Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Die folgenen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat am 27. April 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Miltner, Dr Jenninger, Biechele, Baier, Susset, Dr. Schwörer, Adorno, Schulte , Dr. Wörner, Frau Griesinger und Genossen betr. Wirtschaftsförderung des Bundes — Drucksache VI/2069 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/2128 verteilt.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 28. April 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hussing, Dr. Rinsche, Pfeifer, Krampe, Müller , Zink, Dr. Böhme, Frau Dr. Wolf und Genossen betr. Ankunft der ausländischen Arbeitnehmer auf den Transportleitstellen der Deutschen Bundesbahn in der Bundesrepublik Deutschland — Drucksache VI/2082 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/2129 verteilt.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
EWG-Vorlagen
Verordnung des Rates zur Änderung der durch die Verordnung Nr. 121/67 über die gemeinsame Marktorganisation für Schweinefleisch vorgesehenen Interventionsregelung
— Drucksache VI/2084 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Durchführung koordinierter, jährlicher Erhebungen über die Tätigkeit der Industrie
— Drucksache VI/2085 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Änderung der Bestimmungen und des Verfahrens für die Erhebung der Steuer zugunsten der Europäischen Gemeinschaf ten
— Drucksache VI/2123 —
überwiesen an den Finanzausschuß , Innenausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates betreffend die Änderung der Verordnung Nr. 766/68 zur Aufstellung allgemeiner Regeln für die Erstattungen bei der Ausfuhr auf dem Zuckersektor in bezug auf die Berichtigung der Erstattung
— Drucksache VI/2124 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung Nr. 776/71 des Rates vom 14. April
1971 über allgemeine Regeln für die Destillation von Tafelwein in der Zeit vom 19. April 1971 bis zum 3. Juni 1971
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Berichterstattung innerhalb eines Monats, wenn im Ausschuß Bedenken gegen den Vorschlag erhoben werden
Punkt 1 der Tagesordnung: Fragestunde
— Drucksache VI/2113 —
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Die Fragen 99 und 100 der Frau Abgeordneten Renger sind zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 101 der Frau Abgeordneten Brauksiepe auf:
Besteht die Möglichkeit, einen Einkommensvergleich der Ortskräfte an den Deutschen Schulen in Madrid und Barcelona — getrennt nach Grundgehalt und zusätzlichen Zuwendungen — herbeizuführen und im Falle unterschiedlicher Besoldung festzustellen, welche Gegebenheiten zu abweichenden Regelungen geführt haben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Ein Vergleich der Einkommen der einzelnen Ortskräfte an den Deutschen Schulen in Madrid und Barcelona wäre nicht sinnvoll, da die Höhe des Gehalts von verschiedenen Faktoren z. B. abgelegte Examina, Dienstalter, Wochenstundenzahl und Familienstand — abhängig ist, die von den Schulvereinen in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden.
Es ist dem Auswärtigen Amt bekannt, daß Aufwendungen für Ortskräfte, bezogen auf die Lehrerwochenstunden, in Barcelona etwa 15 bis 20 % höher sind als in Madrid. Die Gründe, die zu einer unterschiedlichen Regelung der Bezahlung der Ortskräfte geführt haben, liegen vor allem in der Autonomie der Schulvereine. Die Deutschen Schulen in Madrid und Barcelona sind als Privatschulen Institutionen spanischen Rechts, die nach den gesetzlichen Bestimmungen des Landes bei der Festlegung der Gehälter weitgehend frei sind.
Herr Präsident, darf ich die Frage 102 gleich mit beantworten?
Ja. Dann rufe ich die Frage 102 der Frau Abgeordneten Brauksiepe auf:
Kann die Deutsche Botschaft in Madrid aufgefordert werden, eine Angleichung der Einkommen in Verhandlungen mit dem Schulvorstand herbeizuführen?
Das Auswärtige Amt hat in diesen Tagen einem Antrag der Deut-
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6844 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschschen Schule Madrid vom 3. April 1971 auf Erhöhung der Ortskräftegehälter um 15 0/0 zugestimmt. Damit wird künftig eine Angleichung der Aufwendungen zwischen den Ortskräften in Madrid und Barcelona erreicht.
Keine Zusatzfrage? — Dann komme ich zur Frage 103 des Abgeordneten Freiherr von Fircks:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die polnische Militärmission in West-Berlin die Erteilung von Besucherreisevisen an Bundesbürger und Westberliner z. T. ablehnt, wenn im deutschen Reisepaß der Geburtsort des Antragstellers auch bei vor 1945 geborenen Personen in Übereinstimmung mit der Geburtsurkunde in der deutschen Ortsbezeichnung eingetragen ist, und welche geeigneten Schritte zur Abhilfe wird die Bundesregierung ggf. unternehmen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Der Bundesregierung ist bekannt, daß in der Vergangenheit derartige Schwierigkeiten aufgetreten sind. Inzwischen soll die Ortsbezeichnung maßgebend sein, wie sie sich aus der Geburtsurkunde ergibt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß eine Reisende, die mehrfach ihr Visum bekommen hat, unter Vorlage ihres Ausweises, in dem „Hindenburg" als Geburtsort verzeichnet war, jetzt einen ablehnenden Bescheid bekommen hat, mit dem Hinweis, daß nach einem neuen Gesetz, das in diesem Jahr erlassen worden sei — also nach den Verhandlungen über den Vertrag —, die polnische Militärmission in Berlin sich außerstande gesehen habe, ebenso zu verfahren wie in früherer Zeit? Es ist also jetzt eine Erschwernis eingetreten.
Herr Abgeordneter, der von Ihnen hier geschilderte Fall ist mir in dieser Form nicht bekannt. Ich wäre allerdings gerne bereit, dem nachzugehen. Mir ist aber bekannt, daß tatsächlich gerade der Fall Hindenburg/ Zabrze als Sonderproblem betrachtet wird und daß hier zweifellos auch nach polnischer Auffassung immer ein Sonderproblem vorgelegen hat. Dies ist insofern nicht neu.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, würden Sie diesen Fall zum Anlaß nehmen, das ganze seit etwa einem halben Jahr eingeführte Verfahren der Besuchsreisen und der Visen über die Organisation „Darpol" einer klaren Durchleuchtung zu unterwerfen?
Herr Abgeordneter, ich glaube nicht, daß ein Einzelfall, der bisher nicht einmal auf amtliche Weise bekanntgeworden
ist, Anlaß ist, nun ein Verfahren völlig zu ändern, das sich in den vergangenen Jahren durch Gespräche, die wir selbst geführt haben, im allgemeinen durchaus gebessert hatte. Daß es auf der anderen Seite Beamte geben mag, die hier nicht sehr großzügig verfahren, ist bekannt, aber wir hatten vor längerer Zeit eine Regelung gefunden, die jedenfalls — im Gegensatz zu früheren Zeiten — keinen Anlaß mehr zu speziellen Klagen gegeben hat.
Ich bin aber gerne bereit, die Frage einmal zu prüfen, ob hier die Notwendigkeit einer erneuten Intervention gegeben ist.
Ich komme zur Frage 104 des Abgeordneten Dr. Marx :
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassungen, die der stellvertretende polnische Außenminister Willmann in einem Interview mit der kommunistischen Zeitschrift „Unsere Zeit" am 3. April 1971 vertreten hat, und insbesondere seine Behauptung, daß aus dem unzweideutigen Text des deutsch-polnischen Vertrages hervorgehe, „daß die Bundesregierung nur im Namen eines imaginären Deutschland spricht und handelt"?
Herr Präsident, ich darf zunächst kurz eine Vorbemerkung zu den nachfolgenden Fragen machen. Diese Fragen beziehen sich auf eine Veröffentlichung im Organ der Deutschen Kommunistischen Partei. Es ist unverkennbar, daß es sich bei dieser Veröffentlichung um eine tendenziöse Darstellung handelt. Wir haben einen gewissen Grund zu der Annahme, daß die polnische Seite die Darstellung im Organ der DKP nicht als eine authentische Wiedergabe polnischer Auffassungen betrachtet. Und ich darf hinzufügen, für die Bundesregierung sind insbesondere die amtlichen polnischen Erklärungen maßgebend, die unmittelbar ihr gegenüber abgegeben werden.
Damit komme ich zur Frage 104 von Herrn Abgeordneten Dr. Marx. Herr Kollege, das von Ihnen angeführte Zitat ist offensichtlich widersinnig. Wenn es die zutreffende Wiedergabe einer Äußerung des stellvertretenden polnischen Außenministers sein sollte, müßte man sich in der Tat fragen, wieso dann die polnische Regierung überhaupt einen Vertrag mit der Bundesregierung geschlossen hat.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben angedeutet, daß es sich hier offenbar um eine nicht korrekte Wiedergabe handelt, Welche Schritte haben Sie unternommen, um festzustellen, ob der stellvertretende polnische Außenminister diese Äußerungen so, wie sie hier teilweise in indirekter Rede, teilweise als Zitat wiedergegeben sind, gemacht hat oder ob es sich um eine Mystifikation handelt?
Herr Abgeordneter, es ist an sich nicht üblich, daß man Äußerungen, die in einem Organ der DKP erschienen sind, bei einer fremden Regierung im einzelnen verifiziert
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6845
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschund sozusagen eine authentische Interpretation erbittet.Wir haben aber durch bestimmte Kontakte Gelegenheit gehabt, festzustellen, daß die polnische Seite doch offensichtlich ein wenig überrascht über eine Art der Wiedergabe gewesen ist, die offenbar von ihrer Seite so nicht ins Auge gefaßt worden war.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, da wir uns ja nicht die Quellen aussuchen können, in denen andere agieren, möchte ich noch einmal auf die letzte Zeile meiner schriftlich eingereichten Frage zurückkommen, wo es heißt, die Bundesregierung spreche nur im Namen eines „imaginären Deutschland". Meine Frage dazu lautet: Ist die Bundesregierung bereit, Äußerungen dieser Art, die wiederholt in den letzten Monaten in Organen nicht nur der polnischen Presse aufgetreten sind, zurückzuweisen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat das dort getan, wo immer es ihr notwendig erschien. Und es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß unsere Gesprächspartner über den Standpunkt der Bundesregierung, für wen sie spreche, nicht im unklaren gelassen worden sind und auch weiterhin nicht im unklaren gelassen werden.
Herr Abgeordneter Breidbach zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie dargelegt haben, Sie hätten Grund zu der Annahme, daß die Wiedergabe dieses Gesprächs des polnischen Außenministers mit der Zeitschrift „Unsere Zeit" unter Umständen nicht dem tatsächlichen Gesprächsverlauf entsprechen könnte, frage ich Sie: Wie könnten Sie in Konkretisierung Ihrer Antwort das, was Sie als „Grund zu der Annahme" bezeichnet haben, noch etwas näher präzisieren?
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß ich mich deutlich ausgedrückt habe. Ich habe auch gesagt — ich verweise darauf —, daß für die Bundesregierung die amtlichen Äußerungen der polnischen Seite maßgebend sind, die ihr gegenüber abgegeben werden. Ich halte es nicht für ein sinnvolles Verfahren, eine Zeitung der DKP, die sonst in diesem Hause nicht unbedingt als seriöse Quelle angesehen wird, wenn ich mich recht entsinne,
zum Gegenstand diplomatischer Aktionen zu machen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht auch für merkwürdig, daß die Opposition den Bemühungen der DKP, im trüben zu fischen, mehr Authentizität verleiht, als ihnen eigentlich zukommt?
Herr Abgeordneter, es ist nicht meine Aufgabe, hier irgendwelche Wertungen vorzunehmen, aber ich habe die schriftlich eingereichten Fragen eigentlich nicht in dem Sinne verstanden, der möglicherweise durch die Zusatzfragen jetzt bei Ihnen als Eindruck enstanden ist.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, Sie sagten dem Kollegen Marx soeben, Sie hätten es überall dort zurückgewiesen, wo es Ihnen als notwendig erschienen sei. Könnten Sie durch Ihr Haus veranlassen, daß uns dazu Quellenangaben gemacht werden?
Herr Abgeordneter, ich glaube, aus Ihrer Frage ein in der Praxis überhaupt nicht begründetes Mißtrauen gegenüber den Organen der Bundesregierung herauszuhören.
Ich bin der Meinung, daß es unangebracht ist, die Politik der Bundesregierung in dieser Weise in Zweifel zu ziehen.
Es ist in der Vergangenheit wie in der Gegenwart immer die Aufgabe der dafür zuständigen Beamten gewesen, die Gelegenheiten zu nutzen, die auf diplomatischem Wege gegeben sind, um unseren Standpunkt zu vertreten. Wenn Sie den deutschen Interessen dienen wollen, kann ich Ihnen in diesen Fragen nur Behutsamkeit gepaart mit Festigkeit empfehlen.
Das ist die Art, wie die Bundesregierung das zu regeln pflegt.
Wir kommen zur nächsten Frage des Abgeordneten Dr. Marx, Frage 105:Bedeutet nach Auffassung der Bundesregierung die Meinung des stellvertretenden polnischen Außenministers Willmann „aber wir werden nicht gestatten, daß unter dein Schlagwort Familienzusammenführung bei uns eine Abwerbung von Arbeitskräften betrieben wird", daß die in Polen bisher nicht veröffentlichte „Information der Regierung der Volksrepublik Polen . . . über Maßnahmen zur Lösung humanitärer Probleme" von polnischer Seite restriktiv ausgelegt wird?
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6846 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Die Antwort lautet nein. Diese wiedergegebene Äußerung nimmt offensichtlich Bezug auf die am 12. November 1970 veröffentlichte „Information" der polnischen Regierung, in der es heißt:
Sie
— die polnische Regierung —
war und ist jedoch nicht damit einverstanden, daß ihre positive Haltung in der Frage der Familienzusammenführung für eine Emigration zu Erwerbszwecken von Personen polnischer Nationalität ausgenutzt wird.
Herr Abgeordneter Marx zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stimmen Ihre Beobachtungen mit den unseren überein, daß sich in den letzten Wochen in polnischen Presseorganen Kommentare, Nachrichten und Beurteilungen häufen, die den Gedanken, der in der zweiten Frage wiedergegeben ist, in einer noch breiteren Weise als amtliche polnische Befürchtung deutlich machen?
Herr Abgeordneter, ich hatte aus gewissen Presseveröffentlichungen den Eindruck, daß die Entwicklung, die nach dem Gespräch mit Warschau eingetreten war, die ) auch ganz andere Komponenten hatte, vielleicht nicht in allen Teilen so vorausgesehen worden ist, so z. B. der Andrang der Antragsteller in bestimmten Bereichen. Wir haben darüber aber keine authentischen Nachrichten, weil wir auch nicht die nötigen normalen Beziehungen haben. Ich würde es bedauern, wenn hier eine Änderung der Gesamthaltung einträte, aber ich glaube, wir müssen den weiteren Verlauf abwarten, um sagen zu können, ob solche Befürchtungen, die man vielleicht aus Presseberichten herauslesen könnte, tatsächlich und langfristig begründet sind.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schäfer.
Herr Staatssekretär, nachdem ,die Durchführung der Familienzusammenführung vom Präsidium des Polnischen Roten Kreuzes und vom Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes im Detail festgelegt wird, können Sie uns darüber etwas sagen, wie der Stand der Beratungen ist? Soweit ich gehört habe, wird in diesen Tagen eine neue Runde der Verhandlungen eröffnet,
Herr Abgeordneter, das ist zutreffend. Ich glaube, gerade aus diesem Grunde ist die Abgabe einer Art von Zwischenurteil in der Sache nicht angebracht. Sie könnte jedenfalls den Interessen der Betroffenen nicht sehr dienlich sein. Die Bundesregierung beobachtet diese
Entwicklung natürlich mit großer Aufmerksamkeit. Ich darf Ihnen nur sagen, daß wir von Januar bis Mitte April dieses Jahres immerhin 6500 Umsiedler gehabt haben, die aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind und daß diese Zahl die Gesamtzahl des Jahres 1970 übertrifft und den Durchschnittszahlen der meisten Vorjahre entspricht. Die Zahl ist also gewachsen, seit uns die „Information" der polnischen Regierung gegeben worden ist.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Czaja.
Würden Sie, Herr Staatssekretär, zusätzlich zu den Pressemeldungen auch die zahlreichen individuellen Briefe überprüfen lassen, die davon zeugen, daß in Massenversammlungen unter Teilnahme auch schlesischer Parlamentarier die Deutschen unter Druck gesetzt werden sollen, nicht auszureisen, und die Briefe, die davon zeugen, daß selbst Personen, die zwölf- und fünfzehnmal Anträge auf Ausreise gestellt haben, abgewiesen werden? Würden Sie bereit sein, im Sinne der unlängst auf Grund einer Kleinen Anfrage von der Bundesregierung bestätigten Vertretungspflicht für diese deutschen Staatsangehörigen auf internationaler Ebene das Menschenmöglichste zu tun, um die Einhaltung der „Information" zu erreichen und, wenn dies nicht möglich ist und Polen den Verbleib der Personen wünscht, Polen doch nahezulegen, die menschlichen, kulturellen und sprachlichen Rechte der Leute zu sichern?
Herr Abgeordneter, ich darf zum ersten Teil Ihrer Frage sagen, daß die Bundesregierung alle Briefe, die sie bekommt, hier sorgfältig behandelt und auch auf ihren Gehalt nachprüft. Ich selbst konnte in mehreren Fällen feststellen, daß in solchen Briefen auch durchaus subjektive Meinungen vertreten werden und daß nicht jede Behauptung in solchen Briefen ohne weiteres bereits als feststehende Tatsache unterstellt werden kann. Das ist in der Situation der Menschen durchaus verständlich.
Was die übrigen Bemühungen der Bundesregierung betrifft, so brauche ich mich hier nicht zu wiederholen; das ist genügend dargelegt worden. Ich möchte aber die Gelegenheit Ihrer Frage nutzen, zu sagen, daß alle Bemühungen, den Interessen der betroffenen Menschen gerecht zu werden, vom Parlament, von der Öffentlichkeit und nicht zuletzt von Interessengruppen am besten dadurch unterstützt werden, daß sie sich in der Behandlung dieser Frage in der Öffentlichkeit die Zurückhaltung auferlegen, die den Interessen der Menschen entspricht.
Keine Zusatzfrage mehr.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6847
Vizepräsident Dr. JaegerIch rufe die Frage 106 des Abgeordneten Reddemann auf:Was bedeutet konkret, im Sinne der sowjetischen und polnischen Interpretation der Ostverträge, die Behauptung des polnischen stellvertretenden Außenministers Willmann, daß die praktischen Konsequenzen des deutsch-polnischen Vertrages „Änderungen in der Gesetzgebung, und das betrifft solche Gesetze, die nicht mit dein Vertrag im Einklang stehen" erforderten ?
Herr Präsident, ich beantworte die Frage wie folgt. Die deutsche Gesetzgebung ist eine innere Angelegenheit der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist nicht Gegenstand des Warschauer und des Moskauer Vertrages. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, die sowjetischpolnische Interpretation der Ostverträge, wie es hier heißt, in diesem Zusammenhang meinerseits namens der Bundesregierung zu interpretieren.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Reddemann.
Herr Staatssekretär, können Sie denn mitteilen, ob nach sowjetischer oder polnischer Ansicht tatsächlich Änderungen unserer Gesetzgebung verlangt werden oder ob es sich hier wirklich nur um eine Mystifikation des DKP-Blattes handelt?
Herr Abgeordneter, ich habe hier die Antwort auf Ihre Frage gegeben. Ich werde dieser Antwort nichts hinzufügen. Sie werden im übrigen Gelegenheit haben, in der Ratifikationsdebatte in den Ausschußberatungen diese Fragen sehr sorgfältig im einzelnen zu prüfen.
— Was heißt „Ei! Ei!"? Das ist so üblich. — Sie werden dort die Rechtsfragen im einzelnen zu prüfen haben. Ich lehne es ab, hier eine vorweggenommene Ratifikationsdebatte in Einzelfragen zu führen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Reddemann.
Herr Staatssekretär, wenn diese Antwort einen Sinn haben kann, dürfte sie dann nicht den haben, daß tatsächlich von sowjetischer und polnischer Seite entsprechend Änderungen verlangt werden?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat hier, wie ich eben wiederholt habe, deutlich gemacht — und nicht nur heute -, daß die deutsche Gesetzgebung eine innere Angelegenheit ist und niemals Vertragsgegenstand in dieser Form sein kann. Ich glaube, daß Ihre Frage damit gegenstandslos ist.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Baron von Wrangel.
Herr Staatssekretär, Sie sagten eben, daß Sie sich nicht in der Lage sähen zu interpretieren. Irre ich mich, wenn ich hier nach zahlreichen Fragen feststelle, daß es eine gemeinsame Interpretation dieser Verträge durch die polnische und die Bundesregierung nicht gibt?
Sie irren sich, Herr Abgeordneter; denn ich habe hier deutlich gemacht, daß ich nicht die Absicht habe, jetzt eine vorweggenommene Ratifikationsdebatte zu führen. Das ist etwas anderes, als daß ich nicht in der Lage wäre, hier diese Dinge im einzelnen darzulegen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schäfer.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht angemessen, die Herren Abgeordneten Reddemann und von Wrangel nochmals auf Ihre Vorbemerkung hinzuweisen?
Herr Abgeordneter, selbstverständlich hat jeder das Recht, hier Zusatzfragen zu stellen. Aber die Bundesregierung hat das Recht, die Antwort zu geben, die sie für der Sache dienlich hält. Das ist ebenfalls in der Geschäftsordnung festgelegt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht bereit, einzusehen, daß es, wie ich glaube, die notwendige und der politischen Pflicht entsprechende Aufgabe jedes Abgeordneten in diesem Hause ist, auf ständige Einlassungen aus kommunistischen Staaten: Wenn ihr die Verträge unterschrieben habt, müßt ihr eine Reihe innerer Gesetze ändern, hier Fragen zu stellen und nicht zu hoffen, daß in irgendeiner Ratifikationsdebatte vielleicht darüber dann gesprochen werden kann?
Herr Abgeordneter, dazu zwei Feststellungen. Ich habe überhaupt nichts gegen die Fragestellung; damit wir uns recht verstehen. Wenn ich darauf verweise, daß dieser Zusammenhang, was unsere Rechtsprobleme betrifft, in einer Ratifikationsdebatte im einzelnen auf Grund dazugehöriger Materialien darzulegen ist, die wir bei der Begründung des Ratifikationsgeset-
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6848 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschzes mit vorlegen, dann bitte ich einfach um Verständnis dafür, daß es Aufgabe der Bundesregierung und auch ihre Pflicht ist, sich den Zeitpunkt für die Ratifikationsauseinandersetzung vorzubehalten, den sie aus politischen Gründen für richtig hält. Es ist das gute Recht der Opposition, die Dinge anders zu sehen. Aber es ist auch das Recht der Regierung, ihren Standpunkt zu vertreten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, können Sie bitte die Opposition darauf aufmerksam machen, daß wir nicht erst in der Ratifizierungsdebatte dazu zu sprechen haben werden,
sondern daß die Bundesregierung hier in diesem Hause hinsichtlich unserer Position zu diesem Vertrag wiederholt deutlich gemacht hat, daß sie nicht daran denkt, unsere freiheitlich demokratische Rechtsordnung durch diesen Vertrag irgendwie tangieren zu lassen, und daß damit auch deutlich wird, daß Aussagen dieser Art in einer kommunistischen Zeitung uns in unserer Auffassung überhaupt nicht berühren?
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß die ganze Diskussion darauf zurückzuführen ist, daß offensichtlich erhebliche höhere Erwartungen an die Möglichkeiten deutscher Politik von Abgeordneten der Opposition gestellt werden, als sie nach Lage der Dinge
in den letzten 25 Jahren jemals gestellt werden konnten. Ich kann mich nur darüber wundern, daß hier offensichtlich jetzt der Eindruck erweckt werden soll, als sei eine umfassende und perfekte Friedensregelung in diesem Europa jetzt überhaupt möglich. Dagegen war die Bundesregierung sehr viel bescheidener und — mit Recht -- immer der Meinung, es komme darauf an, einen Modus vivendi zu finden, der eben nur auf der Basis des territorialen Status quo zu finden ist.
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Erwartungshorizont der Opposition und dem, was die Regierung auf Grund ihrer Verantwortung für Realismus in der deutschen Politik hält.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, können wir im Anschluß an die Frage des Kollegen Apel hier gemeinsam in diesem Hause und mit der Bundesregierung feststellen, daß niemand in der Bundesrepublik, der in Verfassungsorganen ist, daran denkt, Initiativen auf Gesetzesänderungen auf ausländischen Druck zu vollziehen?
Herr Abgeordneter, ich halte diese Frage deswegen für abwegig, weil ich hoffe, daß Sie nicht unterstellen wollen, daß irgend jemand in dieser Bundesregierung seinen auf die Verfassung geleisteten Eid verletzen will.
Ich rufe die Frage 107 des Abgeordneten Petersen auf:
Versteht die Bundesregierung die „praktischen Konsequenzen" des deutsch-polnischen Vertrages ebenso wie der polnische stellvertretende Außenminister Willmann, der u. a. diese in einer „Neutralisierung und politischen Eliminierung" sogenannter „revanchistischer Kräfte und Organisationen" sieht ?
Die Antwort lautet nein. Die gesamten Formulierungen, die der Artikel dem polnischen stellvertretenden Außenminister zuschreibt, gehören weder zum Vokabular der Bundesregierung, noch entsprechen sie ihren sachlichen Vorstellungen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Petersen.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie dann mit mir darin überein, daß, obwohl in der gesamten kommunistischen Publizistik und Ostblockpublizistik der letzten Monate z. B. die Organisationen der Vertriebenen in der Bundesrepublik als revanchistische Organisationen diffamiert und bezeichnet werden, diese eine auf dem Bod en des Grundgesetzes stehende konstruktive Arbeit in diesem Staat leisten?
Herr Abgeordneter, Sie werden mir keine Antwort entlocken, die unter Umständen eine Pauschalamnestie für alle politischen Dummheiten in der Bundesrepublik enthält.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß man an eine kommunistische Parteizeitung höhere Anforderungen stellen sollte als an den „Bayernkurier"?
Herr Abgeordneter, ich will hier nur deutlich machen, daß ich unmöglich in einer allgemeinen Form alle möglichen deutschen Veröffentlichungen zur deutschen Frage, die ich zum Teil gar nicht kennen kann, hier pauschal als in Ordnung befindlich erklären kann. Ich
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6849
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschglaube, daß es eine Reihe von Veröffentlichungen gibt — —
— Das war der Sinn der Frage, entschuldigen Sie bitte.
— Dann war das ein Mißverständnis, tut mir leid.Aber ich will hinzufügen, Herr Abgeordneter, es gibt Sprecher der Vertriebenenverbände — ich erinnere an die Kundgebung in Bonn , die meiner Meinung nach den demokratischen Grundsätzen und den Grund- und Freiheitsrechten unserer Verfassung nicht gerecht werden.
Herr Abgeordneter Reddemann, zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
wollen Sie, da Sie alle politischen Dummheiten soeben in den Bereich der Vertriebenenverbände gerückt haben, diese Erklärung aufrechterhalten, oder wollen Sie nicht wenigstens versuchen, etwas von dieser Erklärung wieder herunterzukommen?
Herr Abgeordneter, Sie unterstellen bereits in Ihrer Frage wieder etwas, was ich hier angeblich gesagt haben soll. Ich erinnere mich nicht, daß ich es so gesagt habe, wie Sie gefragt haben. Gerade das veranlaßt mich, zu sagen, daß Sie hier im einzelnen Fragen stellen können, die ich dann im einzelnen beantworten kann, aber daß ich es ablehne, pauschal irgendwelche „Jagdscheine", wenn Sie so wollen auszuteilen.
Vizepräsident Dr> Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher.
Herr Staatssekretär, würden Sie bereit sein, hier zu sagen, welche Ausführungen bei der von Ihnen genannten Kundgebung des Bundes der Vertriebenen undemokratisch gewesen seien?
Herr Abgeordneter Becher, ich wäre gern bereit, Ihnen das im einzelnen einmal darzulegen. Ich habe, weil das ja eine Sache ist, die nicht unbedingt zu der ursprünglich gestellten Frage gehört, die Unterlagen nicht hier. Aber ich muß Ihnen sagen, daß mich vieles auf dieser Kundgebung — — Entschuldigen Sie bitte!
— Ach, hören Sie einmal, Herr Kiep, ich weiß das doch! Glauben Sie mir, ich habe ein ganz gutes Gedächtnis, wenn Sie Wünsche dazu haben.
Ich habe in diesem Hause unwidersprochen gesagt, daß mich vieles von dem, was dort gesagt worden ist, sehr unangenehm an das Vokabular der deutschnationalen Presse in der Weimarer Zeit erinnert, und dabei bleibe ich.
Ich habe in diesem Hause dazu aus den „Völkischen Blättern" des Jahres 1925 die Angriffe auf Stresemann zitiert. Ich darf in Erinnerung rufen, daß das im Zusammenhang mit dieser Kundgebung stand. Wenn Sie selbst kein Empfinden dafür haben, welche sprachlichen Ausrutscher dort geschehen sind, dann allerdings sind wir sehr verschiedener Meinung.
Ich kann nach den Richtlinien jedem Abgeordneten nur einmal das Wort zu einer Zusatzfrage geben.
Jetzt Herr Dr. Wagner.
Herr Staatssekretär, im Hinblick auf die Äußerungen des Herrn Kollegen Mertes betreffend den „Bayernkurier" möchte ich fragen: Wären Sie bereit, aus dem reichen Schatz Ihrer journalistischen Erfahrung dem Herrn Kollegen Mertes irgendwann in einer stillen Stunde in Form eines Nachhilfeunterrichts den Unterschied zwischen der Publikation einer totalitären kommunistischen Partei des Ostblocks und einer demokratischen Partei in der Bundesrepublik zu erläutern?
Ich wäre selbstverständlich bereit, Abgeordneten des Hauses Unterlagen darüber zuzustellen, wo und wann nach unserer Meinung die demokratischen Grund- und Freiheitsrechte in unzulässiger Weise mißbraucht worden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, würden Sie es nicht für gut halten, wenn Sie als Parlamentarischer Staatssekretär des Auswärtigen Amtes mit gutem Gedächtnis allgemeine Behauptungen über Aussagen aufstellen, diese dann auch wirklich präzis mit den entsprechenden Zitaten zu belegen?
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6850 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Ich bitte dem Herrn Staatssekretär die Möglichkeit zu einer Antwort zu geben.
Herr Abgeordneter, darf ich zurückfragen,
ob Sie bisher als Präsident des Bundes der Vertriebenen zu Transparenten Stellung genommen haben, in denen zum Mord und zum persönlichen Angriff auf den Bundeskanzler aufgefordert worden ist. Das ist doch die Frage, die Sie hier in die Debatte gebracht haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir sagen, was an den Kundgebungen der Heimatvertriebenen, wie Sie behauptet haben, undemokratisch gewesen ist?
Ja, ich habe Ihnen gesagt, daß mich die Beschimpfung von verantwortlichen Mitgliedern dieser Bundesregierung als Verzichtspolitiker und einige andere Vokabeln an den Kampf der Deutschnationalen, der Völkischen gegen die Weimarer Demokratie erinnern. Deswegen galube ich, daß es der Demokratie schadet, wenn mit den gleichen Vokabeln, mit denen Weimar kaputtgemacht worden ist, heute wieder agiert wird.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin gesagt, Sie seien bereit, allen Mitgliedern des Hauses eine Zusammenstellung jener von Ihnen offenbar als inkriminierend bezeichneten Äußerungen zukommen zu lassen. Ich teile meine Frage in zwei Teile. Erster Teil: Kann dies bis Mitte Mai geschehen? Zweiter Teil: Sind Sie dann auch bereit, jene Äußerungen sozialdemokratischer Politiker, die noch nicht vier Jahre alt sind, mit aufzunehmen, in denen expressis verbis gesagt worden ist: Verzicht ist Verrat?
Herr Abgeordneter, ich habe mich hier auf eine ganz bestimmte Kampagne bezogen.
— Herr Marx, Sie haben die Antwort ja noch gar nicht angehört; es tut mir leid.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, angesichts der Aufregung, die die Opposition und besonders den Kollegen Czaja ergriffen hat, möchte ich Sie fragen, ob Sie Verständnis dafür haben, daß ich mich an das Sprichwort erinnert fühle: Getroffene Hunde bellen?
Herr Abgeordneter, die Bezeichnung „Hund" für einen Abgeordneten ist unmöglich. Ich weise sie zurück.
Sie brauchen keine Antwort zu geben, Herr Staatssekretär!
Bitte sehr, Herr Dr. Geßner.
Herr Staatssekretär, finden Sie nicht auch, daß es von einer Krise der Opposition und damit auch des parlamentarischen Systems schlechthin zeugt, wenn diese Opposition nicht bereit ist, sich von Aussagen und Formulierungen zu .distanzieren, die eindeutig aus dem Vokabular der Deutschnationalen kommen?
Herr Abgeordneter, ich sehe es nicht als sehr sinnvoll an, auf Grund einer Frage, die einen ganz anderen Ausgangspunkt hatte, jetzt die Debatte darüber zu verlängern. Ich glaube, jeder hier im Hause hat seine Meinung darüber, und wir werden sicherlich die Meinung darüber in der Fragestunde nicht ändern.
Herr Abgeordneter von Wrangel!
Herr Staatssekretär, darf ich Sie nach den absolut unqualifizierten Fragen, die eben von seiten der SPD-Fraktion gestellt worden sind, jetzt in aller Form fragen, ob Sie der Meinung sind, daß der Bund der Vertriebenen auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Ordnung dieser Republik arbeitet.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6851
Herr Abgeordneter, ich teile die Antwort in zwei Teile. Der Bund der Vertriebenen hat in seiner Satzung Bestimmungen, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieses Staates entsprechen. Aber er hat auf seinen Kundgebungen, gebeten oder ungebeten, Helfer und Mitstreiter gefunden, die zweifellos anderer Meinung sind als wir Demokraten.
Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, wir entfernen uns immer mehr von der eigentlichen Frage.
Ich rufe nunmehr die Frage 108 des Abgeordneten Breidbach auf:
Wertet die Bundesregierung es als einen Beitrag zur Entspannung und Normalisierung, wenn der stellvertretende polnische Außenminister Willmann in einem Interview mit der DKP-Zeitung ,,Unsere Zeit" am 3. April 1971 sagt, „Kulturaustausch, Aufhebung der Visapflicht, Jugendwerk und dergleichen" seien „demagogische Vorschläge"?
Ich beantworte die Frage wie folgt. Niemand wird vernünftigerweise die genannten Zielsetzungen selbst als demagogisch qualifizieren. Soweit in dem Artikel unterstellt wird, diese Zielsetzungen seien in demagogischer Absicht vorgeschlagen worden, kann es nicht Sache der Bundesregierung sein, sich damit auseinanderzusetzen, wer hier wem was unterstellt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, da nicht nur in dem Artikel dieser Zeitung tendenziell ähnliche Äußerungen gestanden haben, sondern man ähnliches auch in anderen Zeitungen der Ostblockstaaten lesen kann, frage ich Sie, ob Sie in Anbetracht dieser Situation den von vielen Jugendverbänden in Deutschland unternommenen Versuch, einen besseren deutsch-polnischen Jugendaustausch einschließlich eines deutsch-polnischen Jugendwerks zu schaffen, weiterhin als realistisch betrachten würden.
Herr Abgeordneter, ich würde mich nicht durch eine Veröffentlichung im Organ der Deutschen Kommunistischen Partei von dem berechtigten Bemühen abhalten lassen, die Jugend Europas besser zusammenzuführen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung sichere Anzeichen dafür, daß die polnische Regierung die Situation anders sieht,
als sie in diesen demagogischen Veröffentlichungen dargestellt wird?
Herr Abgeordneter, ich verweise auf meine Eingangserklärung. Ich glaube, ich habe das gesagt, was Sie in der Frage zum Ausdruck bringen wollten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, sollte nicht das Auswärtige Amt extra einen Hilfsreferenten zum Dementieren von Äußerungen in DKP-Organen anstellen, damit die Dementierwünsche der CDU nicht auf dieser aufwertenden Ebene behandelt werden?
Herr Abgeordneter, ich hoffe mit Ihnen, daß es sich um einen einmaligen Vorgang handelt, was die Veröffentlichung in dieser Zeitung betrifft.
Herr Abgeordneter Leicht zu einer Zusatzfrage.
Würden Sie nach dieser Frage des Kollegen zugeben, Herr Staatssekretär, daß auch Sie und andere Regierungsmitglieder bei Beantwortung von Anfragen und bei Ausführungen vom Rednerpult aus Zitate aus kommunistischen Zeitungen wie der „Prawda" usw. verwendet, auch zu Vergleichen verwendet und in Diskussionen eingeführt haben?
Herr Kollege Leicht, ich bin, ohne daß ich das jetzt schon im einzelnen mit dem Computer errechnet hätte, ziemlich sicher, daß Zitate aus der „Prawda" häufiger von Sprechern der CDU in diesem Hause verwendet worden sind als von Sprechern der beiden anderen Parteien,
und auch ich selbst werde selbstverständlich alle Zitate, die mir zugänglich sind und die meine Thesen stützen, nach wie vor in diesem Hause verwenden, gleichgültig von wem sie kommen.
Das ist üblich in der politischen Auseinandersetzung und ist kein Vorrecht irgendeiner bestimmten Gruppe.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx.
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6852 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Herr Staatssekretär, um noch einmal den Versuch zu machen, zumindest hier eine gemeinsame Formulierung zu erreichen, möchte ich Sie fragen: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß es, wenn man sich politische Kenntnisse über einzelne Tatbestände verschaffen will, vor allem über Tatbestände, die mit Ostblockstaaten zusammenhängen, notwendige Voraussetzung ist, dann auch die dortigen Zeitungen zu lesen, und daß deshalb die vorhin in ihrer vorletzten Antwort gegebene Qualifizierung ungerechtfertigt ist?
Herr Abgeordneter, wenn Sie es so verstanden haben, wie es hier in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt, haben Sie mich mißverstanden. Ich glaube, ich habe deutlich gemacht, daß ich es selbstverständlich nicht nur für das Recht, sondern auch für die Pflicht halte, Publikationen zu lesen, von denen wir wissen, daß sie im allgemeinen nicht unter den Bedingungen eines Landes entstanden sind, in dem der Art. 5 des Grundgesetzes gilt, sondern die eben sehr oft offiziösen Charakter haben. Solche Organe tragen selbstverständlich zu unserer Information und Meinungsbildung bei. Der Fall, um den es sich hier handelt, ist insofern außergewöhnlich, als die Zeitung den Art. 5 des Grundgesetzes voll für sich in Anspruch nimmt, gleichwohl aber von osteuropäischen Staaten nicht als authentische Quelle oder gar als besonders seriös angesehen wird, wenn ich mich nicht sehr täusche.
— Das ist eben eine Frage, die ich nicht so beantworten kann, nämlich ob es hier als Instrument angesehen worden ist oder nicht. Es gibt, wie Sie wissen, in der Weltgeschichte auch noch andere Möglichkeiten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Slotta.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß sich die polnische Regierung in allen Gesprächen mit ihr äußerst interessiert an dem Zustandekommen eines deutsch-polnischen Jugendwerkes zeigte. Mir ist das bei meinem Polenaufenthalt von Regierungsvertretern und von SejmAbgeordneten bestätigt worden.
Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen in der Frage, die Sie gestellt haben, mit der Einschränkung zu, daß offensichtlich dabei von polnischer Seite, wenn auch in früherer Zeit, mit Organisationen in der Bundesrepublik, die nicht unbedingt besonders geeignet sind, einen solchen Austausch in Gang zu setzen, Kontakt aufgenommen worden ist.
Ich rufe die Frage 109 des Herrn Abgeordneten Weigl auf:
In welcher Weise hat die Sowjetunion gegenüber Japan auf die sogenannten Interventionsartikel der UNO-Charta verzichtet?
Ist der Fragesteller im Saal? Er ist anwesend.
Bitte, Herr Staatssekretär!
Ich möchte einleitend zunächst darauf hinweisen, daß die Frage des Herrn Abgeordneten Weigl die sowjetisch-japanischen Beziehungen betrifft, zu denen sich die Bundesregierung nur mit der Zurückhaltung äußern kann, wie sie die Achtung der Souveränität dritter Staaten erfordert. Die Lage Japans unterscheidet sich insofern von der unseren, als Japan mit dem größten Teil seiner ehemaligen Kriegsgegner einen Friedensvertrag geschlossen hat und vollberechtigtes Mitglied der Vereinten Nationen ist. Soweit der Bundesregierung bekannt, stellt sich die japanische Regierung auf den Standpunkt, daß spätestens seit der Aufnahme Japans in die Vereinten Nationen die Feindstaatenartikel Japan gegenüber nicht mehr anwendbar sind. Einen ausdrücklichen Verzicht auf etwaige Rechte aus den sogenannten Interventionsartikeln hat die Sowjetunion gegenüber Japan nicht erklärt.
Keine Zusatzfrage. Wir kommen dann zu Frage 110 des Abgeordneten Dr. Wagner :
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß in Kreisen der Europäischen Gemeinschaften der Plan erwogen wird, im Zusammenhang mit dem Beitritt Großbritanniens und anderer Länder den Sitz der Gemeinschaftsorgane von Brüssel und Luxemburg nach Paris bzw. teilweise nach Paris und teilweise nach London zu verlegen?
Bitte sehr!
Herr Präsident, die Antwort auf Frage 110 lautet wie folgt. In Kreisen der Europäischen Gemeinschaften wird nicht erwogen, die über den Sitz der Gemeinschaften getroffenen Vereinbarungen abzuändern. In Art. 1 des anläßlich der Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission gefaßten Beschlusses der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über die vorläufige Unterbringung bestimmter Organe und Dienststellen der Gemeinschaften ist festgelegt, daß Luxemburg, Brüssel und Straßburg vorläufige Arbeitsorte der Organe der Gemeinschaften bleiben. Auch die Beitrittskandidaten haben nicht den Wunsch geäußert, diese Regelung zu ändern.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wagner.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung nicht bekannt, daß beispielsweise beim Personal der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel und Luxemburg und auch in den Organisationen dieses Personals, also in den Gewerkschaften der europäischen Beamten, eben
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6853
Dr. Wagner
solche Pläne, deren Existenz Ihnen, wie Sie hier vortragen, nicht bekannt ist, umlaufen und daß dort bereits sehr konkret berichtet wird, der Ort in der Nähe von Paris sei schon fixiert, an dem die europäischen Institutionen in Zukunft zum großen Teil ihren Sitz haben sollen?
Herr Abgeordneter, mir ist nur eine Pressemeldung, der wir nachgegangen sind, bekannt, die Auslassungen in dieser Richtung enthält. In einem Ausschuß des Rates hat der französische Vertreter kürzlich bei einer sich bietenden Gelegenheit erklärt, daß die fraglichen Pressemeldungen, die das beinhalten, was in Ihrer Frage zum Ausdruck kam, insoweit jeglicher Grundlage entbehren.
Keine Zusatzfrage.
Würde die Bundesregierung die Verwirklichung solcher Pläne für politisch wünschenswert halten?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, den derzeitigen Zustand zu ändern.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wagner.
Ist die Bundesregierung mit mir der Auffassung, daß die Städte Brüssel und Luxemburg — ich möchte insbesondere diese beiden nennen — nach einem Beitritt Großbritanniens und anderer Staaten in der dann größeren Gemeinschaft geographisch noch bedeutend günstiger lägen als heute und daß unter diesem Gesichtspunkt die Beibehaltung des Sitzes der Gemeinschaftsinstitutionen in diesen Städten als wünschenswert bezeichnet werden muß?
Herr Abgeordneter, ich kann nur auf meine vorherige Antwort verweisen. Was geographische Erwägungen betrifft, so kann man zweifellos insofern einen Vorteil gegenüber politischen Erwägungen sehen, als geographische Erwägungen ja mit dem Lineal im einzelnen nachzuweisen sind und der Globus insofern unveränderbar ist. Wenn hier aber irgendwann einmal eine neue Situation entstünde, weil sich die Gesamtgemeinschaft in ihrer Dimension ja mitverändernt, wird man über diese Frage wieder sprechen können. Ich kann nur betonen: Wir sehen jetzt keinen Anlaß — bisher ist in amtlichen Kreisen davon auch nicht die Rede , nach dem Beitritt Großbritanniens neue Erwägungen anzustellen. Insofern mag dies von Ihnen als eine Bestätigung Ihrer Meinung aufgefaßt werden.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Dr. Wagner.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung — zumindest heute — die Auffassung, daß es unter politischen und psychologischen Aspekten als günstig bezeichnet werden muß, daß sich der derzeitige Sitz der Gemeinschaftsinstitutionen überwiegend nicht in einem der großen Gemeinschaftsländer, sondern in einem mittleren bzw. einem kleineren Gemeinschaftsland befindet?
Herr Abgeordneter, wenn ich aus Trier wäre, würde ich dies natürlich ohne weiteres und voll — auch für die Zukunft -- bejahen. Das ist ganz selbstverständlich.
Ich halte mich deswegen zurück, weil die von Ihnen genannten politisch-psychologischen Voraussetzungen eben Voraussetzungen sind, die nach naturwissenschaftlichen Kriterien — und die Naturwissenschaften sind die einzigen exakten Wissenschaften, die ich kenne — jedenfalls nicht eindeutig feststellbar sind.
Nach Bismarck sind zwar auch Imponderabilien Realitäten, Herr Staatssekretär; das soll aber Ihren Wissenschaftsbegriff nicht berühren.
Ich rufe die Frage 112 des Abgeordneten Werner auf:
Wie unterscheiden sich die Mittel der Bundesregierung, ihrer Deutschlandpolitik Nachdruck zu verleihen, von der sogenannten Hallstein-Doktrin?
Herr Abgeordneter, die Politik dieser Bundesregierung und die Deutschlandpolitik müssen sich an dem Gebot des Grundgesetzes ausrichten, nach dem alle Deutschen aufgefordert bleiben, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Jede Bundesregierung muß die für die Erreichung dieses Zieles in der jeweiligen Lage am besten geeigneten politischen Mittel einsetzen. Die gegenwärtige Bundesregierung hat am Beginn ihrer Amtszeit klargemacht, daß in der Deutschland-Frage die Respektierung und Förderung der Einheit der Nation sowie die Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes Richtschnur ihres Handelns ist. Im Unterschied zu früheren Bundesregierungen hat sie jedoch ihren deutschlandpolitischen Auftrag nicht in erster Linie defensiv gesehen und sich nicht auf die Verteidigung von Rechtspositionen konzentriert. Sie ist vielmehr von der realistischen Erkenntnis ausgegangen, daß die Umstände die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes für längere Zeit nicht erlauben werden, daß sich vielmehr in Deutschland unter Außerachtlassung des Selbstbestimmungsrechtes ein zweiter Staat gebildet hat, mit dem jede illusionsfreie Politik zu rechnen hat.Sie hat demgemäß die Politik der sogenannten Hallstein-Doktrin revidiert, die die staatliche Existenz der DDR ignoriert hat, das gleiche von anderen Staaten verlangte, die Anerkennung der DDR als unfreundlichen Akt bezeichnete und automati-
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6854 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschsehe Sanktionen, vor allem den Abbruch der diplomatischen Beziehungen, androhte. Sie hat statt dessen erklärt, daß es uns unter den gegebenen Umständen darauf ankommen muß, im Interesse des Friedens Übergangsregelungen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu finden, die den Zusammenhalt des deutschen Volkes fördern. Im Vordergrund ihrer Deutschlandpolitik steht deshalb die Aushandlung eines geregelten Sonderverhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, dem das Verlangen der DDR nach Respektierung ihrer staatlichen Existenz nicht im Wege stehen soll. In diesem Sinne bittet die Bundesregierung nicht mehr wie ihre Vorgängerinnen die anderen Staaten darum, die staatliche Anerkennung der DDR schlechthin abzulehnen, sondern darum, mit diesem Schritt zu warten, bis es den beiden deutschen Regierungen gelungen ist, ihre gegenseitigen Beziehungen angesichts der noch ausstehenden Friedensregelung, der Berlin-Frage und des Fortbestands der Vier-MächteVerantwortung für Deutschland als Ganzes interimistisch zu regeln. Unsere Politik ist nicht mehr defensiv darauf gerichtet, die DDR international zu isolieren, sondern darauf, die Frage der Außenbeziehungen der DDR als Mittel zur Förderung eines innerdeutschen Modus vivendi nutzbar zu machen. Durch diese Anpassung der Mittel unserer Deutschlandpolitik an die objektive Lage konnte sie sich aus dem starren Schema lösen, das ihr die sogenannte Hallstein-Doktrin aufzwang, nämlich die Doppelpräsenz beider deutscher Staaten in den Hauptstädten anderer Länder und in internationalen Organisationen a limine abzulehnen, gegebenenfalls sich selbst zurückzuziehen und damit der DDR die deutsche Alleinvertretung zu überlassen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, flexibel zu reagieren und unseren Interessen nach der Lage des Einzelfalles Rechnung zu tragen. Die Bitte um Nichtanerkennung der DDR hat durch den Verzicht auf überholte und künstlich wirkende juristische Argumente, die nicht mit den Erfordernissen innerdeutscher Verhandlungen in Einklang zu bringen waren, entscheidend dazu beigetragen, daß wir negative internationale Präjudizierungen der Deutschlandfrage weiterhin verhindern konnten.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Werner.
Herr Staatssekretär, würde Ihre Antwort bedeuten, daß in der Vorphase — in der Phase, in der ein dritter Staat andeutet, daß er die Absicht hat, sein Verhalten uns gegenüber zu ändern, indem er Beziehungen zur DDR aufnehmen will — Ihre Botschafter keine Generalanweisung haben, anzudeuten, welche Verhaltensweisen bzw. Verhaltensänderungen unsererseits nach einer solchen Aufnahme von Beziehungen eintreten?
Herr Abgeordneter, wir haben ja gerade ein Beispiel erlebt, in dem wir dem anderen Staat, der die Absicht geäußert hatte, die DDR jetzt anzuerkennen, deutlich gemacht haben, daß wir diese Anerkennung wegen der laufenden Verhandlungen als störend empfinden und daß wir uns daher eine Überprüfung von Dingen vorbehalten, die bisher gemeinsam mit diesem Staat unternommen worden sind. Aber es ist auch unsere Auffassung, daß wir uns, wie ich gesagt habe, nach Eintreten des Anerkennungsfalles flexibel zu verhalten haben. Wir machen aber vorher — und das ist in jedem Falle geschehen — ganz deutlich, daß ein Vorprellen zum jetzigen Zeitpunkt in dieser Frage nicht unseren Entspannungswillen und unseren Willen zum Abbau der Konfrontation in Mitteleuropa unterstützen wird und daß also, wenn ein Staat die Absicht hat, unsere Friedens- und Entspannungspolitik zu unterstützen, er in dieser Frage bitte Zurückhaltung üben möge, bis eine Veränderung im Sinne einer vertraglichen Regelung des Verhältnisses eingetreten ist, bis also hier die Klarheit geschaffen ist, die wir im allgemeinen Interesse des europäischen Friedens erwarten.
So ist unsere Auffassung hierzu. Selbstverständlich kommen diese Entscheidungen der anderen Staaten nicht etwa plötzlich über Nacht, sondern es gibt ja Anzeichen dafür, daß Veränderungen in der Auffassung dort im Gange sind. In jedem einzelnen Fall haben wir nicht nur in intensiver diplomatischer Aktivität diese Frage behandelt, es ist in mehreren Fällen auch gelungen, in unserem Sinne Ergebnisse zu erzielen. Wir haben auch durch Sonderbotschafter und andere Überbringer unsere Initiative noch verstärken können. Daß es kein nutzloser Versuch ist, in dieser pragmatischen Weise vorzugehen, hat sich jüngst gerade in einem Fall bei einer internationalen Organisation gezeigt.
Herr Staatssekretär, wären in den Maßnahmen, die Sie soeben erwähnt haben, die an sich vorgesehen gewesen wären, wenn so ein Fall nicht eingetreten wäre, und, wie Sie sagen, dann überprüft würden, eventuell auch entwicklungspolitische Maßnahmen einbegriffen?
Herr Abgeordneter, es ist in der Debatte in dieser Woche schon dazu Stellung genommen worden, und zwar auch in der Fragestunde am Mittwoch. Es ist eine klare Trennung vorzunehmen zwischen den Dingen in der Entwicklungspolitik, die ja langfristig wirken, und der Frage, ob man etwa, nachdem ein Staat sich entgegen unseren Bitten zu einer Änderung seines Verhältnisses zur DDR entschlossen hat, jetzt neue Projekte und neue Maßnahmen mit ihm zusammen einleitet. Wir haben uns vorbehalten, diese Frage zu prüfen und in jedem einzelnen Fall auf Grund der beiderseitigen Interessen zu entscheiden. Aber es gibt — ich darf es einmal so sagen — kein mechanistisches Prinzip in allen diesen Fragen. Da unterscheiden wir uns von früheren Verhaltensweisen, die an sich — das muß ich hinzufügen — in der ursprünglichen Erklärung zu dieser Frage, die Minister von Brentano abgegeben hatte, auch nicht enthalten waren, die sich dann aber in der Praxis zu einem mechanistischen Prinzip entwickelt und als ein solches ausgewirkt haben.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6855
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, ein Satz in Ihrer ersten Antwort veranlaßt mich zu der Frage — die ich präzise zu beantworten bitte —: Sieht die gegenwärtige Bundesregierung in der Anerkennung der DDR nicht mehr einen unfreundlichen Akt, sondern empfindet sie dies nur noch — wie Sie sagten — als störend?
Herr Abgeordneter, wir haben diesen Terminus nicht in einer allgemeinen Erklärung gebraucht, weil wir ja deutlich gemacht haben, daß zum jetzigen Zeitpunkt eine Störung eintritt, d. h., daß es jetzt uns gegenüber ein abträgliches Verhalten sei oder vielmehr ein Verhalten, das gegen die Interessen einer friedlichen Entwicklung gerichtet sein könne. Aber es zu qualifizieren mit bestimmten feststehenden Begriffen, die einen Terminus aus einer Politik darstellen, die sich grundsätzlich anders verhielt als unsere Politik, halten wir nicht für richtig. Wenn man in offiziellen Verlautbarungen den gleichen Begriff verwendete, der früher verwendet worden ist, müßte man erwarten, daß die Adressaten ihn auch mit dem gleichen Inhalt verbinden. Der Inhalt unserer Politik ist anders. Ich habe gesagt: er ist nicht defensiv.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kiep.
Herr Staatssekretär, indem ich für den Zweck der Diskussion hier in der Fragestunde einmal unterstelle, daß die von Ihnen hier dargelegte Scheel-Doktrin einer langfristigen außenpolitischen Konzeption entsprungen ist, möchte ich Sie fragen, wie Sie sich denn nach dem Ablauf eines gewissen Zeitraums, der für innerdeutsche Verhandlungen zur Erreichung einer innerdeutschen Regelung benutzt wird, oder nach einem Scheitern dieser Bemühungen gegenüber anerkennungsverdächtigen Ländern zu verhalten gedenken.
Herr Abgeordneter, da Sie die gleiche Frage bereits gestern im Außenpolitischen Ausschuß gestellt haben, darf ich sie ebenso beantworten wie gestern: Es entspricht nicht unseren Interessen, auf hypothetische Fragen Antworten zu geben. Es besteht auch gar kein Grund zu der Annahme, daß das eintreten wird, was Sie mit Ihrer Frage zum Ausdruck gebracht haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mattick.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß die gegenwärtige deutsche Außenpolitik und Ostpolitik
einigen Staaten, die auf Grund ihrer geographischwirtschaftlichen Situation unter politischem Druck und unter öffentlichem Druck stehen, die DDR anzuerkennen, eine Zurückhaltung ermöglicht und daß wir bei einer anderen Außenpolitik vor einer viel schwierigeren Situation stünden?
Herr Abgeordneter, es trifft zu, was Sie gerade gesagt haben.
Lassen wir den Herrn Staatssekretär antworten, wie er will.
Das sind Ermessensfragen, wie sie in der Außenpolitik häufig vorkommen. Ich kann Ihnen nur folgendes sagen, Herr Abgeordneter. Maßgebende Freunde in Ihrer Fraktion, die 1968 Regierungsverantwortung getragen haben, hatten über die weitere Entwicklung des Verhältnisses dritter Staaten zur DDR eine wesentlich pessimistischere Auffassung, die allerdings nachher in der Praxis keine Bestätigung gefunden hat, und zwar eine pessimistischere Auffassung trotz der Möglichkeiten, die sie selbst eingeräumt haben. Diese Bundesregierung hat mit dem, was sie in Ihrer Politik entwickelt hat — Herr Kiep hat offensichtlich die Absicht, das Urheberrecht für einen neuen Begriff in Anspruch zu nehmen —, erreicht, daß unsere Politik des Ausgleichs durch die Zurückhaltung gerade dieser Staaten Unterstützung erfahren hat. Diese Unterstützung empfinden wir dankbar, während wir früher die Verhaltensweise mancher dritter Staaten eher als störend empfinden mußten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie dargelegt haben, daß die Bundesregierung das mechanistische Prinzip nicht mehr anwenden werde, frage ich Sie, ob Presseverlautbarungen stimmen, nach denen Ihr Minister in dem angesprochenen konkreten Fall dennoch den Versuch unternommen hat, seine Entscheidung auf der Grundlage des mechanistischen Prinzips zu fällen bzw. der Regierung zu empfehlen, dies zu tun.
Herr Abgeordneter, mir sind weder solche Pressemeldungen noch entsprechende Absichten des Ministers bekannt.
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6856 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Geßner.
Herr Staatssekretär, hinter der Frage steht offensichtlich die Befürchtung, daß nunmehr eine ganze Reihe von Staaten diplomatische Beziehungen zur DDR aufnehmen könnten. Wären Sie so freundlich, die Damen und Herren von der Opposition darauf hinzuweisen, daß sich auch zu der Zeit, als noch die Hallstein-Doktrin gültig war, Staaten nicht davon haben abhalten lassen, diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen?
Herr Abgeordneter, nicht auch, sondern gerade, denn damals ist eben all das eingetreten, was hier offensichtlich als störend empfunden worden ist.
Keine Zusatzfrage mehr. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft, und zwar zuerst zu den Fragen 2 und 3 des Abgeordneten Ollesch. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die beiden Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 4 des Abgeordneten Schedl. Ist Herr Schedl im Saal? Nein. Dann wird auch diese Frage schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 5 und 6 des Abgeordneten Leicht sind vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Wir kommen zur Frage 7 des Abgeordneten Dr. Pohle:
Rechnet die Bundesregierung damit, daß noch in diesem Jahr eine erste Rate des Konjunkturzuschlags zurückgezahlt wird?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Pohle, dies wird geregelt, wie das Gesetz es befiehlt; vorzeitig nur dann, wenn sich eine Abschwächung der Nachfrage einstellt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Pohle.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie es sich dann, daß der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, unser gemeinsamer Freund Dr. Reischl, im schleswig-holsteinischen Wahlkampf Andeutungen darüber gemacht hat, die in der Öffentlichkeit die Hoffnung erweckt haben, die erste Rate würde noch in diesem Jahr zurückgezahlt?
Ich habe von Herrn Kollegen Reischl gehört, daß das eine irreführende Pressemeldung gewesen sei.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Dr. Pohle.
Wenn es eine irreführende Pressemeldung war, darf ich fragen, warum die Bundesregierung, das Bundesfinanzministerium oder das Bundeswirtschaftsministerium, diese Nachricht in der Öffentlichkeit nicht dementiert hat.
Herr Kollege Pohle, das hat sowohl das Bundesfinanzministerium als auch unser Ministerium dementiert.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zur Frage 8 des Abgeordneten Dr. Geßner:
Hält es die Bundesregierung für angebracht, daß ähnlich der zentralen Erfassungsstelle für Verkehrssünder in Flensburg eine zentrale Kartei zur Registrierung von Wirtschaftsstraftätern, insbesondere von Personen, die Steuerhinterziehung begangen haben, eingerichtet wird?
Bitte sehr!
Herr Kollege Geßner, grundsätzlich ja, und zwar, weil die Umwandlung von Straftaten in Ordnungswidrigkeiten auf dem Gebiet der Gewerbeordnung eine zentrale Registrierung notwendig macht.
Herr Staatssekretär, wir können also davon ausgehen, daß der Kampf gegen Wirtschaftsstraftäter in zunehmend schärferer Weise geführt werden wird.
Jawohl.
Dann komme ich zur Frage 9 des Abgeordneten Engelsberger:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, den Dollarzufluß in die Bundesrepublik zu stoppen und den nachteiligen Folgen für die Stabilität unserer Währung entgegenzuwirken, nachdem sich nach der jüngsten Diskontsenkung der Deutschen Bundesbank der gewünschte Erfolg nicht eingestellt hat?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Engelsberger, die Bundesregierung ist der Ansicht, daß die Diskontsenkung tatsächlich gewirkt hat. Der Dollarkurs ist gefestigt, und die Zuflüsse sind inzwischen gestoppt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Engelsberger.
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Feststellung treffen, daß der Zufluß von selbst gestoppt worden sei, wie erklären Sie sich dann, daß die Bundesbank den Ankauf von Termindollars eingestellt hat?
Nein, der Dollarzufluß ist nicht von selbst, sondern durch die konzertierten Maßnahmen der Bundesbank gestoppt worden.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Engelsbergers.
Herr Staatssekretär, auf welche Weise will die Bundesregierung der Überbewertung des Dollars Rechnung tragen, nachdem in der Hamburger Konferenz der Wirtschafts- und Finanzminister der EWG-Länder eine gemeinsame europäische Haltung gegenüber dem Dollar nicht zu erreichen war?
Herr Kollege, ich teile Ihre Ansicht nicht; denn in Hamburg ist festgelegt worden, daß gemeinsames europäisches Handeln auf dem Gebiet der Zinspolitik wohl stattfinden wird und so auf diesem Gebiet eine Koordinierung sichergestellt ist.
Ich rufe nunmehr die Frage 10 des Abgeordneten Dr. Slotta auf:
Welche positiven wirtschaftlichen Folgen wird der Erste Rahmenplan für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", der am 1. Januar 1972 in Kraft treten soll, für das Saarland haben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Slotta, durch den Rahmenplan ist eine größere Effizienz der regionalen Wirtschaftsförderung gesichert, und zwar durch die gesetzliche Fixierung nicht nur der Gebiete, sondern auch der Arten. Die endgültige Fassung zur Entscheidung des Planungsausschusses „Regionale Wirtschaftsstruktur" wird voraussichtlich im Juni vorliegen. Auch das Saarland wird — wie andere Länder — durch dieses Zusammenwirken von Bund und Ländern profitieren.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Slotta.
Herr Staatssekretär, da Sie davon sprechen, daß das Saarland von dem Ersten Rahmenplan für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und insbesondere aus der Einrichtung des Planungsausschusses Positives zu erwarten hat, darf ich Sie bitten, ein Beispiel zu nennen, aus dem ersichtlich ist, wie sich dieses Positivum auswirken würde.
Herr Kollege Slotta, es ist vielleicht ein eindrucksvolles Beispiel, daß wir durch diese Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern für die Verbesserung der Struktur im Saarland mit einer jährlichen Schöpfung von etwa 10 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen rechnen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Slotta.
In Zukunft, Herr Staatssekretär?
In Zukunft.
Die Frage 11 des Abgeordneten Wagner wurde bereits vom Bundesministerium der Finanzen beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Die Fragen 92 und 93 sind vom Fragesteller zurückgezogen worden. -- Wir stehen am Ende der Fragestunde.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik für die Jahre 1968 und 1969
Drucksache VI/1970
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum fünften Male wird dem Hohen Hause ein Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Diesmal umfaßt der Unfallverhütungsbericht mit Zustimmung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zwei Jahre, nämlich die Jahre 1968 und 1969. Dadurch war es der Bundesregierung möglich, den Bericht in Form und Inhalt neu zu gestalten.Bei der Beratung der bisherigen Berichte haben die zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages präzise Wünsche zur Berichterstattung geäußert, die in Beschlüssen des Hohen Hauses zusammengefaßt worden sind. Diesen Beschlüssen ist die Bundesregierung im Unfallverhütungsbericht 1968/69 nachgekommen, soweit nicht in Einzelfällen die dafür erforderlichen statistischen Unterlagen fehlten.Mitglieder dieses Hohen Hauses haben wiederholt gefordert, das Unfallgeschehen transparenter zu machen. In dem Ihnen vorliegenden Bericht haben wir den Unfallzahlen sowohl Bezugsgrößen zugeordnet als auch die Unfallentwicklung bis zurück in das Jahr 1949 dargestellt. Dadurch ist es möglich, einen Vergleich über einen längeren Zeitraum anzustellen und den Trend des Unfallgeschehens aufzuzeigen.In Form und Inhalt stellt dieser Bericht - daskann ohne Anmaßung gesagt werden — eine
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6858 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971
Bundesminister Arendtwesentliche Weiterentwicklung früherer Dokumentationen dar. Er macht das Thema anschaulicher, er führt in den Daten weiter und ist auf diese Weise selbst ein Beitrag zur Unfallverhütung; denn die Transparenz des Unfallgeschehens und das Aufzeigen der Wege ist eine wesentliche Hilfe für die Praxis draußen im Lande.Die Daten über Unfälle und Unfallverhütung sind erstmals nach Wirtschaftsbereichen aufgeschlüsselt. Das erlaubt eine bessere Beurteilung der Unfallsituation.In diesem Zusammenhang sind auch das Unfallgeschehen und der Stand der Unfallverhütung bei den ausländischen Arbeitnehmern zu sehen. Der Bericht bringt hierzu eine Untersuchung. Sie erfaßt die Gesamtsituation in der gewerblichen Wirtschaft, geht auf einzelne Wirtschaftszweige ein und vergleicht Arbeitsplätze.Das Ergebnis bestätigt bisherige Vermutungen: Tatssächlich ist im Gesamtdurchschnitt die Unfallhäufigkeit der ausländischen Arbeitnehmer zweieinhalbmal so hoch wie bei ihren deutschen Kollegen. Im Unfallverhütungsbericht werden an Hand von Beispielen Wege aufgezeigt, wie durch eine in den Betriebsablauf integrierte Unfallverhütung eine entscheidende Verbesserung der Verhältnisse für alle Arbeitnehmer, ausländische und deutsche, zu erreichen ist.Einen Schwerpunkt des Berichtes bilden die Bemühungen um die Unfallverhütung. Es wird anerkannt, daß von den Unfallversicherungsträgern, von den staatlichen Arbeitsschutzbehörden, den Tarifparteien und von einer Vielzahl von Organisationen erhebliche Anstrengungen zur Verhütung von Unfällen unternommen werden. Ein Beispiel dafür ist die Unterrichtung von Unternehmern, Führungskräften und Sicherheitsbeauftragten über Fragen der Arbeitssicherheit.Für mehr als 270 000 Personen wurden allein von den Unfallversicherungsträgern solche Lehrgänge abgehalten. Zum anderen wird eine breit gefächerte Offentlichkeitsarbeit betrieben. Beide Maßnahmen unterstreichen den vorbeugenden Charakter der Unfallverhütung.Meine Damen und Herren, alle bisherigen Anstrengungen haben aber offensichtlich nicht ausgereicht, die Unfallzahlen entscheidend zu senken. Die nach 1961 registrierte rückläufige Tendenz der Unfallzahlen, die zu berechtigten Hoffnungen Anlaß gab, hat sich seit vier Jahren wieder umgekehrt. Tm Jahre 1969 wurden 2,63 Millionen Unfälle und Berufskrankheiten angezeigt. Das sind 215 000 Unfälle mehr als 1967. Die Steigerung beträgt fast 9 % in zwei Jahren. In einzelnen Wirtschaftsbereichen ist die Zunahme noch größer gewesen. So sind in der Metall- und der Chemieindustrie die angezeigten Unfälle und Berufskrankheiten allein von 1968 auf 1969 um jeweils mehr als 15 % angestiegen. Die Gesamtentwicklung ist auch im Jahre 1970 nicht zum Stillstand gekommen, wie die vorläufigen Zahlen in Höhe von 2,68 Millionen Unfällen und Berufskrankheiten zeigen.Meine Damen und Herren, fast 2,7 Millionen Unfälle im Jahr bedeuten rechnerisch, daß jeder zehnte Arbeitnehmer einen Unfall erleidet. Ich finde, das ist eine alarmierende Vorstellung, die noch unterstrichen wird durch die Tatsache, daß es sich hier nur um Unfälle mit mehr als drei Tagen Arbeitsunfähigkeit handelt. In Wirklichkeit liegt die Zahl der Unfallereignisse wahrscheinlich um 400 000 Fälle höher. Auch dieses Problem greift der Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung in einer Teiluntersuchung auf.Den Arbeitnehmer besser gegen Unfälle zu schützen, ist eine sozialpolitische Forderung, die uns allen gestellt ist. Dieser Forderung dürfen und wollen wir nicht ausweichen. Aber dennoch sind neue Impulse erforderlich.Die Bemühungen um sichere Arbeitsplätze müssen stärker mit dem Betriebsablauf verknüpft werden. Ich denke dabei zunächst an die Möglichkeiten, die uns die Arbeitsmedizin eröffnet und noch eröffnen muß. Durch die technische Entwicklung verlagert sich das Schwergewicht der Arbeitsbelastung zunehmend vom körperlichen auf den geistig-seelischen Bereich. Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig eine Verringerung der Gesundheitsgefahren für den arbeitenden Menschen. Vielmehr ergeben sich daraus auch neue Gefährdungen.Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, das Arbeitsleben zu humanisieren. Um ,dieses Ziel zu erreichen, müssen wir vor allem die Erkenntnisse der modernen Arbeitsmedizin nutzen. Die alte Weisheit, daß Vorbeugen besser ist als Heilen, hat neue Bedeutung gewonnen und gilt mehr denn je für die Arbeitswelt in Gegenwart und Zukunft.Wirtschaftlicher Fortschritt erfordert die Einführung neuer Technologien und neuer, in ihren gesundheitlichen Auswirkungen möglicherweise noch unbekannter Arbeitsstoffe. Hier tritt die Früherkennung einer potentiellen Gefahr und die Prävention in ihr Recht. Der fortschreitende technische Wandel wird ihre Bedeutung künftig immer stärker in den Vordergrund rücken. Daraus folgt aber die zwingende Forderung nach einer umfassenden arbeitsmedizinischen Betreuung, deren Schwerpunkt ja in der Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsschäden liegt.Meine Damen und Herren, die Aufgaben, die sich der arbeitsmedizinischen Forschung und Praxis stellen, sind komplexer Natur. Arbeitsmedizinische Grundlagenforschung befaßt sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und Gesundheit. Sie erforscht die körperlichen und geistig-seelischen Reaktionen des Menschen auf seine Arbeit und seine Arbeitsumwelt. Wissenschaftliche Untersuchungen dienen der Ermittlung spezieller Gesundheitsgefahren und schaffen die Grundlagen zu deren Bekämpfung. Neu einzuführende Arbeitsstoffe und Arbeitsmittel sind auf ihre Gesundheitsschädlichkeit zu prüfen. Die Methoden der Früh- und Feindiagnostik von beruflich bedingten Erkrankungen sind fortlaufend dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse anzupassen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6859
Bundesminister ArendtMit diesem Rüstzeug ausgestattet, beobachtet der praktische Arbeitsmediziner bei seinen Vorsorge- und Überwachungsuntersuchungen sorgfältig den Gesundheitszustand der Arbeitnehmer. Er erteilt seinen Rat in Fragen der Arbeitshygiene und der wechselseitigen optimalen Anpassung von Mensch und Arbeitsgerät. Mit den Mitteln der Rehabilitation erleichtert er die Wiedereingliederung Gesundheitsgeschädigter in das Arbeitsleben. Er ist mit allen Arbeitsabläufen des Betriebs vertraut und kann mit diesem Wissen und im Besitz dieser Erfahrung und der Erkenntnisse, die ihm die arbeitsmedizinische Forschung liefert, alles tun, um das körperliche, das geistige und soziale Wohlbefinden des Arbeitnehmers zu erhalten und zu fördern.Meine Damen und Herren, unser Land kann auf eine beachtenswerte arbeitsmedizinische Tradition zurückblicken. Ich begrüße in diesem Zusammenhang die erfolgreichen Initiativen, die in den letzten Jahren zu einer spürbaren Vermehrung der arbeitsmedizinischen Forschungs- und Lehrinstitutionen geführt haben. Diese Entwicklung hält erfreulicherweise weiter an.Um so besorgniserregender erscheint dagegen die Situation auf dem Gebiet der betriebsärztlichen Betreuung. Alle bisherigen Bemühungen, im Wege verantwortungsbewußter Eigeninitiative die Zahl der haupt- und der nebenberuflichen Werksärzte sowie die Anzahl betriebsärztlich betreuter Betriebe zu vergrößern, müssen als gescheitert angesehen werden. Der vorliegende Bericht beweist eindeutig eine Stagnation. Die Zahlen aus dem Jahre 1970 sind sogar rückläufig.Auch die bisher in verschiedenen Betrieben beschäftigten Sicherheitsingenieure reichen — gemessen an der Zahl der Betriebe und der Arbeitnehmer — nicht aus. In den Unternehmen gibt es eine Fülle von Aufgaben, die mit Erfolg nur von sicherheitstechnischen Fachkräften gelöst werden können. Das beginnt bei der Planung und Auslegung von Betriebsanlagen, bei der Einführung neuer Arbeitsverfahren und Maschinen und reicht bis zur Überwachung der Arbeitsplätze, einem Angelpunkt des Unfallgeschehens. Zwischen den Aufgaben der Betriebsärzte und den sicherheitstechnischen Fachkräften gibt es eine Vielzahl von Berührungspunkten.Auch eine Reihe vorbildlicher betrieblicher Sicherheitsorganisationen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß aus dieser Erkenntnis auf breiter Basis keine Konsequenz gezogen wurde. Bereits vor acht Jahren hat dieses Hohe Haus deshalb die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf für hauptberufliche Sicherheitsbeauftragte vorzulegen. Die Forderung nach einem Betriebsärztegesetz wurde vor drei Jahren an dieser Stelle erhoben. Zuletzt haben Sie, meine Damen und Herren, im März dieses Jahres durch Beschluß die Bundesregierung ersucht, den Entwurf eines Gesetzes für Sicherheitsingenieure, Betriebsärzte und Sicherheitsbeauftragte vorzulegen, der den Belangen des Gesundheitsschutzes und des technischen Arbeitsschutzes im Betrieb Rechnung trägt.Meine Damen und Herren, im Unfallverhütungsbericht sind die Leitlinien für eine gesetzliche Regelung aufgezeigt. In dem Gesetz werden die besonderen Belange sowohl des Gesundheitsschutzes als auch des technischen Arbeitsschutzes in den Betrieben zu gestalten sein. Dabei wird auch zum Ausdruck gebracht, welche Notwendigkeiten der Zusammenarbeit es zwischen diesen beiden Bereichen gibt. Es ist unsere Absicht, meine Damen und Herren, mit dem Parlament und allen übrigen Beteiligten auf der Grundlage dieser Erwägungen eine sachgerechte Lösung zu entwickeln. Die praktischen Erfahrungen, die Fachleute bisher sammeln konnten, sollen in die Konzeption einbezogen werden.Von daher müssen auch die Überlegungen gewertet werden, die in dem Bericht hinsichtlich der Perspektiven zur Verbesserung des Arbeitsschutzes und der Unfallforschung angestellt werden. Ein Schwerpunkt dieser Empfehlungen ist zweifellos, daß die Grundstruktur des arbeitsmedizinischen Dienstes und der technischen Sicherheitsorganisationen in den Betrieben ausgebaut werden muß. Diesem Vorhaben liegt eine nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Industrieländern zu beobachtende Erfahrung zugrunde. Sie besagt, daß Unfallverhütung nicht allein durch Belehrung und kontrollierende Einwirkung von außen erreicht werden kann. Man muß dazu beitragen, daß in den Betrieben selbst eine optimale Arbeitssicherheitsstruktur entwickelt wird.Die Tarifparteien stehen dem Projekt aufgeschlossen gegenüber. Die Beratungen des Unfallverhütungsberichts im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung werden eine weitere Klärung von Einzelfragen herbeiführen.Meine Damen und Herren, die betrieblichen Sicherheitsfachkräfte und die Aufsichtsdienste der Unfallversicherungsträger und der Gewerbeaufsicht müssen sich ständig über den Stand des Unfallgeschehens und seine Begleitumstände informieren können. Es muß ihnen sachgerechtes Zahlenmaterial an die Hand gegeben werden. Dazu müssen die Daten über Unfälle besser als bisher aufbereitet werden. Die bisherige Unfallanzeige wird dieser Anforderung nicht gerecht.Ich habe deshalb veranlaßt, daß die Unfallanzeige aussagefähiger gemacht wird. Außerdem sollen mit Hilfe der Datenverarbeitung kurzfristige Auswertungen möglich werden. Ein Sachverständigengutachten ist erstellt. Die Verbände haben sich bereits dazu geäußert. In den nächsten Wochen werden wir in die abschließende Beratung mit den Fachleuten der Unfallverhütung eintreten, damit die neue Unfallanzeige durch Verwaltungsvorschrift eingeführt werden kann.Die statistische Aufbereitung des Unfallgeschehens hinkt jedoch hinter den Ereignissen her und kann nur ein Hilfsmittel der Unfallverhütung sein.Wir müssen darauf hinarbeiten, daß die Ursachen für die Unfälle von vornherein ausgeschaltet werden. Die im vergangenen Herbst von der Bundesregierung erlassene Verwaltungsvorschrift zum Maschinenschutzgesetz mit dem Verzeichnis sicherheits-
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Bundesminister Arendttechnischer Normen war ein erster Schritt in diese Richtung.Auch die Kräfte der Forschung und Wissenschaft werden mobilisiert. Das Bundesinstitut für Arbeitsschutz in Koblenz hat im vergangenen Jahr an Wissenschaftler zwölf Forschungsaufträge vergeben. Dabei sind zwei Schwerpunkte gesetzt worden: 1. Forschung für den Bereich „Arbeit", 2. Forschung für den Bereich „Haus und Freizeit".An diesen Projekten arbeiten Gruppen von Fachleuten aus allen Disziplinen, aus Wissenschaft und Praxis zusammen. Arbeitsmediziner, Psychologen, Soziologen und Techniker werden gemeinsam sicherstellen, daß sich die Forschungsergebnisse an den praktischen Erfordernissen der Unfallverhütung orientieren. Die Forschungsergebnisse sollen den Unternehmern, den Betriebsärzten, den sicherheitstechnischen Fachkräften und den Aufsichtsbeamten der Gewerbeaufsicht und der Berufsgenossenschaften Rüstzeug bei der sicheren Gestaltung der Arbeitsplätze sein.Auch dem Schutz des Menschen in Heim und Freizeit gegen Unfälle werden die Ergebnisse der Unfallforschung zugute kommen. Gerade im häuslichen Bereich besteht ein großer Nachholbedarf bei der Verhütung von Unfällen. Ich will jedoch nicht verhehlen, daß das Umsetzen der erzielten Forschungsergebnisse wegen der strukturbedingt geringen Einwirkungsmöglichkeit mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sein wird. Hier liegt eine zusätzliche Aufgabe der Unfallforschung. Sie muß geeignete Methoden entwickeln, wie der Mensch in seiner privaten Sphäre durch die Unfallverhütung erreicht werden kann.Auch im Jahre 1971 läuft das Forschungsprogramm weiter. 800 000 DM sind für Forschungsaufträge eingesetzt. Bei der Vergabe der Aufträge berät uns ein Kreis von Fachleuten aus den Reihen der Tarifpartner, aus Wissenschaft und Praxis. Dadurch erreichen wir eine hohe Effektivität der eingesetzten Mittel. Parallel wird im Bundesinstitut für Arbeitsschutz in Koblenz intensive Eigenforschung betrieben. Die Arbeitsmöglichkeiten sind jedoch dort unzureichend. Das Institut wird deshalb zu einer Bundesanstalt für Unfallforschung und Arbeitsschutz ausgebaut. Die neue Bundesanstalt wird in Dortmund, dem Schnittpunkt von Industrie und Wissenschaft, errichtet. Dort wurde bereits ein Grundstück erworben; der Architektenwettbewerb für die Errichtung der Gebäude wird in diesen Tagen ausgeschrieben.Es geht nicht nur um die baulichen und sonstigen Voraussetzungen für die neue Anstalt, sondern auch um die Projektion ihrer Ziele und die bessere Zusammenarbeit mit den an der Unfallverhütung Beteiligten. Diese Anstalt muß eingebettet werden in das vielfältige Beziehungsfeld zwischen Politik, Praxis und Wissenschaft. Für eine moderne Unfallverhütung ist es von großem Belang, daß sie nicht mehr allein als Fachleute-Politik betrachtet wird, sondern daß zunehmend neben dem allgemeinen öffentlichen Interesse auch die Mitarbeit der organisierten Gruppen der Gesellschaft stimuliert wird. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Das im Unfallverhütungsbericht dargestellte Unfallgeschehen verlangt neue zusätzliche Anstrengungen in der Unfallverhütung. Als Maßnahmen sind vorgesehen und eingeleitet: 1. Eine neue EDV-gerechte Unfallanzeige zur besseren Erfassung und Durchleuchtung der Unfallereignisse, 2. ein Intensivierung der Unfallforschung, 3. der Ausbau der Unfallforschung und des Arbeitsschutzes durch die Bundesanstalt in Dortmund, 4. die Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Verbesserung des medizinischen und technischen Arbeitsschutzes durch Betriebsärzte und sicherheitstechnische Fachkräfte in den Betrieben.Der Ihnen vorliegende Unfallverhütungsbericht ist Bestandsaufnahme und Ausblick. Er setzt die Zeichen für unsere verstärkten Bemühungen um mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, auf den Arbeitswegen und im privaten Bereich. Die Zahlen des Ihnen vorgelegten Berichtes sind eine harte Dokumentation dafür, daß das Unfallgeschehen eine schwerwiegende menschliche, soziale aber auch ökonomische Dimension in der Industriegesellschaft besitzt. Unfallverhütung ist eine soziale Verpflichtung, der wir gerecht werden müssen.
Nach der Begründung der Bundesregierung treten wir in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Lampersbach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der Christlich Demokratischen Union habe ich die Ehre, eine Erklärung zum Unfallverhütungsbericht für die Jahre 1968/69, Drucksache VI/ 1930, abzugeben.Der nunmehr von der Bundesregierung vorgelegte Bericht zeigt in anschaulicher Weise — und das möchte ich hier betonen, Herr Bundesminister; denn wir sind Ihnen dafür sehr dankbar — das Unfallgeschehen der Jahre 1968 und 1969 auf. Hier ist offensichtlich eine sehr gute und in der Sache auch dienliche Weiterentwicklung in der Darstellung gegeben worden.
Wir sollten, wie es der Herr Bundesminister zum Schluß seiner Ausführungen gesagt hat, allergrößten Wert darauf legen, daß wir gerade bei diesem Teil unserer politischen Betätigung alles an modernen Erkenntnissen einsetzen, damit es mit dazu führen kann, die Dinge objektiv und transparent darzustellen und gleichzeitig das, was uns ja dabei am Herzen liegt, zu erreichen, daß wir das Unfallgeschehen selbst in allen Bereichen herabdrücken können.Der jetzt vorliegende Bericht zeigt leider wieder ein leichtes Ansteigen der Unfälle. Wenn man allerdings gleichzeitig berücksichtigt, daß die Zahl der Beschäftigten und die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden gestiegen ist, ist hier nur eine relativ geringe Steigerung der Unfälle zu verzeichnen. Ich glaube, aber auch dieser geringe Anstieg allein sollte uns Veranlassung geben, mehr und stärker darüber nachzudenken, wie wir hier eine Entwicklung einleiten können, daß die Unfallhäufigkeit ins-Deutscher Bundestag— 6. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. April 1971 6861Lampersbachgesamt rückläufig wird und darüber hinaus die Unfallschwere ebenfalls gemindert wird.Der Unfall im Betrieb, der Unfall auf dem Wege von und zur Arbeit und die Berufskrankheit ist nicht nur ein menschliches Problem für jeden einzelnen und für seine Familie, sondern hat auch weitreichende finanzielle und wirtschaftliche Konsequenzen. Auch das muß man hier überlegen. Die durch Unfälle ausgefallenen Arbeitsstunden betrugen im Jahre 1969 allein bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften rund 202 Millionen. Der Ausfall von 202 Millionen Arbeitsstunden stellt auch für die Betriebe eine nicht unerhebliche Kostenbelastung dar. Dies gilt insbesondere für die Klein- und Mittelbetriebe, die zum großen Teil mit einem hohen Lohnkostenanteil arbeiten.Wir begrüßen daher die Feststellung im Unfallverhütungsbericht, daß die gewerbliche Berufsgenossenschaft, die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft und die Eigenunfallversicherungen sich der Ersten Hilfe und der Unfallverhütung in verstärktem Maße angenommen haben. Sie gaben hierfür allein im Jahre 1969 etwa 100 Millionen DM aus.Am Beispiel der Zahl der tödlichen Berufsunfälle zeigt sich, meine Damen und Herren, daß die bereits von den früheren Regierungen getroffenen Maßnahmen, aber auch — und das soll hier mit besonderer Deutlichkeit gesagt werden — die von den Betrieben selbst getroffenen Maßnahmen insgesamt zu einer erheblichen Reduzierung der tödlichen Unfälle seit 1949 geführt haben. Bemerkenswert ist allerdings der hohe Anteil der tödlichen Unfälle in den landwirtschaftlichen Betrieben.Einen gewichtigen Faktor bei den Arbeitsunfällen stellen wiederum die angezeigten Wegeunfälle dar. War zunächst im Jahre 1967 ein Rückgang der Wegeunfälle zu verzeichnen, so muß leider jetzt festgestellt werden, daß sich die Wegeunfälle in den Berichtsjahren 1968 und 1969 auf fast eine viertel Million erhöht haben. Dies sind etwa 10 % aller angezeigten Unfälle.Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat in seinem Bericht zum Unfallverhütungsbericht 1967 die Bundesregierung aufgefordert, die Art und den Anteil der in die Verkehrsunfälle verwickelten Verkehrsmittel anzugeben. Aus der im jetzt vorliegenden Bericht sich ergebenden Aufschlüsselung werden sich wichtige Erkenntnisse für die Aufklärungsarbeit hinsichtlich der Unfallgefahren auf dem Wege von und zur Arbeit bei den einzelnen Verkehrsmitteln ableiten lassen. Ich glaube, daß das für die weitere Beobachtung und Entwicklung sehr nützlich sein wird.Ein Erfolg der bisherigen Arbeit zeigt sich auch bei den Berufskrankheiten mit tödlichem Ausgang. Seit 1949 ist diese Zahl stetig zurückgegangen und hat Gott sei Dank im Jahre 1969 einen neuen Tiefstand erreicht. Leider, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann nicht das gleiche von der Zahl der Berufskrankheiten gesagt werden. Diese waren bis zum Jahre 1968 rückläufig, stiegen jedoch im Jahre 1969 wiederum um 6,3 % an. Hier wird es einer eingehenden Untersuchung bedürfen, um dieUrsachen für diesen erneuten Anstieg festzustellen und daraus die notwendigen Maßnahmen abzuleiten, die getroffen werden müssen. Bemerkenswert ist bei den Berufskrankheiten insbesondere die Zahl der angezeigten Fälle von Lärmschwerhörigkeit und Lärmtaubheit, die seit 1964 um mehr als das Dreifache gestiegen ist. Erfreulich ist dagegen der Rückgang der Hautkrebserkrankungen auf ein Drittel im gleichen Zeitraum.Wie es der Ausschuß angeregt hatte, sind in den Ihnen vorliegenden Bericht nunmehr auch die Unfälle im häuslichen Bereich aufgenommen worden. Allerdings scheint die Bundesregierung den angeführten Zahlen Schätzungen zugrunde gelegt zu haben, die eine hohe Dunkelziffer aufweisen. Wir wären Ihnen, Herr Bundesminister, sehr dankbar, wenn wir hier etwas mehr Aufschlüsselung und Verdeutlichung bekommen könnten. Die Zahl der tödlichen Haus- und Freizeitunfälle, die der Bericht mit jährlich 10 000 angibt, ist jedoch bereits so alarmierend, daß noch weit eingehendere Untersuchungen auf diesem Gebiet erforderlich sein werden. Die anderthalb Seiten, die der Bericht diesem zugegebenermaßen sehr schwierig zu erfassenden Bereich widmet, sind hierfür nach unserer Auffassung völlig unzureichend.Die Bundesregierung war vom Ausschuß aufgefordert worden, Regelungen für die Einstellung von Sicherheitsingenieuren und Werksärzten zu erarbeiten. Sie hat mit der Ankündigung im vorliegenden Bericht, ein Arbeitsschutzgesetz zu erarbeiten, dieser Anregung Rechnung getragen. Die CDU hat sich in ihrem in Düsseldorf verabschiedeten Parteiprogramm ausdrücklich für die gesetzliche Sicherstellung der werksärztlichen Betreuung ausgesprochen. Sie fordert dazu weiterhin, daß die Arbeits- und Sozialmedizin insbesondere durch Einrichtung entsprechender Lehrstühle an den Universitäten in ausreichender Zahl stärker gefördert wird. Letzteres wird vordringlich sein, da die zur Verfügung stehende Zahl von Arbeitsmedizinern zu gering ist. Hier decken sich unsere Auffassungen, Herr Minister. Ich glaube, daß wir da gleichermaßen vorgehen sollten.Einer eingehenden Erörterung wird auch die Frage bedürfen, welcher Betrieb gesetzlich zur Einstellung eines Werksarztes verpflichtet werden soll. Hierbei werden allerdings in besonderem Maße die Größe und die Unfallgefährdung berücksichtigt werden müssen.
Wie es der Bericht bereits ausführt — und ich möchte das hier auch einmal herausstellen —, muß der besonderen Situation der Klein- und Mittelbetriebe Rechnung getragen werden. Sie wären bei einer Verpflichtung zur Einstellung eines Werksarztes tatsächlich absolut überfordert. Wir würden es jedoch begrüßen, wenn die begonnenen Modelle der auf freiwilliger Basis gegründeten Werksarztzentren fortgeführt würden. Die dort gemachten Erfahrungen werden bei den künftigen Beratungen sicherlich besonders wertvoll sein.
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LampersbachIn diesem Zusammenhang sollte auch die Frage geprüft werden, inwieweit die ärztliche Versorgung im Betrieb z. B. durch praktische Ärzte, die sich nebenberuflich als Werksärzte verpflichten, gesichert werden könnte. Bei dem allgemeinen Mangel in dieser Sparte wird es hier sicherlich zu Überlegungen kommen, die aus der Praxis heraus für die Betriebe auch praktikabel zu gestalten sind.Was hinsichtlich der Größe und der Unfallgefährdung eines Betriebs im Hinblick auf die Verpflichtung zur Einstellung von Werksärzten gesagt wurde, gilt ebenso für die Sicherheitsingenieure. Der besonderen Situation der Klein- und Mittelbetriebe muß auch hier Rechnung getragen werden. Im übrigen wird man prüfen müssen, inwieweit Betriebsingenieure durch eine entsprechende Ausbildung zu Sicherheitsingenieuren ausgebildet und als solche eingesetzt werden können.Herr Bundesminister, ich bin nicht der Auffassung, daß man durch ein noch so perfektionistisches System die Zahl der Arbeitsunfälle auf das uns wünschenswert erscheinende Maß herabdrücken kann. Ich stimme deshalb nicht ganz mit Ihren vorhin gemachten Ausführungen überein, daß man hier nur über Institutionen und besseren Ausbau etwas erreichen kann. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß der tägliche Hinweis im Betrieb selbst, das tägliche Vor-Augen-Führen der Gefahren im Betrieb bei jedem einzelnen Arbeitnehmer ganz erheblich, sehr viel mehr als jede Institutionalisierung, dazu beitragen kann, die Zahl der Unfälle zu verringern. Wir haben Beispiele für dieses System der täglichen Konfrontation mit der Gefahr durch Hinweisschilder, aber auch für exaktes Verhalten auf dem Betriebsgelände selbst, das so weit geht, daß kein Pkw darauf fahren darf. Sie liefern den Beweis dafür, daß man auch ohne erhebliche Kostenbelastungen die Unfälle auf ein Mindestmaß reduzieren kann. Der von mir angezogene Betrieb hat die geringste Unfallquote innerhalb der Bundesrepublik überhaupt.Meine Damen und Herren, auch dieser Bericht zeigt wieder, daß wir die bereits begonnenen Maßnahmen fortsetzen und alle Anstregungen unternehmen müssen, damit dieser Bericht, der in nüchternen Zahlen Tausende von Schicksalen enthält, der Tausende von Fällen erfaßt, in denen der Betroffene einen Unfall oder eine Krankheit im Beruf erlitten hat, in den nächsten Jahren eine bessere Bilanz aufweisen kann. Wir freuen uns über manche günstige Entwicklung, die sich als Folge der bereits geleisteten Arbeit auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes in den letzten Jahren ergeben hat. Über manche andere Entwicklung müssen wir allerdings nach wie vor besorgt sein.Die CDU/CSU wird es sich auch in der Zukunft zur Aufgabe stellen, eine Verbesserung des Arbeitsschutzes zu erreichen und damit die Zahl der Unfälle, soweit das überhaupt möglich ist, auf ein Mindestmaß herabzudrücken. Wir werden das in der Gesetzesarbeit durch Taten beweisen.
Das Wort hat der Abgeordnete Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, geehrte Herren! Ich darf mich zunächst einer angenehmen Pflicht entledigen und dem Kollegen Lampersbach für seine sachliche Würdigung recht herzlich danken. Es freut mich aufrichtig, daß es auch noch Übereinstimmung zwischen der Koalition und der Opposition gibt. Ganz besonders freut mich, daß in diesem Bereich die Fakten und damit auch die Arbeit des Bundesarbeitsministeriums und des Herrn Bundesarbeitsministers richtig gewürdigt geworden sind.
Dies ist der erste Bericht, den diese Bundesregierung ganz erstellt und vorgelegt hat; der letzte Bericht war noch von der vorigen Bundesregierung konzipiert. Ich kann hier nur unterstreichen, was der Kollege Lampersbach gesagt hat. Dieser Bericht ist nicht nur an Umfang größer geworden, sondern vor allem auch an Inhalt. Er ist auch in der Weiterentwicklung gegenüber den vorherigen Berichten besser geworden. Das gilt ganz besonders für die graphische Darstellung der Entwicklung im Unfallgeschehen.Mit der Vorlage des Unfallverhütungsberichts wird das Bundesarbeitsministerium dem Auftrag des Parlaments gerecht, das Unfallgeschehen darzustellen, damit die entsprechenden Schlußfolgerungen gezogen werden können. Dieser Bericht ermöglicht bessere Schlußfolgerungen für die künftige Arbeit.Bedauerlicherweise hat die Unfallhäufigkeit 1968 gegenüber dem Jahr 1967 wieder etwas zugenommen. Offensichtlich hängt diese Entwicklung mit der Zunahme der Beschäftigtenzahlen zusammen. Im Jahre 1967 hatten wir den tiefsten Beschäftigungsstand. Wir hatten aber auch einen merklichen Rückgang der Zahl der Arbeitsstunden zu verzeichnen. Sicherlich trägt auch die Tatsache, daß heute oft viele Überstunden geleistet werden müssen und dadurch der Arbeitnehmer physisch überlastet ist, mit zu der steigenden Unfallhäufigkeit bei. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch das Problem der wachsenden Zahl ausländischer Arbeitnehmer zu sehen.Wenn man die Entwicklung über einen langen Zeitraum hinweg betrachtet, gelangt man zu der erfreulichen Feststellung, daß die Zahl der tödlichen Unfälle in der Zeit von 1949 bis 1969 um 25 % zurückgegangen ist. Absolut sind die Zahlen allerdings immer noch erschreckend. Im Jahre 1949 waren 8162 tödliche Arbeitsunfälle zu verzeichnen; 1969 waren es 6247.Daß aber der eingeschlagene Weg zur Verminderung der Unfallhäufigkeit richtig ist, zeigt allein schon die vom Kollegen Lampersbach angeführte Entwicklung bei den häuslichen Unfällen. Dort, wo keine intensive Beratung erfolgt, dort, wo keine Sicherheitsbeauftragten, keine Unfallingenieure tätig sind, sondern wo allenfalls das Maschinenschutzgesetz eine gewisse Einwirkung hat, ist die
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GeigerZahl der Unfälle geradezu erschreckend. Es waren 10 000 Todesopfer bei häuslichen Unfällen zu beklagen, die nicht von den Berufsgenossenschaften erfaßt werden.Eine der zwingenden Erkenntnisse aus diesem Bericht ist, daß auf diesem Gebiet trotz der Zusammenarbeit der Tarifpartner und einiger sonstiger durch die Bundesregierung installierter Einrichtungen mehr getan werden muß. Da reichen auch die Sonderveranstaltungen, die da und dort in meinem Lande und im Lande Nordrhein-Westfalen zusammen mit den Beteiligten durchgeführt worden sind, nicht aus. Es zeigt sich aber, daß wir auf dem richtigen Wege sind.Meine Damen und Herren, die volkswirtschaftliche Bedeutung der Betriebsunfälle ist groß. 5,1 Milliarden DM Kosten entstehen durch sie jährlich ohne die Fülle von privaten Mehraufwendungen, die niemand erfassen kann. Im Betrieb entstehen allein 5000 DM Kosten bei einem Betriebsunfall, ganz zu schweigen von dem menschlichen Leid, das durch einen solchen Unfall entsteht, und von dem oft verlorengehenden Lebensglück.Meine Damen und Herren, die staatliche Gewerbeaufsicht, die den Ländern untersteht, hat ihr Personal vermehrt. Trotzdem reicht dieses Personal nicht aus, um die gesetzlich vorgeschriebene oder gar die notwendige Inspektion durchführen zu können. Die Beamten müssen auch den Immissionsschutz und den Strahlenschutz — bei dem meistens die Gewerbeaufsichtsämter zuständig sind — wahrnehmen.Trotzdem will ich die in den letzten zwei Jahren zustande gekommene Zusammenarbeit zwischen den Gewerbeaufsichtsbeamten und den Betriebsräten in den Betrieben lobend hervorheben. Auch die schon genannten Sonderveranstaltungen der beiden Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg möchte ich hier lobend erwähnen.Gerade diese Zusammenarbeit zwischen der Gewerbeaufsicht und dem Aufsichtsdienst der Berufsgenossenschaften erbrachte ein positives Ergebnis. In dem vorliegenden Bericht findet sich dafür ein sehr eindrucksvolles Beispiel. Es wird dort dargelegt, daß unser 113 m hohes Neues Hochhaus — es hat 31 Stockwerke — auf Grund der intensiven Vorbereitung und Zusammenarbeit der Gewerbeaufsicht, der Berufsgenossenschaften und der Sicherheitsbeauftragten ohne einen schweren Unfall errichtet werden konnte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das scheint mir bedeutsam zu sein, weil es sich schließlich um ein bedeutendes Bauwerk handelt, und zwar nicht nur wegen der darin Tätigen, sondern vor allen Dingen wegen der technischen Konstruktionen auf dem beengten Raum. Wenn man dagegen bedenkt, daß allein beim Bau der Autobahn Frankfurt — Nürnberg in den Jahren 1956 bis 1964 21 Tote bei Arbeitsunfällen zu beklagen waren, so wird deutlich, daß die Entwicklung positiv beeinflußt werden kann.Meine Damen und Herren, die Zahl der Sicherheitsbeauftragten hat sich um 7 v. H. erhöht. Wirhaben jetzt insgesamt 268 869 solche Sicherheitsbeauftragte in den Betrieben. Trotzdem gibt es noch 13 000 Betriebe ohne einen Sicherheitsbeauftragten. Für die Zukunft stellt sich ganz besonders die Aufgabe, auch ausländische Arbeitnehmer in stärkerem Maße als Sicherheitsbeauftragte einzusetzen und ihnen das notwendige Wissen und die notwendigen Kenntnisse zu vermitteln.
Ich will mich nicht zu dem Problem äußern, die Entwicklung durch Zu- und Abschläge zu beeinflussen, Abschläge bei solchen Betrieben, die in der Unfallverhütung vorbildlich sind, und Zuschläge bei solchen Betrieben, bei denen die Unfallverhütung im argen liegt. Ein Studium des Berichtes ergibt aber, daß dort, wo wesentliche Abschläge gemacht worden sind, auch die Zahl der Unfälle im ganzen zurückgegangen ist. Deshalb sollte dieses System der Abschläge und Zuschläge weiter ausgebaut werden. Die Abschläge stellen also durchaus eine Möglichkeit dar, die Entwicklung zu beeinflussen.Ein nicht ganz befriedigendes Kapitel ist die Frage der Strafen für Säumige. Auch solche gibt es noch — trotz der Bedeutung der Unfallverhütung. Die Verwarnungen und Strafen sind zwar vermehrt worden, aber oft sind die Gerichte überfordert. Die ordentlichen Gerichte, die mit diesem Bereich wenig zu tun haben, sind den Anforderungen meistens nicht gewachsen und betrachten Vergehen gegen Arbeitsschutzbestimmungen — auch wenn diese Vergehen schwere Folgen haben könnten — als Kavaliersdelikte.Wir werden die Schulung und Ausbildung weiter fortsetzen müssen. Sie ist vermehrt worden, sie ist aber noch nicht ausreichend. Eine durchschnittliche Schulung der Sicherheitsbeauftragten an 1 bis 1,2 Tagen ist nach Auffassung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zu wenig. Verdienstvoll ist es aber — und deshalb will ich es hervorheben —, daß die Arbeitgeber und die Gewerkschaften bei der Ausbildung von Sicherheitsbeauftragten und Sicherheitsingenieuren ein hohes Maß getragen haben. Ganz besonders sind es die Gewerkschaften gewesen, die unter hohen Kosten viele Kurse und Veranstaltungen zur Verbesserung des Unfallschutzes und der Tätigkeit der Sicherheitsbeauftragten durchgeführt haben.Hier muß noch einmal herausgehoben werden, daß der hohe Anteil der ausländischen Arbeitnehmer an der Zahl der Unfallgeschädigten — allein 15 % bei den tödlich verlaufenen Unfällen — stärker gesehen werden muß. Die Schulung dort muß auch intensiver durchgeführt werden.Welche Schlußfolgerungen sind aus diesem Bericht zu ziehen? Noch einmal darf ich feststellen, daß der Bericht gut gelungen und gut gestaltet ist. Er darf und kann nicht nur eine Anhäufung von Zahlen und Schaubildern sein, sondern er muß die Grundlage für die künftige weitere Arbeit aller Beteiligten sein. Er dient vor allem — das ist ein großes Verdienst — der stärkeren Bewußtmachung der Notwendigkeiten und der Möglichkeiten der Unfallverhütung. Wenn dies in stärkerem Maße ge-
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Geigerschieht, wird die Entwicklung — dessen bin ich sicher — weiter positiv verlaufen.Man sollte auch den hohen erzieherischen Wert des Berichts herausheben. Er kann in vielen Fällen die Grundlage für schöpferische Leistungen zur Unfallverhütung bei allen Beteiligten sein. Das Ziel — darin sehe ich einen Sinn dieses Berichtes — wird durch die Verbreitung der Erkenntnisse über die Humanisierung des Arbeitslebens leichter zu erreichen sein.Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle den Be teiligten den Dank der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion aussprechen. Er gilt dem Arbeitsministerium, den Berufsgenossenschaften, der Gewerbeaufsicht und den Instituten, aber ebenso den Sicherheitsbeauftragten, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern. Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ergibt sich für die Zukunft die Aufgabe, diese Entwicklung fortzuführen und vor allen Dingen auch auf der betrieblichen Ebene den Gesundheitsschutz und die Gesundheitssicherung stärker auszubauen, aber nicht nur diesen medizinischen Schutz, sondern vor allen Dingen auch den technischen Schutz. Es ist bereits von Herrn Minister Arendt ausgeführt worden, daß nicht nur Kontrollen von außen eine solche Entwicklung beeinflussen können, sondern daß man auch durch sinnvolle Ausgestaltung der innerbetrieblichen Unfallverhütungsmaßnahmen, durch sinnvolle Berufung und Ausbau des werksärztlichen Dienstes ebenso wie durch obligatorische Bestellung von Sicherheitsingenieuren, die ihre Aufgabe unabhängig erfüllen können, entsprechende Entwicklungen beschleunigen kann.Eines sollten wir dabei nicht außer acht lassen: zwar gibt es da und dort an den Hochschulen Lehrstühle für Arbeitsmedizin; die Vorlesungen dieser Professoren werden aber nur von wenigen Hörern besucht. Dabei haben die Arzte später gerade in diesem Bereich viel zu tun. Der Grund für die geringe Hörerzahl in diesem Fach ist darin zu sehen, daß Arbeitsmedizin zum größten Teil kein Pflichtfach ist. Das führt dazu, daß die Studenten angesichts ihrer allgemeinen Überlastung diese Vorlesungen nicht belegen, obwohl sie später im Beruf gerade im Bereich der Arbeitnehmer und der Arbeitswelt zahlreiche Aufgaben zu erfüllen haben.Es besteht kein Grund, die Probleme überzubewerten. Ebenso aber ist kein Grund vorhanden, sie zu bagatellisieren. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht durch diesen Bericht und die sich aus ihm ergebenden Erkenntnisse ihre Politik einer umfassenden Gesundheitsvorsorge und Gesundheitssicherung, ihre Politik der Schadensverhütung bestätigt. Sie hat dabei nicht nur die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Politik im Auge. Vielmehr dient diese Politik den Menschen, der Erhaltung ihrer Gesundheit und damit auch der Vergrößerung ihres Lebensglücks. Das ist fürwahr eine Aufgabe, die des Bundestages würdig ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Geldner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst feststellen, daß hinsichtlich dieses Unfallberichts eine weitgehende Einigkeit zwischen Regierung und Opposition besteht. Auch Kollege Lampersbach hat in seinen Ausführungen diesen Unfallbericht des Jahres 1968/69 hier gewürdigt. Ich möchte aber auch im Namen der Fraktion der Freien Demokraten an dieser Stelle dem Ministerium den Dank für diesen umfassenden Bericht aussprechen, der sich sehr wohltuend von den Berichten der Vorjahre abhebt. Das betrifft zunächst einmal seine Gestaltung. Er ist gegliedert in einen Textteil, den Berichtsteil, die Vorschriften über den Arbeitsplatz und die Zahlenübersicht. Wenn man bei der Papierflut, die heute auf uns zukommt, diesen Bericht näher analysiert, so kann man wohl sagen, daß er nicht nur den Abgeordneten, sondern allen denen, die sich damit zu befassen haben, eine verständliche Unterlage sein wird.Leider hat die Zahl der angezeigten Unfälle weiter zugenommen. Wie ich allerdings aus der Entwicklung des Jahres 1970 ersehen kann — wir haben einige Zahlen bekommen —, ist, während das Unfallgeschehen im Jahre 1968/69 um 4,7 %, gestiegen ist, im Jahre 1969/70 nur noch ein Anstieg um 1,8 % zu verzeichnen. Ich glaube, das sollte eine gewisse Ermunterung für die Regierung sein, alles daranzusetzen, das Unfallgeschehen noch weiter herabzudrücken.Wenn man in erster Linie die menschliche Tragik, die sich aus den Unfällen ergibt, auf der anderen Seite aber auch die aus den Unfällen resultierenden wirtschaftlichen Ausfälle betrachtet, so muß uns dieser Unfallbericht weiter zu denken geben. Gerade bezüglich der Wegeunfälle, deren Zahl eminent zugenommen hat — wenn sie auch nur 10 % der Zahl der gesamten Unfälle ausmachen — und die gerade die schweren Gesundheitsschädigungen nach sich ziehen, ist es auch für die Unfallforschung eine Aufgabe der Zukunft, alles daranzusetzen, die Aufklärung auf diesem Gebiet nachhaltiger zu gestalten, damit die Zahl dieser Wegeunfälle zurückgedämmt werden kann. Diese hohe Zuwachsrate der Wegeunfälle ist vielleicht auch eine verkehrspolitische Frage, die in Zukunft eingehend geprüft werden muß.Ich darf nun auf die wirtschaftlichen Aussagen des Berichts und die Aufwendungen eingehen. Allein die Unfallversicherung hat diese Aufwendungen mit mehr als 5 Milliarden DM im Jahre beziffert, wobei natürlich die Ausfälle in den Betrieben noch nicht voll berücksichtigt sind. In diesem Zusammenhang darf ich bemerken, daß sich auf Seite 39 des Berichts bezüglich der Berufsgenossenschaft ein Fehler eingeschlichen hat. Es darf dort nicht heißen: „pro tausend Beschäftigte", sondern es muß heißen, daß ein Beschäftigter eine Zahlung von durchschnittlich 200 DM zu leisten hat. Es ist für uns von eminenter Bedeutung, daß auch diese Kosten, die in dem Bericht noch nicht erfaßt sind — sie gehen zum Teil bis zu 5 000 DM pro Unfall , in Betracht gezogen werden.Bei dieser Gelegenheit muß auch einmal darauf geachtet werden, daß gerade die kleinen und mittleren Betriebe angesichts der Unfallhäufung den
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GeldnerKostenfaktor mehr denn je in ihr Kalkül einbeziehen müssen. Die Großbetriebe verfügen ohnehin über die Grundlagen für eine solche Berechnung. Ich glaube, wir müssen dem Unfallgeschehen vor allem im handwerklichen und mittelständischen Bereich größere Beachtung schenken. Diese Frage ist von eminenter Bedeutung. Wir Freien Demokraten begrüßen es, daß heute eine intensivere Unfallforschung betrieben wird- und entsprechende Arbeiten insbesondere über arbeitsmedizinische und sicherungstechnische Fragen in Auftrag gegeben werden.In diesen Bereich gehört auch die Skizzierung eines Gesetzentwurfs über den Ausbau des Arbeitsschutzes durch sicherheitstechnische Fachkräfte und Betriebsärzte. Das muß jedoch zunächst mit allen Gruppen, die sich mit Fragen des Unfallgeschehens befassen, abgestimmt werden, damit nach einer sachgemäßen Behandlung optimale Lösungen gefunden werden können. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß in der gewerblichen Wirtschaft der überwiegende Teil der Arbeiter in Betrieben mit weniger als 200 Beschäftigten tätig ist. Maßnahmen, die, wie ich schon ausführte, in Großbetrieben sehr viel deutlicher werden, müssen in Zukunft auch in Kleinbetrieben sichtbarere Auswirkungen haben. Ich möchte das nur erwähnen, damit bei der weiteren Arbeit an diesem Fragenkomplex allen Gegebenheiten Rechnung getragen wird.Die Unfallhäufigkeit ist bei ausländischen Beschäftigten wesentlich größer als bei deutschen Arbeitnehmern. Die vergleichsweise hohe Quote von Unfällen, die ausländische Arbeitnehmer erleiden, läßt die Vermutung zu, daß ihre Gefährdung bei Aufnahme der Tätigkeit sehr viel größer ist als nach einer gewissen Anpassung an die Umgebung, nach Kenntnis der Unfallmöglichkeiten und nach entsprechender Einstellung. Es ist wichtig, daß wir darauf in Zukunft unser besonderes Augenmerk lenken. Der Katalog der geplanten und eingeleiteten Maßnahmen wird sicherlich dazu beitragen, die Distanz der ausländischen zu den deutschen Arbeitnehmern, was die Unfallhäufigkeit angeht, in Zukunft wesentlich zu verringern.In diesem Bericht ist u. a. festgestellt — ich bitte, das nicht falsch zu verstehen —, daß für die Beamten der Weg zum Arbeitsplatz wesentlich unfallträchtiger ist als umgekehrt. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß sie rechtzeitig am Arbeitsplatz erscheinen wollen.Im Ausschuß ist auch der Wunsch nach einer besseren Erfassung der Unfälle im häuslichen Bereich geäußert worden. Ich hoffe, daß diesem Wunsch in Zukunft Rechnung getragen wird. Darüber gibt es — das darf ich einmal kritisch anmerken — bis heute noch keine Statistik, weil die entsprechenden Voraussetzungen fehlen. Die meisten Unfälle im häuslichen Bereich konnten bis dato noch nicht erfaßt werden.Wir Freien Demokraten begrüßen diesen Bericht und bedanken uns dafür. Obwohl es sehr schwierig sein wird, sollten wir aber auch die Erfahrungen, die in anderen Staaten auf diesem Gebiet gesammelt worden sind, in unsere Überlegungen einbeziehen.Ich weiß, daß es sehr schwierig ist, Vergleiche zu anderen westeuropäischen Staaten oder zu den USA zu ziehen. Trotzdem sollten wir die Vorstellungen, die andere Staaten zur Frage der Unfallverhütung entwickelt haben, zur Kenntnis nehmen.Der Gesetzgeber ist nur in beschränktem Umfang in der Lage, seinen Teil zur Unfallverhütung beizutragen. Letztlich wird es von jedem einzelnen abhängen, in welche Unfallrisiken er sich durch das Nichtbeachten von Sicherheitsvorschriften begibt.
Dieser Bericht soll mit deutlich machen, daß es sich für den einzelnen Beschäftigten, auch aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet, lohnt, mögliche Gefahrenquellen zu erkennen und durch ein entsprechendes Verhalten körperliche und wirtschaftliche Schädigungen in Zukunft zu vermeiden.Wir Freien Demokraten begrüßen diesen Bericht und hoffen, daß dieser Bericht des Jahres 1968/69 ein Leitfaden sein wird, um in Zukunft das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik noch aktiver zu erfassen und damit zurückzudrängen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache in erster Lesung. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Bericht an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 20 der heutigen Tagesordnung auf:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft über den Antrag der Abgeordneten Dr. Martin, Dr. Schober, Dr. Kotowski, Dr. Mikat, Rock, Dr. Schulze-Vorberg und der Fraktion der CDU/CSU betr. die soziale Lage der Schriftsteller, Komponisten und bildenden Künstler
— Drucksachen VI/467, VI/2081 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schober
Abgeordneter Wende
Die Herren Berichterstatter haben um das Wort gebeten. Zunächst hat Herr Abgeordneter Dr. Schober das Wort als Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses Haus hat sich am 17. April 1970 mit einem Antrag der Fraktion der CDU/CSU beschäftigt, wonach die Bundesregierung aufgefordert wird, eine Sozialenquete über die soziale Lage der Schriftsteller, Komponisten und bildenden Künstler durchzuführen. Es ist in der Debatte des damaligen Tages von allen Fraktionen einhellig befürwortet worden, daß wir uns um den von mir eben genannten Personenkreis kümmern, und auch, die Beratung im Wissenschaftsausschuß hat ergeben, daß wir die Ergebnisse dieser Sozial-
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Dr. Schoberenquete gern so bald wie möglich vorliegen habenmöchten Wir waren uns also in dieser Frage einig.Nun hat aber die Sache einen Verlauf genommen, der die weitere Behandlung ein bißchen schwierig gemacht hat. Ausgegangen war die Anregung zur Sozialenquete über die künstlerischen Berufe vom Verband deutscher Schriftsteller. Der Verband deutscher Schriftsteller hat die Verhandlungen im Bundestag und auch die Überlegungen der Bundesregierung offenbar nicht abwarten können oder nicht abwarten wollen. Er hat sich an ein privates Institut gewandt, nämlich an das Hamburger Institut für Projektstudien. Dieses Institut ist im Augenblick dabei, die von uns beantragte Sozialenquete über Komponisten, Schriftsteller und bildende Künstler durchzuführen.Wir haben es ein wenig bedauert, daß die Sozialenquete dadurch aus der direkten Einflußnahme dieses Hauses und der Bundesregierung gekommen ist. aber der Wissenschaftsausschuß war einmütig der Auffassung, daß man nicht noch eine zweite Sozialenquete über diesen Personenkreis veranstalten sollte. Wir werden also die Ergebnisse, die hoffentlich bald vorliegen, zur Kenntnis nehmen und daraus Folgerungen zu ziehen versuchen.Nun ist aber insofern eine neue Situation eingetreten, als sich der Personenkreis, über den wir gern Aufschluß erhalten möchten, ausgeweitet hat. Bei unseren Überlegungen darüber, wie es all den Menschen geht, die selbständig künstlerisch tätig sind, hat sich ergeben, daß uns auch die freien Bühnendarsteller, die Musikerzieher, die Musikinterpreten und schließlich auch im weiteren Sinne die Journalisten, die Bildjournalisten und die ständigen freien Mitarbeiter der Rundfunk- und Fernsehanstalten in ihrer Lebenshaltung, auch in ihrer Selbsteinschätzung, noch Fragen aufgeben.Wir waren deswegen im Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft einmütig der Auffassung, daß die ursprünglich geforderte Sozialenquete auf diesen Personenkreis ausgedehnt werden sollte. Es ist nun die Frage, wie das gemacht werden soll, ob einfach ein Anschlußauftrag an das Hamburger Institut für Projektstudien gegeben werden soll, oder ob ein anderes Institut mit der Durchführung dieser Untersuchungen beauftragt werden soll. Eigentlich ergibt sich aus der Natur der Sache ein Anschlußauftrag an das Hamburger Institut, aber es ist ohne Zweifel so — das haben wir jedenfalls durch unsere Nachfragen erfahren —, daß das Hamburger Institut schon mit dieser Enquete sehr stark belastet ist und daß wir die Ergebnisse der Untersuchungen über die Lage der Schriftsteller, Komponisten und bildenden Künstler nicht auf einmal bekommen werden, sondern daß hier eine Untersuchung der Reihe nach stattfindet. Es ist zu befürchten, daß die Sache, wenn wir die Sozialenquete auf neue Personenkreise ausdehnen, noch länger dauern wird. Es wäre deswegen durchaus zu überlegen, ob man nicht ein anderes Institut mit der Erarbeitung dieser erweiterten Sozialenquete beauftragen sollte.Nun einige wenige kurze Worte über die Personenkreise, die neuerdings angesprochen werdensollen. Zunächst haben uns, wie ich schon sagte, die Musikinterpreten und die Musikerzieher vorgeschwebt — auch sie ein bedeutender Bestandteil des Kulturlebens unserer Gesellschaft. Ich meine, daß alle diejenigen, die sich mit dem Musikleben in unserer Gesellschaft beschäftigen, zur Kenntnis nehmen müssen, daß es .zumindest nach außen nicht mehr den Anschein hat, als sei Deutschland das führende Land der Musik. Bei internationalen Musikwettbewerben schneiden unsere Bewerber nicht immer am günstigsten ab. Es gibt andere Länder, die eine sehr viel konsequentere Förderung des musikalischen Nachwuchses betreiben.Wir möchten gerne Auskunft darüber erhalten, wie die Situation — —
Herr Kollege Schober, entschuldigen Sie bitte: es liegt ein Schriftlicher Bericht vor, und diesen Bericht wollen Sie ergänzen. Ich habe die Sorge, daß wir ein wenig in eine Aussprache kommen. Sie können sich ja im Rahmen der Debatte gern wieder zu Wort melden.
Herr Präsident, ich glaube, daß ich mich an den Bericht halte. Ich bin dabei, die Meinung des Ausschusses ein bißchen ausführlicher darzustellen. Aber ich werde mich, wenn Sie es wünschen, in dieser Frage auch kurz fassen.Wir meinen, daß wir auch die Lage der Musikerzieher und der Musikinterpreten untersuchen lassen sollten, vor allen Dingen im Hinblick auf die Altersversorgung dieses Personenkreises. Sie wissen sicherlich ebenso wie wir im Ausschuß, daß all diejenigen, die sich der Musik als Lebensaufgabe verschrieben haben, in wirtschaftlicher Hinsicht nicht in der besten Situation sind, vor allen Dingen auch bezüglich ihrer Altersversorgung.Der Ausschuß ist weiter der Auffassung, daß wir uns auch der freien Journalisten annehmen sollten. Hier ist die Lage insofern ein wenig verworren, als die freien Journalisten gewissermaßen in drei Kategorien einzuteilen sind. Es handelt sich bei ihnen einmal um Arbeitnehmer, die in einem befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis stehen; zweitens handelt es sich um freie Mitarbeiter, bei denen die rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen einer selbständigen Tätigkeit gegeben sind; schließlich geht es noch um die sogenannten selbständigen freien Mitarbeiter, die in der Regel als arbeitnehmerähnliche Personen angesehen werden. Dieser ganze Komplex der freien Journalisten scheint uns ebenfalls erhellungsbedürftig, wiederum vor allen Dingen im Hinblick auf die soziale Lage im. Alter.Schließlich geht es noch um die Bühnendarsteller. Es ist vielleicht interessant zu wissen — auch das hat den Ausschuß beschäftigt —, daß 23 919 Personen bei Bühnen in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind. Auch hier möchten wir gerne die soziale Lage erhellt haben; vor allen Dingen stellen wir hier die Frage: wie geht es dem bei der
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Dr. SchoberBühne beschäftigten Künstlern im Alter? Wir suchen auch hier nach Möglichkeiten, seine soziale Lage zu verbessern.Meine Damen und Herren, der Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft bittet Sie heute, folgenden Beschluß zu fassen:Die Bundesregierung wird aufgefordert, einen Bericht über die soziale Lage der freien Bühnendarsteller, Musikerzieher, Musikinterpreten, Journalisten, Bildjournalisten und der ständigen freien Mitarbeiter der Rundfunk- und Fernsehanstalten dem Deutschen Bundestag vorzulegen. Der Bericht soll Auskunft geben über die Einkünfte und die Vermögensverhältnisse der genannten Personengruppen sowie über deren Stellung in der Gesellschaft .Der Bericht soll außerdem eine vergleichende Darstellung der wirtschaftlichen Lage und der sozialen Stellung der freien Bühnendarsteller, Musikerzieher, Musikinterpreten, Journalisten, Bildjournalisten und der ständigen freien Mitarbeiter der Rundfunk- und Fernsehanstalten in den vergleichbaren europäischen Ländern enthalten.Wir wären dem Hohen Hause dankbar, wenn dieser Beschluß gefaßt würde, denn dieser selbständig künstlerisch tätige Personenkreis ist für die Gesellschaft — vor allen Dingen für die Zukunft unserer Gesellschaft und für die Bildung in unserer Gesellschaft —, wie wir als Ausschuß meinen, von erheblicher Bedeutung.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wende.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mich als Mitberichterstatter im wesentlichen den Ausführungen von Herrn Kollegen Dr. Schober anschließen. Lassen Sie mich aber doch namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zu dem Fragenkomplex noch einige Bemerkungen machen.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt die Initiative des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu diesem Bericht über die soziale Lage der freiberuflich Schaffenden in Kunst, Kultur und Publizistik. Sie ist weiterhin erfreut darüber, daß es bei den Beratungen im Ausschuß möglich gewesen ist, mit den Vertretern der anderen Fraktionen Übereinstimmung in der Sache zu erzielen. Wenn es gegenüber dem ursprünglich angesprochenen Kreis von Schriftstellern, Komponisten und bildenden Künstlern in dem nunmehr vorliegenden Antrag zu der Erfassung nahezu sämtlicher frei beschäftigten Gruppen in Kunst- und Kulturleben gekommen ist,so sehen wir darin eine wünschenswerte und längst überfällige sozialpolitische Aufgabe.Während der Laufzeit der Ausschußberatungen — der Kollege Dr. Schober hat schon darauf hingewiesen — wurde bekannt, daß einzelne Gruppen bereits Gegenstand von Untersuchungen bei verschiedenen Instituten sind. So konnte in Erfahrung gebracht werden, daß sich das Hamburger Institut für Projektstudien auf Grund einer eigenen Initiative zur Zeit mit einer umfassenden Analyse der schriftstellerisch Tätigen befaßt. Einer ähnlichen Befragungsaktion von privater Seite sieht eine andere wichtige Gruppe in diesem Bereich, nämlich die der bildenden Künstler, entgegen. Daher wurden diese Gruppen in dem neuen Antrag, der heute zur Beschlußfassung vorliegt, nicht mehr namentlich erwähnt; denn es erscheint in der Tat unzweckmäßig, neben diesen privaten Analysen gleichzeitig noch eine weitere Befragung durch eine für denselben Personenkreis geltende Aktion durch die Bundesregierung zu veranlassen.Andererseits ist es sicher nützlich, daß die dabei schon erarbeiteten grundsätzlichen Befragungskriterien auch auf den heute nun im Antrag genannten Personenkreis, also freie Bühnendarsteller, Musikerzieher, Musikinterpreten, freie Journalisten, Bildjournalisten und die ständigen freien Mitarbeiter der Rundfunk- und Fernsehanstalten, mit angewendet werden, zumal da einige dieser Berufsgruppen ohnehin ineinanderfließende Beschäftigungs- und Erwerbsmerkmale aufweisen und somit zu erwarten steht, daß hier mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand ein hohes Maß an Aussagekraft erzielt werden kann.In seiner Rede auf dem Schriftstellerkongreß in Stuttgart am 21. November 1970 hat der Herr Bundeskanzler der Befürchtung Ausdruck gegeben, die Sozialenquete zur Situation freischaffender Künstler in der Bundesrepublik werde, wenn sie einmal vorliege, ein eher bedrückendes Bild ergeben. Allein diese sicherlich zutreffende Bemerkung macht doch deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie nötig eine solche Untersuchung ist.Betrachtet man nur einmal eine der Gruppen, die freien Mitarbeiter bei Rundfunk- und Fernsehanstalten z. B., deren soziale und rechtliche Lage erfreulicherweise auch andere Gremien — Gewerkschaften, Verband deutscher Schriftsteller, weitere Berufsorganisationen zu verbessern bemüht sind, so stellt man bereits auf den ersten Blick unhaltbare, den Leistungen und der Bedeutung dieser Berufsgruppe für Staat und Gesellschaft keineswegs entsprechende Lebens- und Arbeitsbedingungen fest. Eine Vielzahl in sonstigen Bereichen längst geklärter sozialpolitischer Fragen ist hier noch unbeantwortet, Fragen etwa wie: Gewähren die Rundfunk- und Fernsehanstalten den freien Mitarbeitern eine Altersversorgung, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Höhe? Wie ist die Frage der Verfallbarkeit oder Rückzahlung bereits erworbener Versorgungsanwartschaften geregelt? Betrachten die Anstalten freie Mitarbeiter als arbeitnehmerähnliche Personen im Sinne von § 2 des Bundesurlaubsgesetzes und § 5 des Arbeitsgerichts-
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Wendegesetzes? Sind freie Mitarbeiter sozial- und arbeitslosenversicherungspflichtig? Wie verhalten sich die Rundfunk- und Fernsehanstalten im Falle von Krankheit ihrer ständigen freien Mitarbeiter? All diese Probleme sind von den Rundfunk- und Fernsehanstalten in der Bundesrepublik noch nicht befriedigend und schon gar nicht einheitlich geregelt worden. Das geht auch aus den Antworten der Bundesregierung in Drucksachen VI/934 und VI/1981 hervor, die auf Kleine Anfragen aus diesem Hause gegeben wurden.Gegenüber der wachsenden und auch zunehmend bewußten Abhängigkeit der Autoren von der Medienindustrie stellt sich für diese nun grundsätzlich das Problem der politischen, ökonomischen und auch rechtlichen Standortbestimmung. Ein solches Lagebewußtsein zu ermitteln sollte auch Ziel einer solchen Studie sein. Ohne genaue Kenntnis der Produktionsverhältnisse, der ökonomischen und sozialen Situation der Autoren können sowohl der Staat als auch die für diesen Personenkreis tätigen Verbände den ökonomischen Problemdimensionen, die erwartet werden müssen, kaum entsprechen, kann aber auch eine politische Verbindlichkeit nicht erreicht werden.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht daher in dem heute zu fassenden Beschluß auf Erstellung einer Sozialenquete den zusammenfassenden Auftrag an die Bundesregierung, durch neue Erkenntnisse die Grundlage für notwendige gesellschaftspolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der in Kunst, Kultur und Publizistik frei Schaffenden in unserem Land zu schaffen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Den Antrag des Ausschusses, den der Herr Berichterstatter noch einmal vorgetragen hat, finden Sie auf der Drucksache VI/2081. Ich brauche ihn nicht zu wiederholen. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache VI/2081 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Damit, meine Damen und Herren, stehen wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. Mai 1971, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.