfenen Fragen bedürfen dringend einer gründlichen Beratung. Das Gesetz sollte nach unserer Auffassung ohne Lösung der Insolvenzsicherung nicht verabschiedet werden. Als Rahmengesetz sollte es aber auch genügend Spielraum für die betriebliche individuelle Ausgestaltung haben, bei der Arbeitgeber und Betriebsrat gestaltend mitwirken können.
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Das Wort hat ,der Abgeordnete Dr. Nölling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über 100 Jahren gibt es in Deutschland freiwillige betriebliche Altersversorgungswerke, sozialpolitische Regelungen gibt es überhaupt nicht. Mit der Vorlage dieses Gesetzentwurfs wird in das Gebäude unserer sozialen Sicherung ein weiterer sehr wichtiger Stein gesetzt und ein schwieriges Reformprogramm von außerordentlicher Tragweite eingeleitet.
Herr Kollege Zink, wir haben es als sehr angenehm empfunden, daß Sie der Bundesregierung auch dafür gedankt haben. Eigentlich habe ich immer den Eindruck gehabt, daß Sie eine große Chance verpaßten, wenn Sie schon seit 1968 mit den Grundzügen übereinstimmten, aber keine Kraft hatten -oder was auch immer fehlte —, die Bundesregierung hier sozusagen zu überrunden.
: Warum haben
Sie die Steuerreform nicht gemacht?)
— Darauf komme ich gleich vielleicht noch zu sprechen. Immerhin müssen wir festhalten, dies ist ein Reformprogramm dieser Bundesregierung. Wir sind recht stolz darauf, daß es nun auf dem Tisch liegt.
Lassen Sie mich einiges zu den Größenordnungen sagen, um die es hier geht. In über 80 000 Unternehmungen in der Bundesrepublik gibt es betriebliche Altersversorgungseinrichtungen. Sie erfassen knapp 12 Millionen Arbeitnehmer oder etwa die Hälfte der Beschäftigten in der privaten Wirtschaft. Damit könnten unter Einbeziehung des öffentlichen Dienstes theoretisch etwas mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer neben der gesetzlichen Rentenversicherung eine Zusatzversorgung erhalten. Ich sage, sie könnten es — wenn das System wirklich funktionierte.
Die steuerlichen Rückstellungen für unmittelbar von den Unternehmen erteilte Pensionsversprechen stiegen von 21 Milliarden DM im Jahre 1965 auf 41 Milliarden DM im Jahre 1972. Nimmt man das Kassenvermögen der Pensions- und Unterstützungskassen hinzu, bei dem sich für 1972 ein weiterer Betrag von über 24 Milliarden DM ergibt, so kommt man alles in allem auf rund 65 Milliarden DM. Wenn man in das Sozialbudget hineinschaut, kann man feststellen, daß dieser Betrag ungefähr dem entspricht, der im Jahre 1972 zur Finanzierung der gesamten gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten und Arbeiter aufgebracht worden ist, nämlich 66 Milliarden DM.
Daß den außerordentlich hohen Rücklagen der Systeme der betrieblichen Altersversorgung relativ geringe Mittelabflüsse gegenüberstehen, steht ebenfalls im Sozialbudget. Ich nenne Ihnen nur die Summe: Es waren im Jahre 1972 nur etwa 2,5 Milliarden DM.
Das System der betrieblichen Altersversorgung ist außerordentlich vielschichtig und undurchsichtig. Wer kann schon den Unterschied zwischen einer Pensions- und Unterstützungskasse, einer Direktversicherung und betrieblichen Versorgungszusagen so genau beurteilen?
Noch wichtiger ist für uns aber die Frage, wie es denn nun mit den Leistungen und den Leistungsvoraussetzungen aussieht. Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist kaum überspitzt, wenn man sagt, daß das Steuerrecht als Freund und Helfer der Unternehmen entscheidend dazu beigetragen hat, daß die mit Abstand größte freiwillige betriebliche Sozialleistung in erheblichem Maße auf Kosten der Allgemeinheit finanziert wird und die Unternehmen in die Lage versetzt, eine vor allem für ihre Gesichtspunkte und ihre Interessenlage günstige Personalpolitik zu betreiben. Ich will damit nicht bestreiten, daß in vielen Fällen sicher auch die Motivation dahinterstand, gleichzeitig für mehr soziale Sicherheit der Arbeitnehmer zu sorgen.
Abgesehen von begünstigenden und animierenden steuerrechtlichen Vorschriften — ich sagte es schon — hat sich der Gesetzgeber bisher um die betriebliche Altersversorgung nicht gekümmert. Nun 'hat der Herr Kollege Zink schon darauf hingewiesen, daß es seit Jahren Entscheidungen der Bundesgerichte gibt, die zeigen, daß eine Reform dringend erforderlich ist, wenn nicht die sozialpolitische Funktion der betrieblichen Altersversorgung immer mehr hinter die finanzwirtschaftliche oder betriebswirtschaftliche Funktion zurücktreten soll.
Wir Sozialdemokraten begrüßen deshalb sehr, daß nicht nur ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, sondern auch die Entscheidung zugunsten der arbeitsrechtlichen Lösung und damit gegen eine steuerrechtliche Lösung gefallen ist. Diese Grundentscheidung wurde aus zwei Gründen erforderlich. Erstens. Das sozialpolitische Reformziel wird durch ein arbeitsrechtliches Gesetz direkt erreicht. Umwege und Umgehungsmöglichkeiten, die man gewähren würde, wenn steuerliche Gestaltungschancen eröffnet würden, können auf diese Weise vermieden werden. Zweitens. Die arbeitsrechtliche Lösung dient der Rechtsklarheit und ersetzt Richterrecht durch Gesetzesrecht.
Meine Damen und Herren, das gegenwärtige System — ich habe es schon anklingen lassen erfüllt die ihm in unserem gegliederten System der Alterssicherung zugedachte sozialpolitische Aufgabe nur sehr mangelhaft. Ich möchte — ähnlich wie der Kollege Zink, aber auch wie der Arbeitsminister — unsere Kritik in sechs Punkten zusammenfassen.
Erstens. Wer aus einem Unternehmen ausscheidet, das eine betriebliche Altersversorgung kennt, verliert heute den Anspruch auf diese zusätzliche Altersversorgung und wird aus diesem Grund oft davon abgehalten, den Betrieb zu wechseln. Am Beispiel der Pensionskassenzugehörigkeit und der entsprechenden Regelungen läßt sich zeigen, wie „großzügig" man gegenwärtig verfährt: Beim Ausscheiden unter Verlust der Leistung kann der Arbeitnehmer nur im Jahr des Ausscheidens die für seine Versorgung gezahlten Arbeitgeberbeiträge als negative Einkünfte steuerlich absetzen. Selbstverständlich müssen wir, Herr Kollege Zink, die Altersgrenzen überprüfen. Wohin wir dann gelangen, kann ich im Moment noch nicht sagen.
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Dr. Nölling
Zweitens. Wenn es zu einem Versorgungsfall kommt, greifen häufig Anrechnungs- und Limitierungsbestimmungen ein, so daß die Betriebsrente oft mit zunehmender Bezugsdauer immer mehr herabgesetzt und damit ausgezehrt wird, weil wir die dynamisierte Sozialversicherungsrente haben, und dies oft zum willkommenen Anlaß genommen wird, sich von Verpflichtungen, die man eingegangen ist, zu lösen. Ich meine, wir sollten im Gesetzgebungsverfahren prüfen, ob das, was die Bundesregierung nun vorgesehen hat, tatsächlich ausreichend ist.
Drittens. Durch die Einführung der flexiblen Altersgrenze ist ein Streit darüber entstanden, ob bei vorzeitigem Ausscheiden Anwartschaft und Fälligkeit der Versorgungsleistungen in Frage gestellt werden können. Der Gesetzentwurf schafft hier die wünschenswerte Klarheit, wenn er auch leider keine Regelungen bringt — wahrscheinlich auch nicht bringen kann, bringen konnte bzw. bisher nicht bringen konnte , um die Höhe der vorgezogenen Altersrente so zu beeinflussen, wie man das sozialpolitisch allein tun müßte, indem man nämlich auf versicherungsmathematische Abschläge verzichtete ähnlich, wie wir es bei der flexiblen Altersgrenze hier ja auch gemacht haben.
Viertens. Das System der betrieblichen Altersversorgung kennt keinen Dynamisierungszwang; bestenfalls gibt es in Einzelfällen Teildynamisierungen, die natürlich auch freiwillig sind. Da nach Erreichen des Rentenalters im Durchschnitt 12 bis 14 Jahre Rente bezogen werden kann, kann man an dem Problem der Auszehrung des realen Gehaltes einer Zusage durch Geldwertverschlechterungen sicher nicht mehr vorbeisehen.
Wenn man ein Beispiel bildet: Nach 14 Jahren wird eine Geldzusage wenn man eine jährliche Preissteigerung von 4 % unterstellt — nur noch 42 % ihres Wertes betragen.
— Ich habe gesagt, wenn man dies tut; ob Sie Anlaß hätten, noch optimistischer zu sein, wenn Sie die Wirtschaftspolitik zu verantworten hätten, bezweifele ich, Herr von Bismarck; aber das ist ja seit Jahren ein dauernder Streitpunkt in diesem Parlament.
So wünschenswert gesetzliche Vorschriften zur Dynamisierung auch wären, meine Damen und Herren, so verschließen wir uns doch den Gegenargumenten nicht. Ein Gegenargument ist natürlich: Dann kostet es noch mehr als das, was wir jetzt ja wollen. Wir beschneiden ja die finanziellen Vorteile für die Unternehmen durch die Einführung der Unverfallbarkeit, und wir haben den Eindruck, daß man jedenfalls in diesem Stadium des Gesetzgebungsverfahrens an weitere gesetzliche Schritte
— auch steuerliche — nicht denken kann und auch nicht denken sollte. Aber wir meinen, daß sich die Unternehmer etwas einfallen lassen müssen, um die
— so würde ich sagen — Teildynamisierung zur Regel werden zu lassen; Herr Zink hat auf die Rechtsprechung hingewiesen. Das mindeste, was dieser Bundestag bei Abschluß des Gesetzesvorhabens
machen müßte, wäre meines Erachtens, daß er an die Unternehmer einen Appell in Form einer Entschließung richtete, daß sie dem Problem von Zeit zu Zeit durch Eigeninitiative gerecht werden; sie werden sonst durch die Rechtsprechung und zu einem späteren Zeitpunkt sicher auch durch den Gesetzgeber dazu gezwungen. Dasselbe gilt für Klein- und Mittelbetriebe, die die Chance, die wir ihnen geben, so hoffen wir jedenfalls, ausnutzen werden.
— Das müssen wir sehen, Kollege Franke; das kann man ja in diesem Staate nicht allein entscheiden; da müssen wir Herren von Bismarck fragen, was der beispielsweise dazu sagen würde, wenn wir vorpreschten.
— Mich müssen Sie nicht fragen; ich bin der Auffassung, daß wir da zweifellos weitergehen könnten. Ich habe zu Weihnachten eine Wunschliste, auf der das dann stehen würde.
Fünftens. Der Gesetzentwurf enthält — das ist auch betont worden — keine Insolvenzsicherung. Dieses Fehlen der Insolvenzsicherung ist in der Tat zielwidrig, wenn man eine Reform des ganzen Systems will; das ist uns klar. Wenn man die individuell und gesamtwirtschaftlich bedenkliche Mobilitätsbremse nun wegnimmt, dann muß man meines Erachtens ergänzend eine Sicherungsveranstaltung organisieren, damit auch am Ende eines Arbeitslebens jemand da ist, an den man sich wenden kann, an einen Träger, der dann auch die Rente zahlt; denn der kann ja, wie wir wissen, verschwunden sein.
Wir meinen, daß die Insolvenzsicherung kommen muß, die Formen jedoch noch nicht ganz durchdacht sind. Wir sind uns noch nicht im klaren darüber, wie das im einzelnen aussehen soll, aber wir meinen, daß ein Grundsatz bzw. mehrere Grundsätze erfüllt sein müssen: Es muß ein gesetzlicher Beitrittszwang installiert werden, und die Sicherungsfunktion muß langfristig auch tatsächlich erfüllt werden können. Das sind die beiden Anforderungen. Wenn es Vorschläge gibt, werden wir sie sorgfältig prüfen und dann einer zentralen Fondslösung zustimmen. — Im Gegensatz zu den Empfehlungen des Bundesrates und zu dem, was der Kollege Zink soeben meinte —, wenn sich herausstellen sollte, daß auch bei bestem Willen privater Versicherungsgesellschaften oder privater Träger das Problem nicht in einem sozialpolitisch zufriedenstellenden Sinne gelöst werden kann.
Sechstens. Der Arbeitnehmer hat als Begünstigter in aller Regel keine Vorstellung über die Höhe seiner Anwartschaft im Alter — ähnlich wie im allgemeinen in der Rentenversicherung — und ganz sicher keine Vorstellung darüber, was er denn wohl bekommt, wenn er weit vor Erreichen der Altersgrenze, mit einem transportierbaren Anspruch also, aus seinem Unternehmen ausscheidet. Wir meinen, wir müßten im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens prüfen, ob diese Transparenz in diesem Zweig der
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Dr. Nölling
Altersversorgung etwa durch Kontoauszüge, also durch periodische Mitteilungen des Unternehmens hergestellt werden kann.
Meine Damen und Herren, ich habe zu den problematischen Punkten des Gesetzentwurfes einiges gesagt und auch angedeutet, weiches unsere Vorstellungen sind und wo wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch einiges ändern werden.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf folgendes hinweisen. Wir haben mit dieser Reform der betrieblichen Altersversorgung ich sagte es schon — einen außerordentlich wichtigen Schritt vor, um unser soziales Sicherungssystem weiter auszubauen. Wir haben seit 1970 auf diesem Gebiet eine ganze Reihe von Regelungen getroffen, die alle durch die Initiativen der Koalition zustande kamen. Wir haben seit 1970 versucht, unser soziales Sicherungssystem wetterfest auszubauen. Ich möchte an dieser Stelle einmal ganz kurz erläutern, wie die jetzt anstehende Reform in das Programm eingebaut ist, das wir seit 1970 verwirklicht haben. Ich nenne nur noch einmal die Gesetzgebungsbereiche, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Da ist einmal die Kriegsopferversorgung, die dynamisiert wurde. In der Krankenversicherung wurde die Pflichtversicherungsgrenze dynamisiert. Es wurde ein Beitrittsrecht für alle Berufsanfänger geschaffen. Wichtige Leistungsverbesserungen werden am 1. Januar 1974 in Kraft treten. Seit dem Jahre 1972 gibt es eine gesetzliche Krankenversicherung für Landwirte und Altenteiler. Im Arbeitsförderungsgesetz haben wir das Unterhaltsgeld für Umschüler dynamisiert, in der Rentenversicherung im letzten Jahr durch die Öffnung für Hausfrauen und Selbständige den Kreis der solidarisch Versicherten wesentlich erweitert.
Außerdem wurden Erleichterungen für den Erwerb von Rentenansprüchen usw. geschaffen, die aus dein Beruf Ausscheidenden, Landwirten usw., helfen.
— Ich war mir gar nicht bewußt, daß das Fernsehen dabei war, Herr Kollege Franke.
— Das können Sie ja tun, das ist ja die Aufgabe der Opposition. Nur möchte ich Sie dann bitten, auch einmal die positiven Dinge zu würdigen. Das wäre dann auch ganz schön.
Wir könnten auf die Unfallversicherung für Schüler und auf andere Dinge hinweisen. Ich will es mir ersparen, hier weiter darauf einzugehen.
Jedenfalls hat diese sozialliberale Koalition in den letzten vier Jahren ein soziales Sicherungssystem ausgebaut, das nicht nur für Schönwetterperioden gedacht ist, sondern von dem wir überzeugt sind, daß es auch bei rauherem Wetter, das ja möglicherweise
auf uns zukommen kann, seine Bewährungsprobe bestehen wird.
Wir können uns ganz sicher in der einen oder anderen Form auch weitere Leistungsverbesserungen vorstellen und werden auch darüber nachdenken. Die Einkommenssicherung bei Konkursen, die in einem gewissen Zusammenhang mit unserem Thema steht, ist weit vorbereitet und wird bald in Kraft treten.
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Vielleicht kann sich die Opposition meiner Beurteilung anschließen. Ich meine, es wird für die Kritiker dieser Regierung immer schwieriger, ihr vorzuwerfen, sie habe keine Reformarbeit in Angriff genommen oder verwirklicht.
— Auch Günter Graß ist hier kein Sachverständiger, Herr Kollege Götz, vor dem ich den Hut ziehen würde. Er ist kein Sachverständiger, der in der Lage wäre, zu beurteilen, was diese Regierung getan hat.
— Ich habe den Eindruck, er ist nicht in der Lage.
Wer dies nämlich weiter behauptet — jetzt selbstverständlich allein an die Adresse der Opposition gerichtet —, beweist bestenfalls, daß er nicht informiert ist oder daß seine Vorurteile noch intakt sind.
Es gibt den schönen Spruch eines Amerikaners namens Thoreau: Es ist nie zu spät, seine Vorurteile aufzugeben.
— Ich glaube gar nicht, daß das hoffnungslos ist.
Noch vor wenigen Tagen schrieb eine auflagenstarke deutsche Boulevardzeitung, die sich durch ihren Bilderreichtum auszeichnet und die nicht verdächtigt werden kann — im Gegensatz zu Herrn Graß —, dieser Regierung nahezustehen, über den Herrn Bundesarbeitsminister: „Andere wehklagen, Arendt tut was".
Die Vorlage dieses Gesetzentwurfes über die Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung stellt dies erneut unter Beweis. Wir werden versuchen, im Ausschuß so gründlich und so schnell wie möglich dazu beizutragen, daß dieses wichtige Gesetz sobald wie möglich verabschiedet wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen, meine Herren! Auch wir Freien Demokraten begrüßen es sehr, daß mit der Vorlage eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung nunmehr seit langem anstehende und notwendige Verbesserungen im Bereich der betrieblichen Altersversorgung aufgegriffen werden, nachdem es in der Vergangenheit nicht möglich war, auf steuerrechtlichem Wege diese Dinge in der Form zu regeln, wie es uns notwendig erscheint.
Wir sind der Bundesregierung und insbesondere dem Herrn Bundesarbeitsminister und seinen Mitarbeitern sehr dankbar dafür, daß dieser Entwurf, der notwendige Regelungen enthält und einen ersten Gesetzgebungseinstieg in die betriebliche Altersversorgung auf freiwilliger Basis darstellt, trotzdem ganz eindeutig eine Lösung im Rahmen der Freiwilligkeit und der wirtschaftlichen Möglichkeiten für die betriebliche Altersversorgung bringt.
Durch den Regierungsentwurf der sozialliberalen Koalition wird ausdrücklich den Vorstellungen widersprochen, die im Schoße der heutigen Opposition von einigen Herren — ich sehe einige hier sitzen — vor Jahren einmal entwickelt wurden, möglicherweise die betriebliche Altersversorgung und ihre Mittel irgendwie in die Rentenversicherung einzugliedern; ich habe hier so eine Anfrage von uns aus dem Jahr 1968 an den damaligen Bundesarbeitsminister vorliegen.
Wir sehen drei Grundsätze für die betriebliche Altersversorgung und ihre weitere Entwicklung durch den Gesetzentwurf gewahrt und möchten sie auch für die Zukunft weiter gewahrt sehen.
Erstens. Dort, wo es notwendig ist, daß der Gesetzgeber mit Regelungen eingreift, wie wir es in einigen Punkten ja tun, wird dies weitgehend in den Rahmen der freiwilligen Lösungen eingebettet und nicht zu einer Zwangszusatzversorgung entwickelt.
Zweitens. Es sollten alle Möglichkeiten — im steuerrechtlichen Teil sind einige neue Gedanken darin; ich werde noch auf einige Einzelheiten kommen — weiter ausgenützt werden, diese Freiwilligkeit durch steuerliche Anreize zu erweitern; denn auch wir sind der Meinung, daß es nicht allzulange dauern sollte, bis möglichst jeder Arbeitnehmer über eine solche zweite Stütze seiner Altersversorgung im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung verfügt.
Drittens sehen wir die auch von einem der Vorredner angesprochene Eigenständigkeit der betrieblichen Altersversorgung — ein Teil der, wie vorhin gesagt wurde, „Drei-Säulen-Theorie" — als etwas dringend Notwendiges und Richtiges an.
Von ganz besonderer Bedeutung ist für uns Freie Demokraten die notwendige Regelung der Unverfallbarkeit. Dabei bin ich der Auffassung — und das darf ich für uns sagen —, daß die Anspruchsfristen, die der Regierungsentwurf vorschlägt, uns ausgewogen erscheinen. Herr Kollege Zink, gerade Ihr Vorschlag, die geforderte Dauer der Betriebszugehörigkeit eventuell von 15 auf 10 Jahre zu senken, scheint mir ein sehr großes Problem zu beinhalten
für alle die Kreise in unserer Wirtschaft, in denen es noch keine betriebliche Altersversorgung gibt. Diese Unternehmen wollen wir ja mit unseren Anreizen dazu bringen, auch in eine betriebliche Altersversorgung einzusteigen. Dort ist natürlich beim Einstieg — bei den von uns verlangten Absicherungen — der Personenkreis, der bei der Inangriffnahme einer betrieblichen Altersversorgung vom ersten Tag an bereits anspruchsberechtigt ist, bei einer Senkung der geforderten Dauer der Betriebszugehörigkeit noch größer. Das macht es zweifellos dem Unternehmen, das ja die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit sehen muß, nicht leichter, sich für den Einstieg in eine betriebliche Altersversorgung zu entscheiden. Ich bitte das mitzubedenken, wobei man über Fristen sonst reden kann. Wir würden aber eventuell dem Anreiz entgegenwirken, wenn wir zu rasch eine große Zahl von Arbeitnehmern — vielleicht 30, 40, 50 % — mit dem Anspruch auf den Unternehmer zukommen lassen. Denn der Unternehmer muß sich die Frage stellen: kann ich mir das mit all den Verpflichtungen, die der Gesetzgeber mir auferlegt, im Moment leisten? Wir müssen im Ausschuß überlegen, was wir hier tun können.
Daß endlich die zwar nicht mehr so häufig vorkommende, aber immer noch vorhandene Auszehrungsklausel praktisch abgeschafft wird, scheint uns sehr notwendig. Genauso erscheint uns eine Lösung richtig, die es dem Arbeitnehmer ermöglicht, die flexible Altersgrenze unter gleichzeitiger Inanspruchnahme seiner betrieblichen Altersversorgung in Anspruch zu nehmen.
Von ganz besonderer Bedeutung — wir sind sehr dankbar dafür, daß das so deutlich im Regierungsentwurf enthalten ist — ist für unsere Begriffe die in Zukunft vorgesehene verstärkte Direktversicherung, weil wir hier den Einstieg für den kleineren und mittleren Unternehmer sehen, der seine Leute über die Lebensversicherung mit dieser Direktversicherung ähnlich betrieblich zusätzlich altersversorgen kann, was bei den anderen Modellen, wie sie vorlagen, wesentlich schwieriger war.
Hier wird es auch notwendig sein, noch einmal zu prüfen, ob die erfreulicherweise schon auf 2 400 DM hochgesetzte Grenze mit zehnprozentiger Pauschallohnsteuer nicht noch etwas erhöht werden kann, vor allem — das darf ich hier sagen — für den Personenkreis, der bei Neueinführung nicht mehr zehn Jahre bis zu seiner betrieblichen Altersversorgung erreicht. Dies ist eine Frage, die wir uns stellen müssen: Wenn einer bei Neueinführung 55 Jahre alt ist, hat er mit 63 Jahren acht Jahre. Man muß sich überlegen, ob man in den Beratungen solche Einzelfälle anspricht.
Zwei Gedanken zu den beiden aufgeworfenen Fragen der Dynamisierung und der Insolvenzsicherung.
Wir hielten es für wenig glücklich und könnten uns nicht damit abfinden, wenn eine gesetzliche Dynamisierung in irgendeiner Form hier festgelegt würde; denn wir glauben und sind ziemlich sicher, daß dies für die Zukunft den Zug in die falsche Richtung lenkte. Damit ginge man zum erstenmal von der Freiwilligkeit mit allen notwendigen gesetzli-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4201
Schmidt
chen Absicherungen ab in Richtung eines gewissen Zwangs.
Wir erwarten allerdings von den Unternehmern, von der Wirtschaft, daß sie entsprechend den Entwicklungsraten, entsprechend auch, sagen wir einmal, den Entwicklungen in den anderen Altersversorgungsgebieten von Zeit zu Zeit freiwillige Anpassungen durchführen. Wir sind der Auffassung, daß man hier auch steuerlich die entsprechenden Anreize im Sinne der Gesamtkonzeption geben sollte. Aber eine Dynamisierung mit gesetzlicher Festlegung, hielten wir nicht für sehr glücklich.
Von entscheidender Bedeutung für das Wirken dieses Gesetzentwurfs zur betrieblichen Altersversorgung in der Zukunft ist für die Freien Demokraten die Regelung der Insolvenzsicherung. Es ist ganz klar: Wenn wir hier die Möglichkeit schaffen, für das Alter Ansprüche auf eine zusätzliche Altersversorgung zu erwerben, dann müssen wir auch an den Fall denken, daß der Betreffende beim Eintritt seines Rentenalters feststellen muß, daß derjenige, der die Zusage gegeben hat, Konkurs gemacht hat. Uns helfen also alle gesetzlichen Regelungen nichts, wenn wir nicht die Insolvenzfrage mit regeln. Da sind wir völlig einer Meinung mit den beiden anderen Fraktionen.
Wir hielten es allerdings für sehr gut wir hoffen, daß es zu dieser Lösung kommt —, wenn auch diese Insolvenzsicherung auf privatrechtlicher Basis, auf Versicherungsbasis oder Haftpflichtbasis — ich will mich nicht auf die Details festlegen — durchgeführt werden könnte. Ich glaube, daß das dem System insgesamt entspräche. Ferner konnte ich auch — das wissen Sie ebenfalls — feststellen, daß seitens der Wirtschaft erhebliche Bemühungen —das möchte ich hier ausdrücklich anerkennen — gemacht worden sind, eine solche Lösung auf Solidar-basis zu schaffen. Ich meine, dann hätten wir nichts weiter zu tun, als dies rechtlich im Gesetz abzusichern. Man sollte diese Lösung auch mit Blick auf die ganze Durchführung, die mit Sicherheit billiger und praktikabler als jede andere Lösung ist, wie wir wissen, vorziehen. Wir jedenfallshielten eine öffentlich-rechtliche Lösung für wesentlich weniger gut. Deshalb würden wir ihr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zustimmen können.
: Sie wissen, daß
Sie mit uns darüber reden können!)
— Das ist nicht notwendig. Ich nehme an und hoffe sehr, daß wir in absehbarer Zeit eine Lösung angeboten bekommen, zu der wir alle drei ja sagen können, eine Lösung im Sinne einer echten Absicherung in der Insolvenzfrage und damit eine Lösung des Problems, die auf den Charakter der betrieblichen Altersversorgung mit ihrem freiwilligen Bezug zugeschnitten ist. Jede Art von Zwangsbezug würde die Eigenständigkeit dieser Säule beeinträchtigen. Wir sind nicht der Meinung, daß dies notwendig ist.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß wir in den Beratungen, in denen es sicher noch einige Details — ein paar habe ich angesprochen zu diskutieren geben wird, möglichst rasch vorankommen. Wir
würden es begrüßen, wenn am Ende der Beratungen diese Regierungsnovelle in ihren Grundzügen mit einer privatrechtlichen Insolvenzsicherung und -das möchte ich noch einmal besonders betonen —
mit weiteren steuerrechtlichen Anreizen, vor allem auch für die Ausweitung der betrieblichen Altersversorgung auf die noch nicht darunter fallenden 40 % der Arbeitnehmer, hier im Plenum zur Abstimmung gestellt würde. Wir werden unser Bestes dazu tun.
Meine Damen und Herren, liegen weitere Wortmeldungen zu diesem Punkt vor? — Das ist nicht der Fall.
Nach dem Vorschlag des Ältestenrates soll der Gesetzentwurf dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, dem Finanzausschuß, Innenausschuß und Haushaltsausschuß zur Mitberatung und dem letztgenannten Ausschuß auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. — Widerspruch erhebt sich nicht. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 b der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation
— Drucksache 7/1237 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Das Wort zur Begründung hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Ihnen jetzt den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung und Angleichung der Rehabilitationsleistungen vorlegen zu können.
Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, allen Behinderten neue und bessere Chancen zur Eingliederung in Beruf und Gesellschaft zu eröffnen. Die Grundsätze für diese humane Aufgabe haben wir bereits 1970 in einem Aktionsprogramm festgelegt. Wir wollen verhindern, daß unsere behinderten Mitbürger an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werden. Wir wollen vielmehr dafür sorgen, daß alle Behinderten, unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung, einen vollwertigen Platz in Beruf und Gesellschaft einnehmen können.
Der Gesetzentwurf zur Schaffung eines umfassenden Schwerbehindertenrechts liegt diesem Hohen Hause bereits vor. Heute lege ich Ihnen im Namen der Bundesregierung den im Aktionsprogramm angekündigten zweiten Gesetzentwurf vor. Mit diesem Gesetzentwurf wird erstmalig der Versuch unternommen, die Maßnahmen zur Eingliederung der Behinderten über mehrere Sozialleistungsbereiche hinweg zu koordinieren. Allen Behinderten — ich betone: allen — , allen Mitbürgern, die von Geburt an, durch Unfälle oder sonstige Ereignisse in ihrem Leben behindert sind, soll auf schnellem und un-
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Bundesminister Arendt
bürokratischem Wege geholfen werden. Die medizinischen und beruflichen Eingliederungshilfen sollen umfassend sein und nahtlos miteinander verknüpft werden. Dadurch soll eine lückenlose, zügige Rehabilitation vom Krankenbett bis zur vollen Wiedereingliederung des Behinderten in Arbeit, Beruf und Gesellschaft ,sichergestellt werden. Kein Behinderter soll während der Rehabilitation um eine Beeinträchtigung seines errungenen Lebensstandards fürchten müssen. Durch ein Übergangs- oder Krankengeld in Höhe des früheren Nettoentgelts wollen wir den Lebensunterhalt des Behinderten und seiner Familie voll sichern. Das gilt für die Gesamtdauer der Rehabilitation. Um die Aufrechterhaltung des Lebensstandards auch bei längerer Dauer der Rehabilitation zu gewährleisten, ist eine Dynamisierung der Unterhaltsleistungen vorgesehen.
Zur sozialen Sicherung der Rehabilitanten schlägt die Bundesregierung ferner vor, daß grundsätzlich alle Teilnehmer an einer Rehabilitationsmaßnahme für diese Zeit in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen werden. Ebenso soll der Schutz durch die Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung gewährleistet werden.
Besonders hervorheben möchte ich die Einbeziehung der gesetzlichen Krankenversicherung in den Bereich der Rehabilitationsträger. Diese Neuregelung ist für alle mitversicherten Ehefrauen und Kinder von großer Bedeutung. Sie erhalten erstmals einen Anspruch auf volle Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln sowie auf die Behandlung in Kur- und Spezialeinrichtungen.
Meine Damen und Herren, im Bereich der beruflichen Rehabilitation werden für die Behinderten Schranken geöffnet, die es bisher verhindert haben, vorhandene oder mögliche Fähigkeiten und Fertigkeiten voll auszuschöpfen. Die dauerhafte und vollwertige berufliche Eingliederung als Ziel der Rehabilitation läßt eine 'Beschränkung der beruflichen Möglichkeiten des Behinderten auf seinen beruflichen und sozialen Status bei Schadenseintritt nicht zu. Deshalb wollen wir dafür sorgen, daß die Rehabilitation den beruflichen und sozialen Aufstieg nicht versperrt, sondern im Gegenteil fördert.
Außerdem soll der Behinderte ein umfassendes Recht auf Beratung durch den zuständigen Rehabilitationsträger erhalten. Dadurch wollen wir auch erreichen, daß der Behinderte Sinn und Gehalt seiner Rehabilitation erkennt und aktiv daran mitwirkt.
Die vorgeschlagene Neuregelung soll außerdem bewirken, daß Kompetenzschwierigkeiten nicht auf dem Rücken des Behinderten ausgetragen werden oder bürokratische Unzulänglichkeiten sich nachteilig auf den Willen und die Entschlossenheit des Behinderten auswirken. Aus vielen Eingaben ist mir bekannt, daß die Mühlen der Bürokratie manche Hoffnungen durch zögerndes und umständliches Vorgehen zermahlen. Jede verlorene Hoffnung verschlimmert ein ohnehin schon schweres Schicksal, meine Damen und Herren.
Es mag in der menschlichen Natur liegen, daß man Gefahren erst dann wirklich ernst nimmt, wenn man selbst davon betroffen ist. Dabei wird leider allzu oft vergessen, daß dieses harte Los auf jeden einzelnen von uns fallen kann. Deshalb, so meine ich, sollten wir uns alle darin einig sein, daß bestmögliche und schnelle Hilfe für unsere behinderten Mitbürger geboten ist. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die Rehabilitationsträger zu enger Zusammenarbeit verpflichtet werden. Die notwendigen Hilfen sollen nicht mehr durch Zuständigkeitsstreitigkeiten der einzelnen Rehabilitationsträger beeinträchtigt oder verzögert werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung betrachtet die Rehabilitation als eine permanente Aufgabe. Wer den sozialen Rechtsstaat will, muß dafür sorgen, daß unsere behinderten Mitbürger nicht an den Rand der Gesellschaft abgedrängt werden. Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf vorgelegt, damit das nicht eintritt. Ich möchte Sie alle recht herzlich um Ihre Unterstützung und Mitarbeit bitten.
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Burger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Maßnahmen zur Rehabilitation und zur Prävention sind in den letzten Jahren in den Vordergrund der Gesundheitspolitik getreten. Es ist klar: Vorbeugen ist besser als Heilen, und Rehabilitation ist besser als Rente. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt diese Entwicklung.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung harmonisiert die Leistungen zur Rehabilitation. Schon in den 50er Jahren haben die damaligen Bundesregierungen der CDU/CSU Rechtsansprüche in allen Gesetzen festgelegt: 1950 in der Kriegsopferversorgung, 1957 in der Rentenversicherung. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist vorgesehen, daß die Behinderten mit allen geeigneten Mitteln wieder einzugliedern sind. In der Sozialhilfe gibt es einen besonderen Abschnitt für die Eingliederung der Behinderten. Schließlich stehen auch im Arbeitsförderungsgesetz moderne Bestimmungen besonders für die berufliche Eingliederung, für die berufliche Rehabilitation. Wir können deshalb mit einer großen Beruhigung auf unsere Tätigkeit im Rahmen der Bemühungen von Parlament und Bundesregierungen zur Verbesserung der Rehabilitation zurückblicken. Wir haben gute Säulen und Fundamente geschaffen, auf denen heute die Bundesregierung ihr Harmonisierungsgesetz aufbauen kann. Auch diesen gesetzlichen Bestimmungen, die in allen Sozialgesetzen festgelegt sind, liegen einheitliche Leitvorstellungen zugrunde. Sie haben das Ziel einer umfassenden Eingliederung aller Behinderten durch medizinische und soziale Maßnahmen und, wenn notwendig, auch berufliche Ausbildung oder Umschulung. Es ist also der Wille aller politischen Kräfte, jedem Behinder-
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Burger
ten einen Platz in der Gesellschaft und im Beruf zu schaffen und auch zu sichern.
Die Erfahrungen mit den Kriegsopfern haben gezeigt, daß die Kompensationsmöglichkeiten bei den Menschen sehr groß sind. Fachleute rechnen, daß eine große Zahl von Behinderten eingegliedert werden können, wenn die notwendigen Voraussetzungen dazu geschaffen werden. Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die Entwicklung in der Technik begünstigen die Bemühungen zur Rehabilitation. Denn körperliche Anstrengungen sind heute nicht mehr so gefragt; die Angestelltenberufe nehmen zu. Wie gesagt, es ist heute tatsächlich möglich, für die Behinderten einen Platz an der Sonne zu schaffen.
Wir begrüßen die heutige Vorlage der Bundesregierung. Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Mitarbeitern des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung für die Sisyphusarbeit danken, diesen Gesetzentwurf überhaupt zu formulieren.
Ich habe bei der, ich muß zugeben: mühsamen Lektüre dieses Entwurfs festgestellt, daß Hunderte von Paragraphen aus allen Sozialgesetzen geändert werden mußten, und bin bei dieser Gelegenheit eigentlich erst recht dahintergekommen, wieviel gute Regelungen wir früher in allen Sozialgesetzen geschaffen haben.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mißt der Frage der Eingliederung der Behinderten einen ganz hohen Stellenwert zu. Es gibt sicherlich noch eine Fülle von Problemen. Wir werden sie in einer Großen Anfrage, die wir bald vorlegen werden, ansprechen. Wir zeigen uns sehr befriedigt über dieses Harmonisierungsgesetz, und zwar einmal deshalb, weil eine Harmonisierung notwendig ist. Wir haben sie auch in der Debatte über die Große Anfrage in der letzten Legislaturperiode gefordert. Wir zeigen uns auch deshalb befriedigt, weil wir sehen, daß wir eine gute Grundlage für diese Harmonisierung durch die Regelungen gelegt haben, die wir früher in den Sozialgesetzen geschaffen haben. Wir werden an diesem Gesetzentwurf mitarbeiten, und wir werden alle Anstrengungen unternehmen, damit er bald in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschiedet werden kann.
Wir sind ein bißchen darüber betrübt, daß es nicht gelungen ist, den Bereich der Sozialhilfe ebenfalls in die Harmonisierung einzubeziehen. Unser Kollege Glombig sprach gelegentlich früherer Diskussionen vom „Rehabilitationsadel". Er wollte damit zum Ausdruck bringen, daß eine Gruppe von Mitbürgern gute Voraussetzungen hat, rehabilitiert zu werden, und daß es andere Gruppen gibt, die diese günstigen Voraussetzungen nicht haben. Der Bundesarbeitsminister hat vorhin klar zum Ausdruck gebracht, daß alle Behinderten, ob Personen mit angeborenen Leiden, ob Kriegsbeschädigte oder Unfallverletzte, die gleichen Chancen haben müssen. Hier ist im Augenblick sicherlich noch bevorzugt, wer klare Rechtsansprüche — auf Grund der Rentenversicherung, auf Grund der Unfallversicherung, auf Grund der Kriegsopferversorgung — hat. Diejenigen aber, die dem Grunde nach einen Anspruch an die Sozialhilfe haben, sind immer noch dadurch benachteiligt, daß es dort Einkommensgrenzen und Kostenbeteiligungen gibt. Dort sind die Chancen sicherlich noch nicht so gut wie bei denen, die ihren Leistungsbegehren klare Rechtsansprüche zugrunde legen können.
In diesen Tagen wird auch eine Novelle zum BSHG beraten. Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß auch in diesem Gesetzentwurf Verbesserungen in der Rehabilitation vorgesehen sind, und zwar erhebliche Verbesserungen, die allerdings noch nicht die Chancengleichheit bringen. Wir müßten dort noch einiges mehr tun. Wir können es nicht tun, weil wir auf den Rücken der Gemeinden einfach nicht die Lasten abladen können, die eigentlich notwendig wären, wenn wir auch dort einen gleichwertigen Leistungsanspruch statuieren wollten.
Wir begrüßen, daß auch die Krankenversicherung als neuer Rehabilitationsträger in die Verantwortung genommen wird.
Schwierigkeiten sehen wir in § 7. Hier ist vorgesehen, daß bei den jedes Jahr doch etwa 200 000 Anträgen auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit geprüft werden muß, ob Rehabilitationsleistungen möglich sind. Es ist auch vorgesehen, bei etwa 2 Millionen Frührentnern bei Nachuntersuchungen zu prüfen, ob Rehabilitationsmöglichkeiten noch erforderlich sind. Das bedeutet, daß die Ärzte nach diesem Gesetz eine Schlüsselstellung haben. Sie haben sie zwar schon jetzt, aber hier wird das ganz deutlich herausgearbeitet.
Es sind auch Gesamtpläne zur Rehabilitation aufzustellen. Das bedeutet, daß, wenn wir das alles machen wollen, wir mehr Ärzte im öffentlichen Dienst brauchen. Ohne diese Ärzte wird das nicht möglich sein, was in diesem Gesetzentwurf an Bestimmungen hin zur Verbesserung der Rehabilitation vorhanden ist.
Ich begrüße auch die allgemeinen Grundsätze, insbesondere, daß nun festgelegt worden ist, wer im Zweifel beim gegliederten System die vorläufige Trägerschaft zu übernehmen hat. Dieser Streit kann nun nicht mehr auf dem Rücken des Behinderten ausgetragen werden, sondern die Bundesanstalt muß bei beruflichen Maßnahmen und die Rentenversicherung muß im Zweifel bei medizinischen Maßnahmen leisten.
Ich begrüße auch den klaren Satz, der ausdrückt, daß Rehabilitation vor Rente geht. Zwar war das bisher schon in den Zielvorstellungen enthalten; aber nirgendwo stand bis jetzt dieser sehr wichtige Satz.
Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß kommen. Wir sagen ein klares Ja zu diesem Gesetzentwurf. Wenn es um die Eingliederung der Behinderten geht, sitzen wir in einem Boot. Für uns hat die Eingliederung einen hohen Rang, weil sie aus menschlichen und aus wirtschaftlichen Gründen gleichermaßen sinnvoll ist.
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Wir werden mitarbeiten und im Ausschuß durch konstruktive Beiträge versuchen, daß der Gesetzentwurf möglichst bald in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation. Nach dem Entwurf des neuen Schwerbehindertengesetzes, das wir zur Zeit in den Ausschüssen beraten, setzt die sozialliberale Koalition mit dem Angleichungsgesetz ja, ich wollte erst sagen: einen weiteren Meilenstein; aber ich habe inzwischen so oft das Wort Meilenstein heute gehört, daß ich mich für etwas anderes entschieden habe — ein weiteres Zeichen; ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.
Ich will sagen, daß wir damit ein weiteres Zeichen auf dem Wege zur Verwirklichung der Chancengleichheit der Behinderten setzen; ein Zeichen deshalb, weil hier erstmals in der Geschichte der Rehabilitation in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch unternommen wird, die Maßnahmen zur Eingliederung der Behinderten über mehrere Sozialleistungsbereiche hinweg zu koordinieren und die Leistungen final, d. h. einheitlich, und nicht mehr I nach der Ursache der Behinderung unterschiedlich, auszurichten.
Das vorliegende Angleichungsgesetz steht nicht allein, sondern ist Teil eines Bündels von Gesetzen zur Rehabilitation, zusammen mit dem Schwerbehindertengesetz, dem Gesetz über die Sozialversicherung der Behinderten und der 3. Novelle zum Bundessozialhilfegesetz, das ebenfalls besonders auf die Belange der Behinderten zugeschnitten ist. Damit wird der wichtigste Punkt des Aktionsprogramms der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation verwirklicht, nämlich die Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitation.
Aus dieser Aufzählung von Gesetzesvorhaben wird deutlich, daß es kein leeres Versprechen war, als der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 19. Januar dieses Jahres darlegte, daß sich die Regierung in dieser Legislaturperiode noch mehr den Menschen zuwenden werde, die durch persönliches Schicksal am Rande der Gesellschaft leben.
Die Verbesserung der Situation der Behinderten scheint mir auch bitter notwendig. Obwohl die Behinderten ein Teil der Gemeinschaft sind, leben sie vielfach noch im Schatten des Wohlstands. Gleichwohl erwarten die Behinderten von uns kein Mitleid; sie wollen lediglich als gleichberechtigte Glieder der Gemeinschaft behandelt werden. Was sie brauchen und worauf sie Anspruch haben, sind die Hilfen, die erforderlich sind, um die Folgen der Behinderung zu überwinden. Dieser Anspruch auf die
gebotenen Hilfen und auf volle Rehabilitation muß unabhängig von Art und Ursache der Behinderung und unabhängig davon sein, ob die Behinderung verschuldet ist oder nicht. Denn unsere Gesellschaft, die sich eine humane nennt, kann und darf es sich nicht leisten, das Ausmaß der erforderlichen Hilfen zur Rehabilitation von längst überholten Vorbedingungen abhängig zu machen. Allein die Tatsache der Behinderung, nicht ihre Ursache, muß das Maß der Hilfeleistung bestimmen.
Auch über einen zweiten Grundsatz darf es in der Rehabilitation, so meine ich, keine Mißverständnisse geben. Die optimale Hilfe muß schnell und unbürokratisch gegeben werden. Das Rehabilitationsverfahren verträgt keine Unterbrechungen und auch keine Verzögerungen. Wie sieht es nun aber in der rauhen Wirklichkeit für den einzelnen Behinderten aus, der fest entschlossen ist, seinem harten Schicksal zu entrinnen oder es wenigstens zu mildern, und der versucht, ein Rehabilitationsverfahren in Gang zu setzen? Zunächst sieht er sich fünf Gruppen von Rehabilitationsträgern gegenüber: der gesetzlichen Unfallversicherung, der gesetzlichen Rentenversicherung, der Kriegsopferversorgung einschließlich der Kriegsopferfürsorge, der Bundesanstalt für Arbeit und den Trägern der Sozialhilfe. Er soll nun den richtigen Träger für sich herausfinden. Entscheidend ist dabei die Ursache der Behinderung oder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis.
Wer die Verwaltung kennt — Herr Minister
Arendt hat darüber auch schon ein Wort verloren —, weiß, auf welches Abenteuer sich der Behinderte hier oft einlassen muß. Oft werden Kompetenzen höher bewertet als eine schnelle Entscheidung zum Wohle des einzelnen Behinderten. Bei Unklarheiten in der Zuständigkeit beginnt nicht selten ein zermürbendes Verfahren zum Nachteil des Behinderten. Seine besondere Tatkraft und Entschlossenheit, die der Bereitschaft zur Rehabilitation zugrunde liegt, werden damit langsam, aber sicher in den Mühlen der Verwaltung zermahlen. Manches Schicksal — das stimmt — wird bereits hier entschieden.
Hat der Behinderte diese verfahrensmäßigen Schwierigkeiten überwunden, so sind für ihn noch längst nicht alle Probleme gelöst. Trotz grundsätzlicher Einheitlichkeit im Ziel der Rehabilitation weichen die Leistungen der Träger in beträchtlichem Umfang voneinander ab. Ich habe daher volles Verständnis für die Unzufriedenheit unter den Behinderten. Eine verschieden 'hohe Unterhaltsleistung bei gleichen familiären und sozialen Verhältnissen läßt sich auch nicht rechtfertigen. Herr Kollege Burger, ich komme auf Ihren Einwand in dem Zusammenhang gern zurück.
Mit Recht fühlen sich die Behinderten auch deshalb benachteiligt, weil die Unterhaltsleistungen bisher nur im Bereich des Arbeitsförderungsgesetzes, nicht aber bei den übrigen Rehabilitationsträgern dynamisiert worden sind. Außerdem ist der Sozialversicherungsschutz während der Rehabilitationsmaßnahmen noch weitgehend unterschiedlich geregelt, von den erheblichen Unterschieden bei den sogenannten „Nebenleistungen" wie Taschengeld,
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Glombig
Familienheimfahrten, Kraftfahrzeug- und Wohnungshilfe gar nicht erst zu reden.
Dieser kurze Überblick über einige Fragen im Bereich der Rehabilitation genügt, meine ich, um zu verdeutlichen, wie notwendig die Verwirklichung des Grundsatzes der Finalität und die Vereinheitlichung des Rehabilitationsverfahrens sind. Es wäre wirklich zu einfach, einzuwenden, hier würden Mängel aufgebauscht und Ausnahmen zur Regel erklärt. Das ist nicht meine Absicht. Die Flut von Eingaben, die Bundestag und Bundesregierung tagtäglich erreicht, spricht entschieden dagegen. Es handelt sich, wie gesagt, in jedem Einzelfall um ein menschliches Schicksal, das schwer wiegt.
Meine Damen und Herren, das gegliederte System der Rehabilitation ist nicht um seiner selbst willen da, genausowenig wie das gegliederte System der sozialen Sicherung, in das es eingebettet ist. Für uns kommt es darauf an und kann es nur darauf ankommen, was dieses System für den Behinderten und darüber hinaus für den Versicherten leistet.
Die bisherigen Erfahrungen machen es schwer — vor allem mir —, das gegliederte System grundsätzlich und ohne Kritik für gut zu halten. Deshalb muß versucht werden, im Rahmen der vorhandenen Konstruktion bestehende Mängel durch gründliche Reformen zu beseitigen. Damit erhält das gegliederte System eine neue Chance zur Bewährung. Ich hoffe, daß dieses Gesetz die Nachteile der rechtlichen und institutionellen Zersplitterung beseitigen wird.
Aus ,den genannten Gründen müssen wir mit dem Gesetz zwei Ziele erreichen, erstens ein zügiges, nahtlos ablaufendes Rehabilitationsverfahren und zweitens die Angleichung der materiellen Leistungen der Rehabilitationsträger. Wir müssen allen Behinderten unabhängig von der Ursache der Behinderung rasch und unbürokratisch die gebotenen Chancen zur Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft eröffnen. Bei den gleichen Behinderungen müssen grundsätzlich gleiche Leistungen zur Rehabilitation erbracht werden. Die medizinischen und beruflichen Eingliederungshilfen müssen umfassend sein und nahtlos miteinander verknüpft werden. Die Rehabilitation muß am Krankenbett beginnen und darf erst mit der endgültigen Eingliederung des Behinderten in Arbeit, Beruf und Gesellschaft beendet sein.
Diesen Anforderungen an die Rehabilitationsleistungen und das Rehabilitationsverfahren wird der Gesetzentwurf der Bundesregierung weitgehend gerecht. Ich sage: weitgehend, denn die Bundesregierung hatte von dem Rechtszustand auszugehen, der sich in der fast 90jährigen Geschichte der Rehabilitation in Deutschland entwickelt hat. Auf diesem Hintergrund halte ich den Gesetzentwurf für das Beste, was in realistischer Einschätzung der Situation kurzfristig für die Behinderten erreichbar ist.
In diesem Gesetzentwurf sind die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, der Kriegsopferversorgung, der gesetzlichen Unfallversicherung
und die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter nach dem Arbeitsförderungsgesetz angeglichen worden. Leider bleibt die Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz außerhalb dieser Angleichung. Die im Sozialhilferecht maßgebenden Grundsätze der Subsidiarität und der Individualisierung, die nicht von mir und schon gar nicht von meinen politischen Freunden erfunden worden sind — damit das ganz klar wird in diesem Zusammenhang —, sind allzu sehr von den Leistungsprizipien der anderen Rehabilitationsbereiche, dem Versicherungsprinzip und dem Entschädigungsprinzip, verschieden, so daß eine Einbeziehung ,der Sozialhilfe nur sehr schwer möglich gewesen wäre. Das wissen Sie ja wohl, Herr Burger. Und deswegen werden auch wir sehr wahrscheinlich zu dieser Entscheidung kommen müssen. Aber ich verschweige nicht, daß hier ein ganz besonderes Problem liegt, und es liegt mir am Herzen, das hier besonders zu betonen.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die in der Ausschußberatung befindliche 3. Novelle zum Bundessozialhilfegesetz wesentliche Verbesserungen der Eingliederungshilfe für Behinderte mit sich bringen wird. Das werden wir erreichen. Das wird sich gleich nach Weihnachten deutlich zeigen, und wir werden sehen, ob die Länder und auch die Kommunen in diesem Bemühen um die Eingliederungshilfe für Behinderte mit uns an einem Strang ziehen werden. Ich möchte sehr hoffen, daß sich nicht gerade in dieser Frage ein von mir sehr zu bedauernder Konflikt hinsichtlich der Finanzaufteilung zwischen Bund und Ländern entzünden wird.
Außerdem hat die Koalition sehr große Anstrengungen unternommen und wird sie weiter fortführen, um schrittweise weitere Bevölkerungskreise in die Sozialversicherung einzubeziehen. Die Sozialhilfe wird insbesondere für die Behinderten künftig an Bedeutung verlieren. Ich bedauere 'das nicht. Ein erster Schritt in dieser Richtung wird in Kürze mit dem Gesetz über die Sozialversicherung der Behinderten in Werkstätten getan werden. Ich bin davon überzeugt, daß weitere Schritte folgen werden.
Meine Damen und Herren, es ist nicht Aufgabe der ersten Lesung, die Fülle der Einzelheiten des umfangreichen Gesetzentwurfs hier im Detail zu analysieren. Soweit Sie jetzt noch hier im Plenarsaal anwesend sind, kennen Sie diese Details; wir haben sie dankenswerterweise vor allem von Herrn Kollegen Burger gehört, und deswegen kann ich es mir schenken, auf diese Dinge im einzelnen einzugehen.
Aber lassen Sie mich zum Schluß doch noch ein Wort grundsätzlicher Art sagen. Die Verwirklichung dieses Gesetzentwurfs bedeutet unzweifelhaft einen großen Schritt nach vorn im Bereich der Rehabilitation. Auf das Ergebnis dieser Bemühungen kann die sozialliberale Koalition stolz sein. Aber wir werden uns damit nicht zufriedengeben. Die Verbesserung der Qualität des Lebens ist zu einem zentralen Begriff unserer politischen Arbeit geworden. Diese Formel muß immer wieder mit Leben erfüllt werden. Das heißt, die Verbesserung ,der gesetzlichen
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Grundlagen der Rehabilitation ist ein ständiger Auftrag an Regierung und Parlament.
Darüber hinaus darf auch auf anderen Gebieten die Verbesserung der Qualität des Lebens kein Vorrecht der Nicht-Behinderten sein. Auch Behinderte, meine Damen und Herren, haben Anspruch auf behindertengerechte Bildungsmöglichkeiten, bedarfsgerechte Wohnungen, hindernisfreien Zugang zu öffentlichen Gebäuden einschließlich des Deutschen Bundestages.
Lassen Sie mich das doch einmal als ein in diesem Punkte Betroffener sagen. Alle diejenigen, die mit der Planung des Bundeshauses, des neuen Hochhauses und dieses Hauses —, zu tun hatten und zu tun haben, haben wirklich kein Meisterstück abgeliefert. Es ist z. B. schon für die Nichtbehinderten eine Tortur, jeden Morgen darauf warten zu müssen, wann man mitkann, um rechtzeitig in der Ausschußsitzung zu sein.
Ich meine, es wäre ein Schildbürgerstreich, wenn bei den Planungen für den neuen Plenarsaal ich habe darüber viel geredet, und ich möchte Sie auffordern, auch ,darüber zu reden —, daß all das, was draußen bereits als notwendig erkannt worden ist, ausgerechnet hier ignoriert würde.
Ich meine damit auch die Sport- und Freizeitmöglichkeiten sowie das Verständnis der Offentlichkeit für die Probleme des Behinderten — im Alter.
Lassen Sie mich abschließend einen Dank an den Bundesarbeitsminister sagen, nicht nur für diesen Gesetzentwurf, für dessen Zielsetzung auch ich ganz persönlich seit 1945 gekämpft habe; einen Dank an ihn und seine Mitarbeiter also nicht nur für diesen Gesetzentwurf, sondern auch für seinen Plan, hier in Bonn ein „Haus der Behinderten" zu errichten, damit Behinderte, wenn sie einzeln oder in Gruppen nach Bonn kommen, hier eine Heimstatt finden, die sie sonst wegen der architektonischen Barrieren, die es überall gibt, nicht hätten.
Bei der Lösung der Probleme der Behinderten hat unsere Gesellschaft ihre Bewährungsprobe erst noch zu bestehen, meine Damen und Herren. Wir sollten deshalb alles daransetzen, daß unsere Gesellschaft diese Aufgabe besser als bisher erkennt und auch immer besser bewältigt. Die Rehabilitation ist eine große Aufgabe, deren Lösung unsere gemeinsame Anstrengung verdient. Ich zweifle nicht daran, daß diese Anstrengung auch tatsächlich eine gemeinsame sein wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Christ.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mit dem Rehabilitationsangleichungsgesetz haben wir wohl ein treffendes Beispiel dafür, wie schwierig es manchmal sein kann, dem interessierten Laien eine komplizierte, aber für den Betroffenen durchaus wichtige sozialpolitische Materie darzustellen. Mit dem Rehabilitationsangleichungsgesetz werden nämlich ganze 15 Einzelgesetze geändert, wobei die Reichsversicherungsordnung den Löwenanteil ausmacht und mit 72 Änderungen an der Spitze steht.
Wer übrigens einen kurzen Blick auf das Vorblatt wirft, wird vielleicht mit einem kleinen Schreck die entstehenden Kosten registrieren.
Wir Freien Demokraten sind allerdings der Meinung, daß eben alle Beteiligten diese Kosten aufbringen müssen, weil wir mit dem Rehabilitationsangleichungsgesetz eines wenn ich es etwas unbescheiden ausdrücken darf — der nicht ganz unbedeutenden sozialpolitischen Gesetze in dieser Legislaturperiode verabschieden werden. Es ist zumindest das wichtigste in der Reihe von Gesetzen, mit denen die Eingliederung der Behinderten in unsere Gesellschaft entscheidend verbessert werden soll.
Nicht von ungefähr hat die Bundesregierung die Aufgabe der Rehabilitation in der Regierungserklärung an die erste Stelle ihrer sozialpolitischen Programmpunkte gerückt. Die wichtigsten anderen Gesetzentwürfe — das wurde heute bereits angesprochen —, die das Recht der Rehabilitation erfassen, werden vom Bundestag bereits beraten oder von der Bundesregierung im nächsten Jahr eingebracht.
All diese Gesetze zur Neugestaltung der Hilfen für Behinderte sind Teile eines Gesamtkonzepts der sozialliberalen Koalition, das im Sozialbericht 1973 umfassend dargestellt worden ist. Zum erstenmal ist dieses Konzept von der Bundesregierung in ihrem Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation im Frühjahr 1970 vorgestellt worden. In diesem Aktionsprogramm geht die Bundesregierung davon aus, daß wir eben dieses System, das Kollege Glombig angesprochen hat, nämlich das gegliederte System, haben. Es ist dies ein System, das nach verschiedenen eigenständigen Trägern institutionell gegliedert und nach unterschiedlichen Ansprüchen leistungsmäßig differenziert ist.
Auch der Bundestag hat 'sich bei der Beratung des Arbeitsförderungsgesetzes im Grundsatz für die Beibehaltung des gegliederten Systems ausgesprochen. Dabei gilt es meines Erachtens, die Vorteile dieses föderativen Sozialleistungsprinzips zu nutzen, aber die Nachteile, die — das sei gern zugegeben — gleichzeitig auftreten, zu vermeiden und alles zu tun, um dort, wo sie bestehen, auszugleichen. Dieses Anliegen ist der Ausgangspunkt und der eigentliche Anlaß für die Notwendigkeit dieses Angleichungsgesetzes. Wenn Kollege Glombig davon sprach, daß wir mit diesem Gesetz die Chance der Bewährung für das gegliederte System haben, so möchte ich — auch für meine Fraktion — sagen: Wir sind davon überzeugt, daß mit diesem Gesetz wieder einmal die Grundprinzipien des gegliederten Systems in ihrer Funktionsfähigkeit bestätigt werden.
Es geht darum, sich die Vorteile des gegliederten Systems zu überlegen. Ich würde sagen, sie liegen vor allem in der Sachnähe der einzelnen Träger, die sich in der Eigenständigkeit der Selbstverwal-
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tung optimal entfalten können. Die Nachteile, die sich hierbei entwickeln können, von denen heute schon gesprochen wurde, liegen vor allem in der Unterschiedlichkeit der Ansprüche, also im Leistungsbereich. Das Angleichungsgesetz versucht daher — und dies ist ein notwendiger Schritt —, unter Beibehaltung der bisherigen Rehabilitationsträger das Gefälle der unterschiedlichen Leistungen so weit wie möglich zu beseitigen.
Wir anerkennen dabei besonders die Notwendigkeit einer Entwicklung vom Kausalitäts- zum Finalitätsprinzip in der Rehabilitation. Das heißt, es soll bei der Hilfe für Behinderte nicht mehr auf die Ursache der Behinderung sondern auf das Ziel abgestellt werden: das persönliche Schicksal der Behinderten optimal auszugleichen und den Behinderten in die Gemeinschaft einzugliedern.
Ich glaube, es war bei dieser ersten Lesung notwendig, das Grundsätzliche auch im Hinblick auf die Prinzipien des gegliederten Systems noch einmal herauszustellen.
Es wurde vorhin bereits angedeutet — ich möchte es wiederholen —: Ein Schönheitsfehler dieses Gesetzentwurfes ist es — vielleicht ist es mehr als ein Schönheitsfehler —, daß er als einzigen der bisherigen Rehabilitationsträger die Sozialhilfe nicht in die Angleichung mit einbezieht. Ich weiß, daß sich das Bundessozialhilfegesetz mit seinen Grundsätzen der Einkommensabhängigkeit und der konkreten Bedarfsorientierung nicht leicht in eine solche Harmonisierung einfügen würde. Wir sollten aber im Verlauf der Beratungen trotzdem ernsthaft prüfen, ob
diese Schwierigkeiten nicht überwunden werden können. Keinesfalls darf die Nichteinbeziehung der Sozialhilfe die unter das Bundessozialhilfegesetz fallenden Behinderten benachteiligen.
Lassen Sie mich nun zu einigen Schwerpunkten des Angleichungsgesetzes in der gebotenen Kürze Stellung nehmen.
Eine der wichtigsten Neuerungen wird es sein, daß zu den bisherigen fünf Trägern des gegliederten Systems in der Rehabilitation, nämlich Rentenversicherung, Unfallversicherung, Kriegsopferversorgung, Bundesanstalt für Arbeit und Sozialhilfe, die Krankenversicherung als sechster Träger neu hinzutritt. Die gesetzlichen Krankenkassen gewähren danach ihren Mitgliedern, einschließlich der mitversicherten Familienangehörigen, alle medizinischen Leistungen zur Rehabilitation, soweit nicht ein anderer Träger ausdrücklich dazu verpflichtet ist. Auf diese Weise wird erreicht, daß ein Arbeitnehmer, der infolge Krankheit oder Unfall zeitweise aus dem Arbeitsleben ausscheiden muß — beginnend mit der Lohnfortzahlung über die Krankenhausbehandlung bis hin zur beruflichen Umschulung —, Leistungen zum Lebensunterhalt in etwa der gleichen Höhe erhält. Das scheint mir einer der wesentlichsten Fortschritte bei diesem Angleichungsgesetz zu sein.
Allerdings müssen wir feststellen, daß die Angleichung an die anderen Leistungen nicht immer vollständig möglich ist, weshalb sich z. B. die Obergrenze des Krankengeldes und des Übergangsgeldes nach den unterschiedlichen Leistungsbemessungsgrenzen der einzelnen Träger richten wird. Es kann auch nicht die Absicht dieses Angleichungsgesetzes sein, unterschiedliche Leistungsbemessungsgrenzen, die im Rahmen des gegliederten Systems durchaus ihre strukturelle Bedeutung haben, zu beseitigen. Dies wäre nur — das wissen wir alle — durch gesetzliche Änderungen in den Primärgesetzen möglich.
Zu der Sorge des Bundesrats, daß die Krankenversicherungsträger mit hohen Kosten belastet würden, möchte ich sagen, daß eine Politik nach dem Grundsatz „Rehabilitation vor Rente" insgesamt auf jeden Fall Kosten einsparen wird. Übrigens dürften die Rehabilitationsleistungen der Krankenversicherung eine Kostenentlastung bei der Sozialhilfe mit sich bringen, was von den Ländern und von den Gemeinden mit einer gewissen Erleichterung registriert werden dürfte.
Aus der Vielzahl der Bestimmungen dieses Gesetzentwurfes, die wir als einen wesentlichen Fortschritt für den behinderten Bürger betrachten, darf ich noch folgendes besonders ansprechen.
Im Interesse einer besonderen Information und Übersichtlichkeit soll der Behinderte durch ein Zug um Zug zu vervollständigendes Netz von Auskunft- und Beratungsstellen mehr als bisher über seine Rechte informiert werden.
Anträge, die er trotzdem bei einem unzuständigen Träger stellt, sind in Zukunft — und dies ist ein entscheidender Fortschritt — von diesem Träger unter voller Fristenwahrung unmittelbar an den zuständigen Träger weiterzuleiten. Vor dem gelegentlichen Behördenlabyrinth, das im gegliederten System nicht ganz zu vermeiden ist, braucht also in Zukunft kein Behinderter mehr zu verzweifeln. Herr Kollege Glombig hat auf eindrucksvolle Weise dargestellt, welche Probleme es mit sich bringt, wenn ein Träger es ablehnt, einen Antrag entgegenzunehmen, mit der Begründung, er sei nicht zuständig, und dem Behinderten zumutet, auf die Suche nach dem hierfür zuständigen Träger zu gehen.
Hinzu kommt: Solange die Zuständigkeit des Trägers ungeklärt bleibt, ist bei medizinischen und bei beruflichen Maßnahmen jeweils ein bestimmter Träger zu vorläufigen Leistungen verpflichtet. Überdies sind die verschiedenen Träger nach dem Gesetzentwurf zu enger Zusammenarbeit verpflichtet. Den Trägern ist dabei durch die Möglichkeit des Abschlusses von Gesamtvereinbarungen der Vorrang vor der Regelung über eine Rechtsverordnung der Bundesregierung eingeräumt.
An dieser Stelle sollte auch hervorgehoben werden, daß die einzelnen Träger durch die sogenannte Frankfurter Vereinbarung die gegenseitige Kooperation insbesondere bei Auskunfts- und Beratungsstellen wesentlich gefördert haben und damit positive Vorentscheidungen für dieses Angleichungsgesetz getroffen wurden.
Der Entwurf des Angleichungsgesetzes enthält in seinen beiden ersten Abschnitten Grundsätze und Leitbestimmungen für die Angleichung der einzelnen Leistungsbereiche, deren konkrete Regelung im dritten Abschnitt erfolgt. Damit ähnelt das Anglei-
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chungsgesetz nicht nur im Formalen, sondern auch im Inhaltlichen dem allgemeinen Teil eines Sozialgesetzbuches, das wir hier in erster Lesung bereits beraten haben. Insbesondere die soeben erwähnten bürgerfreundlichen Bestimmungen von der Beratung über die unkomplizierte Antragsannahme bis hin zum Prinzip der vorläufigen Leistung sollten in ähnlicher Weise bei der Beratung des neuen Sozialgesetzbuches berücksichtigt werden.
Mit dem Angleichungsgesetz werden wir, wenn ich es etwas pointiert formulieren darf, ein kleines Sozialgesetzbuch für den Behinderten schaffen und damit einen wichtigen weiteren Beitrag für die Integration der Behinderten in unserer Gesellschaft leisten.
Lassen Sie mich zum Schluß ein Wort aufgreifen, das von Kollege Glombig in die Debatte gebracht wurde: Es wird viel von Qualität des Lebens gesprochen, und meistens sind es diejenigen, die, wie man zu sagen pflegt, nicht im Schatten unserer Gesellschaft stehen. Wenn wir also in Zukunft in diesem Hause und in unseren Parteien von der Qualität des Lebens sprechen, die wir alle verbessern wollen, so sollten wir dabei die Gruppe der Behinderten nicht vergessen; sonst bleibt das, was die Sprecher der Parteien an diesem Pult äußern, nur deklamatorisch.
Wird noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich schlage Ihnen die Überweisung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — und an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung vor. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich rufe die Punkte 8 c und 8 d der Tagesordnung auf:
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutze in Ausbildung befindlicher Mitglieder von Betriebsverfassungsorganen
— Drucksache 7/1170 —
Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 7/1334 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller (Erste Beratung 64. Sitzung)
d) Zweite Beratung des von den Abgeordneten Müller , Katzer, Dr. Blüm, Russe, Link, Wawrzik, Dr. Klein (Stolberg), Sauer (Salzgitter), Zink, Rollmann und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kündigungsschutzgesetzes
— Drucksache 7/1163 —
Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 7/1334 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller (Erste Beratung 64. Sitzung)
Ich danke dem Berichterstatter für seine beiden Berichte.
Ich rufe in zweiter Beratung die Art. 1, 2, 3, Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht.
Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Betriebsverfassungsgesetz und das Kündigungsschutzgesetz konkretisieren den Grundsatz, daß Träger betriebsverfassungsrechtlicher Funktionen wegen ihrer Tätigkeit keine berufliche und arbeitsrechtliche Benachteiligung erfahren dürfen. Dieser Grundsatz ist bei der heutigen Rechtslage durchbrochen bei Jugendvertretern, die noch im Ausbildungsverhältnis stehen, zu gut deutsch, die Lehrlinge sind. Gegenwärtig kann ein Arbeitgeber die Tätigkeit eines Jugendvertreters und damit die Ausübung einer betriebsverfassungsrechtlichen Aufgabe ohne Angabe von Gründen dadurch unterbinden, daß er ihn nach Beendigung des Ausbildungsverhältnisses nicht in ein Arbeitsverhältnis übernimmt. Wir begrüßen, daß diese Gesetzeslücke heute geschlossen werden soll.
In den Beratungen des Betriebsverfassungsgesetzes hat man seinerzeit in einem Hearing, als die Gewerkschaftsjugend auf diese Lücke aufmerksam gemacht hat, zwar versichert, daß die Jugendvertreter auch bei der geltenden Formulierung ohne Furcht vor Repressalien ihre Tätigkeit ausüben könnten, doch die anschließende rechtliche und faktische Realität sah etwas anders aus. Es ist leider ein Faktum, daß die gegenwärtige Rechtslage dazu geführt hat, daß Betriebe — über genaue Zahlen will ich hier nicht streiten — sich von jungen Mitarbeitern getrennt haben, von denen sie sich nicht getrennt hätten, wenn diese nicht als Jugendvertreter aktiv die Interessen ihrer jungen Kollegen vertreten und sich dadurch bei den Betriebsleitern unbeliebt gemacht hätten. Ganz deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen Jugendvertretertätigkeit und Nichtübernahme in in Arbeitsverhältnis in solchen Fällen, in denen eine unter Druck erfolgte Niederlegung des Amtes als Jugendvertreter dazu führte, daß der Jugendliche nun auf einmal weiterbeschäftigt werden konnte.
Doch selbst wenn ein Arbeitgeber — ich unterstelle dies einmal als den Normalfall — gar nicht daran denkt, einen tüchtigen Lehrling nach der Lehrabschlußprüfung nicht zu übernehmen, nur weil er als Jugendvertreter mutig für die Interessen sei-
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Dr. Klein
ner jungen Kollegen eintritt, selbst in diesem sozusagen positiven Normalfall wird sich der Jugendvertreter doch in konkreten Situationen immer wieder die Frage stellen: welche Auswirkungen hat eigentlich mein Eintreten für die Interessen meiner jungen Kollegen für meine eigene berufliche Zukunft nach Beendigung meines Ausbildungsverhältnisses? Wir meinen, eine solche Verunsicherung bei der Wahrnehmung demokratisch legitimierter Aufgaben der Betriebsverfassung, ein solches Damoklesschwert über dem Kopf von Jugendvertretern ist unzumutbar.
Wir sagen deshalb zu dem vorliegenden Gesetzentwurf ja, zu dem wir mit unserem Gesetzentwurf als erste in diesem Hohen Hause die Initiative ergriffen haben. Wir sind der Auffassung: in Zukunft darf die Bereitschaft von Auszubildenden, demokratische Verantwortung im Bereich der Betriebsverfassung zu übernehmen, nicht mehr durch ein erhöhtes Arbeitsplatzrisiko bestraft werden.
Im übrigen sollte ein weiterer Punkt beachtet werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung werden innerhalb der Jugendvertretung endlich gleiche Bedingungen geschaffen. Der ungerechte Zustand wird nunmehr beseitigt, daß es sozusagen zwei Klassen von Jugendvertretern gibt, nämlich solche, die in einem Arbeitsverhältnis stehen und den vollen Kündigungsschutz genießen, und solche, die noch in einem Ausbildungsverhältnis stehen und für die die Vertretung der Interessen ihrer jugendlichen Kollegen ein erhöhtes Risiko bedeutet.
An dieser Stellee darf ich auch auf das generelle Problem der Übernahme von Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis überhaupt eingehen, unabhängig davon, ob sie Jugendvertreter sind oder nicht. Der Gesetzentwurf der Abgeordneten der CDU/CSUFraktion zielt ja nicht nur auf die Jugendvertreter unter den Auszubildenden. Wir wollten den Arbeitgeber verpflichten, dem Auszubildenden mindestens drei Monate vor Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses schriftlich Mitteilung zu machen, wenn er nicht beabsichtigt, den Auszubildenden in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Andernfalls sollte von Beendigung des Ausbildungsverhältnisses an die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gelten.
Im Ausschuß ist dies nicht voll übernommen worden. Wir erkennen aber an, daß man einen Schritt vorwärts in unserer Richtung getan hat durch die vorliegende Entschließung mit der Aufforderung an die Bundesregierung, das Problem bei der geplanten Reform des Berufsbildungsgesetzes anzupacken. Wir appellieren an die Bundesregierung, daß sie dies sehr ernsthaft tut. Denn die Praxis des Arbeitslebens zeigt doch, daß es wichtig ist, den Auszubildenden nach Beendigung des Ausbildungsverhältnisses möglichst in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu übernehmen, damit er die erworbenen Kenntnisse in der Praxis vertiefen kann.
Gegen die Absicht, den Kündigungsschutz auf Jugendvertreter und junge Betriebsräte im Ausbildungsverhältnis auszudehnen, sind unter dem Stichwort „Kontrahierungszwang" in der öffentlichen Diskussion rechtliche Bedenken geltend gemacht worden. Demgegenüber möchte ich hier den Vorrang des Betriebsverfassungs- vor dem Arbeitsvertragsrecht betonen. Der Kündigungsschutz für Jugendvertreter und junge Betriebsräte zielt doch nicht auf die individuelle Rechtsposition des jungen Menschen. Er dient vielmehr dazu, ihm als Träger eines demokratisch legitimierten Amtes in der Betriebsverfassung überhaupt erst die Voraussetzung für eine unbelastete, freie Amtsausübung zu schaffen.
Im übrigen gilt die sogenannte Vertragsfreiheit nicht nur für den Abschluß, sondern auch für die Änderung und die Aufhebung von Verträgen. Von daher betrachtet bedeutet z. B. auch der heute geltende Kündigungsschutz für Betriebsräte eine starke und berechtigte Einschränkung der Vertragsfreiheit. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden also keineswegs, wie manche glaubten, die Dämme der Vertragsfreiheit eingerissen.
Was nun das Verhältnis des hier zur Verabschiedung vorliegenden Gesetzentwurf des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu unserem Gesetzentwurf betrifft, so deckt der vorliegenden Entwurf unser Anliegen materiell im wesentlichen ab. Die rechtssystematische Einordnung in das Betriebsverfassungsgesetz statt der von uns vorgeschlagenen Einordnung in das Kündigungsschutzgesetz ist eine gesetzestechnische Frage sekundärer Art und daher für uns unproblematisch. Entscheidend ist, daß Jugendvertreter und junge Betriebsräte künftig nach der Ausbildung die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis verlangen können, daß die arbeitsgerichtliche Beweispflicht für die Unzumutbarkeit einer Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis nunmehr den Arbeitgebern auferlegt ist und daß hier klare Fristen festgesetzt worden sind.
Die CDU/CSU-Fraktion hat sich auch in der Vergangenheit gerade für die Rechte der jungen Menschen in den Betrieben eingesetzt. Wenn wir nun als erste die parlamentarische Initiative zu diesem Gesetz ergriffen haben,
so haben wir dabei insbesondere auch an die im nächsten Jahr stattfindenden Wahlen zu den Betriebsjugendvertretungen gedacht. — Ja, was den Gruppenantrag angeht, Herr Schellenberg, so wollte ich dazu gerade etwas sagen, wenn Sie mir einmal einen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken würden. Franz Woschech hat in seiner letzten Rede vor seinem allzu frühen Tad mit Recht gesagt: „Die Wahlen zu den Betriebsjugendvertretungen 1974 müssen unter dem Schutz dieses neuen Gesetzes durchgeführt werden. Sonst bleibt ein wesentlicher Teil nach dem Gesetz erreichter betrieblicher Demokratie nur ein Stück Papier." Wir haben mit unserer Initiative, die schnell kam und die aus diesem Grunde nicht von der gesamten Fraktion unterstützt wurde,
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Dr. Klein
diesen Gesetzentwurf noch rechtzeitig eingebracht. Sie konnten sich in der Fraktion doch nicht rechtzeitig einigen.
Wir sind doch über diese Dinge informiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bedeutung der Jugendvertretungen für ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Arbeitgebern und jungen Arbeitnehmern nimmt zu. Seit Inkrafttreten des neuen Betriebsverfassungsgesetzes ist die Zahl der Betriebsjugendvertretungen erheblich größer geworden. In einzelnen Industriebereichen hat sie sich sogar verdreifacht. Um .so wichtiger ist es, so meinen wir, die Bereitschaft junger Menschen zum Engagement für ,die Interessen ihrer jungen Kollegen gesetzlich gegen die Gefahr beruflicher und arbeitsrechtlicher Benachteiligung zu sichern.
Der Deutsche Bundestag wird dieser Verantwortung gerecht, wenn er die aufgezeigte Gesetzeslücke, die bei der wachsenden Zahl der Jugendvertretungen immer weiter auseinanderklaffte, heute gemeinsam und wirksam schließt.
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Klein, Sie sprachen davon, Sie hätten Ihren Antrag sehr früh in diesem Hause eingebracht. Es handelt sich aber doch offensichtlich um einen Gruppenantrag. Ich hatte Ihnen in der Debatte schon vorgehalten, daß er keine tragfähige parlamentarische Mehrheit finden würde. Es gibt einige Kollegen von Ihrer Seite aus dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, die sich auch nicht bereit fanden, Ihren Gruppenantrag zu unterzeichnen. Das zeigt, wie klar diese Fragen sind.
Sie sprechen davon, wie kühn Sie an diese Konzeption herangegangen seien, und beziehen sich auf ein Vorstandsmitglied des DGB. Die in Ihrem Schreiben entwickelte Konzeption ist vom Vorsitzenden des DGB abgelehnt worden, weil sie völlig verkehrt angesiedelt ist. Das will ich Ihnen hier einmal sagen.
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrüßen die Vorlage, die auf Grund unserer Initiative mit breiter Mehrheit erarbeitet worden ist. Sie haben sich im Ausschuß dieser Vorlage angeschlossen, und Sie waren eigentlich froh, sich dieser Vorlage überhaupt anschließen zu können.
Wir dürfen aber auch feststellen, daß der Innenausschuß für das Personalvertretungsgesetz unsere Vorlage nicht in bezug auf § 78 Betriebsverfassungsgesetz, sondern wortwörtlich übernommen hat.
Das heißt schon etwas bei unseren Kollegen im Innenausschuß des Deutschen Bundestages.
Wir haben vor einigen Wochen in den Koalitionsfraktionen diesen Komplex diskutiert — das war eine sehr komplizierte Angelegenheit — und haben entscheidend die Richtung eingeschlagen, Jugendvertreter und Betriebsräte, die ein Ausbildungsverhältnis zu Ende gebracht haben, zu schützen. Uns kommt es mit dieser Vorlage auf den Organschutz bezüglich der Jugendvertretung und des Betriebsrats an, damit in der Legislaturperiode kontinuierlich die Arbeit für die Belegschaftsmitglieder durchgeführt werden kann. Das war bisher leider nicht möglich. § 78 des Betriebsverfassungsgesetzes regelt klar das Benachteiligungsverbot, und an diesem Punkt haben wir unsere Ergänzung angesetzt.
Ich sage hier noch einmal der Klarheit wegen: Die Oppositionspolitiker haben das mit einem Gruppenantrag versucht und haben schließlich bei der Ausschußberatung unseren Entwurf befürwortet und erklärt, sie würden ihre Vorlage als erledigt bezeichnen. Das spricht ja für sich.
Über diesen Punkt hinaus, Kollege Franke — lesen Sie doch den Bericht nach —, werden Sie feststellen, was Ihr Kollege Müller dazu geschrieben hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Klein ?
Bitte!
Herr Kollege Urbaniak, weswegen streichen Sie hier, nachdem wir in dieser Frage eine tragfähige Übereinstimmung und Gemeinsamkeit gefunden haben, eigentlich in polemischer Weise Differenzen heraus, die in der Sache überhaupt nicht bestehen?
Das tue ich überhaupt nicht, Kollege Dr. Klein, sondern mir kommt es darauf an, klarzustellen, daß Ihr Anspruch, Sie hätten die Dinge in Gang gebracht, überhaupt nicht zugrunde gelegt werden kann, weil in Ihrer eigenen Fraktion nicht einmal Klarheit war und Sie in der Fraktion selbst keine Mehrheit zustande gebracht haben.
Diese Feststellung ist doch politisch völlig legitim.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke? — Bitte!
Herr Kollege Urbaniak, ist Ihnen bewußt, daß Sie eben nicht ganz richtig informiert hier etwas ausgesagt haben? Darf ich Sie fragen, ob Ihnen aus dem Bericht des Kol-
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Franke
legen Müller folgender Satz bekannt ist:
Einigkeit bestand darüber, daß der Antrag der Fraktionen der SPD und FDP als Beratungsunterlage verwandt wurde, ohne daß die Antragsteller aus der Fraktion der CDU/CSU damit im Materiellen ihren Antrag aufgaben. Ihre Vorstellungen wurden in die Beratungen in vollem Umfang .einbezogen.
Kollege Franke, ich verstehe das so: Wenn Sie ihr Begehren materiell nicht aufgeben, dann stellen Sie Ihre Anträge im Ausschuß zur Abstimmung. Das haben Sie nicht getan; also war qualifiziert gar nicht darüber zu debattieren oder zu entscheiden.
— Wir lassen uns doch von Ihren Gruppenanträgen unsere Initiative nicht kaputtmachen! Das ist doch lächerlich!
Ich komme zum Schluß. Mit Verabschiedung dieses Gesetzes werden junge Arbeitnehmer, die in Betriebsverfassungsorganen Funktionen ausüben, ihr Amt unabhängig und ohne Furcht vor nachteiligen Folgen, insbesondere im Hinblick auf den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses und ihrer beruflichen Entwicklung, ausüben können. Ende Januar 1974 laufen viele Ausbildungsverhältnisse aus. Im Frühjahr 1974 werden die Jugendvertreterwahlen in den Betrieben und Verwaltungen durchzuführen sein. Das von den Koalitionsfraktionen initiierte Gesetz kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Sein Schutzcharakter wird dazu beitragen, daß sich junge Arbeitnehmer in den Betrieben mehr als bisher für Jugendvertreter- und Betriebsratswahl engagieren. Darauf kommt es uns entscheidend an.
Das Wort hat der Abgeordnete Hölscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem geltenden Betriebsverfassungsgesetz sollen sich die Mitglieder aller Organe der Arbeitnehmer unbelastet für die Interessen der Arbeitnehmer, also ihrer Kollegen, engagieren können, ohne wegen dieser Tätigkeit Benachteiligungen befürchten zu müssen. Die Arbeitnehmerorgane stehen daher nach dem Willen des Gesetzgebers unter einem besonderen Rechtsschutz.
Bei der Neuregelung des Betriebsverfassungsgesetzes hatte wohl niemand beabsichtigt, der Jugendvertretung etwa nur einen Rechtsschutz minderer Qualität zu geben. Man ging davon aus, daß die Regelung des § 78 des Betriebsverfassungsgesetzes, die eine Benachteiligung von Jugendvertretern in ihrer beruflichen Entwicklung verbietet, als Schutz ausreicht.
Doch wie sich leider herausstellte, wurden Jugendliche wegen ihrer Tätigkeit als Jugendvertreter nach Beendigung ihrer Ausbildung nicht in ein Beschäftigungsverhältnis übernommen, wobei es für mich keine entscheidende Rolle spielt, wieviel Fälle das nun waren.
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zum Schutze in Ausbildung befindlicher Mitglieder von Betriebsverfassungsorganen stellt jetzt Ziel und Absicht des Betriebsverfassungsgesetzes eindeutig klar. Das Benachteiligungsverbot des § 78 wird nämlich konkretisiert: Verlangt ein Auszubildender, der Jugendvertreter ist oder vor Ablauf eines Jahres Jugendvertreter war, die Weiterbeschäftigung, so gilt ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit als begründet. Nur wenn die Weiterbeschäftigung dem Arbeitgeber nicht zugemutet werden kann und er dies in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren geltend macht, braucht er ihn nicht weiterzubeschäftigen.
In der ersten Lesung des Entwurfs kündigte ich für meine Fraktion eine Prüfung dahin gehend an, ob die ursprüngliche Vorlage nicht noch verbessert werden könne. Bei den Beratungen ist uns, so meine ich, diese Verbesserung gelungen. Ich weise auf zwei mir besonders wichtig erscheinende Punkte hin.
Nach der ersten Fassung war der Arbeitgeber verpflichtet, den Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit zu übernehmen. Von dieser Verpflichtung konnte er sich beim Arbeitsgericht unter bestimmten Voraussetzungen entbinden lassen. Unklar war danach allerdings, in welche Situation der Jugendliche in der Zeit zwischen dem Ende des Ausbildungsverhältnisses und der Entscheidung des Arbeitsgerichts geraten könnte. Nach der neuen Fassung gilt nunmehr ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit als begründet, wenn der Jugendliche die Weiterbeschäftigung verlangt. Das ist eine wesentliche Verbesserung. Durch dieses fiktive Arbeitsverhältnis werden die gleichen Rechte und Pflichten wie bei einem vertraglichen Arbeitsverhältnis geschaffen.
Als zweite Verbesserung im Sinne größerer Rechtsklarheit und -sicherheit ist die Festlegung einer Frist von zwei Wochen nach Beendigung des Ausbildungsverhältnisses anzusehen, binnen der der Arbeitgeber vor das Arbeitsgericht gehen kann. Dem steht dann die Pflicht des Auszubildenden gegenüber, dem Arbeitgeber innerhalb der letzten drei Monate vor Beendigung des Ausbildungsverhältnisses schriftlich Mitteilung zu machen, wenn er weiterbeschäftigt werden will.
Erfreuich war — das möchte ich ausdrücklich feststellen —, daß der Arbeits- und Sozialausschuß die-
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Hölscher
ses Gesetz einmütig verabschiedet hat. Die Vertreter der Opposition stimmten mit den Vertretern der Koalitionsfraktionen überein, daß der Schutz der Jugendvertreter besser im Betriebsverfassungsgesetz und nicht im Kündigungsschutzgesetz verankert werden sollte. Im Ziel — auch das möchte ich an dieser Stelle bestätigen —, den Schutz der Jugendvertreter gesetzlich zu verstärken, waren wir ohnehin einig. Aber — Herr Kollege Franke, Sie schauen mich an — ich möchte auch an dieser Stelle eines deutlich sagen. Der Herr Kollege Klein hat eben in seinen Ausführungen hin und wieder das Wort „CDU/CSU-Fraktion" gebraucht. Das eben stimmt nicht. Auch das müssen wir hier noch einmal feststellen.
Es war nur eine ganz kleine Gruppe von Kollegen der Opposition, die einen entsprechenden Antrag eingebracht hat. Ich sage das ohne hämische Nebengedanken, Herr Kollege Franke. Ich muß sagen, ich habe Hochachtung vor Ihrem Windmühlenkampf — wir haben das auch in Hamburg gesehen — gegen die Interessen des CDU-Wirtschaftsrats und seiner Sympathisanten.
Die überwiegende Mehrheit Ihrer Fraktion, meine Kollegen von der Opposition, sieht — das möchte ich wenigstens für meine Person feststellen — auch hier wohl mehr die Interessen in traditionellen Bereichen, und diese Interessen decken sich eben nicht immer mit den Interessen von Minderheiten und Arbeitnehmern.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke? — Bitte!
Herr Hölscher, darf ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß z. B. mein Name auf diesem Antrag nicht steht? Aber Sie wissen, daß ich ihm zugestimmt habe und auch vollinhaltlich dahinter stehe.
Und sind Sie bereit, als zweites zur Kenntnis zu nehmen, daß es hier wirklich auf die Raschheit ankam und die Fraktion insgesamt damit nicht mehr beschäftigt werden konnte?
Herr Kollege Franke, ich bin bereit, das nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern Ihnen auch zu bestätigen, daß Sie persönlich zugestimmt haben. Ich möchte aber auch anmerken, daß wieder andere Kollegen Ihrer Fraktion aus dem Arbeits- und Sozialausschuß vor der Abstimmung den Saal verlassen haben. Nun können Sie das deuten, wie Sie wollen. Es ist das legitime Recht jedes Kollegen dieses Hauses, so zu stimmen, wie er es für richtig hält. Nur glaube ich, Herr Kollege Franke — in aller Offenheit , Sie hätten in Ihrer Fraktion eine Mehrheit dafür sicherlich nicht gekriegt.
— Herr Kollege, ich will hier nicht Angriffe auf Kollegen führen, die in der Zielsetzung mit uns, mit den Koalitionsfraktionen einer Meinung sind. Wir sollten aber von Gruppenanträgen sprechen, wenn es Gruppenanträge sind, und nicht hier den falschen Eindruck erwecken, daß eine gesamte Fraktion hinter einem bestimmten Gesetzentwurf stand. Denn das ist in diesem Fall nicht so. Sonst hätten Sie sicher einen entsprechenden Antrag, unter dem „Carstens, Stücklen und Fraktion" gestanden hätte, eingebracht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gansel?
Bitte schön.
Herr Hölscher, darf ich Sie daran erinnern, daß der rheinland-pfälzische Sozialminister noch vor kurzem auf eine Anfrage des dortigen Landtagsabgeordneten Dröscher erklärt hat, daß die Weiterbeschäftigungspflicht als Kündigungsschutz für Jugendvertreter systemwidrig ,sei, und daß wir einigermaßen erstaunt sind, daß sich jetzt auch Herr Franke auf die Seite der Systemüberwinder geschlagen hat?
Ich nehme nicht an, daß Sie eine Antwort darauf erwarten. Sie haben mich daran erinnert, Herr Kollege Gansel; vielen Dank.
Erlauben Sie mir aber bitte noch einige Bemerkungen zur Diskussion in der Öffentlichkeit und auch hier im Hause. Es gibt unterschiedlichste Aufgaben über die Zahl der Fälle, in denen Jugendvertreter nicht in ein Arbeitsverhältnis übernommen wurden. Außerdem wird gesagt, die jetzige Fassung des § 78 reiche aus; der Jugendvertreter könne sich sein Recht ja beim Arbeitsgericht holen. Ich meine, alle Erwägungen, Spekulationen und Schätzungen über die Zahl gehen wirklich am Problem vorbei, auch der Hinweis auf das Arbeitsgericht. Wir müssen verhindern — und das tun wir mit unserem Gesetzentwurf —, ,daß sich der Jugendliche etwa vor die Alternative gestellt sieht, entweder das Amt des Jugendvertreters zu übernehmen oder seine berufliche Entwicklung abzusichern. Außerdem werden oft einfach vollendete Tatsachen geschaffen. Aus seinem Betrieb ist er, wenn er ein arbeitsgerichtliches Verfahren anstrengen müßte, ja zunächst einmal heraus, seine berufliche Entwicklung ist unterbrochen. Der Jugendvertreter ist somit von vornherein benachteiligt, auch wenn ihm das Gericht später recht geben mag.
Wir meinen, wer den mündigen Arbeitnehmer will, der bereit ist, sich für die Interessen seiner Kollegen zu engagieren, der muß auch dafür sorgen, daß solche fatalen Alternativen erst gar nicht auftauchen. Wir Freien Demokraten begrüßen daher die Ergänzung des Betriebsverfassungsgesetzes, zumal wir es ja auch waren, denen der Ausbau der Rechte der Jugendvertretung besonders wichtig erschien.
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Hölscher
Auch im Betrieb gibt es nicht viele — in anderen Bereichen auch nicht —, die bereit sind, sich zum Sprecher anderer zu machen, weil das ohnehin meistens mit Unbequemlichkeiten verbunden ist. Gerade bei Jugendlichen sollten wir demokratisches und auch kritisches Engagement fördern, allerdings auch schützen.
Tun wir das nicht, haben alle diejenigen recht, die glauben, sie kämen dann am weitesten, wenn sie nur an sich und ihre berufliche Karriere denken. Das darf doch wohl nicht wahr sein.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der Aussprache. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, bitte ich, sich zu erheben. — Danke. Gegenprobe! —Danke. Stimmenenthaltungen? — Das Gesetz ist mit sehr großer Mehrheit bei einigen Gegenstimmen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Anträge des Ausschusses unter den Nrn. 2, 3 und 4. Ich gehe davon aus, daß wir über die Anträge gemeinsam abstimmen können. Wer den Anträgen unter Nrn. 2, 3 und 4 zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.
Meine Damen und Herren, Punkt 8 e der Tagesordnung, Beratung des Sozialberichts 1973 der Bundesregierung, wird, wie den Fraktionen schon bekannt ist, von der Tagesordnung abgesetzt.
Ich rufe Punkt 9 der heutigen Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hauser , Müller (Remscheid), Gewandt, Russe, Lampersbach, Engelsberger, Frau Pieser, Dr. Götz und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle und über Änderungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung
— Drucksache 7/1284 —
Zur Begründung hat das Wort der Herr Abgeordnete Hauser .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Art. 4 § 4 des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall gewährt der Bund letztmalig in diesem Jahr als Übergangshilfe zum vorgeschriebenen Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen 76 250 000 DM an die Ausgleichskassen der betroffenen Kleinbetriebe. Im folgenden möchte ich begründen, warum die Fraktion der CDU/CSU gemäß der Drucksache 7/1284 der Meinung ist, der
Bund solle für weitere vier Jahre als Unterstützung für die Ausgleichskassen pro Jahr 100 Millionen DM zur Verfügung stellen.
Bei der ursprünglichen Regelung des Lohnfortzahlungsgesetzes im Jahre 1969 ist man davon ausgegangen, daß die Übergangshilfe es den Kleinbetrieben erleichtern sollte, sich den Belastungen aus der Lohnfortzahlung schrittweise anzupassen und auf die Erfordernisse einzustellen. In der Zwischenzeit hat sich herausgestellt, daß die Schätzungen der voraussichtlich eintretenden Belastungen nicht den tatsächlich aufgetretenen Belastungen entspricht.
Lassen Sie mich hierzu einige Zahlen nennen. Sie beziehen sich in erster Linie auf das Land Nordrhein-Westfalen, machen aber die Entwicklung insgesamt deutlich. So wurde der Erstattungssatz — das ist der Betrag, der dem Arbeitgeber durch die Kasse ersetzt wird — wegen der unerwartet hohen Belastungen dieser Kassen auf Grund der erhöhten Krankheitshäufigkeit in Bonn von 90 % im Jahre 1970 auf 70 % im Jahre 1972 gesenkt, im Kreis Düren von 90 % auf 60 % im gleichen Zeitraum, in Düsseldorf und Duisburg von 90 % auf 75 % und in Mülheim an der Ruhr von 90 % auf 50 %. Um ein weiteres Absinken des Erstattungssatzes zu verhindern, war eine Erhöhung des Umlagesatzes, bezogen auf die Lohnsumme, unumgänglich. Auch hierzu möchte ich einige Zahlen nennen. In Bonn erhöhte sich der Umlagesatz von 1970 mit 2,9 % auf 4,3 % im Jahre 1972, in Düsseldorf von 3 % auf 4 %, in Euskirchen von 2 % auf 4,5 % und in Krefeld von 2,6 % auf 4 %.
Insgesamt betrugen die Umlagesätze im Bundesdurchschnitt am 1. Januar 1973 3,5 %. Es ist sicher, daß, falls der Antrag der CDU/CSU hier keine Mehrheit finden sollte, ab 1. Januar 1974 diese Umlagesätze auf weit über 4 % ansteigen müssen. Unter Berücksichtigung der gestiegenen Umlagesätze bei der gleichzeitigen Senkung der Erstattungsbeträge liegt die effektive Mehrbelastung der Kleinbetriebe aus dem Lohnfortzahlungsgesetz zur Zeit bei 6 % der Lohnsumme. Im Jahre 1969 ist vom Gesetzgeber aber eine Steigerung der Gesamtbelastung auf über 3,5 % als für die Kleinbetriebe unzumutbar angesehen worden. Der Herr Abgeordnete Regling von der SPD-Fraktion hat seinerzeit in dritter Lesung gesagt, bereits bei der ersten Vorlage der SPD zur Lohnfortzahlung hat die SPD die Forderung ausgesprochen, daß die lohnintensiven Kleinbetriebe durch die Lohnfortzahlung keine unzumutbare Belastung haben dürfen.
Es gibt aber noch weitere Gründe, die dafür sprechen, den Kleinbetrieben in einer ohnehin sehr an- gespannten Situation nicht noch zusätzliche Lasten aufzubürden. Einer dieser Gründe liegt in der Hochzinspolitik, die mit zunehmender Dauer zu schwersten Belastungen im Bereich dieser mittelständischen Betriebe geführt hat. Der Kostendruck hält an, während die Erträge sinken. Die Zahl der Konkurse ist im dritten Quartal 1973 gegenüber dem zweiten Quartal 1973 um 50 % gestiegen. Diese Zahl sagt mehr als alle Argumente. Im Interesse der Sicherung zahlreicher Arbeitsplätze muß die Regierung aufgefordert werden, weiteren Zusammenbrüchen
4214 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Hauser
vorzubeugen. Ich meine, der vorliegende Antrag der CDU/CSU ist ein Wegweiser dafür.
Ich sehe in diesem Antrag eine gute Gelegenheit für die Koalition, unter Beweis zu stellen, wie ernst es ihr damit ist, unsere Marktwirtschaftsordnung zu stützen, die nur durch die noch vorhandene Unternehmensvielfalt gewährleistet ist. Jetzt bietet sich eine Gelegenheit, den gerade von der SPD so oft beklagten Konzentrationstendenzen in unserer Wirtschaft dadurch entgegenzutreten, daß man den Kleinbetrieben Entlastung und damit die Möglichkeit verschafft, selbständig zu bleiben.
In einer Zeit, in der viele mittelständische Unternehmer nicht mehr sicher sein können, ob sie sich angesichts der systemüberwindenden Kräfte in unserem Lande überhaupt einmal der Früchte ihrer harten Arbeit erfreuen können, würde ein derartiges Signal für die Zustimmung zu unserem Antrag sicherlich verstanden werden. Unser Antrag bringt die Gewährleistung dafür, daß die Start- und Wettbewerbsgleichheit der Kleinbetriebe gegenüber den mittleren und großen nicht vermindert werden.
In diesem Zusammenhang ist eine höchstrichterliche Entscheidung des Dritten Senats des Bundessozialgerichts vom 24. Mai 1973 von Bedeutung. In ihr wird herausgestellt, daß die Regelung des Ausgleichsverfahrens sachgerecht sei und dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes nicht widerspreche. Dies sei deshalb nicht der Fall, weil das Lohnfortzahlungsrisiko in Kleinbetrieben naturgemäß größer sei als dort, wo es sich auf eine
höhere Zahl von Beschäftigten verteile und deshalb von selbst ausgleiche. Hier trifft sich das Anliegen unseres Antrages mit der Aussage des Bundessozialgerichts. Auch hier darf ich den Kollegen Regling von der SPD-Fraktion aus der zweiten Lesung des Lohnfortzahlungsgesetzes zitieren, der damals sagte: Wenn solche Krankheitsfälle im Kleinbetrieb kumuliert auftreten, wenn plötzlich alle vier Beschäftigten, die da sind, ausfallen, ist das ein so harter Brocken, daß ihn der einzelne Betrieb nicht tragen kann. Dies zu regeln ist von vornherein unser Anliegen gewesen. Wir wollen das Risiko für die Kleinbetriebe in erträglichen Grenzen halten. Wir sind der Meinung, daß dies auf dem von uns vorgeschlagenen Weg nicht nur keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz bedeutet, sondern vielmehr geradezu ein Gebot aus dem Gleichheitsgrundsatz darstellt, weil deshalb das hohe Risiko der Lohnfortzahlung für die Kleinbetriebe dem geringen Risiko der mittleren und Großbetriebe angeglichen werden kann.
Lassen Sie mich abschließend eine Bemerkung zu den Kosten machen. Laut Mitteilung des Bundesministers der Finanzen betrugen die Einnahmen des Bundes in der Zeit von Januar 1973 bis Oktober 1973 92,5 Milliarden DM. Das war im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 9,6 Milliarden DM. Zugleich gab der Bund in diesem Zeitraum 94,2 Milliarden DM aus, was eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr uni 9,6 % bedeutet.
Die Konjunkturpolitik der Bundesregierung hat dazu geführt, daß ihre verspäteten stabilitätspolitischen Maßnahmen vorwiegend auf dem Rücken der kleinen und mittleren Einkommensbezieher und Selbständigen ausgetragen wurden. Daher ist es wohl angesichts einer derartigen Ausgabensteigerung seitens der Bundesregierung nicht zuviel verlangt, wenn sie den durch ihre Politik am meisten Betroffenen eine im Vergleich zur Steigerung ihrer eigenen Ausgaben geringfügige Hilfe gewährt. Vor dem Hintergrund zahlreicher Äußerungen aus Regierungs- und Koalitionskreisen, die Stabilitätspolitik dürfe nicht zu Lasten einer Bevölkerungsgruppe gehen, möchte ich gerade die sozialdemokratische Fraktion daran erinnern, daß sie hier erneut in der Lage ist, einen Beweis dafür zu liefern, ob ihre Glaubwürdigkeit gegeben ist oder ob man an ihr zweifeln müßte.
Ich handle nicht aus Schadenfreude, und ich verrate Ihnen sicherlich auch kein Geheimnis, wenn ich sage, daß das Verhalten der Vertreter auf der Gründungsversammlung der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in Dortmund und das entgegengesetzte Verhalten der gleichen Vertreter bei der Verabschiedung des Inflationsentlastungsgesetzes in den betroffenen Bevölkerungskreisen nicht nur auf mangelndes Verständnis, sondern auf tiefe Enttäuschung gestoßen ist.
Lassen Sie uns der Gefahr entgegentreten, daß aus einer solchen Enttäuschung heraus die Abkehr ganzer Bevölkerungsgruppen von unserer gemeinsamen demokratischen Grundauffassung geschieht! Lassen Sie nicht zu, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck verstärkt wird, daß hier anders geredet wird als draußen! Der Kollege Spitzmüller hat bei der zweiten Lesung zum Lohnfortzahlungsgesetz gesagt: „Wir Freien Demokraten sind der Meinung, wenn in dieser Gesetzesvorlage schon die Überzeugung zum Ausdruck kommt, daß für die Kleinbetriebe Hilfen notwendig sind, dann sind sie nicht nur in der Übergangszeit, sondern eben generell notwendig." Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, diesen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen und dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes Ihre Zustimmung zu geben.
Meine Damen und Herren, damit ist die Vorlage Drucksache 7/1284 begründet.
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bewegte Klage des Kollegen Hauser über das Schicksal der Kleinbetriebe verstehen wir wohl. Sie können sicher sein, daß die Bundesregierung sich des Schicksals der kleinen und mittleren Unternehmen ganz besonders annimmt. Allerdings machen wir es ein bißchen anders als Sie. Sie wollen z. B. alle Betriebe, auch die Kleinbetriebe, mit einer Vermögensabgabe belasten, und hier kommen Sie an und wollen mit Hunderten von Millionen DM die
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Lutz
Kleinbetriebe entlasten. Das ist die etwas wundersame Weise der Mittelstandspolitik, wie sie sich bei Ihnen offenbar weiter fortzusetzen beginnt.
Aber lassen Sie mich zu dem Gesetzentwurf selbst kommen! Er befaßt sich mit einem Teilaspekt des Lohnfortzahlungsgesetzes, mit einer Frage zudem, die Sie damals gemeinsam mit uns in einer recht vernünftigen Form geregelt haben.
Mit Vorbedacht hat der Gesetzgeber damals bei der Einführung der Lohnfortzahlung für alle Kleinbetriebe eine Sonderregelung getroffen. So wurde das Risiko für den einzelnen Arbeitgeber gemindert, und es wurde eine Übergangsregelung geschaffen, in der der Staat mit finanziellen Zuwendungen die Einführung der Lohnfortzahlung erleichterte. Ich möchte Ihnen einige Faktoren noch einmal in die Erinnerung rufen.
Erstens werden die Betriebe bis zu 20 Arbeitnehmern direkt nur mit 20 % an den Kosten der Lohnfortzahlung beteiligt; 80 % werden per Arbeitgeberumlage von diesen Betrieben gemeinsam getragen und von den Krankenkassen ausgezahlt.
Zweitens wurden den Kleinbetrieben per Staatszuschuß der Einstieg in die Lohnfortzahlung, wie ich schon sagte, erleichtert. Mit Ihrer Zustimmung wurde damals festgelegt, daß der Bund 1970 200 Milionen DM, ein Jahr darauf 150 Millionen DM, 1972 100 Millionen DM und in diesem Jahr etwas mehr als 75 Millionen DM zuzuschießen hatte. Diese Übergangshilfe sollte, eben weil sie eine Übergangshilfe war, mit Ende dieses Jahres auslaufen.
Die sinkenden Staatszuschüsse führten zwangsläufig zu einer steigenden finanziellen Belastung für die an der Umlage beteiligten Unternehmen. Die Beitragssätze — und das war ja auch von Ihnen so gewollt — stiegen damit logischerweise auf mittlerweile rund 3,25 %. Sie werden, wenn der Staatszuschuß wegfällt, an die 4 % kommen, möglicherweise ein bißchen darüber. Vergessen Sie nicht: die Belastungen der Industrie durch das Lohnfortzahlungsgesetz werden von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände mit 4,6 % der Bruttolohn- und -gehaltssumme angegeben. Ich muß also bemerken, daß eine Wettbewerbsverzerrung zuungunsten der Klein- und Mittelbetriebe allein von diesen Zahlen her nicht bewiesen werden kann.
Aber, meine Damen und Herren, heute ist Nikolaustag. Diese Tatsache scheint Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, bei diesem Gesetzentwurf inspiriert zu haben. Mit leichter Hand wandeln Sie eine Übergangshilfe des Bundes in eine Dauersubvention um; Kostenpunkt — na, was macht das schon — 100 Millionen DM pro Jahr. Um Dekkungsvorschläge bemühen Sie sich gar nicht erst.
Eine endgültige Regelung verschieben Sie auf die
Zeit nach 1977, oder sollte ich sagen: auf den SanktNimmerleins-Tag, so ist es doch wohl aus dem Gesetzentwurf herauszulesen.
Die Fraktion der SPD kann es sich so einfach nicht machen. Wir werden sehr sorgfältig die sozialpolitischen und die finanzpolitischen Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs im zuständigen Ausschuß überdenken. Wir werden den mit leichter Hand gestrickten Gesetzentwurf der Opposition Masche für Masche prüfen. Wir werden das nachvollziehen müssen, meine Damen und Herren, was Sie eigentlich vor Einbringung dieses Gesetzentwurfs hätten überdenken müssen,
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wahrscheinlich letzter Redner dieses Tages möchte ich es mir versagen, zu ausführlich in das hier angesprochene Problem einzusteigen. Aber eine Reihe von Bemerkungen kann ich mir nun doch nicht verkneifen.
Herr Kollege Hauser, wenn Sie sagen und damit den Kollegen Spitzmüller zitiert haben, hier werde anders geredet als draußen, und wenn Sie meinen, damit die FDP hier ansprechen zu können, dann kann ich eigentlich nur sagen
— und auch uns —, ich weiß nicht, mein lieber Herr Kollege Hauser, wie weit Sie die Protokolle des Jahres 1969 gelesen haben. Denn Sie sind ja der einzige Antragsteller, wie ich mit Interesse gesehen habe, der 1969 nicht der damaligen Regierungsfraktion der CDU/CSU angehört hat. Man hat Sie also wohl vorsichtshalber vorgeschickt.
um hier ein kleines Stückchen Selbstkritik, aber auch ein bißchen Vergeßlichkeit zu praktizieren. An sich wäre es besser gewesen — das darf ich mal für die Rednerverteilung bei der CDU/CSU sagen —, wenn Sie die Kollegin Pieser hätten sprechen lassen. Sie war nämlich die einzige Kollegin der CDU/CSU, die bei der Grundsatzabstimmung mit der FDP gegen die arbeitsrechtliche Lösung gestimmt hat, und sie steht auch auf diesem Antrag. Aber die haben Sie nicht sprechen lassen, und damit ist doch schon, das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen, ein Teil dessen, was hier mit diesem Antrag versucht wird, mit einem Fragezeichen versehen.
Wo sind denn alle die Kollegen, deren Namen unter dem Antrag stehen? Wo sind denn alle die strammen Mittelstandspolitiker der CDU/CSU, die hier alle mit Namen verzeichnet sind, die sich damals alle haben schön einseifen lassen, die draußen anders gesprochen haben, als sie hier gestimmt haben? Herr Kollege Hauser, ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf. Sie als neuer Abgeordneter können natürlich sagen: so und so muß das sein.
4216 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973
Schmidt
Aber wenn ich dann Ihre sehr bewegten Worte gehört habe über die tatsächliche Situation Sie haben recht, es ist über die 3 % hinausgegangen; die Kosten liegen viel höher und dergleichen mehr —, dann ist das allerdings eine sehr späte Erkenntnis. Denn vielleicht haben Sie sogar zum Teil die Zahlen aus den Protokollen von damals ersehen können. All das haben wir damals vorausgesagt, als wir uns in dieser Frage eben für die bessere, billigere, vernünftigere und dem Arbeiter genauso dienende Lösung — für die versicherungsrechtliche Lösung — ausgesprochen haben. Es ist schon ein bißchen Schau, Herr Kollege Hauser.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Hauser?
Ja, bitte!
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß es bei diesem Gesetzentwurf nicht in erster Linie darauf ankommt, Motivforschung dahingehend zu betreiben, warum dieser oder jener heute nicht hier ist oder nicht spricht, sondern in erster Linie darauf, das von Ihnen gerade festgestellte Problem zu lösen?
Ich stimme Ihnen zu, weil Sie die Frage als ein Kollege stellen, der damals dem Hause nicht angehört hat. Aber ich muß natürlich sagen — ein bißchen gehört das ja auch dazu —, daß es ja die Kollegen, deren Namen hier alle auf dem Antrag stehen, waren, die damals und vielleicht auch heute draußen immer gesagt haben: wir sind immer für die versicherungsrechtliche Lösung gewesen; das hat uns ja gar nicht gefallen. Die sollten heute hier sein und einmal bekennen, daß man damals eine falsche Entscheidung getroffen hat, von der eine Auswirkung hier jetzt auf dem Tisch liegt.
Das muß man in dem Zusammenhang wohl sagen, denn wir Freien Demokraten haben da eine ganz reine Weste. Wir haben damals klar gesagt: wir fürchten diese Auswirkung. Und der Kollege Katzer als damals verantwortlicher Minister hat in der 237. Sitzung am 12. Juni 1969 mit Bezug auf die finanziellen Bedenken und die Überlegungen über die Auswirkungen gesagt:
Seit Oktober vorigen Jahres liegen alle Zahlen auf dem Tisch. Diese Zahlen sind mit allen Beteiligten . . .
Sie können das nachlesen. Ich will um der Zeit willen nicht alles zitieren. Also: alles ist ganz klar, es kann gar nicht passieren, daß wir über 3,5 % kommen. Und es ist auch klar gesagt worden — sowohl von diesem Podium als auch in den Ausschußberatungen —, das sei eine Übergangslösung, und es werde nicht über 3,5 % hinausgehen.
Daß es anders gekommen ist, ist an der falschen Entscheidung dieses Hauses mit abzulesen, die Sie
nun — nach außen gesehen — korrigieren möchten, obwohl Sie — nicht Sie, Herr Kollege Hauser, aber die Opposition — an dieser Lösung schuld waren.
Aber wie gesagt, meine Damen und Herren, ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Denn man könnte jetzt in die Grundsatzdebatte eintreten. Sollte man nicht einmal überprüfen, ob nicht die andere Lösung die bessere gewesen wäre, weil man inzwischen wirklich sieht, daß manche Probleme aufgeworfen worden sind? Aber auch das wollen wir hier nicht ansprechen. Ich bin mir bewußt, daß am 1. Januar für die Unternehmen eine schwierigere Situation kommen kann. Dessen sind wir Freien Demokraten uns bewußt. Wir haben das allerdings auch damals diesen Unternehmen gesagt. Wir haben gesagt, laßt euch nicht mit dem Bonbonehen der Übergangslösung mit den 525 Millionen in den nächsten Jahren auf den falschen Dampfer locken. Denn Sie wissen, alle waren gegen die arbeitsrechtliche Lösung, aber zum Schluß stimmten die Verbände der mittelständischen Wirtschaft zu, weil sie das Bonbon hatten. Heute sind wir bei diesem Bonbon am harten Kern. Die Süße ist weg, und jetzt beißt man sich die Zähne daran aus.
Darüber werden wir uns im Ausschuß unterhalten müssen. Wir werden prüfen müssen — und ich bin dem Kollegen Lutz sehr dankbar dafür, daß er das hier deutlich gesagt hat —, wir werden Masche für Masche nachtstricken müssen. Wir werden fragen müssen, wie das denn damals war. War das nicht eine Entscheidung des Gesetzgebers, die das Auslaufen ganz klar schon durch die degressive Gestaltung deutlich machte, eine Entscheidung, die immerhin von der überwiegenden Mehrheit dieses Hauses gebilligt wurde? Von uns nicht!
Wir werden prüfen müssen, ob man hier nicht die Zusammenhänge mit anderen mittelständischen Problemen, die zu lösen sind — Vermögensbildung usw. —, sehen muß.
Ich möchte abschließend nur noch einmal sagen, ich freue mich auf der anderen Seite, daß uns Freien Demokraten — der Herr Kollege Spitzmüller und ich waren ja an dieser Debatte sehr beteiligt — durch Ihre Begründung, durch das, was Sie heute sagen, unter dem ja auch immerhin die Unterschrift des Herrn Katzer, des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, steht, bestätigt worden ist, daß Ihre Entscheidung damals sicher nicht in die richtige Richtung ging.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, dem Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung und dem Haushaltsausschuß nach § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. — Ich sehe
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4217
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Punkte 10 bis 13 der heutigen Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes
— Drucksache 7/1250 —Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 22. Februar 1973 zum Vertrag vom 15. Juni 1957 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Regelung vermögensrechtlicher Beziehungen
— Druckasche 7/1251 —
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
— Drucksache 7/1265 —Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung des Vermögens der Deutschen Industriebank
— Drucksache 7/1266 —
Das Wort wird nicht begehrt. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates bitte ich aus der Tagesordnung zu entnehmen.
Zu Punkt 12 — Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes — ist anzumerken, daß der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mitberatend beteiligt werden soll.
Ich frage, ob das haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden ist. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 11 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 7/1235 —
Das Wort wird nicht begehrt. Wer dem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle Einstimmigkeit in der Beschlußfassung fest.
Ich rufe nunmehr die Punkte 15 und 16 der heutigen Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung betr. Aufhebung der Immunität der Abgeordneten
— Drucksache 7/1305 —
Berichterstatter: Abgeordneter Schulte Beratung des Antrags des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß) betr. Aufhebung der Immunität der Abgeordneten
— Drucksache 7/1306 —Berichterstatter: Abgeordneter Dürr
Ich frage zunächst, ob einer der Herren Berichterstatter ,das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall. Ich danke den Herren Berichterstattern. Wird das Wort zur Aussprache verlangt? — Auch das ist nicht der Fall.
Ist das Haus einverstanden, daß ich der Einfachheit halber über beide Punkte zusammen abstimmen lasse? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Wir kommen zur Abstimmung über die Ausschußanträge auf Drucksachen 7/1305 und 7/1306. Wer den Anträgen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke. Gegenprobe! —Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist es so beschlossen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen betr. Einwilligung zu einer überplanmäßigen Ausgabe bei Kap. 10 02 Tit. 656 55 im Haushaltsjahr 1973
— Drucksache 7/1304 —
Das Wort wird nicht gewünscht. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage dem Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 18 auf:
Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes betr. Rechnung und Vermögensrechnung des Bundesrechnungshofes für die Haushaltsjahre 1971 und 1972 — Einzelplan 20 —— Drucksache 7/1046 —
Das Wort wird nicht begehrt. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Punkte 19 und 20 der Tagesordnung auf:
Beratung ,des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der von der Bundesregierung erlassenen Siebenundzwanzigsten Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung -
— Drucksachen 7/1079, 7/1307 —
Berichterstatter: Abgeordneter Zeyer
Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft
zu der von der Bundesregierung erlassenen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
zu der von der Bundesregierung erlassenen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksachen 7/1001, 7/1041, 7/1308 — Berichterstatter: Abgeordneter Zeyer
Ich frage, ob von dem Herrn Berichterstatter das Wort gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Ich
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
danke dem Herrn Berichterstatter. Anträge liegen nicht vor. Das Haus hat von den Berichten auf den Drucksachen 7/1307 und 7/1308 Kenntnis genommen.
Ich rufe nunmehr die Punkte 21 bis 25 unserer Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Wirtschaft zu den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlägen der EG-Kommission
für eine Verordnung des Rates über die Einführung eines allgemeinen Präferenzsystems für bestimmte Erzeugnisse der Kapitel 1 bis 24 des Gemeinsamen Zolltarifs zugunsten von Entwicklungsländern
für eine Verordnung des Rates über die Erhöhung der Kontingentsmenge des Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte Aale der Tarifstelle ex 03.01 A II des Gemeinsamen Zolltarifs
für eine Verordnung des Rates zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte Aale der Tarifstelle ex 03.01 A II des Gemeinsamen Zolltarifs
für eine Verordnung des Rates über die zolltarifliche Behandlung bestimmter Erzeugnisse, die zur Verwendung beim Bau, bei der Instandhaltung und der Instandsetzung von Luftfahrzeugen bestimmt sind
— Drucksachen 7/957, 7/1047, 7/1159, 7/1110, 7/1309 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Ahrens
Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Festlegung der allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 24 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1035/72
— Drucksachen 7/825, 7/1248 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Dr. Riede
Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Finanzierung bestimmter Maßnahmen durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft, Abteilung Garantie
— Drucksachen 7/1048, 7/1249 —
Berichterstatter: Abgeordneter Büchler Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Verordnung des Rates zur Ergänzung der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 des Rates vom 26. Juni 1969 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs
— Drucksachen 7/47, 7/1272 —Berichterstatter: Abgeordneter Mursch
Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung der Bundesregierung über die Veräußerung des bundeseigenen Restgeländes des ehemaligen Flugplatzes Paderborn an die Stadt Paderborn
— Drucksachen 7/998, 7/1268 —Berichterstatter: Abgeordneter Grobecker
Ich frage zunächst, ob einer der Herren Berichterstatter das Wort wünscht. — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich danke den Berichterstattern und frage, ob das Wort zur Aussprache gewünscht wird.
— Herr Kollege, zu welchem Punkt bitte?
— Zu Punkt 21 hat das Wort der Herr Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich habe soeben erfahren, daß in diesem Hause eine Regelung besteht, daß, wenn eine Sitzung bis 20 Uhr dauert, die Mitarbeiter des Parlaments eine Essensmarke bekommen. Da es eine Minute vor 8 Uhr ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, eine soziale Großtat mit einer Frage zu verbinden, die mich schon lange beschäftigt; und zwar hätte ich gern bei dieser Gelegenheit Auskunft darüber, welchen Sinn es eigentlich hat, uns ständig Papiere vorzulegen, die wir zur Kenntnis nehmen sollen, die wir nicht zur Kenntnis nehmen können, einen Ausschuß darüber beraten zu lassen, der — das weiß jeder — sie auch nicht zur Kenntnis nimmt, dann den Ausschuß berichten zu lassen, daß er darüber Kenntnis genommen hat und dann hier noch einmal ein Papier vorzulegen, von dem dann das Plenum noch einmal Kenntnis nehmen muß.
Ich möchte als Beispiel unter dem Tagesordnungspunkt 21 nennen:
Beratung des Berichts und des Antrags des Auschusses für Wirtschaft ... zu den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlägen der EG-Kommission für eine Verordnung des Rates über die Erhöhung der Kontingentsmenge des Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte Aale der Tarifstelle ex 03.01 A II des Gemeinsamen Zolltarifs
Ich weiß nicht, ob es sich hierbei wirklich um Aale handelt; ich könnte es mir vorstellen. Ich habe diesen Punkt jetzt eben herausgefischt, weil ich eine Vorliebe für „bestimmte Aale" habe, aber vor allem weil mich interessieren würde, was mit solchen
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Dezember 1973 4219
Gansel
Verordnungen im Parlament nun eigentlich geschehen soll.
Da steht im Bericht des Abgeordneten Dr. Ahrens, daß diese Verordnungen an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen worden sind und daß der Ausschuß von ihnen Kenntnis genommen hat. Der nächste Absatz heißt:
Namens des Ausschusses bitte ich das Hohe Haus, von den Vorschlägen der EG-Kommission Kenntnis zu nehmen.
Wir haben nun Kenntnis davon genommen und trotzdem keine Kenntnis bekommen. Ich hoffe, Herr Präsident, daß die Leitung des Hauses jetzt wenigstens zur Kenntnis genommen hat, daß es 20 Uhr ist. Selbst wenn nichts anderes dabei herauskommen sollte als Essensmarken, haben sich diese beiden Minuten, wie ich glaube, trotzdem gelohnt. Es sollte aber eigentlich ein Beitrag zur Parlamentsreform sein.
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Gansel hat gemeint, er müsse heute abend einmal den Hecht in diesem Hause machen, wenn es sich um Aale handelt. — Vielen Dank!
Soweit Monita in der Sache anzubringen sind, müssen sie in den Fachausschüssen angebracht werden. Das Verfahren selbst beruht auf früheren Beschlüssen dieses Hauses, an denen viele der hier sitzenden Kollegen selbst mitgewirkt haben.
Meine Damen und Herren, das Wort wird nicht weiter begehrt. Ich frage, ob wir der Einfachheit halber gemeinsam über die Punkte abstimmen können. — Herr Kollege Gansel, nach dieser Leistung sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Wir kommen zur Abstimmung über die Ausschußanträge auf den Drucksachen 7/1309, 7/1248, 7/1249, 7/1272 und 7/1268. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! —
Eine Gegenstimme. Stimmenthaltungen? — Eine Stimmenthaltung. Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. Wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich schließe die Sitzung des Deutschen Bundestages und berufe die nächste Sitzung auf Mittwoch, den 12. Dezember 1973, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.