Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtlichen Mitteilungen werden ahne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat am 21. Februar 1972 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Rollmann und Genossen betr. deutschtunesisches Jugendzentrum — Drucksache VI/3044 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3191 verteilt.
Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat am 18. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Fruh, Susset, Berberich, Adorno, Dr. Prassler, Frau Griesinger, Bremm und Genossen betr. Stand der einzelbetrieblichen Investitionsförderung nach den Richtlinien vom 1. Januar 1971 — Drucksache VI/3100 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3193 verteilt.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
EG-Vorlagen
Darstellung und Erläuterung des Inhalts einer Richtlinie des Rates der EG uber die Einführung einer gemeinsamen Entgeltregelung für Bürgschaften und Garantien bel aus Lieferantenkrediten finanzierten mittel- und langfristigen Ausfuhrgeschäften mit öffentlichen und privaten Käufern
— Drucksache VI/3167 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft , Haushaltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Kernforschungsstelle, die in Belgien dienstlich verwendet werden
— Drucksache VI/3139 —
uberwiesen an den Innenausschuß , Haushaltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgultigen Beschlußfassung im Rat
Wir setzen die Beratung über die Punkte 2 bis 6 der Tagesordnung fort:
2. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972
— Drucksache VI/3080 —3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
— Drucksache VI/3156 —4. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen
— Drucksache VI/3157
5. Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland- und Außenpolitik
— Drucksachen VI/2700, VI/2828 —6. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen
— Drucksache W1523 — Das Wort hat der Abgeordnete Zimmermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestern abend hat der Herr Verteidigungsminister einen bedeutsamen Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Nachdem seine Rede aus dem Jahre 1958 zitiert worden war, hat er gesagt:Idi kann nicht aus dem Gedächtnis sehen, in welchem Zusammenhang das alles steht, was Herr Barzel zitiert hat. Aber ich weiß eines gewiß. Der Schluß dieser Rede, Herr Barzel, lautete: „Legen Sie endlich Ihren deutschnationalen Größenwahn ab!"Das war in der Tat der Schluß seiner Rede aus dem Jahre 1958.Ich habe mir die Mühe gemacht, diese Rede heute nacht nachzulesen. Wodurch wird diese Rede eigentlich qualifiziert? Nachdem sie gehalten war, sagte der Abgeordnete Kiesinger:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich schäme mich für das ganze Parlament, daß diese Rede hier gehalten worden ist.Und er sagte nachher:Die Rede, die wir soeben hören mußten, war ein einziger Schmutzkübel, der ausgegossen wurde über dieses Haus.
Sie sollten die Rede Ihres Verteidigungsministers aus dem Jahre 1958 selbst einmal nachlesen, meine Damen und Herren von der SPD,
um zu sehen, ob das stimmt.
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9942 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. ZimmermannHerr Schmidt sagte damals wörtlich:Hier will ich Herrn Strauß noch eine Antwort geben. Er beschwerte sich, wir hätten seine Frage nicht beantwortet, ...Nun, meine Damen und Herren, das ist ohnehin unsere Beschwernis nach den letzten zwei Tagen der Debatte, daß Sie unsere Fragen nicht beantwortet haben.
Sie sehen, das war damals schon so.
Ich fahre fort mit dem Zitat von Helmut Schmidt:..., ob wir nicht wenigstens für die Luftabwehr Atomraketen zulassen wollten.Helmut Schmidt:Darauf können wir nur sagen: nein, kategorisch: nein, das wollen wir nicht.Und heute steht dieser Verteidigungsminister mit seinem ganzen Schirm,
mit seinem ganzen Potential einer sehr ausgewogenen Bewaffnung, wie ich hoffe, die Sie kennen, auf allen Sektoren, konventionell, nuklear, hier und ist für dieses System und sein Funktionieren verantwortlich. Und idi nehme an, er steht heute zu diesem System, das er damals so leidenschaftlich bekämpft hat.
Aber wie ein roter Faden zieht sich durch diese Rede von 1958, daß er uns verdächtigen wollte, nicht nur die Trägermittel im Zwei-Schlüssel-System mit den Vereinigten Staaten haben zu wollen, nein, er wollte uns verdächtigen, daß wir die Atomraketen und die Köpfe selbst haben wollten. Und das haben wir, wie Sie alle in diesem Hause wissen, niemals gewollt.
Ein weiteres Zitat, und dann will ich mit dem grausamen Spiel, diese Rede noch einmal lesen zu müssen, aufhören. Herr Schmidt sagte damals:Wenn man den bedingungslosen Beifall, Herr Dr. Kliesing, Ihrer 250 Kämpfer für Abendland und NATO zu allen Iden Ausführungen des Kanzlers, des Herrn Dr. Jaeger und des Herrn Dr. Strauß gehört hatusw.; mit großer Ironie: „des Abendlandes und der NATO". So ironisch hat der heutige Verteidigungsminister vor 14 Jahren über das Bündnis gesprochen, auf dem damals und heute unsere Sicherheit allein beruht.
Und jetzt zu seinem Schlußsatz, zum deutschnationalen Größenwahn, den er gestern glaubte noch einmal wiederholen zu sollen oder zu müssen.Meine Fraktion bejaht auch heute das Wort „deutsch" und das Wort „national"'
in jenem recht verstandenen Sinn
— Herr Wehner, Sie können recht gut zuhören, und Sie wissen ganz genau, wie groß der Unterschied zwischen „recht" und „rechts" ist; er ist genauso groß wie 'der zwischen „rechts" und „links"
Moersch und einem wirklichen Staatssekretär! — Weitere Zurufe und Gegenrufe)— Herr 'Moersch, bei diesem dümmlichen Zwischenruf würden mir andere Bemerkungen auf der Zunge liegen; ich erspare sie mir —,
in dem gleichen recht verstandenen Sinn, in dem jeder Brite und jeder Franzose diese beiden Begriffe in seinem eigenen Vaterland auch verstehen würde, ohne damit Zweifel zu erregen.
Der Herr Verteidigungsminister 'hat gestern über Sicherheitspolitik 'gesprochen, und er hat gesagt, er wolle den sicherheitspolitischen Fortschritt darstellen, 'der sich in den letzten Jahren ereignet 'habe. Nun, er hat etwas ganz Wesentliches dabei vergessen, wenn ich das sagen darf, der ich seit 15 Jahren als ordentliches Mitglied dem Verteidigungsausschuß dieses Hauses angehöre. Er hat d'as gesamte Ost-West-Kräfteverhältnis in seiner nicht 'kurzen Rede mit keinem einzigen 'Satz gestreift. Er hat alles verschwiegen, was man dazu 'sagen muß, wenn man objektiv sein will.
Er hat unter Zitierung von NATO-Kommuniqués gesagt, das ganze Bündnis habe an der deutschen Vertragspolitik mitgewirkt. Er hat die Passagen der
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9943
Dr. ZimmermannNATO-Kommuniqués, die sich mit der Forderung nach Freizügigkeit und Freiheit befassen, nicht vorgelesen.
Er hat nicht den letzten Generalsekretär der NATO, Manlio Brosio, zitiert, der im September 1971 auf der großen Konferenz in Ottawa objektiv und ausgewogen auch dazu Stellung genommen hat. Ich übersetze es aus dem Englischen. Er sagte damals auf Seite 18 seines Wortprotokolls:Aber wir Würden uns der Naivität und der Vergeßlichkeit schuldig machen, wenn wir ignorieren würden, daß wir bereits einen hohen Preis für diese neuen Entwicklungen und für diese Hoffnungen bezahlt haben. Der Status quo in Deutschland — das ist die Teilung Deutschlands für eine unbestimmbar lange Zeit — ist wenn nicht de jure, so doch de facto anerkannt worden. Die hauptsächliche Basis unserer westlichen Politik, die in den vierziger und fünfziger Jahren begründet worden ist, ist, daß keine wirkliche Ost-West-Entspannung Platz greifen kann in Europa ohne einen gleichzeitigen Prozeß der Wiedervereinigung zwischen den beiden Teilen Deutschlands auf der Basis von Frieden, Freiheit und freien Wahlen auch für den Teil Deutschlands, der dieses Recht verloren hat.
Das hat Manlio Brosio vor wenigen Monaten gesagt.
Herr Abgeordneter Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte .sehr!
Herr Dr. Zimmermann, wären Sie bereit, dem Hause auch die unmittelbar vorangehende Passage der Rede von Herrn Brosio vorzulesen, in der ein ausdrückliches Bekenntnis zur Ostpolitik der Bundesregierung enthalten ist?
Das kann ich mir deshalb ersparen, verehrter Herr Kollege, weil die für Sie günstigen Teile von Ihnen allen schon vorgetragen worden sind, aber nicht die anderen, die dagegen sprechen.
Nodi eine Zwischenfrage? — Bitte schön!
Herr Kollege Dr. Zimmermann, ich möchte diese Passage nicht vorlesen — obwohl sie bisher noch nicht gebracht wurde —, aber ich möchte Sie fragen, ob Sie die Haltung des damaligen Leiters der deutschen Delegation für sehr überzeugend halten. Als der Kollege Damm nämlich darum gebeten hatte, diese Rede von Brosio doch irgendwie in deutscher Sprache bekanntzugeben, hat der Delegationsleiter dies abgelehnt, weil Brosio dort überzeugend die Ostpolitik der Bundesregierung vertreten hatte.
Verehrter Herr Kollege Jung, ich habe die ganze Brosio-Rede gelesen, und ich habe gesagt, daß es selbstverständlich auch andere Teile gibt; die sind schon wörtlich oder sinngemäß zitiert und vorgetragen worden. Nur sind die anderen Teile, aus denen große Sorge spricht, nicht vorgetragen worden. Und zur Ergänzung, zur Herstellung eines objektiven Bildes wollte ich Ihnen das heute nicht vorenthalten.
Nichts anderes war meine Absicht.
Der Herr Verteidigungsminister hat gestern gesagt — und das war für mich vielleicht der wesentlichste Teil seiner Aussage —: Den Drei Mächten war es lästig, für die deutsche Wiedervereinigung zu sein;
sie waren es leid.
Nun, meine Damen und Herren, ich habe auf der Internationalen Wehrkundetagung vor zwei Wochen auf Diskussionsbeiträge zweier sehr bedeutender französischer Kollegen geantwortet, ich hätte die französische Politik nie — nicht unter de Gaulle, nicht vorher und nicht nachher — im Verdacht gehabt, daß Frankreich ein begeisteter Anhänger einer nationalen deutschen Wiedervereinigung im Herzen Europas gewesen ware, heute wäre oder später sein wurde. Diesen Verdacht, sagte ich, hätte ich niemals gehabt; und mit vielen Schattierungen gilt das auch für weite Teile der amerikanischen und britischen Politik.
Aber um so größer ist die Leistung, um so höher ist sie zu bewerten, .daß es der deutschen Politik 20 Jahre lang gelungen war, die Alliierten, unsere ehemaligen Gegner, auf das Ziel der deutschen Wiedervereinigung festzulegen, das sie vertraglich zugesichert haben und das sie in diesem Zeitraum, in den letzten 20 Jahren ununterbrochen bekräftigt haben.
Gerade weil das so war — Herr Dr. Gerhard Schröder, der hier sitzt, weiß, warum es so war und wie schwierig es vielleicht manchmal gewesen ist —, hätte man diese Vertragspartner nicht mit dieser Leichtfertigkeit aus ihren Verpflichtungen entlassen dürfen, wie das in den letzten Monaten jetzt geschehen ist.
Die Politik dieser Bundesregierung — wenn das richtig ist, was Helmut Schmidt gesagt hat: es war ihnen lästig, sie waren es leid — hat sie endgültig davon befreit, dafür besorgt sein zu müssen.
Herr Kollege Dr. Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel?
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9944 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Ja, bitte sehr!
Herr Kollege Zimmermann, Sie haben sicher auch dieses gestern schon sehr oft benutzte Büchlein. In diesem Büchlein werden sie sicherlich auch den Schriftwechsel zwischen der Bundesregierung und ihren drei westlichen Alliierten und damit auch zur Kenntnis genommen haben, daß sich durch den deutsch-sowjetischen Vertrag nichts, aber auch überhaupt nichts in den Bindungen zwischen den Alliierten und der Bundesregierung geändert hat.
Lieber Herr Apel, Sie entschuldigen, wenn ich sage, diese Intervention verstehe ich nun wirklich nicht. Die verstehe ich überhaupt nicht, denn Sie wissen doch so gut wie ich, entweder kann man so argumentieren wie Helmut Schmidt,
daß es also lästig ist, wir es leid sind und wir damit nichts mehr zu tun haben wollen, oder man kann so argumentieren wie Sie, aber beides zusammen, das geht nun wirklich nicht!
Herr Kollege Zimmermann, gestatten Sie eine zweite Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Ja.
Können Sie sich vorstellen, Herr Kollege Dr. Zimmermann, daß es einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen Deutschland als Ganzem in den Grenzen von 1945 und der Festlegung auf Deutschland in den Grenzen von 1937 und der Haltung der westlichen Alliierten dazu gibt?
O ja, Sie dürfen mir glauben, daß mir die Grenzen von 1937 und die von 1945 außerordentlich bewußt sind; ich hoffe, auch der Regierungskoalition zu jeder Stunde und zu jeder Minute. Sie wissen, was ich damit meine.
Der Herr Verteidigungsminister hat gestern einen weiteren bemerkenswerten Satz gesagt: Das NATO-Bündnis sei heute, im Jahre 1972, sehr viel fester als 1966. Schön, aber er hat nicht gesagt, wie es eigentlich auf der anderen Seite des Bündnisses aussieht. Wenn Sie mir gestatten, möchte ich das jetzt gerne darlegen. Ich beginne mit einem Zitat des Herrn Bundeskanzlers, das aus dem Auswärtigen Ausschuß des Bundesrates stammt, wo der Herr Bundeskanzler gesagt hat, die Sowjetunion habe die antideutsche Karte als Kitt aus dem Gefüge des Warschauer Paktes zum großen Teil herausgenommen. Und dann fährt er wörtlich fort:Das schafft für sie Probleme, auch solche der Umorientierung z. B. bei ihren Streitkräften, wie wir genau wissen. Aber das ist ein Unterthema.Wir wären dankbar, wenn der Herr Bundeskanzler in dieser Debatte noch Gelegenheit nähme, um näher zu erläutern, woher er das so genau weiß und worauf sich dieses Wissen gründet. Woher er die Hoffnung einer Umorientierung bei den Streitkräften des Warschauer Pakts schöpft, ist uns nämlich ohne nähere Erläuterung unklar.
Wir haben eine solche Hoffnung in den letzten fünf Jahren, genau: im Zeitraum von 1966 bis heute, nicht gesehen, und wir sehen auch gegenwärtig leider keinen Anlaß für eine solche Hoffnung.Wie ist denn vielmehr die wirkliche Lage in Mitteleuropa und in der Welt? In der Mitte unseres Kontinents stehen sich knapp 5 Divisionen der Vereinigten Staaten und 35 Divisionen der UdSSR gegenüber.
Die NATO hat ihre Möglichkeiten während der vergangenen Jahre planmäßig um etwa 12 Brigaden und 400 Flugzeuge — das ist ein Viertel des vorherigen Bestandes — vermindert. Im gleichen Zeitraum hat sich die Masse der sowjetischen Truppen, die westlich der Weichsel stationiert sind, vor allem in Zusammenhang mit der Besetzung der Tschechoslowakei um über 160 000 Soldaten vermehrt.Im Gegensatz zum Westen hat der Osten sein Potential im Laufe dieser letzten fünf Jahre nicht nur verbessert, sondern auch verstärkt, und das geschah nicht nur auf dem Felde der strategischen Kernwaffen, sondern auch die Absicht der Sowjets, eine Weltmacht zur See zu werden, ist realisiert worden, ebenso wie die Kapazitäten der Luftwaffe und insbesondere des Heeres in einem bedeutenden Ausmaß gesteigert worden sind. In dem von mir genannten Zeitraum der letzten fünf Jahre haben die Heeresverbände der Sowjetunion um 250 000 Mann zugenommen, und die Zahl ihrer Kampfdivisionen hat sich von 137 auf 163 erhöht; das sind fast 20 %.
Zwei Drittel dieser Einsatzverbände sind auf dem europäischen Gebiet stationiert. Die Sowjetunion hat es mühelos verkraftet, in fünf Jahren zusätzlich 26 Divisionen an der chinesischen Grenze neu aufzustellen, ohne in westlicher Richtung auch nur um eine Division reduzieren zu müssen. Genau in der Phase, in der die Bundesregierung von einer Epoche der Entspannung spricht, die schon begonnen habe, zeigt das wirkliche Bild der Lage, daß hier eine quantitative und qualitative Entwicklung erfolgt ist, die eine weitere Steigerung der Offensivkapazität der Sowjetunion und des Warschauer Paktes beinhaltet. Diese Zahlen passen -natürlich
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9945
Dr. Zimmermannnicht in das Bild einer Mächtegruppierung, die sich angeblich auf defensive Maßnahmen beschränkt.
Hier ist der Beweis geliefert worden, daß die Sowjetunion ihre Fähigkeit zur Expansion, Pression und Intervention an beinahe jedem Punkt der Welt genau in dem Zeitraum erhöht hat, in dem sich die Vereinigten Staaten neben ihren Bundesgenossen mit ihr in vielen Positionen auf der Basis des Status quo zu einigen versucht haben. Der amerikanische Präsident Richard Nixon hat das ganz deutlich ausgesprochen. Am 9. Februar hat er in seiner außenpolitischen Botschaft folgendes erklärt — ich zitiere —:Die Sowjetunion weitet ihre strategische Kapazität über das Niveau aus, das nach allen Maßstäben der Vernunft ausreichend erscheint.Und Nixon warnt:Währenid der letzten drei Jahre versuchten wir, konstruktive Entwicklungen in unserem Verhältnis zur Sowjetunion zu fördern. Es wäre eine Gefahr für den Weltfrieden, wenn unsere Entspannungsbemühungen als eine Gelegenheit für die Expansion der 'Sowjetmacht von der Gegenseite mißverstanden würden.
Meine verehrten Damen und Herren, wenn in dieser Debatte in diesen zwei Tagen von der Seite der Regierung — hier 'hat ein halbes Dutzend Kabinettsmitglieder gesprochen — auch nur einmal ein ähnlicher Satz gefallen wäre, würde ich sagen: Sie haben wenigstens versucht, objektiv zu sein.
Der amerikanische Verteidigungsminister Laird hat in seinem Bericht in der vorigen Woche ebenfalls nicht verschwiegen, wie große Sorgen den Vereinigten Staaten dieser quantitative und qualitative Zuwachs an Kampfmitteln macht. Die Sowjetunion produziert weiter Interkontinentalraketen mit einer Sprengkraft, die denen der Vereinigten Staaten bereits überlegen sind. Auf dem wichtigen Sektor der atomgetriebenen Unterseeboote zieht die Sowjetunion in der Zahl der Boote bereits im nächsten Jahr mit den Vereinigten Staaten von Amerika gleich, im übernächsten Jahr dann auch mit der Fähigkeit und Reichweite ihrer Bewaffnung. Das Antiraketenabwehrsystem, das ABM-System der Sowjets um ihre strategischen Zentren in Moskau und Leningrad geht einem perfekten Zustand entgegen, während die Vereinigten Staaten sich mit ihrem Safeguard System noch ganz am Anfang der Entwicklung befinden.Nicht anders als im nuklearen sieht es im konventionellen Bereich aus. Die Sowjetunion verfügt gegenwärtig über rund 55 000 Kampfpanzer — zwei Drittel davon sind modernster Bauart —, über die größte Zahl von Artilleriedivisionen, Fliegerabwehrraketensystemen und Mehrfachraketenwerfern in der Welt. Nach wie vor sind über 600 Mittelstrekkenraketen in der Sowjetunion auf Ziele in Europa gerichtet. Nur 24 Divisionen zwischen den Alpen und Dänemark stehen der NATO in Mitteleuropa zur Verfügung. Ihnen stehen 57 Divisionen des Warschauer Paktes gegenüber, wobei das Verhältnis der Panzerdivisionen 8 auf der Seite des Westens zu 30 auf der Seite des Ostens beträgt. Die Sowjetunion und der Warschauer Pakt stellen 13 500 Kampfpanzer gegenüber 6500 der NATO in Mitteleuropa. Zusätzlich verfügen die Sowjets in ihren militärischen Westbezirken über weitere 29 Divisionen mit 6500 weiteren Panzern.
Nicht anders ist die Situation bei Jagdbombern, Erdkampfunterstützungsflugzeugen und Abfangjägern,
wo rund 4500 Flugzeuge des Ostblocks 2800 Jagdbombern und Erdkampfunterstützungsmaschinen der NATO und 3400 modernste Abfangjäger, MIG 21 folgende, rund 500 Abfangjägern der NATO in Mitteleuropa gegenüberstehen.
— Das sind auch Realitäten, jawohl!So hat es eine große Berechtigung, wenn der stellvertretende Oberkommandierende der strategischen Raketengruppen der Sowjetunion, Generaloberst Michael Grigorjew, sagen kann, die sowjetischen Streikräfte verfügten, was Raketen anbetrifft, über die beste Bewaffnung in der Welt, und wenn am 54. Jahrestag der Sowjetarmee der sowjetische Verteidigungsminister, Marschall Gretschkow, in der „Prawda" wieder gesagt hat: In der gegenwärtigen internationalen Situation dürfe die sowjetische Bevölkerung nicht für einen Augenblick die Notwendigkeit der Stärkung der Streitkräfte unter Beibehaltung ihrer hohen Kampfbereitschaft vergessen.Die konventionellen Kräfte der NATO in Mitteleuropa haben im Vergleich zum Übergewicht des Warschauer Paktes das Wehrminimum erreicht, wie sowohl NATO-Befehlshaber General Goodpaster als auch der Vorsitzende des Militärkomitees der NATO, General Steinhoff, vor kurzer Zeit ähnlich deutlich festgestellt haben wie der neue Generalsekretär des Nordatlantischen Bündnisses, der frühere holländische Außenminister Joseph Luns. Aber diese, wie ich meine, gezüchtete Euphorie über eine vermeintliche Entspannung, in deren Prozeß wir uns angeblich schon befinden, ist auf dem Wege, in der Bundesrepublik Deutschland ein falsches Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung zu erzeugen,
ein falsches Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung und bei den Streitkräften, was sich in einer weiteren Steigerung der Zahl der Wehrdienstverweigerer und in einer Schwächung der Disziplin in den Streitkräften schon ausgewirkt hat.
In Belgien und in Dänemark ist die Lust, Truppenkürzungen vorzunehmen, sich bei Manövern Be-
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Dr. Zimmermannschränkungen aufzuerlegen und die Bedrohung weniger ernst zu nehmen, wieder geweckt worden.Wir sehen also, Herr Bundeskanzler, nicht einmal einen einzigen Ansatzpunkt zu Ihrer Behauptung, daß eine Umorientierung der Streitkräfte des Warschauer Paktes zur Problemstellung der anderen Seite gehört. Aber Sie haben behauptet, Sie wüßten ganz genau, daß das so sei. Für uns ist das kein Unterthema, sondern ein Thema von hoher Priorität, zu welchen Leistungen das Potential der neuen Vertragspartner der Bundesrepublik Deutschland fähig ist. Die Geschichte hat immer wieder bewiesen, daß sich die verantwortungsbewußte Politik eines Staates nicht auf die Absichten ihrer Kontrahenten, die wechseln können, einzustellen hat, sondern auf deren faktische Möglichkeiten. Wenn jemand in einer Phase der Entspannung, wie Sie es sagen, seine quantitativen und qualitativen Möglichkeiten in dem Ausmaß erhöht, wie das die Sowjetunion und der Warschauer Pakt getan haben, dann ist allerdings höchste Vorsicht am Platze.
Um das Gleichgewicht der Kräfte in Europa ist es schlecht bestellt. Wir sind am unteren Rande der Abschreckung angelangt. Gleichgewicht war einmal das Zauberwort Metternichs. Metternichs Sekretär Gentz hat den Begriff des Gleichgewichts so difiniert, daß niemals eines der Mitglieder eines Staatenverbandes so mächtig sein dürfe, daß die Gesamtheit der übrigen es nicht zu bezwingen vermöchte. Dieses Prinzip enthält nicht das Gebot der 1 Verteilung vorhandener Macht, sondern ein Verbot der Ansammlung von Übermacht. Wir haben heute leider eine Ansammlung von Übermacht auf der Seite der Partner, mit denen Sie diese historischen Verträge schließen möchten. Es gibt aber nur Gleichgewicht oder Hegemonie; etwas Drittes gibt es nicht.
Wir sehen leider nicht das leiseste Zeichen in Gegenwart und Zukunft, das uns glauben machen könnte; die Sowjetunion habe von ihrem Ziel, in Europa die militärische und politische Hegemonie zu erreichen, Abstand genommen. Der militärischen Hegemonie können wir nur durch ein Aufrechterhalten unseres Abschreckungswillens begegnen. , Diese Abschreckung, ich sagte es, ist am Rande der von uns zu setzenden Schwelle angekommen. Der politischen Hegemonie, die für die Sowjetunion das Ergebnis ihres Strebens nach militärischer Hegemonie sein soll. leisten Sie, meine Herren von der Regierungskoalition, faktisch Vorschub mit den Verträgen, die heute dem Bundestag in erster Lesung vorliegen.
Wenn gestern der Herr Verteidigungsminister den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Herrn Filbinger, mit dem Satz zitiert hat, daß sich zu Lasten der NATO das Militärpotential der Sowjetunion erhöht habe, und er sich über Herrn Filbinger mokierte, dann kann ich nur sagen: ich glaube in der letzten halben Stunde bewiesen zu haben, daß HerrFilbinger eine voll und ganz richtige Auffassung von sich gegeben hat, als er das erklärt hat.
Der Herr Verteidigungsminister hat am Schluß seiner Rede dramatisch schwarz in schwarz gemalt. Er hat uns dargestellt, was das Ergebnis wäre, wenn diese Verträge nicht ratifiziert würden: eine Vertrauenskrise mit der Sowjetunion, die Positionsopfer hineingegeben habe. Ich habe gestern abend über diesen Satz den Kopf geschüttelt, und ich muß auch jetzt noch, nach zwölf Stunden, den Kopf schütteln.
Eine Vertrauenskrise? Positionsopfer? Wo, bitte, ist ein Positionsopfer der Sowjetunion in diesen Verträgen enthalten?
Eine neue Berlin-Krise hat der Herr Verteidigungsminister heraufbeschworen, eine Belastung der Bündnispartner und als viertes ein Ende der Verhandlungen mit der DDR. — Ja, der Herr Staatssekretär Bahr, der zunächst einmal vom Generalvertrag, vom ganz großen Grundvertrag zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland sprach, verwendet dieses Wort nicht mehr. Es ist sehr fraglich geworden, zu welchen Verträgen sich die DDR vielleicht gnädig herbeiläßt, sehr fraglich geworden. Außer technischen Verhandlungen — mehr Geld von unserer Seite, 250 Millionen für Postabkommen usw. — ist wenig zu sehen vom Grundvertrag zwischen den beiden Teilen Deutschlands.
Herr Honecker ist zitiert worden, und alles, alles, was wir von drüben hören und sehen, deutet darauf hin, daß diese DDR nichts anderes beabsichtigt als das: sich aufwerten zu lassen in der ganzen Welt, anerkannt zu werden in der ganzen Welt, in die UNO einzutreten — sichtbar für die ganze Welt —, um dann die restlose Isolierung und Abkapselung von uns zu vollziehen.
Wie wird das Bild nach diesen Verträgen sein? In wenigen Jahren werden Sie hundert Botschafter in Ost-Berlin sitzen haben aus der ganzen Welt und in West-Berlin ein sowjetisches Generalkonsulat! Das wird das ,Ergebnis sein.
Nein, meine Damen und Herren, wenn Sie heute von uns die Zustimmung zu diesen Verträgen verlangen, dann sage ich Ihnen: Sie haben uns in die Wüste geführt und lassen uns heute nur mehr die Alternative
— nur mehr die Alternative zwischen dem Verdursten und einem Glas Wasser. Das ist Ihre Alternative, da haben Sie es hingebracht.
Niemand hat es mit besseren Worten gesagt als derfrühere Außenminister Dr. Gerhard Schröder. Ersagte: Das haben Sie zu verantworten. Kein Weg
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9947
Dr. Zimmermannführt darüber hinaus. Das ist Ihr Risiko. Das ist Ihre Politik, sonst nichts.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesaußenminister wird heute vormittag auf eine Reihe von Fragen eingehen, die hier im Laufe der Debatte aufgeworfen worden sind, obwohl es sich zum großen Teil um Fragen handelt, die schon im Bundesrat gestellt und im Anschluß daran von der Bundesregierung beantwortet worden sind.
Einige Fragen werden im Ausschuß behandelt werden. Davon ist auch Herr Dr. Barzel in seiner ersten Rede ausgegangen. Das, was Herr Zimmermann soeben gemacht hat, nämlich aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus vertraulichen Ausschußsitzungen des Bundesrates vorzubringen, ist eine Methode, auf die sich der Bundeskanzler nicht einlassen kann.
Ich möchte mich jetzt nur ganz kurz äußern, um der Opposition die Möglichkeit zu geben, durch die Klarstellung ihres Standpunktes dazu beizutragen, daß auf Grund dieser Debatte deutsche Interessen nicht Schaden leiden.
Erstens. Nachdem sich Vertreter der Opposition teils für das Berlin-Abkommen, teils gegen das Berlin-Abkommen ausgesprochen oder — wie Herr Kollege Schröder — nicht dazu geäußert haben, wäre es gut zu wissen: können wir unseren Verbündeten sagen, daß alle Parteien in diesem Hohen Hause für das krisenüberwindende Berlin-Abkommen sind und wünschen, daß es so bald wie möglich in Kraft gesetzt werden kann?
Die Antwort sollte nicht schwerfallen; sie dürfte und sollte nicht ausbleiben.
Zweitens. Herr Kollege Barzel sollte, so meine ich, bestätigen, daß er sich in bezug auf den Briefwechsel Adenauer-Bulganin vom September 1955 geirrt hat.
Er hat gemeint, der Vertrag vom 12. August 1970 in Moskau beende die Wirkungen aus dem soeben genannten Briefwechsel. Die Regierung hat dargelegt, daß das Gegenteil richtig ist. Dies bedeutet natürlich nicht, Herr Kollege Barzel, daß Adenauer und Bulganin mit deutscher Einheit dasselbe gemeint haben. Davon sind sie damals nicht ausgegangen, davon gehen wir heute nicht aus. Aber was damals festgehalten wurde, ist nicht untergegangen, und dies muß man bitte zur Kenntnis nehmen, wenn man
die deutschen Interessen in diesem Zusammenhang nicht schwächen will.
Drittens. Herr Kollege Marx sollte bitte seinen Protest gegen meine Feststellung zurücknehmen, daß das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen müsse, und das heißt doch für jeden, der nicht bösen Willens ist: verwirklicht werden muß.
Ich habe hier nur bestätigt, was mit genau denselben Worten im Bericht zur Lage der Nation vom Januar vorigen Jahres stand, und ich denke, man wird mir zugeben, daß leider schon 40 Jahre des geschichtlichen Prozesses hinter uns liegen. Warum 40 Jahre? Weil sie 1933 die Selbstbestimmung blockiert ist, erst durch uns selbst und dann durch andere.
Viertens. Da in den drei Punkten, die Herr Barzel zur Vorbedingung für eine positive Würdigung der Verträge genannt hat, von territorialen Fragen nicht die Rede war, wäre es gut, gemeinsam mit der Opposition feststellen zu können, daß die Bunderepublik Deutschland keine territorialen Ansprüche zu stellen hat. Meine Damen und Herren, was immer dazu außerhalb dieses Hauses gesagt worden sein mag, es würde helfen, wenn die Opposition hierzu wenigstens das bestätigte, was die Regierung der Großen Koalition gemeinsam ausgesprochen hat: Diese Bundesrepublik Deutschland hat keine territorialen Ansprüche; sie geht von den Grenzen aus, mit denen wir es zu tun haben.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jaeger?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte jetzt im Zusammenhang vortragen, wie es Ihre Herren auch getan haben.
Fünftens. Da den Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers insoweit nicht widersprochen worden ist, wäre ich froh feststellen zu können, daß nicht aufrechterhalten wird, was draußen über mit diesen Verträgen zusammenhängende Reparationslasten gesagt worden ist.
Diese Klarstellung wäre auch deshalb wichtig, damit niemand in der Welt glaubt, in bezug auf Reparationen die Opposition gegen die Bundesregierung in Anspruch nehmen zu können.
Sechstens. Herr Kollege Strauß sollte sich bitte überlegen, ob er den Angriff auf unsere Verbündeten aufrechterhalten will, der darin liegt, daß er
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9948 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundeskanzler Brandtüber die von ihnen gebilligten Verträge sagt, sie festigen den sowjetischen Herrschaftsstand, und zwar über das Militärische hinaus. Wir sollten bei allem Für und Wider ein gemeinsames Interesse daran haben, den Westmächten nicht zu unterstellen, daß sie mutwillig oder unbedacht gegen ihre eigenen und unsere gemeinsamen Interessen verstoßen.Siebtens. Dies gilt auch für die Kennzeichnung der geplanten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, unter Teilnahme der Vereinigten Staaten und Kanadas wohlgemerkt, der Kennzeichnung einer ' so geplanten Konferenz als — ich zitiere Herrn Strauß — eines Instruments der sowjetischen Weststrategie. Niemand wird überrascht sein — ich bin es jedenfalls nicht —, daß die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Pakts hierzu ihre Vorstellungen entwickeln. Das tun auch die Neutralen, das tun nicht zuletzt die atlantische Allianz und die westeuropäische Gemeinschaft. Die Frage ist nur: Will die Opposition mit ihren Einlassungen sagen, daß falsch ist und daß sie ablehnt, was in der NATO und in den außenpolitischen Konsultationen der westeuropäischen Staaten zum Thema einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entwickelt wird?
— Das ist die Frage. Es wäre nicht hilfreich, wenn die Opposition das sagen wollte. Uns würde es allerdings nicht davon abhalten, gerade in dieser Frage weiterhin zu dem zu stehen, was unsere Verbündeten und wir gemeinsam vertreten.
Achtens. Herr Strauß hat zu Unrecht einen Widerspruch gesehen zwischen der westeuropäischen Einigung und den Möglichkeiten gesamteuropäischer Sicherheit und Zusammenarbeit. Zu Unrecht, sage ich; denn wir beweisen mit unseren Partnern im Westen, daß die westeuropäische Gemeinschaft vorangebracht werden kann, und wir nehmen die Möglichkeiten ernst, ohne sie zu überschätzen, die sich über die Blöcke hinweg und trotz weiterbestehender Differenzen im gesamteuropäischen Rahmen ergeben mögen. Wir haben hier eine gemeinsame Politik mit unseren atlantischen und westeuropäischen Partnern. Es wäre nicht zuviel verlangt, wenn die Opposition sich fragte: Kann das völlig falsch sein, was die Bundesregierung hier gemeinsam mit den atlantischen und westeuropäischen Partnern vertritt?Herr Strauß hat Anstoß genommen an meinem Ausdruck, außerhalb dieses Hauses gefallen, „Friedensbund". Was habe ich dazu wirklich am 11. Dezember vergangenen Jahres in Oslo gesagt? Ich muß es hier einmal wörtlich vorlesen:Europa, das seine ungebrochene Lebenskraft nach dem letzten Krieg bewies, hat seine Zukunft nicht hinter sich. Es wird sich im Westen über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus — im Sinne Jean Monnets — in einer Union zusammenfinden, die auch ein Stück westpolitischer Verantwortung übernehmen kann, unabhängig von den USA, aber, wie ich sicher bin, fest mit ihnen verbunden. Gleichzeitig gibt es Chancen für gesamteuropäische Kooperation und Friedenssicherung, vielleicht so etwas wie eine europäische Partnerschaft für den Frieden. Wenn ich nicht wüßte, welche praktischen und ideellen Hindernisse noch zu überwinden sind, würde ich hier sogar von einem europäischen Friedensbund sprechen.Das habe ich gesagt.
Das heißt: Entwicklung Westeuropas zur Union im Sinne Jean Monnets.
— In dieser Generation schon mehr als Sie durch Ihr Gerede, verehrter Herr Zwischenrufer —
und über das Europa hinaus das, was gesamteuropäisch möglich ist. Dann habe ich die Elemente entwickelt.Ich füge in aller Offenheit hinzu: Das vorsichtige Anpeilen dieses Ausdrucks „Friedensbund" hatte auch den Sinn, nicht allein auf die Formel „Friedensordnung" angewiesen zu sein, die ich im übrigen auch verwende. Denn alle Fachleute — auch bei Ihnen jedenfalls einige der Fachleute — wissen, wie vielen Mißdeutungen und aus der Vergangenheit herrührenden Vorurteilen der Terminus „Friedensordnung" bei der Übersetzung in andere Sprachen begegnet. Also: Warum Streit in dieser Sache? Warum sagen Sie nicht, warum sagen wir nicht — wiederum trotz des sonstigen Für und Wider — alle miteinander: Die Deutschen wären glücklich, wenn sie dazu beitragen könnten, daß aus zunächst noch so mühsamen und vorsichtig anzugehenden gesamteuropäischen Konferenzen eines Tages sogar ein Friedensbund wird. Denn wer für den Frieden ist, kann nicht aus Prinzip gegen einen Friedensbund sein, meine Damen und Herren.
Damit komme ich zu meiner neunten und letzten Bemerkung. Ich werfe eine praktische Frage auf. Vertreter der Opposition, auch Herr Dr. Barzel als ihr erster Mann, habe bemängelt, daß die Verträge noch keine konkreten, zumal wirtschaftlichen Wirkungen gezeigt hätten. Das ist zwar in dieser Verallgemeinerung nicht richtig, aber richtig ist gewiß, daß die praktischen Fragen erst langsam angepackt werden können, daß die Wirkungen auf manchen Gebieten natürlich erst voll zum Tragen kommen können, wenn die Verträge in Kraft getreten sind. Jedenfalls handelt es sich um Fragen von großer Bedeutung. Die Regierung ist an, der Arbeit, ohne übertriebene Erwartungen, aber in vollem Ernst.
Meine Frage ist die: Ist die Opposition unabhängig von dem Streit hier bereit, ihre Anregungen, von denen ich annehme, daß sie sie hat, zur Verfügung zu stellen und mit uns zu erörtern, damit nach Inkrafttreten der Verträge oder auch schon vorher gewürdigt werden kann, was sie für den Aus-Bundeskanzler Brandtbau der wirtschaftlichen, der wissenschaftlichen und der kulturellen Zusammenarbeit berücksichtigt sehen möchte. Hier geht es nicht um politische Glaubensfragen, meine Damen und Herren, sondern um praktische Fragen, an deren Lösung viele interessiert sind. Deshalb werden viele mit mir wissen wollen, wie Sie, meine verehrten Kollegen von der Opposition, zu dieser Frage stehen. Ein Nein würde der Sache nicht gerecht. Ein Offenhalten im Sinne des Liegenlassens und des Abwartens käme leider einem verklausulierten Nein gleich.
Das Wort hat der Abgeordnete Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat einige direkte Fragen an mich gerichtet, einige präzise und in dem letzten Teil wohl etwas grundsätzlichere Fragen. Ich will sie beantworten.Zunächst, Herr Bundeskanzler, Ihre Frage nach Berlin. Die Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist Ihnen, dem Hause, den Mächten bekannt. Sie ist hier durch meinen Kollegen Stücklen in meiner Abwesenheit, ich glaube am 10. Dezember, vorgetragen worden und gestern, wie ich glaube, in einer sehr guten Weise von unserem Kollegen Amrehn wiederholt und akzentuiert worden. Außerdem liegt dieses Abkommen aus Gründen, die wir alle kennen und respektieren, dem Hause nicht zur Zustimmung vor. Diese Frage ist also beantwortet, sie ist ja auch wohl nur zu anderen Zwecken gestellt worden.
— Herr Apel, es wäre für mich die größte Überraschung, wenn Sie bei dieser Rede, die ich jetzt zu halten die Absicht habe, mir einmal zuhören könnten.
Es ist dann, Herr Bundeskanzler, von dem Briefwechsel, den auch der Kollege Ehmke gestern einen Vertrag genannt hat — das ist es ja auch —, zwischen Adenauer und Bulganin die Rede gewesen. Wir haben diese Debatte im vergangen Jahr schon einmal gehabt. Die Bundesregierung hat damals meiner Auffassung nicht widersprochen. Ich will mich jetzt gleichwohl erneut damit auseinandersetzen, und zwar an Hand der amtlichen Dokumente: Hier ist der amtliche Band über den Briefwechsel damals. Der Vertrag Adenauer-Bulganin vom 13. September 1955 enthält drei Absätze. Der dritte Absatz ist der, um den es hier geht; ich verlese ihn:Die Bundesregierung geht hierbei davon aus,— entsprechend hat die Sowjetunion das ja bestätigt —daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen wird und damit auch zur Lösung des gesamten nationalen Hauptproblems des deutschen Volkes, der Wiederherstellung der Einheit eines deutschen demokratischen Staates, verhelfen wird. Diese Erklärung tritt in Kraft, sobald ...Das ist der Text. Es kann also niemand bestreiten, daß Gegenstand der deutsch-sowjetischen Beziehungen bei ihrer Aufnahme auch die Bezugnahme auf die Lösung der ungelösten deutschen Frage war, — und das nicht irgendwie, sondern mit der präzisen Aussage der Wiederherstellung der Einheit eines deutschen Staates. Das, meine Damen und Herren, ist die Basis.
Wenn Sie sich jetzt mit Verantwortlichen der Sowjetunion unterhalten, werden sie Ihnen sagen, zu dieser Frage hätten sie keine Erklärung mehr abzugeben, weil der jetzt vorliegende Vertrag alles a b s c h l i e ß e n d regele. In diesem Vertrag steht in der Präambel — ich zitiere aus dem amtlichen Buch, das die Bundesregierung selbst dazu vorgelegt hat — im dritten Absatz:In Würdigung der Tatsache, daß die früher von ihnen verwirklichten vereinbarten Maßnahmen, insbesondere der Abschluß des Abkommens vom 13. September 1955 über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, günstige Bedingungen für neue wichtige Schritte zur Weiterentwicklung und Festigung ihrer gegenseitigen Beziehungen geschaffen habenIch zitiere diese Präambel nicht nur, weil damit — im Vertragstext — noch einmal bewiesen wird, daß es auch früher Beziehungen und alle möglichen günstig beurteilten Dinge von der Sowjetunion gab,
sondern auch deshalb, weil darin — das ist doch der Trick dieses Vertragswerks — das Wort „verwirklicht" eingefügt ist. Die deutsche Einheit hat nicht verwirklicht werden können;
also hat doch die Bundesregierung hier das Fehlen dieser damaligen Geschäftsgrundlage der Aufnahme der Beziehungen jetzt vertragskräftig verändert. Das ist doch die Lage. Dieses Fehlen bezeichnen sowjetrussische Gesprächspartner doch als die Geschäftsgrundlage dieses Vertrages. Das ist die Wirklichkeit, und daran kann keiner vorbei.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie dieser völlig unwiderlegbaren Ansicht über das, was Sie verabredet haben, nicht zustimmen würden, hätten Sie selbst doch längst in den Debatten des vergangenen Jahres hierher kommen können, Sie hätten dafür sorgen können, daß die Sowjetunion irgendeine Bestätigung für die schönen Worte gibt, die Sie hier im Hause finden, die nur nirgendwo in den Texten oder in den Kommuniqués niedergelegt sind.
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9950 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. BarzelHerr Bundeskanzler, Sie haben dann noch einmal das Problem der — wie Sie es nennen — „territorialen Forderungen" aufgeworfen. Ich möchte Ihnen dazu folgendes sagen, — auch als ein Stück der Antwort auf den Kollegen Ehmke, wobei ich nicht genau weiß, ob er gefragt hat, um Antworten zu bekommen, denn als mein Kollege Windelen sie ihm gab, war er ja nicht anwesend.
Meine Damen und Herren, ich antworte wie folgt. Wir sehen die Realitäten in Deutschland, auch die, die uns nicht passen. Wir sehen auch, daß die DDR existiert. Aber für uns ist diese Realität so, wie sie ist, eben nicht annehmbar.
Nun, Herr Bundeskanzler, hoffe ich, wird dies verstanden werden: Die ausdrückliche Aufnahme des Selbstbestimmungsrechtes in den Vertragstext und nicht das Fehlen einer früher vorliegenden Vereinbarung über die Herstellung der deutschen Einheit hätte doch das ganze Vertragswerk nicht nur in anderem Lichte erscheinen lassen, es nicht nur anders interpretierbar gemacht, sondern das Vertragswerk hätte einen anderen Inhalt gehabt. Wenn in dem Vertrag an irgendeiner Stelle stünde: die deutsche Einheit ist noch durch Selbstbestimmung herzustellen, wäre doch ganz unmißverständlich und ohne jede Interpretationsnotwendigkeit klar, daß alle Grenzerklärungen Beschreibungen und nicht endgültige Festlegungen sind. Das ist doch der Punkt, Herr Bundeskanzler.
Nun sagt die Regierung — und das ist noch eine wichtige Frage — hier im Hause, obwohl sie es draußen nicht sagt und nicht beweisen kann, das Ganze sei doch nur eine Beschreibung der Lage, wie sie jetzt sei, und das Ganze sei ein Modus vivendi. Und so ist es dann auch gegenüber einigen Alliierten vorgetragen worden.Wir müssen doch jetzt feststellen, daß beide Partner dieses Vertrages dem Vertragswerk einen ganz anderen Inhalt geben, als diese Regierung ihn hier darstellt.
Ist es denn vielleicht nicht die Pflicht der Opposition, wenn das Haus hier zustimmen soll, vorher zu prüfen, was hier wirklich zur Abstimmung steht? Das muß doch geprüft werden.
Denn wenn dies nicht klar ist, Herr Bundeskanzler, dann wird nicht das eine oder andere flüchtige Wort des einen oder anderen uns helfen, wenn neuer Konflikt entsteht wegen der Dissense, wegen der mangelnden Einigkeit in diesem Vertrag. Deshalb wird dies zu klären sein. Es wird hier zu klären sein, und es wird in den Ausschüssen zu klären sein. Der Kollege Scheel wird dort sicher Gelegenheit nehmen, die Antworten seiner sowjetrussischen Gesprächspartner auf die Passagen vorzutragen, die er hier im Hause über seine eigenen Ausführungen gemacht hat. Wir wenigstens werden den Standunserer Erkenntnisse aus solchen Gesprächen vortragen. Und dann wollen wir noch einmal sehen: Bekommen Sie von Ihren Partnern in irgendeiner Weise eine Bestätigung für die Thesen, die Sie hier mündlich und zum Teil — in der Antwort auf die Große Anfrage — auch schriftlich von sich geben? Das ist doch die Frage. Sie reden darüber, aber Sie erhalten dies nicht als eine gemeinsame Auffassung bestätigt.Damit erscheint der Gewaltverzicht doch in einer besonderen Situation. Ich möchte das jetzt gleich sagen. Die Bundesregierung führt aus — und das gehört unmittelbar hierher —, der Gewaltverzicht, den die Sowjetunion erklärt habe, sei so vollständig wie der, den der Westen erklärt habe; und er sei voll vergleichbar mit dem, den wir mit den Westmächten erreicht hätten. Meine Damen und Herren, auch diese Behauptung — ihr wird im Ausschuß im einzelnen nachzugehen sein — ist doch eine Behauptung, die bei genauerem Betrachten nicht stimmt.
Mit den Westmächten haben wir Verträge, in denen diese sich wie wir verpflichten, a) die Einheit Deutschlands durch freie Selbstbestimmung zu erreichen und b) eine gemeinsame Politik auf dieses Ziel hin ausschließlich ohne Gewalt, nur mit friedlichen Mitteln zu betreiben. Das ist die Gewaltverzichtslösung mit unseren westlichen Verbündeten.Und wie sieht der Gewaltverzicht aus, der nun hier kommt? In diesem Vertrag dagegen fehlt jeder Bezug auf Selbstbestimmungsrecht und deutsche Einheit, und die bisher dazu bestehende Verabredung ist entfernt.Sie hatten zuerst gesagt, der Gewaltvorbehalt der Sowjetunion sei „verschwunden". Jetzt sagen Sie selber, der Gewaltvorbehalt, den wir nach wie vor für illegal halten, für eine Anmaßung —, dieser Interventionsvorbehalt der Sowjetunion sei trotz dieses Vertrages nur „überlagert". Zu wessen Disposition steht, festzustellen, ob er wieder einmal gilt oder ob er überlagert ist? Wo steht das, meine Damen und meine Herren?
Deshalb ist es für den, der die Vertragsvorgeschichte kennt, doch naheliegend, die Frage aufzuwerfen, ob dieser Vorbehalt etwa wieder aufleben soll, wenn eine aktive, auf die Einheit Deutschland gerichtete friedliche Politik betrieben wird. Diese Frage wird im Ausschuß noch sorgfältiger als hier in der Öffentlichkeit zu behandeln sein.Heute genügt festzustellen: Es ist einfach nicht im Einklang mit den Tatsachen und deshalb nicht wahr, wenn man behauptet, der Gewaltverzicht nach Osten sei von gleicher substantieller, materieller Qualität wie der, den wir mit den Westmächten erreicht haben. —Herr Bundeskanzler, ich weiß nicht, ob Sie vielleicht auch noch eine Frage von uns aufzunehmen und zu beantworten bereit sind. Ich habe den Eindruck, daß dieser Teil der Debatte nun dazu führt, die Punkte herauszuarbeiten, um die es im Ausschuß
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9951
Dr. Barzelgehen wird und um die es gehen wird, wenn wir hier in zweiter Lesung entscheiden.Sie haben sich bei Ihrer zweiten Intervention vorgestern gegen eine Behauptung verwahrt, daß Sie mit Herrn Breschnew irgend etwas über Neutralisierung verabredet hätten. Aber Sie haben dann einen Satz hinzugefügt. Ich räume ein, daß ich ihn etwas überhört hatte; aber aus dem Protokoll ergibt es sich. Sie haben dann gesagt:Ein ungeteiltes und im Sinne des Grundgesetzes demokratisch regiertes Deutschland außerhalb der Militärblöcke hätte eine der wesentlichsten Spannungsursachen gar nicht erst entstehen lassen.Über diesen Satz, Herr Bundeskanzler, könnte man, so wie er da steht, im luftleeren Raum, reden. Aber er ist doch irreführend;
denn — Herr Bundeskanzler, wir sind uns doch sicherlich über den geschichtlichen Ablauf der Nachkriegszeit einig —:
Militärblöcke und z. B. unsere Zugehörigkeit zu demeinen sind doch erst sehr viel später entstanden.
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das wardie Antwort!)Wir sind darin, glaube ich, seit 1955. Die NATO ist doch nicht, meine Damen und Herren, eine Ursache von Spannungen, sondern ist die Antwort auf den Machtwillen der Kommunisten!
Dieser Machtwille ist doch nicht eine Erfindung vonirgendwem I
Den haben wir doch gespürt in der Blockade Berlins,
in dem Umsturz in der Tschechoslowakei, der doch das Signal für die Bildung der NATO war; und da ist ja inzwischen noch einmal etwas passiert.Nein, meine Damen und Herren, wenn wir nicht ganz klar sehen, daß das Bündnis und die deutsche Spaltung nur Folgen, Konsequenzen, Antworten auf die kommunistische Herausforderung sind, wenn wir uns darüber nicht klar sind, werden wir weiterhin die falschen Dinge für Spannungsursachenhalten,
nämlich andere Dinge als die Forderungen dier Kommunisten, und wir sitzen am Schluß auf der falschen und schiefen Bahn.
— Ich sage hier meine Meinung, und wie Sie das qualifizieren, meine Damen und Herren, ist völlig Ihre Sache!
Ich bin dafür, daß Sie Ihre Meinung sagen, aber möglicherweise nicht in der Tonlage, in der wir es gestern von dort gehört haben, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Mattick sagte also zur Begründung der Politik, die diese Regierung treibt und die mindestens zur staatlichen Anerkennung der DDR schon geführt hat, Frankreich hätte sich doch sicher ohnehin bald in dieser Richtung bewegt.
Das, meine Damen und Herren, ist ein Vorwurf, der praktisch bedeutet, daß unser französischer Nachbar, mit uns durch einen besonderen Freundschaftsvertrag verbunden, möglicherweise bereit gewesen wäre, sein Wort zu brechen. Das ist doch der Vorwurf, der in dieser Sache steckt, Herr Mattick I
Und ich glaube, dazu hätte eigentlich der Kanzler etwas sagen müssen.
Meine Damen und Herren, deshalb halte ich hier fest: Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, Sie haben mit Ihrer ersten Regierungserklärung die sowjetische Forderung erfüllt, die DDR zum zweiten deutschen Staat zu erklären. Dieser fundamentale Vorgang erfolgte ohne vorherige Konsultation der Alliierten, auch ohne vorherige Konsultation Frankreichs.
Hier hat die deutsche Politik z. B. Frankreich vor ein Fait accompli gestellt, und deshalb müssen Sie auch in dieser Sache wissen, wo Ursache und Wirkung zu Hause sind, meine Damen und Herren.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß unser französischer Nachbar, der sich in der Deutschlandfrage absolut vorbildlich verhalten hat, auf dieser Linie geblieben wäre, wenn nicht, meine Damen und Herren, diese Bundesregierung
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9952 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Da der Handel zwischen den deutschen Gebieten innerhalb des Geltungsbereichs ides Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und den deutschen Gebieten außerhalb dieses Geltungsbereichs Bestandteil des innerdeutschen Handels ist, erfordert die Anwendung dieses Vertrags in Deutschland keinerlei Änderung des bestehenden Systems dieses Handels.
Dieses Abkommen vom 25. März 1957 trägt die Unterschriften Belgiens, Deutschlands, Frankreichs,Italiens, Luxemburgs und Hollands. Ich nenne sie in der Reihenfolge, wie sie hier stehen.Meine Damen und Herren, es gibt also z. B. nach diesem Protokoll in einem sehr wichtigen Bereich eine europäische Regelung, die den gesamtdeutschen Zusammenhalt anerkennt, fördert und bestätigt. Diese Realität, die hoffentlich durch keine Politik irgendwie in Frage gestellt oder beendet wird, widerlegt die Behauptung, wir hätten uns im Interesse des europäischen Zusammenschlusses mit der Spaltung abzufinden. Nein, meine Damen und Herren, alle Europäer stehen als Demokraten auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts, und wer diese Position vertritt, ist nicht allein.
Wenn Sie NATO-Kommuniqués zitieren, zitieren Sie doch den Satz, daß das Maß der Entspannung die Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen ist.'
Meine Damen und Herren, dieses Protokoll von eben beweist zugleich, daß es früheren Regierungen gelang, die deutschen und die europäischen Interessen ineinander zu verflechten und Unterstützung anderer für das Ganze zu bekommen. Mit anderen Worten, d'as Offensein der deutschen Frage hat unsere Partner nie gestört, im freien Europa mit uns weiterzumachen.
Meine Damen und Herren, auf die letzten Ausführungen des Bundeskanzlers, die grundsätzlicher Art waren, möchte ich in ähnlicher Weise versuchen, unsere Position zu beziehen. Wir sehen — und das bestreitet ja wohl auch niemand — in einem aufrichtigen und umfassenden Interessenausgleich, einem Ausgleich zwischen dem deutschen Volk und der Sowjetunion eine unerläßliche Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa. Eine solche Verständigung oder gar eine Aussöhnung setzen die tatsächliche gegenseitige Achtung der wesentlichen nationalen Interessen der Partner voraus. Alles andere wäre nur ein Schein. Es wäre alles andere als eine ehrenhafte oder gar dauernde Verständigung. Es wäre ein gefährlicher Selbstbetrug. Meine Damen und Herren, wir halten eine deutsch-sowjetische Verständigung, die den Namen „Normalisierung" verdient, für durchaus möglich und wappnen uns mit der dafür erforderlichen Geduld. Allerdings schließt es sich eben aus, das Wort „normalisieren" zu gebrauchen und dabei Tatbestände zu akzeptieren, 'die alles andere als normal sind.
Sie haben hier von Geschichte gesprochen. Man muß wissen, daß Rußland und Deutschland, wie ich meine, bei jeder Annäherung gleichzeitig in gebührender Weise den legitimen Interessen ihrer Nachbarvölker in Ost und West Rechnung tragen müssen. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen dürfen für die übrige Welt nie eine Quelle des Mißtrauens und der Furcht werden. Sie müssen eine Garantie der Sicherheit aller sein. Für uns ist die
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9953
Dr. BarzelEinsicht in die europäische Bedingtheit jeder vernünftigen deutschen Politik nicht neu. Wir haben aus dieser europäischen Verantwortung heraus ja seit 1945 eine rein nationalstaatliche Deutschlandpolitik immer abgelehnt — auch dann, wenn sie neutralistisch oder pazifistisch war; auch dann, wenn wir uns dafür von Kollegen der anderen beiden Seiten dieses Hauses haben 'schelten hassen müssen.
Sie haben uns keine europäischen Friedenslektionen zu erteilen. Wir 'haben mit dem Vorrang der Europapolitik und der Einordnung unserer Interessen in eine 'größere Gemeinschaft allen heutigen Verleumdungen und damaligen Widerständen zum Trotz eine geschichtliche Wende in Deutschland vollzogen.
Unser Wille zur Überwindung des nationalen Egoismus war und bleibt ein wesentlicher Beitrag zu Vertrauen und Frieden in der Welt, auch wenn das vielleicht im Augenblick weniger laut bejubelt wird. Aber es ist (bekannt — man weiß das —, daß es unser Wille bleibt, das europäische Einigungswerk des Friedens und des Fortschritts weiter voranzubringen.Meine Damen und Herren, die deutsch-sowjetische Verständigung darf diesen Beitrag weder verlangsamen noch mindern. Herrn Schukows Godesberger Rede vom September — ich nenne sie jetzt nur einmal als eine veröffentlichte Quelle — versuchte doch, in uns die nationalen Gefühle für die gesamteuropäischen Träume und gegen die Friedensordnung, die wir nach Westen schon geschaffen haben, zu mobilisieren. Trotz dieser und anderer — ich spreche das Wort aus — Einflußversuche bleiben wir überzeugt, daß nicht nur unser Wille für das vereinigte freie Europa stark sein muß, sondern auch daß die Sowjetunion, wie ich glaube, ihre Position in dieser Frage überprüfen sollte. Sie sollte den entschlossenen Einigungswillen der Europäer außerhalb des russischen Machtbereiches auf die Dauer nicht nur hinnehmen, sondern seine friedenssichernde Rolle selbst zu schätzen wissen.
Meine Damen und Herren, für den gesamteuropäischen Zusammenhalt und die gesamteuropäische Zusammenarbeit ist und bleibt es unerläßlich, daß die Sowjetunion diese Europäische Gemeinschaft akzeptiert und mit ihr die Zusammenarbeit organisiert. Die Gemeinschaft selbst sollte diesen Ländern nicht nur einen multilateralen Zahlungsausgleich vorschlagen, sondern einen Kontaktausschuß mit Ländern auch Mittel- und Osteuropas bilden, um Zusammenarbeit und Austausch zu vermehren.Meine Damen und Herren, wir müssen aber feststellen — das sage ich auf manchen Angriff hin, der hier auf unsere Kollegen, die sich zum Zeitpunkt dieser Politik geäußert haben, unternommen worden ist —, daß die Führung der Sowjetunion in der Deutschlandfrage die russischen Interessen bis jetztnoch in einer Weise sieht und erzwingt, die den elementaren Interessen des deutschen Volkes zuwiderläuft, nämlich seinem Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung und Einheit in einer europäischen Friedensordnung.Ist denn eine Wende — das müßte dem doch entsprechen, wenn man so schwerwiegende Verträge hier vorlegt — in den Grundfragen des deutschsowjetischen Interessengegensatzes schon gekommen? Oder bewirken diese Verträge, wenn sie in Kraft treten sollten, wogegen wir kämpfen, etwa diese Wende? Selbst diese Frage ist doch nicht beantwortet! Weder die sowjetische Deutschlandpolitik noch die russischen Auffassungen über Berlin noch die Einstellung Moskaus zur westeuropäischen Einigung noch die menschenrechtswidrigen Zustände in unserem Land gestatten uns, von einer Wende dieser Politik der Sowjetunion zu sprechen.
Auf sowjetischer Seite ist außer Gesprächsbereitschaft, die zur Zeit der vorigen Regierung entstand, bisher eine Wende zum Kompromiß in der Sache nicht zu erkennen. Wir verstehen dabei durchaus, daß die Deutschlandpolitik Stalins auch seinen Nachfolgern außenpolitische Fesseln im Westen Rußlands angelegt hat. Wir wissen sehr wohl, daß auch der Bewegungsfreiheit einer Großmacht Grenzen gesetzt sind. Aber wir rechnen darauf, daß auch die sowjetischen Führer es einmal vorziehen werden, ihre Interessen in Europa mehr auf das Vertrauen als auf die Furcht ihrer Nachbarvölker zu gründen.
Wir kennen die Geschichte Rußlands und der Sowjetunion vor und nach 1945. Wir kennen die defensiven wie die offensiven Konsequenzen und nehmen diese außerordentlich ernst. Zu diesen Konsequenzen gehört der Wille, bis zur Elbe und zum Böhmerwald entschlossen Macht auszuüben, gehört der Wille, die Vereinigung des freien Europa nicht zustande kommen zu lassen. Vielleicht sehen wir das anders als andere. Aber wir glauben, daß hier nicht Augenblicksmeinungen oder Hoffnungen, sondern objektive Faktoren zur Grundlage unseres verantwortlichen Handels zu machen sind; denn nicht der Beifall heute, sondern die Geschichte morgen wird ausweisen, wer hier heute richtig Verantwortung wahrgenommen hat.
Wir haben aber nicht nur die beschriebene, von uns bewirkte Wende der deutschen Politik zum Vorrang Europa zu verzeichnen. Wir sagen nach Westen u n d nach Osten: Die ausschlaggebende Wiedergutmachung Deutschlands — ich sage dieses Wort — lag und liegt in der klaren Entschlossenheit, sich einer erneuten Außerkraftsetzung von Recht und Freiheit
auf deutschem Boden zu widersetzen!
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9954 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. BarzelDies gilt ebenso klar wie die Forderung, daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen darf. Freiheit und Frieden sind für uns unlöslich miteinander verbunden, und deutsche Politik darf nie Freiheit gegen Frieden oder Frieden gegen Freiheit ausspielen.
Wir haben mit dieser Haltung wie mit der europäischen Wende — das sollte man auch im Osten in Rechnung stellen — einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung des Friedens geleistet. Die klaren Prinzipien unserer Außen- und Innenpolitik haben sich auch gegen die Verfassungsfeinde von rechts wie von links gewendet. Sie haben uns gleichzeitig zu einem angesehenen, nicht bequemen, aber klar kalkulierbaren Faktor der Weltpolitik gemacht. Wenn wir uns hierin treu bleiben und nicht glauben, durch faule Kompromisse bleibende Interessengegensätze überspielen zu können, dann wird auch die Sowjetunion einer solchen Politik und einem solchen Partner ihren Respekt nicht versagen.Wenn auch nach sowjetrussischer Auffassung der deutsch-sowjetische Vertrag den gesamtdeutschen' Friedensvertrag nicht präjudiziert, wenn er die deutsche Frage in der Substanz offenhält, wenn er die Verantwortung der Vier Mächte für Berlin und Deutschland als Ganzes nicht berührt, so frage ich: warum steht das dann nicht im Vertragstext selbst?
Warum weigert man sich dann in Moskau, alles das auch nur zu bestätigen? Gerade weil wir die Bedeutung kennen, die man in Moskau einem feierlichen Vertrag beimißt, müssen wir aus internationaler Verantwortung einen Vertrag ablehnen, der von vornherein mit Dissensen belastet ist. Das führt nur zu neuem Zwist und zu neuem Konflikt, den wir nicht wollen; und bei den Interpretationen sind die anderen dann die Stärkeren.Wir müssen festhalten, daß noch immer die Auffassungen beider Seiten über elementare Grundfragen unserer Beziehungen weit auseinander sind. Deshalb sage ich: besser kein Vertrag als ein mehrdeutiger Vertrag, der die bleibenden Sachgegensätze nur verschleiert und damit den Keim für neue Spannungen legt.
Wenn nicht das Gleichgewicht in Europa gefährdet werden soll, dann müssen angesichts der Tatsache, daß die kommunistischen Parteien, alle miteinander, ihr offensives Ziel in Europa weiter verfolgen, die Demokraten weiter von Selbstbestimmung und Freiheit reden und sie fordern. Gleichgewicht ist nicht nur eine Frage von Truppenzahlen und von Militär, es ist zuerst eine Frage der Entschlossenheit, des Willens. Wenn hier etwas aufgegeben werden sollte, dann wäre das Gleichgewicht gefährdet.
Wer — wie wir — einen tragfähigen, für beide Seiten fairen Kompromiß sucht, der sucht den Ausgleich durch wechselseitiges Entgegenkommen, der aber darf weder seinen Willen noch seine Überzeugung verstecken, solange der andere mit Entschlossenheit seine Position unverändert vertritt. Denn dann gibt es eben keine Verständigung in der Sache und keine Lösung auf der Mitte, sondern dann gibt es eine einseitige Lösung, wie immer auch die Vokabeln lauten mögen.Wir sind — ich sage es noch einmal — nach wie vor für den gegenseitigen förmlichen Verzicht auf jede Androhung und Anwendung von Gewalt gerade deshalb, weil es noch so schwerwiegende strittige politische Fragen gibt. Wir sagen dies mit Freimut. Diese Position des Freimuts macht doch in Moskau Respekt. Glauben Sie denn, daß ein Russe anders sprechen würde als ein Deutscher, wenn er von der Not des Landes und der Teilung und der Unterdrückung spricht? Das kann doch gar nicht der Fall sein.
Die von uns angestrebte Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion kann nicht losgelöst werden von den gegenwärtigen Zuständen im geteilten Deutschland. Die Sowjetunion ist eine der Vier für Deutschland und Berlin verantwortlichen Mächte. Sie ist mitverantwortlich für die Einführung des SED-Regimes in den Nachkriegsjahren. Sie ist — trotz der Verantwortlichkeiten der DDR — mitverantwortlich für das innerdeutsche Verhalten der Regierung in Ost-Berlin. Es scheint uns völlig aussichtslos, die Beziehungen zur Sowjetunion nachhaltig und in der Substanz entspannen, normalisieren und verbessern zu wollen, während von Ost-Berlin eine Politik der Abgrenzung, des Gegensatzes und der Feindschaft betrieben wird.Wir sehen — auch da braucht uns keiner zu belehren — die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Kooperation zwischen der Sowjetunion und uns. Wir kennen die bekannten Lieferungs- und Finanzierungsschwierigkeiten. Darüber wird man eines Tages konstruktiv zu sprechen haben. Ich erinnere daran, daß dieser Austausch ohne solche spektakulären Verträge von 1959 auf 1969 verdoppelt wurde und jetzt stagniert.
Das breite Feld des kulturellen Austausches sollte sich zunächst und vor allem — das war immer unsere Politik — durch Sich-Vertragen und Sich-Kennenlernen öffnen; man sollte durch offene Grenzen zum Frieden kommen, indem man der Jugend beider Länder die Möglichkeit des Austausches gibt; denn „ohne Kenntnis kein Verständnis" sagt der Volksmund. Dazu gehört auch der Austausch von Informationen, von Reisen und von Studienplätzen. Alles das ist richtig. Dazu gehört ferner der vermehrte Tourismus, der allerdings nicht nur eine deutsche Einbahnstraße nach Moskau und Leningrad sein darf.
Wir wollen möglichst vielen Bürgern der Sowjetunion zeigen, wie unsere Wirklichkeit ist; wir haben hier nichts zu verbergen.
Ich erwähne das weite Feld des technischen und wissenschaftlichen Austausches. Wir wissen, daß un-Dr. Barzelsere beiden Länder einander vieles geben können und der eine auf diesem und der andere auf jenem Gebiet Vorbildliches geleistet hat. Ich erinnere daran, daß wir schon 1958 einen Handels- und Konsularvertrag abgeschlossen hatten, daß wir 1959 ein Kulturabkommen abgeschlossen hatten und daß sich das alles entwickelt hat. Es ist eben keineswegs so, daß es vor dieser Regierung eine deutsche Politik gegenüber der Sowjetunion nicht gegeben hat, und es ist auch nicht so, daß es hinterher keine geben wird.
In manchen Bereichen haben wir viel mehr als andere europäische Länder eine praktische Kooperation, wenn Sie so wollen: einen praktischen Modus vivendi ohne den Versuch gehabt, hier notwendige Lösungen durch Formeln zu ersetzen.Deshalb bin ich überzeugt, daß man auch in der Sowjetunion ernsthaft prüft, warum wir die Verträge von Moskau und Warschau ablehnen, nämlich aus Verantwortung für einen dauerhaften Frieden, für die gesamteuropäische Entwicklung und auch für das Wohl unseres Volkes. Sie wird erkennen und sie wird sich daran erinnern, daß an unserem Willen zu konstruktiver und aufrichtiger Zusammenarbeit wie auch zum Frieden kein Zweifel bestehen kann. Sie wird ebenso erkennen, daß wir uns weigern, Tatbestände wie dieses Vertragswerk zu schaffen, daß Anlaß zu neuen Zwistigkeiten geben wird. Man wird dort wie anderswo wissen, daß uns niemand für die Folgen der Regierung BrandtScheel heranziehen kann; denn wir haben immer, hier im Parlament wie draußen, von Anfang an unmißverständlich klargemacht und begründet, daß dieser Politik der notwendige parlamentarische Rückhalt fehlt. Das muß hier noch einmal gesagt werden. •
Nicht wir, Sie, Herr Bundeskanzler, stehen für das ein, was Sie gegen unseren Willen hier geschaffen haben.Unsere Nachbarvölker im Westen und im Osten — ich denke vor allem an die Polen und die Russen — haben ein starkes, ein bewundernswertes Bewußtsein ihrer nationalen Identität und ihrer geschichtlichen Kontinuität. Ich kann mir nicht denken, daß verantwortliche Führer dort wirklich daran glauben, das Einheits- und Geschichtsbewußtsein ihres deutschen Partnervolkes sei durch Hitlers Krieg, durch die Willkür der Nachkriegszeit oder zu guter Letzt durch spießigen Wohlstand endgültig untergegangen.
Es wäre unaufrichtig, das entweder nicht zu sagen oder nicht mehr sehen zu wollen. Wer dies hier im Hause als verantwortlicher Politiker sagt, aber dann Texte vorlegt, in denen das nicht steht, muß sich fragen lassen: Was ist der wirkliche Inhalt dieser Texte? Hier wird mehr verschleiert als offengelegt.Für uns, meine Damen und Herren, gibt es keine Chance, einer Sache zuzustimmen, deren Inhalt unklar ist, die nicht zur Aussöhnung, sondern zur Verhärtung führt.
Das Wort hat Herr Bundesminister Eppler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Rede von Herrn Kollegen Barzel ist mir das eingefallen, was Herbert Wehner zu Beginn dieser Debatte gesagt hat, nämlich, wie wir uns wohl alle gegen Ende dieser Debatte fühlen würden. Ich weiß nicht, was es für einen Sinn hat, wenn man hier dieselben Reden unentwegt noch einmal hält.
Die Fragen, die der Herr Bundeskanzler dem Führer der Opposition gestellt hat, sind, soweit ich das überblicken kann, nur in zwei Punkten klar beantwortet worden:
in einem Punkt positiv, nämlich wo es um den wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Austausch ging, in einem anderen Punkt eindeutig negativ, nämlich dort, wo es um das Berlin-Abkommen geht.
Meine Damen und Herren, wie Sie das eines Tages vor unseren Verbündeten und vor den Berlinern verantworten wollen, ist ganz Ihre Sache.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel?
Bitte!
Herr Bundesminister, würden Sie vor allem den Herrn Kollegen Barzel darauf aufmerksam machen, daß in der Berlin-Frage eben keineswegs eine einheitliche Haltung der CDU/CSU. Fraktion vorliegt, denn wir alle haben ja noch die positive Bewertung von Herrn Kiesinger im Ohr.
Nur muß ich hier feststellen, Herr Kollege Apel, daß sich der Führer der Opposition eindeutig hinter das gestellt hat, was Herr Amrehn gestern sagte, und das war ein Nein ohne irgendwelche Zusätze.
Dies ist von uns zur Kenntnis zu nehmen.Herr Kollege Barzel, Sie haben noch einmal die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht gestellt, und ich kann Ihnen nur noch einmal, obwohl das uns allen langweilig wird, mit dem antworten, was
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9956 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundesminister Dr. Epplerschon Herr Kollege Ehmke gestern gesagt hat. Vom Selbstbestimmungsrecht ist in den Verträgen dreimal die Rede: erstens in der Präambel, zweitens in Art. 2, wo ausdrücklich auf Art. 2 der UNO-Satzung Bezug genommen wird — in diesem Art. 2 ist das Selbstbestimmungsrecht festgelegt —, und schließlich in Art. 4, der lautet:Dieser Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken berührt nicht die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen,also auch jenes Abkommen vom 13. September 1955, von dem Sie hier geredet haben. Wir können Ihnen das, was Sie zum 16. Mal fragen, auch zum 17. Mal noch antworten. Die Frage ist nur, was dies eigentlich noch für einen Sinn haben soll.
Im übrigen, ich fühle mich in diesen zwei Tagen bedrückt darüber, wie hier im Hause über das Selbstbestimmungsrecht dieses Volkes geredet wird. In jedem anderen Land würde das lauten: Es gibt kein Volk ohne Selbstbestimmungsrecht, darüber gibt es überhaupt keine Debatte.
Dies haben wir im Vertrag festgelegt, dies haben wir der Sowjetunion noch einmal geschrieben, dies haben wir noch einmal klargelegt. Ich sehe überhaut keinen Sinn darin, daß dieses Parlament nun noch einmal darüber debattiert, ob wir denn wohl nach diesen Verträgen noch ein Selbstbestimmungsrecht hätten oder nicht. Sind wir uns denn nicht alle einig, daß dies ein Recht ist, auf das überhaupt niemand verzichten kann, sogar wenn er wollte?
Obwohl wir glaubten, das sei nun erledigt, haben Sie, Herr Dr. Barzel, noch einmal von den Interventionsklauseln gesprochen. Sie haben noch einmal gefragt, was Überlagerung bedeutet. Ich bin kein Jurist, aber soviel habe ich doch begriffen: Überlagerung bedeutet, daß wir zwar nicht — weder Sie noch wir noch die Sowjetunion, wenn sie es wollte — die UNO-Satzung ändern können, weil sie nämlich nicht nur von zweien oder dreien gemacht worden ist, daß wir aber sagen können: In unseren bilateralen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und uns gilt der Art. 2 mit dem allgemeinen Gewaltverzicht und nicht die Interventionsklausel. Das ist mit der Überlagerung gemeint. Das ist Ihnen auch schon fünfzehnmal gesagt worden. Wir sind bereit, es auch zum 16. und zum 17. Mal wieder zu sagen.Herr Kollege Zimmermann hat meinem Freund Helmut Schmidt vorgeworfen, er habe schwarz in schwarz gemalt. Mein Eindruck ist, das kann der Herr Zimmermann viel besser.
Er hat bei seiner Rede über die Truppenstärken nur eines völlig vergessen, wohl- absichtlich vergessen: Durch diesen Vertrag wird im Westen keine einzige Kompanie weniger stehen, solange es nicht ein Abkommen über gleichwertige Rüstungsbegrenzung gibt.
Meine Damen und Herren, gestern haben sowohl Herr Windelen als auch Herr Kollege Strauß uns klargemacht, daß die Union bereit wäre, bei der Versöhnung, bei der Ausgleichspolitik mit den Völkern Osteuropas mitzuspielen, daß sie aber eine gewaltige Differenz sehe zwischen den Regierungen, den Völkern, den Emigranten, den Kirchen und den verschiedenen Gruppen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er auch gemeint, der Polen-Vertrag sei eine Konzession an die dortige Regierung, und die Emigranten aus Polen etwa dächten darüber ganz anders. Deshalb möchte ich Ihnen jetzt einmal aus einem Brief zitieren, von dem wir bisher keinen Gebrauch gemacht haben, einem Brief einer polnischen Emigrantenorganisation, der Polnischen Christlichen Arbeiterpartei, geschrieben aus Rom am 30. November 1970, adressiert an die Herren- Kiesinger, Heck und Barzel, Herrn Heck damals als Generalsekretär der CDU. In dem Brief dieser Emigrantenorganisation heißt es u. a. folgendermaßen:Der Vertrag, der zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland am 18. November in Warschau paraphiert wurde, schafft eine Basis für eine Versöhnung zwischen der deutschen und der polnischen Nation.Dann wird weiter von dem Bischofsbriefwechsel gesprochen, wobei eine gewisse Verbitterung über die deutsche Antwort herauszuspüren ist. Dann kommt der entscheidende Passus:Für das polnische Volk, das in seiner großen Mehrheit seiner tausendjährigen christlichen Tradition treu geblieben ist, ist die Haltung der christlichen Bevölkerung in Deutschland in dem Augenblick, wo gute Beziehungen zum deutschen Volk herbeigeführt werden, von ganz besonderer Bedeutung. Von welchem Geist ist sie— diese christliche Bevölkerung —beseelt? Alle Polen glauben fest, daß in diesem historischen Moment die Treue zu den Prinzipien ihres Glaubens es ihnen nicht erlauben wird, in den Irrtum des Nationalismus zurückzufallen, der so viel Unheil über alle Völker Europas wie auch über das deutsche Volk gebracht hat.Weiter ist von der besonderen Verantwortung der CDU die Rede. Dann kommt folgender Passus:Wir,— diese polnische Emigrantenorganisation, die Polnische Christliche Arbeiterpartei —sind überzeugt, daß die Leitung der CDU ebenso wie wir auf unserer Seite das Problem der deutsch-polnischen Verständigung nicht durch das Prisma der gegenwärtigen Systeme oder Regierungen sieht, sondern im Licht der histo-
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Bundesminister Dr. Epplerrischen Notwendigkeiten, Grundlagen für eine dauerhafte Freundschaft mit einer Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Völkern zu schaffen.Meine Damen und Herren, das ist genau das Gegenteil von dem, was Herr Windelen gesagt hat.
Das ist auch das Gegenteil — —
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Eppler, ist Ihnen bekannt, daß die von Ihnen zitierte Emigrantenorganisation ganze fünf Mitglieder besitzt?
Herr Kollege Heck, Sie wissen sehr genau, wahrscheinlich besser als ich, was heute in der polnischen katholischen Kirche über diese Verträge und darüber gedacht wird, was genau Sie, die Christlich-Demokratische Union, zu diesen Verträgen hier zu sagen haben.
Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, daß Ihnen die Frage, wie Sie sich in dem Moment verhalten, wo nach zweihundertjähriger Fehlentwicklung — 1772 war die erste polnische Teilung — die Aussöhnung zwischen diesen beiden Völkern auf eine neue Basis gebracht wird, nicht nur heute gestellt wird, sondern von den jungen Menschen dieser und der polnischen Nation Ihnen noch viele, viele Jahre lang gestellt werden wird, auch wenn die meisten unter uns hier diesem Parlament nicht mehr angehören.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Petersen?
Bitte, wenn Sie unbedingt wollen, Herr Petersen. Aber es geht von der Zeit ab.
Herr Kollege Eppler, glauben Sie, daß ein Vertrag wirklich zu einer Versöhnung mit dem polnischen Volk und der polnischen Jugend f "ihren kann, der zwischen Bonn und Moskau ausgehandelt wurde, und sind Sie sich darüber klar, wie die Polen darauf reagieren, wenn sich die Deutschen mit den Russen über Polen einigen, was sie in den letzten 200 Jahren ja öfter getan haben?
Herr Kollege Petersen, ichgebe Ihnen ja zu, daß Sie das ernst meinen. Nur, eine Politik mit osteuropäischen Ländern an der Sowjetunion vorbei ist schon einmal gescheitert. Und wissen Sie eigentlich wirklich, was uns die Polen in bezug auf die Reihenfolge geraten haben? Könnte es nicht sein, daß sie uns genau das Gegenteil dessen geraten haben, was Sie uns hier jetzt vorschlagen?Meine Damen und Herren, gestern hat Herr Kollege Weizsäcker einiges über unsere Nation gesagt, über das Jahr 1871 und wie wir heute dazu stehen. Ich zitiere Herrn von Weizsäcker:Leider aber haben wir im Jubiläumsjahr der Reichsgründung, also im letzten Jahr, statt dessen— also statt einer Würdigung —von hoher und besonders hoher Stelle andere, zumeist kritische Äußerungen zu dieser Nation gehört. Es war vorwiegend die Rede vom Widerstand weiter Teile der Gesellschaft gegen diese Nation, vom Riß zwischen Demokratie und Nation, von der Nation als dem Feld zur Erreichung gesellschaftspolitischer Ziele.Abgesehen davon, meine Damen und Herren, daß ich es nicht für einen besonders guten Stil halte, hier das Staatsoberhaupt anzugreifen, das sich hier nicht verteidigen kann, möchte ich Herrn von Weizsäcker daran erinnern, daß die Weichen für die Feiern für 1971 in der Regierung der Großen Koalition in langen Debatten gestellt worden sind. Könnte es im übrigen nicht sein, daß Sie hier Staat und Nation verwechseln? Diese Gruppen, die damals im Deutschen Reich diskriminiert wurden, wie z. B. der katholische Bevölkerungsteil, waren doch nicht gegen diese Nation, sondern sie sind in diesem Staat diskriminiert worden; darum ging es.
Lassen Sie mich hier einmal aus einem Text zitieren, dessen Autoren in diesem Lande niemand besser kennt als Herr von Weizsäcker und ich, nämlich jene Schrift über die Friedensaufgaben der Deutschen vom 1. März 1968, herausgegeben von der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKID. Da heißt es folgendermaßen:Im deutschen Nationalbewußtsein fehlte zur Willensgemeinschaft der Staatsbürger freilich die ausreichende Demokratisierung. Arbeiterbewegung, linke Liberale und auch der katholische Volksteil gerieten in Widerspruch zur inneren Ordnung des damaligen Reiches. Die Spaltung zwischen Nationalbewußtsein und Demokratie hat später auch mit dazu beigetragen, den Weg für den Nationalsozialismus zu ebnen und zur Überwindung und zur Trennung Deutschlands nach 1945 zusätzlich zu erschweren.Meine Damen und Herren, stimmt das eigentlich noch oder stimmt das nicht mehr, was wir noch vor vier Jahren gemeinsam haben sagen können, oder ist da jetzt ein neuer Begriff bei Ihnen im Schwange?
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9958 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundesminister Dr. EpplerWenn uns Herr von Weizsäcker im übrigen erklärt, daß die Nation über dem Wettkampf der Parteien und gesellschaftlichen Gruppen stehen müsse: wer hat das jemals in diesem Hause bestritten? Oder wenn er sagt: „Wenn wir erst damit anfangen, die Nation selbst danach zu definieren, ob wir in ihr unsere gesellschaftspolitischen Ziele haben verwirklichen können ... !" Ja, wer hat denn das jemals getan? Gegen welche Windmühlenflügel wird hier eigentlich gekämpft?
Ich hätte darüber nichts gesagt, wenn daraus nicht von Herrn von Weizsäcker eine Folgerung auf die jetzige Situation gezogen worden wäre. Er sieht nämlich Gefahren darin, wenn eine Regierung beginnt, Deutschlandpolitik im Alleingang zu betreiben, und zwar Gefahren für den Zusammenhalt der Nation. Ich will gar nicht darüber sprechen, ob Konrad Adenauer damals wohl alle Gruppen beieinander gehabt hat, als er seine Politik gemacht hat. Nur, was hat das alles mit der Einheit der Nation zu tun? Solange wir uns- hier streiten, w i e wir die Interessen dieser Nation vertreten, gibt es keinen Riß in dieser Nation. Der beginnt erst, wenn Sie hier fragen, o b die Interessen dieser Nation hier vertreten werden. Da beginnt der Riß in der Nation.
Es gibt hier auch keinen Riß, solange wir hier darüber ringen, was für die Deutschen besser ist. Der Riß kommt erst dann, wenn Sie fragen, wer denn die besseren Deutschen seien.
Herr Kollege Eppler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gradl?
Herr Kollege Eppler, ist Ihnen denn gestern bei der Rede des Kollegen von Weizsäcker wirklich entgangen, daß er sich in seiner Auseinandersetzung um den Begriffsinhalt Nation in dem Punkt, den Sie jetzt angesprochen haben, mit der Tatsache auseinandergesetzt hat, daß im anderen Teil Deutschlands, den wir doch auch zu dieser deutschen Nation rechnen, der Begriff Nation eben genau so definiert wird, wie wir ihn nicht verstanden haben wollen, nämlich daß ihm ein klassenbezogener Inhalt gegeben wird?
Herr Gradl, wenn das so gewesen wäre, wie Sie und ich es meinen,
was bedeutet dann die Zitierung des Godesberger Programms in diesem Zusammenhang? Das ist nämlich nicht in der DDR entstanden, sondern das hat hier eine demokratische Partei formuliert. Aber ich habe nichts dagegen, wenn Sie das jetzt klarstellen. Das ist ja nur gut für uns.Manches von dem, was in diesen Tagen hier geschieht, erinnert mich an das, was vor genau 17 Jahren am 24. Februar 1955 in diesem selben Hause geschehen ist. Natürlich hat es heute keinen Sinn mehr, darüber zu rechten, wer damals recht gehabt hat. Ich werde mich auch hüten, das zu tun, was etwa gestern Herr Marx getan hat: irgendwelche Zitate herauszuziehen und dann irgend jemandem an irgendeinem Zitat aufzuhängen.
Das ist nicht meine Absicht.
Damals, meine Damen und Herren, ging es doch um eine jener schwierigen Prioritätsentscheidungen, vor die wir alle als Politiker immer wieder gestellt werden. Damals war es ja nicht so, daß die SPD gegen die europäische Einigung oder die CDU gegen die deutsche Einheit gewesen wäre, sondern es ging darum, daß in einer bestimmten Situation etwas getan werden mußte und dann die Priorität, die zeitliche Priorität beim einen und beim anderen entschieden hat. Deshalb darf ich Ihnen — nicht, um irgend jemanden zu kritisieren — doch drei kurze Zitate von damals bringen, um die Situation zu beleuchten.Damals hat Herr Kollege Wehner
— ich will ihn nicht daran aufhängen, glauben Sie das? —, als er die Vertagung beantragte, folgendes gesagt:Dürfen wir diesen Akt mit seinen automatischen Folgewirkungen auf der anderen Seite unseres Landes vollziehen, ohne vorher alle Möglichkeiten einer Viermächteregelung zur friedlichen Wiedervereinigung unseres Landes angestrebt und versucht zu haben?Und dann hat Herr Strauß darauf geantwortet — ein Zitat, das wirklich heute noch sehr aktuell ist —:Mit dem häufigen Gebrauch des Wortes „Wiedervereinigung" ist nicht viel mehr erreicht als ein ständiges Memento. Einen realen Schritt vorwärts zu diesem Ziel tut nur derjenige, der dem politisch handlungsfähigen Teil des deutschen Volkes wieder politischen Einfluß und politisches Gewicht verschafft.Dazu hat nun wiederum Herbert Wehner gesagt:Aber diese Erklärung, daß nach der Ratifikation Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung für jene Macht— nämlich die Sowjetunion —gegenstandslos sein würden, liegt uns vor. Wirdürften sie nicht einfach in den Wind schlagen.Das heißt: Sie von der Union haben damals nicht nur etwas Legales, sondern Sie haben etwas politisch Legitimes getan. Sie haben nämlich gesagt: Laßt uns jetzt das tun, was in diesem Augenblick sicher getan werden kann. Und die andere Seite des Hauses hat gesagt: Das snag ja sein, aber wird dann das andere, was wir wollen, dadurch nicht
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9959
Bundesminister Dr. Epplernoch schrecklich viel schwieriger als bisher? Dies war doch der Ausgangspunkt.Damit Sie nicht meinen, dies sei meine Wertung, lassen Sie mich hier einmal die Wertung vortragen, die der Präsident dieses Hauses ahne jeden Widerspruch vorher oder nachher in seiner Eigenschaft als Präsident dieses Hauses bei der Begrüßung des Präsidenten Kennedy im Jahre 1963 in der Paulskirche gegeben hat. Da spricht Bugen Gerstenmaier von der 'grundlegenden Neuorientierung der deutschen Politik nach dem zweiten Weltkrieg und fährt fort:Ihre Ursache— nämlich dieser neuen Politik —ist die innere Wandlung der Deutschen, unsere Einsicht in tragische geschichtliche Zusammenhänge und unsere darauf bestehende Absage an die Ideale und Methoden des alten souveränen Nationalstaats.Und jetzt passen Sie genau auf:Wir haben bewußt auf seine Wiederherstellung als einer unabhängigen Größe zwischen Ost und 'West verzichtet zugunsten einer neuen, dauernden Gemeinschaft der Staaten Europas und der atlantischen Welt.Dann sagt er, das alles sei in diesem Hause bitter umkämpft gewesen, und fügt hinzu:Der Grund— für diese Kämpfe —war nicht reaktionäre Widerständigkeit .. . nein, die Hemmung und der Widerstand gegen diese Neuorientierung der deutschen Politik nährten sich aus der Sorge um 17 Millionen Deutsche hinter dem Eisernen Vorhang.Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht auf irgendwelchen Worten herumreiten, etwa auf dem Wort Verzicht. Das hat gar keinen Sinn. Nur will ich klarmachen: Die Sorge um diese 17 Millionen ist nicht gerade von heute, und die Sorge hat doch wohl mit der Entscheidung zu tun, die damals von Ihnen hier getroffen worden ist. Das ist kein Vorwurf. Diese Prioritätsentscheidung, die Sie getroffen haben, 'hat ihre Vorteile gehabt, nur einen nicht, nämlich daß wir der Einheit dieser Nation dadurch nähergekommen wären.
Auch das wäre heute nicht mehr so wichtig, wenn Sie in dieser Diskussion nicht so täten, als würde die politische Entscheidung über die praktischen Möglichkeiten der Wiedervereinigung heute und nicht vor 17 Jahren getroffen.
Sie sprechen alle davon, man müsse die deutsche Frage offenhalten. Was heute nicht mehr offen ist an dieser Frage, nämlich, daß es nicht so schnell eine Viermächtevereinbarung über die deutsche Einheit geben wird, das war auch schon vor 17 Jahren nicht mehr offen, und was vor 17 Jahren noch offen 'war, nämlich unser Wille, diese Einheitirgendwann doch zu erreichen, ist auch nach Ratifizierung dieser Verträge noch offen.
Was wir jetzt tun, meine Damen und Herren, ist doch gar nichts anderes als das, was früher oder später nach dieser Entscheidung von damals unvermeidlich werden muß, nämlich daß wir als Teil Europas und des Bündnisses, im Interesse Europas und des Bündnisses, mit Unterstützung Europas und des Bündnisses, den Ausgleich suchen, den dieses Volk und Europa brauchen. Das ist alles.Das liegt in der Logik dessen, was Sie seinerzeit entschieden haben. Sie haben damals entschieden, daß wir ein normales westeuropäisches Land werden sollen, das sich in diese Gemeinschaft einfügt; gut. Aber daraus sind nun heute die Konsequenzen zu ziehen. Meine Frage nach der Alternative würde ich so abwandeln: Wie wollen Sie eigentlich dieser Konsequenz entgehen?
Wie wollen Sie dieser Konsequenz ausweichen? Wie lange wollen Sie ihr ausweichen? Wohin wollen Sie ihr ausweichen? Darüber hat hier noch niemand etwas gesagt.
— Herr Blumenfeld, das wissen Sie doch.
— Das wissen Sie. Ich wollte einen anderen Versuch machen, den Versuch, von dem Herbert Wehner hier in diesem Haus gesprochen hat. Sie wollten etwas anderes.Meine Damen und Herren, daß man nicht nachweisen kann, was aus diesem Versuch geworden wäre, das ist selbstverständlich. Das werden Sie dann begreifen, wenn Sie auch nicht mehr nachweisen können, was geworden wäre, wenn Sie diese Abstimmung gewonnen hätten. Sie werden sie nämlich verlieren. Das ist so, daß jeder, der Politik macht in diesem Land, diese Politik auf Grund von Entscheidungen machen muß, die getroffen worden sind, sogar dann, wenn sie gegen seinen Willen getroffen worden sind. Das ist uns so gegangen, und das wird Ihnen um kein Haar anders gehen.
Lassen Sie mich noch ein Wort über das sagen, was diese Verträge in jenem großen Teil der Welt bedeuten, den man die Dritte Welt nennt. Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, daß es kein Land der Dritten Welt gibt, bei dem diese Verträge auf irgendwelche Ablehnung stoßen? Das gilt, ob das nun Brasilien oder Peru ist, ob das Algerien oder die Elfenbeinküste ist, ob das Äthiopien oder Tansania ist; und ich nehme die verschiedensten gesellschaft-
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9960 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundesminister Dr. Epplerlichen Strukturen als Beispiele. Die Frage ist doch: warum ist das so?
Es ist so, weil die betreffenden Staatsmänner — und das sagen sie einem auch — die Hoffnung haben, daß eine Befriedung und Entspannung in Europa Energien freimachen könnte, die auch ihnen eine Chance geben. Deshalb sind sie dieser Meinung.
Meine Damen und Herren, irren Sie sich nicht, indem Sie glauben, Sie könnten auf die alten Positionen zurückfallen. Wenn im letzten Jahr die Position der DDR etwa in Afrika nicht stärker, sondern schwächer geworden ist, dann nicht, weil die dort glauben, die DDR sei kein Staat, sondern deshalb, weil sie die Politik dieses Bundeskanzlers nicht stören wollen. Das ist der Grund.
Vielleicht noch eine Bemerkung zu Ihrem EWG-Argument, Herr Barzel: Ist Ihnen eigentlich klar, wie unpopulär die EWG etwa in Lateinamerika oder etwa in Asien ist, was man dort für bösartige Bemerkungen über die EWG hört?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, lassen Sie mich bitte jetzt diesen Gedanken zu Ende führen.
— Diese Länder mögen die EWG auch nicht, aber sie finden sich mit dem Faktum „EWG" ab, wie andere auch.
Und das hindert uns nicht, mit ihnen nicht nur Verträge zu schließen, sondern ihnen sogar mit Ihrer Zustimmung Hilfe zu geben, obwohl sie ganz andere Vorstellungen von der EWG haben als wir. —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Klee?
Herr Bundesminister, ist Ihnen nicht bekannt, daß die lateinamerikanischen
Länder die Declaracion de Buenos Aires bereits vor zwei Jahren verabschiedet haben, in der sie um eine enge Kooperation mit der EWG bitten?
Ja, aber Sie wissen ganz genau, was in dieser Deklaration auch an wenig Schmeichelhaftem über die EWG steht. Gehen Sie doch einmal dort hinüber! Ich nehme das diesen Ländern ja gar nicht übel; die haben andere Interessen,
als sie die EWG hat. Und ich sage hier nur: Wenn Sie ausschließlich mit solchen Ländern kooperieren wollen, die ein besonders gutes Verhältnis zur EWG oder eine besonders gute Vorstellung von der EWG haben,
dann könnten Sie sehr wenig Politik machen.
Schließlich, meine Damen und Herren, hat der Herr Außenminister zu Beginn seiner Rede klargemacht, in welchem Panorama — so hat er das genannt — wir uns heute befinden. Er hat von den Gefahren gesprochen, die dieser Welt drohen, von den Gefahren, die auch aus der Kluft zwischen den armen und den reichen Ländern kommen. Meine Damen und Herren, da haben wir gar nicht mehr so viel Zeit, daß wir hier alles liegenlassen, daß wir uns hier einigeln und daß wir nur warten könnten. Wir haben sehr viel weniger Zeit, als wir glauben, und das spüren die Menschen in der Dritten Welt, wie es auch die jungen Menschen bei uns spüren.
Die junge Generation in diesem Lande wird uns eines Tages nicht daran messen, wieviel juristischen Scharfsinn wir zur Rechtfertigung der Grenzen von 1937 aufgebracht haben,
sondern sie wird uns daran messen, wieviel Energie, wieviel schöpferische Phantasie und wieviel Zähigkeit wir ausgebracht haben, um für sie einen Platz zu schaffen in einer friedlichen Welt, in der sie arbeiten und leben kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im zweiten Bericht zur Lage der Nation hat der Herr Bundeskanzler den heimatvertriebenen Deutschen sein Mitgefühl ausgesprochen, und Herr Genscher hat dies gestern wiederholt. Aber die unmittelbar betroffenen heimatvertriebenen Deutschen wollen auch einen ganz nüchternen Nachweis, ob und wie zu ihrem Schutz politisch gehandelt worden ist.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9961
Dr. CzajaDabei geht es um die Tragweite der in beiden Sprachen für beide Partner verbindlichen Texte des Warschauer Vertrages und um jene Dokumente im Vertragswerk, die völkerrechtlichen Wert besitzen. Es geht nicht nur um hierzulande gegebene Interpretationen.
Der parlamentarischen Kontrolle unterliegen nicht Hoffnungen, sondern der Inhalt des Vertragswerks selbst und seine Folgen.
Wie wurden denn — gestatten Sie mir diese Frage, nachdem so oft polnische Interessen, die wir auch zu sehen haben, angesprochen wurden — die berechtigten Interessen der Ostpreußen, der Westpreußen, der Brandenburger, der Pommern, der Schlesier und der Oberschlesier in diesem Vertragswerk vertreten? Darauf muß doch eine deutsche Regierung auch antworten.
Steht im Vertrag die Beschreibung eines Zustandes oder eine endgültige Verpflichtung zu Lasten Deutschlands? Unzählige offizielle polnische Aussagen berufen sich auf die Endgültigkeit. Die Bundesregierung gibt zu, der Warschauer Vertrag ist mehr als nur ein Verzicht auf militärische Gewalt oder auf die Drohung mit Gewalt. Die Bundesrepublik, so heißt es, solle sich endgültig verpflichten, auch für den Fall, daß sie an friedensvertraglichen Regelungen mitwirken kann. Das hat nicht zuletzt der Herr Bundesaußenminister wiederholt sehr klar ausgeführt.
Das bisher auch in zahllosen deutschen Gesetzen, auch noch vor ein, zwei Jahren, als deutsches Inland behandelte Gebiet soll nach einer eventuellen Ratifikation Ausland sein. Minister Posser aus Nordrhein-Westfalen sagte im Bundesrat ausdrücklich, die Bundesrepublik gebe ihren bisherigen Standpunkt auf. Wie kann man dann 'behaupten, daß nichts Substantielles 'bezüglich dieser Teile ganz Deutschlands und bezüglich unserer Heimat geschehen sei? Wie kann man dann behaupten, daß über unsere Heimat nicht mitverfügt warden sei?
Kann sich denn die Bundesregierung einerseits in Übereinstimmung mit den Verbündeten und mit vielen internationalen Verträgen dazu bekennen, in die Rechte und 'Pflichten des Deutschen Reiches als dessen frei organisierter Teil eingetreten zu sein, aber gleichzeitig in entscheidenden Fragen Deutschlands, wenn es um Staatsgebiet und Grenzen geht, erklären, man handle da eben nicht für Deutschland? Darf man einer erträglichen Heilung einer volkerrechtswidrigen Annektion durch einen tragbaren Ausgleich zu Lasten Deutschlands vorgreifen, indem man alle diese Gebiete heute und für künftig als deutsches Ausland festschreibt?
Alle früheren Bundesregierungen und alle führenden Sprecher der großen demokratischen Parteien — Adenauer, Schumacher, Brentano, Erler, Ollenhauer, Brandt und Wehner — haben offiziell bis 1968, ja, bis 1969 erklärt, die Bundesrepublik Deutschland solle und dürfe vor einem Friedensvertrag kein politisches Mandat für eine solche Festschreibung beanspruchen. Herr Bundesaußenminister, waren das, was gerade auch die Führung der SPD bis 1968 verkündete, nur erstarrte Denkkategorien und Illusionen? War das nicht vielmehr Ausdruck jener gemeinsamen politischen Klugheit der großen demokratischen Parteien, die eben alle deutschen Fragen für eine umfassende Regelung auf dem Verhandlungstisch halten wollten und halten zu müssen meinten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Dr. Czaja, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Becher?
Herr Kollege Czaja, sind Sie nicht der Meinung, daß es eine Mißachtung der Interessen der deutschen Heimatvertriebenen ist, wenn ausgerechnet bei Ihrer Rede der Herr Bundeskanzler nicht anwesend ist?
Ich vermag nicht zu beurteilen, warum er nicht anwesend ist. Ich wünschte, er wäre anwesend. Ich habe nachher nämlich noch einige Fragen an ihn zu stellen.Ich möchte die Antwort gerade auf die Frage, warum man damals alle deutschen Fragen auf dem Tisch halten wollte, ausdrücklich einer Schrift entnehmen, die nicht unter der Zucht der Kabinetts herausgegeben wurde, sondern die der Herr Kollege Wehner nach Gesprächen mit Günther Gaus vor dem Eintritt der SPD in die Regierungsverantwortung unter der sehr interessanten Überschrift „Hat die SPD kapituliert?" im Jahre 1966 herausgebracht hat. In dieser Schrift, Herr Kollege Wehner, unterstreichen Sie gerade, daß es unmöglich sei, daß es, wie Sie sagen, eine Leichtfertigkeit und eine Illusion sei, vor endgültigen friedensvertraglichen Regelungen das Recht zu haben, über die Oder-Neiße-Linie Gespräche zu führen.Herr Ehmke, Sie haben vorhin Fragen gestellt.
Die Antworten auf die Fragen können Sie auf den Seiten 74 bis 78 dieser Schrift lesen. Ich nehme sie sachlich. Die plastisch-drastischen Ausdrücke, die Sie, Herr Wehner, manchmal gebrauchen und die dann Rechtsradikale aufgreifen, klammere ich bewußt aus. Herr Wehner hat dort sehr genaue und sachliche Antworten gegeben:Wer das Bestreben, soviel wie möglich für Deutschland zu retten, eine Illusion nennt, der möge das tun. Ich— so sagen Sie, Herr Wehner —sage illusionslos zu einer solchen Mißachtung deutscher Interessen nein.
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9962 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wischnewski?
Einen Moment! Ich möchte erst meinen Gedankengang beenden.
Herr Abgeordneter, wenn sich ein Kollege zu einer Zwischenfrage meldet, muß idi Sie fragen, ob Sie diese Frage zulassen; Sie können sie ablehnen,
Ich habe gebeten, meinen Gedankengang zu Ende führen zu dürfen. Ich möchte im übrigen, um Zeit zu sparen, jetzt nicht auf Zwischenfragen antworten. Sie können nachher fragen.
Herr Wehner schreibt wörtlich:
Leichtfertig ist es, sich selbst dem Gefühl hinzugeben, durch eine Vorwegnahme der dem Friedensvertrag vorbehaltenen Entscheidung über die Grenzen etwas an der tatsächlichen Lage Deutschlands ändern zu können.
Idi glaube, dieser Satz von Herrn Wehner von 1966 gilt auch noch heute.
Man muß doch, Herr Kollege Wehner, sagen, daß entgegen Ihren damaligen Ausführungen mit — idi benutze nicht das Wort „Leichtfertigkeit", das Sie benutzt haben, aber ich muß sagen: — sträflicher Leichtigkeit fast alle friedensvertraglichen Regelungen vorbehalten, die deutschen, aber auch andere Völker angehende Fragen im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht negativ entschieden werden sollen, zumindest seitens der Bundesrepublik Deutschland. Wäre es, wenn man so etwas will, nicht klarer vor dem eigenen Volk, aber auch vor Ost und West, selbst wenn es ein ungünstiger Zeitpunkt ist, zähe Friedensverhandlungen anzustreben, statt in kompliziert verdeckten Ersatzfriedensverträgen seitens des mindestens mitwirkungsberechtigten freien Teiles Deutschlands alles nacheinander einzeln aufzugeben?
Herr Minister Ehmke, Herr Bundeskanzler,
Sie haben uns gefragt, was wir zur Offenhaltung der deutschen Frage meinen. Ich darf diese Frage zunächst zurückstellen und fragen, was Sie damit gemeint haben,
als Sie uns gefragt haben. Ich darf mich dabei auf das Schreiben der drei Westmächte an die Bundesregierung zum Moskauer Vertrag beziehen. In diesem Schreiben wird ausdrücklich betont, daß das sogenannte Londoner Übereinkommen vom 12. November 1944 und die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 unberührt blieben und unberührt bleiben müßten. In dem Protokoll vom 12. November 1944 zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien
und der Sowjetunion — ich habe den Auszug hier vor mir liegen; es ist eine Urkunde in bezug auf die bevorstehende bedingungslose Kapitulation Deutschlands — über die Besatzungszonen in Deutschland steht unter Ziffer 11 in Satz 1:
Deutschland, innerhalb der Grenzen, wie sie am 31. 12. 1937 bestanden haben, wird zum Zweck der Besatzung in drei Zonen geteilt.
Dann kommt die Ostzone, die genau beschrieben ist, einschließlich der von Polen verwalteten Gebiete. Herr Bundeskanzler, die Westmächte haben Ihnen im August 1970 ausdrücklich mitgeteilt, daß das nicht berührt werden dürfe. Sie haben heute, uns fragend, von anderen Grenzen gesprochen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Stehen Sie noch zu diesem Londoner Protokoll und zu dem, was unberührt bleiben muß?
Ich frage Sie weiter: Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß bei der Übernahme der Besatzungsgewalt am 5. Juni 1945 die Regierungen der Besatzungsmächte ausdrücklich erklärt haben — auch darauf haben sich die USA, Frankreich und Großbritannien im August 1970 berufen —: Die Übernahme der Regierungsgewalt und der Besatzungsgewalt in diesen Zonen zu den genannten Zwecken bewirkt nicht die Annektierung Deutschlands und keines Teiles Deutschlands? Stehen wir heute noch zu dieser Auffassung, zu der sich die vereinigten Verbündeten 1970 bekannt haben?
Das Urteil über den Inhalt des Warschauer Vertrages sprechen die Vertreter der SPD selbst. Ich lasse da die emotionalen Äußerungen fort. Nach Kurt Schumacher kann keine deutsche Partei oder Regierung bestehen, die die Oder-Neiße-Linie anerkennt. In 'der „Stuttgarter Zeitung" vom 1. März 1963 — vielleicht wird es 'der Herr Bundeskanzler nachlesen, wenn er nicht anwesend ist — führt der Herr Bundeskanzler ausdrücklich aus, daß es unsinnig sei — unsinnig, sagt er; er 'spricht auch von „gezinkten Karten", aber das Wort will ich hier nicht benützen —, daß es unsinnig sei, wenn man auf der Grundlage von zwei 'Staaten in Deutschland stehe, ausdrücklich von dem westlichen Teil Deutschlands die Anerkennung der Grenze zu verlangen, die den östlichen Teil Deutschlands von Polen trenne. Er fährt dann weiter fort, wer dies tue — — er fährt dann weiter fort
und weist darauf hin, daß diese Grenzen — hören Sie genau zul — weder vom polnischen noch vom deutschen Volk bestimmt worden seien, sondern daß sie von einer dritten Macht auferlegt worden seien. Er fährt wörtlich fort: wer es mit dem deutschpolnischen Verhältnis gut meine, der dürfe das nicht. Sie selbst, Herr Wehner, haben ja 1966 hinzugefügt: wer dies wolle, der versündige sich, am Nächsten- und füge dem eigenen Volk Schaden zu. Warum? Weil Sie gesehen haben, daß es dem pol-
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Dr. Czajanischen Volk gar nichts nützt, wenn wir eine von anderen 'diktierte Grenze, statt einen vernünftigen Ausgleich zu fordern, anerkennen, wenn wir dies tun und damit die Hegemonie 'dritter Völker gegenüber den Polen nur noch vertiefen und uns in eigene Gefahren begeben. Sie haben damals vom Versündigen am Nächsten und vom Schaden am eigenen Volk gesprochen. Sie haben, Herr Wehner, noch am 30. Mai 1969 — damit Sie nicht sagen, ich komme nur mit alten Zitaten — als Fraktionsvorsitzender oder als Minister — Entschuldigung — in „Publik" geschrieben: „Einen zweiten Görlitzer Vertrag zu machen, halte ich nicht für einen Gewinn."
— Ja, jetzt will ich Ihnen etwas sehr Ernstes sagen.
Sie haben bisher immer wieder — und dies habe ich begrüßt — einem Ausgleich zwischen Polen und Deutschen das Wort geredet. Der Herr Bundeskanzler hat noch im November des vergangenen Jahres in einem Interview in „Publik" geschrieben, daß er selbst, der Bundeskanzler, noch vor einigen Jahren an Verhandlungen über Änderungen der jetzigen Oder-Neiße-Linie zugunsten der Deutschen— wohl im Sinne eines nationalstaatlichen Mittelweges; das steht nicht darin, so verstehe ich es aber — teilgenommen habe. Experten und zahlreiche ausländische Politiker wissen genau, daß noch viel später, nach diesem vom Bundeskanzler erwähnten Gesprächszeitpunkt, Herr Chruschtschow Gomulka lange Zeit unter Druck setzte, damit er große Teile der Oder-Neiße-Gebiete an Ulbricht zu dessen Aufwertung abtrete und neutralisiere. Dies wollen wir nicht. Aber — und das kann nicht geleugnet werden— noch 1967 'hat der Herr Bundeskanzler als damaliger Bundesaußenminister im „Bulletin" unter der bezeichnenden Überschrift „Grundlagen einer europäischen Friedensordnung" auch andersgeartete, Herr Ehmke, nicht nationalstaatliche Maßstäbe des Ausgleichs für Ost-Deutschland in einer freien föderalen Ordnung der europäischen Staaten genannt. Damals schrieb er, es könne nicht so bleiben, wie es derzeit in den Oder-Neiße-Gebieten sei, und es könne nicht so bleiben, wie es dort der zweite Weltkrieg hinterlassen habe. Gerade in der ostdeutschen Frage seien nationalstaatliche Grenzen zu beseitigen. Nur ein wirksames, europäisch konstruiertes Volksgruppenrecht in umstrittenen Gebieten und praktizierte Menschenrechte seien eine wirkliche Grundlage eines Ausgleichs. Ein Jahr später hat der Herr Bundeskanzler, der jetzt nicht anwesend ist — —
— Desto mehr erbitte ich Ihre Antwort darauf. Ein Jahr später, also 1968, haben Sie, Herr Bundeskanzler, als Außenminister der Großen Koalition vor der Fraktion der CDU/CSU das, was ich soeben zitiert habe, als Ziel Ihrer Politik auf weite Sicht bezeichnet. Nun die Frage: darf man den Weg zu einem föderalen Ausgleich in umstrittenen Gebieten so rasch aufgeben? Kann man die Grundlagen einerFriedensordnung so rasch abschreiben? Dies ist die Frage, auf die Sie antworten sollten.
Ich °stelle die Frage, weil sie unser Problem aufs tiefste berührt.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ich war zeitlebens ein Mann, der überzeugt war, daß man in der Politik von christlichen Grundsätzen ausgehen solle. Aber ich habe mit großem Ernst den tragischen Weg der SPD — tragisch, weil ihr oft Unrecht geschehen ist — in der deutschen Geschichte beobachtet, und ich war glücklich, als ich hörte und spürte, daß Sie, nachdem Sie 30 Jahre nicht in der Regierungsverantwortung waren, in die Regierungsverantwortung eintreten wollten — das war Ihr gutes Recht — zu einem Zeitpunkt, wo um einen tragbaren Kompromiß und Ausgleich zu ringen sei, der unseren Nachbarvölkern wie auch den Deutschen gerecht werde. Ich habe angenommen, daß Sie nach diesen Ansatzpunkten, die Sie hier genannt haben, diesen Ausgleich wollen.
Ich empfinde es als tragisch für die Vertretung der berechtigten deutschen Sache, daß in einem solchen Zeitpunkt wieder ein kurzsichtiger theoretischer Perfektionismus in der SPD über diese weitblickenden Gedanken gesiegt zu haben scheint.
In der Denkschrift zum Vertrag sagt die Bundesregierung, sie habe bekräftigt, daß ein wiedervereinigtes Deutschland durch den Vertrag nicht gebunden werde. Der Bundesaußenminister sprach in diesem Zusammenhang jüngst von einem frei gewählten deutschen Souverän. Abgesehen davon, daß man durch solche Verträge Polen nicht zusätzlich noch zu einem entschiedenen Gegner gegen das Zustandekommen eines solchen deutschen Souveräns machen sollte, fragen wir: Hat die Bundesregierung auch bekräftigt, daß man in der Bundesrepublik Deutschland in Freiheit und aktiv vertragliche Änderungen der ungerechten und unausgewogenen Vertragsgrundlagen zugunsten ganz Deutschlands gewaltlos und mit friedlichen Mitteln vertreten könne? Offenlassen kann doch für Deutschland nur heißen: so oder besser bei Verhandlungen und Abkommen. Wenn aber Änderungen zulässig sind, muß man in Frieden und Freiheit dafür wirken können. Die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit darf dieses Streben, ja dieses Verfassungsgebot nicht ausschließen; denn der Parlamentarische Rat hat im Grundgesetz vorgesehen, daß der Beitritt anderer Teile Deutschlands in den Grenzen von 1937 nach Möglichkeit gefördert und alles unterlassen werden muß, was dies evident erschwert oder verhindert. Das ist ein Ausgangspunkt. Das muß nicht der Zielpunkt sein. Aber den Mittelweg muß man offenlassen.Herr Bundeskanzler, Sie können nicht hinter das, was im Londoner Abkommen vom 12. November 1944 steht, auf das sich die Westmächte in dem Schreiben an Sie berufen haben, zurückgehen. Sie
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9964 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Czajamüssen auch — und dies ist entscheidend — nachweisen können, daß Sie die soeben angesprochene grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit den Verhandlungspartnern im Vertragswerk selbst deutlich gemacht haben, da man sich im Völkervertragsrecht nicht einfach auf innerdeutsches Verfassungsrecht berufen kann.Ist aber in dem in gleicher Weise geltenden und in gleicher Weise verbindlichen polnischen Text nicht etwas Gegenteiliges enthalten, nämlich die Zusage der bedingungslosen, ohne Rücksicht auf irgend jemanden verbindlichen Hochachtung — so heißt es dort — vor dem polnischen Territorium? Was ist die Tragweite eines solchen Vertragssatzes angesichts der ständigen Rechtsauffassung der Sowjetunion und des Ostblocks, daß das Streben nach friedlicher Verbesserung bereits als „politische Aggression" und als eine mit allen Mitteln zu verhindernde „Friedensstörung" zu bezeichnen ist? Die sowjetische Völkerrechtslehre bezeichnet die Verhinderung von politischer Aggression als etwas völlig anderes als einen Streitfall, der ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu regeln ist. Was bedeutet angesichts des russischen Textes des Moskauer Vertrages, der selbst das — ich zitiere wörtlich — Infragestellen aller gegenwärtigen Grenzen als Friedensstörung bezeichnen möchte, dieser Satz im Warschauer Vertrag? Meine sehr verehrten Damen und Herren, ohne daß es im deutschen Vertragstext steht, sprachen vorgestern Herr Scheel und auch Herr Wehner plötzlich ebenfalls vom „Nichtinfragestellen" aller Grenzen. Was wird uns noch alles stufenweise und unauffällig in gefährlichen Dosen an bisher verdeckt Gehaltenem genannt werden?
Im Vertrag wird das Wort „Übereinstimmung" benutzt. Aber was ist nun in Art, 1 ubereinstimmend festgestellt? Die zeitlichen Fragen sind doch nicht in Übereinstimmung; das haben Sie, Herr Bundesaußenminister, mit großer Deutlichkeit gesagt. Die Volksrepublik Polen steht auf dem Standpunkt, daß die Grenze völkerrechtlich nach dem Potsdamer Protokoll festgelegt ist und nur der Bestätigung durch die Deutschen bedarf. Sie schreiben: vom Inkrafttreten an. Hier besteht doch nicht, wie es in Satz 1 des Vertrags heißt, eine Übereinstimmung, sondern hier besteht ein offener Dissens. Gerade wegen der individuellen Rechte der Betroffenen müssen wir aber doch fragen: Wie weit reicht denn überhaupt die Übereinstimmung in den entscheidenden Bestimmungen der Verträge? Anerkennung eines Gebietsübergangs zu Lasten Deutschlands oder nicht? Ab wann? Streben nach friedlicher Änderung möglich oder nicht? Oder, so muß ich fragen, gibt es in den entscheidenden Punkten überhaupt keinen gemeinsamen Willen dier Vertragspartner? Sind es nur geschliffene Formeln, die den grundsätzlichen Dissens verschleiern, oder gibt es eine Übereinstimmung in einer Weise, die uns vorerst vorenthalten wird?
Wir stellen diese Fragen zweitens auch wegen der tiefen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die individuellen Rechte von Millionen Deutschen. Wenn man solche großen Gebiete als Ausland festschreibt, kann man nicht mit einem Schulterzucken sagen, Herr Bundesaußenminister, es seien keine bestehenden personalen Rechte verlorengegangen.
Sie müssen uns hier sagen, was zur zumutbaren Wiederherstellung, zur Heilung verletzter Rechte von Ihnen getan worden ist. Wenn das beiderseits nicht möglich war, Herr Bundesaußenminister, wenn die Verletzung personaler Rechte blieb, wie sie war, ja, wenn sie durch den Wandel der Inlandsqualität vergrößert und vertieft wurde — denn das deutsche öffentliche und private Recht soll ja für diese Menschen, auch wenn sie hier sind und dingliche Werte drüben haben, nicht mehr zur Anwendung kommen —, dann durfte man einen solchen Vertrag nicht jetzt und so nicht abschließen.
Dann wurde nicht einmal im menschlichen Bereich eine echte Friedenstat gesetzt.Ich gebe zu: wenn Sie auch nicht die früheren Vertreibungstatbestände als legitim anerkannten — das rechne ich Ihnen an, aber wir mußten viele Stunden und Sitzungen mit Ihnen darum ringen —, so haben Sie doch die Folgen dieser Vertreibung insbesondere für die Zukunft ohne Rechtsverwahrung hingenommen und damit für die Zukunft die Folgen legalisiert. Die Aufarbeitung des Unrechts der Massenvertreibung und der Ansatz zur zumutbaren Wiederherstellung der Menschenrechte in Freiheit fehlen jedenfalls!Meine Damen und Herren, das ist ein einmaliger Vertrag in der deutschen Vertragsgeschichte, weil mehr als 100 000 qkm als Ausland festgestellt wurden und für die betroffenen Menschen im Vertrag nichts vereinbart worden ist,
weder für diejenigen, die nach der Vertreibung hier leben, noch für diejenigen, die sich als Deutsche dort befinden. Wird nicht durch den Wandel der Inlandsqualität das bisher nur durch Gewalt der Besatzungsmacht behinderte Menschenrecht der Freizügigkeit im deutschen Inland, wie es bisher war, für hiesige Heimatvertriebene, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Zusammenhang damit auch in Art. 1 unseres Grundgesetzes garantiert wird, abgeschrieben, da ein Menschenrecht auf Freizügigkeit im Ausland bisher trotz der Menschenrechtskonvention nicht kodifiziert ist? Soll für einen hier lebenden Deutschen, der seine in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden deutschen Verwandten nach 1972 beerbt, nur das polnische konfiskatorische Erbrecht gelten, oder ist dieses polnische Erbrecht schon seit 1945 bindend? Gab es die klare, das Faustrecht — das Wort stammt von Ihnen, Herr Wehner — nicht hinnehmende Rechtsverwahrung gegen die Massenvertreibung als Verwahrung gegen eine schwere Verletzung des Besatzungsrechts und des Völkergewohnheitsrechts oder als eine Rechtsverwahrung nur gegen eine innerstaatliche Ausweisung aus Polen? Warum sollen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9965
Dr. Czajadie hiesigen Gerichte nur nach polnischem öffentlichem und privatem Recht gegenüber hier befindlichen Deutschen, die Anliegen drüben zu vertreten haben, urteilen?Meine Damen und Herren, vorrangig verlangen die betroffenen Menschen die schrittweise und zumutbare Wiederherstellung aller verletzten personalen Rechte. Viele fragen aber auch, was die Regierung bei der jetzt geforderten Ratifizierung oder bei weiteren langen Verhandlungen mit der Entschädigung der Vermögensverluste der Ostdeutschen vorhabe. In der Präambel des Lastenausgleichsgesetzes sind der Übergangscharakter und der Vorbehalt der Rückgabe der Entschädigung des verlorenen Vermögens verankert. Solange die Bundesrepublik sich nicht selbst ihrer politischen und Rechtspositionen in bezug auf unsere Heimat begibt, mag dies gelten. Wenn sie dies aber tut und nicht gleichzeitig ihre Schutzpflichten für das in der Heimat entzogene Eigentum erfüllt, muß sie für die unterlassene Schutzpflicht entschädigen, und zwar vor allen anderen bestehenden wesentlichen Leistungen an das Ausland.Wie steht es um die mehr als eine Million Deutschen in den Oder-Neiße-Gebieten? Hat man die Durchsetzung der Schutzpflicht nunmehr, da man einen Vertragszustand will, erreicht? Nein, man hat sie nicht erreichen können. Die Antwort auf die Anfrage der CDU/CSU über die Folgen der Ostverträge gibt zu, daß für die Zeit nach einer eventuellen Ratifikation überhaupt keine vertraglichen Schutzmöglichkeiten für deutsche Staatsangehörige in diesen Gebieten bestehen. Wenn das so ist, dann hätte man so weder politisch noch sittlich, noch verfassungsmäßig die Berechtigung gehabt, Inland zu Ausland zu machen. Es gibt auch eine Treuepflicht des Staates, seinen Bürgern bei so fundamentalen Verträgen diplomatischen Schutz zu sichern.
Ohne die Festschreibung dieser Gebiete als Ausland gab es fast besser funktionierende Handelsabkommen als jetzt. Für die Lieferung von Getreide durften 1957 über 100 000 Deutsche aussiedeln. Damals hat man auf Oberregierungsrats- und Ministerialratsebene verhandelt. Das war das Vierfache von 1971. 1958 waren es 120 000 Deutsche, also das Fünffache der jetzigen Zahl. Auch danach waren die Zahlen noch beachtlich. Sie gingen 1969/70 im Vorfeld dieser Verhandlungen zurück, damit dann für 1971 — nicht von unserer, sondern von anderer Seite — etwas vorgezeigt werden konnte.Seit Oktober 1971 gehen die Zahlen wieder rasch zurück. Die Familienzusammenfuhrung erfuhr keine Verankerung im Vertragswerk. Man beschränkte sich, wie es in der Denkschrift wörtlich heißt, auf eine einseitige Information. Dabei ist die Wiederherstellung grundlegender Menschenrechte keinerlei Vorleistung. Keine Option, kein Recht auf freie Entfaltung der kulturellen Interessen des deutschen Lebens, der einzelnen und der Volksgruppe! Kein Recht auf freien Gebrauch der Muttersprache in der Erziehung, in der Öffentlichkeit, im religiösen Bereich! Kein freier Zusammenschluß in den Vereinen, kein Recht auf freie Berufswahl, kein Recht aufFreizügigkeit und freies Zusammenleben der Familien, keinerlei Wahrung deutscher Grundrechte!Meine Damen und Herren, was antworten wir auf die Tausende von Briefen derer, die zum 10. oder 15. Mal Antrag auf Aussiedlung gestellt haben, denen das aber abgelehnt wurde, die arbeitslos gemacht wurden, die keine Arbeitsabgabebescheinigung bekommen, die in der Öffentlichkeit und im Gottesdienst nicht deutsch reden dürfen, die aber Spießruten laufen müssen, um sich zu rechtfertigen, daß sie sich als Deutsche zur Aussiedlung bekannt haben?
Wie wollen Sie nach der Ratifikation jenen dort lebenden Deutschen, die, wie unser Innenminister angibt, unter Zwang die polnische Staatsangehörigkeit beantragen müssen, den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit wie bisher sichern? Ist es nicht die vorrangige sittliche und politische Pflicht, bei Abschluß internationaler Verträge die am meisten bedrängten Staatsangehörigen zu schützen? Können wir zu einem neuen übersteigerten Nationalismus deshalb schweigen, weil der Nationalsozialismus noch viel Furchtbareres und viel Brutaleres begangen hat, zu dem ich nie geschwiegen habe, gegen das ich mich damals, als es einzutreten galt, gestellt habe? Ich habe dann auch das Recht, nicht zu schweigen, wenn deutsche Rechte und Menschenrechte gebrochen werden.
Das Stiften von Frieden kann man nicht von der Verwirklichung der Menschenrechte trennen. Zum Friedenstiften trägt jener bei, der auch zur Verwirklichung der Menschenrechte beiträgt. Wäre es für den humanitären Bereich nicht sinnvoll gewesen, mit Polen den Wortlaut der UNO-Konvention über die bürgerlichen und politischen Menschenrechte als vorerst zweiseitig geltenden Vertrag schon jetzt zu vereinbaren?Ich wollte noch auf das Verhältnis zwischen unseren Bündnisverträgen und den jetzt zur Debatte stehenden Verträgen eingehen. Dazu fehlt die Zeit. Ich möchte nur die Frage aufwerfen: Müßten wir nicht täglich, wie es Adenauer noch tat, unsere Verbündeten daran erinnern, daß auch in Zukunft ohne Einfügung berechtigter deutscher Interessen und einen für die Deutschen tragbaren Ausgleich in das Werk europäischer Einigung eine echte, auf Dauer bestehende europäische Befriedung nicht aussichtsreich erscheint?Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich so gegen die politischen und die rechtlichen Tendenzen dieses Vertrages gesprochen habe, so lehnen wir keineswegs den glaubwürdigen, dauerhaften, tragbaren und gerechten Ausgleich mit dem polnischen Volk ab.
Ein Vertrag, der dem einen alles gibt und dem anderen alles nimmt, ist ein reiner Siegfrieden und auch fur das polnische Volk nicht glaubwürdig.
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9966 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. CzajaNirgends in Polen herrschte Begeisterung über die Unterschrift. Acht Tage danach kam es zu Unruhen wegen der wirtschaftlichen Existenznot. Diese Existenznot wurde also nicht überschattet durch die Begeisterung über einen nationalen Erfolg. Viele Polen wollen auch nicht ihren Staat wie eine Schachfigur von Ost nach West verschoben sehen. Viele in Polen fürchten, daß sich ihre großen Nachbarn wieder über die Köpfe des polnischen Volkes hinweg diesmal unter russischer Führung geeinigt haben. Alle an dem Vertrag mitwirkenden Politiker in Polen sind inzwischen in der Versenkung verschwunden. Es ist kein gutes Omen für diesen Vertrag. Dem polnischen Volk ist mehr mit der Überzeugung geholfen, daß viele Deutsche eingesehen haben, daß sie ebenso um ihre eigenen Rechte ringen müssen, wie sie gleichzeitig — das tue ich, und dazu bekenne ich mich ja wiederholt öffentlich — des Nachbarvolkes Würde, Lebens- und Entfaltungsrechte und sein Sicherheitsbedürfnis zu achten haben.Vielleicht ist für beide nicht eine nationalstaatliche Restauration in alten Formen möglich. Viele Ostdeutsche wissen, daß einmal eine in Freiheit denkbare Zusammenarbeit der Deutschen in ihren Heimatgebieten nur möglich ist in Formen der gemeinsamen Wiederaufbauarbeit und schrittweisen Ausschaltung früherer Irrtümer und Gegensätze. Im Augenblick ist aber für Polen eine eindeutige, von breitesten Schichten der Bevölkerung getragene Garantie gegen jede Gewalt — auch da möchte ich mich offen zu einer Frage von Herrn Ehmke bekennen —, verbunden mit einer rascheren wirtschaftlichen und technologischen Hilfe — ich sage das sehr bewußt, und ich sage das nur auf meine Verantwortung —, auch unter finanziellen Opfern, aber nicht nur zu Lasten der Ostdeutschen, glaubwürdiger als dieser Vertrag. Die Heimatvertriebenen, die besonders unter dem Grauen des Krieges gelitten haben, wollen einen wirklichen Frieden. Wir wissen auch um die Großmachtstellung Rußlands; wir achten seine Interessen, jedenfalls solche, die die Selbstbestimmung und die Freiheit anderer und unseres eigenen Volkes nicht bedrohen.
Meine Damen und Herren, wenn eine wirkliche Befriedung und nicht nur eine Hegemonie unter dem Zwang der weltpolitischen Ereignisse an dieser europäischen Flanke Rußlands einmal im ureigensten Interesse dieser Großmacht liegen würde — ich glaube, das ist möglich —, könnte Mittelosteuropa und Ostdeutschland ein Raum gesicherten und in Freiheit sicheren Zusammentreffens und Wettbewerbs vieler Interessen werden.Durch diese Verträge wird das Buch der Geschichte für eine wirkliche Aufarbeitung jahrhundertealter Gegensätze, für eine enge Zusammenarbeit in einer wirklich freiheitlichen europäischen Friedensordnung zwischen Deutschen und Polen nicht geschlossen. Wir werden uns, solange uns die Freiheit gegeben ist, um die Ablehnung ungerechter Verträge, aber auch um Recht und Gerechtigkeit für die anderen und für die Deutschen bemühen. Wir werden — komme es bei der Ratifizierung wie immer — im legalen Ringen um eine friedliche Wendung zu einem wirklichen, zu einem tragbaren, zu einem gerechten und ehrlichen Ausgleich verharren; denn, meine Damen und Herren — das sage ich in Realismus: nichts ist endgültig geregelt, es sei denn für die beteiligten Völker einigermaßen gerecht geregelt!
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Ablauf der Plenarsitzung noch mitteilen, daß wir die Debatte bis etwa 15 Uhr weiterführen. Anschließend findet die Fragestunde statt.
Das Wort hat nunmehr der Herr Abgeordnete Dorn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen sehr deutlich einen Satz zurückweisen, der vorhin hier ausgesprochen worden ist, nämlich den Satz, daß nunmehr zum zweiten Male Russen und Deutsche über das Schicksal Polens entschieden. Meine Damen und Herren, wer die Entscheidung dieser Bundesregierung, Verträge mit der Sowjetunion und mit Polen abzuschließen, vergleicht — wie das gestern schon einmal getan wurde — mit dem Abkommen, daß damals zwischen Herrn Ribbentrop und seinen Gesprächspartnern geschlossen wurde, hat den Sinn dieses Abkommens in seinem materiellen und seinem moralischen Inhalt überhaupt nicht verstanden.
Herr Kollege Czaja hat gesagt, die Grundlagen der Friedensordnung von 1944 seien hier so schnell abgeschrieben worden und über die Grenzen von 1937, so hat er gesagt, würde hier nicht diskutiert. Herr Kollege Czaja, Herr Strauß hat gestern den Satz gesagt:Diese Verträge sind der Bruchpunkt auf der Straße des Unheils.Wenn man Ihre Ausführungen unter demselben Aspekt sähe, käme man sehr wahrscheinlich zu dem gleichen Ergebnis. Nur wäre es, glaube ich, sinnvoll, daß Herr Strauß und Sie sich dann auch an das erinnerten, was der Kollege Strauß am 5. Juli 1970 in einem Interview mit der „Welt am Sonntag" zu dieser Frage geäußert hat. Der Journalist fragte ihn:Herr Abgeordneter Strauß, und wie ist es mit der Oder-Neiße-Linie? Glauben Sie, daß sich daran noch etwas ändern läßt?Herr Strauß antwortete folgendermaßen:Eine neue Vertreibung von Menschen kommt für mich nicht in Frage.
Außerdem ist diese Frage gegenstandslos. Wenn heute Gomulka und Husak den vertriebenen Deutschen die Rückkehr in die Heimat anbieten würden, ohne daß sich an den dortigen Verhältnissen etwas ändert, dann kämeDorndoch keiner außer einer Handvoll Desperados oder Schwärmer.
— Herr Kollege Stücklen, richtig! Ohne daß sich daran etwas ändert! Nun frage ich Sie ernsthaft: Können wir daran etwas ändern? Glauben Sie, daß die Bundesrepublik an den innenpolitischen Verhältnissen Polens etwas ändern könnte? Oder wollen Sie es?
Wenn Sie es wollen, dann sagen Sie es! Ich meine also, daß das, was hier in den letzten zwei Tagen mehrfach geschehen ist und was auch heute morgen bei der Rede des Kollegen Barzel wieder anklang, doch mehr als problematisch ist.Der Kollege Eppler hat gefragt: Was soll eigentlich die Methode der dauernden Unterstellung von Behauptungen und Argumenten gegenüber dem, was die Bundesregierung hier ausgesagt hat? Ich meine, hierin liegt ein eindeutiges System. Die Opposition will, daß die Bevölkerung in diesem Staate überhaupt nicht konkret erfährt, was in diesen Verträgen steht. Denn sonst würde sie, wie der Kollege Achenbach das gestern deutlich gemacht hat, sehr schnell zu der Überzeugung kommen, daß von all den Unterstellungen der Oppositionsfraktion zu diesem Abkommen nichts mehr übrig bleibt. Und die Opposition weiß das auch; denn sie kann ja auch lesen. Sie kann also auch nicht über das hinweglesen, was in diesen Verträgen steht. Ich meine also, die Koalitionsfraktionen und diese Bundesregierung werden im Laufe der Beratungen im Ausschuß und auch bei der zweiten und dritten Lesung keinen anderen Weg beschreiten können, als sie ihn in den letzten zwei Tagen und heute beschritten haben, nämlich deutlich zu machen, daß gegenüber der Initiative dieser Friedens- und Entspannungspolitik eine Alternative nicht vorhanden und auch nicht sichtbar geworden ist.Nun, meine Damen und Herren, könnte man natürlich, wenn man sich die Argumente der Kollegen Amrehn und von Weizsäcker noch einmal vergegenwärtigt, vielleicht auf die Idee kommen — auch wenn man an die Rede des Kollegen Stücklen denkt —, es gäbe so etwas wie einen Ansatz von politischer Alternative zu diesen Verträgen. Ihr Kollege Strauß hat einige Ideen dazu geäußert. Aber zu einem Antrag der Fraktion der CDU/CSU ist es ja wohl nicht gekommen, vielleicht auch deswegen, weil man sehr schnell erkannt hat, wie wenig realistisch das ist, was Sie selber ausgearbeitet und dann der staunenden Öffentlichkeit verkündet haben.
— Ach, Herr Kollege Stücklen, Sie können doch auf Dauer einfach nicht mit diesen Unterstellungen arbeiten wollen, weil jedem sichtbar wird, daß all das, was angeblich nach Ihren dauernden Zwischenrufen in diesem Vertrag nicht drinsteht, eindeutig im Vertragstext und in den Anlagen des Vertragesenthalten ist. Sie arbeiten doch ständig mit Unterstellungen, die an der Sache völlig vorbeigehen.
— Herr Kollege Stücklen, das ist keine Polemik, sondern das ist eine Feststellung, die ich auch noch einmal durch ein Zitat des sowjetischen Außenministers Gromyko — damit es nicht nur die einseitige Feststellung der Bundesregierung bleibt, sondern auch die Bestätigung durch die Sowjetunion noch einmal deutlich wird — vortragen will. Gromyko hat zur Frage des Interventionsanspruches gesagt:Die zweite ... Frage, in der wir Ihnen entgegengekommen sind, ist der Gewaltverzicht unter Berücksichtigung der UNO-Satzung. Wir verstehen Ihr Interesse an dieser Frage. Die Geschichte kann man nicht widerrufen. Aus ihr folgte eine Bestimmung der UNO-Satzung. Wir haben uns trotzdem entschlossen, mit Ihnen einen Gewaltverzicht abzuschließen, d. h. die Verpflichtung zu übernehmen und sie zu ratifizieren. In dem von uns angenommenen Text steht das Wort „ausschließlich" . Wir haben keinerlei Ausnahmen vorgesehen. Das ist unsere Antwort auf Ihre innenpolitische Diskussion. Ich betone erneut das Wort „ausschließlich". Glauben Sie, daß das für uns nur ein Fetzen Papier ist? Das ist es nicht.Das, was die Bundesregierung durch den Kanzler und den Außenminister hier vorgetragen hat, ist also auch von dem Vertragschließenden auf der anderen Seite noch einmal deutlich bestätigt worden.Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben einige Ihrer Sprecher ihr ganzes Engagement spürbar gemacht, indem sie hier immer vorgetragen haben — sowohl der Kollege Marx wie der Kollege Amrehn —, daß der Einfluß der Sowjetunion auf die Bundesrepublik Deutschland, auch in der Frage des Generalkonsulats in West-Berlin, aber auch der Einfluß der Kommunisten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland durch diese Vertragsabschlüsse gestärkt worden sei. Nun, meine Damen und Herren, ich kann nur noch einmal feststellen, daß das weder für Berlin noch für die Bundesrepublik Deutschland stimmt. Hier spreche ich den Kollegen Barzel an, der sich entschuldigt hat, daß er im Moment nicht hier sein kann; trotzdem möchte ich es noch einmal vortragen. Ich habe schon einmal von dieser Stelle hier mit ihm darüber diskutiert.Wer von dieser Stelle aus nach Abschluß dieser Verträge erklärt, daß der Einfluß der Sowjetunion durch die Errichtung eines Generalkonsulats in West-Berlin enorm gestärkt worden sei, muß sich die Frage gefallen lassen, ob nicht seine eigenen politischen Vorstellungen, die er am 17. Juni 1966 in Washington und New York vortragen wollte, dies noch vielmehr in die Diskussion werfen können, als es mit dem Generalkonsulat geschehen sein kann. Der Kollege Barzel wollte damals in Amerika — in seinem Redeentwurf steht es — sagen: -
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9968 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
DornAuf dem Boden eines wiedervereinigten Deutschlands könnte im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems Platz auch für die Truppen der Sowjetunion bleiben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer eine solche Erklärung abgibt, wer eine solche Konzeption hat, der muß sich doch einfach die Frage gefallen lassen, ob die Unterstellung mit dem politischen Einfluß des Generalkonsulats in West-Berlin nicht nur noch eine Begründung sein kann, um das eigene schlechte Gewissen in dieser Frage zu übertönen.
Ich möchte noch mit einem weiteren — so hoffe ich — Mißverständnis, wenn nicht mit einem gefährlichen Beispiel einer Verfälschungsmethode aufräumen. Der Kollege Marx hat gestern ein typisches Beispiel dafür geliefert, mit welcher Methode die Opposition hier vorgeht. Er hat gesagt:In unserer Großen Anfrage ... haben wir auf die sehr ernste Situation aufmerksam gemacht, die sich aus dem ganz unterschiedlichen Verständnis der Verträge in Moskau und in Bonn ergibt.Und dann hat er gesagt: entweder sei das „kein Dissens" — dann sei es „objektiv falsch" —, oder es sei eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit. Und er sagte weiter, es sei eine Zweideutigkeit des Bundesaußenministers.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das Methode wird, dann darf ich Ihnen an dieser Stelle für uns Liberale sagen, daß zusammen mit der jetzigen Opposition auch die Fraktionen der Koalition — und dabei waren die Sozialdemokraten noch viel aktiver als manche anderen, die heute lauthals in dieser Richtung tönen —, dafür gesorgt haben, daß der rote Marxismus aus der DDR nicht in die Bundesrepublik übertragen werden konnte. Aber ich sage Ihnen: Wir werden uns genauso dagegen wehren, daß der schwarze Marxismus aus Kaiserslautern hier politische Grundfesten beziehen kann.
Denn, Herr Kollege Marx, was Sie hier mit bewußter Irreführung, mit Unterstellung, mit Zweideutigkeit in Ihrer Rede angesprochen haben,
— ist Heuchelei — da haben Sie völlig recht, Herr Kollege Jahn —, ist eine vollkommene Heuchelei. Denn das, was Sie hier angesprochen haben, hat ja die Oppositionsfraktion in ihrer Großen Anfrage gefragt. Sie hat dort im zweiten Absatz der ersten Frage geschrieben:Wird die Bundesregierung in Verhandlungen mit der sowjetischen und polnischen Regierung diesen Dissens über den wesentlichen Inhalt der Verträge vor der Einleitung des Ratifikationsverfahrens ausräumen?Die Antwort der Bundesregierung war Ihnen ja früh genug bekannt, so daß Sie hier diese Unterstellung eigentlich gar nicht mehr hätten vornehmen können. Die Bundesregierung hat nämlich geantwortet:Über die Auslegung der Verträge von Moskau vom 12. August 1970 und von Warschau vom 7. Dezember 1970 besteht zwischen den Vertragspartnern kein Dissens, der die Bundesregierung veranlassen könnte,
in erneute Verhandlungen mit der sowjetischen und der polnischen Regierung einzutreten.
Herr Abgeordneter Dorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jaeger?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Ich möchte zum Ende meiner Rede kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da kommt der zweite Gesichtspunkt, der immer wieder anklingt, indem Sie sagen, was zwischen der Bundesregierung und den westlichen Verbündeten an Vereinbarungen bestehe, sei gar nicht so. Es wird dann immer in Zweifel gezogen. Wenn ich die Erwiderung des Kollegen Barzel auf das, was der Bundeskanzler vorgetragen hat, noch recht in Erinnerung habe, hat er die Dinge auch dabei wieder zweimal in Zweifel gezogen. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal ein Wort sehr neuen Datums aufgreifen, damit diese Dinge endgültig ausgeräumt werden. Pompidou hat in seiner Abschlußrede beim deutsch-französischen Konsultationstreffen am 11. Februar 1972 in Paris, also vor nicht allzu langer Zeit, folgendes erklärt:In der Frage .der Beziehungen zum Osten haben wir festgestellt, daß es zwischen der Politik der Bundesregierung und der französischen Politik in diesem Bereich einen vollkommenen Gleichklang gibt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird weder Ihnen hier in diesem Hause noch außerhalb dieses Hauses möglich sein, uns und unsere Bündnispartner des Westens durch Ihre Argumentation auseinanderzudividieren.Ich möchte, nachdem ich die Debatte zwei Tage lang aufmerksam verfolgt habe, zu dem, was zum Schluß für mich als Erkenntnis übrigbleibt, sehr deutlich etwas sagen: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben versucht, die Argumente, die seit vielen Monaten in der Öffentlichkeit bekannt sind, noch einmal zu wiederholen — es ist Ihr gutes Recht, das zu tun —, aber die Argumente sind auch durch ständiges Wiederholen nicht überzeugender und glaubwürdiger geworden.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9969
DornWir, Herr Kollege, haben uns bemüht, nicht nur auf Ihre Große Anfrage eine Antwort zu geben, sondern wir haben darüber hinaus die Argumentationen, die für die Begründung der Verträge notwendig sind, noch einmal wie auch in den vergangenien Monaten, und wie es auch im Bundesrat der Fall gewesen ist — da bin ich mit Ihnen einig —, in aller Deutlichkeit vorgetragen. Übrig bleibt eigentlich eines: für uns alle gemeinsam, meine sehr verehrten Damen und Herren, bleibt übrig, uns an die Drucksache zu erinnern, die Grundlage der Beratung dieser letzten Tage gewesen ist. In dieser Drucksache steht auf dem Vorblatt:A. ZielsetzungDer Vertrag ist ratifizierungsbedürftig ...B. LösungDer Entwurf trägt diesem Erfordernis Rechnung. Er enthält das Vertragsgesetz mit Begründung, den Text des Vertrages in deutscher und russischer Sprache sowie die Texte der dazu gehörigen Urkunden und die Denkschrift zum Vertrag nebst Anlagen.Und jetzt kommen zwei vielleicht auch für die Opposition noch interessante Bemerkungen auf diesem Vorblatt:C. Alternativen keineDas ist in den letzten zwei Tagen noch einmal sehr deutlich geworden.
— „D. Kosten", Herr Kollege von Wrangel — auch das ist vom Bundeskanzler und vom Außenminister noch einmal deutlich gemacht worden —: entgegen den ständig erhobenen Unterstellungen innerhalb und außerhalb dieses Hauses: „keine".
— Ja, Herr Kollege Becher, wir wissen das. Wir wissen das, und Sie bestätigen das durch Ihren Zwischenruf noch einmal sehr deutlich. All das, was an Unterstellungen in diesem Bereich auch in Zukunft von Ihnen erhoben wird — etwas anderes erwarten wir von Ihnen gar nicht —, wird dadurch nicht glaubwürdiger. Was hier vereinbart worden ist, ist ' klar und deutlich. Es ist für unser Volk vertretbar, weil es die einzige Chance bietet, Frieden und Zukunftserhaltung für dieses Volk und für diese Nation zu garantieren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Katzer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte noch einige Bemerkungen zu dem machen, was der Herr Kollege Eppler vorhin gesagt hat. Er meinte, es wäre für ihn bedrückend, wenn er die Diskussion
über das Selbstbestimmungsrecht verfolge. Er fügte hinzu: Es gibt kein Volk ohne Selbstbestimmungsrecht. Herr Kollege Eppler, ich bin erschrocken über die mögliche Wirkung Ihrer Aussage, denn ich kenne ein Volk ohne praktisches Selbstbestimmungsrecht, nämlich das in Mitteldeutschland.
Uber diese Position möchte ich Klarheit.
Herr Kollege Eppler, Sie haben als zweites gesagt, durch diesen Vertrag würde keine Kompanie weniger in Deutschland stehen. Allerdings weiß ich nicht, ob Sie das sehr freut, denn wenn ich Ihre bisherige Politik verfolge, so komme ich zu der Meinung, daß Sie sich darüber gefreut hätten, wenn es eine weniger gäbe. So war doch Ihre bisherige Politik im Hinblick auf diese Fragen.
Als drittes, Herr Kollege Eppler, haben Sie gesagt: Stimmt denn eigentlich das noch, was vor vier Jahren in der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland gesagt worden ist? Stimmt denn das noch, was vor vier Jahren war? Herr Kollege Eppler, ich muß Ihnen leider sagen: Nein, es stimmt nicht mehr mit der Politik der Bundesregierung überein; denn die Bundesregierung, die sich — mit den Stimmen der SPD — noch am 30. Mai 1969 klar und eindeutig für das Selbstbestimmungsrecht ausgesprochen hat, geht heute von dieser Linie ab. Das ist das Ergebnis der Diskussion.
Herr Abgeordneter Katzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Eppler?
Ja, selbstverständlich!
Herr Kollege Katzer, wollen Sie in allem Ernst sagen, daß die Deutschen in der DDR kein Selbstbestimmungsrecht hätten,
oder sind Sie nicht vielmehr mit mir der Meinung, daß sie dieses Selbstbestimmungsrecht genauso haben wie wir, daß" es ihnen nur im Augenblick verwehrt ist?
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Aber Herr Kollege Eppler, sie haben praktisch dieses Selbstbestimmungsrecht nicht. Das ist doch der entscheidende Punkt in dieser Diskussion, um den es geht.iAbg. Seiters: Herr Eppler, werden Sie dochnicht spitzfindig! — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das heißt mit anderen Worten:Können sie es ausüben oder nicht?)Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Zwischenbilanz eine Offerte an die Opposition gerichtet. Herr Außenminister, vielleicht können Sie in Vertretung des Bundeskanzlers diese Fragen aufnehmen. Die Art, wie der Bundeskanzler die Dinge dargestellt hat, war zwar an sich ganz sympathisch, aber die Ermahnungen, die an die Adresse der Opposition
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9970 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Katzergerichtet wurden, waren für mein Empfinden etwas einseitig. Ich meine, wenn der Bundeskanzler diesen oder jenen Kollegen von der Opposition bittet, dieses oder jenes gesprochene Wort zu überdenken, sollte er auch den Mut haben, seine eigenen Fraktionskollegen zu ermahnen, wenn sie hier unsere Fraktion diffamieren, indem sie sie in die Nähe von Deutschnationalen bringen, von denen wir wissen, was für eine unheilvolle Rolle sie gespielt haben.
Ich hätte sehr gewünscht, daß der Herr Bundeskanzler dazu ein klares Wort gefunden hätte — und ebenso zu dem Zwischenruf, den Sie, Herr Kollege Wehner, sich gestern erlaubt haben und der meines Erachtens über das hinausgeht, was im Parlament statthaft ist.
Ich hätte es sehr gern gesehen, wenn dieser Zwischenruf vom Sportpalast nicht gekommen wäre, der die schmerzliche Erinnerung wachruft für uns alle, für Sie noch mehr als für uns, die wir damals jünger waren; nur darin liegt der Unterschied. Da er gefallen ist, hätte ich es gern gesehen, wenn man in hätte korrigieren können.Der Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Ausführungen dann davon gesprochen, man solle in dieser Debatte keine Vermischung von Innen- und Außenpolitik vornehmen. Ganz abgesehen davon, daß das im Gegensatz zu dem steht, was der Herr Außenminister in seiner Rede dargetan hat, der ausdrücklich auf eine Rückwirkung von Innen- und Außenpolitik hingewiesen hat, hat der Herr Bundeskanzler offenbar auch übersehen, daß in dieser Sitzung auch das Thema „Bericht zur Lage der Nation" ansteht, und dazu gehört selbstverständlich auch die Situation in unserem Deutschland. Herr Kollege Schmidt hat in seiner bemerkenswerten Rede von gestern einen Satz gesagt, der eigentlich zu meiner großen Unbefriedigung von seiten der Regierungskoalition nicht richtig gewertet wurde, nämlich den Satz, daß er diese Politik zwar aus voller Überzeugung unterstütze, daß dies alles aber. eine sehr wesentliche Voraussetzung habe: daß die freiheitlich-demokratische Grundordnung in unserem Lande gefestigt werde.
Das scheint mir in der Tat ein wesentlicher Aspekt zu sein, der in der bisherigen Diskussion noch zu kurz gekommen ist.Wenn ich das Fazit der bisherigen Diskussion ziehe, dann werden politische Ziele durch die Hoffnung auf einen sich gleichsam automatisch abspielenden zukünftigen Prozeß ersetzt. Die Theorie vom Wandel durch Annäherung, die sogenannte Konvergenztheorie, glaubt, daß sich durch eine Verstärkung der Beziehungen mit den kommunistischen Ländern auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben könne, die auf lange Sicht auch zu einer Annäherung der Staaten führe. Ich möchte — ich habe das früher schon getan und möchte das heute nachdrücklich wiederholen — vor dieser These warnen. Gesellschaftsordnungen sind bei aller Anerkennung des Einflusses von Faktoren, die wenig steuerbar sind, wie etwa der technologische Fortschritt, doch im wesentlichen durch bewußte und gewollte Entscheidungen geprägt.
Ludwig Erhard ist das lebendige Symbol für eine so gewollte und bewußte Entscheidung. Das gilt für unsere Ordnung, die ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaftlichkeit erstrebt. Und auch für die Gesellschaftsordnung im anderen Teil unseres Deutschlands gilt, daß sie das Ergebnis einer bewußten und gewollten Entscheidung ist, freilich nur von wenigen. Ich wehre mich also gegen die etwas naive Vermutung, zwei Gesellschaftssysteme würden sich mehr oder weniger von selbst
auf einer dritten Ebene treffen,
so wie eine rote und eine blaue Flüssigkeit violett ergeben, wenn man sie nur richtig miteinander mischt.
Wenn wir eine gesellschaftliche Ordnung wollen, so meinen wir mehr Freiheit, mehr Chancengleichheit, mehr Gerechtigkeit für den einzelnen Bürger unseres Landes.
Wir meinen nicht die Gleichheit auf Kosten der Freiheit; darin liegt der Qualitätsunterschied zum System im anderen Teil unseres Vaterlandes.Diese Besinnung auf die Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung in einem objektiven, d. h. wirklichkeitsbezogenen Vergleich der Systeme scheint mir in dieser Stunde not zu tun, denn die Politik der Bundesregierung, die von der These „Wandel durch Annäherung" ausgeht, trifft zeitlich zusammen mit ersten beachtlichen Erfolgen neomarxistischer Gruppen, die den langen Marsch durch die Institutionen angetreten haben.
Ich möchte hier nicht die Frage eines Ursachen- und Wirkungszusammenhangs untersuchen. Es gibt ja auch andere Länder mit ähnlichen Erscheinungen, die nicht die nationalen Probleme unseres Landes haben. Aber wahr bleibt: unsere gesellschaftliche Ordnung wird nur dann bestehen, wenn alle demokratischen Kräfte die Grundpositionen der freiheitlichen Demokratie anerkennen, ausbauen und stärken.
Das scheint mir das, was in dieser Stunde nottut.Herr Kollege Scheel, wenn ich den Schluß Ihrer Eingangsrede, die ich sehr gut verfolgt habe, lese und wenn ich mir dann Ihre Feststellung vor Augen halte: „Wenn ich heute schon wieder Flugblätter in die Hand gedrückt bekomme, in denen ein größerer Lebensraum für Rumpfdeutschland, wie es heißt, gegen Polen verlangt wird, schaudert midi" — Herr Bundesaußenminister, verehrter Herr Kollege Scheel, mich schaudert auch, wenn ich das sehe —, dann,
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Katzerentschuldigen Sie bitte höflich, muß ich Ihnen sagen: mir graut noch mehr vor der Einseitigkeit der Betrachtung des Außenministers, der diese Flugblätter von doch lächerlichen Gruppen unseres Volkes als ernst erwähnt und die Realitäten in unseren Betrieben und Hochschulen einfach unausgesprochen läßt. Das scheint mir eine Disparität zu sein.
Wer den offenen Brief von Karl Steinbuch — — Es ist ja hier immer wieder gesagt worden: Gott, die Christlichen Demokraten zitieren mit Vorliebe verstorbene Sozialdemokraten und FDP-Leute. Umgekehrt geschieht es ja auch; ich habe Worte Konrad Adenauers nodi nie so oft auf den Lippen der SPD-Kollegen gehört wie in dieser Debatte. Das braucht ja gar nicht schlimm zu sein, das finde ich sehr gut, das finde idi gar nicht schlecht. Aber jetzt zu den Lebenden. Wer den offenen Brief von Karl Steinbuch an den Bundeskanzler gelesen hat — ich bin sehr traurig, daß die Zeit nicht mehr reicht, diesen Aspekt noch zu vertiefen —, der kann doch einfach diese Sorge nicht aus dem Auge lassen. — — Da wird natürlich sofort von Ihnen, Herr Außenminister, gefragt: Was hat das mit den Verträgen zu tun? Ist das ein ursächlicher Zusammenhang? Ich habe vorhin ausdrücklich betont, daß man den nicht so unbedingt herstellen kann, daß wir aber die zeitliche Gleichmäßigkeit dieser Erscheinungen als Realität — um Ihren Sprachgebrauch aufzunehmen — sehen müssen und daß wir uns darauf einzustellen haben.
Wer diesen Brief gelesen hat und die Entwicklung verfolgt, der kann doch nicht sagen, das seien Erfindungen reaktionärer Kräfte oder was weiß ich. Denn soweit ich weiß, ist Herr Professor Steinbuch einer derjenigen gewesen, der die Wählerinitiative der SPD für diese Bundesregierung mit unterschrieben hat.
Idi würde Herrn Ehmke also empfehlen, wenn er unseren verehrten Herrn Kollegen Simpfendörfer hier zitiert — was mich sehr freut, denn er ist ein alter Freund von mir, und wir sind in unserer Union freiheitlich genug, um jedem seine Meinung gerne zu lassen -, daß er dann bitte auch Herrn Professor Steinbuch mit auf Ihre Linie nimmt und das, was da gesagt ist, sehr ernst in Ihre Diskussion einbezieht.Ich will die Dinge nicht dramatisieren, aber ich glaube, es ist kein Zweifel daran erlaubt, daß es in der Bundesrepublik in diesem Augenblick, wo wir hier diskutieren, eine zunehmende Zahl von Menschen gibt, die ihre Vorstellungen von der Ordnung unserer Gesellschaft nicht mehr mit den von unserer Verfassung vorgesehenen Mitteln durchsetzen wollen, sondern mit Gewalt und mit Druck. Wer die Betriebsratswahlen, die Vorbereitungen und das, was sich in den Betrieben alles tut, in diesem Zusammenhang sieht, wer die zunehmende Aktivität kommunistischer Betriebsgruppen verfolgt, der könnte sich eigentlich nur wünschen — das sage ich sehr deutlich an die Adresse der sozialdemokratischen Fraktion —, daß wir bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen, die in den Grundsatzpositionen hierheute dargestellt sind, in dieser Frage zusammenstehen; ich meine das Zusammenstehen der demokratischen Kräfte, wenn es darum geht, die Radikalinskis von rechts und von links zu bekämpfen
und dies als eine gemeinsame Aufgabe ansehen. Wenn es Gewalt statt demokratischer Verfahren heißt, sind alle Demokraten zu einem gemeinsamen klaren Nein aufgerufen. Aber mehr noch als die Methoden dieser Radikalen beunruhigt im Zeitpunkt dieser ostdeutschen Debatte das Ziel dieser radikalen Aktivität, gleicht doch die von diesen Gruppen erstrebte gesellschaftliche Ordnung der kommunistischen Ordnung oft wie ein Ei dem anderen, und hier liegt nach meinem Empfinden die Gefahr der Parallelität dieser innenpolitischen Entwicklung mit der außenpolitischen Öffnung nach dem Osten. Diese Gefahr müssen wir rechtzeitig sehen; ihr müssen, wenn es auf uns ankommt, alle Demokraten gemeinsam rechtzeitig zu begegnen wissen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Schmid.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kein Vergnügen, am Ende einer Debatte, in der so viele bedeutende Redner gesprochen haben und von beiden Seiten Beachtenswertes gesagt worden ist und ein erstaunliches Ausmaß von Detailkenntnissen entfaltet wurde, noch zu sprechen. Ich komme mir vor wie jemand, der das Schlachtfeld aufzuräumen hat. Auch das hat seine Ehre; nur ist sie ein bißchen melancholischer als anders zu erwerbende.Nun, ich will nicht — idi kann es aus gar nicht — den bisher vorgebrachten Argumenten neue hinzufügen. Alles Für und Wider ist wohl gesagt worden. Aber vielleicht empfiehlt es sich doch, an einiges zu erinnern, was dazu geführt hat, daß wir heute zu dieser Debatte gezwungen sind. Ich will dabei nicht Kreml-Astrologie entwickeln. Idi will auch keine neuen Zitate bringen. Apropos Zitate: Sie können von jedem von uns, von mir auf jeden Fall, eine Menge Zitate bringen, die anders lauten als das, was idi Ihnen heute zu sagen habe. Denn das Leben ist kein Gang durch freies Feld, die Politik noch weniger. Man kann sein Ziel frei aufstekken und alles tun, um auf das Ziel zuzugehen; aber auf diesem langen Marsch schwemmt einem die Geschichte Treibsand, Gestein und Geröll vor die Füße, das uns zwingt, den geraden Weg zum Ziel nicht für den kürzesten und besten mehr zu halten, sondern für einen Weg, der ins Nichts führen könnte; das veranlaßt uns — mich jedenfalls hat es veranlaßt, gelegentlich um diese Steine herumzugehen, die den Weg zum Ziel versperren, um einen besseren Ansatz zu finden, um das Ziel nun doch nicht zu verfehlen.
In dieser Debatte sind viele Kassandra-Rufe lautgeworden. Manche haben wie ein neuer Laokoon
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die Verträge als das „hölzerne Pferd" bezeichnet, das die Mauern Trojas aufbrechen sollte. Ich hoffe, es wird sich keine Schlange finden, die diese Laokoone erwürgen wird.Beim Herrn Kollegen Zimmermann hatte ich den Eindruck, daß er gerade erst vorgesten noch einmal die Schrift des alten Schlieffen über Cannae gelesen hat. Ich bin kein Stratege und kenne mich nicht so gut aus wie er. Aber mir erschien es manchmal doch so, als wäre das eher ein Schlieffen aus einer Offenbachschen Operette, dessen Weisheit er glaubte vortragen zu sollen.
Sehr beeindruckt haben mich die Worte unseres Kollegen Katzer, weil ich weiß, daß seine Worte immer aus einem Fundus kommen, einem moralischen, einem politischen Fundus, daß er ein vaterländischer Mensch ist in allem, was er tut und sagt, mit all dem Willen, zu verantworten, was er sagt und was er will. Herr Kollege Katzer, ich habe Ihre Sorgen auch. Ich sehe mit Schrecken, daß man in Deutschland mancherorts meint, Demokratie sei so etwas wie Libertinage. Eine schlimmere Verkennung der Demokratie gibt es wohl kaum. Demokratie ist eine strenge Angelegenheit. Lesen Sie doch einmal nach, was die Väter des demokratischen Gedankens in dieser Welt über Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk gesagt haben!Der oberste Grundsatz, den es da gibt, die Freiheit, setzt das Ernstnehmen' des Gesetzes, des demokratisch zustande gekommenen Gesetzes, voraus. Es ist die Quintessenz des demokratischen Gedankens, daß dieses Gesetz für alle und gegen alle verwirklicht werden muß.
Freilich setzt das voraus, daß man bereit sein muß, eine Reihe von Dingen zu beseitigen, die manchen Katilinariern oder ernst bewegten jungen Leuten als Anlaß und als Vorwand dienen, zu sagen: Mit dieser Demokratie ist nicht zu machen, was gemacht werden muß, damit Menschen wirklich menschenwürdig und in wahrer Freiheit leben können.Der Mut zu tiefgreifenden Reformen und nicht bloß zu Arabesken und Verzierungen ist die Voraussetzung dafür, daß dieser Anspruch der Demokratie, daß das Gesetz für alle und gegen alle gilt, durchgesetzt werden kann, ohne daß nur Polizeiaktionen daraus werden.
Das wollte ich hier noch sagen, und ich glaube, Herr Katzer, Sie geben mir recht in dem, was ich gesagt habe. Bei uns gibt es wohl noch einiges zu tun, um solche Vorwände — nicht nur Vorwände, sondern auch Anlässe — zu beseitigen, sie zumindest gegenstandslos zu machen.
Meine Damen und Herren, ich will zu den Dingen, von denen wir heute handeln, als ein Zeuge sprechen. Ich glaube, daß ich in diesem Hohen Hause der Älteste bin, der sie miterlebt hat und an ihnen unmittelbar beteiligt gewesen ist. Ich kann vielleicht einiges ins Gedächtnis zurückrufen, das weithin vergessen worden ist. Die Menschen sind vergeßlich. Das ist ganz gut für den einzelnen; aber die Völker sollten nicht so vergeßlich sein wie die einzelnen Menschen.Zunächst eine Feststellung. Was in Deutschland, auf dem Gebiet Deutschland, an politischen, an staatsbildenden Dingen geschehen ist, ist nicht geschehen, weil es die Deutschen so wollten, weder hier noch auf der anderen Seite, sondern dieses Deutschland war nach dem Krieg zunächst nichts anderes als ein Objekt der Siegerdiplomatie, der Siegerpolitik, auf beiden Seiten. Ich komme gleich noch darauf, daß die verschiedenen Sieger dies auf verschiedene Weise gehandhabt haben. Aber im Grundansatz waren wir Objekt der Machtpolitik der Sieger. Das hatte bestimmte Ursachen. Es gab gute Gründe dafür, - um es gleich zu sagen. Sie hatten ja von einem Groß-Deutschland einiges Bittere erlebt. Wenn es auch ein pervertiertes Deutschland gewesen ist, so konnten sie doch immerhin argumentieren: Diese Deutschen haben sich diese Perversion ihres Wesens gefallen lassen.Halten Sie mich nicht für eine Pharisäer. Ich bin kein Widerstandskämpfer in dem Sinne gewesen, in dem das Wort allein einen Sinn hat. Ich bin nicht eingekerkert worden. Ich habe den Galgen nur sehr am Rande riskiert.Man hatte kein Vertrauen mehr in die Friedensliebe des deutschen Volkes und glaubte, man müsse es nach dem Krieg in einen Zustand versetzen, der es ihm unmöglich mache, der Welt wieder Schaden zuzufügen wie bisher. Das war der Ausgangspunkt für alle Sieger, im Osten wie im Westen.So hat man sich überlegt, wie man das machen sollte: zunächst einmal sollte Deutschland militärisch nichtexistent werden; dann sollte es politisch so eingerichtet werden, daß es nicht mehr einen einheitlichen Willen fassen kann, der imstande sein könnte, Unheil über die Welt zu bringen, und schließlich sollte ihm ökonomisch, d. h. industriell, die Möglichkeit genommen werden, wieder die schrecklichen Waffen herzustellen, die die Welt beunruhigt haben.Das Politische, das man uns antun wollte, war ganz radikal gedacht. In Teheran, Yalta usw. meinte man — man sollte diese Papiere manchmal nachlesen —, daß das, was von diesem Deutschland blieb, auf 50 Jahre außerstande bleiben sollte, eigene Politik zu machen. Es sollte — 50 Jahre lang — unter der Vormundschaft eines Kontrollrates stehen, in dem die Siegermächte säßen. Dann könne man vielleicht sehen, was man mit ihm anfangen werde. In der Zwischenzeit sollte es eine deutsche Verwaltung geben, an deren Spitze Staatssekretäre unter der Botmäßigkeit des Kontrollrates stehen sollten. Das waren die Absichten.Was ist daraus geworden? Was konnte daraus werden? Der Rechtsgrund, auf den sich die Sieger beriefen, um so zu handeln, ist ein uraltes Institut des Völkerrechts. Sie können das bei Hugo Grotius nachlesen. Es steht auch in den Völkerrechtslehrbüchern der neuen Zeit. Es ist das Institut der Debellatio,
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nach dem nach einem Kriege, bei dem der Feind den Widerstand aufgegeben hat, weil er außerstande ist, sich zu wehren, oder nicht mehr willens ist, sich bis zum letzten zu wehren, der Sieger mit dem Land verfahren kann, wie es seinem Interesse entspricht. Das ist bitter und grausam und übersieht völlig, was man die Menschenrechte nennt und was Selbstbestimmung ist. Aber das Völkerrecht ist ja keine weiche Angelegenheit, sondern trägt den Realitäten Rechnung, auch der Realität des Krieges, der Ultima ratio regum, wie man den Krieg nannte.So hat man zunächst einmal dieses Deutschland in eine Reihe von Staaten zerreißen wollen. Das hat man aufgegeben. Weitgehend war es Stalin, der sich dagegen gestellt hat mit dem bekannten Wort, das deutsche Volk werde weiter bestehen. Er hat das nicht um unserer blauen Augen willen gesagt, sondern weil er geglaubt hat, daß die sowjetische Idee, wenn sie sich einmal in einem Teil Deutschlands festgesetzt habe und dieser Teil Deutschlands ein Teil des größeren einheitlichen Deutschlands geworden sei, sich mit den dahinterstehenden Machtansprüchen in dem ganzen Deutschland durchsetzen werde. Das war ohne Frage sein Wille. Aber er kam nur zum Teil durch.Mit der Zentralverwaltung Deutschlands und deutschen Staatssekretariaten unter Kontrollratsaufsicht wurde es nichts, weil sich die Franzosen dagegen gewehrt haben, auch nicht um unserer blauen Augen willen, sondern weil sie der Meinung waren, ein Deutschland in der Form des deutschen Bundes von 1815 sei für sie, sei für Europa und sei für die Welt besser als ein Deutschland im Stil des 19. Jahrhunderts oder des beginnenden 20. Jahrhunderts. So ist das gewesen, und das sollten wir nicht vergessen.Die Alliierten gingen aber weiter. Sie haben auch den geographischen Raum bestimmt, innerhalb dessen sich die Dinge, die auf Deutschland Bezug haben, sollten vollziehen können. Nach den Potsdamer Beschlüssen ging Ostpreußen an Rußland, das Land östlich von Oder und Neiße wurde, wie es hieß, unter polnische Verwaltung gestellt. Diese Teile Deutschlands wurden nicht dem Kontrollrat unterstellt, sondern nur das Deutschland abzüglich dieser Teile. _ Es war von vornherein klar, daß „Deutschland" im Zukunftssinne nur sein sollte, was sich innerhalb der Grenzen, die durch das Potsdamer Abkommen festgelegt wurden, befand.Nun können Sie sagen: Das ist ein Vertrag unter Dritten, res inter alios acta. Das ist richtig. Aber leider Gottes gilt der Vertragscharakter nur für das Verhältnis zwischen den Siegern, die dieses Abkommen geschlossen und angenommen haben. Uns gegenüber ist es ein Akt hoher Hand, ein Akt der Sieger auf der Grundlage des Instituts der debellatio. Das ist eine bittere Sache. Aber wir sollten den Versuch machen, die Dinge zu sehen, wie sie sind
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Gradl?
Herr Kollege Professor Schmid, bei Ihren geschichtlichen Betrachtungen möchte ich Sie fragen, ob Sie in Ihre Bewertung der Nachkriegssituation und des Potsdamer Abkommens in bezug auf die Beschreibung des deutschen Gebiets, mit dem man vielleicht in Zukunft zu rechnen haben würde, nicht einbeziehen wollen, daß 1. die endgültige Grenzregelung tatsächlich einem Friedensvertrag überlassen worden ist und daß 2. die westlichen Alliierten — was mir in diesem Zusammenhang wesentlich erscheint — einen sehr exakten Unterschied gemacht haben in ihrem Verhalten zu dem Teil Ostdeutschland, der, der Sowjetunion zugewiesen worden ist, nämlich dem nördlichen Ostpreußen, und den anderen Teilen Ostdeutschlands. Erinnern Sie sich, daß die westlichen Alliierten in dem Potsdamer Abkommen ausdrücklich gesagt haben, daß sie bei einem Friedenvertrag die Überweisung des nördlichen Ostpreußens an die Sowjetunion unterstützen würden, daß sie es aber abgelehnt haben, dies auch für das ganze übrige Ostdeutschland zu sagen?
Herr Kollege Gradl, was Sie sagen, ist eine halbe Wahrheit und nicht die ganze Wahrheit. Es ist völlig richtig, daß man einen Unterschied zwischen Ostpreußen, das an Rußland 'kam, und den Polen zugedachten Gebieten gemacht hat. Wenn Sie aber die Papiere und die Memoiren der Beteiligten lesen, werden Sie feststellen, daß die Regelung durch den Friedensvertrag nur den Sinn haben sollte, die Adjudikation vorzunehmen, d. 'h. gewissermaßen die grundbuchmäßige Eintragung. Keiner war der Meinung, daß dieses Gebiet irgendwann einmal an Deutschland zurückgegeben werden könnte. Sogar der Gutwilligste dieser Leute, Präsident Truman, schreibt dies in seinen Memoiren. Ich glaube, es besteht kaum ein Grund, daran zu zweifeln, daß es so gemeint gewesen ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja?
Könnten Sie in diesem Zusammenhang, Herr Professor Schmid, aber bestätigen, daß der amerikanische Außenminister Byrnes in seinem Buch „Offen gesagt" über diese Konferenz wörtlich schreibt:Während der Diskussion über die polnischen Ansprüche und die Frage der Anerkennung der polnischen Verwaltung dieses Gebiets während der Besetzung wiederholte der amerikanische Präsident immer wieder, daß keine territorialen Veränderungen vor der Friedenskonferenz vorgenommen werden sollen und dürfen.Und können Sie unterstützen, was er weiter sagt:Angesichts dieser Vorgänge ist es schwer, jemandem guten Willen zuzugestehen, der behauptet, die polnische Westgrenze sei auf der Konferenz festgelegt, oder ein Versprechen über die Art der künftigen Grenzziehung sei gegeben worden.
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9974 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Ich würde mich freuen, Herr Czaja, wenn die Mächte sich so verhalten hätten. Sie haben sich aber nicht so verhalten, sondern sie haben die Grenzziehung des Potsdamer Abkommens ihrer praktischen Politik unterlegt, bis zum heutigen Tage. Das bedauere ich sehr — glauben Sie mir das. Mir ist es eine schmerzliche Sadie, mir vorzustellen, daß Immanuel Kant aus Kaliningrad sein soll und Jakob Böhme kein Deutscher, und Eichendorff aus Wroclaw sein soll; das ist mir sehr schmerzlich, glauben Sie mir das. Aber einige Lebenserfahrung und einiges Studium der Geschichte haben mich gelehrt, daß die Geschichte gelegentlich mit einer schweren Axt in die Wunschbilder der Menschen und in die Rechte der Menschen hineinhaut und dem einen zuteilt, was den anderen Leiden schafft. Das gehört mit in das Tragische der Geschichte. Es ist eines ihrer essentiellen Merkmale, daß die Dinge in ihrem Bereich nicht im Sinne der Vernunft zugehen, auch nicht im Sinne der Hegelschen Vernunft mit der berühmten List der Idee.
Die vier Besatzungszonen — ich sagte es schon — wurden der Obergewalt des Kontrollrats unterstellt; Ostpreußen, Oder-Neiße-Linie nicht. Alles, was Deutschland staatlich betreffen sollte, wurde in diesen Rahmen eingezwängt.
Die Geschichte ging weiter. Die Frage war, was nun geschehen sollte. Im Osten hat die Besatzungsmacht sich sofort daran gemacht, ihr Gebiet nicht nur zu besetzen, sondern in Besitz zu nehmen und daraus etwas zu machen, was eine Verlängerung ihrer eigenen politischen Welt werden sollte. Kein Zweifel, daß das nicht die Absicht der Sieger insgesamt gewesen ist; daran haben sie nicht gedacht; sie hielten die Sowjetunion für saturiert. Ich werde den amerikanischen General nicht vergessen, der mir damals, im Jahre 1946, sagte: „Wenn sie so weitermachen, werden sie von uns etwas erleben! Die Russen sind ja schließlich unsere Verbündeten und sind Demokraten." So hat man damals gedacht — vergessen wir das nicht. Damit mußten wir leben. Manche haben sich darum ins Abseits begeben, in ihren Garten oder ihre Trümmerstadt. Andere haben das Geschirr in die Hand genommen und haben sich, obwohl sie wußten, wie die Sieger dachten, darum bemüht, aus ihnen und mit ihnen noch das beste, jedenfalls ein Besseres für unser Volk zu machen.
Dann kam der erste Einbruch in diese Welt, der Marshallplan, ohne den wir ohne jeden Zweifel verhungert wären. Aber seien wir uns klar darüber — das ist kein Vorwurf, denn Geschichte und Politik bestehen nun einmal darin, daß man nach seinen Interessen handelt —, daß die Amerikaner das in ihrem Interesse gemacht haben, weil sie wußten, daß, wenn in diesem Lande das Chaos ausbricht, sie letztlich als Feuerwehr würden gerufen werden müssen und daß sie dann auf einen Brandstifter stoßen würden, was sie nicht wollten. Ich werde nicht vergessen, wie mir ein amerikanischer Beamter damals sagte: „Unsere Lebensmittellieferungen für die Deutschen werden bei uns nach dem Etattitel abgerechnet: Ausgaben, um zu verhindern, daß die Besatzungsarmee von ansteckenden Krankheiten befallen wird." Das ist das berühmte Disease-Kapitel.
In der Ostzone hat sich der Sieger nicht so menschlich verhalten. Ich brauche das nicht näher auszuführen. Doch durch den für uns so wohltätigen Marshallplan, der von der östlichen Seite abgelehnt wurde, ist eine Dualisierung Europas und damit auch Deutschlands erfolgt.
Wie verhielt man sich nun gegenüber dem, was weiter kommen sollte? Die Alliierten, die westlichen Alliierten, die westlichen Sieger bewiesen schließlich — auch hier erzähle ich aus meinem eigenen Leben —, daß es schon sehr, sehr schwierig ist, sein eigenes Land zu regieren und praktisch unmöglich, daneben noch ein fremdes Land zu regieren und die Verantwortung dafür zu tragen. Und so meinten sie, es sei gut, die drei Westzonen, die zu ihrer Verfügung standen, dazu zu bringen, einen eigenen Staat zu bilden, einen westdeutschen Staat mit allem, was zu den Staatsattributen gehört.
Nun, wie verhielten wir Deutsche uns dazu? Es ist vielleicht der Mühe wert, noch einmal durchgegangen zu werden. Die einen Deutschen sagten: Gott sei Dank! Bilden wir doch ein Staatsgefüge, so fest wie möglich, so staatlich wie möglich! — Das waren nicht nur CDU-Leute. Ernst Reuter in Berlin dachte genauso, und mein Freund Wilhelm Kassen dachte auch so. Andere dachten anders. Man dachte — ich spreche jetzt von den Leuten mit dem „festen Staatsgefüge" —, das würde eine magnetische Wirkung auf den übrigen Teil Deutschlands ausüben und letztlich einen Zustand bei der Bevölkerung in der Zone schaffen, dem gegenüber die Russen nicht imstande sein würden, sich durchzusetzen.
Andere — dazu habe ich gehört — waren der Meinung, das sei nicht der beste Weg. Ich war der Meinung — und andere meiner Freunde waren es auch —: Je mehr Festes wir hier im Westen schaffen, desto mehr Festes wird drüben geschaffen werden, und je mehr man auf beiden Seiten feste Dinge schafft, desto tiefer und desto breiter wird der Graben, desto schwerer wird es werden, zusammenzukommen. Ich war so vermessen, damals in einer Rede zu sagen: Unsere Chance ist das Ungeklärte der Dinge in Deutschland; das gibt die Möglichkeit, das Eis am Treiben zu halten — ohne daß wir wissen könnten, wozu das führen wird; aber es ist die einzige Chance, auf diese Weise die deutsche Frage als eine innerdeutsche Frage unter Deutschen regeln zu können. Deswegen haben wir uns dagegen gewandt, daß man aus diesem Drei-Zonen-Land einen richtigen Staat macht, waren wir für das Provisorium, für ein Gebilde des Übergangs. Schade, daß Herr Kiesinger nicht da ist: auch ich habe dieses Wort „Gebilde" gebraucht, allerdings für unseren westlichen Teil Deutschlands, ein Gebilde des Übergangs, in dem viele Dinge, entscheidende Dinge offenbleiben. Wir wußten genau, daß wir damit manches für die deutsche Bevölkerung erschwerten. Aber wir haben damals gedacht: Vielleicht lohnt es sich, ist es erlaubt und notwendig, gegen das Linsengericht eines Besser-Leben-Könnens das Erstgeburtsrecht der Einheit zu wahren, indem man die Chancen, es erreichen zu können, nicht mindert oder preisgibt. '
Dr. Schmid
Die Präambel des Grundgesetzes trägt diesen Dingen Rechnung; sie spricht davon, die Einheit herzustellen, den nationalen Bestand zu erhalten, die Wiedervereinigung zu betreiben, sei uns aufgegeben.
Was dachten wir damals? Es ist ganz gut, wenn man sich das überlegt. Ich war mit allen meinen Kollegen — ohne Unterschied der Partei — der Meinung: in einigen Jahren werden wir es geschafft haben, daß wir uns durchsetzen gegenüber dem, was im Osten herrscht; daß es sich der Osten nicht mehr wird leisten können, die Politik zu betreiben, die er jetzt betreibt, denn die Deutschen drüben werden es ihm nicht erlauben, sie werden sich dagegenstellen, aktiv dagegenstellen. Ich war der Meinung: zur Wiedervereinigung kommen wir in einigen Jahren dadurch, daß die Russen einsehen, daß es keinen Sinn mehr habe, sich so zu verhalten, wie sie es tun; die Übermacht des Westens, auch die militärische, das Monopol der Atombombe der Amerikaner werde sie schließlich weichklopfen. Darm würden sie einsehen, daß es auch für sie vorteilhafter sei, es den Deutschen allein zu überlassen, zu bestimmen, wie sie politisch leben wollen. Das war ein Irrtum. Der Sputnik und auch noch einiges andere, das sich ereignete, hat diese Illusion beseitigt.
Es kam dann über roll-back und containment dazu, daß der Bundesrepublik angeboten wurde, sich in den werdenden atlantisch-europäischen Block einzementieren zu lassen. Damals habe ich mich dagegen gewehrt. In meiner ersten Rede in Straßburg im Jahre 1950, die ich nach Churchill gehalten habe, habe ich gesagt, warum: wenn wir das halbe Deutschland in einen Militärblock einzementieren, den die Sowjetunion als feindlich gegen sich gerichtet betrachtet, dann werden wir niemals von den Sowjets das Einverständnis bekommen, daß es in Deutschland zu gesamtdeutschen freien Wahlen kommt.
Das waren die Gedanken, aus denen heraus sich meine Freunde gegen gewisse europäische Vorhaben gewandt haben, — nicht weil sie nicht europäisch sind; ich glaube, keiner von uns wird sich vorhalten lassen müssen, daß er gegen Europa sei.
Deswegen haben wir der Montanunion widersprochen. Deswegen haben wir auch den Remilitarisierungsplänen widersprochen, nicht weil wir gegen die Landesverteidigung gewesen wären, sondern weil wir der Meinung waren: je mehr wir uns als halbes Deutschland „atlantisch" verfestigen, desto weniger werden wir das ganze Deutschland bekommen. Ich vergesse nicht den Zuruf, den mir in Straßburg ein von mir hochgeschätzter dänischer sozialdemokratischer Abgeordneter gemacht hat: Lieber Herr Schmid, wir haben lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb! So dachten die Menschen, so dachten sie noch weithin, und ich habe mir diese Dinge gemerkt und habe mich danach verhalten.
Eine Zeitlang waren wir noch der Meinung, es sei vielleicht doch noch möglich, mit dem Gedanken „Die Deutschen machen es allein" voranzukommen. Es gab Versuche unsererseits. Ich habe hier von diesem Platz aus den Deutschland-Plan der SPD vertreten, von dem Gedanken ausgehend, von unten her den Versuch zu machen, gemeinsame Institutionen zu schaffen, um dann schließlich am Ende weiterzukommen. Auch das hat sich als unmöglich erwiesen. Es kam zu einer Reihe von Verfestigungen, und schließlich wurde der Weg dadurch blockiert, daß die damalige Bundesregierung erklärte: Wir verlangen auf jeden Fall, daß auch ein wiedervereinigtes Deutschland die freie Wahl seiner Bündnisse habe, es also wählen könne zwischen der NATO, Europa usw.
Da war es mir klar: Wenn das der Standpunkt der
Regierung ist und sich dieser Gedanke durchsetzt, ist es aus mit der Hoffnung, daß die Russen je einmal bereit sein könnten, zuzustimmen, daß sich die Deutschen im Wege einer Volksabstimmung zu einem Staate zusammenschlössen, der eine eigene Politik mit dieser Eventualität macht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Ja, bitte!
Herr Kollege Professor Schmid, darf ich aber auch daran erinnern, daß die Bundesregierungen, die diesen Standpunkt eingenommen haben, zugleich stets deutlich gemacht haben, daß ein wiedervereinigtes Deutschland fest eingefügt sein soll in ein europäisches — nicht westeuropäisches, sondern europäisches — Sicherheitssystem auf der Basis einer europäischen Friedensordnung? Stimmen Sie mir auch zu, daß damit immer gemeint war, auch von den vier Siegermächten z. B. bei ihrer letzten Gipfelkonferenz 1955, daß dies selbstverständlich in sich schloß, daß dieses geeinte, für sich verfügungsfreie Deutschland in militärischer Hinsicht natürlich Beschränkungen erfahren würde?
Das ist richtig. Nur wären eben diese Zusicherungen den Sowjets — oder sagen wir lieber auf gut deutsch: den Russen — nicht genug. Sie fanden, daß reale Pfänder für sie nützlicher wären als verbale Pfänder. Das war ihr Standpunkt. Ich billige ihn nicht, aber das war ihr Standpunkt, und damit mußte man rechnen, und somit mußte man seine Politik so einrichten, daß man diese Hürde hätte überspringen können — was schwer genug sein würde; das wußte jeder von uns.Nun, es kam dann zu den Westverträgen, die, von heute aus gesehen, ohne jede Frage die Grundlage jeder möglichen deutschen Politik sind. Das bedeutet nicht, daß ich der Meinung wäre, unsere Art zu denken sei damals verkehrt gewesen. Sie entsprach damals den Verhältnissen und den Aussichten, die zu haben man auch von der politischen Vernunft her ein Recht hatte anzunehmen.Es kam zur Reise nach Moskau und zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Sowjets. — Gestatten Sie mir, dazu etwas vorzulesen. Herr Präsident, ich bitte, zitieren zu dürfen. Ich habe damals
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9976 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Schmid
sehr sorgfältig mitstenographiert, was dort gesprochen wurde —, und ich habe aus dem, was in meinem Block steht, auch einiges drucken lassen, so z. B. in der Zeitung „Die Zeit", aus der ich mit Erlaubnis des Präsidenten vorlesen will:Zwar haben die sowjetischen Unterhändler die Verpflichtung der Vier Mächte anerkannt, das Ihre für die Wiedervereinigung Deutschlands zu tun. Sie haben auch erklärt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands ihnen nach wie vor als eine weltpolitische Notwendigkeit erscheint. Aber ehe die Vier Mächte etwas tun könnten, müsse eine gesamtdeutsche Vorstellung von den Methoden und Inhalten einer Wiedervereinigungspolitik geschaffen werden, was offenbar nur im Wege einer Vereinbarung zwischen den Regierungen der Bundesrepublik und der DDR geschehen könne.Und weiter:Von besonderer Wichtigkeit war die wiederholte Erklärung der Sowjetdelegierten, daß zur Zeit die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands für die Sowjetunion nicht aktuell sei. Durch die Pariser Verträge solle ein wiedervereinigtes Deutschland ja Bestandteil des atlantischen Blockes werden. Diesen Block betrachtet die Sowjetregierung als gegen sie gerichtet. Die Wiedervereinigung Deutschlands zu fördern würde darauf hinauslaufen, eine der Sowjetunion gegenüber feindlich eingestellte Mächtegruppe zu stärken. Das könne die Sowjetregierung mit den Pflichten nicht vereinbaren, die sie ihren Völkern gegenüber habe. Zwar fordere man von der Bundesregierung nicht, daß sie aus den Verträgen aussteige. Das würde einem Ultimatum gleichkommen, und die Sowjetregierung stelle keine Ultimaten. Aber die Deutschen sollten sich nicht wundern, daß die Sowjetregierung die durch die Pariser Verträge geschaffene Lage in ihre politische Rechnung einstelle.So hieß es klipp und klar auf dieser Konferenz, und der Briefwechsel Bulganin/Adenauer ist vor diesem Hintergrund zu beurteilen.Um im übrigen: man hat viel von „Dissens" gesprochen. Wenn es einen Dissens gibt, so den zwischen den Empfängern und den Schreibern dieses Briefes. Beide sprachen von Wiedervereinigung, aber jeder stellte sich darunter das Gegenteil dessen vor, was der andere meinte. Es war ein versteckter Dissens, und der ist schlimmer als ein offener Dissens, wo man weiß, daß der andere anderes meint als man selber.Damit, in diesem Stadium, war ein Einschnitt erreicht, ein doppelte Einschnitt. Einmal gab es Beziehungen diplomatischer Art zur Sowjetunion, zum andern wurde es einer Reihe von Leuten klar — auch mir wurde es klar —, daß damit die Phase einer Politik des „Deutsche an einen Tisch" — nicht im Sinne Ulbrichts, sondern in einem elementaren menschlichen Sinne — vorbei ist, daß damit das Problem Wiedervereinigung zu einem Problem einer mit diplomatischen Methoden 'geführten Politik von Staat zu Staat geworden ist. Mit dieser Erkenntnis mußte man den Westen so stark wie möglich machen, weil nur damit eine Verhandlungsbasis mit Aussicht auf Erfolg möglich war. Auf dem Wege einer normalen Außenpolitik von Macht zu Macht mußte versucht werden, eine Ordnung zu schaffen, vor allem in Europa, die dem Frieden Chancen gab und über bloß militärische Sicherheit die Möglichkeit von Kooperation zwischen den Beteiligten schuf. Seitdem konnte nur eine Politik enger Bündnisse mit dem Westen deutsche Politik sein; denn die eine Chance, die es einmal gegeben haben mag, bestand nicht mehr. Da mußte man — „ " — zu einer anderen Art, zu einem anderen Denkansatz übergehen. Anders ging es nicht mehr.Das kam zum Ausdruck in der großen Rede, die ich mich nicht scheue, eine historische Rede zu nennen, die Herbert Wehner 1960 hier gehalten hat.
Man sollte das nicht, wie es manchmal geschieht, in hämischem Triumphgeschrei als ein Unterkriechen Herbert Wehners, der Sozialdemokraten unter die Glocke Adenauerscher Politik bezeichnen. Nein, das war ein Akt staatsmännischen Sichbesinnens: eine Möglichkeit bestand nicht mehr, nun, dann muß man eben aus dem, was noch an Möglichkeiten bleibt, versuchen, das Beste zu machen.
Dann änderte sich auch die politische Weltlage. Neben das Wort von der Abschreckung — das geblieben ist und bleiben muß — trat nunmehr das Wort von der Entspannung in den Vordergrund, ein Wort, mit dem man noch lange wird umgehen müssen. Beides steht jetzt pari passu auf dem Kalendarium einer jeglichen Politik europäischer Mächte. Das bedeutete, daß man dem kalten Krieg eine Absage erteilte, daß man sich nicht mehr ausschließlich in Kategorien militärischer Art bewegen wollte. Das bedeutete aber auch die Absage an die Illusion, das Rechte würde sich von selbst einstellen. Diese Illusion gab es ja auch und gibt es gelegentlich noch.Der Westen mußte gestärkt werden, und die Politik der Bundesregierung, ihre „Ostpolitik" verfolgt nicht zum mindesten auch den Zweck, die Position des Westens zu stärken, sie von gewissen Hypotheken zu 'befreien, unter denen seine politische Freizügigkeit bisher gelitten hat, Schranken aufzureißen, die immer wieder den Blick fixierten und es fast unmöglich machten, an anderes zu denken als an Abschreckung. Dieser Abbau der Sperren gegenüber dem Osten, die Aufnahme eines „commercium" mit dem Osten — ich meine das nicht kommerziell — ist etwas, das nicht den Westen schwächt, sondern die politischen Möglichkeiten des Westens stärkt und mehrt.
Das sind keine Wunschbilder, sondern das ist Realpolitik.Wenn hier nun gesagt wird, Sie meinten das auch, aber Sie seien für das Liegenlassen, seien für das
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Warten: Es gibt einen berühmten Fail in der preußischen Geschichte, wo das Warten, das Liegenlassen wirklich zu etwas Gutem geführt hat. Das war, als Friedrich der Große im Siebenjährigen Krieg mal hart geschlagen worden war. Da zog er seine Armee in das Lager von Bunzelwitz zurück und wartete. Da geschah es, daß die Kaiserin Elisabeth von Rußland, seine Hauptfeindin, starb. Zar wurde ein junger Mann, der viel Freude am Soldatenspiel mit preußischen Zinnsoldaten hatte. Rußland schwenkte um.Ich glaube aber, das Lager von Bunzelwitz gehört zu den Dingen in der Geschichte, die sich nicht wiederholen, auch nicht auf dem Felde der Diplomatie. Ich halte nichts von dieser These des Zuwartens um jeden Preis. Natürlich kann es richtig sein, zu warten. Wenn ich meine Reden aus den Jahren 1952, 1953 und 1954 durchlese, finde ich dort viele Bemerkungen, in denen ich die damalige Bundesregierung aufforderte, mit ihren Vorhaben doch noch zuzuwarten, bis wir mit der Wiedervereinigung weiter seien, bis wir Europa das ganze Deutschland zuführen könnten. Das waren ähnliche Argumente wie die, die Sie jetzt gebrauchen. Ich habe, als ich diese Reden aus der damaligen Zeit las, überhaupt festgestellt, daß ein merkwürdiges Phänomen besteht: Oppositionen operieren immer mit ähnlichen Kriterien, Denkkategorien und Topoi, ob sie nun da sitzen oder dort. Das scheint zum Menschen zu gehören, und vielleicht hängt es auch mit der politischen Dialektik zusammen.Aber eine alte Geschichte möchte ich hier nun doch ins Gedächtnis zurückrufen. Es ist die Geschichte von den Sibyllinischen Büchern. Sie kennen sie sicher noch aus Ihrer Schulzeit. Man sagt: So nicht — ich bekomme es billiger — wenn ich warte. Man wartet, die Lage bleibt. Dann ruft die Sibylle wieder — aber dann kosten ihre Bücher schon das Doppelte. Man sagte wieder nein — da kosteten die Bücher schon das Zehnfache ... Dies ist es, was ich fürchte: Wenn man bestimmte Augenblicke verpaßt — der Zipfel des Mantels ist oft zitiert worden — dann kann es einem passieren, dann wird es sogar wahrscheinlich — je nachdem, wie die Machtverhältnisse liegen —, passieren, daß das, was man gestern zum harten Preis von 100 haben konnte, übermorgen 10 000 kosten wird.
Was auf die veränderte Haltung der Mächte gewirkt hat, ist eine Reihe von politischen Ereignissen in der Welt: der Konflikt im Vorderen Orient, das Wiederaufleben der chinesischen Weltmacht und anderes noch, aber auch gewisse Ermüdungsprozesse in den Reihen der Völker selbst. Wir dürfen doch nicht übersehen, daß Völker müde werden können, eine politische Spannung auszuhalten, die oft auf Leben und Tod, auf Biegen und Brechen geht. Ich meine damit die Völker unserer Verbündeten. Es sind tapfere Völker — sie haben es bewiesen —, aber auch sie können müde werden. Manchmal hört man drüben in Frankreich das Wort von den querelles allemandes, von den Streitereien der Deutschen, um derentwillen man doch nicht in Kriege verstrickt werden wolle. So verkehrt es ist, so zu denken, so natürlich ist es, daß in den Völkern gelegentlich so gedacht wird. Jedenfalls ist diese Ermüdung in der öffentlichen Weltmeinung im Hinblick auf die — wie man sagt — Spannungsherde in Deutschland eine Tatsache, die man nicht übersehen kann.Wie 'müde die Völker sind, kann man doch daran sehen, daß kein Volk einen Finger gerührt hat, als im Jahre 1956 das Verbrechen Ungarn gegenüber geschehen ist. Ich muß gestehen, daß mich das auf das Tiefste 'enttäuscht und ernüchtert hat. Man hat sich, statt Ungarn beizustehen, um die Öffnung des Suez-Kanals gestritten und dort einen Krieg riskiert!Schließlich muß man auch dies erkennen: Je stärker der Westen wird, desto eher wird es uns möglich, uns um die Öffnung der Schlagbäume im Osten zu bemühen — und je mehr wir die Schlagbäume im Osten gegenstandslos machen, um so stärker wird die Handlungsfreiheit des Westens werden.
Letztlich hat auch der Bundeskanzler Adenauer am 15. Dezember 1954 gesagt — er war gar nicht so starrköpfig, wie man oft glaubt —: Nur im Wege einer allgemeinen Entspannung zwischen Ost und West sei die Wiedervereinigung möglich. Das setzte voraus, daß man etwas für diese Entspannung tat. Unser Kollege Kiesinger hat als Bundeskanzler im Jahre 1968 davon gesprochen, man müsse eine Politik betreiben, die zur Aufhellung der Lage führe. Aufhellen kann man eine Feindlage nur, wenn man Erkundungen vornimmt. Freilich darf es nicht beim Erkunden bleiben. Man muß dann mehr tun als nur erkunden. Man muß dann Situationen zu bereinigen versuchen. Sonst war alles in Wasser geschrieben.Man muß Hürden abbauen wollen, Hürden, die Realitäten mit einem mächtigen emotionalen Fundament sind. Auch Emotionen können Realitäten sein, insbesondere, wenn sie an geschichtliche Fakten anknüpfen können. Vergessen wir nicht: Polen ist ja schon mehrmals geteilt worden. Das hat sich den Menschen eingeprägt. Sie wollen dem nicht wieder zum Opfer fallen.Ich glaube, daß es eine gute Sache war, daß die Bundesregierung aus eigenem Entschluß in Abstimmung mit ihren Verbündeten diesen Gang nach Osten getan hat, nicht, um Deutschland preiszugeben, um etwas aufzugeben, was wir hatten, sondern um nach dem Gebot zu handeln, das die Stunde der Wahrheit uns gestellt hat.
Wenn geklagt wurde, wir hätten uns durch Anerkennung zweier deutscher Staaten Wege verbaut, — meine Damen und Herren, mit der Anerkennung von Staaten ist es so, daß, wer ein „politisches Gebilde" als Staat anerkennt, damit nicht anerkennt, daß Recht ist, was darin geschieht.
Es wird damit nur gesagt: Wir sind bereit, mit dir in Rechtsbeziehungen zu treten und mit dir politisch zu verhandeln.
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9978 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
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Das bedeutet die Anerkennung eines Staates und die Anerkennung einer Regierung.Nun ist es doch so — Sie können es in jedem Staatsrechtslehrbuch nachlesen —, daß ein Staat dort vorliegt, wo eine Zentralgewalt besteht, wo ein Staatsvolk besteht, das dieser Zentralgewalt gehorcht, und Grenzen da sind, die diese Zentralgewalt zu beherrschen vermag. Das sind die Voraussetzungen für das Bestehen eines Staates. Wenn wir dem Rechnung tragen und erklären: Wir wollen mit dir ein Verhältnis haben, das uns erlaubt, direkt zu verhandeln und mit dir Verträge zu schließen, das es dir ermöglicht, Adressat von Völkerrechtsnormen zu sein — so heißt der technische Ausdruck in den Lehrbüchern —, dann tun wir doch eigentlich nur das, was uns nützen kann. Damit verschwören wir doch nichts, damit verschweigen wir doch nichts, damit geben wir doch nichts auf, was wir haben.Freilich kann man sich natürlich auch in der Politik verhalten wollen wie jener edle Ritter von La Mancha, Don Quichotte genannt, der meinte, gegen Windmühlen anreiten zu müssen, weil er sie für Riesen hielt. Sicherlich ist es nicht gesagt, daß es einem edlen Ritter nicht erlaubt ist, gegen Mühlen anzureiten, die er für Riesen hält. Die Windmühlenflügel können einen ja auch zu den Sternen werfen und nicht nur in den Staub. Aber ich fürchte, daß ein weiteres Anreiten gegen solche Riesen bei Staaten dahin führen könnte, daß uns die Mühlenflügel in einen Sumpf werfen, aus dem wir nicht mehr herausfinden könnten. Es kam darauf an, bei dieser Situation eine eigene deutsche Politik zu machen, eine Politik zu machen, von der die Regierung annehmen konnte, daß sie der deutschen Sache zum Nutzen gereichen könnte. Ich sehe schon einen Nutzen darin, daß man mit den Verträgen das Eis wieder ans Treiben bringen kann. Es ist nicht gesagt, wohin es treiben wird. Aber es ist damit die Möglichkeit gegeben, mit beweglicheren Faktoren Politik zu machen, als man sie bisher zur Verfügung hatte.Es war eine gute Sache, unseren Nachbarn einen Gewaltverzichtsvertrag anzubieten, der Sowjetunion und Polen. Ich meine: in erster Linie Polen; denn — Sie mögen das halten wie Sie wollen — ich empfinde diesem Staat, diesem Volk gegenüber eine tiefe deutsche Schuld. Jeder von Ihnen wird das tun. Aber wenn wir das tun, müssen wir bereit sein, der Tiefe des polnischen Traumas Rechnung zu tragen. Dieses Trauma, mag es uns passen oder nicht, besteht, die Furcht, es -könnte wieder einmal zu einer Teilung kommen, zu einer vierten oder fünften oder sechsten Teilung, man könne, wenn von uns aus nichts geschehe, nicht sicher leben.Natürlich ist es moralisch nicht zu verantworten, die Bevölkerung ganzer Gebiete auszutreiben. Darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Aber um ein altes Wort zu variieren: Die Geschichte und die Natur lieben nicht zärtlich, sondern sie gehen oft sehr hart mit uns um. Ich sprach von den Axthieben, die die Geschichte gelegentlich in das hineinschlägt, was uns lieb und wert ist. Wenn wir das nicht verändern können, verändern können mit Mitteln der Gewalt — und die haben wir nicht und die wollen wir nicht — oder ändern können dadurch, daßunsere Bundesgenossen mit uns einen Druck auf andere ausüben, dann bliebe nur übrig, im Schmollwinkel zu bleiben oder weiter in der Mentalität des kalten Krieges zu verharren und schließlich zu verholzen und zu versteinern. Das wäre das schlimmste, was uns passieren könnte.
Es wird gesagt, wir hätten damit deutsches Gebiet weggegeben. Gewiß, dieses Gebiet war ein Gebiet, das Deutsche besiedelt und bevölkert haben. Ich halte nichts davon, daß man zurückgeht in die Vorgeschichte und die Töpfe befragt, die man in den Gräbern der Vorzeit findet und verraten, ob hier Schnurkeramiker oder die Glockenbecherleute gesiedelt haben; das nehmen die Polen für sich in Anspruch. Ich bin der Meinung, daß man zu den Zeiten zurückgehen muß, die man übersehen kann, die sichtbar weiterwirken. Ohne jede Frage ist dies deutsches Land gewesen. Aber es ist eben abgehackt worden mit dieser schlimmen Axt, von der ich sprach. Das Recht darauf, das wir haben, das moralisch-historische Recht ist eben, wie die Juristen des Römischen Rechts sagten, ein Jus nudum geworden, ein Recht, das noch der Idee nach besteht, aber dem kein Substrat mehr zugrunde liegt. Auf ein Jus nudum zu verzichten ist kein Verzicht.
Nun die Frage: Was ist denn daraus an Nutzen für uns entstanden? Es ist schwer, darauf eine Antwort zu geben; denn das meiste dieser Frage kann nur die Zukunft beantworten. Es ist bei solchen Entschlüssen so, daß sie nie ohne Risiko gefaßt werden können. Ich halte nichts davon, daß man der Hoffnung die Kraft zutraut, allein durch sich selbst die Dinge so einzurichten, wie wir es gern haben möchten, ganz und gar nicht. Aber ich gehöre auch nicht zu denjenigen, die der Meinung sind, man müsse eine gewisse Hoffnung haben, um ans Werk zu gehen, und Erfolg, um am Werk zu bleiben. Ich halte es da mit dem Wort des Taciturnus, des Oraniers: „Es ist nicht nötig, wo man ans Werk gehen muß, eine Hoffnung zu haben, um ans Werk zu gehen, noch Erfolg, um am Werk zu bleiben."So ist diese Regierung ans Werk gegangen, und man wird nun sehen müssen, was sie mit den neuen Verhältnissen anfangen wird und was dann geschehen wird.Zunächst einmal kam es zum Berlin-Abkommen. Davon wurde gelegentlich recht geringschätzig gesprochen. Ich halte das für eine kapitale Angelegenheit ersten Ranges,
nicht nur wegen der Erleichterungen für die Bevölkerung, so wichtig sie auch sind, sondern deswegen, weil durch dieses Abkommen Berlin endlich aus der Geiselhaft erlöst worden ist, in die es die Nachkriegsverhältnisse geworfen haben.
Das ist doch das Entscheidende. Wir sollten dochnicht vergessen, daß für Berlin jetzt endlich eineGarantie besteht, daß es zu diesem Teil Deutsch-
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lands gehört — wenn auch nur mit Hypotheken, mit Servituten —, in dem wir Deutsche frei bestimmen können, und daß die Chruschtschowsche These zu Ende ist, daß Berlin ein Stück Territorium der DDR sei, das man nur aus Respekt vor den Kontrollratsmächten in einer Vier-Sektoren-Stadt verwandelt habe.Nun die Wiedervereinigung, die ein Gebot des Grundgesetzes ist. Die Bemühungen darum würde ich auch dann für eine Pflicht halten, wenn davon nichts im Grundgesetz stünde.
Bitte, fahren Sie fort. Das ist lediglich ein kleiner Zwischenfall. — Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Auch wenn das Grundgesetz in seiner Präambel nichts davon erwähnte, wäre es unsere Verpflichtung, alles zu tun, um sie herbeizuführen. Wenn man es mit der Demokratie ernst meint, gehört dazu die Vorstellung, daß es das gesamte Volk, die Nation als Ganzes ist, die ihre Ordnung zu bestimmen hat. Wenn man das nicht will und nur einen Teil das bestimmen lassen will, separiert man sie. Einer der Gründe, weswegen ich mich seinerzeit im Parlamentarischen Rat so leidenschaftlich dagegen gewehrt habe, daß wir nach dem Willen der Alliierten einen Weststaat mit einer durch Volksabstimmung sanktionierten Verfassung machen, war: Eine Verfassung kann nur das Gesamtvolk beschließen; ein Teil kann ein Organisationsstatut schaffen, sich eine rechtliche Grundordnung geben, ein Grundgesetz für die Art und Weise, wie es in den Zeiten der Diaspora, hüben und drüben, einigermaßen menschenwürdig leben kann.Doch die Wiedervereinigung ist heute aus dem Bereich der Möglichkeiten, die wir einmal für möglich halten durften, nicht mehr zu schaffen. Die Möglichkeit, daß sie durch die Deutschen allein gemacht wird — durch eine Volksabstimmung etwa — gibt es so nicht mehr. Eine Volksabstimmung kann stattfinden, wenn die Mächte, die die Hand auf Deutschland liegen haben, es den Deutschen gestatten, abzustimmen, wohin sie gehören wollen. Das ist die Lage, die aus dem Krieg hervorgegangen ist. Zu diesen Mächten gehört auch die Sowjetunion.Die Gestalt Deutschlands, das, was aus Deutschland einst werden wird, kann letzten Endes nur auf Grund eines Akkords der Mächte geschaffen werden, die an diesem Deutschland so oder so interessiert sind. Mit anderen Worten: es ist eine ganz ähnliche Lage — Herr Kiesinger, Sie werden mir zustimmen — wie 1814 auf dem Wiener Kongreß, wo sich die Mächte gefragt haben, ob es möglich sei, es den Deutschen zu überlassen, ein einheitliches Deutschland zu schaffen. Sie meinten, dies könne, wenn man es den Deutschen allein überließe, das Gleichgewicht in Europa entscheidend stören.So ist es auch heute: Die Mächte — die des Westens gehören mit dazu — werden es uns Deutschen nicht allein überlassen, die politische Gestalt unseres Landes zu bestimmen — sie werden an ihre Interessen denken.Wir müssen also eine Politik betreiben — die Bundesregierung, jede Bundesregierung wird sie betreiben müssen, alle Deutschen müssen eine solche Politik betreiben —, die die Voraussetzungen dafür verbessert, daß die Staaten es auch als in ihrem Interesse liegend betrachten können, daß im Herzen Europas Gesamtdeutschland wiederentsteht: daß die Deutschen unter einem Dach zusammenleben und einen gemeinsamen deutschen politischen Willen bilden können. Dieser Gedanke mag nicht allen Völkern sympathisch sein — aber wir werden darauf bestehen müssen, daß man uns den Weg dahin öffnet.Gegen ein russisches Veto wird sich das nie machen lassen. Wenn Sie glauben, Sie könnten mit einer betont schneidigen Haltung dem Osten gegenüber dieses Veto unwahrscheinlicher machen, täuschen Sie sich gründlich, meine Damen und Herren. Nur wenn es uns gelingt, auch die Russen davon zu überzeugen, daß sie von einem wiedervereinigten Deutschland nichts zu befürchten haben, werden diese vielleicht bereit sein, ihr Veto gegen eine Volksabstimmung aller Deutschen zurückzuziehen. Das ist die Situation, und an dieser Erkenntnis geht nichts vorbei.Die Frage lautet also: Verbietet der Moskauer oder der Warschauer Vertrag einer deutschen Regierung, eine Politik des Inhalts zu betreiben, andere Mächte davon zu überzeugen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland auch in ihrem Interesse liegen könnte? Die Frage stellen, heißt ihre Absurdität feststellen.Das zweite ist: Was kann getan werden, um die anderen Staaten, alle Staaten, die es angeht, davon zu überzeugen, daß sie gut beraten wären, wenn sie ihre bisherige Haltung aufgäben? Ich meine damit nicht Zyniker wie Mauriac, der gesagt hat: Ich liebe Deutschland so, daß ich gar nicht genug Deutschlands haben könnte. Solche meine ich nicht, sondern ich meine die ernsthaften, die seriösen Leute, die Befürchtungen haben, und die gibt es überall. Es ist hier sehr viel von Gleichgewicht gesprochen worden. Ein wiedervereinigtes Deutschland verändert in der Tat die Gleichgewichtsfaktoren beträchtlich. Die politische Aufgabe ist nun nicht, darauf zu verzichten, es anzustreben, sondern, sich so zu verhalten, daß man auf den anderen Seiten begreift, daß die Veränderung dieser Gleichgewichtssituation ihnen nicht zum Schaden gereichen wird.Das andere, was im Grundgesetz vorgesehen ist, ist die Wahrung der Einheit der Nation. Ich möchte dazu einige Worte sagen; denn ich glaube, daß für uns Deutsche gerade heute wenige Dinge wichtiger sind als das eine, sich darauf zu besinnen, was es eigentlich heißt, eine Nation zu sein. Viele meinen, daß man einige Schlachten gewonnen hat, mache eine Nation. Andere meinen, die gemeinsame deutsche Sprache mache für sich allein die Nation, oder
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9980 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Schmid
daß eine Krone im tiefen Rhein liegt, mache die Nation. Das alles ist schön, ist gut und gehört mit dazu, aber das Entscheidende ist es nicht.Der bedeutendste augenblickliche Historiker Frankreichs, Gaxotte, läßt sein lesenswertes Buch „Geschichte der Deutschen" mit dem Satz beginnen: „Die Deutschen sind eine unglückliche Nation. Kaum je in ihrer Geschichte haben sie in einem Staate vereinigt leben können. Aber aus welchen Gründen?" Wir sind in der Tat eine unglückliche Nation. Daß man überhaupt die Frage stellen konnte: Was ist des Deutschen Vaterland?, daß man die Frage stellen kann: Wie steht es denn eigentlich mit der Nation, mit der Möglichkeit einer deutschen Nation?, zeigt, wie anders wir dran sind als andere.Wir haben uns schließlich darauf zurückgezogen, zu sagen: Na gut, wir sind keine politische Nation, aber eine Kulturnation. Meine Damen und Herren, das reicht nicht aus. Auf die Dauer blaßt so etwas ab und läßt allen möglichen Dingen freien Raum, die nicht gut wären für unser Land und unser Volk und auch nicht für dieses Europa. Man muß schon mehr sein wollen als eine bloße Kulturnation, wobei der Gegensatz nicht eine Militärnation wäre, sondern etwas ganz anderes, von dem ich jetzt reden will.Mein Großvater, der 1866 bei Tauberbischofsheim gegen die Preußen gekämpft hat, hatte in seinem Arm noch eine Bleikugel, die aus einem preußischen Zündnadelgewehr stammte. Das hat ihn nicht daran gehindert, ein deutscher Patriot zu sein und sich zur deutschen Nation zu rechnen, wie die Preußen auch, die auf ihn geschossen haben. Spaltung durch Grenzen braucht für sich allein die Nation noch nicht in Frage zu stellen. Es sind andere Dinge, die das tun können. Wenn die Menschen anfangen, den Sinn des Lebens verschieden zu beurteilen, gegensätzlich zu beurteilen, dann bilden sich Abspaltungen im Denken, die schließlich auch zu Abspaltungen im Wesen führen können.Niemand zweifelt daran, daß es eine Nation der Briten gibt trotz der schweren Kämpfe, die die Briten innerhalb ihres Landes gegeneinander geführt haben, die Walliser und die Schotten, die Angelsachsen und die Normannen. Niemand bezweifelt, daß es eine franzöissche Nation gibt, obwohl es Basken gibt und Bretonen gibt und obwohl dort, wo ich geboren bin, Katalanisch und nicht Französisch im Volk gesprochen wurde. Niemand bezweifelt, daß die United States eine Nation sind, obwohl sie großenteils aus Immigranten und zu der Zeit, in der sie sich gebildet haben, fast nur aus Immigranten bestanden.Das kommt daher, daß in diesen Ländern etwas wie ein Contrat social stattgefunden hat, eine Einigung innerhalb der Völker, sich vergemeinschaftet fühlen zu wollen, weil man bestimmte hohe Menschheitswerte für sich verbindlich anerkennt und auf dem zugeordneten Gebiet verwirklichen will.Das ist die Definition dessen, was eine Nation ist. Damit Sie nicht glauben, daß ich mir das aus dem Ärmel schüttele, sage ich: Ich plagiiere hier nur einen großen Mann, den heiligen Augustinus, denBischof von Hippo, der in seinem Buch vom „Gottesstaat" schreibt, nur der Staat sei ein richtiger Staat und keine Räuberhöhle, in dem sich ein Volk darstelle. Und was sei ein Volk?
— Genau, selbstverständlich!
— Ich kenne sein Buch. Ein Staat ohne pax et justitia ist ihm nicht besser als eine Räuberhöhle. Seine Definition der Nation lautet: „Populus coetus ratio-nalis hominum communi amore rerum, quas diligunt, consociatus", d. h. ein der Vernunft zugänglicher Verband von Menschen, die sich vergemeinschaftet haben, weil sie identische Werte lieben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jenninger?
Herr Kollege Professor Schmid, ich habe mir unlängst einmal die Mühe gemacht, nachzulesen, was Sie alles damals im Parlamentarischen Rat gesagt haben. Da fand ich die sehr interessanten Ausführungen — das interessiert mich
— zu dem Gedanken des „contrat social". Damals haben Sie gesagt: Der Geltungsbereich des Grundgesetzes geht weit über das Gebiet der Bundesrepublik hinaus, und zwar von Königsberg bis Lörrach. Ich wäre interessiert, zu erfahren, ob Sie diese Meinung auch heute in diesem Zusammenhang noch vertreten.
Nein, verehrter Herr Kollege! In der Zwischenzeit sind einige Dinge geschehen, die mich als einen absurden Tölpel hinstellen würden, wenn ich noch so dächte.
— Nein! Aber die Vorstellung, die ich hatte, als wir das Grundgesetz machten, hat sich geändert, ;daß es nämlich für einen kurz währenden Interimszustand da sei und nicht etwas Endgültiges zu normieren habe. Die Absicht war, bei uns eine deutsche Lebensform in rechtliche Formen zu bringen, die auch drüben möglich sein könnte und sollte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordnete Dr. Czaja?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Professor Schmid, haben Sie aber nicht gerade auf Grund dieser Ausführungen den Text, der auch heute noch in Art. 23 des Grundgesetzes steht, beantragt, und ist er nicht so verabschiedet worden? Deshalb die Frage: Was hat sich im Grundgesetz seither geändert?
Stellen Sie doch keine solchen Fragen! Gut, es hat sich nicht geändert. Es ist so, wie es ist, 'geblieben. Aber die Verhältnisse haben sich geändert.
Nun, welches sind die Grundwerte, die dieses deutsche Volk haben zur Nation werden lassen? Eine Nation ist nämlich etwas anderes als eine bloße Bevölkerung und sogar etwas anderes als das, was man zu Recht unter „Volk" versteht. Nation ist kein Wachstumsprodukt, sondern ein Produkt des Willens, Nation zu sein. Das Volk ist geschichtsträchtig, die Nation ist geschichtsmächtig. Aber um das sein zu können, muß man den Willen haben, es zu sein.Was die Deutschen veranlaßt, mehr als eine Bevölkerung, als ein Volk zu sein, nämlich Nation, ist der gemeinsame Wille aller, die Freiheit zum Grundgesetz der Existenz des Ganzen und des einzelnen zu machen, die Mitmenschlichkeit, Brüderlichkeit genannt, als die Grundlage der Moral zu betrachten, nach der wir uns in unserem Volke verhalten und anderen gegenüber verhalten wollen. Dazu kommt die Erinnerung an einige der Dinge, die dieses deutsche Volk auch in der Achtung der Menschen in der Walt groß gemacht haben. Da gibt es eine Menge aufzuzählen, die noch im Bewußtsein der Deutschen lebt. Damit meine ich so weit zurückliegende Dinge wie die große, in der Volkssage noch unvergessene, Zeit des hohen Mittelalters.Dazu gehört das „hier stehe ich, ich kann nicht anders" Martin Luthers — das gilt über die Konfessionen hinaus —, das für einen Glauben Stehen. Dazu gehört gleichzeitig die Coincidentia oppositorum des Nikolaus von Cues, das Wissen darum, daß auch das Entgegengesetzte unter einem gemeinsamen Gesetze stehen kann.Dazu gehört auch die Erinnerung an einen gewissen Friedrich II. von Preußen, der Große genannt, in erster Linie an jenen Friedrich, der die Folter abgeschafft hat und der Aufklärung den Weg nach Deutschland hinein bahnte.
Dazu gehört die Erinnerung an die große Zeit der deutschen Klassik, Goethe und Schiller bis hinein in den heiligen Wahnsinn Hölderlins, dazu gehört das hohe Pathos, das die Menschen der Paulskirche beseelte,
die versuchte Nationwerdung der Deutschen, die durch Kleingläubigkeit gescheitert ist und aus Gründen dynastischen Machtwillens. Dazu gehört auch die Erinnerung an eine andere deutsche Revolution, die scheiterte und die man fast vergessen hat, die des Bauernkriegs zu Beginn des 16. Jahrhunderts, wo es nicht nur um Butterpreise ging, sondern wo es darum ging, daß die Menschen frei leben wollten und nicht mehr als Knechte,
und diese Bauern wollten, daß das Reichsregiment endlich, endlich Wirklichkeit werden sollte und nicht mehr nur als bloße Idee und Rechtsanspruch in alten Pergamenten.Dazu gehört noch etwas anderes, das mit der Reformation zusammenhängt: der Drang der Deutschen nach Reformen, verstanden als Verpflichtung, wertvolles Bestehendes dadurch lebenswert zu erhalten, daß man es an die gewandelten Bedürfnisse der Zeit anpaßt. Auch das ist eine deutsche Vorstellung; Sie brauchen nur Fichte zu lesen.Schließlich meine ich, daß wir bei den Dingen, die uns Deutschen hüben und drüben gemeinsam sein könnten und in denen wir uns alle integriert fühlen können, nicht übersehen sollten den Mut und die Kraft, mit der die Ausgeschlossenen so vieler Jahrhunderte, die durch die industrielle Revolution lange Ausgeschlossenen, ihr Schicksal in die Hand genommen haben, um als Deutsche ihr Vaterland finden zu können. Sie haben es gefunden und bewiesen, daß sie bereit sind, dafür zu stehen.Nun will ich etwas sagen, das manche von Ihnen erschrecken wird: auch Karl Marx ist ein Stück Deutschland! Ich glaube, daß diese Dinge Bestand haben, und lebendig sind. Eine Nation kann man nicht durch Vertragsartikel dekretieren und auch nicht durch Vertragartikel wegdekretieren. Das Entscheidende ist, nicht Verträge von Staat zu Staat schaffen die Nation, sie wird zu sich selber dadurch, daß die Menschen eines Landes als Nation leben wollen, daß sie entschlossen sind, als Gemeinschaft zu handeln und zu leiden, weil sie gemeinsam ihre Seele in bestimmten Menschheitswerten entdecken und diese auf ihrem Gebiet verwirklichen wollen. Das macht die Nation aus; sie ist ein Plebiszit, daß sich jeden Tag wiederholt.Diese Frage ist uns allen gestellt, uns hier und an die Deutschen drüben. Und ich will Ihnen sagen, daß ich oftmals entsetzt war, daß, wenn ich in meinem Kolleg von Nation und von Vaterland gesprochen habe, die Studenten zum Teil grinsten, als spräche ich von irgendwelchen Ammenmärchen oder als sei ich ein verkappter Nazi.
— Ich bin nicht deutschnational, nein, nein, ich bin ein deutscher Patriot.
Ich bin ein deutscher Patriot, ein Mann, der einmal die Möglchkeit hatte, zwischen zwei Nationen zu wählen, und der seine Wahl getroffen hat.
Meine Damen und Herren, es ist eine schwere Aufgabe für unser Volk wieder zu entdecken, was eine Nation ausmacht, daß sie mehr ist als das Ergebnis der Schlacht bei Sedan und die Kaiserproklamation in Versailles.
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9982 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Verehrter Herr Kollege Professor Schmid, wir kommen mit unseren zeitlichen Vereinbarungen sehr ins Gedränge. Ich glaube, daß ich im Namen des Hauses bitten darf, langsam zu einem Schluß zu kommen.
Ich bitte um Vergebung.
Nun, meine Damen und Herren, man sprach davon, wir müßten endlich die Idee des Nationalstaates überwinden. Natürlich müssen wir dies; natürlich müssen wir zu Europa kommen. Aber wenn dieses Europa wirklich Europa sein soll, wird es eines schönen Tages eine Nation Europa geben müssen. Bis dahin wird es nur ein Zusammenschluß, ein Verband von Staaten sein können, um eine wirklich geschichtsmächtige politische Kraft werden zu können, wird es die „Nation Europa" brauchen.
Wir müssen dahin kommen. Aber man glaube nicht, daß man dorthin kommen kann, indem man sich an der Nation vorbeischleicht. Ich bin der Meinung — und ich meine, wir können es alle sein —, daß es sich nicht nur für uns, sondern daß es sich für die Welt lohnen könnte, daß es Deutschland und die deutsche Nation gibt, freilich eine deutsche Nation, die nicht untergehen wird, wenn sie in eine höhere Form von Gemeinschaft über- und eingeht. Dazu müssen wir die Nation auf unsere Schulter nehmen mit allem, was zu ihr gehört, in dieses Europa, das die Mitte unserer Vaterländer ist, einbringen.
Meine Damen und Herren, wir fahren fort und nehmen zunächst die Begründung der beiden Anträge, die Sie vorliegen haben.
Den Antrag Umdruck 260 *) begründet der Abgeordnete Dr. Schulz .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach diesem eindrucksvollen Ausflug in die Höhen und Tiefen von Geschichte und Philosophie, der für uns alle etwas genußreicher ausgefallen wäre, wenn er weniger lang gewesen wäre, muß ich schleunigst in die Niederungen des politischen Alltags zurückkehren. Aber bevor ich den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 260 zur Deutschland- und Außenpolitik begründe, gestatten Sie mir einige Bemerkungen über den Ablauf dieser großen Debatte.Ich halte die Erarbeitung eines Standpunktes des Deutschen Bundestages zu den Ostverträgen für die weitaus wichtigste politische Entscheidung, die der Deutsche Bundestag in seinem Bestehen seit über 22 Jahren gefällt hat.
Ich muß darum dem Vergleich widerstreben, den derHerr Bundesaußenminister vorgestern im Plenumund noch ausführlicher am 9. Februar im Bundesrat1 Siehe Anlage 2angestellt hat, in dem er auf eine Parallelität des jetzigen Entscheidungsprozesses mit den Entscheidungsprozessen der fünfziger Jahre hingewiesen hat.Die Entscheidungsprozesse der fünfziger Jahre im Zusammenhang mit dem Deutschland-Vertrag, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO vollzogen sich in einem Lager, in dem die demokratischen Spielregeln unbestritten waren, vollzogen sich in einem Lager, in dem der alte völkerrechtliche Grundsatz „pacta sunt servanda" von keinem Partner, weder formal noch inhaltlich, bestritten worden ist und wo es bei der Auslegung dieser Pakte keine Dissense und keine Hintergedanken gab. Mit den Ostverträgen betreten wir alle jene Sphäre, in der wir, was auch die Bundesregierung zugeben muß, Elemente des Ungewissen und des Unberechenbaren antreffen, eine Sphäre, in der 'demokratische Spielregeln schon deswegen nicht funktionieren können, weil es dort keine Demokratie gibt und nach dem Willen der jetzigen Machthaber auch niemals eine geben soll.
In diesen Sphären herrscht das Prinzip der Dialektik, das zwar den meisten im westlichen Lager theoretisch bekannt ist, aber dessen nahtloses, permanentes Funktionieren viele im Westen aus den Augen verloren haben oder aus den Augen verlieren wollten.
In diesem Licht oder, 'besser gesagt: in diesem Zwielicht harter Tatsachen, meine sehr verehrten Damen und Herren, scheint mir der Herr Bundesaußenminister vorgestern ein allzu großes Wort allzu gelassen ausgesprochen zu haben, als er sagte: Regieren heißt Voraussehen. Ich wünsche Ihnen aufrichtig, Herr Außenminister, daß es Ihnen das Schicksal ersparen möge, vor der Geschichte einmal dafür Zeugnis ablegen zu müssen, ob Ihre heutige Sicht der 'Dinge die richtige Voraussicht gewesen ist.
Wenn mich etwas an dieser Debatte tief beeindruckt hat — leider in einem negativen Sinn —, wenn ich etwas nicht vergessen werde von dieser ersten Beratung, dann ist es der — entschuldigen Sie, ich finde kein gelinderes Wort — geradezu schreckliche Optimismus, der fast alle Reden der Sprecher der Koalitionsparteien durchzogen hat.
Ich kann hier leider den Herrn Bundesaußenminister nicht ausnehmen, auch den Herrn Bundeskanzler nicht und vor allem zu meinem Bedauern nicht den Herrn Verteidigungsminister, von dem man doch aus seiner Sicht der Dinge etwas mehr Nüchternheit, etwas mehr Skepsis, etwas mehr Zweifel an zukünftigen Entwicklungen und ihren immanenten Gefahren erwartet hätte.
Aber die Herren sind ja von der Richtigkeit ihrerSache so durchdrungen, von der Vortrefflichkeit, ja,Dr. Schulz
von der Unfehlbarkeit nicht etwa der Motive — das wäre ja legitim, das wäre ein psychologisch einfühlbarer Vorgang —, sondern von der Unfehlbarkeit ihres Tuns so überzeugt, daß auch mir ein Dichterzitat eingefallen ist. Gestern hat sich der Herr Kollege Ehmke auf Emanuel Geibel aus Lübeck berufen. Ich möchte einen bedeutenderen Dichter Schweizer Ursprungs zitieren, Gottfried Keller, der ein großartiges Sonett typischerweise überschrieben hat: „Den Zweifellosen" und dessen letzten Vers idi der Bundesregierung und den Koalitionsparteien ins Stammbuch schreiben möchte:Und dennoch kränzt Ihr schon mit Stroh das Haar,Als Eintagsgötter stolz Euch zu begrüßen. Der Zweifel fehlt, der alte Wanderstab.
Wenn Sie in den letzten Tagen die Opposition immer wieder bedrängt haben mit der Frage: wo ist denn eure Alternative?, dann haben Sie scheinbar nicht hingehört, wenn viele Sprecher der Opposition
anschaulich, konkret und verantwortungsvoll ihre Alternativen begründet haben. Sie haben vielleicht deswegen nicht hingehört, weil Sie ja den Standpunkt vertreten, für Ihre Politik gebe es keine Alternative.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Politik muß — ganz gleich, wie ihre Konstellationen und ihre Inhalte sind — eine schlechte Politik sein, weil sie alternativlos angelegt ist, weil sie sich selber nicht in Zweifel zieht,
weil sie die Möglichkeit eines Mißerfolgs, eines Scheiterns nicht einkalkuliert.
Ich möchte bei der Begründung des Umdrucks 260 ganz kurz das erwähnen, was der Bundeskanzler, der leider nicht im Raum ist, heute früh gesagt hat. Er hat die Opposition gefragt, ob denn die Verabredung der Westpolitik, wie sie die Bundesrepublik mit ihren westlichen Partnern getroffen hat, völlig falsch sein könne. Unsere Antwort lautet selbstverständlich: Nein, sie ist nicht völlig falsch. Aber auch etwas Richtiges kann u. U. den Bedürfnissen der Aktualität nicht genügen und nicht entsprechen, kann nicht der Beweis sein für die von der Bundesregierung immer wieder behauptete „contre-balance" der Westpolitik gegenüber einer doch immerhin abenteuerlichen und waghalsigen Ostpolitik.Der Herr Bundeskanzler hat — ich glaube, vorgestern — in diesem Zusammenhang verärgert darauf hingewiesen, man möge doch respektieren, daß sich in den letzten Jahren eine Erweiterung und Vertiefung der europäischen Gemeinschaften vollzogen habe. Was die Erweiterung anbetrifft, bestreite ich das gar nicht. Ich habe nichts von demzurückzunehmen, was ich über dieses Thema und über das Verhalten des Herrn Bundeskanzlers auf der Gipfelkonferenz in Den Haag im Dezember 1969 hier an dieser Stelle am 18. Juni 1970 gesagt habe. Dazu stehe ich — bei allem, was mich inzwischen politisch und persönlich von dem Herrn Bundeskanzler trennt.
Aber eine Erweiterung der Gemeinschaften ist doch noch keine Vertiefung, wie es der Herr Bundeskanzler in Anspruch genommen hat.
Zu der Vertiefung gehört doch der entschlossene und radikale Abbau des westeuropäischen Provinzialismus, gehört der Durchbruch zur Supranationalität, gehört die demokratische Kontrolle der europäischen Institutionen,
gehören vor allen Dingen gesetzgeberische Befugnisse für die in den Römischen Verträgen vorgesehene Versammlung. Diese gesetzgeberischen Befugnisse sind notwendig, weil sie den nationalen Parlamenten im weiteren Konsolidierungsprozeß der europäischen Gemeinschaften Stück für Stück entzogen werden.Solange diese Elemente nicht sichtbar werden — und im Umdruck 261 der Koalitionsfraktionen zu dem gleichen Thema werden sie kaum angedeutet —, besteht nicht nur der Verdacht, sondern ist der Sachverhalt gegeben, daß eine Ostpolitik weiterhin mit großen Schritten gemacht wird — eine Politik, für die man sich sogar Siebenmeilenstiefel angezogen zu haben scheint —, daß es aber in der Westpolitik bei jenen kleinen Schritten bleiben soll, die ja als Begriff in die öffentliche Diskussion der Herr Bundeskanzler, glaube ich, vor einigen Jahren eingeführt hat.
Wenn die Koalition diesen Eindruck zerstreuen will, sollte sie den unzulänglichen Antrag auf Umdruck 261 gar nicht erst begründen, meine Damen und Herren.
Ich weiß gar nicht, ob die Zeit, die Sie dafür in Anspruch nehmen können, noch ausreicht, aber wie auch immer: prüfen Sie doch einmal unbefangen den Text der Umdrucke 260 und 261 *) und vergleichen Sie.Versuchen Sie doch — und das ist ein sehr ernsthafter Appell,
ein sehr ernsthaftes Angebot, meine Damen und Herren von der Koalition —, das in der Ostfrage zerstrittene Hohe Haus in der Westpolitik zu einem einmütigen europäischen Bekenntnis zusammenzubringen, indem Sie den Umdruck 260 der Fraktion der CDU/CSU annehmen, in dem all die politischen Elemente enthalten sind, die ich hier kurz charak-*) Siehe Anlage 3
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9984 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Schulz
terisiert habe und die im Umdruck 261 vollkommen fehlen.
Ich möchte diese Unzulänglichkeit nur an zwei Beispielen deutlich machen. Das politische Element ist sehr klar in Forderungen auf dem Umdruck 260 der CDU/CSU angesprochen, wo die Schaffung einer politischen Union gleichzeitig mit der Wirtschafts- und Währungsunion nach einem klar festzulegenden Zeitplan gefordert wird. In dem Koalitionspapier heißt es: Konkrete Zielpunkte werden unter anderem — als letztes — für die Verstärkung der politischen Zusammenarbeit benötigt. Und wenn es dann abschließend in dem Papier der Koalitionsparteien, im Umdruck 261, heißt, daß im Hinblick auf die Direktwahl des Europäischen Parlaments dieser Bundestag die Bundesregierung auffordern soll, sich im Ministerrat der Gemeinschaften dafür einzusetzen, daß unverzüglich Vorschläge für diese Wahl entwickelt werden, die dem jetzigen Stand der Integration Rechnung tragen, und daß hierbei der Wahlentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1960 als Grundlage dienen soll, dann—entschuldigen Sie, meine Herren — muß der Kenner der Materie diese Zumutung wie einen politischen Witz empfinden.
Wir alle wissen doch, daß das seit zwölf Jahren ausgebliebene politische Wohlverhalten des Ministerrats in der entscheidend wichtigen Frage der Direktwahl auch heute nicht zu gewinnen sein wird durch noch so beschwörende Appelle eines nationalen Parlaments, sondern daß die einzige Souveränität, die leinzige Vollmacht, die ein nationales Parlament nach den Römischen Verträgen ausüben kann, die Direktwahl der eigenen Abgeordneten ist.
Mit diesem Gesetzentwurf werden wir uns ja heute in einer Woche in erster Lesung befassen.Ich hätte gerne noch einige andere Bemerkungen gemacht; die Zeit gestattet es nicht. Ich möchte aber abschließendeinen letzten Appell an meine ehemaligen politischen Freunde richten.
Ich habe über 40 Jahre !der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angehört. Ein Moment, der für 'Sie gestern mittag sehr unangenehm war, meine Damen und Herren von der SPD, als der Herr Kollege Marx zitiert hat, war für mich ein bewegender Moment, weil ich noch einmal meine politische Vergangenheit vor meinem Auge habe vorüberrollen sehen. Ich bekenne auch und heute aus diesem Anlaß, daß ich stolz darauf war, der Partei Ernst Reuters, Kurt Schumachers und Fritz Erlers angehört zu haben. Ich habe nur mit Ernst Reuter niemals persönliche Kontroversen gehabt, wohl mit Kurt Schumacher, wohl mit Fritz Erler in den 50er Jahren; nur habe ich damals in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands immer den archimedischenPunkt des Vertrauens gefunden: „Gebt mir einen Punkt, wo ich fest stehe, und sich werde die Welt aus den Angeln heben" — —, unid dieser archimedische Punkt ist durch die Tatsache verlorengegangen, daß man neuerdings nicht mehr weiß, ob das, was diese Partei gestern feierlich als ihren Standpunkt proklamiert hat, heute noch gilt, oder ob es nicht abgelegt wird wie ein getragenes Hemd, das in die große Wäsche geht. Das ist das Bestürzende an der Entwicklung.
— Herr Kollege Löffler, so gern ich Ihre Zwischenfrage gestatten würde: ich muß zum Ende kommen. Ein andermal.
— Ich muß zum Ende kommen, meine Damen und Herren, und ich möchte folgendes hinzufügen.
— Darüber können wir uns gern ein andermal unterhalten. Vielleicht bei der zweiten und dritten Beratung.
Tch werde Ihnen gerade zu diesem Thema die Antwort nicht schuldig bleiben! Ich warte darauf.
Machen auch Sie sich auf einiges gefaßt, wenn es so weit ist.
— Ich bin immer der Auffassung gewesen — —
— In zweiter und dritter Beratung werde ich Ihnen darauf Auskunft geben. Heute kein Wort mehr darüber!
Ich bin immer der Auffassung gewesen, daß ein demokratischer Politiker nicht allzuviel Prinzipien haben soll, aber einige, die für ihn nicht kompromißfähig sind. Für mich sind dies das Recht, die Selbstbestimmung, die Freiheit und noch einmal die Freiheit. Weil ich meine Gesinnung in dieser Beziehung nicht gewechselt habe,
habe ich die Partei und meinen Platz in diesem Hause gewechselt.
Wollen, Sie, meine Damen und Herren von der Koalition und insbesondere von der SPD, bedenken, daß für uns alle der unauflösliche Zusammenhang zwischen Frieden und Freiheit auch gegeben sein müßte, wenn wir in einigen Monaten unsere Entscheidung über diese Verträge fällen. Die Segnun-Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung, Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9985Dr. Schulz
gen der Freiheit kann derjenige nicht genießen, der den Frieden entbehren muß.
Aber eine Friedensordnung, die auch nur mit einer geringen Relativierung von Freiheitsrechten erkauft wird, bringt einen Frieden der Angst. Mögen die Befürworter dieser Verträge nicht aus den Augen verlieren, ob bei ihrem Ja nicht auch ganz wesentliche Elemente dieser Freiheit für unser Volk und für Europa zur Disposition gestellt werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Behrendt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu den Ausführungen des Kollegen Schulz nur eines sagen. Wer als einer der ersten die Oder-Neiße-Grenze anerkennen wollte und aus diesen Gründen als Berliner hier hergeschickt wurde, der hat kein Recht, der Sozialdemokratie zu unterstellen, man wisse nicht, ob das, was heute für sie gelte, auch morgen noch gelte.
Damit ist das erledigt.
Bevor ich auf die Umdrucke 260 und 261 zu sprechen komme — das wird sehr interessant sein —, möchte ich einige Bemerkungen unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs zwischen der Westintegration und den hier behandelten Verträgen machen.
Darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen. Meine Damen und Herren, es häufen sich in. meinem Büro die Anrufe von Fernsehzuschauern und Rundfunkhörern, die darüber Klage führen, daß es im Plenum zu laut sei. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen das zu sagen. Die Klage wird an den Präsidenten gerichtet. Ich bitte Sie also, den Rednern, die noch das Wort ergreifen, zuzuhören.
Herr Dr. Barzel, unter den drei Bedingungen, die Sie nannten und bei deren Erfüllung das Vertragswerk für Sie zustimmungsfähig — so drüdcten Sie sich aus — werden könnte, stand ein Punkt obenan, der sich unmittelbar auf die Europäische Gemeinschaft bezog. Herr Ehmke hat gestern etwas dazu gesagt. Ich will auch noch einige Dinge dazu sagen. Sie haben gesagt, daß diese erste Bedingung für Sie erst dann erfüllt sei — ich zitiere wörtlich —, wenn eine positive Einstellung der Sowjetunion zur Europäischen Gemeinschaft erreicht sei; nicht weniger als dies sei Voraussetzung für Ihre Zustimmung zum Moskauer Vertrag. Andere Kollegen der Opposition haben von der Forderung nach Anerkennung der Gemeinschaft durch die Sowjetunion gesprochen. Lassen Sie mich dazu kurz etwas sagen.Die Juristen mögen darüber streiten — ich gehöre nicht zu ihnen —, durch welche Rechtsakte eine völkerrechtliche Anerkennung bewirkt wird. Fest steht jedenfalls, daß man Völkerrechtssubjekt nicht durch einen eigenen Willensakt wird, sondern dadurch,das andere Staaten oder internationale Organisationen in einer Weise tätig werden, die als Anerkennung zu verstehen ist. Bei der Gemeinschaft finden wir zwei Möglichkeiten für eine solche Anerkennung. Man kann die Gemeinschaft erstens dadurch anerkennen, daß man einen Botschafter bei der Gemeinschaft akkreditiert. Viele Staaten haben diesen Weg gewählt, wahrscheinlich weniger bestimmter diplomatischer Gepflogenheiten wegen, die im Verkehr zwischen Staaten üblich sind, sondern um ganz konkrete Handelsvorteile zu erreichen. Eine zweite Möglichkeit, die Gemeinschaft anzuerkennen, besteht darin, daß man Verträge mit ihr abschließt, wobei natürlich in erster Linie an Handelsverträge zu denken ist.Wie ist nun die Lage der Sowjetunion in diesem Zusammenhang? Es wird Ihnen nicht entgangen sein, verehrter Kollege Barzel, daß die Sowjetunion handelspolitisch nicht mit unseren westlichen Handelspartnern zu vergleichen ist, sondern daß sie einer besonderen Kategorie zuzurechnen ist, nämlich der Kategorie der Staatshandelsländer. Der Handel mit diesen Ländern unterliegt besonderen Bedingungen, da Zölle im Osthandel eine untergeordnete Rolle spielen. Der harte Kern des Osthandels selbst ist noch nicht von der Gemeinschaft geregelt. Wir sind hier in einer Übergangsphase, die noch von dem Vorherrschen bilateraler Handelsverträge gekennzeichnet ist. Wir haben aber noch nicht — dies ist der springende Punkt — multilaterale Handelsverträge.Andererseits werden Sie nicht bestreiten, daß das Geschäft mit dem Osten weitgehend ein Geschäft der Lieferungs- und Kreditbedingungen geworden ist. Die Staatshandelsländer sind damit in der vorteilhaften Lage, sich im Westen von Land zu Land die besten Bedingungen aussuchen zu können. Dies kann man bedauern, aber man kann diesen Tatbestand nicht dieser Bundesregierung zum Vorwurf machen. Nur als Nebenbemerkung: Aus der Wirtschaft kommt eher der entgegengesetzte Vorwurf, die Bundesregierung beteilige sich nicht ausreichend an diesem Kreditwettlauf.Nun kommt meine konkrete Frage an Sie, Herr Dr. Barzel: Wenn die Sowjetunion sich noch handelspolitisch in der geschilderten Lage befindet, wie ich sie eben darstellte, und, grob gesagt, noch den einen gegen den anderen ausspielen kann — was wir sicherlich alle gemeinsam überwinden wollen —, warum sollte dann die Sowjetunion ohne Not diese Gemeinschaft anerkennen? Warum sollte sie von sich aus auf Vorteile verzichten, die ihr der wirtschaftliche Egoismus der westlichen Industriestaaten verschafft? Wie stellen Sie sich vor, daß die Bundesregierung in einer Lage, die noch durch diese bedauerlichen Egoismen gekennzeichnet ist, ohne Mandat ihrer Partner dieses Problem der Harmonisierung — ich betone ausdrücklich: das ist ein Problem der Harmonisierung der westlichen Partner! — an-9986 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, deli 25. Februar 1972Behrendtläßlich der Aushandlung eines bilateralen politischen Vertrages zu lösen versuchen soll?Wenn Sie mich fragen, wie da die Lösung aussehen soll, dann gibt es darauf eben nur eine Antwort: Wir müssen in Zukunft kräftig schrittweise die Einführung der gemeinsamen Handelspolitik gegenüber den Staatshandelsländern durchzusetzen versuchen, möglichst schon ab 1973, und zwar durch multilaterale Verträge. Die Sowjetunion, die sich sehr realitätsbezogen und auf ihren Vorteil bedacht verhält, wie ich eben darstellte, wird dann mit der neuen Realität konfrontiert werden.Dies gilt auch für die Vorbereitung der Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Diese Konferenz — und ich schließe ihre äußerst wichtige Vorbereitungsphase mit ein — muß für uns ein Anlaß sein, die Gemeinschaft beschleunigt zusammenzuschließen und auf wichtigen Gebieten zu festigen. Wie Sie wissen — das ist doch hier auch ein springender Punkt —, fanden schon erste Kontakte unter den Sechs im Rahmen der politischen Zusammenarbeit statt, übrigens auch unter Teilnahme der Europäischen Kommission.Aber, Herr Kollege Barzel, was war hierbei wichtig? Nicht alle EWG-Staaten wollten die unmittelbare Vertretung der Gemeinschaft auf dieser Konferenz befürworten. Einer der sechs Staaten soll sogar die Auffassung vertreten haben — nicht diese Bundesregierung —, eine sehr lockere vorherige Abstimmung würde durchaus genügen.Ich nenne das aus zwei Gründen. Erstens. Zunächst möchte ich Ihre Auffassung unterstreichen, daß die Gemeinschaft auf der genannten Konferenz mit einer gemeinsamen Haltung vertreten sein sollte. Über die Form müßte man noch reden. Ich glaube, darüber könnte man in diesem Hause Einigkeit erzielen. Der zweite Grund ist folgender. Die Ausführungen der Opposition erwecken bei mir den Eindruck, als schlage vor allem die Bundesregierung die Werbetrommel für die Sicherheitskonferenz, und zwar, so könnte man leicht folgern, als eine Art Gegenleistung gegenüber der Sowjetunion. Aber wie verträgt sich das dann mit Ihrer Argumentation, wenn Sie — Sie als Opposition — selber sagen, die Regierung habe schon einseitig alles in den Verträgen selbst verschenkt. Dann wäre doch nicht einzusehen, wieso sie sich dann noch zusätzlich verpflichten sollte, etwas zu propagieren, wovon sie keinen Nutzen hat. Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh daraus: ist es nicht so, daß eine Reihe anderer Staaten — ich denke da vor allen Dingen an Frankreich — die Abhaltung einer derartigen Konferenz schon vor der Bundesregierung begrüßt haben, und ist es nicht so, daß dann die Fragestellung lautet, ob die Bundesrepublik es sich leisten kann, im Schmollwinkel zu stehen und keinen Einfluß auf den Themenkatalog, den Zeitpunkt der Abhaltung und die Art der Vorbereitung zu nehmen? Sollen etwa die deutschen Interessen durch Abseitsstehen vertreten werden? Wir meinen das nicht.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz auf ein weiteres Argument der Opposition eingehen. Es wird gesagt, die Ostverträge beeinrächtigten die westpolitische Handlungsfreiheit der Bundesrepublik. Hier muß ich hart und klar sagen: die deutsche Politik wird hier in der Bundesrepublik gemacht und nirgendwo anders. Niemand in dieser Koalition denkt daran, sich irgendwelchen Spekulationen darüber hinzugeben, welche Reaktion etwa die Sowjetunion auf irgendeine Initiative im Bereich der westlichen Integration haben könnte. Ich meine, es ist unwürdig, irgendeiner deutschen Regierung unterstellen zu wollen, sie würde künftige Entscheidungen in der Gemeinschaftspolitik von irgendwelchen Gesten Moskaus abhängig machen. Es ist ein merkwürdiges Verständnis deutscher Außenpolitik, das aus diesen Unterstellungen der Opposition herausklingt. Für uns sind die Ostverträge eine Frage der Normalisierung, und Normalisierung bedeutet für uns nicht, daß wir uns in die Rolle eines Hundes begeben, der angestrengt in das Grammaphon nach der Stimme seines Herrn hineinlauscht. Nein, das ist es also nicht.Zu den Einwendungen zu diesem Punkt von Herrn Barzel lassen Sie mich also kurz zusammenfassen. Erstens. Die Frage der Anerkennung der EWG durch die Sowjetunion, die Herr Barzel so hochgespielt hat, ist völlig falsch gestellt. Sie ist eine Frage aller Mitglieder der EWG und ihrer gemeinsamen Politik. Zweitens. Ebenso ist die Frage der Teilnahme der Gemeinschaft an der KSZE eine Frage der gemeinsamen Vorbereitung. Auch hier kann die Bundesregierung nicht ohne Auftrag für die Sechs handeln. Drittens. Die außenpolitischen Bedenken des Dr. Barzel haben mit den vorliegenden Verträgen nicht das geringste zu tun. Sie gehören in den Zusammenhang der Weiterentwicklung der Politik der Gemeinschaft. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen dem Hohen Hause vor.Gestatten Sie hierzu nun noch einige wenige Bemerkungen. Dieser Antrag ist auf Umdruck 261 verteilt worden. Unser Text, der jetzt vorliegt, begrüßt in einer ersten Ziffer den erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen der Gemeinschaft. Er fordert in einer zweiten Ziffer von der vorgesehenen Gipfelkonferenz weitere Impulse für die Entwicklung der Gemeinschaft. Er präzisiert anschließend die Forderungen u. a. auch im Hinblick auf die Institutionen in der Gemeinschaft einschließlich der Direktwahl für das Europäische Parlament. Ich bin sicher, daß dieser Antrag in den Ausschußberatungen allgemeine Zustimmung finden wird. Dies gilt vor allem für die Opposition, die ihre Zustimmung vorab schon auf eine allerdings etwas eigenartige Weise bekundet hat. Wenn Sie nämlich die Texte des Entschließungsantrages der Koalitionsfraktionen und des Entschließungsantrages der Opposition miteinander vergleichen, gewinnen Sie den Eindruck, hier müssen magische Kräfte wirksam gewesen sein. Die beiden Entschließungsanträge gleichen sich nicht nur in ihrem Aufbau, sondern sie stimmen in weiten Passagen sogar im Wortlaut fast überein.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9987
Behrendt— Ich möchte so sagen, Herr Dr. Barzel: die politische Werkspionage der Opposition hat wieder einmal ausgezeichnet geklappt.Aber leider ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, dabei ein kleiner Fehler unterlaufen, Wir haben es uns mit diesem Antrag nicht leicht gemacht. Wir haben ihn sehr gründlich beraten. Wir haben immer wieder überlegt, ob der Antrag nicht noch verbessert werden könnte, ob er nicht geändert, noch präziser gefaßt werden sollte. Was Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, von uns in die Hände fiel, das war leider die vorletzte Fassung unseres Entwurfs. Wir haben unseren Entwurf noch an verschiedenen Stellen verbessert. Aber das konnten Sie nicht abwarten; Sie hatten es ein wenig zu eilig.Über eines muß ich mich allerdings wundern. Der Kollege Barzel hat in der Vergangenheit sehr häufig und sehr engagiert über Europa gesprochen. Die europaische Entwicklung mußte sogar herhalten, einen, wenn auch ziemlich fadenscheinigen Vorwand für Ihr Nein zu den Verträgen zu liefern. Da hätte ich doch von Ihnen erwartet, daß Sie selbständig eine Entschließung zustande bekommen hätten und nicht darauf angewiesen gewesen wären, unseren noch nicht ganz fertigen Entwurf nur etwas variiert einzureichen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wagner ?
Bitte sehr.
Herr Kollege Behrendt, sind Sie nicht der Auffassung, daß Nichtübereinstimmung in wichtigen Fragen gerade dadurch deutlich gemacht werden kann, daß Übereinstimmung in anderen Passagen auch wörtlich zum Ausdruck kommt, und sollte es Ihnen bei Ihrer Sachkenntnis der europäischen Probleme in der Tat entgangen sein, daß in allen wichtigen Punkten, die die innere und äußere weitere Entwicklung dieser Gemeinschaften betreffen, schwerwiegende Unterschiede zwischen den beiden Entschließungsanträgen bestehen und daß der Antrag der SPD und der FDP sich durch besondere Allgemeinheit und geringe Aussagekraft in diesen entscheidenden Punkten auszeichnet, während der Antrag der CDU/CSU sehr konkret in allen Punkten sagt, worauf es ankommt?
Herr Kollege Wagner, dieser Auffassung kann ich nicht zustimmen. Es gibt zwei Punkte, die Sie tatsächlich anders formuliert haben. Das ist einmal Ihre Lieblingsidee. Sie schreiben: „parallel dazu die Schaffung der Politischen Union der westeuropäischen Staaten nach einem klar festzulegenden Zeitplan". Dazu muß ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren von der Opposition: Sie haben doch Erfahrung mit der europäischen politischen Gemeinschaft gehabt; Sie kennen doch den Fouchet-Plan I und II. Wenn man das in einen Zeitplan hineinpackt, muß man doch Schiffbruch erleiden. Das ist durch die Geschichte der letzten zehn Jahre bewiesen worden.
Über diese Fragen „Direktwahl" und „nationale oder Gemeinschaftlösung" wird es möglicherweise nächsten Freitag eine Diskussion geben. Dazu will ich heute hier nicht Stellung nehmen.
Ich möchte nur noch sagen: wenn Sie auf Papiere unsererseits angewiesen sind, kann ich für meine Fraktion und sicherlich auch für die FDP-Fraktion erklären, daß wir Sie dann sehr gern in unseren internen Verteilerkreis mit aufnehmen, damit Sie auch immer die letzte und nicht nur die vorletzte Fassung bekommen.
Bis jetzt haben wir in der Diskussion über die Ostverträge keine Alternative zur Ostpolitik von Ihnen gehört. Nunmehr ist auch klar, daß Sie keine Alternative zu unserer Westpolitik haben.
Das haben Sie bewiesen, indem Sie sich mit Ihrem Entschließungsantrag dem unseren im Aufbau und in der Diktion praktisch angeschlossen haben. Aber ich halte das keineswegs für eine schlechte Sache, denn es zeigt, daß die Opposition wenigstens in der westeuropäischen Politik, der Integrationspolitik, mit dieser Bundesregierung und den Koalitionsparteien übereinstimmt. Wenigstens darüber sollten wir uns alle gemeinsam freuen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mende.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen eines der Senioren unseres Parlaments, des verehrten Kollegen Carlo Schmid, veranlassen mich zu einem kurzen Beitrag und zu einer doppelten Fragestellung an die Bundesregierung. Professor Carlo Schmid ist einer der Mitverfasser des Bonner Grundgesetzes. Mir ist bei seinen Darlegungen aufgefallen, daß er auf die zentrale, die fundamentale Frage unseres Grundgesetzes nicht eingegangen ist, nämlich auf die Menschenrechte, die damals aus gutem Grund an die Spitze unserer Verfassung gestellt wurden:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.Das deutsche Volk— so heißt es dann weiter —bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.Meine Damen und Herren, 20 Jahre lang waren diese fundamentalen Aussagen die Orientierung, die Maxime der deutschen Politik für alle demokratischen Fraktionen dieses Hauses, ob in der Regie-
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9988 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Menderung oder in der Opposition. Heute stellt sich die Frage: Gilt diese Maxime, gelten die Menschenrechte noch als d e r Orientierungspunkt der deutschen Innen- und Außenpolitik, oder sind sie auf den schiefen Weg geraten, der Anerkennung der Macht und der Kapitulation vor der Gewalt mehr einzuräumen als den Menschenrechten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Aufzeichnung über die Verletzung der Menschenrechte in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands." Damals lag den Vereinten Nationen ein Antrag auf Aufnahme des anderen Teils Deutschlands in die Vereinten Nationen vor. Unter selbstverständlicher Mitbeteiligung der sozialdemokratischen Opposition, mit einstimmiger Zustimmung des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen und nach einstimmiger Verabschiedung im Bundeskabinett ist in dieser Dokumentation aufgezählt worden, warum eine Aufnahme des anderen Teils Deutschlands in die Vereinten Nationen nicht erfolgen könne. Für diejenigen, die nicht die Zeit hatten, diese Dokumentation zu lesen, waren die erschütternden Bilder von dem an der Mauer verblutenden Peter Fechter, von der vermauerten Versöhnungskirche in der Berliner Bernquer Straße Beweise dafür, daß es einfach unmöglich ist, einen Staat in die Vereinten Nationen aufzunehmen, der sichtbar für alle Welt die Menschenrechte so mißachtet und mit Füßen tritt.
Unter einstimmiger Billigung der zuständigen Ausschüsse und unter Zustimmung auch der publizistischen Öffentlichkeit hier in Bonn, der nach dem Besuch in New York diese Dokumentation auf einer Pressekonferenz übergeben wurde, stellte diese Dokumentation fest — ich zitiere, Herr Präsident —:Dieser Schritt— d. h. der Versuch Ulbrichts, in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden —stellt einen Versuch 'dar, durch den Eintritt in die Vereinten Nationen mitten in Deutschland und gegen den Willen des deutschen Volkes gewaltsam errichtete Machtverhältnisse durch eine Organisation legalisieren zu lassen, zu deren weltweit erklärten Zielen die Verhältnisse in Mitteldeutschland und die Maßnahmen sowie Absichten der Regierung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands im offenen Widerspruch stehen.Ich frage 'die Bundesregierung und ich frage die die Bundesregierung tragenden Koalitionsparteien: Was hat sich bezüglich der Verletzung der Menschenrechte im anderen Teil Deutschlands geändert,
daß man heute bereit ist, die DDR in die Vereinten Nationen aufzunehmen?
Gilt also nicht mehr die Maxime der Orientierung unserer Politik an den Menschenrechten, sondern hat man sich der Macht und der Gewalt bereits soweit mit großen Schritten genähert?Meine Damen und Herren, eine zweite Frage betrifft die Menschenrechte in den Gebieten ostwärts der Oder-Neiße-Linie. In dem deutsch-polnischen Vertrag und in den Verhandlungsunterlagen, die auch hier in unseren Papieren liegen, hat man seinerzeit von einigen Zehntausend gesprochen, die eine Umsiedlung beantragen würden. Inzwischen liegen fast 300 000 Registrierungen vor. Deutsche und internationale Beobachter schätzen diejenigen, die sich in Schlesien, Ostpreußen, Pommern, Westpreußen zum Deutschtum noch bekennen, auf etwa eineinhalb Millionen Menschen.Am Vorabend dieser Debatte haben wir in einer Rede Eduard Giereks, des Chefs der Kommunistischen Partei Polens, am 21. Februar 1972 in Kattowitz folgendes vernommen. Diese Rede fand unmittelbar nach Ihrem Zusammentreffen, Herr Kollege Wehner, in Warschau mit Eduard Gierek statt.
Sie werden sicher Gelegenheit haben, das Zitat, das ich jetzt bringe, aus Ihren Gesprächen mit Gierek zu widerlegen oder zu bestätigen. Denn nur eines kann gelten, entweder ist noch alles offengehalten, oder es ist es nicht. Herr Gierek sagt:Zu den entscheidenden Fragen, die wir gemeinsam mit den anderen Ländern unserer Gemeinschaft ständig vorgetragen haben, gehört auch die Forderung nach der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen in Europa, insbesondere der Oder-Neiße-Grenze. Der letzte, in der Tat einzige Staat, der diese Grenze in Frage stellte, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, hat diese nun in den Verträgen von Moskau und Warschau anerkannt.
Das, meine Damen und Herren, ist die polnische und sicher auch die sowjetische Auslegung dieser Verträge von Moskau und Warschau.Es erhebt sich hier die Frage: Wie will die Bundesregierung ihrer Fürsorge- und Obhutspflicht gegenüber den Menschen gerecht werden, die drüben in den ostdeutschen Gebieten nicht die Erlaubnis zu einer Umsiedlung erhalten werden,
die dort also verbleiben müssen? Analog zu den Menschenrechten, für Minderheiten, die in allen kommunistischen Staaten des Ostens außer in Polen eingeräumt werden, muß doch das Mindeste sein, daß das Menschenrecht, die deutsche Sprache zu gebrauchen, deutsche Schulen zu besuchen, deutsche Gottesdienste zu veranstalten, deutsche kulturelle
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9989
Dr. MendeInstitute zu gründen, jetzt nachträglich durch Verhandlungen den in den Ostgebieten verbleibenden heimattreuen Schlesiern und Ostpreußen zuteil wird, damit wenigstens auf diesem Gebiet das menschlich Erträgliche für die dort Verbleibenden erreicht werden kann.
Denn, meine Damen und Herren, wie sehr die Deutschen, die herauswollen, bereits Schikanen, Nötigungen, Erpressungen und Diffamierungen unterworfen werden, wissen Sie alle. Dieses Thema hier zu erörtern würde der Sache nicht dienlich sein.Wir hoffen noch auf die bessere Einsicht der polnischen Behörden. Es ist besser, Einsicht zu zeigen und sich an den Menschenrechten der Charta der Vereinten Nationen auch gegenüber den dort verbleibenden polnischen Staatsbürgern deutschen Volkstums zu orientieren, als es erst so weit kommen zu lassen, wie es leider in Danzig und Stettin durch Versäumnisse und mangelnde Einsicht des Gomulka-Regimes gekommen ist.Ein letztes! Dieser Debatte, Herr Wehner, hören auch meine Landsleute in Schlesien zu. Ich bekenne mich zu meiner Heimat Schlesien.
Ich bekenne mich zur Geschichte Schlesiens! Ich bin im Schatten des heiligen Berges, des Annabergs in Groß-Strehlitz, aufgewachsen, und in meine Kindheitserinnerungen fallen, im Jahre 1921, die großartige Abstimmung für Deutschland und der Terror der polnischen Aufständischen. Ich sage hier, von diesem Platz, meinen Landsleuten, die uns hören und die über unsere Verhältnisse besser Bescheid wissen, als mancher hier glauben mag,
ich sage den Landsleuten, die uns über den Rundfunk hören: Die größte Partei der Bundesrepublik Deutschland, die hier mit fast der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages vertreten ist, wird ihre Fürsorge- und Obhutspflicht für die Landsleute in Schlesien, für unsere Deutschen in Schlesien, Ostpreußen, Pommern niemals preisgeben, weil wir den Menschenrechten mehr verpflichtet sind als der Macht und dem Opportunismus.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich möchte zunächst einmal den Herrn Bundeskanzler entschuldigen, der, wie Sie gesehen haben, vorhin aufbrechen mußte. Aber das hing damit zusammen, daß er eine unaufschiebbare Verpflichtung eingegangen war.
Ich darf Sie für einen Augenblick unterbrechen, Herr Bundesaußenminister.
Meine verehrten Kollegen, der Herr Bundeskanzler hat mir ausdrücklich den Grund gesagt. Er hat mir zur Kenntnis gegeben, daß nach der Verlängerung der Debatte die Möglichkeit, hier zu verbleiben, nur bis etwa 13.30 Uhr gegeben war. Er hat es mir als dem amtierenden Präsidenten ausdrücklich mitgeteilt. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.
Herr Präsident, ich danke dafür, daß diese Mitteilung hier offiziell gemacht werden konnte. Ich glaube, es liegt gar keine Veranlassung vor, sich über diese Mitteilung zu erregen. Es ist eine nüchterne, geschäftsordnungsmäßige Mitteilung. Ich glaubte nur, es den Kollegen schuldig zu sein, hierzu ein Wort zu sagen.Nun lassen Sie mich versuchen, Herr Präsident, ein Fazit dieser Debatte am Schluß der dreitägigen Diskussion zu ziehen. Ich meine, es war eine Debatte — wenn wir von der hier und da eingetretenen Erregung etwas absehen —, die von allen Seiten dieses Hauses mit Verantwortungsbewußtsein und auch mit dem Bemühen um Sachlichkeit und Fairneß geführt worden ist. Ausrutscher in einer solchen Debatte sollten wir weiß Gott nicht auf die Goldwaage legen; denn es geht ja hier — das fühlt doch jeder von uns — um Dinge, die uns nach allen schmerzlichen Erfahrungen und angesichts der großen Opfer unseres Volkes für eine verbrecherische Politik, die wir jetzt erst erkennen, tief berühren und aufwühlen, und zwar jeden von uns, meine Damen und Herren.Trotz der großen Differenzen zwischen Regierung und Opposition haben wir einige wesentliche Gemeinsamkeiten festhalten können. Dafür danke ich u. a. auch Herrn Kollegen Dr. Schröder, wenn er — ich formuliere es etwas frei — in seiner Rede gesagt hat, daß die Bundesregierung den Willen hat, wie er ihr zugesteht, eine konstruktive Politik zu treiben, daß sie bei der Aushandlung der Verträge im Rahmen des Grundgesetzes gehandelt hat und daß sie die Kontinuität der Ziele und der Grundelemente der deutschen Außenpolitik gewahrt hat. Ich meine, mit dieser Aussage ist auch ein Anknüpfungspunkt für weitere Gemeinsamkeiten gegeben, die wir im Interesse unseres Volkes, im Interesse des Friedens aufbauen sollten, die wir nicht ungenutzt liegen lassen sollten. Ich meine, daß die Diskussionen im Auswärtigen Ausschuß noch Gelegenheit bieten, hier anzusetzen, wenn wir den Willen dazu aufbringen können.Wir sind uns natürlich andererseits bewußt, daß sich die Konzeption der Bundesregierung und auch ihrer Verbündeten in entscheidenden Punkten von dem unterscheidet, was die Opposition hier als ein — ich darf wohl mit Ihrer Erlaubnis sagen — recht
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9990 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundesminister Scheelschillerndes Bild ihrer Vorstellungswelt dargeboten hat. Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen. Ich möchte nur noch einmal betonen, daß keine Frage der Opposition unbeantwortet bleiben soll. So, wie wir im Bundesrat alle Fragen, die dort gestellt worden sind, mit großer Sorgfalt beantwortet haben, werden wir es auch im Bundestag tun, und zwar hier und natürlich in den Ausschüssen, in denen wir uns in den nächsten Monaten über diese schwierigen Probleme beraten wollen. Wenn es der Auswärtige Ausschuß des Bundestages wünschen sollte — ich habe dem Herrn Vorsitzenden entsprechende Anregungen gegeben —, so wird die Bundesregierung auch bereit sein, ebenso wie im Fall des Bundesrates an bestimmte Vertreter der Fraktionen zusätzliche vertrauliche Informationen im Auswärtigen Amt über die Niederschriften der Verhandlungen und der Vorgespräche, die zu diesen Verhandlungen geführt haben, zu geben.Meine Damen und Herren, was bleibt am Schluß der Debatte? Zunächst ist einmal festzustellen, daß die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag mit den beiden Verträgen gleichzeitig ein geschlossenes Konzept, ein Gesamtkonzept ihrer West-Ost-Politik dargelegt hat.
Die beiden Verträge sind keine Überraschungsprodukte, sie sind aus einer langen Meinungsbildung in der Bundesrepublik und einer langen Meinungsbildung auch in der Allianz hervorgegangene erste Verhandlungsergebnisse, und zwar in einem andauernden Ausgleichsprozeß zwischen West und Ost in Europa. Das Berlin-Abkommen hat hierbei eine zentrale Funktion, weil es das erste Nachkriegsabkommen der vier Großmächte über einen der kritischsten Konfrontationspunkte in Mitteleuropa darstellt.Die Opposition hat 'diesem Gesamtkonzept, so meine ich, auch in dieser Debatte nichts Überzeugendes entgegenstellen können. In dieser Debatte hat sich nicht einmal den Eindruck einer gemeinsamen Überzeugung in den eigenen Reihen gemacht.
Sie 'hat keine glaubwürdige Alternative zur Konzeption der Bundesregierung vorgelegt.
Ich werde gleich erklären, warum. Auf der einen Seite haben wir — wenn ich ein paar Namen nennen darf — Herrn Strauß, auch den Kollegen Stücklen und Herrn Windelen, die wohl niemanden unter uns und in der Welt davon überzeugen konnten, daß sie überhaupt wirklich verhandeln wollen.
— Aber doch nicht mit den Grundlagen, die Sie hier vorgetragen haben.
Ihre Darlegungen waren doch eine Anhäufung von Scheinargumenten, die zu der Schlußfolgerung führen müssen,
daß Verhandlungen — und das bedeutet doch notwendigerweise Kompromisse — mit kommunistischen Ländern — so haben diese Herren doch gesagt — in fatalistischer Weise den Weg — ich wiederhole jetzt wörtlich, was hier gesagt worden ist — zum Unheil bedeuten.
— Ich habe nicht von Ihnen gesprochen. Aber hier ist es wörtlich gesagt worden als letzter Satz einer Darlegung.Für diese Vertreter der Opposition ist die Verhandlung mit kommunistischen Regierungen gleichbedeutend mit einem Verrat an den Völkern dieser Staaten: Vertrage mit ihnen müssen angesichts des Übergewichts der Sowjetunion und der weltrevolutionären und expansiven Pläne der Kommunisten einer Einwilligung zum Selbstmord 'gleichkommen — nach der Meinung dieser Kollegen.
manifestiert hat, eine Aussicht auf Verhandlungen haben könnte, auf Verhandlungen mit der DDR? Sie berauben sich doch selbst dieser Möglichkeit, wenn Sie hier proklamieren — und Sie halben es proklamiert —, wenn man mit den Regimen verhandle, falle man dem Volk in den Rücken. Ja, mit wem wollen Sie denn verhandeln, meine Damen und Herren?Bei Herrn Schrader weiß man nicht genau, ob er verhandeln oder nur formale Rechtspositionen aufrechterhalten will. Er hat zwar die Politik der Bundesregierung kritisiert, aber er hat auch keine Möglichkeiten für Verhandlungen in seinem Beitrag aufgezeigt. Seine ganze Sorge gilt der Gefahr, daß men bei Verhandlungen — gleich welchen — Rechtspositionen zur Disposition oder zur Diskussion stellen könnte, von denen doch manche, wie wir wissen, schon lange auf Sand gebaut sind.Ich frage die Opposition, wie sie 'bei diesem etwas schillernden Bild ihrer eigenen Vorstellungen überhaupt in der Lage sein kann, einmal — denn da muß es ja sein — harte Entscheidungen zu treffen. Denn wenn man Verhandlungen führen will, dann
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9991
Bundesminister Scheelbedarf es vorher natürlich harter Entscheidungen; denn Verhandlungen sind nur auf der Basis der Kompromißbereitschaft zu führen.
Dann muß ich vorher genau wissen, was ich will.
Die einzige Geschlossenheit, meine verehrten Kollegen, von der die Opposition in dieser Debatte einen Eindruck vermittelt hat, ist die Geschlossenheit zum Nein zu diesen Verträgen, d. h. die Geschlossenheit auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners.Ich darf mich nun mit drei Aspekten, vornehmlich der Ausführungen von Herrn Dr. Barzel und Herrn Dr. 'Schröder, etwas ausführlicher befassen. Es handelt sich erstens um die Einschätzung unserer Position im Bündnis, zweitens um die Einschätzung der Realitäten in der Deutschlandfrage und drittens um die Beurteilung unseres Verhältnisses zum Osten.Zunächst zur Einordnung unserer Politik in. dieses Bündnis. Wir wissen, daß die letzten Deutschland- und Berlin-Verhandlungen der Vier Mächte 1959 stattgefunden haben, und sie offenbarten einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen West und Ost in der .Deutschlandfrage. Die Dinge in Deutschland haben sich danach noch verhärtet. Die Mauer wurde gebaut, die Resignation nahm zu.
— Ja.
Dann will ich nur noch einen letzten Punkt aus der Rede des Kollegen Schröder hier nennen. Herr Kollege Schröder, das Wort von der unsoliden Außenpolitik; so meine ich, hätten Sie besser nicht gebraucht.
Ich hätte das, offen gestanden, aus Ihrem Mund am wenigsten erwartet. Wir haben ja zusammen in einem Kabinett gesessen, in dem Sie Außenminister waren; und vorgestern hat der Kollege Wehner ja auf die Bedeutung der Kabinettsdisziplin hingewiesen.
Ich werde mich auch deswegen bei meiner Erwiderung sehr kollegial verhalten. Darüber hinaus sollte ja auch eine Krähe der anderen nicht die Augen aushacken; das ist ein sehr bewährtes Sprichwort.
Aber wenn Sie schon von solider Außenpolitik sprechen, so darf ich doch nur einmal sehr behutsam an drei Komplexe erinnern. Da waren die bereits erwähnten Verhandlungen mit China im Jahre 1964; und wir kennen die Gründe, warum sie scheiterten. Da war unsere damalige Nahostpolitik, die zum Abbruch der Beziehungen zu den meisten arabischen Ländern geführt hat; jedermann weiß, wie diese Regierung jetzt darum bemüht ist, diese Scharte wieder auszuwetzen. Und da war schließlich diese atombewaffnete Flotte, die Gespensterflotte, die man MLF nannte, an der der damalige Außenminister noch erbittert weiterbastelte, als die Amerikaner schon längst nichts mehr davon wissen wollten; von den anderen Verbündeten will ich in diesem Zusammenhang gar nicht reden.Ich weiß nicht, Herr Kollege, ob Sie von mir jemals pauschale Urteile, pauschale Beurteilungen wie „solide" oder „unsolide" gehört haben, und ich will solche Urteile auch jetzt nicht abgeben.
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9992 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundesminister ScheelMeine Damen und Herren, die bisherige Debatte hat eine wichtige Gemeinsamkeit unterstrichen. Wir müssen mit unserer Politik fest im Bündnis verankert bleiben, nicht nur, weil wir die Sicherheit des Bündnisses benötigen, sondern auch, weil wir das Gewicht des Bündnisses für die Verhandlungen mit dem Osten brauchen. Deutsche Alleingänge sind zum Scheitern verurteilt. Wer aber gemeinsame Politik im Bündnis betreiben muß und betreiben will, der muß natürlich auch Rücksichten nehmen, der kann die Bündnispartner nicht außer acht lassen.Hier muß ich auf eine bedeutsame Fehlbeurteilung unserer Vertragspolitik durch die Opposition aufmerksam machen. Die Kritik der CDU/CSU sieht die Dinge zu eng, sieht sie zu sehr allein aus unserer besonderen Lage. Die Verträge und die dazu gehörende Berlin-Regelung sind abet die ersten Ergebnisse eines umfassenden Verhandlungsprozesses, der zwischen West und Ost auf der Ebene der beiden Supermächte, in der neuen Dreierkonstellation USA—Sowjetunion—China, zwischen den vier Deutschland- und Berlin-Mächten, auf der zwischeneuropäischen und auch auf der zwischendeutschen Ebene im Gange ist. Weitere Ergebnisse dieses großen, vielschichtigen Verhandlungsprozesses werden folgen.Die Verträge und die Berlin-Regelung sind von allen Teilnehmern — von allen Teilnehmern! — dieses Prozesses bereits als wichtige Zwischenergebnisse und Orientierungspunkte akzeptiert. Jeder hat sie in seine eigenen Kalkulationen mit eingestellt. Hier geht es insgesamt um die allmähliche Herausbildung normalerer, natürlicherer Verhältnisse zwischen Staaten und Völkern in Europa,Zunächst mußte es um die Ausräumung akuter Krisenherde — wie Berlin und die Frage der Grenzen in Europa — gehen. Es geht um die Ermöglichung eines längerfristigen evolutionären Prozesses, der sich kontrolliert und auf der Basis vereinbarter Grundregeln vollzieht. Die Verträge sind deshalb nicht der Schlußpunkt einer Entwicklung; sie sind der Ausgangspunkt einer Entwicklung.
Meine Damen und Herren, die Verhandlungen, die zu solchen Verträgen führen, und die Verhandlungen, die wir noch führen müssen; müssen von der wirklichen Lage ausgehen — wovon denn sonst?Diese unsere Politik — und das kann nicht einmal die Opposition bestreiten — ist nicht nur in dem bis jetzt Erreichten, den beiden Verträgen und der Berlin-Regelung, sondern auch in ihrer langfristigen Anlage im Bündnis des Westens verankert. Das konnte man eben leider von den Versuchen aus den Jahren 1962 bis 1965, als die Drei Mächte für Verhandlungen in der Deutschlandfrage bemüht worden sind, nicht sagen. Darin besteht der entscheidende Unterschied. Damals waren diese Verhandlungen auf der Basis der Vorstellungen der damaligen Regierung nicht im westlichen Bündnis abzusichern.Meine Damen und Herren, der zweite Aspekt, wo ich wesentliche Differenzen zwischen Opposition und Bundesregierung sehe, sind die Realitäten in Deutschland. Die DDR ist nun einmal da, ob wir esmögen oder nicht mögen. Eine Politik, die sie ignoriert oder ausklammert, ist eine Politik, die auf einem mit Illusionen gepflasterter Weg geht.Bis zur Großen Koalition, meine Damen und Herren, wurde die DDR juristisch als ein „nullum" angesehen. In der Großen Koalition mußte die CDU/ CSU allerdings zugeben, daß man keine Gespräche und keine Verhandlungen mit einem „nullum" führen kann. Das ist schlechthin undenkbar. Aus dem „nullum" wurde dann ein „Phänomen"
oder auch ein „Gebilde".
Aber auch mit einem Partner, der nur als Phänomen akzeptiert wird, meine Damen und Herren, kann man keine Verträge schließen, denn wer schlösse schon Verträge, wenn sie nicht verbindlich sind. Die Deutschlandpoiltik der Großen Koalition mußte sich an dieser Zwielichtigkeit ihrer Haltung gegenüber der DDR festfahren; daran ging kein Weg vorbei. Die CDU/CSU hat damals durch ihre Haltung etwas verhindert, was in der Regierungserklärung und in der Regierungsabmachung 1966 offenbar vereinbarte Politik gewesen war. Sie hat es durch ihre Weigerung verhindert, die DDR in diesen Prozeß mit einzubeziehen, und zwar in der Form, in der man das nur konnte.Herr Schröder meinte vorgestern abend — Herr Barzel hat es heute wiederholt —, in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hätte die 1 Bundesregierung mit der Formulierung von den zwei Staaten in Deutschland die bis dahin gemeinsam verfolgte Linie der Ost- und Deutschlandpolitik ohne Fühlungnahme und ohne Übereinstimmung mit der Opposition verlassen. Das stimmt, meine Damen und Herren! Aber das war ja nötig, daß wir das taten, denn sonst hätten wir gar nichts in der Osteuropapolitik machen können.
Wir haben doch aber auch gleichzeitig die Grenzen klargemacht, deutlich gezogen,
in denen wir die DDR als Verhandlungs- und Vertragspartner akzeptieren können. Die Grenzen liegen nämlich dort, wo unser Verhältnis zueinander zu einem Verhältnis ausländischer Staaten zueinander würde. Die Politik, nach der man mit der DDR verhandeln wollte, ohne ihr einen Status einzuräumen, war von Illusionen gekennzeichnet. Unsere Politik ist realistisch und wahrt gerade wegen ihres Realismus den Auftrag, den uns das Grundgesetz gegeben hat.
Herr Schröder hat die Frage nach der internationalen Anerkennung der DDR aufgeworfen und sie mit unserer Politik verknüpft. Diese Frage, Herr Dr. Schröder, war in der Zeit, als wir die DDR als „nullum" bezeichneten, kritischer als heute. 1967, 1968 und 1969 war die grobe Nichtanerkennungspolitik oder gar die Politik des Alleinvertretungs-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9993
Bundesminister Scheelanspruches in weiten Kreisen der Staatenwelt einschließlich des Bündnisses am Ende ihrer Glaubwürdigkeit angelangt. Es war die Politik dieser Regierung, die die Staatengemeinschaft veranlaßte, weiterhin Zurückhaltung zu üben und uns die Chance einzuräumen, die Probleme in Deutschland unter den Beteiligten, d. h. den beiden deutschen Seiten und den Vier Mächten, unmittelbar zu regeln.Erst nach einer Regelung des Modus vivendi wird für unsere Freunde draußen in der Welt der Weg frei sein, ihre eigenen Beziehungen zur DDR zu regeln. Das haben wir schon in unserer Regierungserklarung gesagt. Wir haben dann eine Ordnung der Dinge, die durch Verhandlungen erzielt wurde. Ohne diese Politik hätte der Gang der internationalen Etablierung der DDR für die Bundesrepublik eine Kette diplomatischer Niederlagen gebracht. Meine Damen und Herren, anders wäre es nicht verlaufen.Das Machtgefälle zwischen uns und der Sowjetunion, von dem hier immer wieder geredet wurde, wird durch eine starre Haltung der Abwehr, durch einen Antikommunismus steriler Art nicht abgeschwächt. Es wird durch die Stärkung des Bündnisses und durch die Sicherung eines machtpolitischen Gleichgewichts aufgehoben. Es wird durch die Schaffung eines politischen Klimas entschärft, in dem der Osten ein aufrichtiges Interesse an der Zusammenarbeit mit Westeuropa
gewinnt. Die Opposition verkennt nicht die Realitäten unserer Ausgangslage, sie verkennt, daß eine neue rind bessere Ordnung in Europa nicht mit bloßen Forderungen erreicht werden kann. Meine verehrten Damen und Herren, Ihr Verhandlungsprogramm schreckt schon vor der ersten Schwelle zurück, nämlich vor der Wirklichkeit, daß ein zweiter Staat in Deutschland besteht und daß man mit diesem Staat reden muß, wenn man Zugang zu seinen Menschen haben will.
Meine Damen und Herren, man kann nicht die Konfrontationspolitik der 50er Jahre fortsetzen.
Um auf dem Weg der Verhandlungen voranzukommen, muß ein Mindestmaß an Vertrauen aufgebaut werden; es muß eine Grundlage an gegenseitiger Achtung geben, und zwar trotz aller Vorbehalte moralischer und ideologischer Art.Sehen Sie doch auf das Beispiel, das unser großer Verbündeter in diesen Tagen setzt. Präsident Nixon stößt mit vollem persönlichen Einsatz aus jahrzehntelang gehaltenen Positionen vor
und macht den Übergang von der Konfrontation zur Tat.
Herr Kollege Strauß, Sie haben uns vorgeworfen, wir würden unseren Frieden mit den kommunistischen Gewaltherren anstatt mit dem Volk machen. Natürlich verhandelt der amerikanische Präsident in Peking nicht mit dem Volk, sondern mit den dort nun einmal herrschenden Führern dieses Volkes. Herr Dr. Barzel, Sie haben sich in Moskau, wie Sie uns hier gesagt haben, doch auch darüber geeinigt, daß Frieden und Zusammenarbeit zwischen uns und dem Osten wünschenswert seien. Das haben Sie in Moskau doch natürlich mit den sowjetischen Führern abgesprochen. Mit wem hätten Sie es denn sonst tun sollen?Der Herr Kollege Strauß wirft uns vor, die Gewaltverzichtsverträge seien von gestern und vorgestern; wir befänden uns aber jetzt in der Welt in einer neuen Konstellation. Hoffentlich meint er damit nicht eine neue Konfrontation mit einer Rückkehr zu Druck und Gegendruck.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Erstens. Zwischen Opposition und Regierung bestehen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Zielsetzung der Ostpolitik. Auch die Opposition wünscht Entspannung, Frieden und Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten. Lediglich einzelne ihrer Vertreter sehen in einer solchen Zusammenarbeit eine Stärkung der dortigen Regierungen zu Lasten ihrer Völker.
Zweitens. In den Methoden, um zu diesem Ziel zu gelangen, besteht zwischen Opposition und Regierung eine grundlegende Meinungsverschiedenheit. Die Opposition will die Verträge liegenlassen
oder überhaupt den Sinn solcher Verträge leugnen.
Drittens. Die Motive der Opposition für das Warten, für das Liegenlassen, sind verschieden. Einige wollen auf die innerdeutsche Vereinbarung warten, andere auf eine Änderung der westlichen Politik, andere wieder auf eine veränderte Weltlage im Gefolge dies chinesisch-sowjetrussischen Konflikts.
Das ist nicht die Auffassung der Bundesregierung. Sie ist der Meinung, daß die gegenwärtige internationale Konstellation die Verträge jetzt erforderlich macht. Die Erfahrungen der deutschen Nachkriegsentwicklung 'stützen sie in dieser Auffassung.Viertens. Manche Äußerungen in der Debatte, manche Zwischenrufe in der Debatte,
die interessanter waren als manche Äußerungen, die man als Freudsche Fehlleistungen bezeichnen könnte, bestätigen die Bundesregierung in der Überzeugung, daß es nicht zu früh, sondern allerhöchste
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9994 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Bundesminister ScheelZeit ist, einen Teil unseres Volkes mit den realpolitischen Verhältnissen unserer Welt vertraut zu machen.
Fünftens. Die Debatte hat auch gezeigt, wie schwer es für manche Vertreter der Opposition ist, Anschluß zu finden an den Gang und die Veränderungen unserer Welt.
Vieles, was wir hier gehört haben, und alle Zwischenrufe, die ich in den letzten zehn Minuten gehört habe, bestätigen das voll. Vieles hat uns zurückversetzt in die frühen 50er Jahre. Nur aus der Sicht der damaligen Zeit werden solche Ausführungen verständlich. Faustregeln des kalten Krieges tun es einfach heute nicht mehr;
ich habe es zu Beginn gesagt. — Sie mögen da so viel schreien, wie Sie wollen, meine Damen und Herren! Diese Faustregeln tun es nicht mehr in einer Welt, in der es zwei große Mächte ganz allein in der Hand haben, ob sie mit ihren Mitteln — jeder für sich — diese Welt zerstören wollen oder nicht.
Ich wiederhole noch einmal: Eine dieser Mächte ist ein kommunistisches Land; Sie werden daran nicht vorbeikommen, daß sich diese beiden Großen miteinander einigen müssen, um den Weltfrieden gemeinsam zu erhalten. Das ist die Grundlage unserer Politik, meine Damen und Herren!
Wer daran vorbeigeht, ist nicht nur ein Illusionist, sondern er nimmt nicht die Verantwortung wahr, die er unserem Volke gegenüber wahrnehmen müßte.
Die Staatsmänner der westlichen Welt, bei den Vernigten Staaten angefangen, und die Westeuropas haben das erkannt, nur in diesem Hause noch nicht alle Mitglieder.
Sechstens. Wir müssen uns gegen das Überhandnehmen eines gewissen provinziellen Denkens in unserem Lande wehren.
Da ist uns mit Monumentalgemälden der internationalen Lage, wie sie Kollege Strauß uns hier vorgeführt hat, nicht geholfen.
Wir müssen die Daten der weltpolitischen Lage objektiv und präzise analysieren, ja, aber wir müssensie in unserer Politik berücksichtigen, meine Damen und Herren!
Siebtens. Die Opposition wird es in der nächsten Zeit nicht leicht haben,
sie wird erst einmal ihre internen Widersprüche auflösen müssen, wenn sie nach innen und nach außen ihren Wert als Gesprächspartner behalten will.
— Nun, ich bin nicht so pessimistisch, was die Opposition angeht, weil die sich doch in gewisser Weise auf die Elastizität ihres Parteivorsitzenden verlassen kann. Es wird, so meine ich, Ihnen manchmal Schwierigkeiten machen, seine Züge alle nachzuvollziehen.
— Ja, das kann er leicht halten. Wir werden es gleich sehen. Er wird jedoch von seinem Vielleicht vor der Berlin-Regelung über sein Nein nach der Berlin-Regelung und dem „So nicht" vor dieser Debatte über ein mögliches „Hier auch" nach der Ratifizierung weiter bis hin zu einem Ja gehen können.
Wir unsererseits werden hingegen hier und jetzt in Verantwortung ja sagen.
Es ist nicht unser Problem, selbstverständlich. Aber die Opposition wird sich die Frage stellen müssen, wie sie diese Schwierigkeiten überwindet.Demgegenüber hat die Konzeption der Bundesregierung sich auch in dieser Debatte behaupten können, ja sie ist gefestigt aus der Debatte herausgegangen.
Diese Konzeption beruht auf folgendem.Erstens. Die Verwirklichung des Gewaltverzichts auf der Grundlage des territorialen Status quo entspricht dem Wunsch unseres Volkes, das nicht nur den Frieden, sondern auch Klarheit über die Ausgangsgrundlage seiner Politik wünscht.
Zweitens. Die Unverletzlichkeit der Grenzen gewinnt im Zeitalter der nuklearen Konfrontation
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9995
Bundesminister Scheelgrundlegende Bedeutung für die Erhaltung des Friedens.
Drittens. Praktische Zusammenarbeit zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung eröffnet für die Beziehungen der Staaten und Völker eine neue Dimension. Sie schafft Vertrauen, wo vorher Mißtrauen herrschte.
Sie schafft gegenseitiges Interesse, wo vorher nur Rivalität herrschte. Sie hebt den Lebensstandard der Völker und hilft damit den Menschen.Viertens. Das Problem der Teilung Deutschlands ist eingebettet in diese Zusammenhänge. Es ist der Kern unserer Ost-West-Politik in Europa. Ziel bleibt das Recht auf Selbstbestimmung aller Deutschen. Der praktische Weg dahin ist Entkrampfung, menschliche Erleichterung und Zusammenarbeit, ausgehend vom Status quo.
Wenn die Teilung Europas gemildert wird, dannkann die Teilung Deutschlands nicht vertieft werden.
Fünftens. Die Bundesrepublik Deutschland bezieht die Stärke für eine solche Politik aus ihrer freiheitlichen demokratischen Ordnung. Diese wird sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht nur verteidigen — hier stimme ich ganz dem Kollegen Katzer zu —, sondern in der friedlichen Konkurrenz mit anderen zu höchsten Leistungen entwickeln.
Sechstens. Die zügige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und ihre Erweiterung sind eine Voraussetzung für den Erfolg dieser Politik. Die Bundesregierung wird wie bisher die Politik der europäischen Einigung aktiv vorwärtstreiben.Siebtens. Die Ost-West-Politik der Bundesregierung bleibt eingebettet in die Verteidigungskraft der Atlantischen Allianz und die gemeinsame Politik der Allianzpartner.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung geht mit dieser politischen Konzeption vertrauensvoll in die weiteren Beratungen in den Ausschüssen hinein. Sie ist überzeugt, daß diese Politik schließlich nicht nur im Volke, sondern auch im Parlament die notwendige Mehrheit findet. Dem Frieden der Welt zu dienen — auch dies ist eine Verpflichtung der Präambel des Grundgesetzes —, ist das Gebot der Stunde. Man erfüllt dieses Gebot, in dem man etwas dafür tut, und mit der Annahme der vorliegenden Verträge ist uns Gelegenheit gegeben, dafür etwas zu tun.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst eine Bemerkung, die unsere Rechtssituation angeht. Nach dem Grundgesetz hat die Bundesregierung das Recht, hier in diesem Hohen Hause, einmal sooft sie will, aber auch zu der Zeit, zu der sie es möchte, das Wort zu ergreifen. Ich habe das als Minister immer als eines der allerstärksten Rechte der Bundesregierung angesehen. Sie hat davon in dieser Debatte mit verschiedenen Ministern reichlich Gebrauch gemacht. Es tut mir leid, daß wir jetzt ein bißchen in zeitliche Bedrängnis geraten.Es ist sehr schwer — das habe ich aus dem gemerkt, was Herr Kollege Scheel vorgetragen hat —, selbst in einer zweieinhalbtägigen Debatte wörtlich ganz genau klarzumachen, was wir nun eigentlich wollen, wo sich unsere Auffassungen unterscheiden, und das vor einer großen Öffentlichkeit genügend plastisch zu machen. Ich habe dabei einen Trost. Dies ist ein Gefecht oder eine Schlacht, aber dies ist noch nicht der Feldzug. Der Feldzug dauert länger, und wir werden uns ja hier in einiger Zeit wiedersehen und dann versuchen, all das noch klarzumachen, was jetzt, jedenfalls in der Darstellung vom Herrn Kollegen Scheel, unklar geblieben ist.Ich möchte auf eines zurückkommen, was ich neulich gesagt habe. Ich habe gesagt: Diese Situation, in der sich unser Land befindet, verlangt von uns eine sachliche Härte, nicht eine persönliche Härte. Herr Kollege Scheel, es täte mir sehr leid, wenn trotz allem der Eindruck persönlicher Härte aufgekommen sein sollte. Ich werde nicht vergessen, daß wir fünf Jahre zusammen in demselben Kabinett gesessen haben und daß Sie der Vertreter des Außenministers waren. Jeden persönlichen Respekt und jede persönliche Hochachtung möchte ich hier sehr gern bekunden.Sie haben etwas gesagt, was ich nun nicht ganz so schön finde. Das war die Sache mit der Krähe. Da gibt es wohl ein Sprichwort. Ich hoffe, Sie werden sich nicht mit der Krähe vergleichen wollen; ich habe wirklich nicht die Absicht, das zu tun. Ich werde keinen Augenblick vergessen, daß daß Porzellan, das wir hier in der Hand haben, Qualität besitzt und eine, sehr vorsichtig zu behandelnde Ware ist. Es ist das Porzellan von uns allen, das Porzellan des ganzen deutschen Volkes.Sie irren sich aber, wenn Sie glauben, daß wir im Augenblick hier wären, um nun eine komplette Alternative, wie es so schön heißt, vorzutragen. Es handelt sich darum, daß Sie die Verträge abgeschlossen haben,
und diese Verträge untersuchen wir in der härtesten, klarsten und kritischsten Weise. Das ist der Punkt.
Wenn Sie wollen, daß ich meine Befürchtungen, die die Befürchtungen von sehr, sehr vielen hier im
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9996 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Schröder
Hause, auch - das wage ich zu sagen — von vielen innerhalb der Regierungskoalition sind,
.
kurz resümiere, so würde ich sagen — wohlgemerkt: ich spreche von unseren Befürchtungen —: Wir haben die Befürchtung, daß die beiden Vertragswerke, die uns vorgelegt worden sind, die Teilung unseres Landes vertiefen und unsere Sicherheit verringern könnten. Darum geht es.
Darüber haben wir nicht nur in diesen drei Tagen gesprochen, sondern darüber werden wir mit großer Intensität weiter sprechen.Sie haben drei Themen genannt, zu denen Sie der Meinung waren, daß die vergangene Außenpolitik Mängel gehabt haben könnte. Natürlich hat die Politik von uns allen etliche Mängel. Diese drei Themen — ich wiederhole sie eigentlich nur, damit es nicht vergessen wird; ich werde in diesem Hause ganz bestimmt darauf zurückkommen — sind China — darauf komme ich mit allergrößtem Vergnügen zurück,
auch auf das, was wir in dieser Sache getan haben —, der Nahe Osten — auch darüber werden wir in aller Offenheit sprechen —, und das dritte Thema ist von Ihnen mit einem Wort bezeichnet worden, das eine jener scheußlichen Abkürzungen und eines jener Schlüsselwörter ist, also MLF; sagen wir lieber Nuklearpolitik. Alle Standpunkte, die ich zu diesen drei Themen eingenommen habe, halte ich unverändert für richtig. Wenn es interessant und wichtig genug sein sollte, will ich meine Meinung dazu gern später vortragen.Nun haben Sie, Herr Kollege Scheel, die Meinung vertreten, daß wir uns in dem großen Kreis der Opposition nicht in allen Punkten einig oder daß wir gelegentlich sogar dissonant wären. Sie täuschen sich — bitte, tun Sie das nicht! — im Kern der Sache.
Es gibt drei Dinge, ganz gleich, welche Worte wir dabei verwenden, in denen wir unter allen Umständen einig sind, und diese heißen: Frieden, Zusammenarbeit, wenn nur irgendwie möglich, und Gewaltverzicht.
Ich bin ausdrücklich autorisiert worden, das noch einmal nachdrücklich für alle Teile der Fraktion zu sagen. Das möchte ich hiermit getan haben.Ich sagte schon, es geht nicht darum, daß hier und heute über eine Konzeption von uns gesprochen werden soll, sondern es wird über Ihre Konzeption und Ihre Vorlagen gesprochen. Ich möchte eines sagen: Wir sind nicht an einer Stelle, wo wir igrendein Anzeichen dafür erkennen könnten, daß die Sowjetunion - um vor allen Dingen von ihr zu sprechen — tatsächlich bereit ware, einen konstruktiven Kompromiß einzugehen. Dieser Augenblick ist offensichtlich noch nicht gekommen. Nach meiner Überzeugung wird dieser Augenblick kommen. Wirwerden jedenfalls alles tun, um die Entwicklung dafür offenzuhalten.
Meine Damen und Herren, ich habe mich dafür ausgesprochen — das tue ich auch im Blick auf den Auswärtigen Ausschuß —, daß wir uns in dieser Sache so offen wie möglich, aber auch so fair wie möglich äußern sollten. Wie schwer das ist, habe ich leider in dieser Debatte als Zuhörer — ich kann darüber jetzt nicht ausführlich sprechen — erfahren müssen. Ich bin, u. a. von einem sehr prominenten Sprecher, kritisiert worden, ich hätte nicht über Berlin gesprochen. Der Kollege Mattick hat das kritisiert, der Kollege Heyen hat darüber gesprochen, und einer der Sprecher von der Ministerbank desgleichen. Meine Damen und Herren, im ersten Satz meiner Rede habe ich mich bereits mit diesem Stichwort beschäftigt. Der Kollege Borm hatte vor mir gesprochen. Herr Kollege Borm, ich hätte von der Ministerbank aus gesehen vielleicht einen anderen Augenblick für meine Rede gewählt. Jedenfalls habe ich nach dem vorgesehenen geschäftsordnungsmäßigen Ablauf gleich nach Ihnen gesprochen. Ich habe erklärt: Das, was wir dazu zu sagen haben, wird ein bißchen später — morgen, habe ich gesagt — einer von unseren Berliner Kollegen — ich habe an die Kollegen Gradl und Amrehn gedacht — ausführen. Kollege Amnrehn hat gestern unseren gemeinsamen Standpunkt ausführlich dargelegt. Mich dann anzugreifen, weil ich nicht über Berlin gesprochen hätte, verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht.
— Herr Kollege Jahn, ich nehme an, es ist versehentlich geschehen. Aber es wäre gut, wenn sich diese Art von Versehen nicht wiederholen würde.Was nun Berlin angeht, mochte ich doch jetzt noch zwei, drei Worte mehr sagen. Meine Damen und Herren, für mich ist völlig selbstverständlich -- wollen wir doch darüber nicht lange streiten —, daß Berlin im Mittelpunkt der Deutschlandpolitik steht, gestanden hat, stehen wird, stehen muß und daß wir von diesem Mittelpunkt her das Thema weiter behandeln werden. Aber daß Berlin auch nur ein Ausschnitt —, ein sehr wesentlicher und wichtiger Ausschnitt — aus der Gesamtthematik ist, liegt doch wohl auf der Hand. Wie wichtig wir ihn nehmen, können Sie aus etwas ersehen, was für die Opposition durchaus schwierig und vielleicht gar nicht unbedingt richtig war, wenn sie auf das große Verständnis abhebt, das sie in der Öffentlichkeit braucht. Die Opposition hat gesagt, sehr wohl überlegt, sehr vorsichtig, daß sie ihr letztes Wort zu den Verträgen nicht eher sagen werde, als eine Berlin-Regelung — damals verhandelten die Vier Mächte bereits — vorliege. Das hat uns in mancherlei Schwierigkeiten und Mißverständnisse gebracht. Aber es war eine sehr, sehr patriotische Handlung, meine Damen und Herren.
Auf diese Weise hat die Opposition bewiesen, daßsie bemüht war, alles zu tun, um die Viermächte-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 9997
Dr. Schröder
verhandlungen über Berlin nicht etwa zu stören, sondern die Bundesregierung bei ihren Konsultationen mindestens mit den drei Westmächten nachdrücklich zu unterstützen und ihr einen höchstmöglichen Einfluß zugunsten einer möglichst akzeptablen Berlin-Regelung zu geben. Wie die Berlin-Regelung ist und daß sie noch nicht in Kraft gesetzt ist, wissen wir alle. Was wir dazu kritisch zu sagen haben, hat der Herr Kollege Amrehn vorgetragen. Ich will das jetzt nicht weiter vertiefen. Aber wir werden die Unterhaltung darüber hier im Hohen Hause fortsetzen.Ich habe vorgestern an die Regierung ein paar Fragen gerichtet, die leider jetzt durch den Kollegen Scheel nicht beantwortet worden sind.
— Nicht alles wird sofort beantwortet. Wir werden auf die wichtigsten Fragen zurückkommen. Aber was ich angeführt habe, belegt die Sorge, die wir hinsichtlich des möglichen Tieferwerdens der Teilung unseres Landes haben. Es war dies : Nicht die Frage der Anerkennung der DDR durch die Zentralafrikanische Republik ist der entscheidende Punkt, sondern die Frage, was sich durch die jetzige Politik der Bundesregierung bis hin zu den Vereinten Nationen etwa an der Teilung unseres Landes vertiefen, ändern mag. Meine Damen und Herren, das ist eine Frage, die nicht leichtzunehmen ist. Ich habe dem Sinne nach gesagt — das waren meine ersten Sätze —: Wenn eines Tages tatsächlich ein französischer Botschafter in Ost-Berlin sitzt, vielleicht etwas später ein britischer Botschafter und vielleicht noch etwas später ein Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn das eintreten sollte, meine Damen und Herren, dann ist das nicht etwa der unabwendbare Gang der Geschichte, dem wir uns hier anzupassen hätten, sondern dann ist es eine klare Folge der Politik der heutigen Bundesregierung.
Die Zeit ist zu kurz, um gründlich genug auf alles einzugehen, was hier vorgetragen worden ist. Ich möchte nur noch ganz wenige Anmerkungen machen. Zu dem Kollegen Schmidt, der leider im Augenblick nicht da ist, möchte ich sagen, daß ich ihn um .den Optimismus beneide, den er hier ausgedruckt hat. Ich sage das bei aller Respektierung von gutem Willen usw. usw. Trotzdem beneide ich ihn um den Optimismus. Ich vermag diesen Optimismus nicht zu teilen.
Das Problem, um das es geht, ist die Frage: Wie können wir ein mühseliges, prekäres Gleichgewicht erhalten, ohne Substanz zu opfern? Das ist doch die Frage, um die es geht und über die eingehender wird gesprochen werden müssen.Ich unterstreiche, was Kollege Zimmermann heute morgen gesagt hat. Er hat in, wie ich glaube, sehr eindrucksvoller Weise einen Teil der notwendigenZahlen beigebracht, die wir eigentlich gestern hätten hören sollen
und die man lesen muß, nachlesen muß, meine Damen und Herren, um wirklich zu sehen, wie es denn mit diesem prekären Gleichgewicht und der Möglichkeit seiner Erhaltung steht.Wenn wir — die Bundesregierung ist optimistischer; einer der Kollegen hat 'das vorhin noch einmal gesagt — vor 'der Frage der Zukunft stehen, so stehen sich natürlich vielleicht ein Zuviel an Hoffnungen und Erwartungen und Befürchtungen gegenüber. Es liegt an uns, das wirklich genau zu analysieren. Tadeln Sie uns bitte unter gar keinen Umständen, daß unsere Befürchtungen vielleicht zu groß seien. Meine Damen unid Herren, ich bin mir darüber klar, daß der Gegenstand, über den wir hier sprechen — der Gegenstand, nicht die Vertrage —, wirklich ein Anliegen von 'uns allen ist. Wir können dieses Anliegen nur dann wirklich vertreten, wenn wir in dieser Sache vernünftig und richtig zusammenhalten.Für mich bedeuten die Befürchtungen, die wir haben, nicht, 'daß wir sozusagen davorsäßen und sitzenbleiben mußten wie ein gelähmtes Kaninchen vor der Schlange. Die Befürchtungen sind für uns vielmehr Aufrufe, Aufrufe zum Handeln, Aufrufe zum Handeln auch an die Bundesregierung.Die Diskussion geht weiter. Zunachst wird sie in den Ausschüssen weitergeführt. Dann werden wir uns hier wiedersehen. Hoffentlich wird es möglich sein, daß dann die vorzüglichen Beiträge vieler Kollegen, die für diese Debatte präpariert waren, wirklich voll zur Entfaltung kommen. Wir können dem deutschen Volk nicht ersparen, daß diese Auseinandersetzung, wenn sie hier glücklicherweise auch nur eine mit Worten und Gedanken ist, schwierig und langwierig ist. Aber wir werden und müssen das Äußerste tun, um die Dinge und die Auffassungen, die sich gegenüberstehen, so klar wie nur irgend möglich zu machen.
Ich glaube, ich würde eine Pflicht als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses verletzen, wenn ich nicht auf einen Gedanken einginge, den Herr Kollege Scheel ausgesprochen hat. Er hat unter Bezugnahme auf einen Brief, den ich inzwischen noch einmal angesehen habe, gesagt, er wurde bereit sein, uns in das, was „Verhandlungsprotokolle" oder „Aufzeichnungen" oder wie immer es heißt — er hat auch ausdrücklich die Phase, sagen wir einmal: die Vor-Unterschrifts-Phase oder Vor-Verhandlungs-Phase genannt —, Einsicht zu geben.
— Ja, Herr Kollege, das kommt, das kommt! Wir werden erst einmal abwarten, 'das werden Sie verstehen —, was der Bericht des Bundesrats, .der im Moment mit dieser Sache 'befaßt ist, darüber ergibt. Dann werden wir sehen, welche möglicherweise weitergehenden Beschlusse wir zu fassen haben. Ich rechne auf Ihr Verständnis dafur — Sie haben sich auf diesen Weg eingelassen —, daß, nachdem dieseDr. Schröder
Sache — also ob Aufzeichnung, Protokoll usw. — so kontrovers geworden ist, wir wirklich nicht abgespeist werden möchten mit einer Vorlesung über bestimmte Fragen, sondern daß wir tatsächlich die Chance einer Einsichtnahmehaben möchten.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß alle, die in dieser Debatte gesprochen haben, von sich jedenfalls die Überzeugung haben, daß sie keinem anderen Ziele dienen als idem Frieden für unser Land. Wenn ich sage „für unser Land", meine ich „für unser ganzes Land".
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schröder, zunächst einmal darf ich Ihnen als dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages sagen, daß sich die Bundesregierung zweifellos in dem Umfang, wie es überhaupt nur möglich ist, bemühen wird, den Mitgliedern — —
— Meine Damen und Herren, verlassen Sie sich darauf: Sie werden besser informiert als jede andere Opposition vor Ihnen!
Ich halte es für geradezu abwegig, der Bundesregierung vorzuwerfen, sie würde die Opposition nicht informieren. Wo hat es das denn schon an Informationsgrad gegeben, dessen Sie sich hier erfreuen? Ich habe doch Erfahrungen auf diesem Gebiete. Glauben Sie vielleicht, ich hätte jemals etwas zu sehen oder zu hören bekommen? Andere Kollegen haben hier auch Erfahrungen. Ich habe Erfahrungen auf beiden Seiten; ich weiß ganz genau, womit die Opposition in der Vergangenheit bedient worden ist und womit nicht, Herr Kollege Schröder. Verlassen Sie sich darauf: Sie werden besser bedient werden!
— Wenn Sie sich einen besonderen Vorleser wünschen, können Sie bei mir selbstverständlich Bitten und Anregungen einbringen.
Meine Damen und Herren, ein zweiter Punkt. Ich stimme Herrn Kollegen Schröder vollkommen zu, wenn er sagt, daß wir hier nicht über die Alternativvorstellungen der Opposition verhandeln. Natürlich nicht. Wir verhandeln hier über die Ratifikationsgesetze, die wir eingebracht haben.
Aber Sie werden mir doch zugeben: die Argumente, die die Opposition gegen die Politik der Bundesregierung vorgetragen hat, würden glaubwürdiger werden, wenn dahinter eine realisierbare Alternative sichtbar werden würde.
Wenn Sie eine hätten, meine Damen und Herren,
ich bin sicher, dann hätten Sie sie hier vorgetragen.
Sie würden sie uns doch nicht vorenthalten haben, weil Sie sie noch aufbewahren wollen, etwa für spätere Zeiten, nach Ihrer Methode: besser ist noch länger warten. Damit hätten Sie sicherlich nicht länger gewartet, wenn Sie uns hier vor der deutschen Öffentlichkeit eine glaubwürdige Alternative hätten vorweisen können.
Das Warten ist eine gute Eigenschaft,
aber eben nicht immer — ich will da nicht ganz bestimmte Personen in diesem Saal ansehen —, Warten führt natürlich nicht unter allen Umständen zum Erfolg.
Meine Damen und Herren, man muß natürlich auch handeln können, wenn es die Zeit gebietet. Ich habe zu Beginn dieser Debatte gesagt, warum wir und auf welchem weltpolitischen Hintergrund wir gehandelt haben. Aber zum Handeln gehört eben die Entschlossenheit und auch die Kraft, eine Entscheidung zu treffen.
Von dieser Kraft, eine Entscheidung zu treffen, nämlich zum konstruktiven Handeln, hat man bei Ihnen nicht so viel festgestellt, wohl aber haben Sie gemeinsam — ich muß Ihnen das zugestehen — während dieser ganzen Debatte sehr diszipliniert insgesamt im Block zum Nein applaudiert. Das muß Ihnen zugestanden werden.
Aber ich will einen dritten Punkt nennen, weil der Herr Kollege Schröder gesagt hat, er habe eine Antwort auf seine Frage vermißt, die Frage nämlich, ob die Teilung Deutschlands durch diese Verträge und die damit verbundene Politik nicht in der Folgewirkung auf dem internationalen Feld vertieft würde. Ich darf dem Sinne nach etwas wiederholen, was Sie hier in Ihrer Rede zitiert haben, etwas, was ich im Bundesrat gesagt habe. Idi darf wiederholen:
Die Teilung Deutschlands wird nicht dadurch gekennzeichnet, daß irgendein Land in Zentralafrika die DDR anerkennt oder nicht oder die Anerkennung wieder aufhebt, sondern die Teilung Deutschlands vollzieht sich hier in Deutschland.
Bundesminister Scheel
— Applaudieren Sie nicht zu früh! Seit 25 Jahren hat sie sich hier vollzogen, und diese Bundesregierung hat eine Politik entwickelt, die uns eine Basis geben soll,
um diese Teilung in der ersten Phase zumindest einmal zu mildern,
d. h. die Grenze und die Mauer durchlässiger zu machen, als sie es bisher war. Niemand von uns hat den Eindruck erweckt, als ob wir durch die Verträge mit der Sowjetunion die Wiedervereinigung vereinbaren könnten. Wer könnte das denn? Diese Verträge stehen am Anfang einer Entwicklung. Sie sind in sich ausgewogen. Sie bringen uns schon manchen Vorteil direkt, z. B. eine Berlin-Regelung, aber sie sind der Ausgangspunkt einer Politik, die, so bin ich sicher, mehr Ergebnisse zeitigen wird, als sie uns die Politik der letzten 20 Jahre auf diesem Gebiet gebracht hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich den Auftrag habe, als letzter meiner Fraktion am Ende dieser Debatte noch einmal das Wort zu ergreifen, so tue ich es im Bewußtsein der Geduld, die damit bei Ihnen und auch außerhalb des Hauses in Anspruch genommen wird.Ich will es tun zunächst mit einer Vorbemerkung zu unserer Nation und ihrer Lage. Es gibt gute und schlechte Deutsche, Herr Eppler. Daran kann gar kein Zweifel sein. Aber das war nicht und ist nicht mein Thema, und das unterliegt auch gar nicht meinem Urteil. Nicht, daß wir gute oder daß wir schlechte Deutsche sind, ist das, was uns hier zusammenbindet, sondern daß wir alle miteinander Deutsche sind, und mein Thema war und ist, ob wir in der Politik das Nötige und Richtige tun, um es auch bleiben zu können.
Daß wir hier in der Bundesrepublik und im anderen Teil Deutschlands sagen: wir sind Deutsche, daß aber etwa ein Wiener sagt, er sei Osterreicher, das war das Ergebnis der einzigen Form des deutschen Nationalstaates, die die Geschichte für uns bereitgehalten hat im Jahre 1871. Es war eine mindestens dem Scharfsinn des Kollegen Ehmke — den ich hier nicht mehr sehe — nicht würdige Veränderung meines gestrigen Beitrages, wenn er diesen so wiedergegeben hat, als beschränkte ich die Bedeutung der Nation auf das Jahr 1871.
Denn ich habe gestern gesagt, und ich sage heute: 1871 brachte uns eine Nation mit allem Licht und allem Schatten. Ich sage nicht: es war die beste, sondern ich sage: es war die einzige Form des deutschen Nationalstaates. Sie ist es, die unser Bewußtsein geprägt hat, und keine andere. Dieses Bewußtsein ist es, an das angeknüpft werden muß von dem, welcher sagt, seine Politik wolle die staatliche Einheit der Nation wahren. Das sagt doch Ihre Regierung. Mit diesem Bewußtsein müssen wir pfleglich umgehen, sonst gefährden wir das Ziel, das Ihre Regierung verkündet und das wir unterstützen, nämlich, die Einheit der Nation zu wahren.Da ist es nun meine Erfahrung und meine Meinung, daß bei Ihnen, bei der Sozialdemokratie, die Neigung besteht, die Nation, wie sie nun einmal ist, weniger zu würdigen als zu kritisieren, und zwar als Nation zu kritisieren, weil sie diese oder jene ihrer gesellschaftlichen Zielsetzungen noch nicht oder nicht erfüllt, und das empfinde ich eben als eine Gefahr für die Nation.
Herr Eppler, wenn Sie es schon für richtig befunden haben, über die Entstehung einer kirchlichen Denkschrift über Deutschland hier vor dem Deutschen Bundestag zu berichten, einer Denkschrift, an der niemand so intensiv wie wir beide gearbeitet hat, dann lassen Sie mich nur noch eines ergänzen. Den Streitpunkt, den ich eben hier erwähne, hatten wir beide auch schon damals. Sie und ich hatten jeder seine Wünsche und seine Vorschläge zur Beurteilung dessen, was die Nation ausmacht. Sie waren schon damals, wie ich fand, in der Gefahr, die Nation mit zuviel gesellschaftspolitischer Kritik und Zielsetzung zu befrachten. Aber wir wollten gemeinsam der deutschen Nation nützen und nicht schaden. Deshalb haben wir uns damals geeinigt, und jeder hat vom anderen ein Stück übernommen. Wir werden in diesem Haus der Nation und dem Deutschsein dann wieder nützen, wenn wir wieder den Weg dorthin finden, eine Politik für diese deutsche Nation im ausdrücklichen Willen dieser Gemeinsamkeit zu suchen und zu tragen.
Und damit bin ich beim Hauptthema dieser zweieinhalbtägigen Debatte, bei den Ostvertragen. Ich will noch einmal unseren Standpunkt zusammenfassen.Unser Ziel ist wie das Ihrige eine Aussöhnung mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern im Osten. Aussöhnung meine Damen und Herren, ist eine Sache der Menschen und der Völker, nicht der Regierungen, und die Menschen in Deutschland, in Polen und in Rußland wollen diese Aussöhnung. Die Sache der Regierungen ist es, hierfür Voraussetzungen zu schaffen. Dazu gehören an erster Stelle Sicherung des Friedens und Wahrung der Menschenrechte.
Der Weg dorthin, meine Damen und Herren, ist die nüchterne Suche nach einem vernünftigen Ausgleich. Ohne Bereitschaft zum Ausgleich gibt es keinen Frieden, keine Aussöhnung und auch keine Menschenrechte.Deshalb steht vieles, aber eben nicht alles zur Disposition für einen Kompromiß. Bedingungsloser Verzicht auf Gewalt z. B. gehört dazu, und die prä-
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10000 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Dr. Freiherr von Weizsäckergenden Grundüberzeugungen unseres Gemeinwesens stehen nicht zur Disposition.
Je fester und je unbeirrbarer wir vor dem Vertragspartner diese Grundpositionen vertreten, je fester wir von ihm davor Respekt verlangen, desto fester wird auch der Respekt dieses Vertragspartners vor uns sein
und desto sicherer kann der politische Ausgleich gefunden und der Weg zur Aussohnung der Völker geebnet werden.Wir sind uns dessen wohl bewußt, Herr Scheel, daß dies im Einklang mit der Entwicklung der Welt und mit der Bereitschaft zu einer Politik der Bewegung und nicht der politischen Schützengräben erfolgen muß, und ich empfinde es einfach als unredlich, wenn mir und uns hier gestern nachgesagt wurde, wir gäben resigniert eine Durchhalteparole zu Lasten der Menschen druben aus.
Auf diesem Weg und zu diesem Ziel waren wir in den von der CDU/CSU geführten Regierungen unterwegs.Aber es ist eben nicht dieser Weg, dier hier und heute zur Debatte steht. Denn mit einer nur scheinbaren Kontinuität, die Sie zu verantworten haben, haben Sie eine entscheidende Kurve genommen. Heute geht es nun um Ihre Vertragspolitik. Diese Vertragspolitik empfinden wir — Herr Scheel, ich muß es wiederholen — als nicht solide, weil sie nicht eindeutig und nicht vollständig ist.
Drei Punkte dazu:
Erstens. Wenn Selbstbestimmung und staatliche Einheit Ihr Ziel sind, dann durfen Sie in keinem Vertrag und in keiner Absichtserklärung daran Zweifel aufkommen lassen.
Diese Zweifel werden aber eher größer als kleiner, wenn Sie einem Vertrag einen dazu noch nie bestätigten Brief hinterherschreiben mussen, und zwar doch offenbar gerade deshalb, weil Sie darüber verhandelt haben, es aber nicht moglich geworden ist, dies zum Vertragsinhalt selbst werden zu lassen.
Wenn Selbstbestimmung und Einheit Ihr Ziel sind, dann müssen Sie jeder Interpretation — zumal bei unseren Verbündeten — entgegentreten, wenn sie davon abweicht. Und das 'ist nicht geschehen.Es ist nicht unser Vorwurf, daß Sie die Unterstützung der Alliierten für Ihre Politik suchen, um sich vor dem eigenen Volk darauf stützen zu konnen. Das ist ja Ihre Pflicht. Unser Vorwurf aber ist, daß diese Unterstützung u. a. mit einer Politik gewonnen werden soll, die Sie dann vor der eigenen Öffentlichkeit anders darstellen, als sie, wie Sieganz genau wissen, zuvor bei dien Verbündeten verstanden worden ist.
Zweitens. Mit dem Moskauer Vertrag sollen die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik normalisiert werden. Das ist auch unser Ziel. Aber eine solche Normalisierung muß doch in dem Bewußtsein geschehen, daß die politische Zukunft dier Bundesrepublik untrennbar mit der politischen Zukunft der Europäischen Gemeinschaft verknüpft ist.
Und es ist nun einmal nicht möglich, unser Verhältnis mit einem Vertragspartner zu normalisieren, solange dieser gleichzeitig eben diese Gemeinschaft für eine Anomalie erklärt.
Drittens. Daß Sie den Willen haben, mit der Regelung innerdeutscher Beziehungen den Menschen drüben zu helfen, den Menschen, die von der Teilung besonders betroffen sind, das bezweifelt hier niemand. Aber wir sehen nicht, daß Sie hierzu den richtigen Weg gehen. Denn Sie haben dieses Kernstück jeder deutschen Politik — anders überdies als von Ihnen angekündigt — von Ihren übrigen Schritten gelöst, und nun sind Sie in dier Gefahr, einen Vertrag zur Regelung der Rechtsbasis für den Beitritt zweier deutscher Staaten in die UNO schließen zu müssen, ohne zugleich verbindliche Fortschritte für die Freizügigkeit von Menschen, Ideen und Informationen zu erzielen.
Es gibt kein entspanntes und normalisiertes Europa, solange in seiner Mitte die Abgrenzung bleibt und wächst.Dies sind unsere entscheidenden Bedenken.Meine Damen und Herren, das Ziel, den Frieden zu sichern, der Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen, die Einheit der Nation zu wahren, bleibt — dies ist meine bestimmte Hoffnung — uns allen hier gemeinsam. Der richtige Weg aber ist Gegenstand harten Streites, und das darf bei aller Sachlichkeit in keiner Hinsicht vertuscht werden, gerade um der Ziele willen.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, gehen wir den Ausschußberatungen und den Schlußabstimmungen in diesem Hause entgegen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nach
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 10001
Bundesminister Scheelden Schlußworten von Herrn Weizsäcker für die Regierung nicht wieder die Debatte aufnehmen,
aber ich bin gezwungen, in aller Zurückhaltung einen Satz zu einer Behauptung zu sagen, die Herr von Weizsäcker aufgestellt hat und die, wenn ich sie richtig verstanden habe, lautete, ich wisse — das haben Sie dazugesagt —, daß unsere Verbündeten die Verträge und die damit zusammenhängende Politik anders verstünden, als die Bundesregierung sie hier darstelle.
Wenn ich das richtig verstanden haben sollte, darf ich nur einen Satz sagen: Ich weise eine solche Unterstellung mit aller Entschiedenheit zurück.
Ich glaube, das muß der Ordnung der auswärtigenPolitik der Bundesrepublik wegen gesagt werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. von Weizsäcker?
Herr Kollege Scheel, sind Sie sich dessen bewußt, daß ich mich auf einen Vorgang bezogen habe, den ich hier gestern in extenso geschildert habe, den nämlich, daß der französische Präsident Pompidou in seiner Pressekonferenz nach dem Krim-Besuch gesagt hat, er habe keinen Grund, darüber zu klagen, daß die Bundesregierung den Weg der Anerkennung der DDR ansteuere, ganz egal, welchen Namen sie dieser Politik gebe, und daß Sie vor der eigenen Öffentlichkeit immer wieder versichert haben, daß Sie den Weg der Anerkennung nicht gehen, obwohl Sie sich einerseits auf die Zustimmung des französischen Präsidenten berufen und andererseits niemandem von uns bisher darüber Mitteilung gemacht haben, daß Sie diese Äußerung des französischen Präsidenten je öffentlich oder amtlich intern dementiert hätten?
Ich wiederhole noch einmal das, was hier zu sagen ist: Unsere Partner, nicht nur Frankreich, sondern überall in der Welt, sind über die Verträge, die wir abgeschlossen haben, und die Politik, die sich damit verbindet, aufs genaueste informiert. Es kann überhaupt nirgendwo in der Welt die geringste Mißdeutung geben. Diese Information und diese Vorstellung über die Verträge und die damit zusammenhängende Politik deckt sich genau mit dem, was die Bundesregierung hier vor diesem Hohen Hause zu den Verträgen und zu dieser Politik gesagt hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist keineswegs meine Absicht, hier aufzutreten, um Zusammenfassungen und Wertungen zu geben. Ich bin viel zu lange in diesem Hause, um noch enttäuscht zu sein darüber, daß hier keinerlei Abmachungen interfraktioneller Art am Ende wirklich eingehalten werden. Das ist auch so hier der Fall. Das ist aber eine alte Krankheit, und an der sind wohl alle in irgendeiner Weise mit schuld.
— Alle in irgendeiner Weise mit schuld! Sie brauchen sich gar nicht vorher aufzuregen. Ich weiß auch, wo die Fehler bei uns liegen. Aber diese grimmigen Mienen haben doch keinen Sinn.
— Endlich habe ich Ihnen einmal Freude gemacht!Hier ist weniger über Verträge gesprochen worden als über Hypothesen und Thesen. Ich schelte das nicht, aber das sollten Sie nicht vergessen. Wenn über Verträge zu sprechen ist, reicht es nicht aus, über Hypothesen und Thesen zu reden.Es ist leider bei dem, was darüber hinaus zu besprechen war und worum auch zu ringen war, kaum über das erreichbare Höchstmaß guter und unserem Volk in der Lage, in der es sich nun eben befindet, bekömmlicher Beziehungen, sondern eigentlich mehr über Lagebeschreibungen gesprochen worden, die Sie so düster wie möglich zeichnen und die unsere Seite sich natürlich etwas aufzuhellen bemüht.
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10002 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
WehnerWas dem alten Skeptiker auch bei dieser langen Debatte wieder auffällt, ist, daß kaum Antworten auf Fragen gegeben,
sondern sozusagen vorgeformte Texte vorgetragen wurden.Ich habe es z. B. heute — das sage ich hier offen, obwohl ich es in Abwesenheit des Bundeskanzlers tun muß, der Fragen gestellt hat — bedauert, daß der Bundeskanzler Fragen gestellt hat, weil ich wußte, daß Sie auf die Fragen pfeifen würden, obwohl jede dieser Fragen geeignet war, deutlichere und bessere Ausgangspositionen sowohl für die Erörterungen der Regierung, die diese weiterzuführen hat, als auch im Hinblick auf die Verträge herbeizuführen. Aber das ficht Sie nicht an. Das ist Ihre Art, mit diesem Staat, mit den Teilen dieses Staates und seinen Organen umzugehen, wenn Sie die Regierung nicht gerade selbst stellen. Auch das ist eine alte Erfahrung. Darüber brauchen wir uns nicht mehr aufzuregen.
Meine Damen und Herren, ich kann es wohl verstehen, daß Sie, wenn Sie über die Situation im getrennten Deutschland in zum Teil padcenden Worten sprechen, damit etwas ausdrücken, was Sie innerlich erschüttert. Nur ist das zu einem großen und entscheidenden Teil etwas, was zu den Folgen der jahrzehntelangen Behandlung der Deutschlandpolitik und der deutschen Frage gerechnet werden muß.
Ich hielt es nie für große Stunden dieses Hauses in der Vergangenheit, wenn die eine Seite die andere Seite sozusagen in die Pfanne gehauen hatte, wenn es darum ging, wer in einer bestimmten Frage woran schuld wäre; das ist nämlich immer sehr relativ. Sie ziehen die gegenteilige Methode vor, wie ich in dieser Debatte gemerkt habe, denn Sie möchten sich — das kann ich verstehen — von der Belastung der Folgen der Behandlung der deutschen Frage freimachen, indem Sie nämlich so tun, als ergäben sich diese Folgen, die Sie richtig sehen, aus den Verträgen, d. h. als führten die Verträge zu diesen Folgen. Es ist ganz anders.
Die Verträge sind auch keine Wunderwaffe.
— Ich auch nicht! Dieser Zwischenruf war so dumm wie jener Ausspruch eines derjenigen, die in dieser Debatte so oft genannt und bewundert worden sind, der besagt, der Sieg der Sozialdemokraten bedeutete den Untergang Deutschlands. Auf Ihrer Seite ist offenbar eine solche Haltung besonders stark ausgeprägt. Freilich gibt es so etwas manchmal auch auf unserer Seite. Schönen Dank für diese Belehrung in Kontinuität des Hochmutes derer, die sich immer imRecht fühlen und die, wenn sie merken, wie es ausgeht, die Last den anderen aufbürden wollen.
Wir glauben doch nicht daran, daß die Verträge ein Schlüssel zur Lösung aller Fragen sind. Aber wir wollen diese Verträge, weil mit ihnen ein redlicher Ansatz gefunden werden kann, um schrittweise das zu überwinden, von dem Sie heute so tun, als könnten sie es uns anlasten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war, wenn ich das recht verstanden habe, vereinbart, daß wir, die wir die Große Anfrage im Oktober eingebracht haben, in dieser Debatte das Schlußwort sprechen. So habe ich das verstanden, was unser Kollege von Weizsäcker hier gesagt hat. Wir waren davon ausgegangen, daß er von Ihnen allen die Möglichkeit erhält, in einem sehr ruhigen und klaren Ton noch einmal grundsätzliche Prinzipien unserer Politik hier vorzutragen und dabei zugleich einige der ihm und uns gestern vorgehaltenen Unterstellungen zurückzuweisen. Herr Bundesaußenminister, Sie haben daraufhin geantwortet: Es ist die Übung dieses Hauses, daß, wenn ein Minister spricht, die Debatte neu eröffnet ist. Daraufhin hat offenbar Herr Kollege Wehner geantwortet.Einige wenige Anmerkungen noch zum Ende! Sie haben gesagt, Herr Kollege Wehner, es handele sich eigentlich darum, daß es zwei verschiedene Lagebeschreibungen in diesem Hause gebe, die eine sei düsterer und die andere versuche mehr aufzuhellen. Es mag sein, daß dies der Eindruck ist, den Sie gewonnen haben. Ich gehe davon aus, daß wir uns alle miteinander große Mühe geben, den Versuch zu machen, die schlimmen und vielfältigen Wirklichkeiten genau zu erörtern und miteinander Wege zu suchen, wie wir die gefundene Realität durch eine bessere ersetzen.
Sie haben zweitens darauf hingewiesen, Herr Wehner, daß der Herr Bundeskanzler hier Fragen gestellt hat. Der Bundeskanzler wird auf diese Fragen ebenso klare und präzise Antwort hier und in den Ausschüssen bekommen, wenn endlich die Regierung bereit ist — und dies ist die Sache, die der Kollege Schröder gesagt hat —, die Verträge, die sie vorgelegt hat, die sie unseren Fragen ausgesetzt hat, auch mit entsprechenden Antworten und Verdeutlichungen zu begleiten.
Meine Damen und Herren, es könnte noch sehr vieles kommen, und wenn der Außenminister will, setzen wir die Debatte fort. Es könnte sehr vieles noch zu vielen Problemen und Fragen gesagt werden. Wir haben in zweieinhalb Tagen — ich glaube,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 10003
Dr. Marx
auf allen Seiten — den Versuch gemacht, in einiges, was dunkel ist, Licht zu bringen. Einiges andere ist im Halbdunkel, Herr Wehner, und anderes in einer halben Helligkeit geblieben. Es kommt jetzt darauf an, daß wir uns in den Ausschüssen die größte Mühe geben, die vielen hier nicht beantworteten Fragen immer wieder der Regierung zu stellen, weil wir das Recht haben, daß wir die Regierung fragen, weil wir die Pflicht dazu haben und die Regierung das Recht und die Pflicht hat, auf diese Fragen zu anworten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir stimmen ab über die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates. Er schlägt vor, den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972 — Tagesordnungspunkt 2 — an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen — federführend —, den Auswärtigen Ausschuß und darüber hinaus — das ist neu — auch an den Rechtsausschuß, die beiden Gesetzentwürfe unter Punkt 3 und 4 der Tagesordnung an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und an den Rechtsausschuß sowie den Antrag unter Tagesordnungspunkt 6 an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu überweisen. Ferner sollen zu Punkt 5 der Tagesordnung die Umdrucke 260 und 261 an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. — Ich stelle fest, daß das Haus damit einverstanden ist, gebe jedoch zur Überweisung noch das Wort an den Herrn Abgeordneten Wagner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/ CSU hält es für erforderlich, die Verträge von Moskau und von Warschau auch im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu beraten. Die Frage der Einheit, die Frage der Grenzen und ihrer Durchlässigkeit und die Frage der Selbstbestimmung — um nur drei Themen zu nennen — sind unzweifelhaft Themen, die klar und eindeutig mit in die Zuständigkeit dieses Ausschusses gehören. Ich möchte hier die mehrfachen erfolglosen Besprechungen im Ältestenrat des Deutschen Bundestages nicht wiederholen. Es gab keine Einigung über unseren Vorschlag. Bei dieser Sachlage geht die CDU/CSU-Fraktion davon aus, daß dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen während der weiteren Beratungen die Möglichkeit gegeben wird, sich gutachtlich zu den Verträgen zu äußern. Eine andere Behandlung hier im Hause wäre nicht sachgerecht.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wienand.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wagner hat 'das korrekt wiedergegeben, was wir am 15. Dezember 1971 ausgehandelt halben. Wir sind uns heute einig geworden, daß die Verträge an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und an den Rechtsausschuß — mitberatend — überwiesen werden. Wir waren uns einig geworden — das ist die einzige Anmerkung, die ich als Korrektur anzubringen habe —, daß es Sache der Ausschüsse ist, welcher Ausschüsse sie sich dann für sachkundige oder andere Stellungnahmen bedienen. Mir lag daran, dies festzustellen, damit nicht ein Dissens bleibt.
Meine Damen und Herren, ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Lassen Sie mich aber am 'Ende unserer Debatte einige Worte des Dankes sagen, des Dankes zunächst einmal an unsere zahlreichen Mitarbeiter, die wir aber Gebühr drei Tage lang strapazieren mußten,
einen Dank der Presse, insbesondere dem Rundfunk und dem Fernsehen, die die gesamte Aussprache übertrugen und so mitwirkten, daß alle Deutschen in Deutschland an 'der Aussprache teilnehmen konnten.
Lassen Sie mich auch einen Dank an alle Mitglieder des Hohen Hauses sagen, die uns, den Präsidenten, die Leitung der Sitzungen so erleichtert haben. Lassen Sie mich vor allen Dingen den Kollegen danken, die diese wichtige Debatte durch so beachtliche Beiträge 'geprägt haben. Art und Stil der Aussprache sind ein Zeichen 'für •die Starke des Parlamentarismus in unserem Lande.Wir schließen damit die Beratung der Punkte 2 bis 6 der Tagesordnung.Ich rufe dieFragestunde— Drucksache VI/3165 —auf. — Meine Damen und Herren, damit wir zügig beginnen können, darf ich Sie bitten, soweit Sie nicht an der Fragestunde beteiligt sind, den Plenarsaal zu verlassen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf. Die Frage 119 wird schriftlich beantwortet; 'die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Die Fragen 120, 121 und 122 sind von den Fragestellern zurückgezogen worden. Die Frage 123 wird beim 'Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit behandelt werden.Ich rufe die Frage 124 des Abgeordneten Niegel auf:Billigt die Bundesregierung die Haltung der von ihr finanziell unterstützten Zeitschrift ,,Afrika heute" gegenüber dem mit der Bundesrepublik Deutschland befreundeten und in der NATO verbündeten Land Portugal bezüglich der Afrikapolitik und der in dieser Zeitschrift wiederholt herausgestellten Unterstützung der „Frelimo"-Revolutionsbewegung?Zur Beantwortung der Parlamentarische Staatssekretär Moersch.
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10004 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Herr Präsident, ich beantworte die Frage wie folgt: Die Zeitschrift „Afrika heute", die von der Deutschen Afrikagesellschaft, Bonn, herausgegeben wird, ist kein Sprachrohr der Bundesregierung oder des Auswärtigen Amts. Die Bundesregierung übt hinsichtlich dieser Zeitschrift keine Zensur aus. Berichterstattung und Kommentierung in „Afrika 'heute" können daher nicht mit der 'Haltung der Bundesregierung gleichgesetzt werden.
Die Grundzüge der Afrikapolitik der Bundesregierung hat der Bundesminister des Auswärtigen erst vor kurzem, nämlich am 25. Januar, auf dem AfrikaInformationstag des Afrika-Vereins Hamburg in Bonn dargelegt. Ich verweise hier auf den Abdruck dieser Darlegungen im „Bulletin" Nr. 12 vom 28. Januar 1972.
Hinsichtlich der Haltung der Bundesregierung zu den sogenannten Befreiungsorganisationen verweise ich auf die Drucksache VI/1443 vom 19. November 1970, in der der Bundesminister fur wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Kleine Anfrage in diesem Zusammenhang wie folgt beantwortet hat — ich zitiere wörtlich —:
Die Bundesregierung erwägt nicht, Organisationen Hilfe zu gewähren, die mit militärischen Mitteln den gewaltsamen Umsturz bestehender Ordnungen betreiben. Sie hat keine Bedenken, wenn notleidenden Menschen über karitative oder über andere geeignete deutsche Organisationen humanitäre Hilfe gewährt wird, sofern die zweckentsprechende Verwendung dieser Hilfe sichergestellt ist. Im übrigen respektiert die Bundesregierung die Autonomie dieser Organisationen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Niegel.
Herr Staatssekretär, Sie haben meine Frage insofern nicht beantwortet, als Sie nicht sagten, ob das Auswärtige Amt oder die Bundesregierung schlechthin der Institution „AfrikaGesellschaft" bzw. der Zeitschrift „Afrika heute" Gelder zur Verfügung stellen.
Diese Frage haben Sie nicht gestellt, entschuldigen Sie bitte, Herr Abgeordneter. Ich kann die Frage selbstverständlich beantworten. Ein Blick in den Haushaltsplan, den dieses Hohe Haus zur Zeit berät, und den letzten, den Sie zuvor in diesem Hohen Hause verabschiedet haben, zeigt Ihnen, daß die Afrika-Gesellschaft aus Mitteln des Bundeshaushalts unterstützt wird.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Ist es dann sinnvoll, Herr Staatssekretär, dieser Gesellschaft und der Zeitschrift Gelder zu geben, wenn sie indirekt die Afrikapolitik der Bundesregierung mit ihren Aufsätzen und Artikeln unterhöhlt bzw. moralisch diese Revolutionsbewegungen unterstützt?
Her Abgeordneter, Sie haben meine Antwort — entschuldigen Sie — offensichtlich nicht ganz korrekt aufgenommen. Ich habe gesagt: die Afrika-Gesellschaft wird unterstützt. Die Bundesregierung unterstützt eine Gesellschaft, die der frühere Präsident dieses Hauses sehr lange Zeit geleitet hat. Ob es sinnvoll ist, eine Gesellschaft zu unterstützen, die in Publikationen der Außenpolitik der Bundesregierung Schwierigkeiten macht, ist Gegenstand von Erörterungen auch im Haushaltsausschuß und gehört mit zu den Haushaltsberatungen. Herr Kollege Niegel, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich in diesen Haushaltsberatungen eine kritische Haltung eingenommen habe und dabei von Ihren Fraktionskollegen kritisiert worden bin.
Zu einer Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Matthöfer.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß die Haltung der Zeitschrift „Afrika heute" übereinstimmt mit der Resolution 5 der Interparlamentarischen Union, die im September letzten Jahres in Paris verabschiedet wurde, übrigens auch übereinstimmt mit der Haltung der Vertreter der Fraktionen dieses Hauses, mit der Haltung aller Regierungen Schwarzafrikas, mit der Haltung des Weltkirchenrats, mit der Haltung der schwedischen Regierung und mit der Meinung von großen Teilen in diesem Volke, so daß insofern eine Zensur durch die Bundesregierung gegenüber dieser Zeitschrift wohl nicht angebracht wäre?
Herr Abgeordneter, ich bedauere, Ihre Frage in dieser Form nicht zustimmend beantworten zu können. Die Bundesregierung hat ihre Kriterien nicht danach auszurichten, ob eine Zeitschrift ihrem Inhalt nach mit Resolutionen oder Organisationen oder sonst wem übereinstimmt. Die Bundesregierung hat ihre Politik an den Interessen der Bundesrepublik Deutschland auszurichten. Ich möchte nicht verschweigen, daß Sie mich hier nicht zu einer positiven Würdigung bestimmter Inhalte dieser Zeitschrift bringen können, weil ich glaube, daß in dieser Zeitschrift nicht immer mit dem nötigen Takt und, wenn ich so sagen darf, auch nicht mit dem nötigen Geschmack Äußerungen gefallen sind.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Brück.
Herr 'Staatssekretär, ist es nicht so, daß die Bundesregierung auch andere Zeitschriften, die mit der Bundesregierung nicht über-
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Brück
einstimmen und in ihrer politischen Haltung der Opposition näher sind, finanziell unterstützt?
Herr Abgeordneter, das ist sicherlich richtig. Aber Sie geben mir Gelegenheit, hier eine Sache klarzustellen, die in anderer, mißverständlicher Form kürzlich von der Opposition vorgebracht worden ist, allerdings mit dem gleichen Inhalt. Man muß hier zweierlei unterscheiden: Es geht nicht darum, daß Bundesmittel nicht an Zeitschriften gegeben werden — das werden sie zweifellos —, die etwa die Politik der Opposition in diesem Lande vertreten und die Bundesregierung kritisieren. Es geht überhaupt nicht um Kritik an der Bundesregierung, sondern es geht darum, daß hier Publikationen erscheinen, die uns in den Beziehungen zu dritten Staaten in Schwierigkeiten bringen. Diese Staaten erwarten bei Publikationen, die direkt oder indirekt aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, von der Bundesregierung — sie verkennen die Presse- und Informationsfreiheit in diesem Lande — eine Art Einflußnahme. Das ist ein sehr schweres Problem für die Bundesregierung.
Es gibt Organisationen bzw. Institutionen, die nach dem Haushalt verpflichtet sind, die Politik der Bundesregierung zu unterstützen, aber gleichzeitig noch anderen Gesetzen verpflichtet sind. Ich denke etwa an die Deutsche Welle. Hier besteht eine ständige Spannung zwischen diesen beiden Forderungen, nämlich einmal den Haushaltstiteln und den Haushaltsbestimmungen gerecht zu werden und auf der anderen Seite das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ebenfalls zu respektieren. Es geht aber bei all dem nicht um innenpolitische Angelegenheiten — das möchte ich noch einmal deutlich sagen —, sondern um unsere Beziehungen nach außen.
Wenn soeben der Kollege Niegel hier zu einer Antwort Beifall gegeben hat, so muß ich ihm sagen, daß eine intensive Beschäftigung mit dieser Frage auch in seiner eigenen Fraktion sicherlich der Objektivierung all dieser Tatbestände dienen könnte.
Ich rufe die Frage 125 des Abgeordneten Dr. Sperling auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs; ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Die Fragen 11 bis 20 sind zurückgezogen worden. Die Fragen 21 und 22 des Herrn Abgeordneten Dr. Probst werden schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Dr. Bechert auf. — Ich sehe ihn nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Dasselbe gilt für die Frage 24.
Die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Wohlrabe ' sind zurückgezogen.
Idi rufe die Frage 27 des Abgeordneten Dr. Hauser auf:
Treffen Meldungen zu, nach denen eine Reihe von Universitäten im letzten Semester 85 und mehr Prozent der Studienplätze für Pharmazie auf Grund der neuen Studienordnung an frische Abiturienten des Jahrgangs 1971 vergaben und hochstens 15 Prozent der Studienbewerber berücksichtigten, die entsprechend der für sie nodi vorgeschriebenen, vor dem Studium zu absolvierenden zweijährigen Praktikantenzeit ihr Vorexamen, also ein berufliches Examen abgelegt haben?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Kollege, auf Grund der neuen Approbationsordnung für Apotheker vom 23. August 1971 treffen seit dem Wintersemester 1971/72 bei der Zulassung zum Studium zwei Gruppen von Bewerbern zusammen: Abiturienten, die die bislang erforderliche pharmazeutische Vorprüfung abgelegt haben, und solche, die sich unmittelbar nach der Reifeprüfung bzw. dem Wehrdienst bewerben.
Dadurch vermindert sich naturgemäß die Zahl der Studienplätze, die an Vorexaminierte vergeben werden können. Die Zulassungschancen haben sich für diese Gruppe jedoch nicht in dem Maße verschlechtert, wie es in den erwähnten Meldungen dargestellt wird. Die Zentrale Registrierstelle für Studienbewerber in Hamburg hat zum Wintersemester 1971/72 den Bewerbern des Abiturjahrgangs 1971, also den von Ihnen so genannten frischen Abiturienten, weniger als 25 % der Studienplätze im Fach Pharmazie — und nicht etwa 85 %, wie gesagt worden ist — nachgewiesen. Dieser Anteil entspricht in etwa dem Anteil der Abiturienten dieses Jahrgangs an der Gesamtzahl der Bewerber.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hauser.
Stimmt nach Ihren Feststellungen, Herr Staatssekretär, die Zahl, die in der „Deutschen Apotheker-Zeitung" vom 10. Februar dieses Jahres genannt worden ist, wonach es gegenwärtig etwa 7 000 Vorexaminierte gibt und bis 1974 etwa 9 500 geben wird, und stimmt es, daß davon jährlich insgesamt nur 750 Studenten zum Apothekerstudium an den Universitäten zugelassen werden sollen?
Ich kann die von Ihnen soeben genannten Zahlen, Herr Kollege, jetzt weder bestätigen noch widerlegen. Sie sind mir im Augenblick nicht geläufig. Ich bin gern bereit, auch diese Zahlen noch einmal zu prüfen. In diesem Zusammenhang kann ich nur wiederholen, daß es sich, was die Frage, die Sie gestellt haben, betrifft, nicht um eine Größenordnung von 85 %, wie Sie sagten,
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10006 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. von Dohnanyi handelt, sondern etwa um die gleiche Größenordnung, die diese Gruppen anteilsmäßig an der Gesamtzahl ohnehin haben.
Eine zweite Zusatzfrage.
Muß angesichts der überaus beschränkte Zahl von Studienplätzen und der dadurch bedingten geringeren Zulassungsquote zum Apothekerstudium, Herr Staatssekretär, nicht besonders auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG geachtet und für die Vorexaminierten eine Ausnahmeregelung von der Sechsjahresfrist getroffen werden, so daß ihnen zumindest ihre pflichtmäßige zweijährige Praktikantenzeit nicht auf diese sechs Jahre angerechnet wird, um sie nicht gegenüber den frischen Abiturienten irgendwie zu benachteiligen?
Herr Kollege, ich möchte an dieser Stelle unterstreichen — ich hätte das im Zusammenhang mit der Beantwortung der zweiten von Ihnen gestellten Frage ohnehin getan —, daß für den gesamten Komplex in erster Linie die Länder zuständig sind. Der Gleichheitsgrundsatz, den Sie zitiert haben, kann hier zu den unterschiedlichsten Bewertungen führen. Die Kriterien, die angewandt werden, sind Kriterien der Zulassungstelle und führen — ich kann das nur wiederholen — zu Relationen, die in etwa den Größenordnungen entsprechen, die die verschiedenen Gruppen anteilsmäßig an der Gesamtzahl ohnehin haben.
Keine Zusatzfrage.
Wird sich die Bundesregierung für eine Verbesserung der Studienmoglichkeiten dieser Vorexaminierten in der Weise einsetzen, daß das Ergebnis des Vorexamens, wie es noch bis 1971 als unabdingbare Voraussetzung fur eine Zulassung zum Pharmaziestudium nachgewiesen sein mußte, gebuhrend bewertet wird, damit diese Studenten in erster Linie ihr Studium aufnehmen konnen und nidit Gefahr laufen, vom Studium ganz ausgeschlossen zu werden, sofern sechs Jahre seit Abiturabschluß verflossen sind, ohne zum Studium zugelassen zu sein?
Die Zulassungsrichtlinien, die bekanntlich — ich wiederhole das jetzt — voll in die Zuständigkeitsbereiche der Länder gehören — werden von den Ländern bzw. mit ihrer Genehmigung von den jeweiligen Hochschulen erlassen. Danach werden 40 % der Studienplätze nach dem Jahrgang des Reifezeugnisses vergeben, kommen also im Regelfall den Absolventen des Praktikums voll zugute. Die restlichen 60 % der Plätze werden nach Leistung vergeben, wobei die Note der Vorprüfung mehrfach gewichtet und durch einen Bonus berücksichtigt wird. Da die Noten der Vorprüfung in der Regel besser ausfallen als die Noten des Reifezeugnisses, verbessern sich insofern die Zulassungschancen der Vorexaminierten.
Die Bundesregierung hält diese Verbesserung der Zulassungschancen für gerechtfertigt, da die Vorexaminierten eine studienfachbezogene Leistung nachweisen können und bereits mit der Ausbildung begonnen haben. Sollte sich in den folgenden Semestern die Situation dieser Gruppen über das bisherige Maß hinaus — das sehr viel kleiner ist, als Sie angenommen hatten, Herr Kollege — verschlechtern, wird die Bundesregierung bei den zuständigen Ländern anregen, hierfür die Zulassungsrichtlinien zu überprüfen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hauser.
Herr Staatssekretär, Sie respektieren also etwa das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli des vergangenen Jahres, in dem den Altvorexaminierten besondere Rechte bescheinigt worden sind und in dem es heißt, daß die Erwägungen des Gerichts im Ergebnis nicht nur für die Altvorexaminierten bis 1949 gelten sollten, sondern für alle Vorexaminierten zu gelten hätten?
Herr Kollege, es ist nicht meine Sache, hier Gerichtsurteile zu interpretieren. Aber es ist selbstverständlich, daß wir sie respektieren. Ich kann nur unterstreichen, was sich vorhin sagte: Wenn sich die Verhältnisse für die betroffenen Gruppen verschlechtern sollten, wird die Bundesregierung entsprechende Anregungen an die zuständigen Landesregierungen geben.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Storm auf. — Der Abgeordnete Storm ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Ist die Bundesregierung in der Lage, eine Ubersicht zu erstellen über die Unterrichtung der jungen Generation in der Frage der politischen Integration und der Institutionen Europas in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland und sie dem Deutschen Bundestag zu unterbreiten?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, ich würde die beiden Fragen 30 und 33 gerne im Zusammenhang beantworten, wenn die Möglichkeit besteht.
Dann rufe ich auch die Frage 33 des Abgeordneten Dr. Jahn auf:Ist die Bundesregierung bereit, uber die Kultusministerkonferenz auf die Lander einzuwirken, daß obligatorische Unterrichtsstunden in der Volks-, Mittel- und Oberschule geschaffen werden, in denen die Schiller über die europaischen. Institutionen, die europaische Integration und die Bemühungen um die politische Union unterrichtet werden?
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Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 10007
Die Bundesregierung setzt, was den Bundesländern bekannt ist, als selbstverständlich voraus, daß die Schüler der verschiedenen Schularten in den dafür vorgesehenen und geeigneten Unterrichtsfächern wie z. B. Geschichte, Geographie und Gemeinschaftskunde über dieses Thema oder diesen Themenkreis unterrichtet werden. Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet zu diesem Unterricht Hilfen durch Bereitstellen entsprechenden Materials. Die Bundesregierung hält daher leine Initiative in der von Ihnen angegebenen Richtung, Herr Kollege, bei der Kultusministerkonferenz 'im Augenblick nicht für erforderlich. Sie ist jedoch gern bereit, falls Sie dies wünschen, bei der zuständigen Konferenz der Kultusminister eine Ubersicht über diesen Unterricht zu erbitten und sie dem Bundestag vorzulegen. Ich möchte nur sagen, daß solche Zusammenstellungen natürlich einmal eine Menge Arbeit machen und zum anderen auch eine gewisse Zeit beanspruchen. Das sollte man bei den Wünschen berücksichtigen.
Erste Zusatzfrage, Herr Dr. Jahn.
Dr: Jahn (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß eine Untersuchung der EWG ergibt, daß in den Lehrplänen der deutschen Schulen keine Unterrichtsfächer zur europäischen Integration 'enthalten sind und auch nur in geringem Umfang in Unterrichtsfächern wie Geschichte, Geographie und Staatsbürgerkunde über die Aufgabe unserer Zeit, nämlich die europäische Einigung, unterrichtet wird bzw. Informationen gegeben werden? Das hat eine Diskussion im Europäischen Parlament nach einer einjährigen Untersuchung in allen sechs Ländern der Gemeinschaft ergeben.
Dr. von 'Dohnanyi, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Die Bundesrepublik, Herr Kollege, hat bei dieser Untersuchung, soweit ich mich erinnern kann, nicht schlecht abgeschnitten. Richtig ist allerdings, daß es kein besonderes Unterrichtsfach dieser Art gibt. Aber die Gegenstände werden eben in andere Fächer einbezogen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß wir mit unserer Europapolitik glaubhafter werden, wenn wir durch Einrichtung entsprechender Unterrichtsfächer in den einzelnen Schulsystemen, und zwar durch eine Initiative über die Kultusministerkonferenz, die junge Generation in den Schulen mit Ideen und Institutionen Europas vertrauter machen als bisher?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich kann Ihre Meinung trotz mangelnder Zuständigkeit der Bundesregierung für diese Frage nicht teilen. Es wäre nicht zweckmäßig, für Aufgaben, die sich z. B. im Bereich der politischen Bildung stellen, jeweils neue Unterrichtsfächer zu schaffen. Wenn man das tun wollte, wurden die Lehrpläne unserer Schulen sehr bald in eine sehr große Unordnung geraten. Aber wie gesagt, die Anregung, diese Punkte in die dafür zutreffenden Fächer aufzunehmen, ist sicherlich wichtig. Ich sagte Ihnen schon: davon wird auch eine Menge bereits getan.
Eine dritte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jahn.
Herr Staatssekretär, sind Sie dann bereit, der Kultusministerkonferenz vorzuschlagen, daß für den Unterricht über die Thematik Europa vielleicht durch eine entsprechende Studiengruppe Studienpläne vorbereitet werden, die als Richtlinien für die Unterrichtung in den Volks-, Mittel- und Oberschulen aller Länder gelten, besonders auch über den institutionellen Bereich, weil Diskussionen ergeben, daß das Wissen, das vorhanden ist, sehr gering ist?
Herr Kollege, ich glaube nicht, daß ich diesen Vorschlag machen kann, weil es, wie gesagt, nicht Aufgabe der Bundesregierung ist, dies zu tun. Ich will aber gerne der Kultusministerkonferenz von dieser Fragestunde und von Ihren Sorgen berichten und auf diese Weise vielleicht die Anregung geben, daß die von Ihnen genannten Gegenstände verstärkt in bestimmte Unterrichtsfächer aufgenommen werden.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, da wir ja über das Hochschulrahmengesetz auf die Länderkulturpolitik Einfluß zu nehmen in der Lage sind, dahin zu wirken, daß, so wie es im Europäischen Parlament und in den Ausschüssen für alle Länder gefordert wird, Lehrstühle zum Thema europäische Integration, europäische Institutionen usw. an den Universitäten errichtet werden?
Herr Kollege, ich bedaure wirklich die unbefriedigende Situation, die ich hier für Sie dadurch schaffe, daß ich jedesmall sagen muß, Ihren Wünschen nicht Rechnung tragen zu können. Das Hochschulrahmengesetz bezieht sich auf Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 a des Grundgesetzes. Dort steht, daß „die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens" geregelt werden können. Es kann ganz ohne Zwei-
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. von Dohnanyifel nicht zu den allgemeinen Grundsätzen des Hochschulwesens gezählt werden, wenn es darum geht, bestimmte Lehrstühle einzurichten. Es tut mir leid, daß ich also auch da nichts tun kann. Aber insgesamt wird ein Bericht über diese Fragestunde die Kultusminister sicherlich anregen, Ihren großen Sorgen Rechnung zu tragen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Slotta.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß es in keinem europäischen Staat das Unterrichtsfach „Europa — Europaintegration" gibt und daß es sich bei der europäischen Integration im wesentlichen um eine Frage des Engagements der Lehrer und der Umsetzung in dann vorhandene Inhalte handelt?
Ich kann Ihnen hier nicht bestätigen, daß es dieses Lehrfach nirgends gibt.
Es ist schon schwer, zu überschauen, was in elf Bundesländern geschieht. Es ist mir kaum möglich, hier in dieser Beziehung Auskunft über alle europäischen Staaten zu geben. Aber ich vermute, daß Sie recht haben.
Sicherlich ist eines richtig: Es kommt eben darauf an, den politischen Unterricht, den Gesellschaftskundeunterricht so zu gestalten, daß auch diese wichtige Aufgabe einbezogen wird. Ich glaube, die Fragestunde hat dazu gedient, dieses Problem, wie man heute so schön sagt, bewußt zu machen.
Noch eine Zusatzfrage? — Nicht der Fall.
Die Frage 31 des Abgeordneten Lenzer wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird alt Anlage abgedruckt.
Die Frage 32 des Abgeordneten Werner wird schriftlich beantwortet, weil der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 33 des Abgeordneten Dr. Jahn haben wir soeben erledigt.
Die Frage 34 wurde von der Antragstellerin, der Abgeordneten Frau Dr. Walz, zurückgezogen.
Die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Dr. Hubrig werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit sind 'die Fragen aus diesem Geschäftsbereich erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung.
Die Fragen 93 und 94 des Abgeordneten Damm sowie die ,Fragen 95 und 96 des Abgeordneten Josten wurden von den Fragestellern zurückgezogen.
Für die Fragen 97 unid 98 des Abgeordneten Mursch sowie für die Fragen 99 und 100 des Abgeordneten Dr. Kreile wurde um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Dann kommen wir zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen.
Die Fragen 101 und 102 des Abgeordneten Peters werden schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Fragen 103 und 104 des Abgeordneten Ollesch auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß das Fuhren eines Elektrofahrzeugs nicht mehr Kenntnisse und Fahrvermogen erfordert als das Führen eines vergleichbaren Kraftfahrzeugs mit Otto-Motor?
Ist die Bundesregierung bereit, den § 5 der StVZO dergestalt zu andern, daß die Aufteilung nach Betriebsarten gestrichen wird, wie dies international üblich ist, um den Fahrern von Fahrzeugen mit Elektromotoren eine zusatzliche Fahrprüfung zu ersparen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Der Herr Bundesminister des Innern hat auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hirsch, Dichgans, Mertes und Genossen Drucksache VI/2731 im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Verkehr am 18. Oktober 1971 u. a. folgende Antwort gegeben:
Die Beibehaltung der besonderen Fahrerlaubnis für Elektrofahrzeuge ist nicht nur historisch zu erklären, sondern hat ihren Grund in dem unterschiedlichen Fahrverhalten und den unterschiedlichen Anforderungen an den Führer solcher Fahrzeuge, liegt also im Interesse der Verkehrssicherheit. Schon jetzt werden bei der Umschreibung bestehender langjähriger Fahrerlaubnisse in Fahrerlaubnisse zum Führen von Elektrofahrzeugen weitgehend Erleichterungen gewährt. Die Bundesregierung prüft darüber hinaus zusammen mit den zuständigen obersten Landesbehörden und technischen Beratungsgremien die Möglichkeit, noch weitergehende Erleichterungen für den Erwerb dieser Fahrerlaubnis zu schaffen.
Ich darf noch sagen, Herr Kollege: Die erwähnte Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Sollten sich nach Abschluß der Prüfung Gesichtspunkte ergeben, die eine Änderung der bisherigen Auffassung zulassen, wird eine Änderung des § 5 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung in Ihrem Sinne sicher möglich sein.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Ollesch.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1972 10009
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß die Antwort für mich unbefriedigend ist, wenn ich daran denke, daß wegen der technischen Eigenart des Elektromotors das Führen eines mit ihm betriebenen Fahrzeugs unvergleichlich leichter ist als das Führen eines Wagens mit einem Otto- oder einem Dieselmotor?
Herr Kollege, ich hoffe, daß unser Haus die bereits angedeutete Prüfung möglichst rasch abschließt, damit wir — ich habe es in meiner Antwort bereits angedeutet — zu einer befriedigenden Lösung im Sinne ihrer Frage kommen können.
Keine Zusatzfrage mehr.
Die Fragen 105 und 106 des Abgeordneten Folger werden schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Die Frage 107 des Abgeordneten Storm wird ebenfalls schriftlich beantwortet, weil der Fragesteller
nicht im Saal ist. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 108 und 109 des Abgeordneten Schröder werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 110 und 11 des Abgeordneten Schmidt werden schriftlich beantwortet, weil der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Bei allen weiteren Fragen aus dem Ressort ist schriftliche Beantwortung beantragt worden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich stehe am Ende der Fragestunde. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1. März 1972, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.