Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, gratuliere ich unserem Kollegen Herrn Professor Carlo Schmid für den ganzen Deutschen Bundestag zu seinem heutigen 75. Geburtstag.
Verehrter Herr Kollege Professor Schmid, Sie haben zusammen mit Konrad Adenauer und Theodor Heuß im Parlamentarischen Rat entscheidend die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie in unserem Lande mit bestimmt und mit geprägt. Schon im ersten Nachkriegsjahr, als es galt, im Chaos der Niederlage und in der schweren wirtschaftlichen Not unseres Landes die ersten Voraussetzungen für die Errichtung einer neuen staatlichen Ordnung zu schaffen, haben Sie sich dem politischen und dem kulturellen Aufbau in der anfangs so schwierigen Situation im Südwesten Deutschlands mit großer Energie gewidmet.
Als Sie 1949 als Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Mannheim in den Deutschen Bundestag gewählt wurden, waren Sie der deutschen Öffentlichkeit bereits als ein Politiker und Gelehrter bekannt, der die seltene Gabe besitzt, unabhängige Geistigkeit mit politischer Entschiedenheit und Durchsetzungsvermögen zu verbinden. Seit 22 Jahren gehören Sie nun diesem Hause an. Mit kurzer Unterbrechung in der Zeit als Mitglied der Bundesregierung waren Sie seit 1949 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.
Herr Professor Schmid, Ihre Leidenschaft, Ihr Herz gehören dem sozialen Rechtsstaat und der fairen parlamentarischen Auseinandersetzung, deren Lebenselemente der Wettstreit und das Ringen 'um die beste Ordnung für unsere Bürger sind. Sie haben für eine offene, lebendige Demokratie gestritten, in der sich mündige Bürger aus freier Überzeugung staatlicher Autorität zuordnen können. Und Sie haben Ihre ganze Kraft für ein humaneres Europa im Sinne der besten Tradition unseres Kontinentes gegeben, das durch die Aussöhnung und die Verständigung Gräben überwindet und schmerzende Wunden heilt. Die deutsch-französische Freundschaft und der Neubeginn zwischen Deutschen und
Polen sind und bleiben mit dem Namen Carlo Schmid verbunden.
Wir freuen uns aufrichtig mit Ihnen darüber, daß Sie gestern eine so hohe Würdigung durch die Ernennung zum Großoffizier der Ehrenlegion der Französischen Republik erfahren konnten.
Herr Kollege Professor Schmid, wir alle achten Sie als einen hochverdienten Parlamentarier, als einen leidenschaftlichen Demokraten und als angesehenen Gelehrten, dem wir ein gutes neues Lebensjahr in voller Gesundheit und in voller Schaffenskraft hier in unserer Mitte wünschen.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat den Abgeordneten Kahn-Ackermann, der bisher stellvertretendes Mitglied in der Beratenden Versammlung des Europarates war, als ordentliches Mitglied für den aus diesem Gremium ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Schulz benannt. Als stellvertretendes Mitglied hat sie nunmehr den Abgeordneten Pawelczyk benannt.
Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind der Abgeordnete Kahn-Ackermann als ordentliches Mitglied und der Abgeordnete Pawelczyk als stellvertretendes Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates gewählt.
Die folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 23. Februar 1962 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 789/69 über die Finanzierung von Interventionen auf dem Binnenmarkt für Fette
— Drucksache VI/2872 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Aufnahme weiterer Waren in die im Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 1025/70 des Rates zur Festlegung einer gemeinsamen Regelung für die Einfuhr aus dritten Ländern aufgeführte Liste
— Drucksache VI/2873 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die Regelung der Erstattungen bei der Erzeugung für Weißzucker, der bei der Herstellung der im Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 765/68 aufgeführten Erzeugnisse verwendet wird
— Drucksache VI/2874 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
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Präsident von Hassel
Vierte Richtlinie des Rates aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschaften sowie Dritter hinsichtlich der Gliederung und des Inhalts des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie hinsichtlich der Bewertungsmethoden und der Offenlegung dieser Dokumente vorgeschrieben sind
— Drucksache VI/2875 —
überwiesen an den Rechtsausschuß , Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die zeitweilige Aussetzung von autonomen Zollsätzen des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte Waren
- Drucksache VI/2876 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Wir treten nunmehr in die Tagesordnung ein und beginnen mit Punkt 8; es folgen dann der Punkt 13, der Punkt 3 und schließlich der Punkt 1, die Fragestunde.
Ich rufe also zunächst Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen
— Drucksache VI/2203 —
Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache VI/2870 —
Abgeordneter Hirsch
Ich danke den Herren Berichterstattern für ihren Schriftlichen Bericht. Wird das Wort zu einer Ergänzung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache zur zweiten Lesung. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Beratung zur zweiten Lesung.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe in zweiter Lesung auf die Artikel 1, 2, 3, 4 und 5 sowie Einleitung und Überschrift. — Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Lesung.
Wird das Wort begehrt? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in der vorliegenden Form seine Zustimmung gibt, den bitte ich, sich zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? - Das Gesetz ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Wir haben noch über den Antrag des Ausschusses unter Ziffer 2, den Entschließungsantrag, abzustimmen. Wer diesem Entschließungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 29 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache VI/2852 —
b) Beratung der Sammelübersicht 30 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache VI/2853 —
Normalerweise pflegen wir es so zu halten, daß wir einem Mitglied des Petitionsausschusses die Möglichkeit geben, ein besonderes Thema zu behandeln. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wer dem zuzustimmen wünscht, was der Petitionsausschuß in beiden Sammelübersichten vorschlägt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung des Umweltprogramms der Bundesregierung
— Drucksache VI/2710 —
Das Wort zur Einbringung hat der Bundesminister des Innern, Herr Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundeskabinett hat in seiner Sitzung am 29. September dieses Jahres den vom Kabinettausschuß für Umweltfragen vorgelegten Entwurf eines Umweltprogramms der Bundesregierung gebilligt, das Ihnen nunmehr als Drucksache vorliegt. Damit legt zum erstenmal eine Bundesregierung ein umweltpolitisches Gesamtkonzept vor. Das Ihnen vorliegende Umweltprogramm beschreitet neue Wege. Es soll in Zukunft nicht erst zu Umweltschäden kommen können, auf die man dann meist mit verspäteten oder ungenügenden Umweltschutzmaßnahmen reagiert.
Umweltschutz ist im Verständnis der Bundesregierung Bürgerrecht. Jeder Bürger hat einen Anspruch darauf, daß er und seine Kinder sauberes Wasser und gesunde Luft zum Atmen haben, nicht durch Lärm gestört werden und nicht Sorge vor Giften und Schadstoffen in Gebrauchsartikeln und Nahrung zu haben brauchen.
Nach Auffassung der Bundesregierung hilft keine Kosmetik am Umweltproblem, d. h. ein Kurieren an Symptomen. Notwendig ist es, die drohende Umweltkrise an der Wurzel zu packen. Das ist nur durch ein neues Umweltrecht möglich, das Schutz und Entwicklung der Naturgrundlagen, auf denen unser aller Leben und Überleben beruht, zu den vorrangigsten Aufgaben staatlicher Zukunftssicherung und Vorsorge macht.
Die Bedrohung der Umwelt ist keine vorübergehende Erscheinung. Sie ist das Grundproblem unserer Industriekultur. Sie zeigt — und dies wird
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Bundesminister Genscher
von unseren Bürgern auch erkannt —, daß der Mensch an Grenzen stößt. Die Industriegesellschaft ist in eine fatale Abhängigkeit von Annehmlichkeiten und Techniken geraten, um deren umweltschädigende Folgen sie sich nicht mit der notwendigen Umsicht gekümmert hat. Unsere politischen und gesellschaftlichen Institutionen waren bisher nur ungenügend darauf eingrichtet, Probleme wie das der Umweltbelastung durch die menschliche Zivilisation zu behandeln, weil hier sehr viele oft entgegengesetzte Interessen berührt sind.
Die Bundesregierung hat schon in ihrer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 den Umweltproblemen Priorität gegeben. Sie hat sich weder durch Kassandra-Rufe noch durch Beschwichtigungen von dem politischen Willen, vom nur punktuell reagierenden Umweltschutz zu einer umfassenden Umweltpolitik zu kommen, abhalten lassen. Die Bundesregierung ist vielmehr der Meinung, daß wir uns auf ein neues wissenschaftliches, rechtliches und orgnisatorisches Instrumentarium stützen müssen. Mit ihrem Programm will die Bundesregierung erreichen, daß Gesichtspunkte des Umweltschutzes und der Umweltgestaltung in Zukunft in allen Entscheidungsprozessen der öffentlichen Hand und der Wirtschaft in gleicher Weise berücksichtigt werden wie etwa die Fragen der Wirtschafts- oder Sozialpolitik. Umweltfreundlichkeit muß zu einem selbstverständlichen Maßstab für unser aller Handeln werden, sei es im Staat, sei es in der Wirtschaft, sei es im Konsumverhalten des Bürgers.
Ich darf an dieser Stelle kurz auf die Entstehung des Programms eingehen. Am 6. Juni 1970 bildete die Bundesregierung einen Kabinettsausschuß für Umweltfragen mit dem Auftrag, ein Konzept für die Umweltpolitik zu erarbeiten und die Arbeit aller mit Umweltfragen befaßten Ministerien besser zu koordinieren. Die drängendsten Probleme des Umweltschutzes wurden als erster Schritt zum Erreichen dieses Ziels in dem Sofortprogramm vom 17. September 1970 behandelt. Das Sofortprogramm enthielt zugleich einen Zeitplan für die weiteren Schritte, besonders für die Vorlage von Gesetzentwürfen zur Luftreinhaltung, zur Abfallbeseitigung und zum Schutz vor Fluglärm. Das Sofortprogramm ist vom Bundesminister des Innern mit Vorlage des Bundesimmissionsschutzgesetzes am 27. August 1971 erfüllt worden. Wir haben heute die Gewißheit bekommen, daß wir die erste Lesung in diesem Hohen Hause noch in diesem Jahr durchführen können.
Das Umweltprogramm konnte nicht allein von der Bundesregierung erarbeitet werden. Bei der Vielfalt der zu lösenden Probleme und der zahlreichen von Umweltfragen betroffenen Stellen und Interessen war die organisierte Mitarbeit von Sachverständigen der Länder, der Wissenschaft und der Wirtschaft erforderlich. In einer erfreulichen, offenen und kooperativen Atmosphäre haben über 600 Sachverständige in 10 Projektgruppen eine sehr genaue Bestandsaufnahme der Probleme in allen Umweltschutzbereichen vorgenommen.
Wie schon im Vorwort zum Programm möchte ich auch an dieser Stelle den zahlreichen Helfern und
Beratern, die am Programm mitgearbeitet haben, sehr herzlich danken. Auch für die zahlreichen Vorschläge aus der Bevölkerung, die zu einem großen Teil berücksichtigt wurden, möchte ich danken. Auch durch diese neue Form eines Dialogs zwischen Regierung, Wirtschaft, Wissenschaft und Bürger ist das Umweltbewußtsein im Lande gestärkt und gekräftigt worden.
Der vom Bundesminister des Innern in Zusammenarbeit mit den übrigen Ressorts erstellte erste Entwurf des Programms war im April dieses Jahres fertiggstellt und wurde dann mit den übrigen Bundesressorts im einzelnen abgestimmt. Intensive Verhandlungen in dem vom Umweltkabinett eingesetzten Lenkungsausschuß, in seiner Redaktionsgruppe sowie in bilateralen Gesprächen mit den betroffenen Ministerien waren erforderlich. Viele Streitpunkte mußten bereinigt und geklärt werden, bis das Programm in der endgültigen Fassung vorgelegt werden konnte. Gleichzeitig mußten die Ergebnisse der Verhandlungen der Bundesregierung über den Haushaltsplan 1972 sowie die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung bis 1975 berücksichtigt werden.
Das nunmehr vorgelegte Gesamtkonzept für den Umweltschutz enthält zunächst nur die Auffassung der Bundesregierung zu einer modernen Umweltpolitik. In erster Linie werden darin Maßnahmen des Bundes angesprochen, die die Bundesregierung aus ihrer Sicht für erforderlich hält. Darüber hinaus werden aber auch Anregungen und Vorschläge für Länder, Gemeinden und die Wirtschaft gegeben, bei denen der Schwerpunkt für die Lösung konkreter Aufgaben des Umweltschutzes liegt. Mit den Ländern wird das Programm jetzt, nachdem die Grundsatzentscheidung der Bundesregierung vorliegt, erörtert.
Das Umweltprogramm hat die folgenden Hauptziele:
1. Umweltplanung auf lange Sicht zu ermöglichen durch ein modernes Umweltrecht und organisatorische Straffung vorhandener Umweltbehörden, ferner durch Integration des Umweltschutzes in alle Maßnahmen der Struktur- und Raumordnungspolitik;
2. das Verursacherprinzip durchzusetzen: Jeder, der die Umwelt belastet oder sie schädigt, soll für die Kosten dieser Belastung oder Schädigung aufkommen;
3. eine umweltfreundliche Technik zu realisieren: Die technische Entwicklung ist unter Berücksichtigung ihrer Auswirkung auf die Umwelt zu verwirklichen. In Entscheidungen der öffentlichen Hand und Wirtschaft sind Umweltkriterien zu beachten;
4. in allen Teilen der Bevölkerung - das scheint
mir besonders wichtig zu sein — das „Umweltbewußtsein" zu wecken oder zu stärken;
5. eine wirksamere internationale Zusammenarbeit herbeizuführen.
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Bundesminister Genscher
Für die Mehrzahl der notwendigen gesetzlichen Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes hat der Bund zur Zeit keine hinreichende Gesetzgebungskompetenz. Um ihre Konzeption durchzusetzen, hat die Bundesregierung daher eine Änderung des Grundgesetzes vorgeschlagen, durch die der Bund auf den wichtigsten Gebieten des Umweltschutzes die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz erhalten soll. Auf die Ihnen vorliegenden Bundestagsdrucksachen VI/ 1298 und 2249 darf ich hinweisen. Ebenso wie diese Anträge befinden sich verschiedene einfache Gesetzesvorlagen schon in der Beratung der parlamentarischen Gremien, so u. a. die Entwürfe eines Abfallbeseitigungsgesetzes sowie eines Gesetzes zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Einwirkungen, des Bundesimmissionsschutzgesetzes.
Die Bundesregierung hat damit die Entscheidung über die beantragten Verfassungsänderungen nicht abgewartet, sondern die erforderlichen gesetzlichen Maßnahmen wegen ihrer Dringlichkeit schon jetzt vorbereitet. Gleichzeitig bringt sie auf diese Weise zum Ausdruck, welchen Gebrauch sie von der angestrebten vollen Gesetzgebungskompetenz zu machen beabsichtigt, d. h. wir verlangen vom Parlament keinen Blankowechsel, sondern wir nennen auch die inhaltliche Ausfüllung der für den Bundesminister des Innern wichtigen Grundgesetzänderungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ein Umweltstatistikgesetz, ein Gesetz über die Erhebung von Abwasserabgaben und weitere Verbesserungen des Wasserrechts und des Lebensmittel- und des Pflanzenschutzrechts werden vorbereitet. Das Gesetz zur Verminderung von Luftverunreinigungen durch Ottokraftstoffe für Kraftfahrzeugmotore — kurz Benzinbleigesetz genannt — ist am 8. August 1971 schon in Kraft getreten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, einem besonders wichtigen Bereich wenden wir uns im Umweltstrafrecht zu. Die Schädigung der Umwelt ist kriminelles Unrecht. Sie gehört zu den gemeingefährlichen Straftatbeständen, was auch in der Reform des Strafrechts seinen Niederschlag finden muß. Um einer Bagatellisierung von Umweltschädigungen als „Kavaliersdelikte" entgegenzuwirken und den kriminellen Charakter dieser Handlungen besser als bisher in das allgemeine Bewußtsein zu heben, prüft die Bundesregierung, wie neue Strafbestimmungen als „gemeingefährliche Straftaten" in das Strafgesetzbuch aufzunehmen sind, die als Gefährdungsdelikte ausgestaltet werden könnten.
Auch die Strafrahmen in den bisherigen Strafvorschriften, die zum Teil noch aus einer Zeit stammen, in der sich Umweltschädigungen nur gering und auch nur örtlich begrenzt auswirkten, bedürfen der Überprüfung. Vielfach sieht sich die Bundesregierung dem Vorwurf der Öffentlichkeit und auch der Rechtsprechung ausgesetzt, daß die derzeit gültigen Strafandrohungen bei Umweltschädigungen zu gering seien. Die Bundesregierung hat dem in dem von ihr vorgelegten Entwurf eines Abfallbeseitigungsgesetzes Rechnung getragen. Dieser Entwurf sieht Freiheitsstrafen für Zuwiderhandlungen in besonders schweren Fällen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu 100 000 DM vor.
Verwaltung und Organisation des Staates werden durch Umweltplanung und Umweltgestaltung vor schwierige neue Aufgaben gestellt. Um mit Erfolg Umweltpolitik treiben zu können, sind rasches und umfassendes Analysieren wissenschaftlicher Daten über ökologische Belastungen und das Erkennen möglicher künftiger Umweltschäden notwendig. Wirksame Umweltpolitik braucht deshalb neben dem rechtlichen auch ein neues organisatorisches Instrumentarium. Erst dann kann der neueste Stand von Umweltforschung und -technik berücksichtigt werden. Abgewogene gründliche Analysen der Probleme sind bei der Durchführung der Umweltpolitik erforderlich, Damit die Bundesregierung in allen Umweltfragen Beratung und Entscheidungshilfen erhalten kann, wird sie einen unabhängigen Sachverständigenrat für die Umwelt bilden. Seine Mitglieder sollen die wissenschaftlichen Hauptgebiete und die wesentlichen gesellschaftlichen Erfahrungsbereiche des Umweltschutzes repräsentieren. Der Sachverständigenrat soll die Aufgabe haben, Probleme des Umweltschutzes selbständig aufzugreifen, hierüber zu berichten und in regelmäßigen Abständen eine Umweltbilanz vorhandener Umweltschäden und erreichter Verbesserungen zu erstellen.
Die Fülle der Aufgaben, vor ,die uns der Umweltschutz heute stellt, erfordert auch für die behördliche Organisation neue Lösungen. Die Bundesregierung beabsichtigt deshalb die Errichtung eines Bundesamts für Umweltschutz als Dachorganisation zur wirksameren Zusammenfassung bereits bestehender Forschungseinrichtungen und zur Übernahme nichtministerieller Tätigkeiten im Rahmen der Zuständigkeit des Bundes im Umweltschutz. Gleichzeitig sollen mit dem Bundesamt Forschungslücken insbesondere auf dem Gebiet des Immissionsschutzes sowie auf den Gebieten Abwassertechnik, Wasserversorgung und Abfallbeseitigung geschlossen werden. Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung ist hierzu um einen Organisationsvorschlag gebeten worden.
Wirksame Umweltpolitik macht es notwendig, daß schädliche Entwicklungen so früh wie möglich erkannt werden. Die Bundesregierung wird daher ein Informationssystem für eine Umweltplanung auf lange Sicht einrichten, das für die öffentliche Hand, die Wissenschaft und die Wirtschaft alle für Umweltschutz und Umweltplanung wichtigen Daten auswertet und für Entscheidungen zur Verfügung hält. Eine interministerielle Arbeitsgruppe entwickelt das Projekt unter Beteiligung der Länder, der Wissenschaft und der Wirtschaft.
Ein Umweltstatistikgesetz soll es ermöglichen, umweltrelevante Werte schon frühzeitig zu erfassen, um Aufschlüsse über drohende Umweltverschmutzungen zu erhalten.
Aus den Aufgaben des Umweltschutzes ergibt sich auch dessen Zusammenhang mit der Raumordnung. Umweltpolitik kann nach Überzeugung der Bundesregierung nur als Teil der gesamten Struktur- und
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Bundesminister Genscher
Raumordnungspolitik Erfolg haben. Schon heute leben mehr als 60 % der Bevölkerung in verstädterten Räumen, in denen die Umweltbelastungen besonders groß sind. Das Bundesraumordnungsprogramm, das die Bundesregierung gegenwärtig mit den Ländern erarbeitet, wird die Ziele unserer Umweltpolitik wirksam unterstützen.
Das Umweltprogramm gliedert sich in zwei Teile: einen allgemeinen Teil mit Grundsätzen der Umweltpolitik und einen besonderen Teil, das „Aktionsprogramm der Bundesregierung". Das Aktionsprogramm zieht die Konsequenzen aus den geschilderten umweltpolitischen Grundsätzen, soweit sie sich innerhalb des gegebenen finanziellen und institutionellen Spielraums zur Zeit verwirklichen lassen. Es ist ein realistisches und konkretes Programm; es legt den Grund für eine Neuorientierung auch der Umweltmaßnahmen in Wirtschaft, Ländern und Gemeinden.
Dabei ist der wichtigste Grundsatz, auf dem das Umweltprogramm der Bundesregierung basiert, das Verursacherprinzip, zu dem sich die Bundesregierung bekennt. Das heißt: Grundsätzlich hat derjenige die Kosten einer Umweltbelastung zu tragen, der für ihre Entstehung verantwortlich ist. Dabei muß unter dem Verursacher allerdings auch derjenige verstanden werden, der durch Herstellung eines bestimmten Produkts oder durch Anwendung eines bestimmten Verfahrens bereits die Grundlage für eine spätere Umweltbelastung legt.
Das Verursacherprinzip ist die Anwendung der Grundsätze unserer Marktwirtschaft im Bereich des Umweltschutzes. In der marktwirtschaftlichen Ordnung sollen grundsätzlich alle Kosten den Produkten oder den Leistungen zugerechnet werden, die die einzelnen Kosten verursachen.
Heute wird dieser Grundsatz weitgehend durchbrochen. Häufig werden die Kosten der Umweltbelastungen vom Produkt oder der Leistung losgelöst und der Allgemeinheit angelastet, die für die Beseitigung von Umweltschäden Mittel aufwenden muß. Das Verursacherprinzip führt zu einer Verlagerung dieser Kosten und macht damit eine Korrektur notwendig. Natürlich werden sich höhere Kosten für Waren und Dienstleistungen nicht immer vermeiden lassen. Über eine Minderung der Nachfrage können solche Preiserhöhungen jedoch auch zur Folge haben, daß neue Verfahren und Produkte entwickelt werden, durch die Umweltbelastungen ohne Kostensteigerungen vermieden werden können. Vom Wettbewerb wird es letztlich abhängen, in welcher Höhe die Kosten der Umweltschutzmaßnahmen auf den Endverbraucher abgewälzt werden. Ich wehre mich gegen das Vorurteil, daß umweltfreundliche Produkte teurer seien als umweltfeindliche. Die Entwicklung wird zeigen, daß eine vorausschauende Umweltpolitik, die der Wirtschaft langfristige Dispositionen durch klare Koordinaten ermöglicht, von der Volkswirtschaft tatsächlich verwirklicht werden kann. Sicherlich wird sich das Verursacherprinzip nicht immer und nicht überall durchsetzen lassen. Dort, wo im Interesse der Allgemeinheit das Leistungsvermögen der Wirtschaft überschritten wird, der Verursacher zur Tragung der
Kosten nicht herangezogen werden kann oder bereits akute Notstände eingetreten sind, wird der Einsatz öffentlicher Mittel in Betracht gezogen werden müssen.
Die soziale Marktwirtschaft wird sich auch im Hinblick auf die Lösung der Umweltprobleme gegenüber anderen Wirtschaftssystemen als leistungsfähiger erweisen. Die Verwirklichung des Umweltprogramms der Bundesregierung wird zeigen, daß jene unrecht haben, die die ungelösten Umweltprobleme als Hebel gegen unsere freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung benutzen wollen.
Die Aufgaben der Umweltpolitik geben keinen Anlaß, von dem bewährten Prinzip der Selbstverantwortlichkeit abzugehen. Nur dort, wo es unumgänglich ist, wird der Staat eingreifen müssen. Der Unternehmer wird jedoch stärker als bisher prüfen müssen, welche Umweltbelastung aus der Herstellung eines Produkts folgt. Bereits heute setzt sich in der Wirtschaft in zunehmendem Maße die Erkenntnis durch, daß es auf die Dauer billiger ist, Umweltschäden von vornherein zu vermeiden, als künftig zu ihrer oft kostspieligeren Beseitigung herangezogen zu werden. Damit sich diese umweltfreundliche Haltung überall durchsetzt, muß der Staat zu erkennen geben, welches Maß an Umweltschutz er für notwendig hält. Das soll mit diesem Programm geschehen.
Umweltschutz ist eben nicht Ablehnung von Technik und Wirtschaftswachstum, wie falsche Propheten behaupten, sondern im Gegenteil der Versuch, ein umweltorientiertes Verständnis in der Wirtschaft, im Verkehr, im Städtebau und in vielen anderen Bereichen unseres Lebens zu erreichen. Es wäre deshalb falsch, die Kosten des Umweltschutzes nur als bremsende Faktoren in unserer Wirtschaftsordnung zu werten. Der Umweltschutz gibt direkte und indirekte Impulse, neue umweltschonende Verfahren und Produkte auf den Markt zu bringen. Umweltfreundlichkeit soll zugleich ein neues Markenzeichen wirtschaftlicher Leistungen werden.
Ich möchte auch über eine andere Frage keinen Zweifel lassen. Wir werden sehr häufig gefragt: was kostet Umweltschutzpolitik? Ich antworte mit der Gegenfrage: welchen Preis haben wir und unsere Kinder zu zahlen, wenn wir mit dem Umweltschutz nicht Ernst machen?
Ein großer Teil der Kosten des Umweltschutzes wird von der Wirtschaft getragen werden müssen. Finanz- und steuerpolitische Maßnahmen sollen daher durch Ausbau der bisherigen Förderungsmaßnahmen in stärkerem Umfang als bisher Anreize für umweltfreundliche Investitionen liefern. Ein Grundsatzbeschluß der Bundesregierung zur Steuerreform dient diesem Ziel. Jedoch bedeutet das Verursacherprinzip nicht, daß nicht auch die öffentliche Hand finanziell belastet wird. Ein Überblick über die öffentlichen Ausgaben für den Umweltschutz läßt erkennen, daß das Schwergewicht bei den Gemein-
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Bundesminister Genscher
den und Gemeindeverbänden liegt. Hier sind es besonders die Investitionen für ausreichende Klär- und Müllbeseitigungsanlagen, die erhebliche Aufwendungen erfordern.
Umweltschutz, meine Damen und Herren, hat nicht nur Konsequenzen für die Innenpolitik. Er ist in Wahrheit eine internationale Aufgabe. Eine Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes ist unerläßlich. Viele Umweltprobleme, wie die Verseuchung der Weltmeere, der Flüsse oder auch der Atmosphäre, können nur durch gemeinsame Maßnahmen gelöst werden. Umweltschutz ist im letzten Weltinnenpolitik. Vor allem ist eine internationale Rechtsangleichung erforderlich, um Wettbewerbsverzerrungen und Handelshemmnisse zu vermeiden. Es darf keine billigen Flaggen des Umweltschutzes geben.
Die Bundesregierung hat auf internationalem Gebiet im Rahmen des Umweltschutzes schon eine Reihe von Initiativen ergriffen. Sie mißt der Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und anderer internationaler Organisationen besondere Bedeutung bei. Sie ist der Meinung, daß die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes auch nicht an Paktsystemen und unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen haltmachen sollte. Die Umweltpolitik der Bundesregierung soll Schrittmacherdienste für ein internationales Umweltrecht leisten. Wir gehen davon aus, daß europäische Regelungen nicht immer abgewartet werden können. Als Beispiel darf ich neben diesem Programm auf die Verabschiedung des Benzin-BleiGesetzes hinweisen. Die Bundesregierung hat hier eine europäische Lösung nicht abgewartet, weil das praktisch einer Vertagung gleichgekommen wäre. Die Bundesregierung hofft, daß mit ihrem Vorgehen im Bereich des Umweltschutzes anderen Regierungen die Durchsetzung entsprechender Regelungen im eigenen Bereich erleichtert werden wird.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat ihrerseits eine Erste Mitteilung über eine gemeinsame Umweltpolitik der Gemeinschaft erarbeitet. Die Bundesregierung begrüßt diese Initiative nachdrücklich. Sie ist in Gesprächen mit Angehörigen der Kommission über diese Erste Mitteilung eingetreten. Anfang November habe ich in Bonn mit dem zuständigen Kommissar Spinelli die Vorstellungen der Kommission erörtert. Dabei bestand Einigkeit darüber, daß der Gemeinschaft eine wichtige Funktion bei der Harmonisierung von nationalen Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes zufällt und daß sie da, wo es sachlich notwendig ist, über die rechtlichen Möglichkeiten verfügen sollte, selbst regelnd einzugreifen. Die formelle Festlegung der Rolle der Gemeinschaft wird eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Die Kommission hofft, dem Rat im Frühjahr 1972 konkrete Aktionsvorschläge unterbreiten zu können. Sie kann der Unterstützung durch die Bundesregierung gewiß sein, wo immer diese Unterstützung sachlich gerechtfertigt ist.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung stellt sich mit diesem Programm der großen Herausforderung, die Umweltschutz heißt. Das vorliegende Programm ist eine erste umfassende Antwort auf
diese Herausforderung. Für seine Verwirklichung erbitte ich Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gruhl. Für ihn sind 25 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kampf gegen die Umweltvergiftung duldet keine Verzögerung mehr. Was die Natur in Jahrmillionen aufgebaut hat, vermag der Mensch heute in wenigen Jahrzehnten zu vernichten, und er ist auch auf dem besten Wege, dies zu tun. Der Hintergrund unserer heutigen Debatte ist leider der, daß die Umweltschädigung in allen Bereichen munter weitergeht. Nebenan im Rhein schwimmen Tausende von Giften. Die französischen Bergwerke leiten täglich 15 000 t Salze ein. Schon der Bodensee am Oberlauf droht biologisch zusammenzubrechen. Trotzdem werden Dutzende von Atomkraftwerken gebaut, die das Rheinwasser weiter aufheizen und damit den letzten Sauerstoff verbrauchen werden. Trotzdem werden am Rhein noch neue Mammutindustrien geplant. Wer kann es da den Holländern verdenken, daß sie auch ihrerseits mit Plänen spielen, ihre Kloaken in den Jadebusen zu leiten?
Der französische Forscher Cousteau behauptet, daß schon 40 °/o der Weltmeere ökologisch schwer geschädigt sind, und Professor Picard ist der Ansicht, daß in 20 bis 25 Jahren im Meer alles Leben erloschen sein wird. Hier wird schon die Notwendigkeit des internationalen Umweltschutzes sichtbar. Dennoch ist davor zu warnen, das Tempo im nationalen Berich von weltweiten oder auch nur von europäischen Übereinkünften abhängig zu machen. Wir haben dazu die Zeit nicht mehr.
Auf der Erde wurden bisher über 1 Million t DDT verstreut, bis man nach 20 Jahren gemerkt hat, welch toxische Wirkung dieses Mittel hat. Was nützt aber dessen Verbot, wenn jährlich tausend neue chemische Mittel auf den Markt kommen, von denen noch längst nicht alle Folgewirkungen bekannt sind.
Um noch ein Beispiel aus der Luftvergiftung herauszugreifen: man weiß auf Grund der Zuwachsrate schon heute, daß die jetzigen 20 000 Todesfälle auf Grund von Lungenkrebs pro Jahr in der Bundesrepublik auf jährlich 100 000 ansteigen werden. Im Ruhrgebiet ist die Anzahl dieser Todesfälle mehr als doppelt so hoch wie in anderen Teilen des Bundesgebietes.
Wenn man angesichts dieser alarmierenden Entwicklung behauptet, gerade dort sei der einzig richtige Standort für neue Großindustrien, müßte man eigentlich das Wort Umweltschutz gleich begraben.
Gegen ein dummes Schlagwort muß ich mich heute wenden. Es ist das Wort von der angeblichen
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Dr. Gruhl
„Umwelthysterie". Wo ich mich auch umsehe, ich finde nirgendwo die geringste Hysterie, sondern, ganz im Gegenteil, die alte, weit verbreitete Unwissenheit und leider auch Gleichgültigkeit. Wenn man durch einen Park oder Wald geht, dann kann man zwar sehen, daß sehr viele Menschen die Umwelt entdeckt haben, aber als ihren privaten Müllabladeplatz. Wenn einige Männer und Frauen das Rauchen einstellen, dann rauchen auf der anderen Seite die Frauen heute mehr und sogar die Kinder, und es gibt Schulen, die es ihnen sogar ausdrücklich erlauben.
Die größte Gefahr, meine Damen und Herren, daß der Umweltschutz scheitert, liegt darin, daß der einzelne Verstoß jeweils unbeträchtlich oder gerade noch tragbar erscheint. Aber aus Hunderten, Tausenden, Millionen von Fällen ergibt sich dann die weltweite Bedrohung. Die Bekämpfung des Einzelfalles mag hier und da als Hysterie erscheinen. Aber ohne Erfolg in Einzelfällen kann sich keine Wandlung im ganzen ergeben. Darum würde ein bißchen Hysterie vielleicht hier und da gar nicht schaden.
Wenn die Erhaltung der Lebensbedingungen auf diesem Erdball nicht zum obersten Gebot allen menschlichen Handelns gemacht wird, dann ist die Menschheit nicht zu retten. Darin stimmen sehr viele ernsthafte Wissenschaftler heute bereits überein. Weltweite Probleme müssen darum gelöst werden, bei denen auch ein internationales Vorgehen erforderlich ist. Die Stockholmer Konferenz der UNO ist sehr zu begrüßen. Wenn man aber die Bundesrepublik dabei ausschließen will, dann wird dies einem weltweiten Erfolg dieser Bemühungen großen Abbruch tun.
Bei unseren eigenen Maßnahmen können wir allerdings auf die globale Einsicht nicht warten, weil es dann zu spät sein könnte und weil in unserem eigenen Lande die Gefahren am größten sind. Die Umweltvorsorge muß daher der oberste Grundsatz unseres planenden Handelns in allen Bereichen des Lebens werden. Die weitreichendsten Folgen wird dieser Grundsatz im Bereich von Wirtschaft und Technik haben, wie der Herr Innenminister eben auch schon eingehend erklärt hat.
Insofern kommen wir ohne eine umfassende Zielsetzung nicht aus. Den Versuch dazu unternimmt das vorliegende Programm der Bundesregierung. Es werden darin vor allen Dingen die Grundprinzipien der Umweltpolitik aufgestellt, die auch die unseren sind. Es ist außerordentlich erfreulich und hoffnungsvoll, daß wir in diesem Haus keinen Streit über die Grundsätze zu führen brauchen. Über Ziele und Wege stimmen alle Parteien überein.
Wir können sofort an die sachliche Arbeit gehen, und wir haben auch schon die ersten Gesetze gemeinsam verabschiedet.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte schon am 20. Mai 1970 einen Antrag vorgelegt, der auch das gesamte Problem aufgriff. Da er in wenigen Wochen entwickelt wurde, konnte er nicht alle Bereiche bis ins einzelne erfassen, wie das im Regierungsentwurf nach mehrjähriger Arbeit der Fall ist. Wir können mit Befriedigung feststellen, daß so gut wie alle unsere Punkte auch im Regierungsprogramm aufgegriffen worden sind und damit der Zweck unserer vorjährigen Bemühungen auch erreicht wurde. Die Verzögerung der Regierungsvorlage um ein halbes Jahr läßt sich mit den Schwierigkeiten der Materie begründen, die in der Vielfalt der Gebiete, die zu berücksichtigen waren, ihre Ursache hat. Der Umweltabteilung des Innenministeriums sprechen wir unseren Dank für die Bewältigung einer schwierigen Aufgabe aus. Dieser Dank ist zu erweitern auf die zehn Projektgruppen, in denen Vertreter der Wissenschaft und der Verwaltung ihr Sachwissen beigesteuert haben. Leider liegen uns die Einzelberichte der Projektgruppen noch nicht vor.
Der Kampf um die bessere Umwelt wird seine bedeutendsten Auswirkungen im Bereich der Industrie und des Verkehrs haben und dort zu großen Veränderungen führen. Die Industrie hat bis heute unter der Annahme gearbeitet, daß es auf dieser Erde unerschöpfliche Naturgüter gibt, deren Beanspruchung nichts kostet, nämlich Luft und Wasser. Inzwischen ist aber eine derartige Überbeanspruchung eingetreten, die in Verbindung mit der Bevölkerungsexplosion zu der Entdeckung von Luft und Wasser als Kostenfaktoren geführt hat. Die Kosten liegen seit langem in den Folgen, die zu Krankheit, vorzeitigem Tod und Verderben oder zumindest zu verschlechterten Lebensbedingungen für Mensch, Tier und Pflanze führen. Darum werden sie auch „soziale Kosten" genannt. Die Summen der Schäden, die hier entstehen, werden sich niemals genau ermitteln lassen. Amerikanische Berechnungen erreichen immer mehrere Milliarden Dollar. Auch uns wird es nie gelingen, die durch Umweltvergiftung hervorgerufenen Krankheiten, die dafür nötigen Krankenhäuser, Ärzte, Medikamente sowie die Ausfälle an geistigem und körperlichem Leistungsvermögen auch nur annähernd zu schätzen.
Ist es angesichts dieser rapiden Verschlechterung unserer Umwelt nicht vernünftiger, wirtschaftlicher und auch menschenwürdiger, die sozialen Kosten nicht mehr a 11 e n Menschen in der Form von Leiden aufzubürden, sondern in Zukunft das Geld besser für solche Techniken und Verfahren anzuwenden, die Umweltschäden gar nicht erst entstehen lassen? Wir betrügen uns doch heute alle selber, indem wir unsere materiellen Zuwachsraten stolz verkünden, die allerdings den Vorteil haben, daß sie auf Mark und Pfennig zu berechnen sind. Die Verluste an Lebensgrundlagen, deren Höhe sich leider auch einer exakten Berechnung entzieht, verschweigen wir aber. Weil wir bis heute nur die Vorteile im einzelnen, nicht aber die Schäden für die Allgemeinheit berechnet haben, bildete sich das gegenwärtige — man kann sagen — manipulierte und verzerrte Preisgefüge. Auch. hier stimme ich mit dem Herrn Innenminister völlig überein.
Die Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltschäden gehören in Zukunft zu den Produktionskosten. Schon bei der industriellen Herstellung müssen durch entsprechende technische Verfahren — auch mit hohem Aufwand, wenn es nötig ist — Umweltschäden vermieden werden. Die Kosten dafür
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Dr. Gruhl
werden und sollen dann auf die Preise durchschlagen; nur auf diese Weise kommen wir zu echten und gerechten Preisen.
— Die internationale Wettbewerbssituation wird natürlich erfordern, daß in diesem Bereich der Staat mit gewissen Hilfen da, wo es nötig ist, eingreift. Aber im Prinzip bin ich der Meinung, wenn irgendwelche Waren daraufhin so teuer werden, daß auf ihren Konsum weitgehend verzichtet wird, dann ist dies eine ebenso konsequente wie erwünschte Folge unseres Kampfes um die Erhaltung der Umweltbedingungen auf dieser Erde. Denn was bisher in aller Welt geschieht, ist ein schreiendes Unrecht. Ein Benutzer eines die Umwelt verderbenden Produkts bekommt es heute doch nur darum so billig, weil seine unschuldigen Mitbürger die Nachteile erleiden — auch diejenigen, die nie in ihrem Leben ein solches Produkt benutzen. Denken Sie z. B. an das Auto oder an das Flugzeug, deren Luft- und Lärmschädigungen sich auf völlig unbeteiligte Bürger in höchstem Maße auswirken. Es gibt natürlich schwierigere Zusammenhänge; aber immer sind die Auswirkungen so, daß am Schluß alle unter den verheerenden Folgen zu leiden haben. Ein anderes Beispiel: Warum können heute noch große Städte ihr gesamtes Abwasser ungeklärt in den nächsten Fluß leiten? Nur auf Kosten der Nachbarstädte, die ihre Abwässer vorbildlich klären.
Täten die es nämlich auch nicht, dann würden wir schon heute im Schmutz umkommen. Was man sich auf dem Gebiet der Abwässerklärung in der Bundesrepublik leistet, ist im Grunde eine glatte Verhöhnung des Rechtsstaats. Während die eine Stadt viele Millionen DM aufwendet, um den Gesetzen zu genügen, leitet die andere ihren Dreck ganz ungeniert in den nächsten Fluß. Wo bleibt hier die Gleichheit vor dem Gesetz, und wo bleibt die Aufsicht der Länder?
Wenn es also nicht gelungen ist, die Pflichten gleichmäßig zu verteilen, dann müssen wir eben in Zukunft über die Kosten für eine gleichmäßige Verteilung sorgen. Ich begrüße daher die im Umweltprogramm der Bundesregierung erklärte Absicht, eine Abwasserabgabe einzuführen für die gar nicht oder nur schlecht geklärten Abwässer. Aber nicht nur hier, sondern auf allen Gebieten müssen wir endlich eine gerechte Verteilung der Umweltkosten in die Wege leiten. Das heißt auch, daß der abfall-
und abwasserproduzierende Bürger in jeder Gemeinde die Gebühren aufzubringen hat, die zur schadlosen Beseitigung nötig sind.
Das System, mit dem diese Verteilung der Umweltkosten möglich ist und das für die Industrie wie die Kommunen gilt, ist eben das Verursacherprinzip. Es sollte besser „Ursachenprinzip" heißen, denn bei unserem verzweigten Wirtschaftsgefüge müssen wir jeweils die technische Ursache eines Umweltschadens finden, um diesen unmittelbar an der Quelle abzustellen. Dies ist die in der Praxis sinnvollste, wirtschaftlich rationellste und damit auch billigste und erfolgversprechendste Methode jeder Umweltvorsorge. Allein das Verursacherprinzip entspricht unserer sozialen Marktwirtschaft und ihrem Mechanismus. Jede andere Methode führt vom freien Markt weg und letzten Endes in den staatlichen Dirigismus. In der Marktwirtschaft ist dagegen die Möglichkeit zum Einfügen der Umweltkosten von vornherein gegeben. Die Auswirkung ist sozial, weil dann der Vielverbraucher viel und der bescheiden Lebende wenig zahlt und weil insbesondere der, dessen Begierde sich auf die umweltgefährdenden Dinge richtet, am allerstärksten zur Kasse gebeten werden kann.
Der Staat muß allerdings mittels seiner Gesetze die Durchführung des Verursacherprinzips erzwingen. Dabei sind durchaus komplizierte Erwägungen anzustellen; denn es handelt sich um technische und naturwissenschaftliche Sachverhalte und die Möglichkeiten zur schnellsten und wirksamsten Besserung. Dort, wo eine technische Umstellung nicht oder noch nicht realisierbar ist, wird entschieden werden müssen, ob das Ausmaß der Gefährdung unter Umständen auch die Einstellung einer bestimmten Produktion rechtfertigt oder ob Umweltschäden mit einer Gebühr in Höhe der verursachten Verschlechterung der öffentlichen Güter Luft, Wasser und Erdreich abgegolten werden können. Aber kostenlos können diese Güter nicht mehr in Anspruch genommen werden.
Für alle diese Entscheidungen müssen die wissenschaftlichen Grundlagen zur Verfügung stehen. Darum begrüßt die CDU/CSU-Fraktion die vorgesehene Einrichtung eines Bundesamtes für Umweltschutz, in dem die bisherigen Institute unter einem Dach zusammengefaßt werden und, wo nötig, auch zu ergänzen sind. Von diesem Amt sollte die Umweltforschung gesteuert und die Vergabe der Forschungsaufträge vorgenommen werden. Wir sehen auch eine Übereinstimmung zwischen dem geplanten Beirat für Umweltschutz und der im Antrag der CDU/CSU vom 20. Mai 1970 geforderten „Deutschen Kommission für Umweltfragen". Die erforderlichen neuen Technologien sollten dann in engster Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelt werden, wobei für neue Projekte von allgemeiner Bedeutung auch die finanzielle Förderung durch den Bund hier und da angebracht sein wird.
Für die verstärkte Heranbildung des Personals ist leider bis heute noch nichts geschehen. Hier müssen schnellstens in Zusammenarbeit mit den Ländern Ausbildungsstätten geschaffen werden. Denn was werden uns die schönsten Gesetze nützen, wenn niemand da ist, der ihre Befolgung sachkundig überwacht.
Die festgestellten Verstöße müssen wirksam geahndet werden, und dazu muß auch das Strafrecht auf solche Tatbestände ausgedehnt werden. Da die staatliche Aufsicht nicht überall sein kann und da sich hier und da auch Interessenkonflikte ergeben werden, sollte man den mit Umweltschutz befaßten Verbänden das Klagerecht einräumen.
Der entscheidende Beitrag des Bundestages wird in der zügigen Beratung der eingebrachten Gesetze
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liegen. Die wichtigsten sind zur Zeit: das Gesetz gegen Luftverunreinigung und Lärm, das Abfallbeseitigungsgesetz und die Ergänzung des Wasserhaushaltsgesetzes. Dazu kommen einige weniger umfangreiche und natürlich auch die vorgelegten Grundgesetzänderungen. Gestern haben wir eine Entschließung zur thermischen Belastung der Gewässer angenommen und das DDT-Gesetz in erster Lesung zur Beratung überwiesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, an dieser Stelle fällt auf, daß der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sein schon für das Frühjahr 1971 versprochenes Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege bis heute nicht vorgelegt hat. Damit komme ich zu einigen sehr kritischen Bemerkungen. Von Herrn Minister Ertl hört man ab und zu einige kluge Sätze über die besondere Bedeutung der Landwirtschaft für den Umweltschutz. Aber welche Konsequenzen zieht er für sein Ministerium daraus? Bisher keine! Ich las vor wenigen Wochen des Herrn Ministers in Tutzing vorgetragene Forderungen. Die erste lautet:
Wir benötigen den beschleunigten Ausbau der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, und das in Kooperation zwischen den öffentlichen Verwaltungen, den Hochschulen und der Wirtschaft.
Aber gerade das wissenschaftliche Institut, welches seinem eigenen Hause zur Verfügung steht, nämlich die Bundesanstalt für Vegetationskunde, Naturschutz und Landschaftspflege, läßt der Herr Minister mit der gleichen personellen Besetzung und Ausrüstung arbeiten, die schon vor 20 Jahren vorhanden war. Hier werden nicht einmal im eigenen Bereich Konsequenzen gezogen. Wo will der Herr Minister die Daten herbekommen, von denen er in seiner zweiten und dritten Forderung spricht? In seiner fünften Forderung unterstreicht der Minister die Bedeutung der Landwirtschaft für das öffentliche Wohl und für die Erhaltung der Kulturlandschaft. Ich wünschte, daß nun langsam auch erste Konsequenzen dieser Erkenntnis für die Landwirtschaftspolitik der Regierung sichtbar würden; aber hier wird ja bisher noch nicht die Pflege, sondern die Aufgabe des Landes honoriert.
Die vierte Forderung des Ministers geht dahin, mit steuerlichen Anreizen und Prämien neue Technologien zu fördern. Hier muß man nun die Kritik auf die Haltung des gesamten Bundeskabinetts ausdehnen. Obwohl im Programm ausdrücklich von steuerlichen Vergünstigungen die Rede ist und davon, daß sie in Zukunft noch wirksamer sein sollen, sucht man in den Regierungsplänen zur Steuerreform die Gesichtspunkte des Umweltschutzes vergeblich. Die Gewerbesteuer, wie alle Einsichtigen längst erkannt haben, eine der Hauptquellen für die Zersiedelung und Zerstörung unserer Landschaft, soll im wesentlichen unverändert bleiben. Aber gerade auf dem Gebiet der Steuerpolitik besteht für den Bund doch eine Möglichkeit, mit steuerlichen Anreizen Umweltpolitik zu treiben, wie das auch frühere CDU-Regierungen schon praktiziert haben. Die Abschreibungen für Anlagen der Abfallbeseitigung müssen hinzukommen.
Unsere Fraktion ist zur Zeit bemüht, über den ERP-Plan 25 Millionen DM für Abfallbeseitigungsanlagen bereitzustellen. Denn von diesen zinsverbilligten Krediten, wie sie auch schon früher aus den im ERP-Sondervermögen für Kläranlagen und Anlagen der Luftreinhaltung gewährt wurden, geht eine Initialzündung aus. Es ist auch richtig, einen Schwerpunkt für die Sanierung des Rheins und seiner Nebenflüsse zu setzen. Dafür stehen für Kläranlagen im Bundeshaushalt 1972 20, ab 1973 jährlich 30 Millionen DM zur Verfügung; leider nicht die gewünschten 50 Millionen DM. Für den Bund bleiben auf Grund des Verursacherprinzips nur bestimmte finanzielle Aufgaben, die aber bewältigt werden müssen, um alle übrigen voranzutreiben.
Die Bedeutung der Umwelt — auch dies möchte ich hier anmerken — muß in den Augen der Bundesregierung innerhalb des letzten Jahres leider etwas gesunken sein. Im Sofortprogramm hieß es nämlich noch wörtlich: „Die Bundesregierung gibt der Abwehr der Umweltgefahren Vorrang in ihrem Programm innerer Reformen." Im neuen Gesamtprogramm ist nur noch davon die Rede, „daß Umweltpolitik den gleichen Rang hat wie andere große öffentliche Aufgaben, z. B. soziale Sicherheit, Bildungspolitik oder innere und äußere Sicherheit".
Diese herabgestufte Bedeutung spiegelt sich auch in den finannziellen Voranschlägen wider. Die finanziellen Berechnungen im Umweltprogramm der Regierung ergeben bestenfalls eine Steigerung um 50 % gegenüber dem Normalaufwand, wenn sich auch die Beträge schwer ermitteln und noch schwerer abgrenzen lassen. Bei der Wasserreinhaltung sind es im Grunde genommen nur Steigerungen um 25 % gegenüber dem, was beispielsweise im Jahre 1969 schon in dieser Richtung aufgewandt wurde.
Die Regierung glaubt, daß eine verbesserte Umwelt 0,9 % des Bruttosozialprodukts erfordern wird. Auf die Person umgerechnet wären das 100 DM im Jahr oder 8 bis 9 DM im Monat. Ich glaube, mit diesen Beträgen werden wir nicht auskommen; denn wir haben einen beträchtlichen Nachholbedarf, der von Jahr zu Jahr zunimmt. Um diesen in den nächsten Jahren aufzuholen, wird eine ganz besondere Kraftanstrengung nötig sein.
Wir werden natürlich auch Konsequenzen für unsere Sozialpolitik ziehen müssen. Eine Verteuerung des Lebens um 10 DM im Monat bedeutet für einen Rentner, der nur 400 DM zur Verfügung hat, natürlich einen schwerer wiegenden Eingriff als für einen, der das Doppelte und mehr im Monat zur Verfügung hat. Unser Ziel wird es daher sein müssen, mit einer erhöhten Untergrenze tragbare Mindestbedingungen für die Lebenshaltung eines jeden herzustellen. Gleichzeitig aber werden wir niemandem in unserem Lande durch eine Verbesserung der Umwelt mehr helfen als gerade den Bürgern mit bescheidener Lebenshaltung, die nicht im Überfluß der vielfältigen materiellen Lebensgüter leben.
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Saubere Luft zum Atmen, eine gesunde und lebendige Landschaft und eine ruhige Wohnung
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Dr. Gruhl
sind die Grundlagen für die Gesundheit von Leib und Seele jedes Menschen, die heute schwer gefährdet sind. An diesen Werten hat sich in Zukunft das Wachstum der Wirtschaft zu orientieren. Wachstum darf kein Selbstzweck mehr sein. Die Quantität des Fortschritts hebt sich an vielen Orten schon selber wieder auf. Es ist höchste Zeit, die Qualität des Lebens an die Spitze der Werte zu stellen. Dies ist das erklärte Ziel des Umweltprogramms der Regierung, es ist das Ziel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und es muß das Ziel aller Bürger in diesem Lande werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Schäfer. Es sind 20 Minuten Redezeit beantragt worden.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf, gleichzeitig namens der FDP-Fraktion, folgendes ausführen.
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung das Umweltprogramm jetzt vorgelegt hat. Wir begrüßen den Inhalt dieses Programms, und wir sagen die volle Unterstützung der Regierungsfraktionen bei der Durchführung und Durchsetzung dieses Programmes zu.
Die Bundesregierung hat am 17. September letzten Jahres ihr Sofortprogramm vorgelegt und hat sich gewissenhaft an dieses Programm gehalten. Es ist erfreulich, daß das Innenministerium in der Lage war, dieses Gesamtumweltprogramm heute vorzulegen. Es ist eine große Leistung, eine Leistung, die von vielen erbracht wurde, und ich darf ebenso wie Sie, Herr Dr. Gruhl, den Dank an das Ministerium und an die Mitarbeiter aussprechen.
Es ist ein Programm und ein Aktionsprogramm, ein Programm, das sich mit Gesetzgebung, mit Organisation und Verwaltung befaßt, aber auch die Rolle der Wissenschaft richtig umschreibt.
Es ist gut, daß ungefähr zur gleichen Zeit einige Länder ihre Umweltprogramme oder Berichte über ihre seitherige Tätigkeit vorgelegt haben. Daraus wird deutlich, daß wir alle, Bund und Länder, in der Verantwortung stehen, diese uns gestellte große Aufgabe zu meistern. Es ist auch erfreulich, daß viele Verbände sich an mich als Vorsitzenden des Innenausschusses gewandt und zu der laufenden Diskussion ihre Meinung gesagt, uns aber auch zum Teil eigene Gesetzesvorlagen zugeleitet haben, in denen der Wille der Bevölkerung sehr deutlich zum Ausdruck kommt, nun mit Energie die Lösung der Aufgaben anzustreben.
Wir haben Grund, Rundfunk, Fernsehen und Presse dafür zu danken, daß sie in der Bevölkerung das nötige Bewußtsein geschaffen haben; denn damit wird die Durchführung eines Programmes, wie es uns jetzt vorliegt, überhaupt erst möglich. Ich möchte hier aber gleichzeitig an eben diese Massenmedien die Bitte richten, uns mit der gleichen Nachhaltigkeit zu unterstützen, wenn es darum geht, die notwendigen Gesetze in der Praxis durchzuführen, denn mancher, der nach einem solchen Gesetz ruft, wird, wenn es von uns mit gutem Gewissen beschlossen wurde, feststellen, daß er dann eben auch seinen finanziellen Teil dazu beizutragen hat. Dann wird es gut sein, wenn die Massenmedien. darum besorgt sind, daß das vom einzelnen Bürger insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Zusammenwirkens von Industrie, Wirtschaft, Bürger und Verwaltung verstanden wird. Gerade dies ist eine der großen schwierigen Fragen. Man sagt es so leichthin, daß die Industrie, die Wirtschaft Hauptverursacher der Probleme seien.
Wir haben in den fünf Hearings des Innenausschusses, die wir durchgeführt haben, gerade hierzu einige Erkenntnisse gesammelt, die ich doch ganz kurz zusammengefaßt wiedergeben möchte.
Erstens. Die Sachverständigen der verschiedenen Richtungen — sie kamen aus der Wissenschaft, der Praxis und aus der Wirtschaft — haben übereinstimmend festgestellt, daß die technischen Voraussetzungen entwickelt sind, um die Probleme meistern zu können.
Zweitens. Wir können feststellen, daß die Vertreter der Industrie — ich kann das so sagen, denn der Bundesverband der Deutschen Industrie hat die Sachverständigen uns gegenüber benannt — die Interessenlage offen dargelegt haben, so daß der Bundestag in der Lage ist, in Kenntnis der Auswirkungen nach allen Seiten seine Entscheidungen zu treffen. Das ist notwendig, denn Kosten der Industrie sind Kalkulationskosten, die sich im Preis niederschlagen, die also auf den Verbraucher zukommen. Das ist auch deswegen notwendig, damit wir wissen, was wir unserer Industrie, unserer gesamten Wirtschaft — im Blick auf die Wettbewerbssituation in anderen Ländern — zumuten können. Es ist weiter notwendig, weil wir innerhalb der EWG Regelungen treffen müssen, die mit dem EWG-Vertrag vereinbar sind.
Wir haben bei den Hearings darüber hinaus feststellen können, daß die Vertreter der Verwaltungen uns darlegen konnten, daß das Problem organisatorisch lösbar ist — das ist ein sehr wesentliche Frage — und daß die Länder bereit sind, auch die notwendigen Organisations- und Verwaltungsgesetze zu schaffen.
Wir konnten als Letztes, aber nicht Unwichtigstes zur Kenntnis nehmen, daß viele Institute und viele Wissenschaftler seit Jahrzehnten in diesem Aufgabenbereich engagiert tätig sind. Sie konnten uns viele Erkenntnisse darlegen, und sie bemühen sich weiterhin darum, Verbesserungen zu ermöglichen. Wir mußten aber auch feststellen, daß z. B. die Forschung „Hohe See" noch vieler Mittel und einiger Jahre bedarf, um dem Gesetzgeber überhaupt die notwendigen Erkenntnisse vermitteln zu können.
Wir müssen daraus einige Konsequenzen ziehen. Zwei Gesetze haben wir schon im Bundestag verabschiedet. Dazu gehört einmal das Fluglärmgesetz. Herr Minister, wir wissen, daß Sie dabei sind, die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu erlas-
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sen, und wir hoffen, daß das mit der notwendigen Beschleunigung geschehen wird. Wir kennen auch die Schwierigkeiten, aber ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, daß wir mit diesem Gesetz dem Innenministerium eine ganz besondere Funktion auf diesem Gebiet zugewiesen haben, die es seither nicht gehabt hat.
Wir haben ferner das Benzin-Blei-Gesetz verabschiedet und damit langfristig eine ganz neue Entwicklung auf dem Gebiet der Autoherstellung und der schadstofffreien Benutzung von Kraftfahrzeugen eingeleitet. Niemand soll hier ungeduldig werden. Es wird Jahre dauern, bis das durchgeführt ist. Aber wir hatten den Mut, dieses Gesetz zu verabschieden. In der Zwischenzeit stellen wir fest, daß die Autoindustrie und die Industrie, die die Zubehörteile fertigt, sich schon mit gewissen Umstellungen bemühen, diesem Gesetz gerecht zu werden. Das ist gut so. Ein Vertreter der Industrie sagte mir im Anschluß an ein Hearing: Wenn der Gesetzgeber klare Bestimmungen schafft, wird sich die Industrie, schon allein aus ihrem Gewinnstreben heraus, immer darum bemühen, möglichst bald mit entsprechenden Produkten auf dem Markt zu erscheinen. Also wir haben hier langfristig und konsequent zu handeln.
Wir begrüßen das Umweltprogramm der Bundesregierung ganz besonders deshalb, weil es einerseits diese Langfristigkeit aufweist — man muß in diesen Dingen über eine Legislaturperiode hinausgreifen — und andererseits ein Aktionsprogramm ist, das deutlich macht, was jetzt geschehen muß.
Uns liegen einige Gesetzentwürfe vor, z. B. das Abfallbeseitigungsgesetz, das Immissionsschutzgesetz und das 4. Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes. Uns liegen aber auch zwei Gesetze zur Änderung des Grundgesetzes vor, und hier muß man den Ländern ein Wort sagen. Wir alle, die wir uns mit diesen Problemen befassen, haben wohl Grund, die Leistungen, die die Länder in den letzten Jahren erbracht haben, mit großer Anerkennung zu bewerten. Auf Einladung des bayerischen Ministerpräsidenten haben wir vor kurzem einige Objekte in Bayern besichtigt und anschließend in einer Besprechung die Probleme erörtert. Unser Wissen ist dadurch verstärkt worden. Die Länder bemühen sich im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten um die Lösung der Probleme. Aber die Aufgabe ist so groß, daß sie in der Tat eine gemeinschaftliche Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden sein muß. Jeder muß seinen möglichen Teil dazu beitragen.
Deshalb noch ein Wort zu den Grundgesetzänderungen. Hier muß eine etwas andere Auffassung Platz greifen, als sie in der Vergangenheit häufig zu beobachten war. Wenn der Bund auf einem Gebiet die konkurrierende Gesetzgebung beansprucht, bestand bei den Ländern immer die Sorge, daß das eine Machtverschiebung sei. Ich hoffe, daß dieser Verdacht auf dem Gebiet des Umweltschutzes schon im wesentlichen ausgeräumt ist, und schließe das aus der Haltung der Länder bei der Grundgesetzänderung bezüglich des Abfallbeseitigungsgesetzes. Da gab es im Bund Juristen, die meinten, man könne
die Kompetenz des Bundes aus dem Sachzusammenhang herleiten. Es ist gut, daß die Länder sagten: Stellt das einwandfrei klar und macht eine Grundgesetzänderung, damit — jetzt kommt etwas, was eben die Länder nicht leisten können, sondern was nur der Bund leisten kann — gleiche Voraussetzungen in allen Ländern gegeben sind. Sie sagten das schon, Herr Gruhl. Das ist in der Tat eine Frage der Praktizierung des Rechtsstaates. Hier geht es eben nicht um einen Gesetzesvollzug, sondern um eine gestaltende Verwaltung, die den Ländern und den Gemeinden obliegt. Die Länder müssen bei ihren Maßnahmen davon ausgehen können, daß in jedem Nachbarland die gleichen rechtlichen Voraussetzungen und die gleichen Belastungen für die gleichen wirtschaftlichen Bereiche vorhanden sind. Es wäre für einen Bundesstaat eine schlimme Angelegenheit, wenn man sich sozusagen von einer Landesgrenze zur anderen durchmogeln könnte oder wenn die Länder, aus welchen Gründen auch immer, sozusagen ein bißchen erpreßt werden könnten oder versucht wären, Vergünstigungen zu schaffen, um Industrien anzulocken. Wir wissen aus den Nachkriegsjahren, daß das z. B. auf dem Gebiet der Gewerbesteuer bei den Gemeinden eine nicht immer gute Rolle gespielt hat.
So muß hier der Bund helfen, das bestmögliche Handwerkszeug zur Verfügung zu stellen, um den Ländern die Voraussetzungen zu geben, ihrerseits diese gestaltende Verwaltung in die Hand zu nehmen; denn ohne die Länder können wir das überhaupt nicht. Hier liegt eine enorme Stärke der bundesstaatlichen Ordnung. Jedes Land wird sich um sein Gebiet kümmern, und wir können von hier aus die Gewißheit haben, daß auch im entferntesten Kreis das Notwendige und Mögliche geschieht und daß nicht bundesweite Schwerpunkte geschaffen werden, wodurch gewisse Gebiete zwangsläufig vernachlässigt würden.
Aber selbst auf dem Gebiet, Herr Dr. Gruhl, das Sie kritisch angesprochen haben, dem Gebiet des Natur- und Landschaftsschutzes, sollte nach unserer Meinung durchaus ernsthaft erwogen werden, dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zu geben und es nicht bei der Rahmengesetzgebungskompetenz zu belassen. Nehmen Sie z. B. das Bundesfernstraßengesetz, nehmen Sie das Bundesbaugesetz. Nur wir können diese Gesetze ändern und damit den Ländern helfen, die notwendigen Maßnahmen durchzuführen. Wir können diese Gesetze nicht im Sinne der erforderlichen Maßnahmen ändern, wenn wir nicht die Gesetzgebungskompetenz haben. Wir werden — lassen Sie uns das ganz offen sagen; ich nehme an, Herr Minister Genscher ist der gleichen Meinung wie wir — bei der Ausnutzung dieser Kompetenz überall dort Zurückhaltung üben, wo eine Aufgabe mindestens genausogut von den Ländern wahrgenommen werden kann, und wir gehen davon aus, daß die Länder ihre Gesetzgebungskompetenz, die ihnen verbleibt, überall dort ausnutzen, wo es ihnen richtig erscheint.
So ist dieses Programm nun die Konkretisierung der politischen Vorstellungen. Das ist das, was wir von einer Regierung erwarten dürfen, wenn sie Ge-
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setze auf den Tisch legt und wenn sie eine Grundgesetzänderung beantragt. Deshalb begrüßen wir es sehr, daß Sie, Herr Dr. Gruhl, für die CDU/CSU-Fraktion zu diesen Grundgesetzänderungen grundsätzlich ja gesagt haben, daß Sie grundsätzlich ja gesagt haben zu diesem Programm. Wir hoffen, daß im Bundesrat die gleiche Erkenntnis wie beim Abfallbeseitigungsgesetz, wie heute von Ihnen vorgetragen, herrscht, so daß wir nun verhältnismäßig schnell an die Konkretisierung der Arbeit gehen können. Dabei soll uns dann gemeinsam — und dafür, daß wir uns da einigen konnten, sind wir dankbar — dieses Programm der Bundesregierung als Richtschnur dienen, das sie uns heute vorgelegt hat und das wir gern unterstützen werden.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herr Ertl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin den beiden Rednern sehr dankbar, daß sie auf das Problem der noch nicht im Grundgesetz geregelten Kompetenzen für Naturschutz und Landschaftspflege hingewiesen haben. Herr Kollege Gruhl, ich hoffe zuversichtlich, daß Ihre Kollegen dem Bund die volle Kompetenz einräumen — denn daran hat es bisher gelegen — und daß sich auch die Länder nicht länger weigern, dem Bund die volle Kompetenz zu geben. Es liegt nur bei der CDU/CSU und den von diesen Parteien regierten Ländern, ja zu dem zu sagen, was ich wünsche. In der Sache bin ich mit Ihnen darin einig, daß das keine Frage der Rahmenkompetenz ist, sondern daß hier einfach aus grundsätzlichen Erwägungen die volle Kompetenz beim Bund liegen muß, weil — um ein Beispiel zu nennen — die Landschaftspflege in der Rhön in Hessen nicht anders geregelt werden kann als in Bayern; diese kann man nur nach allgemeinen Normen durchführen. Dabei ist für mich selbstverständlich, daß die Kompetenz des Bundes nur den legislativen Rahmen festlegt und der Bund gegebenenfalls Mittel zur Verfügung stellt, während die Durchführung durchaus bei den Ländern liegt, d. h. mit unserem föderativen System voll in Einklang zu bringen ist. Den Ländern soll hier in keiner Weise eine Scheibe abgeschnitten werden.
Ich möchte noch einmal an Sie appellieren, in dieser Frage auch in diesem Hohen Hause bald zu klaren Verhältnissen zu kommen. Das hängt auch von den Beratungen im Rechts- und im Innenausschuß ab. Ich kann Ihnen sagen, daß in dem Moment, in dem die Kompetenz geschaffen ist, von meinem Haus der Entwurf des entsprechenden Gesetzes auf den Tisch gelegt wird; denn in meinem Haus ist der Entwurf fertig. Aber soll ich in die Ressortbesprechungen mit einem Entwurf gehen und soll ich einen ganzen Apparat von vielen Ministerien beschäftigen, wenn ich noch nicht einmal weiß, ob ich überhaupt die Kompetenz bekomme? Das können Sie von mir doch nicht verlangen; das wäre unrationelle Arbeit.
Ich weiß inzwischen von seinem Vorsitzenden, daß sich der Innenausschuß Gedanken gemacht und gesagt hat: Wir wollen den Gesetzentwurf. Ich vollziehe Ihren Auftrag. Als ich von dieser neuen Situation aus dem Innenausschuß hörte, habe ich in meinem Hause sofort angeordnet, daß die Arbeitsgruppe mit dem von uns gefertigten Entwurf in die Ressortbesprechungen eintritt. Wir werden Ihnen Anfang nächsten Jahres, wenn die Ressortbesprechungen abgeschlossen sind, den Entwurf vorlegen. Aber ich möchte noch einmal betonen: das ist ein einmaliger Vorgang. Bei allen anderen Gesetzen haben Sie die Kompetenz zunächst dem Bund gegeben. Aber mir macht das gar nichts aus. Ich möchte hier nur eines klarstellen: Es liegt nicht daran, daß in meinem Hause an dieser Frage nicht gearbeitet würde, sondern ausschließlich daran, daß ich in dieser Frage in der Luft hing und nicht wußte, ob ich überhaupt eine Kompetenz bekomme. In dieser Frage sind bisher und sind immer noch die größten Reserven seitens der Länder gegeben.
— Verehrter Herr Kollege, ich habe Ihnen gesagt: In meinem Haus ist der Gesetzentwurf weitgehend fertiggestellt. Es bedarf nur noch der Ressortbesprechung und der Ressortabstimmung. Es hat noch nie den Fall gegeben, daß das Hohe Haus in diesem Stadium von einem Referentenentwurf informiert wurde.
— Verehrter Herr Kollege, Sie können sich ja zu Wort melden. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich kann mit diesem Gesetzentwurf doch nicht die ganze Apparatur ununterbrochen beschäftigen — es handelt sich ja nicht bloß um einige wenige Personen —, wenn ich noch nicht einmal weiß, ob ich die Kompetenz bekomme. Denn ein Rahmengesetz schaut doch ganz anders aus als ein Gesetz, das auf Grund der vollen Kompetenz erlassen wird.
Das muß man sich doch einmal ein wenig überlegen. Man sollte auch die Beamten nicht mit nutzloser Arbeit beschäftigen; das entspräche nicht meiner Auffassung. Ich bin für rationellen Einsatz meiner Mitarbeiter
und auch der übrigen Ministerien. Es gibt in der Bürokratie sowieso Leerlauf genug. Das nur zur Sache.
Bitte sehr, geben Sie mir die Kompetenz! Dann werden Sie im Laufe des nächsten Frühjahrs die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes für Naturschutz und Landschaftspflege aufnehmen können. An mir liegt es nicht. Ich brauche nur die entsprechende gesetzliche Grundlage aus diesem Hohen Hause für den Vollzug. Darum bitte ich. Ich bin überzeugt, daß wir, wenn die Länder, insbesondere die von der
Bundesminister Ertl
CDU regierten, mitmachen, im kommenden Jahr zu einer endgültigen Regelung kommen.
Im übrigen, Herr Kollege Gruhl, freue ich mich sehr, daß Sie so treffend und so gut meine Rede in Tutzing zitiert haben. Ich bin darauf sogar ein wenig stolz. Ich habe aber auch noch nie erlebt, daß der Vollzug einer Ankündigung in einem halben Jahr erledigt ist.
Aber ich möchte hier doch einiges richtigstellen:
Erstens. In diesem Jahr stehen allein für ökologische Untersuchungen 300 000 DM zur Verfügung. Diese Mittel werden vorwiegend unter Federführung der Bundesanstalt für Vegetationskunde überwiesen. In der Wissenschaft sind nicht die Personalzahlen entscheidend, sondern der Kopf ist entscheidend. Meistens meint man, die Qualität der Arbeit hänge davon ab, ob da sehr viele Leute eingesetzt sind. Ich bin der Meinung, daß die Qualität der Menschen die Arbeit bestimmt. Man sollte nicht immer davon ausgehen, daß gute Arbeit dort geleistet wird, wo sehr viele Stellen vorhanden sind. Dennoch bemühe ich mich auch um personelle Verstärkung. Sie wissen, das gibt Schwierigkeiten. Ich gebe gern zu, daß ich lieber manche Stelle mehr gehabt hätte; aber ich habe mich auf Grund der Grundsätze, die dieses Hohe Haus mit bestimmt hat — sparsame Verwaltung —, in dieser Frage etwas zurückgehalten — das gebe ich offen zu —, vielleicht sogar zu sehr zurückgehalten. Aber ich bin nicht der Meinung, daß es die Aufgabe der Minister ist, immer nur Stellen anzufordern. Ich stimme da im übrigen mit diesem Hohen Hause überein. Und weil ich, was die Leitung, was den Stab angeht, ganz hochqualifizierte Mitarbeiter habe, bin ich der Meinung, daß es viel wichtiger ist, daß diese Leute Mittel haben, um die Forschungen durchzuführen. Zu diesem Zweck werden die Mittel für ökologische Untersuchungen im nächsten Jahr sogar um 300 000 auf 600 000 DM erhöht. Ich glaube, daß ich wirklich sagen kann, daß hier etwas geschehen ist.
Ich will es kurz machen, weil ich den anderen Kollegen nicht die Zeit wegnehmen möchte; aber lassen Sie mich ein Weiteres sagen. Die Agrarpolitik trägt diesen Gesichtspunkten in vielen Fragen bereits im wesentlichen Rechnung. Sie brauchen nur meinen Haushalt anzuschauen. Welcher Haushalt hat denn die Wasserprobleme angepackt? Das war doch mein Haushalt!
— Wir sind zu großzügig, verehrter Herr Kollege, so großzügig, daß ich sogar dem Lande Bayern und den anderen Ländern viel Geld gebe. Das wird dort dann auch sehr gern verwendet, ohne daß man sagt, von wem es kommt. Aber das macht nichts; der Zweck heiligt die Mittel.
— Aber verehrter Herr Kollege, Sie brauchen sich doch nur einmal in Oberbayern umzuschauen.
Schauen Sie sich doch einmal um: der Ammersee ist frei, der Tegernsee ist frei, der Chiemsee ist frei.
Wir haben vieles geschafft. Auch frühere Regierungen haben hier vieles geschaffen. Das will ich hier auch sagen, denn ich gehöre nicht zu denen, die sich gern mit fremden Federn schmücken. Das tue ich nicht. Aber auf meinem Sektor ist in dieser Beziehung sehr viel geschaffen worden. Denken Sie an den Alpenplan, an den Küstenplan. Das ist doch aktive Landschaftspflege, verehrter Herr Kollege!
Sehen Sie, wenn Sie meine Flurbereinigungsrichtlinien durchsehen, werden Sie feststellen, daß in diesen Richtlinien verankert ist, daß auf die Belange der Landschaft Rücksicht zu nehmen ist, z. B. durch Bepflanzungen. Wir haben dieses Problem nicht erst gestern erkannt, sondern bereits vorgestern, und wir haben gestern schon gehandelt, und wir handeln heute, und wir werden morgen handeln.
Ein Weiteres — ich will es hier noch einmal sagen —: Ich habe nicht ohne Grund beispielsweise die Almwirtschaft und die Hutungen in den Einkommensausgleich im Zusammenhang mit der DMark-Aufwertung einbezogen. Durch die Flächenbeihilfe werden gerade diese schwierigen Betriebszweige unserer Landwirtschaft in die Lage versetzt, ihre landschaftspflegerische Aufgabe u. a. im Rahmen ihrer landwirtschaftlichen Aufgabe zu erfüllen. Und sie können sich z. B. im Alpenraum erkundigen: seitdem es diesen Einkommensausgleich gibt, werden sogar Almen wieder neu bestoßen, die nicht mehr bestoßen wurden, und es wird dadurch ein wesentlicher Beitrag zur Schaffung eines Gleichgewichts zwischen Forst- und Grünland geleistet, und das ist eine ganz entscheidende Aufgabe für die Sicherung der Landschaft.
Das soll nicht heißen, verehrter Herr Kollege — und ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre kritischen Bemerkungen —, daß wir nun sehr selbstgerecht sind und sagen: wir haben alles geleistet. Wir haben noch sehr vieles zu tun, auch hinsichtlich dieser grundlegenden Frage — und die möchte ich hier am Schluß noch ansprechen —: Was ist der Gesellschaft eine Erholungslandschaft wert, und welchen Raum räumt sie in diesem Zusammenhang den Landwirten als aktiven Gestaltern ein? Das ist eine Frage, die dieses Hohe Haus zu beantworten hat, die aber nicht nur den Bundestag, sondern zugleich auch die EWG als Ganzes angeht.
Das ist auch keine rein ökonomische Frage, sondern es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe.
Ich will Ihnen hier nicht mein Leid aus Brüssel klagen. Aber ich habe dort meine liebe Not, weil diese regionalen Gesichtspunkte aus der EWG-Perspektive überhaupt noch nicht erkannt worden sind. Denn diese Probleme kann ich natürlich nicht unter
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Bundesminister Ertl
dem Motto „die Produktion an den besten Standort verlagern" anpacken. Eine Gestaltung nach diesem Motto bedeutete eine Verödung weiter Gebiete und damit Ausfall für die Freizeit- und Erholungslandschaften oder Schädigung dieser Landschaft.
Das wäre die ganz logische Konsequenz. Hier bedarf es großer politischer Arbeit. Ich begrüße auch aus diesem Grunde den Beitritt Großbritanniens; denn die Briten werden in dieser Frage mit ihren Regionalisierungssonderprogrammen für Mittelgebirge und ähnliches unsere Position stärken. Wir haben auf diesem Sektor in der EWG auch bereits bedeutende Fortschritte erreicht. Wer die ursprünglichen Vorstellungen der Kommission und die jetzigen Beschlüsse zur Struktur kennt, der weiß, daß wir den Einstieg zur Lösung solcher Regionalfragen gefunden haben.
Aber es stellt sich auch für dieses Hohe Haus und für die gesamte deutsche Öffentlichkeit für die Zukunft zwangsläufig die Frage, wozu wir — nachdem klargeworden ist, daß diese Gebiete über Markt- und Preispolitik auf die Dauer landwirtschaftlich nicht zu sichern sind — bereit sind, um hier ein Minimum an Besiedlung und funktionsfähiger Landwirtschaft zu erhalten.
Das wird auch etwas kosten; ich sage das ganz offen. Die Gesamtheit unseres Volkes wird sich überlegen müssen, ob sie das will, ob sie in Zukunft in einer offenen oder in einer verstädterten Landschaft Erholung suchen will. Langfristig wird es sicherlich billiger sein, ein Minimum funktionsfähiger landwirtschaftlicher Betriebe zu erhalten - es können auch Nebenerwerbslandwirte oder es kann ein Verbund zwischen Vollerwerbs- und Nebenerwerbslandwirten sein -, als die von mir geschilderten Aufgaben sehr teuren, von den Gemeinden bezahlten Landschaftsgärtnern zu übertragen. Ich halte den ersteren Weg für den besseren. Dazu bedarf es guter Zusammenarbeit. Insoweit bedanke ich mich auch für Ihre, wie ich meine, sehr nützliche Kritik. Sie wird mir sicherlich sehr helfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gallus. Für ihn hat die FDP-Fraktion eine Redezeit von zwanzig Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns im wesentlichen einig. Dennoch hat es den Anschein, als ob bei der CSU auch in der Frage des Umweltschutzes und der Bundeskompetenz für die entsprechenden Gesetze der Haussegen etwas schief hängt. Darauf wird man in dieser Debatte aber noch zu sprechen kommen. Auch wenn hier leise Kritik an dem Herrn Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herrn Ertl, geübt worden ist, so kann man doch, wie ich meine, die gesamte Agrarpolitik und das, was auf diesem Gebiet geleistet wird, als einen gewaltigen Beitrag zum Umweltschutzproblem werten.
Wir sollten alle dazu beitragen, daß der Bund die volle Kompetenz zum Erlaß von Gesetzen erhält, die für den Umweltschutz erforderlich sind, und zwar nach dem Motto: gebt dem Bund in dieser Frage das, was er braucht. Hier geht es nicht um Machtstreben, sondern um die Lösung von Sachproblemen. Wenn das geschieht, haben wir, glaube ich, eine vernünftige Grundlage auch auf diesem Gebiet.
Ich möchte noch zu einem zweiten Punkt, den Herr Kollege Gruhl angesprochen hat, kurz Stellung nehmen. Er hat die Frage gestellt, ob wir im Augenblick vielleicht zu wenig für den Umweltschutz ausgeben. Das Programm, das heute vorgelegt worden ist, wird die Bürger Zug um Zug mehr belasten. Ich bin der Meinung, daß heute schon mehr als 100 DM pro Person jährlich aufgewendet werden müssen. Hinzugerechnet werden muß das, was in Zukunft an Belastungen auf den Verbraucher durch Umstellung auf umweltfreundliche Produkte zukommt. Wir sind sicherlich einer Meinung, daß der Bürger Verständnis für die Notwendigkeit aufbringen muß, alle diese Lasten für eine bessere Zukunft zu tragen.
Ich möchte der Bundesregierung recht herzlich dafür danken, daß sie dieses Umweltprogramm vorgelegt hat. In diesen Dank möchte ich auch alle diejenigen Bürger einschließen, welche durch ihr aktives Engagement dazu beigetragen haben, daß sich zumindest zum Teil — das kann man wohl von dieser Stelle aus sagen — ein besseres Umweltbewußtsein entwickelt hat.
Wenn man das von der Bundesregierung vorgelegte Umweltprogramm aufmerksam liest, muß man zugeben, daß wir hier eine Vorlage bekommen haben, die zu den besten gehört — das gilt zumindest für die Zeit, die ich im Bundestag bin —, die wir jemals erhalten haben. Hier ist mit Fleiß an einer Sache gearbeitet worden, um die Dinge bis ins Detail darzustellen. Es ist, wie Herr Bundesinnenminister Genscher gesagt hat, ein realistisches und konkretes Programm. Ich möchte der Überzeugung Ausdruck verleihen, daß dieses Programm uns alle nicht mehr aus unserer Verantwortung als Politiker entlassen wird. Das gilt für jeden einzelnen Bürger und für unser gesamtes Volk.
Ich bin der Auffassung, daß dieses Programm entscheidend dazu beitragen wird, das gestörte Verhältnis zwischen Stadt und Land wieder in Ordnung zu bringen. Das, was Herr Minister Ertl angesprochen hat, die Erholungsgebiete und die Frage, was sie uns wert sind, die gesunde Ernährung sowie der Schutz des Verbrauchers angesichts der Tatsache, daß 60 O/o unserer Bevölkerung in den Städten leben, muß aufgegriffen werden. Die Basis ist gegeben, um hier, ich möchte sagen, zu neuen Ufern zu kommen.
Wir lesen in diesem Programm im Hinblick auf die Infrastrukturpolitik, daß für die Raumordnung, die Landesplanung, die Bauleitplanung und die Landschaftsplanung besondere Konsequenzen gezogen werden müssen, und zwar nicht nur in bezug auf die ökologische Leistungsfähigkeit. Unter Punkt 3 in diesem Programm steht:
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Gallus
Notwendig ist, Erholungs- und Freizeiteinrichtungen besonders in der Nähe der Verdichtungsräume verstärkt auszubauen, wobei vor allem der steigende Bedarf für die Kurzzeiterholung zu berücksichtigen ist.
Hier ist ein Problem angesprochen, das einerseits die Frage nach der Erholung der Menschen in der Stadt einschließt, andererseits aber auch die Probleme der Landschaftspflege und des Landschaftsschutzes berührt. Es gilt, einen sinnvollen Kompromiß z. B. in der Frage zu finden, wo es überhaupt möglich ist, Wochenendgebiete zu schaffen, und wie überhaupt welche geschaffen werden können. Wir sind in diesen Fragen, wenn ich z. B. an Schweden denke, ein unterentwickeltes Land. Man muß daran denken, mit den Ländern, mit den Städten und Gemeinden Musteranlagen zu schaffen, man muß sich auch — das gebe ich zu — auf Seiten der Länder überlegen, wie man armen Gemeinden mit Krediten, vielleicht auch mit einem rollierenden System unter die Arme greifen kann, um diese Probleme zu lösen.
Betrachtet man dieses Kapital Naturschutz und Landschaftspflege noch intensiver, so steht dort geschrieben:
Der einzelne, vor allem der Grundeigentümer und der zur Nutzung des Bodens Berechtigte, soll, soweit zumutbar, dazu verpflichtet werden, zur Landschaftsentwicklung beizutragen.
Wir wissen alle sehr wohl, daß hier ein Problem angesprochen ist, bei dem man einerseits davon ausgeht, diese Erholungsgebiete in weitem Umfang für uns alle zu erhalten. Das ist notwendig. Gleichzeitig muß hier aber in aller Deutlichkeit gesagt werden — das hat Bundesminister Ertl ebenfalls recht deutlich angesprochen —, Erholungsgebiete sind, landwirtschaftlich gesehen, Gebiete, die nicht aus eigener Ertragskraft bestehen können. Für die Zukunft muß die Frage geklärt werden, was uns lieber sein wird, dort weiterhin den Landwirt, den Voll- oder Nebenerwerbslandwirt, zu haben oder diese Betriebe in anderer Form zu bewirtschaften. Dabei wird sich sehr schnell die Frage ergeben: Was wird für die Allgemeinheit bei all dem an Kosten herauskommen, und welches ist auf lange Sicht der Weg, den wir alle viel vorteilhafter beschreiten können und von dem wir glauben, daß er für uns alle mal am erträglichsten ist? Wir müssen uns zu der Konsequenz durchringen, daß der Bauer in den entsprechenden Gebieten nicht nur als billiger Landschaftspfleger betrachtet werden darf, sondern daß seine Existenz so oder so gesichert werden muß.
Über diese Tatsache hinaus berührt dieses Programm ein für die Landwirtschaft überhaupt sehr wichtiges Gebiet, und zwar die Frage des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier, die Frage der Massentierhaltung. Es geht darum, das Gleichgewicht in einem vertretbaren Rahmen aufrechtzuerhalten, es in der Frage der Massentierhaltung im Verhältnis zwischen Tier und Boden nicht zu übertreiben oder überzustrapazieren. Es ist an der Zeit, daß man diese Probleme bei allen Gesetzgebungen in den Vordergrund stellt, sonst laufen wir bei der
Produktion von Nahrungsmitteln genauso wie bei der Produktion von Kunststoffen Gefahr, daß wir, obwohl wir im Augenblick wirtschaftliche Vorteile haben, auf die Zukunft gesehen mehr Nachteile hinzunehmen haben, als wir im Augenblick wahrhaben wollen. Auch hier muß in unserem Volk die Erkenntnis wachsen.
Wenn wir uns das Grundprinzip dieses Umweltschutzprogramms vergegenwärtigen, nach dem hier vorgegangen werden soll, daß man nämlich die Probleme nach dem Verursachungsprinzip angehen will, so meine ich, hier darauf hinweisen zu sollen, was dieses Programm meines Erachtens sehr richtig anspricht, daß das Verursachungsprinzip natürlich Grenzen hat. Im landwirtschaftlichen Bereich findet es seine Grenzen in der Stellung der Ernährung. Das muß man ganz deutlich sehen. Daraus ergeben sich die Fragen: Brauchen wir den Kunstdünger, brauchen wir ihn in diesem Umfang, wo sind die Grenzen seiner Verwendung? Diese Tatsache bedarf auch in der Zukunft der stetigen Beachtung. Wir dürfen nicht in eine Situation abgleiten, wo wir uns aus einem bestimmten Gefühl heraus eines Hilfsmittels begeben und dadurch die Ernährung gefährden.
Ganz anders liegen die Dinge dort, wo es tatsächlich um den Schutz der Gesundheit geht, nämlich bei der Frage der Spritzmittel, der Anwendung von DDT. Ich glaube, hier muß die politische Verantwortung aus der Vernunft heraus zu dem Zwang führen, daß die Gesetze in der entsprechenden Weise verabschiedet werden.
Ein weiteres sehr wichtiges Problem möchte ich ebenfalls nicht unerwähnt lassen: Wie wird es über die Landwirtschaft hinaus in der gesamten Ernährungsindustrie mit der Frage der Verpackung weitergehen? Wir wissen, die Milch wird heute in Plastikverpackungen angeboten, auch fast alle anderen Ernährungsprodukte. Gerade diese Fragen müssen einwandfrei geklärt werden. Sie müssen so geklärt werden, daß die wirtschaftlichen Unternehmungen, die mit der gesamten Entwicklung zu tun haben, mit den Gesetzen, die beschlossen werden, in Zukunft Schritt halten können. Wir müssen uns überlegen, ob es nicht neue Wege der Papierverpackung gibt. Vielleicht kann die Wissenschaft völlig neue Wege eröffnen oder kann die Industrie andere Verpackungsprodukte schaffen, die umweltfreundlicher sind.
Bei dem Gesamtkomplex dessen, was von seiten des Landschaftsschutzes und der Landwirtschaft in dieses Programm hineingehört, dürfen wir auch nicht vergessen, was für die Erholung der Menschen in Zukunft von weitreichender und entscheidender Bedeutung sein kann. Dazu gehört die Frage des Waldes. Der Entwurf eines Waldgesetzes ist vorgelegt. Nach dem Krieg war der Wald Rohstofflieferant für weite Teile unserer Wirtschaft. Heute ist er es nicht mehr in dem Maße. Er ist aber nach wie vor Quelle der Gesundheit. Wir müssen uns auch überlegen, ob in der Zukunft nicht auch seine wirtschaftliche Bedeutung wieder mehr in den Vordergrund treten soll. Das dürfte für das Verhältnis der Kunststoffe auf der einen Seite und des Papiers, des
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Holzes, und was damit im Zusammenhang steht, auf der anderen Seite eine entscheidende Frage sein.
Es ist lange her, seit Dr. Reinhold Maier, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, einst von dem klaren Bach, von dem Wasser, das wir alle zum Leben brauchen, sprach. Heute wissen wir, daß dort sehr viel Schaden verursacht worden ist. Wir wissen, daß bei unseren Gemeinden mit jeder Müllhalde, wo eine Quelle zugeschüttet worden ist, gesündigt wurde. Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung, in der wir Vorsorge treffen, daß dieses notwendige Wasser für die Zukunft erhalten bleibt. Wir brauchen dafür Wasserschutz-, Speicher- und Rückhaltebecken. Gerade auf diesem Gebiet — Sie haben vorhin das Landwirtschaftsministerium angesprochen — ist im Haushalt 1972 Ersprießliches geleistet worden. Die Mittel für diese Aufgaben sind verdoppelt worden. Ich glaube, sie sind dort gut untergebracht, vor allem auch im Hinblick auf die erfreuliche Tatsache, daß Unternehmer im Tiefbau, bei Erdarbeiten usw. heute Angebote vorlegen, mit denen man tatsächlich etwas unternehmen und sehr viel leisten kann.
In dem Gebiet, aus dem ich komme, hat die Wasservorratshaltung für die dortige Bevölkerung eine ganz entscheidende Bedeutung. Ebenso wie die bayrischen Seen, von denen vorhin die Rede war, bedarf, so meine ich, der Bodensee eines ganz besonderen Augenmerks. Er ist das Trinkwasserreservoir von Baden-Württemberg. Er muß so gehalten und ausgebaut werden, daß er es auch in Zukunft sein kann.
Erfreulicherweise haben wir alle davon Kenntnis nehmen können, daß die Schweiz einen Erlaß herausgebracht hat, nach dem das Kühlwasser ihrer Atomkraftwerke nicht mehr in den Bodensee, auch nicht mehr in den Rhein eingeleitet werden darf. Hier geht die Schweiz mit gutem Beispiel voran, und alle anderen Anlieger am Rhein sollten sich dem anschließen und, anstatt die Kühlwasser der Atomenergieanlagen in den Rhein oder in andere Flüsse zu leiten, Kühltürme erstellen, auch wenn sie teurer sind und wir hier in bezug auf den Landschaftsschutz einiges Negative hinnehmen müssen.
Zum Schluß möchte ich noch einmal die Meinung vertreten, daß all das, was uns in diesem Umweltprogramm vorgelegt worden ist, letzten Endes nur dann entsprechend durchgeführt werden kann, wenn wir dem Bund die Kompetenz geben; denn das, was hier geleistet werden muß, kann nur in Gemeinschaftsarbeit geleistet werden. Wir brauchen — auch von den Ländern her — den Bund dazu.
Darüber hinaus muß klarwerden, daß diese Aufgaben im nationalen Rahmen nicht gelöst werden können. Die EWG muß hier mit einbezogen werden. Ich darf nur die Massentierhaltung erwähnen, die Anwendung von Wirkstoffen, die Kunststoffe, die Wasser- und Luftverschmutzung usw. Es kann nicht so sein, daß die Nahrungsmittel in der Bundesrepublik nach anderen Maßstäben hinsichtlich der Umweltfreundlichkeit produziert werden als in Frank-
reich oder in Holland oder in Amerika. Das ist letzten Endes sogar ein internationales Problem. Um die diesen Fragen zukommende Bedeutung deutlich zu machen, möchte ich sagen: Wenn Kennedy einmal die Bekämpfung des Hungers in der Welt als eine der wichtigsten politischen Aufgaben bezeichnet hat, ist es nicht vermessen, dieser politischen Forderung die Lösung des Umweltproblems in der Welt anzuschließen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schneider .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedauere zunächst, daß bei dieser wichtigen Grundsatzdebatte über die Umweltschutzpolitik der Bundesregierung nur der Herr Bundesinnenminister anwesend ist, nicht aber der Landwirtschaftsminister — allenfalls könnte er vertreten sein durch den Staatssekretär — und die anderen beteiligten Minister. Dies ist ein schlechter Stil, und dieses Verhalten trägt der Bedeutung der jetzigen Debatte nicht Rechnung.
Ich stelle fest, daß dies nicht die Stunde der parlamentarischen Kontroverse ist, erst recht nicht ein Anlaß zu politischer Konfrontation oder Polemik. Vielmehr geht es darum: Parteien und Fraktionen sind aufgerufen, in einen fruchtbaren Wettstreit einzutreten über den besten Weg, die brauchbarsten Methoden und die Möglichkeiten der Finanzierung.
Niemand wird bestreiten, unsere Umwelt ist aus dem biologischen Gleichgewicht geraten; Umweltschutz bedeutet Menschenschutz. Der Herr Innenminister hat davon gesprochen, daß der Bürger ein Recht habe auf eine geschützte, gesunde Umwelt. Ich stimme dem zu, ich unterstreiche das. Umweltschutz heißt in der Tat Lebensrettung; er gipfelt in dem Wollen, unseren Kindern und künftigen Generationen die Erde als bewohnbaren Planeten zu erhalten. Die Menschheit hat die Ausgeglichenheit, die Mitte ihrer Lebenswelt verlassen, und ich sehe mich an ein Wort des großen französischen Denkers Blaise Pascal erinnert, der vor über 300 Jahren gesagt hat: „Die Mitte verlassen, heißt, die Menschlichkeit verlassen." Umweltschutz bedeutet also in unserem Verständnis die Wiederherstellung der Mitte des vitalen Gleichgewichts unserer physischen Existenz.
Bevor ich mich einigen Schwerpunkten des Umweltprogramms der Bundesregierung zuwende, will ich mich aus der Sicht unserer Fraktion und auch entsprechend meiner persönlichen Überzeugung grundsätzlich zu dem Problem äußern, das uns unter dem Gesichtspunkt der Verfassung gestellt ist. Der Umweltschutz darf nicht an dem Verfassungsstreit über die Kompetenzverteilung für die Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern scheitern.
Die CDU/CSU-Fraktion ist bereit, dem Bund alle
die verfassungsrechtlichen Kompetenzen einzuräumen, die erforderlich sind, um eine optimale
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Dr. Schneider
Umweltschutzgesetzgebung realisieren zu können. Freilich, hier ist nicht Zeit und Ort, um Einzelheiten zu beraten; damit werden sich die zuständigen Fachausschüsse — sie tun es schon seit geraumer Zeit — zu befassen haben.
Die Ausführung der Umweltschutzgesetze liegt in der Hauptsache bei den Ländern und den Gemeinden. Die in der These 9 des Umweltprogramms der Bundesregierung geforderte enge Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden muß sich nicht zuletzt auf eine finanz- und steuerpolitische Kooperation erstrecken. Der Umweltschutz wirft die Probleme einer fortgeschriebenen, weiterentwickelten Finanzreform in vielfacher Hinsicht auf. Selbstverständlich ist dabei auch an die Raumordnung, die Landesplanung, die bundesweiten Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen, die Strukturpolitik sowie an die Bauleitplanung und an den Städtebau insgesamt zu erinnern. Die Zusammenarbeit im Finanzplanungsrat und Konjunkturrat muß in dieser Hinsicht effektiver, reibungsloser und funktionskonformer sein, soll der Umweltschutz zu einem positiven Ergebnis gebracht werden.
Ich darf aber daran erinnern: es ist nicht so, daß man erst jetzt daranginge, eine Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern auf dem Gebiet des Umweltschutzes herbeizuführen. Schon jetzt arbeiten Bund und Länder in vielfacher Hinsicht zusammen. So gibt es einen Länderausschuß für Immissionsschutz seit langem, einen Länderausschuß für Kernenergieanlagen und Strahlenschutz, einen Länderausschuß für Naturschutz und Landschaftspflege, eine Länderarbeitsgemeinschaft Wasser- und Abfallbeseitigung, einen Länderausschuß Bodenforschung und schließlich die Ministerkonferenz für Raumordnung. In dem Umweltprogramm ist vorgesehen, eine neue Einrichtung zu schaffen, in der Bund und Länder zusammenarbeiten. Ich vermisse dabei, daß nicht ausdrücklich hervorgehoben wird, daß in dieser neuen Einrichtung auch die Gemeinden beteiligt sind.
Der Herr Minister hat davon gesprochen, daß nunmehr Bund und Länder im einzelnen über die Realisierung dieses Umweltprogramms beraten werden. Ich hätte es für glücklich gehalten, wenn die Länder schon beim Zustandekommen dieses Programms offiziell eingeschaltet gewesen wären. Ich sage dies in Kenntnis der Tatsache, daß zahlreiche Länderbeamte in den Projektgruppen mitgewirkt haben.
Der Herr Innenminister hat festgestellt, daß dieses Umweltprogramm ein Gesamtkonzept darstelle, erstmals eine Umweltpolitik formuliere, daß dieses Programm neue Wege beschreite. Ich muß festhalten: im Umweltprogramm selbst heißt es — und das war gar nicht anders zu erwarten —, daß das vorliegende Programm noch kein abgeschlossener Plan ist. Dieses Programm ist der Beginn eines Prozesses, und die Bundesregierung wird dieses Programm zusammen mit Ländern, Gemeinden, Wissenschaft und Wirtschaft fortschreiben und weiterentwickeln.
Lassen Sie mich ein besonderes Problem herausstellen, das auch im Programm eine wichtige Rolle spielt. Die Bundesregierung sieht in der Umweltpolitik nur einen Teil der gesamten Struktur- und Raumordnungspolitik. Dieser Satz ist zweifellos richtig. Aber diese Feststellung wirft zugleich die Frage auf, wie denn dieser Gesamtrahmen angelegt ist, was wir also unter der Strukturpolitik und Raumordnungspolitik des Bundes zu verstehen haben. Die strukturpolitischen Aussagen und Maßnahmen der Bundesregierung sind jedenfalls nicht vollständig, abgerundet und als Ganzes schlüssig. Über die Raumordnungspolitik kann allenfalls eine zutreffende Aussage gewagt werden, wenn bis zum 31. Dezember 1972 das Bundesraumordnungsprogramm vorliegen wird.
Wir haben also festzuhalten: wir müssen in der Umweltpolitik eine Position beziehen, deren Fixierung im Rahmen und Koordinatensystem der Struktur- und Raumordnungspolitik vorerst nicht möglich erscheint. Die Länder sind an die Grundsätze des Raumordnungsgesetzes zwingend gebunden. Die Raumordnungsprogramme der Länder müssen nach § 5 Abs. 2 des Raumordnungsgesetzes aus dem Jahre 1965 die Ziele der Raumordnung und Landesplanung enthalten, die räumlich und sachlich zur Verwirklichung des Natur- und Landschaftsschutzes erforderlich sind. Auch schon in § 1 Abs. 5 des Bundesbaugesetzes aus dem Jahre 1960 heißt es, daß die Bauleitpläne den Belangen des Natur- und Landschaftsschutzes und der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes zu dienen haben. Die gesetzlichen Grundlagen sind also schon längst geschaffen. Im Fall der Autobahn bei Eltville am Rhein beispielsweise — ich erinnere nur an diesen ganz aktuellen Fall — wird offenbar, daß der Bund, in diesem Fall der Bundesverkehrsminister, nicht immer geneigt ist, nach diesen Einsichten und Notwendigkeiten zu handeln.
Ich finde im Umweltprogramm die Stelle bemerkenswert, wo es heißt: „Beim weiteren Ausbau der Verdichtungsräume müssen deshalb qualitative Aspekte den quantitativen (Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum) vorgehen." Hier wird ein Problem aufgeworfen, das verfassungsrechtlich nicht ganz uninteressant ist, nämlich die Frage der Freizügigkeit. Es wäre wichtig, daß bei den weiteren Beratungen zu diesem Problem Klärendes gesagt wird. Es wird im wesentlichen bei der Wirtschaftsförderung und der Strukturpolitik gelegen sein, was Bund und Länder dazu gemeinsam tun werden.
Ich habe gesagt, der Vollzug dieses Gesetzes liege im wesentlichen bei den Ländern und vor allen Dingen bei den Gemeinden. Das Präsidium des Deutschen Städtetages hat dazu am 24. November 1971, also erst vor wenigen Tagen, erklärt: „Die Städte erkennen an, daß sich die Bundesregierung darüber klar ist, daß der größte Teil der öffentlichen Umweltschutzaufgaben in den Aufgabenbereich der Gemeinden fällt. Sie müssen darauf bestehen, daß dies bei der finanzmäßigen Verteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ausreichend berücksichtigt wird." Als logische Konsequenz aus dieser Investitionsverpflichtung fordern die kommunalen Gebietskörperschaften die Einbeziehung in die
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Bund-Länder-Kommission. Die Städte haben auch klargemacht, was sie unter ausreichender Berücksichtigung bei der finanzmäßigen Verteilung verstehen. Neue Investitionen — so sagen sie , die angesichts der vielfachen gesellschaftspolitisch dringenden Aufgaben notwendig sind, sind in Städten bei der derzeitigen Finanzlage nicht mehr möglich. Dazu tragen auch die hohen Belastungen und Folgekosten bisheriger unabweisbarer Investitionen bei. Die Finanznot der Städte zwingt zu sofortiger Hilfe.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang darf ich an das Jahresgutachten 1971 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erinnern. Hier wird den Ländern der Vorwurf gemacht, sie hätten sich prozyklisch verhalten, nicht antizyklisch, und sie hätten ihre Ausgaben im Jahre 1971 um gut 14 v. H. erhöht. Wer jeden Tag den Ländern und vor allen Dingen den Gemeinden neue Aufgaben im Rahmen der inneren Reformen, im Rahmen unserer Gesellschaftspolitik, im Rahmen des Umweltschutzes und so fort auferlegt, muß auch die Konsequenz ziehen, ihnen dafür mehr Mittel zu geben. Der Sachverständigenrat würde einen sehr positiven Beitrag leisten, wenn er von sich aus diese Problematik der Abhängigkeit der finanziellen Leistungssteigerung von dem Mehr an Aufgabenlast umfassend untersuchte.
Es war nicht meine Absicht, auf das Versassungsproblem, das hier aufgeworfen ist, näher einzugehen, aber an mehreren Stellen des Umweltprogramms erklärt die Bundesregierung, im Augenblick fehlten die rechtlichen Voraussetzungen für einen wirksamen Naturschutz und eine wirksame Landschaftspflege. Der Herr Bundesminister Ertl hat soeben erklärt, aus grundsätzlichen Erwägungen müsse für den Bund die konkurrierende Kompetenz im Bereich Naturschutz und Landschaftspflege geschaffen werden. Er hat hinzugefügt, der Bund müsse dazu gegebenenfalls auch Mittel zur Verfügung stellen. Durch die Bundesregierung, Institutionen und Einzelpersönlichkeiten wurden folgende Argumente vorgetragen, auf die ich eingehen möchte. Ich habe aber zu kritisieren, daß der Herr Bundesminister Ertl, der hier mit dem Anspruch auf konkurrierende Kompetenz des Bundes für Naturschutz und Landschaftspflege aufgetreten ist, nicht einmal versucht hat, seine Behauptung einigermaßen zu begründen. Er ist bisher alle Beweise schuldig geblieben, daß der Bund auf diesem Sektor — ich schränke ein, Naturschutz und Landschaftspflege — die konkurrierende Kompetenz braucht. Wir können, was die Abfallbeseitigung angeht, was den Immissionsschutz anlangt und was die Wasserreinhaltung betrifft, an Hand von Regierungsvorlagen prüfen, ob der Anspruch auf Ausweitung der Verfassungskompetenz in der Tat gerechtfertigt ist. Dies ist mangels eines Gesetzentwurfs im Falle von Naturschutz und Landschaftspflege nicht der Fall. Es waren auch die Auslassungen des Herrn Ministers Ertl nicht überzeugend, daß er die Beamten nicht unnötig beschäftigen wolle. Dies will niemand; ich will es am allerwenigsten.
Es wird behauptet, wegen der Mobilität der Bevölkerung müsse die Nutzung der Landschaft für
Erholung und Freizeit im ganzen Bundesgebiet im gleichen Umfange möglich sein. Dazu ist zu sagen: Auch ein Rahmengesetz bietet ausreichend Möglichkeiten dafür, einheitliche Handlungs- und Duldungspflichten aufzustellen, soweit dies erforderlich ist. Bezüglich der Nutzung für Erholung und Freizeit werden und müssen die landesgesetzlichen Regelungen mit Rücksicht auf die ganz unterschiedlichen Strukturen der Landschaftsräume sogar unterschiedlich sein.
Es wird ferner behauptet, der Schutz von Tieren und Pflanzen müsse in einem Naturschutzgesetz nach einheitlichen Kriterien für das ganze Bundesgebiet abschließend geregelt werden. Dazu ist zu erklären: Das Vorkommen von Tieren und Pflanzen ist von Land zu Land unterschiedlich, und das erfordert eine Differenzierung der Gesetzgebung. Die Schutzbedürftigkeit kann nicht bundeseinheitlich bestimmt werden. Neben dem Bundesjagdgesetz als Rahmenrecht gibt es heute Jagdgesetze der Länder, weil sich in der Jagdpraxis gerade wegen der unterschiedlichen biotopen und ökologischen Verhältnisse eine unterschiedliche Regelung angeboten hat. Die jetzige Regelung hat sich bisher ganz ausgezeichnet bewährt. Was die Einfuhrverbote von Tieren etc. angeht, steht dem Bund ohnedies nach Maßgabe des Art. 73 Nr. 5 GG die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit zu.
Es wird ferner behauptet, das Wirkungsgefüge der natürlichen Landschaftsfaktoren Boden, Wasser, Luft, Klima, Pflanzen, Tiere greife über die Grenzen der Bundesländer hinaus; eine umfassende Ordnung könne deshalb nur nach bundeseinheitlichen Maßstäben erfolgen.
Was ist darauf zu antworten? -- Das Naturschutzrecht bezweckt nicht eine umfassende Ordnung der genannten Landschaftsfaktoren. Weder soll das Klima bundeseinheitlich geordnet werden — was überhaupt nicht möglich wäre , noch ist es Aufgabe des Naturschutzrechtes, die Bodennutzung, die Luftreinhaltung oder den Wasserhaushalt zu regeln. Dies tun andere Gesetze, für die der Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit haben soll. Der Bund hat auf diesem Gebiet bereits die Zuständigkeit zum Erlaß und zur Änderung der entsprechenden Fachgesetze, z. B. beim Bundesbaugesetz, Wasserhaushaltsgesetz, Bundesimmissionsschutzgesetz, Gewerbeordnung und bei weiteren Bundesgesetzen.
Gegenstand des Naturschutzrechtes sind vielmehr Schutz, Pflege und Entwicklung von Landschaften und Landschaftsteilen. Landschaftspflege und Naturschutz müssen eine menschenwürdige naturnahe Umwelt, die nachhaltig leistungsfähig, ökologisch vielfältig, schön und für den Menschen gesund ist, erstreben, und zwar durch Schutz, Pflege und Entwicklung der freien und der besiedelten Landschaft. Diese Ziel- und Zwecksetzung der Landespflege wird kein Einsichtiger und Kundiger bestreiten wollen. Aber genau eben diese Ziel- und Zwecksetzung kann auf Grund eines modernen fortentwickelten Rahmengesetzes des Bundes erreicht werden, das im einzelnen ergänzt durch die verbindlichen Gesetze der Bundesländer wird.
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Ein weiteres Argument, das für eine konkurrierende Kompetenz des Bundes vorgetragen wird: Unterschiedlich geregelte Pflichten im Bereich von Naturschutz und Landschaftspflege beeinflußten die Standortwahl von Unternehmen, führten zu Wettbewerbsverzerrungen und zur Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. - Was ist darauf zu antworten? Standortwahl und Wettbewerbssituation von Unternehmen werden allenfalls durch technische Anforderungen beeinflußt. Solche Anforderungen werden im Naturschutzgesetz ohnedies nicht aufgestellt. Die Kompetenz des Bundes für die Festsetzung technischer Anforderungen an Gewerbebetriebe ist ohnehin unbestritten. Schon bei der derzeitigen Rechtslage kann von Wettbewerbsverzerrungen ernstlich nicht die Rede sein, obwohl nicht einmal Rahmenvorschriften des Bundes existieren.
Abwegig, so glaube ich, ist die Behauptung, unterschiedliche Naturschutzbestimmungen in den einzelnen Ländern verletzten den Gleichheitsgrundsatz. Das Institut der Rahmengesetzgebung wäre sinnlos, wenn nicht die Länder den Rahmen mit differenzierten Regelungen ausfüllen sollten.
Auch wird behauptet, die Beschränkung des Bundes auf eine Rahmenkompetenz führe zur Rechtszersplitterung. Dazu ist zu sagen: Der Vorwurf richtet sich in dieser Allgemeinheit gegen jede Gesetzgebungskompetenz der Länder. Die Rechtseinheit ist im föderalistischen Bundesstaat nicht um ihrer selbst willen erstrebenswert, sondern nur dann, wenn aus sachlichen Gründen eine bundeseinheitliche Regelung unumgänglich erscheint. Den Nachweis hierfür ist der Bund jedenfalls auch in der Begründung zum Umweltschutzprogramm eindeutig schuldig geblieben. Herr Bundesminister Ertl hat heute morgen an dieser Stelle noch nicht einmal den Versuch unternommen, einen solchen Beweis zu erbringen.
Es wird weiter behauptet, ein Rahmengesetz reiche nicht aus, um Eingriffe in Natur und Landschaft wirksam zu steuern. — Das Recht der Bereiche, die in Natur und Landschaft eingreifen, ist in der Mehrzahl der Fälle durch Bundesrecht auf der Grundlage der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz geregelt, oder zumindest besteht die Möglichkeit, derartige Regelungen zu treffen, z. B. für die Bergbauindustrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung, Grundstücksverkehr, Bodenrecht, Siedlungswesen, Fischerei, Verkehr mit Giften, Schiffahrt, Straßenverkehr, Bau und Unterhaltung von Landstraßen für den Fernverkehr, Schienenbahnen, Verteidigung.
Weiter wird angeführt, ein modernes und wirksames Recht für Naturschutz und Landschaftspflege verlange zum Teil eine Änderung von Gesetzen, die die eben genannten, auf der Basis der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz geregelten Sachgebiete beträfen. — All diese Einlassungen und Behauptungen sind nicht schlüssig, denn hinsichtlich der naturschutzgerechten Steuerung und Anpassung von Fachgesetzen geht es überhaupt nicht um die angeblich ungeeignete Ländergesetzgebung. Im
gleichen Umfang, in dem der Bund diese eingreifenden Gesetze erlassen konnte, kann er diese Gesetze auf Grund seiner Zuständigkeit auch naturschutzgerecht abändern. So könnte etwa entsprechend der Raumordnungsklausel in zahlreichen Fachgesetzen durch die Einfügung einer Naturschutzklausel im Rahmen der Annexkompetenz — z. B. in das Bundesbaugesetz — die Beachtung der verbindlich festgelegten Ziele der Landschaftsplanung gesichert werden, was zum Teil ja schon auch bisher geschehen ist.
Ein weiteres Argument: Die Landschaftsplanung solle in Raumordnung, Landesplanung, Regionalplanung, Flächennutzungsplanung, Bebauungsplanung und Fachplanung integriert werden. Die Integration erfordere die Änderung von Bundesgesetzen, wofür die Rahmenkompetenz nicht ausreiche. Ländergesetze könnten in die durch Bundesgesetz geregelte Materie nicht eingreifen. — Auch dies ist nicht zutreffend, denn zur Änderung von Bundesgesetzen bedarf es keiner Vollkompetenz des Bundes für Naturschutz. Eine solche ist für die Integration der Landschaftsplanung in die Raumordnung und Landesplanung weder erforderlich noch ausreichend. Für das Bundesgebiet gibt es nämlich nach dem Raumordnungsgesetz von 1965 kein allgemeinverbindliches Bundesraumordnungsprogramm, sondern nur eine zusammenfassende Darstellung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen, der aber keine verbindliche Wirkung zukommt. Verbindlich sind dagegen die von den Ländern aufzustellenden Programme und Pläne, insbesondere auch die Regionalpläne.
Wenn es also schon zweckmäßig ist, diese Planungen der Landschaftspflege in die Landesplanung zu integrieren, so wäre nichts naheliegender, als auch insoweit dem Beispiel des Raumordnungsgesetzes zu folgen und dies in Form eines Naturschutzrahmengesetzes festzulegen. Ohne die rechtliche Gleichbehandlung mit der Raumordnung träte die paradoxe Situation ein, daß für einen Teilbereich der Planung, nämlich die Landschaftsplanung, ein stärkeres Recht, nämlich ein Vollrecht des Bundes vorhanden wäre als für die übergeordnete Planung der Raumordnung, für die nur ein Rahmenrecht vorhanden ist.
Es wird weiter behauptet, die Funktionen der Behörden und Institutionen für Naturschutz müßten gestärkt werden, und deshalb brauche man die konkurrierende Kompetenz. — Meine Damen und Herren, die Organisation der Naturschutzbehörden muß mit der von Land zu Land verschiedenen Verwaltungsstruktur, insbesondere mit der landesrechtlich geregelten Organisation der Landesplanung abgestimmt werden und ist daher der Natur der Sache nach von den Ländern zu regeln. Die Funktion der Behörden und Institutionen für Naturschutz und Landschaftspflege kann durch Ländergesetze ebenso gestärkt werden wie durch ein Bundesgesetz.
Noch ein Wort zur Mitfinanzierung des Bundes. Es wird behauptet, die finanzielle Förderung von Naturschutz und Landschaftspflege durch den Bund sei mit einer Rahmengesetzgebungskompetenz nur schwer zu verwirklichen. Was ist daran wahr? Wie
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die Bundesregierung selbst darlegt, trennt die Verfassung streng zwischen der Gesetzgebungskompetenz einerseits und der Verwaltungs- und Finanzierungskompetenz andererseits. Der Rahmenkompetenz steht daher eine Mitfinanzierung durch den Bund aus rechtlichen Gründen nicht entgegen. Der Bund stellt schon bisher auf der Basis seiner Rahmenkompetenz für den Naturschutz und den Gewässerschutz Förderungsmittel zur Verfügung, was soeben der Herr Bundesminister Ertl selbst ausgedrückt hat.
Ein letztes Argument. Es wird behauptet, ein Rahmengesetz des Bundes biete keine ausreichende Rechtsgrundlage für den Abschluß internationaler Verträge. Dazu ist folgendes zu sagen. Die internationalen Beziehungen sind im Bereich des Naturschutzes verhältnismäßig gering. Sie können im Fall grenzüberschreitender Naturparks erfahrungsgemäß gut durch die Zusammenarbeit einzelner Bundesländer mit ausländischen Staaten praktiziert werden, ohne daß neue Zuständigkeiten des Bundes geschaffen werden müssen. Ich erinnere an den Naturpark Luxemburg und Rheinland-Pfalz. Ich erinnere ferner an zahlreiche Abmachungen, wie sie beispielsweise zwischen dem Freistaat Bayern und dem Lande Österreich getroffen worden sind.
Im übrigen ist bisher für den Abschluß internationaler Verträge im Bereich der Länderzuständigkeiten eine seit Jahren bewährte Lösung durch das Lindauer Abkommen gefunden worden.
Herr Abgeordneter, ich darf Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Die verschiedenen Kulturlandschaften des Bundesgebietes können in ihrer Vielfalt und unterschiedlichen Struktur am besten erhalten und entwickelt werden durch regionale Regelungen, die den landschaftlichen Eigenarten angepaßt sind. Eine solche Ausgestaltung im einzelnen kann nicht Aufgabe des ortsfernen und mit den regionalen Besonderheiten nicht vertrauten Bundesgesetzgebers sein. Allein die Länder, die im Bereich des Naturschutzes die Gesetzgebung und den Vollzug bisher ausschließlich wahrgenommen haben, besitzen die hierfür nötige Ortsnähe, Sachkenntnis und Erfahrung. Entscheidend ist auch der enge Zusammenhang der Landschaftsgestaltung und Landschaftsplanung mit der den Ländern zustehenden Landesplanung. Er läßt eine Vollregelung durch den Bund aus systematischen und sachlichen Gründen nicht zu.
Ich darf Ihnen mitteilen, daß sich noch 12 Redner zu je 15 Minuten gemeldet haben. Das sind drei Stunden Redezeit ohne die Schlußrede des Herrn Bundesministers des Innern, deren Länge mir nicht bekannt ist. Wir haben schon 11.15 Uhr. Unter diesen Umständen möchte ich doch darum bitten, sich interfraktionell dahin zu verständigen, daß eine Reihe von Rednern
verzichtet. Wir könnten sonst erst um 14.30 Uhr mit der Fragestunde beginnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Konrad.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns wohl darüber einig, daß das Umweltprogramm der Bundesregierung zu begrüßen und als ein wirkungsvolles Teilstück auf dem Gebiet der inneren Reformen anzusehen ist. Aus den behutsamen Reden der Kollegen von der CDU/ CSU habe ich bisher keine Kritik daran herausgehört.
Wenn man der sich im Umweltprogramm widerspiegelnden Arbeit des Bundesinnenministeriums und seiner zahlreichen Helfer Gerechtigkeit widerfahren lassen will, wird es erlaubt und sogar notwendig sein, an die Ausgangslage zu erinnern. Noch am 4. Dezember 1970 hatte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der SPD und der FDP zum Umweltschutz erklären müssen — ich rufe das mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten wörtlich in Erinnerung —:
Die wissenschaftliche Erkenntnis unaufhaltsam wachsender Umweltschäden hatte bei Arbeitsbeginn der Bundesregierung den ihr zukommenden politischen Rang noch nicht gefunden. Viele Initiativen einzelner Bundesressorts, einzelner Länder oder wissenschaftlicher Organisationen waren in den vergangenen Jahren an Zuständigkeitsfragen, mangelnder Koordinierung vieler verschiedener Aktivitäten oder ungenügender Information gescheitert.
Mit diesen Unzulänglichkeiten räumt allerdings das Umweltprogramm auf. Zumindest werden ernsthafte Anstalten dazu getroffen.
Da möchte ich doch dem Kollegen Dr. Gruhl entgegenhalten, daß mir seine sachliche Akribie — von sprachlicher Akribie unterstützt — zur Frage des Ranges nicht völlig zutreffend zu sein scheint. Wenn Sie meinen, das Umweltprogramm sei vom Vorrang zum gleichen Rang mit anderen wichtigen Aufgaben abgestuft worden, so übersehen Sie, Herr Kollege Gruhl, daß schon der erste Satz des Programms lautet: „Die Bundesregierung hat in der Regierungserklärung 1969 den Umweltschutz zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit erklärt." Daran hat sich seit der Regierungserklärung also nichts geändert. Man wird dem Worte „Vorrang" im Sofortprogramm nicht die Bedeutung beimessen dürfen, die Sie ihm gern unterlegen wollen.
Ich will nur etwas zu den Zielen des Programms allgemein sagen und mich bemühen, mit den Wiederholungen sparsam zu sein; sie sind nicht ganz zu vermeiden.
Daß der Bundestag ein Umweltrecht, das Schutz und Entwicklung der Naturgrundlagen zu den vorrangigen Aufgaben staatlicher Daseinsvorsorge macht, zu seinen wichtigsten Aufgaben zählt, hat die sozial-liberale Koalition gemeinsam mit der Bundesregierung in ihren ersten beiden Jahren lau-
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Konrad
fend bewiesen. Wir werden das weiterhin tun, und wir sind sehr froh darüber, daß hier im Bundestag auch die Kollegen der Opposition ihre Bereitwilligkeit ständig erklärt haben und auch für die Zukunft in Aussicht stellen.
Die Entschiedenheit der Bundesregierung, wie überall, so auch im Umweltschutz systematischer Vorausschau und Planung den gebührenden Platz einzuräumen, verdient Beifall. Damit und mit dem angestrebten verbesserten Informationssystem kann auch den Bundesländern bis hinunter zu den Landkreisen, Städten und Gemeinden wirksame Hilfe geleistet werden. Es kommt nicht darauf an — und Gegenteiliges hat auch hier im Grunde genommen nie jemand ausgesprochen —, eine neue Gemeinschaftsaufgabe zu erfinden. Worauf es ankommt, ist, daß wir gemeinsam tätig werden. Die öffentlichen Hände können dazu gar nicht genug Finger haben, und von den anatomischen Gestzen können wir uns ja bei dieser Betrachtung lösen.
Nicht gering ist in diesem Zusammenhang der Stellenwert der Organisation. Je früher die Bundesregierung das von ihr erwogene Bundesamt für Umweltschutz errichtet, desto sichtbarer wird bei den Verwaltungsaufgaben der Einsatz der Bundesregierung. Ein Bundesamt könnte auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Sachverständigenrats für die Umwelt, der zum 1. Januar 1972 gebildet wird, gemeinsam mit den Bundesländern schneller und wirkungsvoller in die Praxis umsetzen. Die Umweltschutzabteilung des Innenministeriums würde entlastet und könnte sich verstärkt ihren eigenen Aufgaben widmen. Allerdings unterscheide ich mich auch hier, Herr Kollege Dr. Gruhl, etwas von Ihnen, indem ich nämlich die Steuerung der Forschung als eine Ministeriumsaufgabe und nicht als eine Aufgabe des Bundesamtes ansehe.
Die Zahl der Länder mit eigenen Umweltministerien erhöht sich langsam. Berlin und Bremen sind hinzugekommen, während sich Schleswig-Holstein wenigstens für die Koordinationsfunktion. des Sozialministeriums entschieden hat. Dafür aber wird die SPD-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag in der nächsten Woche beantragen, die Landessatzung, wie die Verfassung Schleswig-Holsteins heißt, durch einen Artikel über den Umweltschutz zu ergänzen; kein Grundrecht, aber eine Verpflichtung für die Regierung, die Umwelt ebenso fürsorglich zu betreuen und zu programmieren, wie sie das zum Beispiel mit den Aufgaben der Bildung oder der Sozialpolitik schon tut. Ich halte es für gut, daß wir unseren Blick immer wieder einmal auf die Länder richten, um Aufschluß darüber zu bekommen, was dort auf diesem so wichtigen Gebiet geschieht.
Überall, wenn man so sagen darf, wehen Umweltfahnen, und auch die ersten systematischen Arbeitsergebnisse laufen ein. Die Länder Niedersachsen und Baden-Württemberg haben im laufenden Jahr sorgfältige Umweltberichte erstellt, die für alle an der Bundesgesetzgebung Beteiligten wertvolle Hinweise enthalten. Aus ihnen wird aber einmal mehr deutlich, daß die beste und als hilfreiche Unterstützung gedachte Gesetzgebung auf Bundes- und Landesebene keinen wirksamen Umweltschutz gewährleistet, wenn sie nicht am „Tatort" energisch, aber auch verständig durchgesetzt wird. Dazu möchte ich auf die Diskussion hinweisen, die in diesen Tagen vor der Deutschen Richterakademie stattgefunden hat, und mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten kurz daraus folgendes zitieren.
Die „Süddeutsche Zeitung" berichtet, daß einem hohen Ministerialbeamten aus Düsseldorf von den Richtern die Frage vorgelegt worden ist, „ob bei manchen Umweltdelikten nicht die Aufsichtsbehörden auf die Anklagebank gehören". Meine Damen und Herren, das, so meine ich, muß man doch sehr ernst nehmen. Ich habe schon im vergangenen Jahr auf die Pflicht der örtlichen Behörden hingewiesen, das zu tun, wozu sie durch die Bundes- und die Landesgesetzgebung in den Stand gesetzt werden.
Besteht auch weithin Einigkeit über den Umfang der öffentlichen Aufgaben im Umweltschutz und darüber, daß das Schwergewicht der Ausgaben bei Versorgungs- und Entsorgungsmaßnahmen liegt, so sieht sich doch der Bundestag und so sehen doch wir uns alle ständig einer lautstarken Kritik von der Länder- und der Gemeindeebene her ausgesetzt, wenn es um die aufzubringenden Mittel geht.
Nach der verfassungsrechtlichen Aufgaben- und Lastenverteilung — Herr Kollege Dr. Schneider hat sie eben angesprochen — hat der Bund hier nur geringe Verwaltungs- und Finanzierungszuständigkeiten. Das müßte eigentlich bekannt sein.
So erscheint mir die Behauptung des schleswigholsteinischen Innenministers Titzck, daß sich die Bundesregierung nicht für den Umweltschutz engagiere und ihre Umweltpolitik nur zu untragbaren Lasten für die Länder und die Gemeinden führe, im Ansatz und im Inhalt verfehlt.
Auch wenn die Kollegen Dr. Gruhl und Dr. Schneider hier gesagt haben, es sei nicht die Stunde der Konfrontation und nicht die Stunde der Polemik, so wird man doch auf völlig entgegengesetzte Erklärungen aus einem anderen Bereich mit der gebotenen Eindringlichkeit hinweisen müssen.
Dabei ist das, was der Innenminister aus Schleswig-Holstein gesagt hat, noch vergleichsweise bescheiden gegenüber dem, wozu sich sein für die Wirtschaft zuständiger Kollege verstiegen hat. Herrn Dr. Narjes sind die in zwei verschiedenen Städten ausgesprochenen Merksätze zu verdanken, daß erstens „die Sozialisten versuchten, die Umweltschutzpolitik als einen Hebel zu benutzen, mit dem sie die freie Marktwirtschaft und kapitalistische Ordnung aus den Angeln heben möchten". Nun, Herr Innenminister Genscher hat das heute auch gebracht. Aber Ton und Richtung seiner Bemerkung waren ganz anders als die des schleswigholsteinischen Wirtschaftsministers, der dann zweitens auch noch folgendes gesagt hat: Im Zuge fälliger Anlageerneuerungen in den Betrieben könnten ja Verbesserungen prämiiert werden; aber es müßte nicht gleich morgen früh um 3 Uhr jede Anlage verbessert sein, die ein bißchen stinkt. —Mit solchen Erklärungen zum Umweltschutz wird
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den Anliegen, die wir hier im Bundestag mit so erfreulicher Gemeinsamkeit verfolgen, kein guter Dienst erwiesen. Offenbar soll den zum Einschreiten befugten und verpflichteten Umweltschutzbehörden nach dem Willen eines Landeswirtschaftsministers die Gangart vorgeschrieben werden, während Herr Kollege Dr. Gruhl hier — genauso, wie ich es tue — beklagt hat, daß es oft am wirkungsvollen Einschreiten fehlt.
Der Verursachergrundsatz, im Programm sehr deutlich hervorgehoben, ist in jedermanns Mund. Das Bekenntnis zu ihm ist allgemein. Aber in solchen Fällen richte ich mich gern ein wenig nach dem kritischen Georg Christoph Lichtenberg: „Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für ausgemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu werden." — Folgen wir Lichtenberg, dann werden wir feststellen, daß es eine ganz andere Sache ist, den Verursachergrundsatz durchzusetzen. Die Wege dazu gehen ersichtlich in verschiedene Richtungen, je nachdem, ob sich berufene Wahrer des öffentlichen Interesses oder beispielsweise Top-Manager als Wegführer anbieten.
Das Juli-Heft 1971 der „Marktwirtschaft" enthält aufschlußreiche Veröffentlichungen maßgebender Industrieller.
— Jawohl, Herr Kollege Dr. Gruhl, und Ihre. Als ich das entdeckte, legte ich mir die schon im ersten Buch Samuelis verzeichnete Frage vor: „Ist Saul auch unter den Propheten?" Die Feststellungen der Manager, nicht die des Kollegen Dr. Gruhl, gipfeln darin, daß die Verbesserung der Umweltbedingungen erheblich zu Lasten der privaten Wohlstandszunahme gehen wird.
Das „Handelsblatt" aus Düsseldorf hält in einer Betrachtung vom 25. November 1971 unter der Überschrift „Umweltschutz kostet in 5 Jahren der Volkswirtschaft 70 Milliarden DM" — das ist ja ein barbarisches Deutsch, das da geschrieben wird! — das Verursacherprinzip noch nicht für praktikabel.
Anders hat es der Bundespräsident am 29. April 1971 ausgedrückt, wobei er allerdings von den Blumen und den Eröffnungsgästen der Bundesgartenschau umgeben war. Er meinte:
Wer Schaden anrichtet, hat auch für seine Behebung zu sorgen. Es können nicht länger Gewinne privat vereinnahmt, der Ausgleich von Schäden aber auf die Allgemeinheit abgewälzt werden.
Ich persönlich habe ja ohnehin Zweifel, ob zum — letztlich unproduktiven — Wohle der Allgemeinheit die Gewinne freiwillig gekürzt werden, bevor die Grenzen erreicht sind, innerhalb deren menschliche Arbeitskraft in einer schädigenden Umwelt wiederhergestellt werden kann.
Der umweltfreundlichen Technik widmet das Programm zahlreiche Vorschläge. Sie werden in den Antworten der Bundesregierung vom 3. November 1971 auf Anfragen zur Forschungs- und Technologiepolitik, die man ohnehin immer mit wird zur Hand nehmen müssen, ergänzt.
Das Problem ist deshalb so schwierig, weil die Umweltforschung interdisziplinären Charakter hat und beträchtliche Mittel fordert. Der insoweit häufig zuständige Bundesminister für Bildung und Wissenschaft ergänzt gerade jetzt auch die sich auf Bildung und Ausbildung beziehenden Ziele des Umweltprogramms durch das bisher einzige Modellvorhaben „Schulische Ausbildung in ökologischen Fragen". Es findet an der Theodor-Heuss-Gesamtschule in Baunatal bei Kassel statt.
Das war ein Beispiel — und nur ein kleines — für die übergreifende Natur des Umweltprogramms. Sie wird besonders deutlich in der Infrastrukturpolitik und in der Raumordnung. Es ist deshalb zu begrüßen, welch großen Wert die Bundesregierung in ihren raumordnerischen Vorstellungen dem Umweltschutz beimißt. Ökologische Maßstäbe werden deshalb in Zukunft nicht nur den Ausbau der Infrastruktur, sondern alle raumverändernden Maßnahmen, zu denen die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und nach den sehr eingehenden Erklärungen von Herrn Minister Ertl die der Agrarstruktur sowie der Städtebau gehören, bestimmen.
Es erscheint mir geboten, zu unterstreichen, daß beispielsweise nach dem Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" — früher waren es die regionalen Aktionsprogramme — für die Jahre 1972 bis 1975 die Bundesregierung den Schwerpunktorten ungewöhnlich günstige Kredite für Infrastrukturmaßnahmen, die der Verbesserung des Wohn- und Freizeitwertes dienen, aus dem ERP-Programm zur Verfügung stellt. Für 1971 sind es 125 Millionen DM, für 1972 wahrscheinlich 145 Millionen DM.
Das Umweltprogramm macht sich gut in der Reihe der Berichte und Programme der Bundesregierung. Damit wird auch der Minister den Rat eines kritischen Freundes befolgt haben, wie wir ihn der Zeitschrift „Liberal" vom Februar 1971 haben entnehmen können, wo gesagt wurde, daß die Bundesregierung den Umweltschutz als politisches Problem offenbar nicht so ganz ernst nehme. — Das hat die Bundesregierung widerlegt.
Dieses Programm erhebt den Anspruch, gesellschaftliches Bewußtsein in der Form von „Umweltbewußtsein" zu bilden, und das ist gut so. Umweltbewußtsein bildet der eine auf Grund der Zahl, daß nach sehr zuverlässigen Berechnungen in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2000 18 Millionen Menschen an Krebs erkranken werden und die Hälfte von ihnen sterben muß; der andere orientiert sich an Buchtiteln, und der dritte erfreut sich vielleicht an Wendelin Überzwerch, der ein Gedicht nach bekannter Form und Melodie gemacht hat:
In einem Bach, einst helle,
Da kroch durch Schlamm und Schlick
Die keuchende Forelle Vorbei an der Fabrik.
Die Wasser böse stanken Synthetisch nach Chemie, Weil sie die Gifte tranken Moderner Industrie.
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So seufzte die Forelle;
Sie war schon sehr marod; Bezog aus erster Quelle Einen modernen Tod ...
Egal, wie man sein Umweltbewußtsein bildet: es kommt nur darauf an, daß es da ist.
Jede Maßnahme des Umweltschutzes wird fast zwangsläufig mit wirtschaftlichen oder anderen Interessen in Widerspruch geraten. Das muß erkannt werden. Und deshalb darf die Öffentlichkeit auch Schilderungen der Umweltbedrohung nicht einfach als „Grusical" oder als Horrorgeschichte bewerten und sich dann — wie der Berliner Bolle „ganz köstlich amüsiert" fühlen, sondern sie muß durch sachgerechte Aufklärung zum Verständnis dafür gebracht werden, daß es sich hierbei um für die Allgemeinheit relevante Prioritätsentscheidungen handelt.
Wenn die Erhaltung und Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlage — bis zur Entwicklung sauberer und billigerer Technologien — wahrhaft und von allen angestrebt werden soll, so wird sie nur um den Preis geringeren Wirtschaftswachstums, geringerer Steuereinnahmen und der Zurückhaltung des Staates in anderen Bereichen öffentlicher Aufgaben zu haben sein. Es gilt, sich hierauf zur geistigen Bewältigung und in den Erwartungen einzurichten.
Umweltschutz darf nicht, wie es schon zu beobachten ist, zur bequem empfundenen und zu gebrauchenden Leerformel werden. Die unpolitische, verharmlosende Behandlung vielschichtiger politischer Tatbestände von höchster Sprengkraft darf nicht zur Sonntagsbeschäftigung werden. So schön das Bild der die verschmutzten Wälder reinigenden Jugend ist: hier handelt es sich im Grunde genommen darum, die Versäumnisse der örtlichen Ordnungsbehörden im Wege freiwilliger und unbezahlter Ersatzvornahme zu beseitigen.
Umweltbewußtsein ist etwas ganz anderes, und wenn die Aufforderung des Bundespräsidenten, jeder solle im Umweltschutz bei sich selbst anfangen, gilt, so hier und auch für uns, für unsere Arbeit im Bundestag. Verantwortung für den Umweltschutz kann nicht einfach der „Gesellschaft" übertragen werden. Hier sind die Politiker und da wieder die Regierung zuerst aufgerufen. Die Bundesregierung hat ihre Verpflichtung erkannt und mit dem Umweltprogramm bewiesen, daß sie handelt. Ihr und allen, die sie hierbei unterstützen, ist neben Verständnis der Bevölkerung viel Glück zu wünschen.
Das Wort hat der Abgeordnete Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte über den Umweltschutz und das vorgelegte Umweltprogramm machen den in der Bildungspolitik Tätigen die besondere Dringlichkeit der interdisziplinären Forschung und Zusammenarbeit deutlich, die auch die
Ausbildungsgänge an unseren Schulen und Hochschulen bestimmen muß. Unter diesem Aspekt wird die Bedeutung der Umweltfrage gerade für Bildung und Wissenschaft sowie für die technische Entwicklung sehr deutlich sichtbar.
Vorausschau, Planung und rechtzeitiger Einsatz zweckentsprechender Mittel sind Grundbedingungen jeglicher Politik. Für den Umweltschutz gilt dies in besonderem Maße. Aus diesem Grund begrüßt es meine Fraktion außerordentlich, daß die Bundesregierung erstmals ein Umweltprogramm vorgelegt hat, das praktisch alle Sachgebiete umfaßt. Neben dem Probelm der Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen wird die größte Schwierigkeit allerdings darin liegen, den vielfältigen Verflechtungen der Umweltprobleme in allen Bereichen der Gesellschaft, in den Wissenschaften und in der Technik gerecht zu werden. Bei dieser Arbeit bedarf die Bundesregierung der Beratung durch einen Sachverständigenrat, der die wissenschaftlichen Hauptgebiete und die wesentlichen gesellschaftlichen Erfahrungsbereiche der Umweltprobleme erfaßt, und zwar einen Sachverständigenrat, der sich neuer, unkonventioneller Formen des Beratungswesens be. dient. Auch hier besteht eine Parallele zu den Fragen, die die Bundesregierung im Bereich von Bildung und Wissenschaft zu bewältigen hat.
Grundbedingung einer erfolgreichen Umweltpolitik ist der Aufbau einer Umweltstatistik, eines Umweltplanungs- und Informationssystems, das die vielfältigen Zusammenhänge zwischen den zahlreichen Gebieten des Umweltschutzes durchsichtig macht. Mit dem Statistischen Bundesamt und seinem Ausbau ist eines dieser Instrumente bereits geschaffen. Vor uns liegen noch die Schaffung eines Bundesamtes für Umweltschutz und die Organisation von Teilbereichen, z. B. in der Form einer Bundesanstalt für Immissionsschutz.
Wie notwendig solche Einrichtungen sind, wird uns tagtäglich in der Praxis bewiesen. Immer wieder passiert es, daß isolierte Einzelmaßnahmen zwar ein Umweltproblem lösen, dafür aber gleich ein neues, oftmals noch schwierigeres hervorbringen. Ich möchte als Beispiel nur an die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln erinnern oder auf die Verbrennung von Kunststoffabfällen aus chlorierten Kohlenwasserstoffen hinweisen.
Im Programm der Bundesregierung steht, sie strebe auf lange Sicht eine aussagekräftige „Umweltbilanz" an, in der Änderungen der Umweltqualität regelmäßig und verläßlich festgestellt werden können. Von dem Zustand, daß eine derartige Umweltbilanz mit statistisch äußerst umfangreichem Material alle Zusammenhänge des Stoff- und Energieflusses der Volkswirtschaft und die daraus resultierenden Umweltbelastungen erfassen kann, sind wir noch weit entfernt. Wir können aber schon einen entscheidenden Fortschritt erzielen, wenn wir erst einmal qualitativ die Auswirkungen einer vorgesehnen Maßnahme auf den verschiedenen Sektoren des Umweltschutzes abschätzen können. Wenn wir das Problem des Schutzes vor Umweltschädigungen durch Fette, flüssige und gasförmige Rückstände aus Produktion und Verbrauch als ein Ganzes an-
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Grüner
sehen und demzufolge auch nach Mitteln und Wegen für Lösungen suchen, die aufs Ganze gesehen am wenigsten schaden und mit vernünftigen Kosten realisierbar sind, dann sind wir schon einen wesentlichen Schritt vorangekommen.
Wir durchlaufen in diesem Bereich unserer Gesellschaft sozusagen eine erste Phase des Umweltschutzes. Diese Phase ist dadurch gekennzeichnet, daß wir zwar über die auftretenden Umweltschäden schon recht gut Bescheid wissen, daß wir aber mit den derzeitigen Umweltschutzmaßnahmen die Lage oft nur mildern und auch dies nur in Teilbereichen tun können. Denken Sie nur daran, daß wir zwar Schwefeldioxyd aus Abgasen durch Rauchgaswäsche beseitigen, dies aber dann zu einer Belastung der Abwässer mit schwefliger Säure führt.
Das Prinzip, wonach dem Verursacher einer Umweltschädigung ,die Kosten der Wiederherstellung und der Maßnahmen des vorbeugenden Umweltschutzes auferlegt werden, wird also durch staatliche Vorsorge ergänzt werden müssen. Solche staatliche Vorsorgemaßnahmen werden wir in direkter und indirekter Form auch benötigen. Zu den direkten staatlichen Vorsorgemaßnahmen würde ich z. B. die gesetzliche Auflage zur Einschränkung der Abgabe von Schadstoffen und eine effektive Kontrolle und Überwachung der Einhaltung dieser Auflagen für die Betreiber umweltschädigender Einrichtungen zählen. Dies wird zwar heute auch schon getan, kann aber nicht zu vollem Erfolg führen, solange nicht auf Grund einer Umweltbilanz der Einsatz von Roh- und Hilfsstoffen und anderer Grundgüter in der Volkswirtschaft reduziert und somit der Anteil fester, flüssiger und gasförmiger Abfälle und sonstiger nicht mehr nutzbarer Güter bei der Produktion und beim Verbrauch insgesamt vermindert wird.
Die Vorlage des Umweltprogramms der Bundesregierung läutet nun sozusagen eine zweite Phase des Umweltschutzes ein, ohne daß deshalb die erste Phase beendet wäre. In dieser Phase müssen wir eine Reihe von indirekten Maßnahmen des Umweltschutzesdurchführen. Dazu gehört die Einrichtung der vorhin schon erwähnten Planungs- und Informationssysteme. Außerdem müssen durch Förderung von Forschung und Entwicklung im anwendungstechnischen Bereich die Grundlagen für direkte Maßnahmen dergesetzlichen Vorsorge erarbeitet werden. Es wäre zu untersuchen, inwieweit Verfahren zur Rückführung von Abfällen aus Produktion und Verbrauch auf überbetrieblicher Ebene durch Förderung mit öffentlichen Mitteln erforscht und entwickelt werden können. In dieser zweiten Phase werden wir gesteigerten Wert darauf legen müssen, eine tatsächlich wirksame Überwachung und Kontrolle der Abgabe von Schadstoffen aus Produktion und Verbrauch an die Umwelt zu gewährleisten.
Ich halte es bei all diesen Maßnahmen und Überlegungen der Bundesregierung für äußerst wichtig, darauf hinzuweisen, daß in diesem Bereich diejenigen am erfolgreichsten tätig sein werden, die mit ihren Maßnahmen dem natürlichen Gewinnstreben der Wirtschaft entgegenkommen.
Für eine dritte Phase des Umweltschutzes müssen wir bereits jetzt durch Förderung von Forschung und Entwicklung und durch vorausschauende Planung den Einsatz künftiger Technologien in Angriff nehmen.
— Und der Studienplätze. — Wir alle wissen, daß kurzfristige und spektakuläre Erfolge auf diesem Gebiet der Gesellschaftspolitik nicht möglich sein werden. Um so wichtiger ist es, daß wir die langfristigen Maßnahmen schon jetzt vorbereiten. Umweltschutz — davon gehe ich aus — wird neben der Bildungspolitik eine zentrale Rolle in der Gesellschaftspolitik der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts spielen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Volmer. Für ihn sind zehn Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihre Anregung, Herr Präsident, uns kürzer zu fassen, will ich gerne aufgreifen, um dem Hohen Hause Gelegenheit zu geben, recht bald in die Fragestunde einzutreten. Ich denke insbesondere daran, daß ein Teil dessen, was ich heute sagen wollte, bei der Debatte über das Immissionsschutzgesetz gesagt werden kann. Ich meine aber doch, daß man darauf hinweisen muß, daß durch zunehmende Urbanisierung, Industrialisierung, Technisierung, durch Zusatz von Farb- und Konservierungsstoffen zu Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen die Qualität des menschlichen Lebens in unserer Zeit ernsthaft bedroht wird. Von da aus, so glaube ich, ist es notwendig, daß zu der seit Jahren laufenden Umweltschutzgesetzgebung nun eine Koordinierung des Umweltschutzes kommt.
Sie werden es einem Bürger des Ruhrgebietes nicht verargen, daß er einige Anmerkungen zur Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung macht. Ich weiß, daß die Verschmutzung der Luft ein globales und zentrales Problem ist. Es kann von den einzelnen Städten und Ländern nicht gelöst werden. Eine bundeseinheitliche Lösung ist notwendig, eine europäische ratsam. Es scheint mir vordringlich zu sein, daß man im Zuge der Gesetzgebung ein umfassendes Luftverschmutzungskataster erstellt, um zunächst eine Bestandsaufnahme des Luftverschmutzungsumfangs zu erhalten und eine Kontrolle durch laufende Fortschreibung durchzuführen. Durch Forschungsaufträge sollte man nach neuen Wegen suchen, um umweltfreundliche Energiequellen in großem Umfang einsetzen zu können. Es müßte weiterhin überprüft werden, ob die zum Teil vorhandenen Immissionsschutzanstalten der Länder in Verbindung mit entsprechenden Bundes- oder Forschungsanstalten eine ausreichende Überprüfung der Luftverunreinigung sichern können.
Niemand von uns wird heute behaupten wollen, daß die industriellen Ballungsräume Naturschutzparks oder Luftkurorte werden müßten. Aber auch die Menschen in diesen Ballungsräumen haben ein
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Volmer
Anrecht auf optimale Umwelt- und damit auch Lebensbedingungen. Von daher müßte bei Industrieneuansiedlungen sehr sorgfältig überprüft werden, ob eine weitere Luftverschmutzung zumutbar ist. Dabei dürfen wir auf gar keinen Fall zulassen, daß bereits heute die obere zulässige Grenze erreicht oder zu ungünstigen Zeiten sogar überschritten wird. Die kommenden Generationen haben ebenfalls einen Anspruch darauf, daß auch sie noch die Räume gestalten können. Deshalb, so meine ich, hat unsere Zeit keinen Anspruch auf die volle Ausnutzung der oberen Immissionsgrenzen.
Die verstärkte Industrialisierung wie auch die starke Technisierung der Haushalte habe zu einer verstärkten Lärmbelästigung geführt. In den Ballungsräumen sind es besonders der Verkehrslärm, der Fluglärm und der Lärm industrieller Anlagen. Der vorliegende Bericht bringt zum Ausdruck, daß jeder fünfte gewerbliche Arbeitnehmer einer Lärmbelästigung ausgesetzt ist, die sein Gehör gefährdet. Der durch den Straßenverkehr und den Flugbetrieb bedingte Lärm wird als besonders ins Gewicht fallend herausgestellt. Mit einer Bestandsaufnahme des Straßenverkehrslärms hat sich der Deutsche Arbeitsring für Lärmbekämpfung im April dieses Jahres befaßt. Die Fachleute sind dabei zu der Auffassung gekommen, daß die Straßenverkehrsleistung sich bis 1985 noch um 30 % erhöhen wird. Das bedeutet auch eine erhebliche Verstärkung des Verkehrslärms. Das Gesetz zum Schutz gegen Baulärm hat durchaus zu der Entwicklung lärmärmerer Maschinen geführt. Darum sollte versucht werden, in Verbindung mit der Automobilindustrie durch Verwendung von entdröhnten Blechen und sonstigen lärmschützenden Mitteln lärmschwächere Motoren und Fahrzeuge zu entwickeln. In Großbritannnien hat man damit recht gute Erfolge erzielt.
In Düsseldorf hat man vor wenigen Jahren, 1965, den Straßenverkehrslärm gemessen und eine entsprechende Straßenkarte aufgestellt. Bei der Messung ermittelte man einen halben Meter vor den Parterrefenstern einen durchschnittlichen Schallpegel von rund 65 Dezibel. Wenn man berücksichtigt, daß konventionelles Bauwerk eine Lärmdämmung von zirka 50 Dezibel erreicht, ist die ständige Belästigung leicht feststellbar. Es würde sich empfehlen, die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm einmal hinsichtlich der Immissionsrichtwerte zu überprüfen und die dort angegebenen Werte zu senken.
Was ich vorhin zum Verschmutzungskataster gesagt habe, findet hier beim Lärm seinen Niederschlag in der Forderung nach einer Aufstellung von Lärmkarten für alle Städte. Durch verkehrssteuernde Maßnahmen kann dann ein Ausgleich erzielt werden. Darüber hinaus sollte die Bauwirtschaft angehalten werden, vor allem an stark frequentierten Straßen einen besonderen Lärmschutz an den Bauwerken vorzusehen. Bei der Raum- und Stadtplanung sollte alles getan werden, um den Durchgangsverkehr um die zentralen Wohngebiete herumzuführen. Ein typisches Beispiel ist die Ortsdurchfahrt der B 9 hier in Bonn und Bad Godesberg.
Mir ist bekannt, daß die Fragen des Verkehrslärms nicht auf einmal und auch nicht in kurzer Zeit gelöst werden können. Vielleicht kann der Staat durch Steuerbegünstigung für lärmschwache Fahrzeuge einen Anreiz geben, um so Käufer für lärmarme Fahrzeuge zu gewinnen, die. dann sicherlich, davon bin ich überzeugt, von der Industrie auch gebaut werden.
Zum Verkehrslärm kommt die Lärmbelästigung durch die industriellen Maschinen. Fallhämmer, Pressen und Baumaschinen verursachen eine erhebliche Lärmbelästigung. Die Industrie, so meine ich, die bei der Produktion bisher fast ausschließlich den Ambitionen der Konsumenten folgte und schnellere Autos, schnellere Flugzeuge, mehr Haushaltsmaschinen und dergleichen baute, sollte sich bereit finden, umweltfreundliche Konstruktionen zu suchen. Dabei wäre es empfehlenswert, wenn die Konstrukteure in einem Team mit Medizinern, Chemikern, Physikern und Psychologen zusammenarbeiten würden, um nicht nur die Maschine mit der höchsten Leistung zu finden, sondern die mit einem Optimum an Leistung und Lärmschutz und einem Minimum an Luftverschmutzung.
Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Umweltschutz ist für uns kein politischer Knüller und kein moderner Popanz der Parlamente, die manche glauben. Umweltschutz ist für uns eine notwendige Maßnahme, die dem Menschen in unserer hochindustrialisierten Gesellschaft die Möglichkeit geben soll, er selbst, nämlich Mensch, zu sein. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich in dem Bemühen, die menschenfreundliche Umwelt zu erhalten oder wiederherzustellen, nicht übertreffen lassen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Bay. Für ihn sind acht Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich ein wenig gewundert, daß Herr Kollege Gruhl gesagt hat, man könne in keinem Fall von der sogenannten Umwelthysterie reden. Ich glaube, es ist doch etwas anders. Wir kennen doch alle diese monomane, aggressive und zum Teil irrationale Argumentation, deren Ergebnisse uns fast täglich auf den Tisch gelegt werden, und zwar besonders auf den Gebieten, die die Gefährdung durch Biozide und radioaktive Abfälle betreffen. Das ist kein Wunder, denn das, was dort geschieht, ist sehr schwer einsichtig zu machen, und es läßt jede Befürchtung und auch fast jede Behauptung zunächst zu. Wer wirksame Umweltschutzpolitik betreiben will, sollte diese Sache nicht ganz vernachlässigen, schon deshalb, weil eine gewisse Verbreitung dieser sogenannten Umwelthysterie es den Gegnern eines wirksamen Umweltschutzes — und die gibt es natürlich auch, das wissen wir — erleichtert, Leute mit ernsthaften und unbequemen Fragen und Forderungen schlicht eben dieser Umwelthysterie zu bezichtigen, um sie damit mundtot zu machen. Aber die Sache geht noch ein bißchen weiter. Die aus vermeintlicher oder tatsächlicher
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Undurchschaubarkeit von Gefahren genährte Angst kann den Boden abgeben für Heilsprediger und Demagogen jeder Art, und die sind wohl immer gefährlich, ob sie nun das Mindestvertrauen zerstören, das wir für das Handeln in der Gesellschaft benötigen, oder ob sie gewaltsam die Welt auf ihre Art verändern wollen. Man kann freilich diese Demagogen und Sektierer nicht abschaffen, aber man kann dafür sorgen, daß es ihnen an Gefolgschaft fehlt. Das beste Mittel dafür sind natürlich rasche und wirksame Umweltschutzmaßnahmen. Doch besonders auf dem Gebiet der Umweltchemikalien und der Biozide sind Erfolge weder schnell erreichbar noch leicht anschaulich zu machen. Die Bundesregierung weist in ihrem Bericht nicht ohne Grund auf diese Schwierigkeit hin. Um so wichtiger ist es, daß hier offen und ehrlich — auch von den Trägern wirtschaftlicher Interessen — informiert und argumentiert wird. Es kann und darf vernünftigerweise keine entgegenstehende Interessenlage geben, die das verhindern könnte.
Man sollte sich in diesem Zusamenhang auch nicht auf Alternativen fixieren lassen wie die oft zu hörende: Entweder wir verwenden giftige Biozide, oder wir sterben den Hungertod. Zwar gilt diese Alternative heute noch, aber sie ist auflösbar oder wird auflösbar sein durch Bevölkerungsplanung und gewiß auch durch die Entwicklung intelligenterer Schädlingsbekämpfungsmaßnahmen als der bloßen Vergiftung.
Es ist sehr zu begrüßen, daß die Regierung noch einmal auf die besonderen Schwierigkeiten hinweist, die die exakte Erforschung der Belastung durch Umweltchemikalien und Biozide uns heute noch bereitet. Sie kann das um so besser, als ihr Wille, diese Schwierigkeiten zu meistern, sich deutlich aus den Steigerungsraten von 1972 bis 1975 ablesen läßt, die für die Finanzierung dieser Forschung vorgesehen sind, Steigerungsraten, die von der Verdoppelung bis zur Verzehnfachung der Mittel gehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen Vorschlag meines Fraktionskollegen Professor Dr. Bechert aufgreifen, der die Erforschung der Biozid-Belastung, besonders die Rückstandskontrolle von Lebensmitteln, dadurch erleichtern will, daß er die drastische Verringerung der Zahl der angewendeten Biozide verlangt. Ich halte das für sehr überlegenswert.
Noch ein Wort zur Strahlenbelastung der Umwelt durch den Betrieb von Kernkraftwerken. Angst und Hysterie sind hier besonders verständlich; denn es sind weder die Bilder von Hiroshima im Gedächtnis der Menschen gelöscht, noch handelt es sich hier um eine allgemeinverständliche Materie. Auch ich bin hier alles andere als kompetent. Mir geht es nur um die Minimalisierung der Strahlungsgefährdung und um den Abbau der hier entstandenen Emotionen.
Was die Absicherung gegen Strahlenbelastung betrifft, so bin ich davon überzeugt, daß sie weitgehend gewährleistet und laufend verbessert wird. Aber ich meine, man sollte die vielen Menschen, die in dieser Hinsicht Angst haben, etwas ernster
nehmen, als das manchmal geschieht. Zum Beispiel kann diesen Menschen die häufig zu hörende Alternative kaum helfen: Entweder wir verwenden die Kernenergie oder wir bekommen Energiemangel. Man wird vielen unter ihnen nur gerecht werden, wenn man sich der größtmöglichen Offenheit befleißigt. Zu oft ist schon bei der Planung und beim Bau von Kernreaktoren — übrigens nicht anders als bei der Ansiedlung umweltbelastender Industrien — da und dort der Eindruck entstanden, daß durch bewußte Geheimniskrämerei vollendete Tatsachen geschaffen werden sollten, ganz besonders, wenn der Eindruck entsteht, daß die Träger wirtschaftlicher Interessen und die Behörden so geheim miteinander zusammenarbeiten. Ob nun dieser Eindruck im Einzelfall zu Recht entstand oder nicht, man sollte ihn auf jeden Fall zu vermeiden suchen. Denn die Wirkung ist die gleiche. Es entstehen Mißtrauen und jene emotional geladene Stimmung, die eine sachliche Argumentation oft unmöglich macht. Deshalb ist für die Anlagen und den Betrieb von Kernreaktoren ganz besonders zu fordern, daß jede der Sache nach mögliche Offenlegung von Plänen, Entscheidungen, Verwaltungsvorgängen und Kontrollergebnissen von Anfang an geschieht.
Wo es in jeder Beziehung so brisant zugeht, sollte man sich an den Satz des britischen Philosophen Bertrand Russell halten, einen Satz, den ich nicht sage, um irgend jemand der Unwahrhaftigkeit zu zeihen, sondern um zum Nachdenken anzuregen: „Versuche nie, die Wahrheit zu unterdrücken, denn sie kommt bestimmt ans Tageslicht." Die Wahrheit ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als die umfassende und objektive Mitteilung der Fakten. Zusammen mit der Transparenz der Entscheidungsvorgänge ist sie geeignet, den Bürger zur Mitarbeit am Umweltschutz zu bringen. Ich habe z. B. mit Befriedigung festgestellt, daß die Reaktorsicherheitskommission durch eine änderung ihrer Satzung nunmehr ein hohes Maß an Durchsichtigkeit ihrer Verhandlungen, die zur Beschlußfassung führen, erreicht hat. Objektive Information und Transparenz, das sind die Mittel, die am ehesten das unverantwortliche Spiel auf dem Klavier unkontrollierter Emotionen behindern können. Sie werden uns, dem Parlament und der Regierung, unter unseren Mitbürgern die Verbündeten verschaffen, die wir für die Erreichung eines optimalen Umweltschutzes brauchen.
Das Wort hat der Abgeordnete Krall. Für ihn sind zehn Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Seitdem im Jahre 1962 das Buch von Rachel Carson, „Der stumme Frühling", erschienen ist, das die Gefahren des von Menschen geschaffenen Produkts DDT aufzeigt, ist der zivilisierten Welt bewußt geworden, daß Fortschritt oder das, was man derzeit darunter versteht, nicht dauernd und nur zu Lasten unserer natürlichen Hilfsquellen und der menschlichen Gesundheit erfolgen kann. Es mag zunächst rein zufällig erschei-
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Krall
nen, wenn ich meine Ausführungen zum Umweltprogramm der Bundesregierung mit dem soeben erwähnten Buch eingeleitet habe. Der aktuelle Anlaß hierzu wird jedoch unter Hinweis auf das diesem Hohen Hause neben dem Umweltprogramm vorliegende DDT-Gesetz der Bundesregierung sofort augenscheinlich, das ein grundsätzliches DDT-Anwendungsverbot vorsieht.
Das Ihnen vorliegende Umweltprogramm der Bundesregierung markiert einen tiefen Einschnitt in die bisherige Auffassung von Fortschritt und Wohlstand in unserem Volk. Etwa 60 Jahre lang war dieses Volk vor, während und nach dem ersten Weltkrieg und in den noch schlimmeren Zeiten vor und nach dem zweiten Weltkrieg zur Produktion und Produktivität um jeden Preis gezwungen. Es ist daher verständlich, wenn in so langer Zeit Denk-und Handlungsweisen, besonders im Bereich der Gütererzeugung, entsprechend geprägt wurden. Es ist auch verständlich, daß sich nach einer fast ebenso langen entbehrungsreichen Zeit auf der Verbraucherseite ein Wille zum Konsum um jeden Preis bildete, der ein Umdenken auf der Produktionsseite nicht erforderlich machte, ja nicht einmal zuließ.
Ganz anders sieht es bei den neutralen Industrienationen, wie z. B. Schweiz und Schweden aus. Sie sind Beispiel dafür, daß bei ihnen der Umweltgedanke früher und schneller bewußt wurde. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß diese beiden Staaten ihre industrielle und technische Entwicklung ohne kriegerische Auseinandersetzungen kontinuierlich betreiben konnten. Der Zeitraum, auf den ich soeben zurückblickte, umfaßt fast zwei Generationen. Ich glaube, nichts kennzeichnet deutlicher den schwierigen Teil der Aufgabe der Bewältigung des Umweltproblems in der politischen Verantwortung, nämlich die gerade genannten Denk- und Handlungsweisen im Sinne eines echten Umweltbewußtseins umzuprägen. Das ist die unabdingbare Voraussetzung zum Erfolg jeden Umweltprogramms.
Ein echtes und positives Umweltbewußtsein kann allerdings nur aus der Selbsterkenntnis erwachsen. Die anonymen Mächte, gegen die sich die derzeitigen Emotionen richten, die Industrie, die Elektrizitätserzeuger, die Fluggesellschaften, die Autofahrer, sie müssen durch die Erkenntnis personifiziert werden, daß sich letzten Endes jeder ganz persönlich betroffen fühlen muß. Das heißt zu deutsch: jeder einzelne ist derzeit noch der Umweltverschmutzer.
In Ihrem Umweltprogramm geht die Bundesregierung davon aus, daß sich unsere soziale Marktwirtschaft auch im Hinblick auf die Lösung der Umweltprobleme gegenüber anderen Wirtschaftssystemen bewähren wird. Die Schädigung der Umwelt ist nicht nur eine Folge der modernen Zivilisation - das gilt nur für ihr heutiges Ausmaß , sondern sie war schon immer, auf jeder Stufe menschlicher Entwicklung ein Zivilisationsproblem. Schon in frühester Zeit verbrauchten Menschen ihre Umwelt und waren dann gezwungen, sie zu wechseln, was heute nur noch im Einzelfall, aber nicht mehr für ein Volk möglich ist. Das ist ein Kern des Problems.
Einen anderen Kern habe ich soeben erwähnt: den Verbrauch. Seine Voraussetzung ist die Produktion. Mit Produktion und Verbrauch untrennbar verbunden ist die Umwandlung von Roh- und Hilfsstoffen in Verbrauchsgüter. Das gilt im weiteren Sinne auch für die Landwirtschaft. Bei der Produktion entstehen Abfälle, Rückstände. Ausschuß. Produktionsmittel und Verbrauchsgüter werden nach Ab- und Ausnutzung selbst wieder zu Abfällen.
Das alles sind Grundwahrheiten, unabhängig von jeder Gesellschafts- und Wirtschaftsform. Sie sind auch unabhängig vom Grad der sogenannten Technisierung, die oftmals allein für die Umweltmalaise verantwortlich gemacht wird. Im Gegenteil, zu welch katastrophalen Zuständen mangelnde Möglichkeiten der Nutzung von Wissenschaft und Technik führen können, zeigen die Ballungsräume in Entwicklungsbereichen wie z. B. auf dem indischen Subkontinent oder in Südamerika. Hier denke ich vor allen Dingen an das Massenelend in den großen Ballungszonen. Obwohl es hochstehende Kulturnationen sind, fehlt diesen Staaten die Wirtschafts- und Finanzkraft, um die modernen Erkenntnisse der Industrienationen anzuwenden. Ich bin versucht, an dieser Stelle zu sagen: man muß eben reich genug sein, um sich einen Umweltschutz leisten zu können.
Wichtigster gesellschaftspolitischer Aspekt des Umweltschutzes bleibt die vorhin schon von mir erwähnte Heranbildung eines echten Umweltbewußtseins in allen Kreisen der Bevölkerung; das hat der Kollege Konrad hier bereits deutlich gemacht. Dieses Bewußtsein muß auf dem tiefen Verständnis für die Grenzen der Natur hinsichtlich ihrer Lieferfähigkeit für immer mehr Roh- und Hilfsstoffe und ihrer Aufnahmefähigkeit für immer mehr Abfälle basieren. Daher muß - und das klang heute hier erfreulicherweise an - die Bewältigung der Umweltprobleme fern vom parteipolitischen Gezänk bleiben. Wir alle in diesem Hohen Hause tragen gemeinsam die Verantwortung für die Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Einschneidende Maßnahmen zur Erhaltung dieser Lebensgrundlagen müssen von allen Parteien gemeinsam getragen werden. Ich darf an dieser Stelle Herrn Dr. Gruhl, dem Sprecher der Opposition, sehr herzlich dafür danken, daß er die Bereitschaft erklärt hat, die Probleme des Umweltschutzes gemeinsam zu lösen.
Das vor Ihnen liegende Umweltprogramm der Bundesregierung macht erstmals deutlich, in wie starkem Maße alle Kreise unserer Gesellschaft in ihren Rechten und Pflichten berührt werden. Der Umfang der notwendigen Maßnahmen, ihre Vielschichtigkeit und ihre oft nur schwer faßbaren Interdependenzen, deren Kenntnis für den durchgreifenden Erfolg gleichwohl unabdingbar ist, lassen bei nüchterner Betrachtung einerseits erkennen, daß die Ziele des Umweltprogramms nur mittel- und langfristig erreicht werden können. Hier wird man nicht kurzfristig mit spektakulären Erfolgen aufwarten können, hier zählen nur Zähigkeit, Geduld und Sachkenntnis der Verantwortlichen. Auch die nächste Bundesregierung wird sich daher gezwungen sehen, dieses Programm fortzuschreiben.
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Andererseits zeigt das Programm offen und ehrlich auf, in welch großem Ausmaß noch Voraussetzungen für sinnvolle und erfolgversprechende Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu schaffen sind. Das gilt insbesondere das klang hier heute vormittag schon an — für den legislativen Sektor. Hier sind vor allem die dem Hohen Hause bereits vorliegenden Gesetzentwürfe zu nennen, mit denen der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für Wasserhaushalt, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung erhalten soll. Über die Frage der Kompetenz für Naturschutz und Landschaftspflege, Herr Kollge Dr. Schneider, werden wir uns noch gesondert auseinanderzusetzen haben.
Bei der Durchführung des Umweltprogramms wird die Bundesregierung wie bisher beim Umweltschutz auf enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Bundesländern angewiesen sein. Sie haben hier Pionierarbeit geleistet, und auf diesen Ergebnissen gilt es nun auch in Zukunft aufzubauen. Ich möchte hier — um nur zwei Beispiele zu nennen — zum einen auf die Einrichtung eines modernen Smogwarnsystems für die Ballungsräume in NordrheinWestfalen und zum anderen auf das richtungweisende Überwachungssystem der neuen Raffineriekomplexe Bayerns im Raum Ingolstadt verweisen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen.
Durch die angestrebte erweiterte Gesetzgebungskompetenz wird der Bund in keiner Weise Aufgaben der verwaltungsmäßigen Exekutive an sich ziehen. Hier haben sich die zuständigen Behörden der Länder bewährt, und am Bewährten soll man bekanntlich festhalten. Auch darin stimme ich mit Ihnen, Herr Dr. Schneider, überein. Die Bundesregierung würde aber bei ihren Bemühungen um internationale Harmonisierung im Umweltbereich als unerläßliche Voraussetzung für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft unglaubwürdig, wenn nicht einmal im nationalen Bereich bundeseinheitliche Regelungen möglich wären. Ich möchte an dieser Stelle auf die von der Bundesregierung und dem Bundesminister des Innern auf internationalem Gebiet im Bereich des Umweltschutzes ergriffenen Initiativen hinweisen.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Ich bin gleich fertig.
Die Bundesregierung leistet bedeutende Schrittmacherdienste für künftige europäische Lösungen.
Herr Präsident, lassen Sie mich mit Ihrem Einverständnis abschließend noch zwei Sätze sagen. Wir leben in einer Gesellschaft und in einer Zeit, in der Fortschritt und damit verbundenes Risiko immer wieder gegeneinander abgewogen werden müssen. Das Risiko, das wir als Gesellschaft auf uns nehmen, darf sich dabei nicht an dem orientieren, was der einzelne zu tragen bereit ist. Das Risiko der Gemeinschaft muß kleiner sein. Nur so sind Fortschritt und Umweltschutz, die sich zur Zeit konträr gegenüberzustehen scheinen, wieder miteinander in Einklang zu bringen.
Das waren zwar vier Sätze, Herr Abgeordneter, aber da Sie zu Ende gekommen sind, wollen wir es dabei bewenden lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Biechele. Für ihn sind fünf Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Umweltprogramm der Bundesregierung erinnert an die wichtige und äußert dringliche Aufgabe, Rhein und Bodensee zu sanieren. Die Bundesregierung will in einem Fünfjahresleitprogramm Zuwendungen von insgesamt 150 Millionen DM — davon 20 Millionen DM für 1972 — zur Verfügung stellen. Das Leitprogramm ermöglicht — so lesen wir im Umweltprogramm — eine Spitzenfinanzierung für den Bau kommunaler Abwässerreinigungsanlagen von überregionaler Bedeutung, deren Finanzierung im übrigen grundsätzlich in die Zuständigkeit von Ländern und Gemeinden fällt.
Die Notwendigkeit dieser Aufgabe, den Bodensee zu sanieren, wird an Hand folgender Feststellungen deutlich. Der Bodensee ist der größte Trinkwasserspeicher Europas. Über 2 Millionen Menschen beziehen ihr Trinkwasser aus ihm, und es werden immer mehr. Der Bodensee ist aber, wie wir beinahe täglich hören und lesen können, zu einem Patienten geworden, der uns große Sorgen macht. Symptome und Ursachen der Krankheiten dieses Patienten, aber auch die zu wählenden Heilverfahren sind uns weitgehend bekannt. Dem See werden nicht nur zuviel ungereinigte Abwässer, sondern auch zuviel Nährstoffe, besonders Phosphate, zugeführt. Das führt zur Überernährung, zur Eutrophierung.
Was ist hier zu tun? Die internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die am Bodensee tätigen gymnologischen Institute haben übereinstimmende klare Empfehlungen gegeben: Alle Abwässer der Ufergemeinden und darüber hinaus im ganzen Einzugsgebiet müssen mechanisch und biologisch gereinigt werden. Für diese Aufgabe brauchen die Gemeinden erhebliche staatliche Zuschüsse: für die Kläranlagen, aber auch für die Hauptsammler und das notwendige Kanalisationsnetz. Die Leistungen der Gemeinden und des Landes Baden-Württemberg für diese Aufgaben sind beachtlich und verdienen besondere Anerkennung; doch diese Leistungen genügen nicht, wenn wir den Bodensee retten wollen. Weitere und zusätzliche Mittel müssen mit Vorrang und schnell bereitgestellt werden. Die Hilfe des Bundes, die in bescheidenem Rahmen bleibt, ist sehr erwünscht. Ich bitte Sie, Herr Bundesminister, darum besorgt zu sein, daß die Vergaberichtlinien für die 20 Millionen DM für 1972 bei der Verabschiedung des Haushalts 1972 auch vorliegen.
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Biechele
Für die Reinigung und Reinhaltung des Bodensees genügen die zweistufigen, d. h. mechanisch und biologisch arbeitenden Kläranlagen nicht; denn sie schalten das Phosphat und andere Nährstoffe nicht aus. Dies ist nur durch eine dritte Reinigungsstufe, d. h. eine chemische Fällung möglich. Sie kann in schon bestehende zweistufige Kläranlagen eingebaut und bei Neubauten mit relativ geringen Mehrkosten verwirklicht werden.
Auf eine aktuelle und Ihnen, sehr geehrter Herr Minister Genscher, bekannte Sorge für den Bodensee darf ich noch hinweisen. Die Firma Dornier hat den Antrag auf die wasserrechtliche Genehmigung für die Einleitung radioaktiver Abwässer in den Bodensee gestellt. Diese Tatsache hat mich veranlaßt, für die Fragestunde zwei Anfragen an die Bundesregierung zu richten. Über die Art der Beantwortung durch die Bundesregierung war ich sehr betroffen. Ich habe mit Ihnen, sehr geehrter Herr Minister, darüber ein Gespräch geführt. Um so dankbarer bin ich Ihnen, daß Sie sich dieser Frage, die Sie und Ihr Haus besonders betrifft, angenommen haben. Sie haben mir unter anderem folgendes mitgeteilt:
Wie ich Ihnen schon mündlich mitgeteilt habe, halte ich die Einleitung radioaktiver Abwässer durch die genannte Firma in den Bodensee nicht für vertretbar. Da das Vorhandensein natürlicher Radioaktivität in einem der Trinkwasserversorgung dienenden stehenden Gewässer nicht beeinflußt werden kann, sollte jede Erhöhung der Radioaktivität durch künstliche Einleitung vermieden werden.
Und:
Ich werde mich weiter darum bemühen, daß durch radioaktive Einleitungen in stehende Gewässer, die der Trinkwasserversorgung dienen, nicht Gefahren für die Umwelt, insbesondere für die menschliche Gesundheit entstehen.
Die Genehmigung der Einleitung radioaktiver Abwässer in den Bodensee müßte verheerende Folgen haben. Ich denke nur an die Überschriften, die in den Massenblättern erschienen. Darin kam zum Ausdruck, daß der See nicht mehr nur, wie in der jüngsten Vergangenheit, stinkt, sondern auch strahlt, nämlich Radioaktivität. Wer wollte sich in einer solchen Landschaft noch erholen! Ich kann nur hoffen, daß bei den weiteren Prüfungen und Überlegungen in dieser Frage Prestigegesichtspunkte keine Rolle spielen.
Ich komme zum Schluß. Von besorgten Mitbürgern, die den Bodensee kennen, wird immer wieder die Frage gestellt: Ist der Bodensee überhaupt noch zu retten? - Er ist zu retten, wenn wir ihn retten wollen. Dafür kann, ja muß auch der Bund einen wichtigen Beitrag leisten.
Das Wort hat der Abgeordnete Kaffka. Für ihn sind 5 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer soll das alles bezahlen? Die Frage beantwortet die Bundesregierung eindeutig mit dem Hinweis auf das Verursacherprinzip. Damit wird sich auch in Zukunft zeigen, wer auf dem Boden der Marktwirtschaft steht; denn das Verursacherprinzip ist ein an der marktwirtschaftlichen Ordnung orientiertes Prinzip. Es ist keine Frage, daß es in den letzten Jahren ausgehöhlt worden ist. Man braucht nur an das Wasserhaushaltsgesetz zu denken. Die §§ 5, 6 und 7 existieren offenbar nicht. Auch der Hinweis auf zu erwartende öffentliche Subventionen hat zu dieser Aushöhlung vielfältig beigetragen, indem ein öffentliches Prinzip dem Verursacherprinzip entgegengesetzt worden ist, ganz abgesehen davon, daß weithin im Lande im Bereich der Umweltverschmutzung das Prinzip des heiligen Florian gilt. Der Bundesregierung ist dafür zu danken, daß sie das Verursacherprinzip so deutlich und so nachdrücklich wieder in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt hat.
Die Frage, was die Bundesregierung an Mitteln bereitstellt, wird sehr deutlich beantwortet. 1,4 Milliarden DM sind in der mittelfristigen Finanzplanung angesetzt. Wir sind uns klar darüber, daß das an sich noch nicht ausreichend ist. Aber wir müssen uns auch darüber klar sein, daß der Bund keine Finanzierungskompetenz hat, infolgedessen vorwiegend Forschung und Entwicklung mit diesem Ansatz zu tragen hat. Der Hauptanteil liegt bei den Ländern und den Gemeinden. Der Bund wird die Spitzenfinanzierung übernehmen. Es wird zu erwägen sein, ob nicht die ERP-Mittel in Zukunft verstärkt für die Bewältigung der Umweltprobleme anzusetzen sind, nicht nur für unterentwickelte Gebiete. Wir halten es für erforderlich, daß die Spitzenfinanzierung aus ERP-Mitteln auch auf Ballungsräume erstreckt wird.
Das Ziel des Umweltprogramms der Bundesregierung geht dahin, unter anderem auch der Industrie Hinweise zu geben, durch heilsamen Zwang Techniken zu entwickeln, die umweltfreundlich sind. Wo das nicht mehr möglich ist, wo heilsamer Zwang nicht mehr wirkt, müssen Strafdrohungen stehen. In den vorliegenden Gesetzentwürfen sind für schwerwiegende Verstöße gegen Vorschriften des Umweltschutzes Strafvorschriften mit der Androhung von Freiheitsstrafen vorgesehen, in besonders schweren Fällen, wenn nämlich durch die strafbare Handlung das Leben oder die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen gefährdet oder der Tod oder eine schwere Körperverletzung eines Menschen verursacht worden ist, Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren. Durch diese Umweltschutzstrafvorschriften soll einmal eindringlich ins Bewußtsein gerufen werden, daß wir alle Verantwortung gegenüber der Umwelt tragen. Zum anderen sollen leichtfertige Mitmenschen zur Beachtung der Vorschriften des Umweltschutzes angehalten werden.
Mit dem Inkrafttreten der genannten Umweltschutzgesetze wird den Behörden und den Gerichten ein umfassenderes Rüstzeug an die Hand ge-
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Kaffka
geben werden. Ihnen ist es anheimgegeben, es auf die wirksamste Weise durchzusetzen.
Als letzter Redner aus der Mitte des Hauses hat der Abgeordnete Dr. Jahn das Wort. Für ihn sind 8 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will weniger als 10 Minuten, weniger als 8, ich will möglichst nur 5 Minuten sprechen, so wie es gute Übung im Europäischen Parlament ist: mindestens 5 Minuten, höchstens 15 Minuten für den Sprecher der Fraktion, 20 Minuten für den Berichterstatter. Ich glaube, die Debatte würde dadurch farbiger, und es würde doch alles gesagt werden können. Vielleicht überprüfen wir unsere Geschäftsordnung einmal in diesem Sinne.
Das hier diskutierte Umweltprogramm der Bundesregierung und die Meinungen der Koalition und der Opposition haben deutlich gemacht, ich möchte sagen: einmal mehr deutlich gemacht, daß wir es mit einem Fragenkomplex internationalen und europäischen Ranges zu tun haben. Lassen Sie mich versuchen, einige Akzente aus der Sicht des Europäischen Parlaments zu setzen, in dem ich die Ehre habe, Generalberichterstatter für Fragen der Umweltpolitik und der Harmonisierungsgesetzgebung zu sein. Wie bekannt und heute erwähnt, hat die Kommission eine Erste Mitteilung über die Politik der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Umweltschutzes dem Europäischen Parlament und dem Rat zugeleitet. Erste Diskussionen haben ergeben, daß Übereinstimmung darüber besteht, daß mit dem Aufgabensektor Umweltschutz ein neues Kapitel — ich betone: ein neues Kapitel — der Gemeinschaftspolitik aufgeschlagen worden ist. Die Erhaltung und Verbesserung der Umwelt wird als eine der vordringlichsten Aufgaben der Gemeinschaft sowie der anderen hochindustrialisierten Länder angesehen. Kommission und Parlament stimmen darin überein, daß in der Gemeinschaft vier Ziele angestrebt werden sollten. Sie sind für uns alle sicherlich sehr verpflichtend:
1. Eindämmung und nach Möglichkeit Ausschaltung der schädlichen Auswirkungen, die die wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten im allgemeinen und der technische Fortschritt im besonderen auf die Umwelt haben, ohne daß jedoch der Umweltschutz zu einer generellen Bekämpfung des Wirtschaftswachstums und des Fortschritts führt;
2. Erhaltung der natürlichen Versorgungsquellen durch Überwachung des Gleichgewichts der ökologischen Systeme der Biosphäre;
3. Umweltplanung und Raumordnung, um insbesondere den verhängnisvollen Auswirkungen der zunehmenden Zusammenballung der Bevölkerung in den Städten zu begegnen;
4. Lenkung und gegebenenfalls Förderung des Fortschritts entsprechend den tatsächlichen Bedürfnissen des Menschen, und zwar nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht.
Wichtig erscheint dem Europäischen Parlament für die Diskussion in den Parlamenten der Mitgliedstaaten die Harmonisierung der Gesetzgebung in diesen Staaten von heute und morgen, also ab sofort.
Ich möchte daher an die Bundesregierung die Bitte richten, im Ministerrat, dem die erste Stellungnahme ja vorliegt, dafür zu votieren, Herr Minister, daß die Harmonisierungsrichtlinien entweder über Art. 100 und 101 oder über Art. 235 erfolgen. Ich wollte die Artikel im Wortlaut zitieren, erspare es mir aber. Ich bitte jedoch den Minister, die Verhandlungen im Ministerrat mit dem Blick auf diese Artikel zu führen. Es handelt sich nicht um eine neue Materie, für die Art. 236 des EWG-Vertrags in Frage käme. Im Europäischen Parlament wird mit großer Mehrheit die Auffassung vertreten, daß zur Harmonisierung der Gesetzgebung auf dem Gebiet des Umweltschutzes eine Änderung des Vertrags nicht notwendig ist.
Erbeten wird weiter die Unterstützung der Bundesregierung und des ganzen Hauses zu der Errichtung eines Europäischen Instituts für Umweltschutz. Diesem sollte die Aufgabe zufallen, Studien und Forschungen zu betreiben, hinzielend auf erstens die Verbesserung der Lebensbedingungen sowie die Ausarbeitung eines europäischen Zivilisationsmodells, zweitens die Ausarbeitung eines langfristigen allgemeinen Bewirtschaftungs- und Entwicklungsplans für die natürlichen Versorgungsquellen der Gemeinschaft und drittens die Sammlung, Verarbeitung, Vervollständigung und Verteilung der Informationen über Umweltfragen auf Gemeinschaftsebene, insbesondere der Informationen über neue Techniken und Verfahren, die zur Verringerung der Umweltverschmutzung dienen, viertens die Veranstaltung vor allem nachakademischer Ausbildungskurse auf dem Gebiet des Umweltschutzes.
Meine Damen und Herren, eine Koordination und eine Kooperation auf dem Gebiet der Forschung, der Planung und der Auswertung neuer Techniken werden Doppelarbeit vermeiden und Geld sparen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Urnweltschutz und Umweltpolitik sind nicht nur eine Gemeinschaftsaufgabe in den jeweiligen nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten, nicht nur eine der sechs EWG-Staaten, nicht nur eine der auf zehn Staaten erweiterten EWG, sondern aller Industrienationen, die in Europa auf so engem Raum zusammenleben.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß es den parlamentarischen Geschäftsführern gelungen ist, im Wege gegenseitiger Vereinbarungen doch noch zu erreichen, daß die Debatte zu einer vernünftigen Zeit beendet wird.
Nunmehr hat das Schlußwort der Herr Bundesminister des Innern. Seine Redezeit ist nach der Geschäftsordnung unbegrenzt. Aber länger als eine Stunde sollten Sie nicht reden.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich so kurz wie möglich fassen, um dem Problem der Umweltverschmutzung nicht noch das der Zeitverschmutzung hinzuzufügen.
Ich habe Anlaß, dem Hohen Hause für die sachliche Behandlung des Umweltprogramms der Bundesregierung zu danken. Sie können davon ausgehen, daß alle Anregungen, die hier gegeben worden sind, in die Arbeit der Bundesregierung eingehen werden. Ich möchte meine besondere Freude darüber zum Ausdruck bringen, daß die Sprecher der Fraktionen den Mitarbeitern meines Hauses gedankt haben, die es in der Tat mit einem ungewöhnlichen Einsatzwillen möglich gemacht haben, daß die Bundesregierung ihr Grundsatzprogramm fristgemäß vorgelegt hat.
Meine Damen und Herren, ein besonderes Problem ist die Veränderung der verfassungsrechtlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland. Wir können unserer gesamtstaatlichen Verantwortung für den Umweltschutz nur dann gerecht werden, wenn die Verfassungsänderungen vorgenommen werden. Ich sage das auch für meinen Kollegen Ertl für den Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege. Auch hier besteht eine gesamtstaatliche Verantwortung, die mit der gegenwärtigen Kompetenz des Bundes nicht in ausreichender Weise wahrgenommen werden kann.
Deshalb bitte ich das Hohe Haus, den von uns gewünschten Verfàssungsänderungen, für die im wesentlichen die Ausfüllungsgesetze vorliegen, die Zustimmung zu geben. Wir können uns eine Rechtszersplitterung gerade im Bereich des Umweltschutzes nicht leisten. Es geht nicht um eine Machtverschiebung zwischen Ländern und Bund zugunsten des Bundes, sondern es geht darum, daß wir zeigen, daß auch ein Bundesstaat, daß auch ein föderalistisch aufgebauter Staat handlungsfähig ist und diese Aufgaben lösen kann.
Die Bundesregierung wird sich mit besonderem Nachdruck für die internationale Angleichung der Umweltvorschriften einsetzen, weil wir Wettbewerbsvorteile verhindern wollen, die sich daraus ergeben, daß dieser oder jener Staat seine Verpflichtung gegenüber dem Umweltschutz nicht ausreichend wahrnimmt.
Wir dürfen nicht billige Flaggen des Umweltschutzes prämiieren, indem wir zulassen, daß bestimmte Staaten ihrer Volkswirtschaft nicht das abverlangen, was wir aus der Verantwortung für den Menschen von unserer Wirtschaft erwarten.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch nicht, daß die Bestimmungen des Umweltschutzes neue Handelshindernisse dort aufbauen, wo wir sie eben durch den Abbau der Zollschranken beseitigt haben.
- Ich möchte aber auch ebenso klar sagen, daß die Bundesregierung ihre Absicht, im Bereich des Umweltschutzes in Europa Schrittmacherdienste zu leisten, mit allem Ernst verwirklichen wird. Es wird für uns kein Argument gegen unsere Initiativen sein können, daß man sagt: Wartet erst ab, bis alle europäischen Staaten zugestimmt haben.
Wir würden sonst das Geleitzugsystem, das wir von den Hemmnissen für die deutsche Bildungspolitik kennen, auf den europäischen Umweltschutz mit allen Nachteilen übertragen. Dazu ist die Bundesregierung nicht bereit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Ziel dieser Politik ist es, nicht nur zu reagieren und zu heilen; das Ziel dieser Politik ist es, das Entstehen von Umweltschäden zu verhindern. Die heutige Debatte gibt der Bundesregierung nicht nur die Hoffnung, sondern die Überzeugung, daß sie im Hohen Hause über die ausreichenden Mehrheiten um nicht zu sagen, über einstimmige Zustimmung — für diese Politik verfügt. Dafür danke ich Ihnen.
Herr Bundesminister, ich danke Ihnen für die Kürze Ihrer Rede. — Wir haben nun noch das Programm der Bundesregierung zu überweisen. Ich schlage gemäß dem Beschluß des Ältestenrates Überweisung an den Innenausschuß — federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen, den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und den Haushaltsausschuß zur Mitberatung vor. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich komme nunmehr zu Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde
— Drucksache VI/2861 -
Ich wende mich den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit zu. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Westphal wartet schon einige Zeit auf die Beantwortung.
Zuerst komme ich zu Frage 54 der Frau Abgeordneten Dr. Diemer-Nicolaus. — Sie ist nicht im Saal; daher wird diese Frage wie auch Frage 55 schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zu Frage 56 des Abgeordneten Josten. — Der Abgeordnete ist ebenfalls nicht im Saal; diese Frage und Frage 57 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zu Frage 58 des Abgeordneten Dr. Arnold:
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Vizepräsident Dr. Jaeger
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die Altersforschung, die nach Auffassung des Verbands der niedergelassenen Ärzte Deutschlands zu kurz kommt, obwohl heute dreimal so viele über 65 Jahre alte Menschen im Bundesgebiet leben als vor 100 Jahren, dadurch zu fördern, daß sie auf die Gründung eines Universitätsinstituts und eines Lehrstuhls für Altersforschung hinwirkt?
Herr Staatssekretär, ich darf bitten!
Herr Kollege Dr. Arnold, die Bundesregierung hat bereits im Gesundheitsbericht in der Bundestagsdrucksache VI/1667 die Auffassung vertreten, daß zur Intensivierung der Altersforschung die Einrichtung von Lehrstühlen für Gerontologie und Geriatrie erforderlich ist. Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Vorbereitung des Programms „Hilfen für die ältere Generation" wird sich die Möglichkeit ergeben, auf die Notwendigkeit derartiger Lehrstühle erneut hinzuweisen.
Eine unmittelbare Förderung der Altersforschung an wissenschaftlichen Hochschulen erfolgt durch die Anregung und Finanzierung umfangreicher Forschungsvorhaben zu diesem Programm. Damit wird den Wissenschaftlern die Möglichkeit gegeben, ihr Fachgebiet an den Hochschulen weiter zu entwickeln und zu profilieren.
Die Entscheidung über die Einrichtung von Lehrstühlen oder Universitätsinstituten liegt allerdings ausschließlich bei den Ländern. So ist mir z. B. bekannt, daß in Hessen zur Zeit geprüft wird, ob ein Lehrstuhl für Gerontologie an der Universität Gießen gebildet werden kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arnold.
Herr Staatssekretär, ist es also richtig, daß zur Zeit in der Bundesrepublik weder ein Lehrstuhl noch ein Universitätsinstitut für Altersforschung besteht?
In dieser exakten Umschreibung gibt es einen Lehrstuhl oder ein Universitätsinstitut noch nicht. Aber Sie sehen, die Altersforschung wird gefördert, und es gibt Bestrebungen, zu Lehrstühlen zu kommen, die wir unterstützen werden.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arnold.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, bei den Ländern anzuregen, daß in diesem Sinne vielleicht beschleunigt nachgedacht wird mit dem Ziel, alsbald mindestens einen Lehrstuhl und ein entsprechendes Institut in einem der Bundesländer zu haben?
Herr Kollege Dr. Arnold, wir glauben, dies längst getan zu haben, und zwar einerseits dadurch, daß
wir die Notwendigkeit im Gesundheitsbericht sehr ausführlich dargestellt haben, und zweitens dadurch, daß wir in dieser Richtung aktiv geworden sind. Wir werden jede Gelegenheit nutzen, um die Bestrebungen zur Einrichtung von Lehrstühlen weiter zu unterstützen, um bald zu einer Lösung zu kommen.
Wir kommen zur Frage 94 der Abgeordneten Frau von Bothmer.
Wie beurteilt die Bundesregierung den fachlichen Erfolg des mit finanzieller Unterstützung des Bundes vom 5. bis 11. August 1971 in Bonn durchgeführten 13. Weltkongresses der Omep ?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Frau Kollegin von Bothmer, der 13. Weltkongreß der Organisation Mondiale pour l'Education Préscolaire fand in der Zeit vom 5. bis 11. August 1971 hier in Bonn unter dem Leitthema „Die pädagogische Bedeutung des Spiels im frühen Kindesalter" statt. Eine abschließende Beurteilung der Ergebnisse dieses Kongresses ist derzeit deshalb noch nicht möglich, weil u. a. zum Teil fremdsprachlich abgefaßte Arbeitsgruppenergebnisse noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Ebenso hat das gastgebende Deutsche Nationalkomitee für frühkindliche Erziehung einen vorgesehenen zusammengefaßten Bericht noch nicht vorlegen können.
Unter dieser Einschränkung ist festzustellen, daß die grundlegenden Vorträge von Professor Osterrieth über die Bedeutung des frühkindlichen Spiels, der schwedischen Frau Minister Myrdal über die moderne Leistungsgesellschaft als Chance und Gefahr für das kindliche Spiel und von Frau Professor Stahl aus Bremen über die Vorschulerziehung in der Bundesrepublik Deutschland die Diskussionen in den Arbeitsgemeinschaften während dieses Kongresses nachhaltig beeinflußt haben. Es hat dort einen fruchtbaren Meinungs- und Erfahrungsaustausch gegeben.
In einzelnen Arbeitsgruppen konnte die Arbeit wegen des unerwartet starken Andrangs — statt der zunächst erwarteten 800 Teilnehmer waren insgesamt 1400 aus aller Welt erschienen — nicht immer mit der Intensität durchgeführt werden, die von einigen Kongreßteilnehmern erwartet wurde. In Einzelfällen ist die Diskussion in den Arbeitsgruppen auch auf gewisse Schwierigkeiten infolge der Inhomogenität der Teilnehmer gestoßen. Dennoch hält die Bundesregierung den gerade dort möglich gewesenen Meinungsaustausch zwischen Wissenschaftlern und Praktikern aus Ländern mit sehr unterschiedlichen Formen der frühkindlichen Erziehung für eine wertvolle Sache.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete von Bothmer.
War denn, da engagierte Vorschulexperten aus dem Ausland an diesem Kongreß teilgenommen haben, das Bundes-
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Frau von Bothmer
ministerium für Bildung und Wissenschaft an der Vorbereitung überhaupt beteiligt?
Vornehmlich hat sich das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit um diesen Kongreß bemüht. Sie wissen, daß sich das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit vor allem für die Aufgaben, die im Bereich der Elementarerziehung anstehen, verantwortlich fühlt. Es arbeitet dabei mit dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft eng zusammen. Ich kann es zwar jetzt nicht in aller Eindeutigkeit sagen, aber ich bin sicher, daß sich auch Mitarbeiter aus dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft um diesen Kongreß gekümmert haben. Die Vorbereitung ist durch Mitarbeiter unseres Hauses erfolgt. Zur Förderung und Finanzierung dieses Kongresses hat das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Mittel bereitgestellt.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte sehr!
Die Gründe, die Sie angeben, veranlassen mich zu der Frage: Ist die Bundesregierung bereit, im Sinne der Einheitlichkeit ihrer Bildungsplanung grundsätzlich zu prüfen, ob die Kompetenz für Erziehung im Primar- und Elementarbereich dem für Bildung zuständigen Ressort übertragen werden kann?
Zur Behandlung dieser Frage auf der Ebene der Bundesregierung besteht zur Zeit deshalb kein Grund, weil es auf diesem Gebiet — das gilt auch in bezug auf die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung - keine Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit gibt. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit für Fragen der Elementarerziehung aufzugeben. Sie wissen vielleicht, daß das Jugendwohlfahrtsgesetz, eine der Rechtsgrundlagen für die Arbeit im Jugendbereich und im Bereich der Erziehung der Kinder, die einzige Rechtsgrundlage auf Bundesebene ist, die es ermöglicht, gerade in diesen Bereich der Elementarerziehung hin bundeseinheitliche Regelungen zu treffen. Eine Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes ist eingeleitet. Wir sind dabei, ein neues Jugendhilferecht zu schaffen und bemühen uns auch um die Konkretisierung des Rechtsanspruches auf Erziehung gerade für Kinder, d. h. mit Auswirkungen für den Ausbau des Elementarerziehungsbereichs.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Moersch steht zur Verfügung. Die Fragen 97 und 98 des Abgeordneten Dr. Riedl , die Frage 99 des Abgeordneten Reddemann sowie die Fragen 100 und 101 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ist die Bundesregierung bereit, sich im Rat der EWG für die Erweiterung der Zuständigkeiten und Befugnisse des Europäischen Parlaments durch Beteiligung des Parlaments an den Entscheidungen über normative Rechtsakte der Gemeinschaft, also am Gesetzgebungsverfahren im weitesten Sinne einzusetzen?
Ich darf bitten, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß Rolle und Befugnisse des Europäischen Parlaments nicht befriedigend geregelt sind. Die praktische Verwirklichung des Wunsches der Bundesregierung, die Befugnisse des Europäischen Parlaments im Willensbildungsprozeß der Gemeinschaft zu erweitern, stößt angesichts der bekanntlich unter den gegenwärtig sechs Mitgliedern unterschiedlichen Einstellungen zum Parlament auf Schwierigkeiten. Die Bundesregierung ist daher zu der Auffassung gelangt, daß isolierte Initiativen zugunsten des Europäischen Parlaments gegenwärtig keine Aussicht auf Erfolg bieten und daß statt dessen Fortschritte im Bereich der praktischen Arbeit der Gemeinschaften gesucht werden müssen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß das Europäische Parlament insoweit Kontrollbefugnisse erhalten sollte, daß es, falls sich der Ministerrat nicht entschließen kann, den Konsultationsbeschluß des Europäischen Parlaments zu übernehmen, die Möglichkeit zu einer nochmaligen Stellungnahme bekommt?
Herr Abgeordneter, ich glaube, diese Frage zielt bereits auf die Antwort auf die Frage 103. Ich bin bereit, auf die Frage nach dem bisherigen Mechanismus ausführlicher einzugehen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Sollte der Ministerrat nicht verpflichtet werden, in den Entschließungen nur mit Einstimmigkeit von der Stellungnahme bzw. erneuten Stellungnahme des Parlaments abzuweichen, wenn diese mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurde?
Herr Abgeordneter, das ist eine Frage, die im Grunde durch meine Antwort schon beantwortet ist. Es ist eine Frage der Willensbildung innerhalb aller beteiligten Staa-
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Parlamentarischer Staatssekretär Moersch
ten. Ihnen ist sicherlich ebenso wie der Bundesregierung bekannt, daß es hier unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich habe sie angeführt. Am schönsten wäre es immer, wenn eine klare parlamentarische Kontrolle für jede Art von Regierungstätigkeit ausgeübt werden könnte. Darüber sind sich eigentlich die Demokraten in Europa völlig einig. Es gibt aber andere Auffassungen von einer praktischen europäischen Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit braucht nicht deswegen erfolglos zu sein, weil sie sich nicht nach unserem Modell richtet. Wir haben natürlich unsere Vorstellung immer vertreten und werden sie auch dort, wo es sinnvoll ist, weiter vertreten. Wir können aber nicht pausenlos Dinge vertreten, von denen wir von vornherein wissen, daß sie gegenwärtig — und das habe ich gesagt —keine Aussicht auf Verwirklichung bieten.
Ich komme zur Frage 103 des Abgeordneten Dr. Jahn :
Ist die Bundesregierung bereit, sich beim Ministerrat dafür einzusetzen, daß alle internationalen Abkommen der Gemeinschaft durch das Europäische Parlament ratifiziert werden?
Herr Abgeordneter, ich habe in meiner Antwort auf die vorherige Frage dazu schon grundsätzlich Stellung genommen. Ich möchte wiederholen, von isolierten Aktionen zugunsten des Europäischen Parlaments kann sich die Bundesregierung angesichts der unterschiedlichen Einstellungen der Regierungen der Mitgliedsländer im gegenwärtigen Zeitpunkt noch keinen Erfolg versprechen.
Ich möchte jetzt eigentlich die Zusatzfrage von vorhin gleich mitbeanworten. Die Einflußmöglichkeiten des Parlaments sind ohne Vertragsänderung und von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt im Einvernehmen zwischen Rat und Parlament auch im Bereich der Außenbeziehungen vergrößert worden. Der EWG-Vertrag unterscheidet zwischen Verträgen, vor deren Abschluß der Rat das Europäische Parlament konsultieren muß, und Verträgen, die er ohne jegliche Einschaltung des Europäischen Parlaments abschließen kann. Schon seit 1964 werden die zuständigen Ausschüsse des Europäischen Parlaments im Falle der Aushandlung von Assoziierungsabkommen vom Verhandlungsführer, d. h. der Kommission und dem Rat, vor Unterzeichnung unterrichtet und können in einem Meinungsaustausch ihre Gesichtspunkte geltend machen. Während diese Kontakte die vertraglich vorgeschriebene formelle Konsultation ergänzen, hat der Rat am 9. November dieses Jahres für die Handelsverträge, die keiner Konsultation unterworfen sind, ein Verfahren beschlossen, nach dem die zuständigen Ausschüsse vor Unterzeichnung analog zu dem Verfahren bei den Assoziierungsabkommen unterrichtet werden. Ich glaube, daß ein pragmatisches Vorgehen dieser Art, für das sich die Bundesregierung eingesetzt hat, immerhin einen ermutigenden Ansatz für die Weiterentwicklung der Rechte des Parlaments darstellt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, wir begrüßen die Erweiterung der Kompetenzen. Sind Sie aber nicht der Auffassung, daß nicht nur die Information und die Diskussion, die dann in einer Entschließung endet, sondern auch letztlich die Zustimmung des gesamten Plenums bei der Ratifikation von Verträgen erforderlich sein sollte?
Herr Abgeordneter, wenn wir eines Tages ein klares parlamentarisches Verfahren in der Gemeinschaft haben sollten, ist diese Frage selbstverständlich mit Ja zu beantworten.
Die jetzige Konstruktion ist eine Art Zwischenlösung, mit der wir uns so lange abzufinden haben, bis eine einvernehmliche Vertragsänderung möglich ist.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jahn.
Sind Sie nicht der Auffassung, Herr Staatssekretär, daß die europäischen Parlamentarier in ihren nationalen Parlamenten immer wieder — Sie haben einige Situationen angedeutet Druck ausüben sollten, daß die Widerstände, die im Rat vorhanden sind, allmählich ausgeschaltet werden? Meine Kollegen in den anderen nationalen Parlamenten verfahren so. Glauben Sie, daß das ein Weg ist?
Man kann einer solchen allgemeinen Formulierung sicherlich nicht widersprechen. Nur ist die Kompetenz der nationalen Parlamente auf diesem Gebiet unterschiedlich. Damit fängt es an.
Die Frage 104 ist vom Fragesteller, dem Abgeordneten Roser, zurückgezogen.
Die Frage 105 des Abgeordneten Schmidt wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 106 ist vom Fragesteller, dem Abgeordneten Lemmrich, zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 107 des Abgeordneten Dr. Arnold auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, die Störungen der in Israel durchgeführten Deutschen Kulturwoche seien zu vermeiden gewesen, wenn man die Veranstaltung nicht verfrüht, sondern nach längerer, sorgfältigerer Vorbereitung zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt hätte?
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: Nein. Bekanntlich ging die
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Parlamentarischer Staatssekretär Moersch
Initiative zur Deutschen Kulturwoche von der Stadtverwaltung Tel Aviv aus, die nach dem erfolgreichen Verlauf einer italienischen und einer britischen Kulturwoche nun eine ähnliche deutsche Woche in ihren Mauern sehen wollte. Entsprechende Verhandlungen mit der Deutschen Botschaft haben bereits vor eineinhalb Jahren begonnen. Die Stadtverwaltungen von Jerusalem und Haifa haben sich in der Folge an diesen Vorbereitungen beteiligt. Ich will die Dinge jetzt nicht noch einmal im einzelnen darstellen, sondern nur sagen, daß sicherlich gerade die Initiatioren nicht vorausgesehen haben und vielleicht auch nicht voraussehen konnten, daß die Benennung einer Reihe an sich seit längerem üblicher Veranstaltungen mit dem Sammeltitel „Deutsche Kulturwoche" in manchen Kreisen Israels größere Emotionen auslösen würde. Dabei darf aber nicht verkannt werden, daß die eigentlichen Störungen — es waren ja nur wenige Störungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Veranstaltungen — von einer kleinen rechtsradikalen Gruppe ausgingen, von der sich Presse und Öffentlichkeit in Israel distanziert haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arnold.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen die Pressemeldungen bekannt, in denen steht, daß Mitglieder der Deutschen Botschaft in Israel die Auffassung vertreten haben, die in meiner Frage zum Ausdruck kommt?
Herr Abgeordneter, mir sind diese Pressemeldungen nicht bekannt. Ich habe mir selbstverständlich auf Grund Ihrer Frage die genauen Berichte unserer Vertretung angesehen. Da in den letzten Tagen mehrere apokryphe Behauptungen über angebliche Äußerungen von deutschen Diplomaten, etwa in Rom, in die Welt gesetzt worden sind, die sich sehr schnell als unrichtig herausgestellt haben, bin ich natürlich von vornherein geneigt, diesen amtlichen Unterlagen, die ich hier habe, mehr Glauben zu schenken. Es müßte schon einen sehr handfesten Anhaltspunkt geben, wenn es anders sein sollte.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arnold.
Herr Staatssekretär, besteht die Möglichkeit, eine Ubersicht über den Verlauf der Veranstaltungen innerhalb der Deutschen Kulturwoche in Israel zu bekommen?
Ich habe diese Ubersicht hier in der Hand. Ich bin gerne bereit, Ihnen hier Einsicht zu gewähren und Ihnen diese Unterlagen auch zu geben. Da aber auch die Öffentlichkeit zweifellos ein Interesse an diesen Informationen besitzt, möchte ich gleich sagen, daß es eine Reihe von hervorragenden Veranstaltungen gegeben hat, u. a. die Lesung von Günter Graß, auch die Aufführungen der „Emilia Galotti", die allerdings gestört wurden, und das Eröffnungskonzert. Es sind insgesamt mehr als 20 Veranstaltungen gewesen. Ich werde Ihnen von der zuständigen Abteilung eine genaue Aufstellung geben lassen.
Herr Abgeordneter Mischnick zu einer Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach den Ereignissen der Kulturwoche von vielen Seiten in Israel der Wunsch geäußert worden ist, andere kulturelle Veranstaltungen, die für die nächste Zeit geplant sind, auf keinen Fall etwa ausfallen zu lassen?
Ja, Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen das bestätigen. Ich habe in meiner Antwort auch schon gesagt, daß die wesentlichen Presseorgane Israels ebenso wie Verbände und Verwaltungen ihr Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht haben, daß es in einzelnen Fällen zu Störungen gekommen ist. Ich möchte gleich hinzufügen, daß ja wenige Monate zuvor das Gastspiel des Stuttgarter Staatstheaters mit seinem weltberühmten Ballett ein ganz hervorragendes Echo in Israel ausgelöst hat und daß dabei auch der Wunsch nach einer Fortsetzung dieser Zusammenarbeit zum Ausdruck kam. Ich glaube, allein daraus kann man schließen, daß eine allgemeine Tendenz zu einer Veränderung unserer Verhaltensweise nicht besteht.
Daß der Termin der Kulturwoche den Anschein eines unglücklichen Zusammentreffens bekommen hat, war nicht von unserer Seite her zu verantworten. Das hing mit objektiven Gründen zusammen, die bei den israelischen Philharmonikern lagen; diese konnten keinen anderen Termin wahrnehmen.
Die Fragen 108 und 109 werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ist die Bundesregierung gewillt, den bei der Aufnahme der Volksrepublik China in die UNO beachteten Grundsatz, ein Land könne nur durch eine Regierung vertreten werden, auch für Deutschland in Anspruch zu nehmen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, erlauben Sie, daß ich Ihre beiden Fragen zusammen beantworte?
Dann rufe ich zusätzlich die Frage 111 auf:
Ist die Bundesregierung bereit, unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes davon auszugehen, daß die Bundesrepublik Deutschland nach dem Grundgesetz, nach dem Konkordats-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und gemäß dem Deutschland-Vertrag allein legitimiert ist, „für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen"?
8948 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1971
Die Lage Chinas ist mit der Deutschlands nicht zu vergleichen. China ist Mitglied der UNO seit deren Gründung. Die Auseinandersetzung der vergangenen Jahre ging allein darum, welche Regierung befugt ist, das Land in dieser Organisation zu vertreten. Im Gegensatz dazu bestehen in Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung zwei Staaten, die sich untereinander allerdings nicht im Verhältnis von Inland-Ausland gegenüberstehen.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter, verweise ich auf die Antwort der Bundesregierung vom 11. November 1971 auf die Große Anfrage der CDU/CSU, in der im einzelnen dazu Stellung genommen wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher!
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung nicht gleichwohl der Überzeugung, daß die nunmehr in der UNO gehandhabte Praxis, nach der ein Land nur durch eine Regierung vertreten werden kann, unser Verfassungsgebot über die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands geradezu ostentativ in dem Sinne bestätigt, daß es nicht durch zwei, sondern nur durch einen Staat erfüllt werden kann?
Herr Abgeordneter, ich habe in meiner Antwort bereits auf die Unterschiedlichkeit hingewiesen. Ich möchte hier nicht verschweigen, daß ja nicht erst diese Bundesregierung, sondern auch dieser Bundestag eine andere politische Praxis betrieben hat, so daß sie auch von daher mit dem chinesischen Beispiel nicht vergleichbar wäre. Ich erinnere z. B. an die Vertragsratifikation bei der Westintegrationspolitik in diesem Hohen Hause.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Becher.
Herr Staatssekretär, muß nicht auch die von der Bundesregierung doch wohl nicht bestrittene Auffassung, daß allein die Bundesrepublik Deutschland — wie es ja schon der Name sagt: Bundesrepublik Deutschland — das Völkerrechtssubjekt Deutschland fortsetzt, die Folgerung nahelegen, daß sie analog zum Fall China nun ihrerseits allein berechtigt ist, Deutschland in der UNO zu vertreten?
Herr Abgeordneter, ich habe in meiner Antwort vorhin auf die Antwort auf die Große Anfrage verwiesen. Ich müßte jetzt auf Ihre Frage eine sehr lange und detaillierte völkerrechtliche Antwort geben. So einfach, wie es in Ihrer Frage geklungen hat, waren die Rechtsverhältnisse nie. Sie haben selbst eben schon im Begriff klargemacht, daß hier eine Unterschiedlichkeit
bestehen könnte. Ich darf z. B. auf die Materialien zu den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat verwiesen, wo etwa die Frage diskutiert wurde, ob es „Deutschland" oder „Bundesrepublik Deutschland" heißen solle. Der Parlamentarische Rat hat sich für den Begriff „Bundesrepublik Deutschland" entschieden. Ich möchte doch bitten, das in diesem Zusammenhang zu beachten.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Dr. Becher.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Überzeugung, daß der gesamten Bevölkerung durch den Vorgang im Plenum der UNO die Einfachheit dieser Frage klargeworden ist und daß wir daraufhin eine einfache und ebenso klare Antwort geben müssen?
Herr Abgeordneter, wenn die Frage, was Deutschland sei, so einfach wäre, wie es in einer solchen Frage zum Ausdruck kommt, würde ich nicht verstehen, weshalb diese Frage seit 22 Jahren in der Weltpolitik so umstritten ist.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher!
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Überzeugung, daß die Frage nach dem Selbstverständnis Deutschlands und der Bundesrepublik Deutschland zumindest in der Präambel des Grundgesetzes einwandfrei geklärt ist und daß die Gefahr besteht, daß eine Regierung an der Verfassung vorbeihandelt und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes schädigt, wenn sie von einer Gelegenheit, die sich jetzt in der UNO entwickelt hat, nicht in dem von mir erwähnten Sinne Gebrauch macht?
Herr Abgeordneter, ich kann Ihrer Meinung keineswegs beipflichten, daß durch das Verhalten der Bundesregierung irgendwie das Selbstbestimmungsrecht geschädigt würde. Die Frage der Durchsetzung eines solchen Rechtes ist eine ganz andere Frage als die, wie man dieses Recht selbst einschätzt. Eigentlich müßten Sie, wenn Sie in einer Frage solche Vorwürfe erheben wollten, diese Vorwürfe z. B. auch gegen die Mehrheiten und die Regierungen gerichtet haben, die, unbeschadet der Präambel des Grundgesetzes und in dem guten Glauben, daß es dieser Präambel entspreche, der staatlichen Sicherheit für diese Bundesrepublik Deutschland in der Praxis den Vorrang vor den allgemeinen Zielen der Präambel des Grundgesetzes gegeben haben. Wer das damals nicht wahrhaben wollte — und es ist von Sprechern der damaligen Opposition der damaligen Mehrheit vorgehalten worden —, der wird sich heute im Jahre 1971 nur falsche Gedanken machen können über die
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Parlamentarischer Staatssekretär Moersch
wirklichen Verhältnisse, die damit geschaffen worden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arndt.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, den Kollegen, der eben gesprochen hat, darauf aufmerksam zu machen, daß ein Unterschied zwischen der rechtlichen Befugnis, die Bundesrepublik völkerrechtlich zu vertreten, insbesondere zu verpflichten, und der politisch-moralischen Befugnis besteht, für das deutsche Volk die Stimme zu erheben und für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen zu sprechen?
Herr Abgeordneter, ich kann die in Ihrer Frage mitgeteilte Rechtsansicht und politische Ansicht hier nur voll bekräftigen. Das, was Sie soeben gesagt haben, entspricht ja auch den tatsächlichen Verhaltensweisen aller Bundesregierungen seit 1949.
Sie haben nur eine Zusatzfrage. — Sie haben nur eine, weil Sie nicht der Fragesteller sind.
- Muß nicht! Aber wir haben heute Zeit.
Ich danke sehr, Herr Präsident. — Herr Staatssekretär, würden Sie freundlicherweise den Herrn Fragesteller u. a. auch darauf hinweisen, daß neben der Sowjetunion auch die Ukraine und die Weißrussische Sowjetrepublik Mitglieder der UNO sind, ohne daß bisher irgend jemand bestritten hätte, daß sie beide zu einem gemeinsamen Staat gehören?
Herr Abgeordneter, ich glaube, die Liste dieser jedenfalls nicht in ein klares Konzept passenden Vorgänge auch bei den Vereinten Nationen ließe sich noch beliebig fortsetzen. Im übrigen wäre ja immer darauf hinzuweisen — und ich habe das in meiner ersten Antwort schon zum Ausdruck gebracht -, daß China von Anfang an in den Vereinten Nationen vertreten war — das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Gesichtspunkt —; die Frage war eigentlich immer, was dort als „China" zu gelten habe.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß ein Unterschied zwischen der Rechtslage der Ukraine und Weißrußlands — weil das ja durch die russische Verfassung gedeckt ist —, und der Situation der Bundesrepublik besteht, so daß die beiden Fälle doch wohl nicht vergleichbar sind?
Herr Abgeordneter, es gibt überhaupt nichts absolut Vergleichbares, und die deutsche Lage ist in der Tat mit allen anderen Lagen unvergleichbar. Das wollte ich in meinen Antworten zum Ausdruck bringen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann?
Herr Staatssekretär, erinnere ich mich richtig, daß noch bis vor wenigen Jahren unsere Verbündeten in den Vereinten Nationen Versuche der DDR inhibiert haben, Zirkularnoten im Rahmen der Vereinten Nationen zu verteilen, in denen bestritten wurde, daß die Bundesregierung die einzige Regierung sei, die berechtigt sei — und zwar jetzt im Rechtssinne —, das deutsche Volk zu vertreten?
Herr Abgeordneter, ich müßte natürlich den Wortlaut dessen haben, was die Alliierten dazu gesagt haben. Die Alliierten haben immer darauf hingewiesen, daß wir die Regierung sind, mit der sie sich in einem Bündnis befinden und die sie als die Sprecherin für deutsche Fragen akzeptieren. Das ist sicherlich zutreffend. Aber wenn Sie gewisse alliierte Verlautbarungen auch aus diesen Jahren einmal daraufhin genau ansehen, dann werden Sie sicherlich der Meinung sein, daß die Alliierten einen Zusatz gemacht haben, der doch zu beachten ist: daß es nämlich eine Viermächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes gibt und daß sie sich hier auch die Auslegung nach der jeweiligen Situation vorbehalten haben, und zwar - und das haben die Westmächte jeweils getan — auf Grund ihrer Verantwortung für den Frieden und für die Sicherheit in Europa.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wulff.
Herr Staatssekretär, halten Sie es, nachdem die Volksrepublik China in die Vereinten Nationen aufgenommen worden ist, und unter Berücksichtigung des Deutschland-Vertrages, nicht auch für sinnvoll, möglichst bald diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China aufzunehmen?
Herr Präsident, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf: das eben Gefragte steht sicherlich nicht in unmittelba-
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rem Zusammenhang mit der eigentlichen Frage. Ich möchte aber trotzdem kurz darauf eingehen.
Zunächst dies: Die Volksrepublik China ist nicht in die Vereinten Nationen aufgenommen worden, sondern die Volksrepublik China hat den Platz „China" in den Vereinten Nationen eingenommen. Das ist, glaube ich, ein Unterschied, den es hier zu beachten gilt.
Was die Frage der diplomatischen Beziehungen betrifft, so muß ich auf die Regierungserklärung verweisen, die deutlich zum Ausdruck bringt, daß die Bundesregierung bereit ist, mit jeder Regierung und jedem Staat, der das wünscht, normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen. An dieser in der Regierungserklärung geäußerten Meinung, die selbstverständlich auch für die in Rede stehende Sache gilt, hat sich zweifellos nichts geändert. Wir haben hier immer klar zum Ausdruck gebracht, daß wir in diesen Fällen keine speziellen Gründe haben, etwas nicht zu tun.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Dr. Wulff, bitte!
Herr Staatssekretär, bedeutet das, daß die Volksrepublik China jetzt auf uns zukommen und uns bitten muß, diplomatische Beziehungen zu ihr aufzunehmen, oder bedeutet das, daß wir großen Wert darauf legen, daß diese Beziehungen möglichst bald zustande kommen?
Herr Abgeordneter, ich bitte, den genauen Hergang zu beachten. Wir haben von unserer Seite klargemacht — und zwar so, daß es auch überall verstanden werden konnte —, daß wir interessiert sind. Es ist im internationalen Verkehr üblich, daß zunächst ehe weitere Schritte erfolgen, eine Antwort gegeben wird, die auch für uns hier über die Interessenlage der jeweils anderen Seite Klarheit schafft. Dabei müssen es gar nicht immer. nur — das möchte ich hier gleich hinzufügen — politische Fragen und rein politische Interessen sein. Es gibt aber z. B. ganz praktische Fragen bei einer solchen Veränderung der Situation, nämlich die, wie die Volksrepublik China — nach einer langen Periode einer Art selbstgewählter außenpolitischer Isolierung nun voll in die Weltpolitik eingetreten — in einem schnellen zeitlichen Ablauf die neuen Verpflichtungen auch personell erfüllen kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jahn .
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung, daß nicht nur unsere Verbündeten, sondern auch wir an den Deutschland-Vertrag gebunden sind, in dem festgelegt ist, daß die Bundesrepublik Deutschland für alle Deutschen spricht?
Herr Abgeordneter, ich bedauere sagen zu müssen, daß die verehrten Mitglieder der Opposition die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, die die Opposition eingebracht hat, offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen haben. Ich möchte deswegen das Protokoll nicht zusätzlich strapazieren. Sonst müßte ich das hier vorlesen. Die Meinung der Bundesregierung ist hier exakt definiert. Sie haben ihr die vorzügliche Gelegenheit gegeben, das zu tun. Mehr kann ich in diesem Augenblick dazu nicht sagen.
Keine Zusatzfrage mehr. — Ich rufe die Frage 112 des Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Hat der stellvertretende polnische Außenminister Willmann in den seiner Erklärung vom 27. Oktober 1971 voraufgegangenen Verhandlungen das Ansinnen gestellt, in deutschen Schulbüchern auf die Darstellung des fortbestehenden deutschen Staats in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 zu verzichten, und hat die Bundesregierung — bejahendenfalls — dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland zurückgewiesen und darauf hingewiesen, daß über deutsche Schulbücher die Länder in eigener ausschließlicher Zuständigkeit befinden und auch der Vertrag vom 7. Dezember 1970 nach seinem Inkrafttreten keine entsprechende Handhabe bieten würde, bzw. wird die Bundesregierung, wenn ein derartiges Ansinnen in Zukunft gestellt werden sollte, entsprechend verfahren?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Die Antwort lautet: Nein. Vizeaußenminister Willmann hat ein derartiges Ansinnen nicht gestellt. Davon abgesehen wären die auf der Ebene der Außenministerien in Bonn am 25. und 26. Oktober 1971 geführten Gespräche, auf die sich Ihre Frage offensichtlich bezieht, nicht der Ort zur Behandlung des Inhalts von Schulbüchern gewesen, da diese Fragen in die Zuständigkeit der Länder fallen, die die Bundesregierung selbstverständlich zu respektieren hat. Sie als Abgeordneter aus Bayern werden das besonders zu schätzen wissen. Bei den Besprechungen in Bonn wurde lediglich allgemeine Übereinstimmung darüber erzielt, daß eine Überprüfung der Schulbücher beider Länder, etwa nach dem deutsch-französischen Vorbild, wünschenswert ist und daß sie von den zuständigen Stellen sobald wie möglich in Angriff genommen werden soll.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, ich darf die Frage praktisch wiederholen; Sie haben darauf nicht geantwortet: Würde die Bundesregierung ein Ansinnen, wie es in meiner Frage zum Ausdruck kommt, falls es gestellt werden sollte, als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik zurückweisen?
Herr Abgeordneter, das ist eine hypothetische Frage, die wir beantworten werden, wenn sie gestellt wird. Die Bundesregierung ist prinzipiell der Meinung, daß sie jedes Ansinnen auf eine Art Einmischung in innere Angelegenheiten zurückweisen sollte. In diesem Fall
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gibt es ja aber große Vorbilder, nämlich in den deutsch französischen Beziehungen, wo eine gegenseitige Revision der Schulbücher vorgenommen worden ist. Wir haben unsererseits zum Ausdruck gebracht — das war nicht von polnischer Seite initiiert worden —, daß man, wenn man Beziehungen zu einem Staat wie der Volksrepublik Polen normalisieren will — das wollen wir, und ich denke, das will das ganze Hohe Haus , vor allem bereit sein muß, die Gründe für eine langjährige und jahrzehntelange Vergiftung der Atmosphäre zu bereinigen. Die Grundlage dafür wäre, daß in den beiden Staaten, wo das überhaupt denkbar ist, in den Schulbüchern wenigstens einigermaßen die gleichen geschichtlichen Auffassungen dargeboten und diese Dinge abgestimmt werden. Dafür gibt es das Schulbuchinstitut in Braunschweig, das sich dieser Mühe in anderen Fällen mit großem Erfolg unterzogen hat, und zwar in Zusammenarbeit mit der deutschen UNESCO-Kommission.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort den Schluß ziehen, daß über die Frage der Schulbücher im Detail nicht gesprochen wurde?
Den Schluß dürfen Sie ziehen. Sie müssen ihn auch ziehen, weil wir ja für das nächste Jahr erwarten, daß deutsch-polnische Gespräche unter den Fachleuten über diese Fragen geführt werden. Ich möchte noch hinzufügen, daß es,
wenn man solche Gespräche führt - und ich halte sie
für nützlich -, selbstverständlich notwendig ist, daß
dann jede Seite die Meinungen der anderen Seite und die Vorhalte der anderen Seite zur Kenntnis nimmt und gründlich prüft. Nur so hat man ja auch eine Gelegenheit, etwa seine eigene Stellungnahme dann nachher zu bekunden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arndt.
Ich kann Ihnen keine Zusatzfrage mehr geben. Keine weiteren Zusatzfragen?
Die Fragen 113 und 114 sind vom Fragesteller zurückgezogen.
Ich komme zur Frage 115 der Abgeordneten Frau von Bothmer:
In welchem Zahlenverhältnis waren die bisher im Rahmen des Kulturabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Südafrika an südafrikanische Staatsbürger gewährten Stipendien auf Kandidaten weißer, schwarzer, bzw. anderer Hautfarbe verteilt?
Ich darf Sie um Beantwortung bitten, Herr Staatssekretär.
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Frau Abgeordnete, von unserem Stipendienangebot an Südafrika sind jährlich etwa 70 % für weiße, 30 % für nichtweiße Studenten bestimmt. Stipendien, die von einer Gruppe nicht ausgenützt werden, können nicht einer anderen Gruppe übertragen werden.
Die Bundesregierung erkennt auch hinsichtlich ihrer kulturellen Beziehungen die südafrikanische Apartheid-Politik nicht an. Sie hat daher dafür gesorgt, daß erstmalig für das Studienjahr 1963/64 ausschließlich für nichtweiße Südafrikaner — Bantus, Mischlinge und Inder — bestimmte Stipendien geschaffen wurden. Leider glückte es in den folgenden Jahren nicht immer, für diese Stipendien ausreichend qualifizierte Bewerber zu finden. Insgesamt kamen bisher nur neun nichtweiße Südafrikaner in den Genuß unserer Stipendien.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Nach Ihrer Antwort brauche ich die Frage fast nicht zu stellen; ich muß das aber in eine Frage kleiden: Ist dem Auswärtigen Amt bekannt, daß das Zahlenverhältnis eigentlich 8 Weiße zu 38 Nichtweißen ist?
Frau Abgeordnete, selbstverständlich sind uns diese Zahlenverhältnisse sehr genau bekannt. Nur glaube ich, es ging aus meiner Antwort schon hervor, daß ja Stipendien an die Bedingung der Qualifikation geknüpft werden. Ob die Qualifikation wiederum erworben werden kann, hängt von den Verhältnissen in dem jeweiligen Land ab, aus dem die Stipendiaten kommen. Auf diese Möglichkeit, die Qualifikation zu erwerben — das hat ja nichts mit der ursprünglichen Begabung zu tun, sondern beispielsweise mit der Schulmöglichkeit —, hat die Bundesregierung selbstverständlich keinen Einfluß, so daß sich hier der Kreis sehr schnell schließt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arndt.
Herr Staatssekretär, läßt es sich nicht im Hinblick auf Art. 3 unseres Grundgesetzes überhaupt vermeiden, daß die Bundesrepublik durch die Festlegung von zahlenmäßigen Quoten die Bürger der Südafrikanischen Republik in verschiedene Kategorien einteilt?
Herr Abgeordneter, dies ist keine Frage, die etwa so gesehen werden müßte, daß die Bundesregierung und auch das Parlament, das ja solche Abmachungen gekannt hat und in diesem Falle auch ratifiziert hat, hier Art. 3 des Grundgesetzes etwa nicht respektieren wollten und könnten. Es handelt sich hier vielmehr um eine Regelung, in bezug auf die geradezu ein Zwang zur Berücksichtigung besteht. In den internationalen Beziehungen. ist die Bundesregierung natürlich darauf angewiesen, sich bei der Zusammenarbeit mit einem anderen Land an die Regeln zu halten, die in diesem anderen Land gelten. Ob sie unserem Grundgesetz entsprechen oder nicht, obliegt dabei nicht unserer Beurteilung oder auch Entscheidung.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 116 des Abgeordneten Werner auf:
Hält die Bundesregierung die zweimal im Jahr stattfindenden Außenministertreffen der europäischen Gemeinschaften für ausreichend, um zu einer konkreten Gemeinsamkeit in wichtigen außenpolitischen Fragen der Gemeinschaft zu gelangen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, ich möchte die Fragen 116 und 117 im Zusammenhang beantworten.
Bitte sehr! Dann rufe ich noch die Frage 117 des Abgeordneten Werner auf:
Welche Gebiete möglicher europäischer Außenpolitik betrachtet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang als vorrangig?
Zunächst möchte ich feststellen, Herr Abgeordneter, daß für die Treffen der Außenminister der Gemeinschaftsstaaten im Luxemburger Bericht, der die Grundlage ihrer politischen Zusammenarbeit darstellt, nur eine Mindestzahl, nämlich zwei Treffen pro Jahr, genannt wird. Die Möglichkeit weiterer Treffen ist ausdrücklich vorgesehen, vor allem dann, wenn die internationale Situation dies erforderlich macht. Auch die Bundesregierung würde häufigere Zusammenkünfte der Außenminister begrüßen. Der Bundesaußenminister hat in Rom einen Vorschlag in dieser Richtung gemacht. Die Außenministertreffen sollten im Rahmen ,der politischen Zusammenarbeit aber auch nicht isoliert betrachtet werden. Bekanntlich sind sie nur ein Teil des gesamten Mechanismus qualifizierter Konsultationen, die übrigens häufiger, als ursprünglich vorgesehen, auf mehreren Ebenen — ich nenne hier nur das Politische Komitee, Arbeitsgruppen, Missionen in Drittstaaten — stattfinden.
Das aus den Leitern der politischen Abteilungen der Außenministerien bestehende Politische Komitee, das gemäß dem Luxemburger Bericht grundsätzlich nur alle drei Monate zusammentreten soll, hat bereits im ersten Jahr, in dem diese Vereinbarung galt, im Jahre 1971, mehr als doppelt so oft getagt.
Die Zusammenarbeit auf all diesen Ebenen stellt einen Weg dar, um zu der konkreten Gemeinsamkeit zu gelangen, die in Ihrer Frage angesprochen wird.
Was Ihre zweite Frage betrifft, so gibt es gemäß dem Luxemburger Bericht Konsultationen über alle wichtigen Fragen der Außenpolitik. Wir sind der Meinung, daß sich hier vor allem Gebiete eignen, bei denen sich die Partner konkret und in vergleich-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1971 8953
Parlamentarischer Staatssekretär Moersch
barer Weise angesprochen fühlen. Das gilt z. B. für bestimmte, die Gemeinschaftsländer besonders berührende Aspekte einer Konferenz für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Hier konnten im bisherigen Verlauf der Konsultationen bereits wichtige Ergebnisse und Übereinstimmungen erzielt werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Werner.
Herr Staatssekretär, ist es bei der Fülle der Themen, die bei diesen Besprechungen behandelt werden, überhaupt möglich, zu konkreten Ergebnissen zu kommen?
Das ist in der Tat möglich. Auf Grund der Kritik an solchen konkreten Ergebnissen in diesem Parlament haben Sie sicherlich auch schon feststellen können, daß das möglich ist.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Werner.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nach den bisherigen Verhandlungen der Außenminister über den Punkt, den Sie eben genannt haben — ich meine die europäische Sicherheitskonferenz für möglich, daß die Europäer auf einer solchen Konferenz mit einer Stimme sprechen?
Herr Abgeordneter, ich halte es für wünschenswert, daß die europäischen Staaten auf einer solchen Konferenz — dazu ist natürlich eine gründliche Vorbereitung und Abstimmung ihrer Interessen nötig — zu ganz bestimmten Themen sozusagen einen Gesprächsführer haben. Es wird immer Differenzierungen dabei geben. Es ist die Frage, ob es im Interesse Gesamteuropas wäre, wenn man hier einen Mechanismus strenger Art einführte. Sie können aber davon ausgehen, daß es wichtige Gebiete gibt, die einfach durch die Arbeitsteilung in der Vorbereitung einem Land besonders obliegen. In der bisherigen Praxis hat sich ja folgendes System herausgebildet. Es wird jeweils ein Mitglied des Komitees bzw. ein Ministerium mit der Vorbereitung des Materials und mit der Federführung zu ganz bestimmten Themenbereichen beauftragt. Das, was für die Vorbereitung gilt, mag später schließlich auch einmal in der Anwendung gegenüber Dritten zur Geltung kommen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Werner.
Wenn Sie das für möglich halten, Herr Staatssekretär, halten Sie es dann auch für möglich, daß unsere besonderen Belange in diese Übereinstimmung überführt werden?
Selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Es ist ja der Sinn dieser Zusammenarbeit, daß auch unsere Interessen und Belange dabei genügend zur Geltung kommen. Es ist doch erfreulich, festzustellen, daß bei der konkreten Behandlung von Sachfragen die Interessen der europäischen Staaten, die hier zusammenarbeiten, viel weniger weit auseinanderliegen, als es in der Öffentlichkeit früher gelegentlich den Anschein hatte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, zum zweiten Teil, zur Frage 117 kommend, möchte ich die Frage stellen: inwieweit befürwortet die Bundesregierung Schritte zu einer Zusammenarbeit zwischen EWG und WEU zu kommen, wie sie in der letzten Woche besonders diskutiert wurde?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat mit großem Interesse den Bericht zur Kenntnis genommen, den Lord Gladwyn für das WEU-Parlament erstellt hat. Sie ist über ihre Ansichten hierzu befragt worden. Ich bin im Augenblick nicht in der Lage, hier eine definitive Antwort zu geben; ich halte sie im gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht für notwendig. Man sollte durch die Erweiterung der Gemeinschaft erst sozusagen eine gewisse praktische Erfahrung mit dieser Zusammenarbeit gewinnen. Prinzipiell ist die Bundesregierung der Meinung, daß eine Vereinfachung dieser neuen Gremien auch aus arbeitstechnischen Gründen notwendig sein kann. Gleichwohl verkennt sie nicht, daß gerade in der Vielfalt, die aus der unterschiedlichen Entwicklung resultiert, eine Chance für die Lösung von Problemen bestehen könnte, die man bei einem abgegrenzten und unter Umständen vereinfachten Mechanismus aus rein formalen Gründen gar nicht in Angriff nehmen
könnte.
Ich persönlich bin ein großer Freund einer pragmatischen Lebensweise auf diesem Gebiet und kein Anhänger einer allzu starken Institutionalisierung, weil man sich damit selber möglicherweise Hürden schafft, die man sonst gar nicht hätte.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Städtebau und Wohnungswesen. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Ravens zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 71 des Abgeordneten Bredl auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
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Vizepräsident Dr. Jaeger
Ich rufe die Fragen 72 und 73 des Abgeordneten Meister auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 74 des Herrn Abgeordneten Erpenbeck auf:
Teilt die Bundesregierung die in dem Leitartikel des vom Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen herausgegebenen Bundesbaublatts vertretene Auffassung, daß die im Städtebauförderungsgesetz festgelegte Privatisierungspflicht zugunsten von weiten Kreisen der Bevölkerung „eine christliche Illusion" bleiben wird?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Der von Ihnen gemeinte Satz heißt wörtlich:
Und was die Privatisierung in Sanierungsgebieten angeht, so wird in einer Gemeinde, die ihre Sanierungsaufgabe ernst nimmt, die also ausreichende Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen, andere Maßnahmen für den Gemeinbedarf einschließlich durch Sport- und Grünanlagen in ihre Pläne aufnimmt, neben der Pflicht zur Reprivatisierung darüber hinaus die Streuung von Eigentum „in weiteste Kreise der Bevölkerung" wohl nur eine christliche Illusion bleiben.
In diesem Satz ist die Wendung „in weiteste Kreise der Bevölkerung" in Anführung gesetzt. Es ist unzweideutig, daß der Kommentator es bezweifelt, daß bei voller Ausschöpfung der im § 25 Abs. 1 des Städtebauförderungsgesetzes fixierten Ausnahmen von der Privatisierungsverpflichtung, nämlich Grundstücke, die für den Gemeinbedarf oder als Verkehrs-, Versorgungs- oder Grünflächen benutzt werden, eine breite Streuung des Eigentums „in weiteste Kreise der Bevölkerung" über die Reprivatisierung hinaus noch möglich ist. Ob diese Meinung sich in der Praxis als richtig herausstellen wird, kann selbstverständlich nicht vorausgesagt werden. Es handelt sich aber zweifelsfrei um eine Meinung, die auch während der parlamentarischen Beratungen des Städtebauförderungsgesetzes von vielen Abgeordneten vorgetragen worden ist und die nicht unerlaubt sein kann.
Die Bundesregierung bedauert allerdings den Ausdruck „christliche Illusion". Mein Minister hat dies gegenüber dem Verfasser nachdrücklich zum Ausdruck gebracht.
Im übrigen darf ich erneut daran erinnern, daß nach dem Impressum des Bundesbaublattes gezeichnete Beiträge die Auffassung des Verfassers und nicht der Herausgeber darstellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Erpenbeck.
Herr Staatssekretär, ich hatte gefragt, ob die Bundesregierung die Meinung des Verfassers teilt. Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß sich die Bundesregierung nicht vom Grundsatz der Förderung der Eigentumsbildung für
breite Kreise der Bevölkerung, den ja auch die Koalition beim Städtebauförderungsgesetz einstimmig gebilligt hat, entfernen will?
Sie können davon ausgehen, daß die Bundesregierung sich nicht davon entfernen will. Hier geht es einfach um die Frage, ob nach der Reprivatisierung und nach einer ausreichenden Versorgung mit Flächen, die notwendig sind, um Schulen, Kindergärten, Spielplätze und andere Dinge zu schaffen, noch die Streuung von Eigentum für breiteste Schichten der Bevölkerung übrigbleibt. Diese Frage wird sich jeweils nur im Einzelfall behandeln lassen. Sie hat ja bei der Debatte im Parlament eine sehr große Rolle gespielt.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Erpenbeck.
Herr Staatssekretär, es ist doch unzweifelhaft, daß das Städtebauförderungsgesetz diese Bestimmung enthält. Wird es dann nicht doch wohl als schlechter Stil empfunden, wenn jetzt ausgerechnet ein Mitarbeiter des Hauses, dessen Minister federführend für dieses Gesetz war, von einer gesetzlichen Bestimmung als „christlicher Illusion" spricht?
Ich habe darauf hingewiesen, Herr Kollege Erpenbeck, daß erstens diese Artikel, die namentlich gezeichnet sind, in unserem Hause nicht zensiert werden und daß zweitens mein Minister den Ausdruck „christliche Illusion" als unpassend gegenüber dem Verfasser ausdrücklich zurückgewiesen hat.
Ich komme zu Frage 75 des Abgeordneten Erpenbeck:
Ist diese Äußerung von einem Angehörigen des Ministeriums mit Billigung des Bundesministers abgegeben worden, und bedeutet sie nicht eine Aufforderung an die Gemeinden zu gesetzwidrigem Verhalten?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen nimmt als Mitherausgeber des Bundesbaublatts keinen Einfluß auf die Redaktionsführung. Sie obliegt dem Chefredakteur. Dieser wird, wie Sie wissen, vertragsgemäß vom Verlag der Zeitschrift eingestellt und ist unverändert seit November 1962 im Amt. Er ist in keiner Weise gehalten, Beiträge des Blattes vom Bundesminister selbst billigen zu lassen.
Eine Aufforderung an die Gemeinden zu gesetzwidrigem Verhalten kann in der kritisierten Äußerung nicht gesehen werden, da das Gesetz selbst die bereits geschilderten Ausnahmen bei der Privatisierung vorsieht. Es könnte vielmehr umgekehrt als gesetzwidrig angesehen werden, wenn eine Ge-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Freitag, den 3. Dezember 1971 8955
Parlamentarischer Staatssekretär Ravens
meinde nicht ausreichende Flächen für Gemeinbedarf, Verkehrs-, Versorgungs- und Grünflächen im Bebauungsplan festsetzt, da das Fehlen der Ausstattung mit Grünflächen, Spiel- und Sportstätten und mit Anlagen des Gemeinbedarfs nach § 3 Abs. 3 Nr. 2 c des Städtebauförderungsgesetzes die Funktionsfähigkeit des Gebiets erheblich beeinträchtigt und deshalb erneut zu städtebaulichen Mißständen nach § 3 führen müßte.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Erpenbeck.
Herr Staatssekretär, ist Ihr Haus bereit, dem Mitarbeiter Ihres Hauses, der hier seine Artikel nicht vorher zensieren läßt, doch die Meinung des Ministeriums, so wie Sie sie eben zum Ausdruck gebracht haben, zur Kenntnis zu bringen, damit man nicht später erneut auf solche Meinungen im Bundesbaublatt stößt?
Herr Kollege Erpenbeck, dies will ich nicht. Ich bin nicht bereit, Verfassern von Artikeln im Bundesbaublatt beizubiegen, wenn Sie so wollen, um nicht zu sagen: zensurmäßig vorgreifend zu erklären, welche Richtung ich in ihren Namensartikeln wünsche. Diese Entscheidung hat ausschließlich der Verfasser für sich zu treffen, soweit es sich nicht um den amtlichen Teil des Bundesbaublatts handelt. Ich bin jedoch bereit — und habe dies getan —, den Chefredakteur — der nicht der Partei angehört, der ich angehöre, um das in Klammern zu sagen darauf hinzuweisen, daß er für Stil in diesem Blatt sorgen möge.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Erpenbeck.
Herr Staatssekretär, sind Sie oder Ihr Haus bereit, Ihrem Mitarbeiter den Inhalt des § 25 des Städtebauförderungsgesetzes deutlich vor Augen zu führen?
Dieser Paragraph ist den Mitarbeitern meines Hauses bekannt.
Keine weitere Zusatzfrage. — Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir stehen am Ende der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Dezember, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.