Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen der Bundesregierung vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Vorlage des Bundeskanzlers
Betr.: Investitionsprogramm des Bundes 1970 bis 1974
Drucksache VI/1698
zuständig: Haushaltsausschuß , Ausschuß für Wirtschaft
Vorlage des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung
Betr.: Bericht der Bundesregierung über die Art, den Umfang und den Erfolg der von ihr oder den Länderregierungen vorgenommenen Beanstandungen betreffend die Anwendung des Artikels 119 des EWG-Vertrages
Drucksache VI, 1702 —
zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; es ist also entsprechend beschlossen.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vorn 1. Februar 1971 unter Bezug auf cien Beschluß des Bundestages vom 8. April 1959 und vom 16. Oktober 1964 eine Ubersicht über die Beschäftigung Schwerbeschädigter bei den Bundesdienststellen nach dem Stand vom 1. November 1970 übersandt, die als Drucksache VI/1804 verteilt wird.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat am 26. Januar 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Katzer, Frau Stommel, Müller , Rollmann, Burger und Genossen betr. Ausbildungsförderung von Fachoberschülern mit abgeschlossener Berufsausbildung — Drucksache VI/598 —beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1805 verteilt.
Wir treten ein in den Punkt 1 der Tagesordnung: Fragestunde
— Drucksache VI/1781 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf, zunächst die Frage 130 des Abgeordneten Heyen:
Bietet die Nahostpolitik der Bundesregierung irgendeinen Anhaltspunkt dafür, daß die Kontinuität der freundschaftlichen Beziehungen zu Israel durch die außenpolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung in Zweifel gezogen werden könnte?
Der Abgeordnete ist anwesend. Zur Beantwortung der Parlamentarische Staatssekretär Moersch.
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet Nein. Die Nahost-Politik der Bundesregierung beruht auf folgenden Grundsätzen: Nichtparteinahme im Nahost-Konflikt, Unterstützung aller Bemühungen um eine friedliche Beilegung auf der Grundlage der Nahost-Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 22. November 1967 und Pflege guter und freundschaftlicher Beziehungen zu allen Staaten dieses Raumes, die solche Beziehungen wünschen.
Die Bundesregierung ist auch bestrebt, zu gegebener Zeit normale Beziehungen zu jenen Staaten wiederherzustellen, die die diplomatischen Beziehungen zu uns abgebrochen haben. Eine solche außenpolitische Zielsetzung gibt nach Auffassung der Bundesregierung keine Veranlassung, ihre Absicht der Fortsetzung der freundschaftlichen Beziehungen zu Israel in Zweifel zu ziehen.
Eine Zusatzfrage? — Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 131 des Abgeordneten Heyen auf:
Teilt die Bundesregierung die in der israelischen Zeitung Ma ariv" am 5. Januar 1971 geäußerte Meinung, daß eine Entspannung in Mitteleuropa auch bei der Losung des Nahostkonfliktes behilflich sein könnte?
Bitte, zur Beantwortung!
Die Antwort lautet: Die Faktoren, die die politische Entwicklung in Mitteleuropa beeinflussen, haben eine andere Qualität als jene im Nahen Osten. In Mitteleuropa versuchen zwei unterschiedliche Gesellschaftsordnungen einen Modus vivendi für ihre friedliche Koexistenz zu finden, im Nahen Osten hingegen geht es um die Beendigung einer langjährigen bewaffneten Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Staaten dieses Gebiets. Beide Vorgänge haben aber gemeinsam, daß sie wichtige Einzelaspekte der internationalen Politik und der Beziehungen zwischen Ost und West sind. Ein Entspannungsprozeß in Europa könnte sich deshalb sehr wohl günstig auf die Lage im Nahen Osten auswirken und umgekehrt.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Marx.
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5464 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Herr Staatssekretär, bitte zur Verdeutlichung: Sagten Sie eben, in Mitteleuropa strebten zwei gegensätzliche Gesellschaftsordnungen danach, einen Modus videndi zu finden?
Ich habe gesagt, daß in Mitteleuropa zwei verschiedene Gesellschaftsordnungen versuchen, miteinander zu leben, nebeneinander zu leben, einen Modus vivendi zu finden.
Daß sie es beide versuchen, beide aktiv versuchen?
Ich spreche hier für die Bundesregierung. Ich gehe davon aus, daß beide es versuchen müssen, wenn es gelingen soll.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Metzger.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung des Generalsekretärs der CDU, die er im Deutschland-Union-Dienst vom 11. Januar 1971 geäußert oder, besser gesagt, unterstellt hat, — —
Herr Kollege, es wird hier die Bundesregierung gefragt
— Verzeihung, Herr Kollege —, aber nicht nach ihrer Meinung über andere. Sie können ohne Nennung des Namens fragen, ob sie die folgende Auffassung teilt. Die Nennung des Namens lasse ich nicht zu. Ich kann die Frage mit Nennung des Namens nicht zulassen, weil die Bundesregierung nicht danach gefragt werden kann, was andere Kollegen des Hauses geäußert haben.
Gut, dann stelle ich die Frage anders. Teilen Sie die Auffassung, daß es Anzeichen oder Gründe dafür gibt, daß die Politik der Bundesregierung, vor allen Dingen auch die Deutschland-und Ostpolitik der Bundesregierung, in Israel Gründe für Mißtrauen und Unbehagen setzt?
Ich habe diese Frage bereits dem Kollegen Heyen beantwortet. Es gibt keine vernünftige Begründung dafür, und es ist mir unerfindlich, wie jemand zu solchen Behauptungen kommen konnte.
Ich rufe die Frage 132 des Abgeordneten Freiherr von Fircks auf:
Kann die Bundesregierung erklären, daß sie bei den angekündigten deutsch-polnischen Verhandlungen über praktische Schritte der Normalisierung der Beziehungen im Wege der Gegenseitigkeit die Aufhebung der Einfuhr- und Verkaufsbeschränkungen für westdeutsche Publikationen in Polen betreiben wird, um auf diese Weise für die polnische Bevölkerung und die in Polen lebenden Deutschen mehr und umfassendere Informationsmöglichkeiten über die Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung zu stellen?
Zur Beantwortung, bitte!
Herr Abgeordneter, zur Frage 132 lautet die Antwort wie folgt. Bei den derzeitig in Warschau laufenden deutschpolnischen Wirtschaftsverhandlungen im Rahmen der gemischten Kommission wird die deutsche Delegation die Frage einer erweiterten Ausfuhr von Zeitschriften und Zeitungen aus der Bundesrepublik nach Polen anschneiden.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 133 des Abgeordneten Freiherr von Fircks auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, im Wege der Gegenseitigkeit schon jetzt eine in polnischer Sprache erscheinende deutsche Zeitschrift mit umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Informationen über die Bundesrepublik Deutschland in Polen zur Verteilung zu bringen, ähnlich wie umgekehrt polnische Stellen die deutschsprachige Informationszeitschrift „Polnische Perspektiven", herausgegeben vom Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten in Warschau, ungehindert in der Bundesrepublik Deutschland verteilen kann?
Die Antwort lautet wie folgt.
Die Bundesregierung rechnet mit einer Zunahme des polnischen Interesses an Informationen über die Bundesrepublik Deutschland im Verlauf der Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Die Bundesregierung wird die Möglichkeit der Veröffentlichung einer zum Versand in Polen bestimmten Zeitschrift mit Informationen über die Bundesrepublik Deutschland prüfen, sobald hierfür ein Bedürfnis erkennbar werden sollte.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, sehen Sie eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß beide Seiten in den gegenseitig ausgetauschten Informationsschriften ihre staatliche Bezeichnung so wählen, wie es der betreffende Partner für sich selbst tut?
Herr Abgeordneter, ich halte das nicht für schwierig. Wir haben beide in einem Vertrag unsere Bezeichnungen niedergeschrieben. Ich nehme an, daß das die Basis für eine solche Bezeichnung ist.Im übrigen muß ich Ihnen folgendes sagen. Im Gegensatz zu einer landläufigen Auffassung halte ich überhaupt nichts davon, daß mehr oder weniger amtliche Publikationen an Leute verschickt werden, die sie gar nicht bestellt haben. Wir haben eine große freie Presse. Wir haben eine Publizistik, die alle Schattierungen unserer politischen Auffassungen und unseres gesellschaftlichen Lebens wiedergibt. Diese Publizistik ist frei, die Bezeichnung so zu wählen, wie sie sie für richtig hält. Ich kann nur hoffen, daß
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5465
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschüberall im Ausland die deutschen Publikationsorgane gegen Entgelt bezogen werden können, die dort gewünscht werden. Dinge, die man verschenkt, taugen im allgemeinen nichts, weil sie als Propaganda angesehen werden.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht doch für einen Unterschied, wenn hier als Herausgeber das Polnische Institut für internationale Angelegenheiten verantwortlich zeichnet und dort die Bezeichnung unseres Staates anders gewählt wird, als wir uns selbst bezeichnen?
Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen. Ich kenne die Schrift, die Sie in der Hand haben, nicht. Ich kann nur sagen, daß wir uns nicht von anderen vorschreiben lassen, wie wir uns selbst nennen; und umgekehrt gilt dasselbe.
Präsident von Hasse!: Verzeihung, Sie können keine Zusatzfrage mehr stellen. Sie können die Unterlage dem Herrn Staatssekretär übergeben.
Ich rufe die Frage 134 des Abgeordneten Storm auf:
Ist der Bundesregierung die finanzielle Situation der UNRWA im Rechnungsjahr 1971 bekannt, und wie hoch waren die Mittel in den letzten fünf Jahren, mit denen sich die Bundesregierung an den Aufgaben der UNRWA beteiligte?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet wie folgt. Die Bundesregierung hat Kenntnis von der schlechten Finanzsituation der UNRWA, nicht zuletzt durch die zahlreichen dringenden Appelle seitens der Vereinten Nationen, die Finanzlage dieser Organisation zu verbessern. Die Bundesregierung hat in den Jahren 1966 bis 1970 jährlich 2 Millionen DM an die UNRWA gezahlt. Als Sonderbeitrag zum Berufsschulprogramm der UNRWA kamen 1967 1 Million DM und 1968 2 Millionen DM hinzu. Außerdem hat die Bundesrepublik Deutschland einen Sonderfonds von 50 Millionen DM zur Linderung der Not der Palästina-Flüchtlinge errichtet, aus dem 1968 rund 5 Millionen DM und seit 1969 jährlich etwa 10 Millionen DM gezahlt werden.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Storm.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, ob sich in diesem Zeitraum deutsche karitative Verbände mit Sach- und Geldspenden daran beteiligt haben?
Ich kann Ihnen die Frage im Augenblick nicht beantworten. Das müßte ich nachprüfen lassen; es war in Ihrer schriftlichen Frage gewissermaßen nicht enthalten.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Storm.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, in diese Gebiete auch Fachpersonal zu schicken, um dort zu helfen? Oder hat sie das bereits getan?
Soweit mir bekannt, ist die Zusammensetzung der Helfer dort durchaus international. Ich müßte mich wundern, wenn nicht deutsche Staatsangehörige dabei wären. Es handelt sich aber um eine Organisation der Vereinten Nationen, zu der wir im Rahmen unserer Möglichkeiten beitragen. Ich bin sicher, daß wir da auch fachlich vertreten sind, etwa bei diesem Berufsschulprogramm und ähnlichem.
Ich rufe die Frage 135 des Abgeordneten Storm auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, in Zukunft ihren Anteil an den Finanzmitteln der UNRWA zu erhöhen, oder welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zur ausschließlich humanitären Hilfe für die palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten, ohne daß das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten fremder Staaten verletzt wird?
Die Antwort lautet wie folgt. Dies ist gegenwärtig nicht beabsichtigt, da bis 1973 noch Mittel aus dem Sonderfonds von 50 Millionen DM fließen, die für Projekte zugunsten der Palästina-Flüchtlinge verwendet werden. Solange aus diesem Fonds jährlich etwa 10 Millionen DM für Projekte auf dem Gebiet des Erziehungs- und Gesundheitswesens zur Verfügung stehen, kann an eine Erhöhung der insgesamt sehr beachtlichen Bundesmittel für diesen Zweck nicht gedacht werden. Die deutschen Hilfsgelder für die Palästina-Flüchtlinge werden in Zusammenarbeit mit der UNRWA und den Gastländern mit Hilfe des UNRWA-Verwaltungsapparats abgewickelt. Diese Praxis soll beibehalten werden. Eine Gefahr der Einmischung in innere Angelegenheiten fremder Staaten besteht daher praktisch bei unseren Hilfeleistungen nicht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Storm.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, Stipendien für die Berufsausbildung dieser Gruppen zu geben?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat in den Fonds Gelder gezahlt, und die Verteilung dieser Gelder obliegt der Organisation selbst. Eine zusätzliche direkte
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5466 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Parlamentarischer Staatssekretär MoerschFörderung kommt auf Grund der jetzt schon bestehenden hohen Leistungen wohl kaum in Frage. Wenn es sich um Sonderfälle oder Härtefälle anderer Art handelt, wo wir unmittelbar betroffen sind, mag die Frage erneut geprüft werden. Aber ich meine, daß die Bundesrepublik Deutschland hier bisher vorbildlich geholfen hat, und ich kann nur hoffen, daß andere Staaten sich diesem Vorbild stärker annähern, als das bisher geschehen ist.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 136, 137, 138 und 139 werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir sind damit am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt; ich danke Ihnen, Herr Staatsekretär, für die Beantwortung.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Ich rufe die Frage 99 des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt auf:
Ist die von der Staatsanwaltschaft in ihrer Zustimmung zur Einstellung des Contergan-Prozesses gemachte Feststellung „Es muß bezweifelt werden, daß das Bundesgesundheitsamt während der Tatzeit von seiner personellen Besetzung sowie den ihm zur Verfügung stehenden Kompetenzen her imstande gewesen ist, den sich abzeichnenden Gefahren auf dem Arzneimittelsektor mit der nötigen Schnelligkeit und Gründlichkeit zu begegnen", heute noch zutreffend, und ist die im gleichen Zusammenhang von der zuständigen Kammer des Landgerichts Aachen gegebene Einschätzung „Auch heute noch sind Arzneimittelhersteller infolge einer immer noch fehlenden wirksamen staatlichen Kontrolle der Versuchung ausgesetzt, wirtschaftliche Gesichtspunkte den berechtigten strafrechtlich geschützten Interessen der Patienten überzuordnen" richtig?
Zur Beantwortung Frau Bundesminister Strobel.
Herr Kollege Sieglerschmidt, die in der Frage wiedergegebene Feststellung der Staatsanwaltschaft bezieht sich auf die Situation vor Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes.
Auf Grund der gesundheitlichen Schäden, die mit der Arzneispezialität Contergan in Zusammenhang gebracht werden, ist das Arzneimittelgesetz durch Gesetz vom 23. Juni 1964 geändert worden. Insbesondere sind die Vorschriften über die Registrierung von Arzneispezialitäten verschärft worden, die Stoffe enthalten, deren Wirksamkeit in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt ist. Hier wird ein ausführlicher Bericht über die pharmakologische und klinische Prüfung mit Unterlagen über die durchgeführten Prüfungen sowie die Erklärung verlangt, daß die Arzneispezialität entsprechend dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sorgfältig und ausreichend geprüft worden ist. Das Bundesgesundheitsamt lehnt die Eintragung von Arzneispezialitäten ab, wenn sich aus den vorzulegenden Unterlagen ergibt, daß die Arzneispezialität schädliche Wirkungen hervorruft, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen,. Derartige Arzneispezialitäten dürfen überdies für die Dauer von drei Jahren nur auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden. Ihre Anwendung unterliegt daher der laufenden Überwachung durch den Arzt.
Zu der personellen Situation des Bundesgesundheitsamtes ist zu sagen„ daß die notwendige Verstärkung mit Pharmakologen teils vorgenommen,
teils eingeleitet worden ist. Die von Ihnen zitierte Einschätzung der Kammer des Landgerichts Aachen vermag ich, zumal in einer so verallgemeinernden Form, nicht zu teilen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sieglerschmidt.
Frau Minister, darf ich fragen, wie das Meldesystem für gesundheitsschädliche Nebenwirkungen, insbesondere neuer Arzneimittel, nach dem jetzigen Stand geregelt ist und ob hier nicht noch Verbesserungen möglich sind, um so schnell und so wirksam wie möglich solche schädlichen Nebenwirkungen wirklich zu erkennen und dann das Erforderliche zu veranlassen.
Herr Kollege Sieglerschmidt, einmal gibt es — das werde ich bei der Beantwortung Ihrer zweiten Frage noch näher ausführen — die Einrichtung der Bundesärztekammer und der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern zur Erfassung und Auswertung von Meldungen über Arzneimittelnebenwirkungen, die mit Bundesmiteln gefördert wird. Darüber hinaus hat eine von mir berufene Kommission „Sicherheit der Arzneimittel" einen Stufenplan entwickelt, der als Alarmplan für den Fall des ersten Bekanntwerdens von Nebenwirkungen dient.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Gleissner.
Dr. Gleissner ; Frau Minister, ist es nicht so, daß zwar die staatlichen Kontrollen und Einrichtungen und die vorhandenen Gesetze meist ausreichen und daß auch die fachlichen Experten durchaus leistungsfähig sind, daß aber bei Aufdeckung von Mißbräuchen — ich will jetzt keine Fälle aufzählen — die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen, die im Interesse der Allgemeinheit und der Patienten liegen, ausbleiben oder so milde sind, daß die Wirkung entfällt?
Herr Kollege Gleissner, es gibt kaum hochwirksame Arzneimittel ohne jede Nebenwirkung. Der Arzt muß im jeweiligen Fall entscheiden, ob er das Arzneimittel trotz der Nebenwirkung anwenden kann. In schweren Krankheitsfällen werden, um eine Besserung zu erreichen, die Nebenwirkungen unter Umständen in Kauf genommen. Das ist der eine Tatbestand, den man ehrlicherweise aussprechen muß.
Ein zweiter Tatbestand ist, daß auch nach dem heute geltenden Arzneimittelgesetz solche Arzneimittel, die bei richtiger Anwendung gesundheitsschädlich sind, nicht in den Verkehr gebracht werden dürfen.
Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Sieglerschmidt auf:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5467
Präsident von HasselWas gedenkt die Bundesregierung im Rahmen des geltenden Rechts — etwa durch angemessene Finanzierung entsprechender Maßnahmen — oder durch gesetzgeberische Initiative zu tun, um sicherzustellen, daß mögliche gesundheitsschädliche Nebenwirkungen, insbesondere neuer Arzneimittel, durch ein wirksames Meldesystem schnell erfaßt sowie untersucht werden und, falls solche Nebenwirkungen mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, sofort zu den notwendigen Gegenmaßnahmen his zur Verhinderung des weiteren Verkaufs eines derartigen Arzneimittels fuhren?
In Ergänzung meiner Antwort auf die eben gestellte Zusatzfrage darf ich noch darauf hinweisen, daß die vor kurzem dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Prüfung von Arzneimitteln angepaßten Richtlinien des Beirats „Arzneimittelsicherheit" über die pharmakologisch-toxikologische Prüfung und klinische Erprobung von Arzneimitteln bekanntgemacht und vom Bundesgesundheitsamt bei der Registrierung von neu angemeldeten Arzneispezialitäten zugrunde gelegt werden. Nach dem Arzneimittelgesetz müsse die Arzneimittel nach diesen Richtlinien, die gerade jetzt von dieser Kommission überarbeitet worden sind, überprüft werden.
Um sicherzustellen, daß bei Verdacht auf schädliche Nebenwirkungen von Arzneimitteln der Informationsweg und die zu treffenden Maßnahmen zügig koordiniert werden, haben die Wissenschaftler — zusätzlich zu der Erfassung der Nebenwirkungen durch die Arzneimittelkommission der Ärzte
jenen Alarmstufenplan ausgearbeitet.
Zur Zeit wird von uns außerdem ein Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz vorbereitet. Auf Grund der Erfahrungen, die bei der Anwendung der seit 1964 bestehenden Vorschriften gemacht wurden und der inzwischen gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse ist beabsichtigt, die Voraussetzungen für die Registrierung neuer Arzneispezialitäten weiter zu verschärfen. Für jede Arzneispezialität, die registriert werden soll, wird der Nachweis zu führen sein, daß sie ausreichend geprüft ist, keine schädlichen Nebenwirkungen hat, die therapeutisch nicht vertretbar sind, und daß sie die angegebene Wirksamkeit hat. Diese Grundsätze werden vom Bundesgesundheitsamt allerdings bereits jetzt im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften soweit wie möglich angewandt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sieglerschmidt.
Herr Präsident, darf ich meine beiden Zusatzfragen gleich zusammen stellen? Das ist einfacher.
Frau Minister, kann man sagen, daß dann, wenn diese Maßnahmen in dem Sinne, wie sie Sie eben angekündigt haben, durchgeführt sind, die Arzneimittelüberwachung in der Bundesrepublik jeden internationalen Vergleich, insbesondere mit Ländern wie Schweden und den Vereinigten Staaten, aushalten kann?
Zweitens möchte ich zur Sicherheit noch einmal tragen, Frau Minister, ob die finanzielle Ausstattung jenes Meldesystems für Nebenwirkungen nach dem jetzigen Stand ausreichend ist. Es gibt Stimmen, die
finanzielle Ausstattung dieser Stelle sei sowohl von seiten der Ärztekammer als auch hinsichtlich der Bundesmittel zu gering.
Ich möchte die letzte Frage vorwegnehmen. Im Bundeshaushalt 1971, den wir hoffentlich heute noch in zweiter Lesung beraten, ist eine Erhöhung der Mittel, die der Arzneimittelkommission der Ärzte zufließen, vorgesehen. Darüber hinaus sind im Bundeshaushalt Mittel für das Zusammenwirken zwischen den staatlichen Trägern dieser Aufgabe und den freien Mitarbeitern vorgesehen, z. B. für die Ausstattung jener Kommission, die sich mit der Sicherheit der Arzneimittel befaßt. Sie sollen auch in die Lage versetzt werden, bei Zweifelsfällen Forschungen durchzuführen, um die Behauptungen aus dem Ergebnis der Prüfungen durch die Industrie selbst zu kontrollieren, gegebenenfalls auch zu bestätigen.
Aber — und damit komme ich zu der ersten Frage — das System unserer Arzneimittelgesetzgebung ist, daß die Verantwortung für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln nach dem Arzneimittelgesetz und seinen den Patienten und Verbraucher schützenden Bestimmungen in erster Linie bei der Industrie liegt. Wir haben keine direkte staatliche Prüfung der Arzneimittel, während im amerikanischen System Stichprobenprüfungen vorgenommen werden können. Aber die entsprechende Administration in den USA verfügt allein in diesem Bereich über bis zu 5000 Mitarbeiter. Daraus allein ergibt sich schon eine gewisse Diskrepanz, ganz abgesehen davon, daß unsere Arzneimittelwirtschaft — ich denke hier insbesondere an die großen und bekannten Firmen — mit einem ausgezeichneten Apparat für Forschung und Prüfung ausgestattet ist.
Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Burger auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach einem Bericht der Allgemeinen Deutschen Weinzeitung über hundert Millionen Liter verfälschter Brennweine und Sektgrundweine im Jahre 1970 insbesondere über die Beneluxländer in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt, zu deren Zollabfertigung die deutschen Bestimmungen offensichtlich mehrere Wertungen zulassen, da verschiedentlich die Einfuhr vom Zollamt Emmerich abgelehnt, vom Zollamt Kehl — oder umgekehrt — nach Ausstellen neuer Zollpapiere jedoch zugelassen und in der Bundesrepublik Deutschland zu „Weinbrand" bzw „Deutschem Sekt" verarbeitet wurden?
Zur Beantwortung Frau Bundesminister.
Herr Kollege Burger, Ihre Frage beantworte ich im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen.Im Jahre 1970 ist gefälschter Wein als Brennwein oder Sektwein eingeführt worden. Über den Umfang sind gegenwärtig keine genauen Angaben möglich, weil die Ermittlungen der Zollfahndungsstellen noch nicht abgeschlossen sind. An den Ermittlungen sind auf Grund des EWG-Übereinkommens vom 7. September 1967 über gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen auch Ermittlungsbehörden benachbarter EWG-Länder beteiligt. In der Bundesrepublik sind die zuständigen Staatsanwaltschaften eingeschaltet worden.
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5468 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Bundesminister Frau StrobelBisher konnte festgestellt werden, daß eine ausländische Firma etwa 20 Millionen Liter Kunstwein unter Verwendung von bulgarischem Traubenmost, griechischem Wein, Weinalkohol, Wasser und chemischen Stoffen hergestellt und in die Bundesrepublik eingeführt hat. Der Firma ist es gelungen, die Erzeugnisse echtem Wein so täuschend ähnlich nachzuahmen, daß die für die Weinuntersuchung zuständigen Fachanstalten der Länder die Fälschung nicht erkannt und die Erzeugnisse für einfuhrfähig erklärt haben. Soweit Erzeugnisse für nicht einfuhrfähig befunden wurden, wurden sie von den Zollstellen von der Einfuhr zurückgewiesen. Sie sind in das Ausland zurückgebracht worden. Es ist aber, wie uns mitgeteilt wurde, nicht auszuschließen, daß derartige Sendungen nach weiterer Bearbeitung im Ausland erneut zur Einfuhr gestellt und nach Probeentnahme und Untersuchung unbeanstandet zum freien Verkehr abgefertigt worden sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Burger.
Frau Minister, kann der angestrebte Qualitätsstandard für deutschen Weinbrand, wie er im deutschen Weingesetz verankert ist, überhaupt erreicht werden, wenn die deutschen Weinbrenner nicht die Garantie haben, daß ihre Brennweinbezüge auch den gültigen Weingesetzbestimmungen entsprechen?
Ich stimme Ihnen völlig zu, daß alles getan werden muß — sowohl bei der Kontrolle als auch z. B. bei der Überführung der EWG-Bestimmungen in deutsches Recht —, damit besser erkannt werden kann, wo Fälschungen vorliegen und eine Zurückweisung erfolgen muß.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Burger.
Frau Minister, sehen Sie in diesen Praktiken nicht auch eine Verzerrung des Wettbewerbs durch Manipulateure, die den seriösen deutschen Weinbrenner in eine schwierige Sackgasse bringt?
Ich sehe darin nicht nur eine Verzerrung des Wettbewerbs, ich sehe darin einen Betrug gegenüber dem Verbraucher und gegenüber dem seriösen Weinbrenner.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Pieroth.
Frau Minister, Sie sind jetzt sicher der Ansicht, daß die Effizienz der deutschen Weinkontrolle absolut ungenügend sein dürfte. Was gedenken Sie auf Grund dieser Tatsache zu tun, auch wenn es sich um Ländersache handeln dürfte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, wir bereiten gegenwärtig die Überleitung der EWG-Bestimmungen auf dem Weinsektor in das deutsche WeinBesetz vor. Wir werden das neue Weingesetz in den nächsten Wochen den gesetzgebenden Körperschaften vorlegen. Darin sind Bestimmungen, die vom Gesetz her ein Höchstmaß an Kontrolle vorschreiben. Die Ausstattung der Überwachungseinrichtungen, insbesondere der fachlichen Einrichtungen, ist Angelegenheit der Länder. Ich meine, daß gerade die Weinbau treibenden Länder sich hier in einem besonderen Maße für die bestmögliche Ausstattung dieser Einrichtungen stark machen müssen.
Ich rufe die Frage 36 des Abgeordneten Burger auf, die zum Teil schon durch die Zusatzfrage angeschnitten worden ist:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Einfuhr dieser Kompositionen aus Wasser, Sprit und Chemikalien und vor allem ihre Verarbeitung in der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern und somit die Verbraucher vor Schaden zu schützen?
Zur Beantwortung, Frau Bundesminister!
Wein aus den Beneluxländern unterliegt einer Untersuchung auf Einfuhrfähigkeit. Das heißt, auch innerhalb der Gemeinschaft wird die Einfuhrfähigkeit geprüft. Diese wird in dafür besonders bestellten amtlichen Untersuchungsanstalten der Länder mit Hilfe von vorgeschriebenen sensorischen und analytischen Prüfungen ermittelt. Dabei können allerdings Beanstandungen nur ausgesprochen werden, wenn die Erzeugnisse sich in Geschmack und Zusammensetzung von der jeweiligen Norm des natürlichen Erzeugnisses unterscheiden. Wenn es den Herstellern — wie in diesem Falle — offensichtlich gelingt, ihre Erzeugnisse weitgehend analysenfest zu machen, ist eine Beanstandung gegenwärtig schwer möglich.
Die Bundesregierung bedauert dies sehr im Interesse des Verbrauchers und der redlichen Wirtschaft und fördert deshalb die Ausarbeitung beweiskräftiger Untersuchungsmethoden, denen dann auch die internationale Anerkennung verschafft werden muß. Zu deren Erarbeitung haben wir eine besondere Kommission beim Bundesgesundheitsamt gebildet. Für die Bundesrepublik werden die Methoden für die Weinkontrolle laufend als allgemeine Verwaltungsvorschrift mit Zustimmung des Bundesrates erlassen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Gleissner.
Frau Bundesminister, kann man resignierend sagen, daß die Methoden der Weinfälscher so raffiniert geworden sind, daß wir kaum mehr in der Lage sind, durch unsere Kontrollmaßnahmen und Experten dieser Fälschungen rechtzeitig und in notwendigem Umfang Herr zu werden?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5469
Herr Kollege Gleissner, das habe ich schon gesagt, daß in diesem Falle die Fälschungen so raffiniert waren, daß die analytische Prüfung nicht erkannt hat, daß es sich um Fälschungen handelt. Wir müssen deshalb laufend nach Verbesserung der analytischen Prüfung suchen. Ich bin allerdings der Meinung, wir sollten auch die organoleptische Prüfung nicht so sehr in den Hintergrund drängen lassen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Burger.
Frau Minister, es klingt ein bißchen Resignation in Ihrer Auskunft. Haben Sie gewisse Anhaltspunkte dafür, daß Untersuchungsmethoden verbessert werden können, damit derartige Manipulationen — sie sind ja nicht nur im Jahre 1970 vorgekommen, sondern auch in den zurückliegenden Jahren — in der Zukunft ausgeschlossen werden?
Herr Kollege Burger, ich bin keinesfalls der Meinung, daß wie hier resignieren dürfen. Ich bin aber auch der Auffassung, daß wir das, was geschehen ist, nicht schönfärben, sondern es klar und eindeutig feststellen sollten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es unseren Wissenschaftlern nicht gelingen sollte, bessere Analysemethoden zu finden.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Burger.
Sehen Sie auch Möglichkeiten, gewisse deutsche Firmen, die diese Einfuhren bisher anstandslos verarbeitet haben, zu einer strengeren Kontrolle anzuhalten und sie zu kontrollieren?
Herr Burger, ich glaube, daß die Strafbestimmungen des Gesetzes, wenn sie voll angewandt werden, diese Firmen eigentlich schwer treffen müßten.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen des Bereich Ihres Ministeriums.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zunächst die Fragen 41 und 42 des Abgeordneten Höcherl. Er ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen zum Stenographischen Bericht abgedruckt.
Ich rufe die Frage 43 des Abgeordneten Dr. Jenninger auf:
Wann ist damit zu rechnen, daß eine Berufsanerkennung für Berufskraftfahrer erfolgt?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rosenthal.
Herr Präsident, die Anerkennung des Berufskraftfahrers als Ausbildungsberuf setzt nach dem Berufsbildungsgesetz voraus, 1. daß eine breit angelegte berufliche Grundbildung möglich ist, 2. daß die für eine qualifizierte berufliche Tätigkeit notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse in einem geordneten Ausbildungsgang vermittelt werden können.
Zunächst ist der Technische Überwachungsverein Rheinland e. V. mit Berufs- und Arbeitsplatzanaly- sen beauftragt worden. Die ersten Ergebnisse lagen Anfang 1970 vor. Diese Angaben sind aber, was den Inhalt, die zeitliche und sachliche Gliederung der Berufsausbildung angeht, noch nicht genügend gewesen. Weil das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung noch im Aufbau ist und wir die Dringlichkeit dieser Frage sehen, hat sich die Bundesregierung entschlossen, die notwendigen Unterlagen unabhängig von kompletten wissenschaftlichen Unterlagen zu erstellen. Die beteiligten Bundesressorts BMWi, BMA und BMV sind auf Grund des vorliegenden Materials der Auffassung, daß es zu einer Anerkennung der Kraftfahrer, insbesondere der Fernfahrer, als Ausbildungsberuf kommen wird.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Jenninger.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wie lange es damit etwa noch dauern wird. Die Berufskraftfahrer warten schon seit Jahren auf eine solche Regelung und erleiden Nachteile daraus, daß es bisher nicht dazu gekommen ist. — In der EWG gibt es jetzt ja eine Richtlinie über das Mindestniveau der Ausbildung für Fahrer im Straßenverkehr. Wie steht es damit?
Herr Kollege, eine genaue Zeit, bis wann wir die Regelung durchbekommen, kann ich Ihnen nicht angeben.
Zu der zweiten Frage: Die EWG-Richtlinien haben mit der Anerkennung direkt nichts zu tun, da sie lediglich gewisse Mindestbedingungen beschreiben, nicht aber die volle Berufsausbildung.
Verzeihung, Sie haben, glaube ich, schon zwei Zusatzfragen gestellt, Herr Kollege Jenninger. Nun kommt eine Zusatzfrage von Herrn Schmidt .
Herr Staatssekretär, ist zu erwarten, daß im Falle einer Berufsanerkennung der Berufskraftfahrer diese bevorzugt den Fernlastfahrern mit entsprechender Berufserfahrung zuerkannt wird?
Ja, an Fernlast-
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5470 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Rosenthalfahrer und Omnibusfahrer ist bestimmt an erster Stelle gedacht.
Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Evers auf. — Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 45 des Abgeordneten Fiebig:
Ist die Bundesregierung gewillt, die Richtlinien fiber die Gewährung von Beihilfen zur Errichtung oder Erweiterung von Block- und Fernheizwerken vom 11. August 1964 bzw. vom 13. August 1965 in der bestehenden Form weiter gelten zu lassen, odor ist daran gedacht, sie durch Änderungen den derzeitigen Verhältnissen anzupassen?
Der Fragesteller ist im Saal. Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Rosenthal, 'Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft: Der Bundesregierung sind diese Schwierigkeiten bekannt. Verantwortlich ist dafür die Steigerung sowohl der Investitions- wie der Lohn- und Brennstoffkosten. Die Änderung der Richtlinien vom 29. Dezember 1970 sieht vor, daß keine neuen Anträge gestellt werden können, daß aber für bereits geförderte Block- und Fernheizwerke die Richtlinien in gewisser Weise aufgelockert werden können, insbesondere was den Kohleanteil betrifft.
Eine Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Fiebig.
Wie erklären Sie sich, Herr Staatssekretär, daß die Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen einen anderen Prozentsatz vorsehen, nämlich 70 % Kohlestoffe und 30 % andere Energieträger? Wäre es nicht angebracht, hier eine Angleichung zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Bund vorzunehmen?
Ich habe vorhin angedeutet, daß wir in Fällen, wo bereits gefördert wird, also nicht in zukünftigen Fällen, bereit sind, mit dem Prozentsatz auf 80 %, in Ausnahmefällen auch auf etwa 60 % herunterzugehen. Damit ist Ihre Frage positiv beantwortet.
Keine Zusatzfragen.
Die Fragen 46 und 47 des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen zum Stenographischen Bericht abgedruckt.
Ich rufe die Frage 48 des Abgeordneten Schedl auf. Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage zum Stenographischen Bericht abgedruckt.
Die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Vogt:
Ist der Bundesregierung bewußt, daß die Bestimmung, wonach immer nur ganze Kreise, nicht aber Teile eines Kreises, in die regionalen Aktionsprogramme einbezogen werden dürfen, zu Schwierigkeiten bei der kommunalen Neugliederung führt, und denkt deshalb die Bundesregierung daran, die Richtlinien dahin gehend zu ändern, daß künftig auch Teile eines Kreises in die Forderungsprogramme aufgenommen werden können?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Vogt, diese Frage beschäftigt die Bundesregierung. Sie ist insofern schwierig, als die Unterlagen für die Bestimmung, ob ein Gebiet förderungswürdig ist, von wirtschaftlichen Kennzahlen abhängen und diese nur auf Kreisebene gewonnen werden können. Wenn auch jetzt beschlossen ist, daß zunächst die 20 Aktionsprogramme die Basis sind, ist der Planungsausschuß für regionale Wirtschaftsstruktur doch dabei, diese Frage noch einmal zu prüfen.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Vogt auf:
Ist die Bundesregierung bereit, im Falle kommunaler Neugliederung die Aktionsräume in der Weise neu festzustellen, daß bisher geförderte Gebiete trotz Änderung der Kreiszugehörigkeit weiterhin in der Forderung verbleiben?
Bitte schön, zur Beantwortung!
R
Herr Präsident, ich habe die Frage 50 bereits teilweise beantwortet. Ich will noch etwas Zusätzliches bezüglich des Zonenrandgebietes sagen. Hier ist der Planungsausschuß der Ansicht, daß man, wenn kommunale Änderungen sich ergeben, diese Gebiete auf Gemeindeebene in jedem Falle im Zonenrandgebiet und demgemäß in der Förderung belassen muß.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Vogt.
Herr Staatssekretär, wäre ein solches Verfahren auch in anderen Räumen möglich? ich denke etwa an den Raum des Regierungsbezirks Aachen, in dem die kommunale Neuordnung ansteht und der teilweise in die regionalen Förderungsprogramme einbezogen ist.
Die Schwierigkeiten habe ich in meiner Antwort auf die erste Frage dargelegt. Ich wiederhole jedoch, der Planungsausschuß prüft, ob so etwas möglich ist. Eine Entscheidung darüber ist für die anderen Räume noch nicht getroffen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Pieroth.
Herr Staatssekretär, können Sie mir den Unterschied zwischen dem Zonenrandgebiet und westlichen, nördlichen oder südlichen Randgebieten in dieser Behandlung erklären?
Das Zonenrandgebiet ist ipso facto durch die Distanz vom Zonenrand definiert, während die anderen Gebiete auf der
Parlamentarischer Staatssekretär Rosenthal
Grundlage der Kreise definiert sind. Ich habe aber dem Vorredner bereits gesagt, daß der Planungsausschuß dabei ist, zu prüfen, ob man trotz der Schwierigkeiten der Kennzahlen auch in dem anderen Raum ähnliche Methoden anwenden sollte.
Noch eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Bremer.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß in Ihrem Haus die Frage 50 vor etwa zwei Jahren noch gegenteilig entschieden worden ist?
Das ist mir nicht bekannt. Aber es ist ganz klar, daß Sie, wenn Sie ein Programm wie das Zonenrandförderungsprogramm oder die Aktionsprogramme machen, immer zunächst einmal grob vorgehen müssen und dann die Methoden verfeinern.
Keine Zusatzfragen.
Die Fragen 51 und 52 des Abgeordneten Haase werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Dr. Kempfler auf. — Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 54 des Abgeordneten Pieroth auf:
Wann ist mit einem Ergebnis der Untersuchungen des interministeriellen Arbeitskreises, der sich mit preis- und wettbewerbspolitischen Fragen auf dem Düngemittelmarkt beschäftigt, zu rechnen, und beabsichtigt die Bundesregierung ggf. die Wiedereinführung der Höchstpreisregelung für Kalkammonsalpeter?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Pieroth, diese Frage habe ich — das wird Ihnen nicht bekannt sein — bereits am 11. Dezember dem Abgeordneten von Alten-Nordheim und dann noch einmal schriftlich dem Abgeordneten Peters beantwortet. Ich will es Ihnen hier nur noch einmal kurz sagen und verweise Sie im übrigen auf diese Antworten. Der interministerielle Ausschuß ist am 11. Dezember gegründet worden. Er hat seine erste Arbeitssitzung am 11. Januar gehalten. Man rechnet mit Teilergebnissen am 12. Februar.
Keine Zusatzfrage.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Jenninger auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die für die Anerkennung von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bei Berufskraftfahrern zuständigen Stellen erwerbsoder berufsunfähig gewordene Berufskraftfahrer als ungelernte Arbeiter einstufen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde.
Herr Kollege Dr. Jenninger, für die Frage einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat die Frage, ob der bisherige Beruf ein Lehr-, ein Lern- oder ein ungelernter Beruf ist, grundsätzlich keine Bedeutung.
Renten wegen Berufsunfähigkeit ist dem Versicherten zu gewähren, der weder in seinem bisherigen Beruf noch in einem anderen ihm zumutbaren Beruf die sogenannte gesetzliche Lohnhälfte verdienen kann. Als Verweisungstätigkeit kommen alle Tätigkeiten in Betracht, die den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Schon hieraus folgt, daß die Ausbildung zu einem Beruf nur eines der Merkmale ist, nach denen sich der Kreis der Verweisungstätigkeiten bestimmt. Daneben spielen andere Kriterien eine Rolle. Der Beruf als solcher d. h. die betriebliche Bedeutung des Berufs unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen, die er an den Versicherten stellt — und seine tarifliche Einstufung sind, wie das Bundessozialgericht in einem Urteil vom 12. November 1970 ausgesprochen hat, ebenso wichtige Bewertungselemente wie die Ausbildung.
Bei der Gewährung von Berufsunfähigkeitsrenten kann somit den Umständen des Einzelfalles unabhängig von der Einteilung der Berufe in Lehr-, An-lern- und ungelernte Berufe -Rechnung getragen werden.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe Frage 69 der Abgeordneten Frau Dr. Walz auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, Musikern in der musikalischen Jugend- und Erwachsenenbildung und in der Laienmusikpflege stehenden Mitarbeitern und musikalischen Fachpersönlichkeiten anderer Bereiche zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen wie Kursen und Arbeitstagungen bezahlten Bildungsurlaub zu gewähren und dies in einer gesetzlichen Regelung besonders zu berücksichtigen?
Die Frau Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung Herr Staatssekretär bitte!
Sehr verehrte Frau Kollegin, die Bundesregierung hat bereits mehrfach erklärt, daß sie zur Zeit einen Gesetzentwurf zur bezahlten Freistellung der Arbeitnehmer zu Bildungszwecken vorbereitet. Wenngleich bisher über die in Frage kommenden Bildungsveranstaltungen noch nicht entschieden ist, besteht doch innerhalb der Bundesregierung Einvernehmen, daß den Arbeitnehmern insbesondere die Teilnahme an beruflichen und politischen Weiterbildungsveranstaltungen ermöglicht werden soll. Ich verweise hierzu auf das von uns vorgelegte Aktionsprogramm „Berufliche Bildung".
Inwieweit weitere Bildungsveranstaltungen einbezogen werden sollen, bedarf noch eingehender Erörterung insbesondere mit den beteiligten sozialen Gruppen. Wir sind selbstverständlich bereit, in diesem Zusammenhang auch Gespräche mit dem Deut-
Parlamentarischer Staatssekretär Rohde
schen Musikrat zu führen, dessen Generalversammlung sich im vergangenen Herbst mit der von Ihnen aufgeworfenen Frage beschäftigt hat.
Grundsätzlich, Frau Kollegin, möchte ich aber anmerken, daß es erhebliche Probleme aufwerfen würde, wenn bei dem zur Zeit zur Diskussion stehenden ersten Schritt schon Sonderregelungen für einzelne Personengruppen vorgesehen würden.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Dr. Walz.
Herr Staatssekretär, wenn es nach Angaben der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände schon heute sieben verschiedene Arten der Freistellung in den Tarifverträgen gibt, darunter Freistellungen für Kurse, die im allgemeinen Interesse — ich betone: im allgemeinen Interesse liegen, dann möchte man, da die Musikerziehung doch wohl im allgemeinen Interesse liegt, meinen, daß vielleicht auch die Bundesregierung diese Angelegenheit in ihrer Gesetzgebungsarbeit entsprechend berücksichtigen sollte.
Frau Kollegin, ich darf darauf hinweisen, daß von der „Sozialpolitischen Gesprächsrunde", die beim Bundesarbeitsministerium geschaffen worden ist und in der insbesondere Arbeitgeber und Gewerkschaften vertreten sind, ein Arbeitskreis gebildet wurde, der sich im einzelnen mit ,den Fragen des Bildungsurlaubs beschäftigen wird. Diesem Arbeitsausschuß gehören auch die Arbeitgeber an, und die werden dann sicherlich auf die von Ihnen genannten Gesichtspunkte hinweisen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Walz.
Es ist aber doch bekannt, Herr Staatssekretär, daß es für solche Zwecke schon Bildungsurlaub wenn auch im Augenblick noch unbezahlten — gibt.
Wahrscheinlich aber doch nur in einer sehr begrenzten Zahl von Fällen. Die Regelungen sind außerordentlich unterschiedlich. Bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfs kommt es darauf an, Regelungen zu treffen, die so geartet sind, daß sie einen ersten wirksamen Schritt in Richtung der Entwicklung eines bezahlten Bildungsurlaubs für Arbeitnehmer darstellen können.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 70 des Abgeordneten Kohlberger auf:
Wie weit ist inzwischen die Entwicklung myoelektrisch gesteuerter Armprothesen gediehen, und hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Entwicklung eigener Konstruktionen in Angriff genommen?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung bitte Herr Staatssekretär!
Ich wäre dankbar, Herr Kollege, wenn ich diese Frage zusammen mit der nächsten beantworten könnte.
Keine Bedenken. Ich rufe dann zusätzlich Frage 71 des Abgeordneten Kohlberger auf:
Sind bereits Maßnahmen zur Versorgung Unterarmamputierter mit myoelektrisch gesteuerten Prothesen getroffen?
Bitte schön!
Die Entwicklung myoelektrisch gesteuerter Armprothesen hat in den letzten Jahren verschiedene Stadien des Standes der Technik durchlaufen, ohne bereits einen endgültigen Abschluß gefunden zu haben. Im April 1967 hat unser Haus die erste von fünf Testserien, die insgesamt die Versorgung von 200 Beschädigten vorsehen, eingeleitet. Im Herbst vorigen Jahres war über die Hälfte dieser 200 Beschädigten im Besitz der Prothese.
Ferner wurden im Rahmen von Entwicklungsaufträgen unseres Hauses unter finanzieller Beteiligung der gewerblichen Berufsgenossenschaften Verbesserungen an mechanischen Einzelteilen erreicht und die Konstruktion von Steuerungselementen eingeleitet. Dabei müssen allerdings noch vielfältige Einflüsse, die eine störungsfreie Funktion der Prothese auf längere Zeit beeinträchtigen, beseitigt werden.
Im übrigen erschien es den Fachleuten an Stelle einer Neukonstruktion zweckmäßiger, während des Prüfverfahrens durch den Beirat für Orthopädietechnik und in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für künstliche Glieder bei der Technischen Universität Berlin zügig konstruktive Verbesserungsvorschläge zu den bereits vorhandenen technischen Systemen zu erarbeiten. Eine Neukonstruktion wäre zeitaufwendiger und läge daher nicht im Interesse der zu Versorgenden, zumal die industrielle Fertigung wenig oder noch nicht gebräuchlicher Prothesenteile wegen der geringen Stückzahl in zunehmendem Maße auf Schwierigkeiten stößt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kohlberger.
Herr Staatssekretär, gibt es auf diesem Gebiet eine Zusammenarbeit mit Forschungsgruppen anderer Länder etwa Österreich oder Italien —, wie das vor drei oder vier Jahren immer der Fall war?
Ich möchte das annehmen, Herr Kollege.
Keine Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 72 des Abgeordneten Lemmrich auf. Der Fragesteller ist nicht im Saal, Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Das gleiche gilt für die Frage 73.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5473
Präsident von HasselIch rufe die Frage 74 des Herrn Abgeordneten Hansen auf, der anwesend ist:Auf welche Weise beabsichtigt die Bundesregierung, den offenkundigen Mißständen beim „Verleih" von deutschen und ausländischen Arbeitnehmern entgegenzuwirken?Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Hansen, zur Bekämpfung der Mißstände bei der Arbeitnehmerüberlassung bereitet die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, der bereits mit den Spitzenverbänden der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie den Ländern erörtert worden ist und voraussichtlich im Frühjahr dieses Jahres vom Kabinett verabschiedet werden wird.
Ich kann an dieser Stelle, wie Sie verstehen, nicht alle Einzelheiten des Entwurfs wiedergeben, möchte aber einige wichtige Punkte hervorheben. Das Gesetz soll den arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Schutz der betroffenen Arbeitnehmer ausbauen und Konsequenzen aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts ziehen. Die nach der Rechtsprechung zulässige Arbeitnehmerüberlassung soll gegenüber der Arbeitsvermittlung, die allein der Bundesanstalt für Arbeit obliegt, abgegrenzt werden. Gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung soll nur noch mit einer besonderen Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit zulässig sein. Die Verleihfirmen werden damit einer Zuverlässigkeitsprüfung und einer ständigen Überwachung durch die Bundesanstalt für Arbeit unterworfen. Außerdem sind für die Vermittler und Verleiher ausländischer Arbeitnehmer, die keine Arbeitserlaubnis der Bundesanstalt besitzen, verschärfte Strafen vorgesehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Wie kann den eindeutig rechtswidrigen Praktiken einiger ausländischer Verleihfirmen begegnet werden, die z. B. darin bestehen, daß den ausländischen Arbeitnehmern die Pässe entzogen und bei der Firma in Verwahrung genommen werden, wie das z. B. bei der Firma Dodsal in Düsseldorf der Fall ist?
Herr Kollege, von diesem Fall haben wir Kenntnis erhalten. Daraufhin habe ich bei der Bundesanstalt für Arbeit nachgefragt und folgende Auskunft erhalten:
Die in Düsseldorf errichtete Tochtergesellschaft der Firma Dodsal hält die Pässe der indischen Arbeitnehmer
— um die handelt es sich
nach deren Ankunft im Bundesgebiet zunächst ein und übergibt sie dann dem indischen Leiter der Arbeitsgruppe zur Aufbewahrung. Wenn ein indischer Arbeitnehmer eine Reise unternehmen möchte, wird ihm der Paß
— so hat man uns gesagt — auf Wunsch ausgehändigt.
Ausländer, die sich im Bundesgebiet aufhalten, müssen jedoch im Besitz ihrer Pässe sein. Ich habe deshalb den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit gebeten, den Beschäftigungsbetrieb hierauf hinzuweisen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatssekretär, wird durch das von Ihnen angekündigte Gesetz sichergestellt werden, daß nicht die Möglichkeit besteht, ausländische Arbeitnehmer durch zwielichtige Vertragspraktiken zwischen den Leihfirmen, den Auftragsfirmen und den ausländischen Arbeitnehmern um ihren vollen Arbeitslohn zu bringen, wofür auch bei dieser Firma Dodsal in Düsseldorf zumindest der Verdacht besteht?
Herr Kollege, die Garantie der Arbeitsbedingungen ist ein wesentlicher Inhalt der von uns in Aussicht gestellten Vorlage.
Im übrigen darf ich aber mit Blick auf die Löhne noch auf folgendes hinweisen: Nach der geltenden Gewerbeordnung sind die Gewerbetreibenden verpflichtet, die Löhne ihrer Arbeiter in deutscher Währung zu berechnen und bar auszuzahlen. Da diese Vorschrift, worauf die Strafdrohung in § 146 Abs. 1 Nr. 1 der Gewerbeordnung hindeutet, öffentlich-rechtlicher Natur ist, kann ihre Geltung durchgesetzt werden.
Ich rufe die Frage 75 des Abgeordneten Leicht auf:
Bis wann glaubt der Bundesarbeitsminister, daß eine gesetzliche Regelung erfolgen kann, die die Gleichbehandlung der Rehabilitanten, gleichgültig aus welchem Land sie stammen und wo sie ihre Schulung erhalten, sicherstellt?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Leicht, die Bundesregierung hat im Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten eine weitgehende Angleichung der Leistungen und der Begriffe angekündigt. Die Vorarbeiten für einen Gesetzentwurf zur Angleichung medizinischer und beruflicher Leistungen der Rehabilitation sind im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung nahezu abgeschlossen. Durch das Angleichungsgesetz soll sichergestellt werden, daß die Rehabilitanden künftig bei gleichen Tatbeständen gleiche Leistungen erhalten, unabhängig davon, von welchem Rehabilitationsträger diese Leistungen gewährt und wo die Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt werden.Nach Abstimmung mit den Beteiligten wird der Gesetzentwurf wahrscheinlich noch im Frühjahr dieses Jahres dem Parlament vorgelegt werden.Gestatten Sie, Herr Kollege, daß ich auch gleich zur Frage der Anpassung der Leistungen Stellung nehme.
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5474 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Keine Bedenken! Frage 76 des Abgeordneten Leicht:
Wird man die Tatsache steigender Einkommen auch in Zukunft hei der Festlegung der Beihilfen berücksichtigen und eine Regelung schaffen, die eine schnellere Anpassung garantiert?
Bitte schön!
Auch die Forderung nach einer schnelleren Anpassung der Leistungen soll in dem Entwurf berücksichtigt werden. Durch eine sogenannte Aktualisierung des Bemessungsentgelts soll das frühere Einkommen des Behinderten, das für die Bemessung der Unterhaltsleistung maßgebend ist, der bis zum Beginn der Rehabilitationsmaßnahmen eingetretenen Entwicklung angeglichen werden. Zur Anpassung an die weitere, fortlaufende Entwicklung der Löhne und Gehälter sollen die Unterhaltsleistungen an Rehabilitanden in Anlehnung an die Rentenanpassung in den gesetzlichen Rentenversicherungen jährlich angehoben werden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Leicht.
Wird der Entwurf, Herr Kollege Rohde, der bereits für das vergangene Jahr angekündigt war ich freue mich darüber, daß er jetzt im März kommen soll —, neben der dringend gebotenen Vereinheitlichung auch eine Verbesserung der Leistungen insofern bringen, als eine allgemeine finanzielle Grundsicherung durch die Gewährung einer angemessenen Mindestleistung sichergestellt wird?
Herr Kollege, dieser Gesichtspunkt spielt bei der Vorbereitung des Entwurfs eine Rolle. Die Leistungen sollen den Unterhalt der Rehabilitanden sicherstellen. Im übrigen darf ich noch daran erinnern, daß wir im letzten Jahr auf die Vorarbeiten für diesen Entwurf hingewiesen haben. Aber Sie werden verstehen, daß bei einer solchen Gesetzesmaterie, die die Leistungen von verschiedenen Trägern der sozialen Sicherheit betrifft, eine Abstimmung unter den Beteiligten erreicht werden muß, wenn es ein rationales Gesetzgebungsverfahren sein soll.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Leicht.
Nur damit kein Mißverständfist entsteht: Haben Sie Verständnis dafür, daß ich die Frage nach dem Termin und der Ankündigung im vorigen Jahr, den Entwurf vorzulegen, nur deshalb gestellt habe, weil bei den Betroffenen durch Briefe der von ihnen angeschriebenen Landesminister, in denen auf die Vorlage des Gesetzes noch im Jahre 1970 Bezug genommen wurde, eine gewisse Unruhe entstanden ist?
Herr Kollege, die Vorarbeiten sind zügig eingeleitet worden. Wir haben uns, soweit es unser Haus angeht, auch im Hinblick auf den Kreis der Betroffenen bemüht, Aufklärung über den Gang des Gesetzgebungsverfahrens zu geben, so daß die von Ihnen vermutete Unruhe, wie ich glaube, nicht in dem Ausmaß eingetreten sein kann.
Keine Zusatzfrage.
Ich teile mit, daß die Fragen 77 und 78 des Abgeordneten Zebisch auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 79 des Abgeordneten Müller auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, nachdem sie von Sozialgerichten durch vergleich oder Urteil zur Rentengewährung verpflichtet wurden, häufig erst nach mehreren Monaten der Rentenberechnung und Anweisung der Rentennachzahlung nachkommen?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Ihre Fragen, Herr Kollege, gehen sicherlich auf Einzelfälle zurück, die Ihnen bekannt sind. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat zwar keine Möglichkeit, die von Ihnen gewünschte Weisung auszusprechen, da er nicht Aufsichtsbehörde der Versicherungsträger ist; ich werde Ihre Fragen aber zum Anlaß nehmen, mich mit den Aufsichtsbehörden der Rentenversicherungsträger in Verbindung zu setzen und diese zu bitten, auf eine möglichst schnelle Abwicklung von Rentenangelegenheiten gerade in den von Ihnen angesprochenen Fällen hinzuwirken.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller .
Herr Staatssekretär, selbst wenn Sie der Auffassung sind, es könne sich nur um Einzelfälle handeln, wobei ich behaupte, daß sie sich auch summieren, können Sie sich vorstellen, daß ein Rentner, dessen Anspruch strittig war und der sieben Jahre lang prozessieren mußte, bis zum Großen Senat des Bundessozialgerichts, nach Beendigung dieses Verfahrens weitere fünf Monate warten muß, bis ihm überhaupt einmal die Rentenberechnung zugeht, so daß er in der Zwischenzeit zwar seine Altersrente bekommt, nicht aber die ihm inzwischen auch zustehende Erwerbsunfähigkeitsrente?
Herr Kollege, ich beurteile das ähnlich wie Sie. Ich hatte schon gesagt, daß ich in meinem Schreiben an die Aufsichtsbehörde auf diesen Gesichtspunkt mit Nachdruck hinweisen werde.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5475
Ich rufe die Frage 80 des Abgeordneten Müller auf:
Wird die Bundesregierung in Wahrnehmung der Interessen der Betroffenen, die oft jahrelange Rechtsstreite zur Durchsetrung ihrer Rentenansprüche führen müssen, die Rentenversicherungsträger anweisen, die Rentenbescheide ohne bürokratische Verzögerungen unverzüglich zu erteilen und, wenn immer möglich, Vorschußzahlungen auf die zu erwartende Rentennachzahlung zu leisten?
Herr Präsident, diese Frage ist im Grunde genommen aus der Sache heraus mit beantwortet worden.
Erledigt.
Ich rufe die Frage 81 des Abgeordneten Brück auf:
Hält die Bundesregierung eine Ergänzung der Arbeitsschutzverordnung für Winterbaustellen vom 1. August 1968 für erforderlich, damit auch Lehrlingen im Baugewerbe die Schutzkleidung nach § 2 dieser Verordnung zur Verfügung zu stellen ist?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Die von Ihnen, Herr Kollege, angesprochene Arbeitsschutzverordnung besagt nur, daß im Winter an nicht winterfesten Baustellen grundsätzlich in Schutzkleidung zu arbeiten ist. Das gilt auch für Lehrlinge, so daß insoweit eine Ergänzung des geltenden Rechts nicht erforderlich ist.
Was die Finanzierung der Winterschutzkleidung angeht, so gilt hier die Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zu § 89 des Arbeitsförderungsgesetzes. Sie beschränkt die Förderung auf Arbeitnehmer, deren Beschäftigungsverhältnis durch die Schlechtwettergeldregelung aufrechterhalten wird. Dazu gehören nicht die Lehrlinge, da deren Ausbildungsverhältnis auf Grund des Lehrvertrages nicht unterbrochen wird. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt ist davon ausgegangen, daß Lehrlingen, die bei ungünstiger Witterung auf Baustellen beschäftigt werden, die Arbeitskleidung vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird.
Unser Haus hat die Bundesanstalt für Arbeit im letzten Jahr gebeten, in die Finanzierung der Schutzkleidung auch die Lehrlinge einzubeziehen. Die Bundesanstalt hat seinerzeit an ihrer Auffassung festgehalten. Ich werde aber Ihre Frage zum Anlaß nehmen, die Bundesanstalt erneut zu bitten, ihren Standpunkt zu überprüfen.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 82 des Herrn Abgeordneten Dröscher wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 83 der Abgeordneten Frau Tübler auf:
Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, daß den von öffentlichen oder privaten Arbeitgebern ins Ausland entsandten Angestellten, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht nach § 165 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung versicherungspflichtig sind, nach ihrer Rückkehr ins Inland nach dem 31. März 1971 das Recht einzuräumen ist, ebenfalls der gesetzlichen Krankenversicherung beizutreten?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, ich wäre dankbar, wenn ich die Fragen 83 und 84 zusammen beantworten könnte.
Keine Bedenken. Dann rufe ich auch die Frage 84 auf:
Ist die Bundesregierung bereit, wenn diese Beitrittsmöglichkeit entsprechend Artikel 4 § 1 des Zweiten Krankenversicherungsänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1970 für den betroffenen Personenkreis nicht besteht, alsbald die gesetzliche Grundlage für dieses Beitrittsrecht zu schaffen?
Nach der Reichsversicherungsordnung können Personen, die durch Aufnahme einer Beschäftigung als Angestellte nach dem Angestelltenversicherungsgesetz
1. versicherungspflichtig werden und wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht nach § 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO krankenversicherungspflichtig sind, innerhalb der ersten drei Monate der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig beitreten. Diese Vorschrift ist nach Meinung der Fachabteilung meines Hauses auch für Angestellte anwendbar, die nach dem 31. März 1971 von einem Auslandsaufenthalt zurückkehren und in der Bundesrepublik eine in der Angestelltenversicherung versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen.
Dagegen können Angestellte — das ist eine andere Gruppe —, die auch während ihres Aufenthalts im Ausland angestelltenversicherungspflichtig sind, nur von der Möglichkeit des einmaligen Beitritts zur gesetzlichen Krankenversicherung nach Art. 4 § 1 des 2. Krankenversicherungsänderungsgesetzes bis zum 31. März 1971 Gebrauch machen. Die Spitzenverbände der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich entsprechend in einem gemeinsamen Rundschreiben geäußert.
Soweit es sich jedoch um Angestellte handelt, die sich in einem anderen EWG-Staat oder in einem. Land aufhalten, mit dem Sozialversicherungsabkommen bestehen, die die Krankenversicherung einschließen, sind sie in ihrem Beschäftigungsland in der Regel versichert. Bei einer Rückkehr in die Bundesrepublik werden die ausländischen Versicherungszeiten wie deutsche angerechnet. Diesen Personen steht daher unter den Voraussetzungen des § 313 RVO das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung zu.
Im Hinblick auf die von mir genannten Möglichkeiten ist nicht daran gedacht, noch besondere gesetzliche Regelungen zu schaffen.
Da ich nicht befugt bin, Frau Kollegin, Gesetze in einer die Beteiligten bindenden Weise auszulegen, kann ich diese Antwort — und dafür bitte ich um Verständnis - nur unter dem Vorbehalt der Entscheidung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit geben.
Keine Zusatzfragen.Dann sind wir am Ende des Geschäftsbereiches L Ihres Ministeriums angelangt.
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5476 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Präsident von Hassel
Welche Überlegungen haben dazu geführt, daß ein Oberstleutnant, sofern er nach A 15 besoldet wird, 36 Werktage, sofern er dagegen nach A 14 besoldet wird, nur 31 Werktage Erholungsurlaub erhält, wie es das Bundesministerium der Verteidigung in den Mitteilungen an die Presse — Nummer VII 141 vorn 1. Dezember 1970 — zur Kenntnis gegeben hat?
Bitte schön, zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan.
Herr Präsident, Herr Kollege, gestatten Sie bitte, daß ich die Frage 86 mitbeantworte.
Keine Bedenken. Bitte schön, dann rufe ich auch noch die Frage 86 des Abgeordneten Dr. Beermann auf:
Warum wird bei Festlegung der Dauer des Erholungsurlaubs nicht ausschließlich auf das Lebensalter abgestellt, sondern daneben auch auf den Dienstgrad und innerhalb desselben Dienstgrades sogar auf die Besoldungsstufen, wie aus Frage 85 hervorgeht?
Für den Erholungsurlaub der Berufssoldaten und der Soldaten auf Zeit sind die Vorschriften über den Erholungsurlaub der Bundesbeamten und Richter im Bundesdienst anzuwenden. Nach diesen Bestimmungen sind Kriterien für die Dauer des Urlaubs das Lebensalter und die Besoldungsgruppe. Eine Änderung der bisherigen Regelung könnte nur im Rahmen einer Neuordnung des Urlaubsrechts für den gesamten öffentlichen Dienst vorgenommen werden. Für diesen Gesamtkomplex ist jedoch nicht der Verteidigungsminister, sondern der Innenminister zuständig, dem ich nicht vorgreifen möchte.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Beermann.
Herr Staatssekretär, werden Sie unter diesen Umständen darauf dringen, daß das Verteidigungsministerium eine Neuregelung der Urlaubsordnung für den gesamten öffentlichen Dienst durchsetzen wird, damit endlich diese höchst ungerechten Urlaubszeitregelungen innerhalb der verschiedenen Dienstgruppen, Beamtengruppen, Offiziersgruppen usw. entfallen?
Herr Kollege, ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß eine Ungerechtigkeit vorliegt, ich kann Ihnen aber nicht zustimmen, wenn Sie von „höchster" Ungerechtigkeit sprechen. Ich glaube, wenn Sie Vergleiche mit der freien Wirtschaft ziehen oder Vergleiche ziehen, inwieweit z. B. Bauern und insbesondere Ehefrauen von Bauern in Urlaub fahren können, werden Sie feststellen, daß der öffentliche Dienst ohne Zweifel nicht benachteiligt ist.
Ich bin allerdings gern bereit, den Innenminister auf die kleine Ungerechtigkeit, die in der Verschiedenheit liegt, hinzuweisen.
Noch eine Zusatzfrage? - Die letzte, Bitte schön!
Herr Staatssekretär, ich möchte die Frage so stellen: Würden Sie, unbeschadet des Vergleichs mit dem privaten Bereich, innerhalb des öffentlichen Dienstes dafür sorgen, daß diese aus einem gänzlich überholten Standesdenken resultierende Urlaubsordnung durch die Initiative des Verteidigungsministers revidiert wird?
Ich habe schon gesagt, Herr Kollege, daß die Zuständigkeit beim Innenminister liegt und ich dem Innenminister nicht vorgreifen möchte.
Damit aber die Kollegen, die gar nicht wissen, worüber wir reden, wenigstens orientiert sind, um was es eigentlich geht: es geht darum, daß ein Oberstleutnant, der nach A 15 besoldet wird, 36 Werktage Urlaub hat, aber, wenn er nach A. 14 besoldet wird, 31 Werktage Erholungsurlaub hat. Ich weiß, daß darin eine Ungerechtigkeit liegt, ich wäre aber glücklich, wenn ich dem Hause berichten könnte, das alle arbeitnehmenden Menschen in der Bundesrepublik 31 Tage Urlaub haben.
Wir sind am Ende der 60minütigen Fragestunde angelangt.Ich teile zunächst mit, daß die Fragen 87, 105 und 118 von den Fragestellern zurückgezogen worden sind. Die anderen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen zum Stenographischen Bericht abgedruckt.Meine Damen und Herren, wir fahren in der Beratung des Tagesordnungspunktes XVII fort:Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1971
Drucksachen VI/ 1100, zu VI/ 1100, Ergänzung zu VI/ 1100 —Berichte des Haushaltsausschusses
Ich möchte zunächst zum weiteren Ablauf folgendes sagen: Wir beginnen mit Einzelplan 08, Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen, fahren dann fort mit Einzelplan 07, Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz.Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß für unsere heutige Arbeit — ohne Mittagspause — zunächst einmal die Zeit bis 19 Uhr vorgesehen ist. Der Ältestenrat wird um 12 Uhr zusammentreten und dabei über den weiteren Gang der Beratungen I befinden.
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Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5477
Einzelplan 08
Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen
— Drucksache VI/1738 —
Berichterstatter: Abgeordneter Bremer
In der allgemeinen Aussprache erteile ich Herrn Abgeordneten Leicht für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. Es sind 50 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst 15 Monate politischer Verantwortung dieser Regierung! Und schon muß sie sich von vielen Seiten, nicht nur von der dazu sicherlich berufenen Opposition, gefallen lassen, daß man ihr Widersprüche zwischen den vielversprechenden Ankündigungen im Regierungsprogramm und der nüchternen Wirklichkeit der Finanzlage des Bundes vorhält, ja, vorhalten muß.
In der Tat besteht hier ein harter und, wie mir scheint, letztlich nicht auszugleichender Gegensatz. Die Finanz- und Haushaltspolitik gerät zunehmend in den Sog einer verfehlten Stabilitätspolitik, einer falsch verstandenen Wachstumsideologie und eines blinden Reformeifers, oder wie sonst man diese Politik immer nennen mag.
Anfang allen Übels war eine Regierungserklärung, in der ohne Rücksicht auf die bestehenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten allen alles versprochen und das illusionäre Traumbild einer sozialistisch gefärbten Zukunft gezeichnet wurde, ein Zukunftsbild, das letztlich daran hindert, die Probleme der Gegenwart zu lösen.
Die Zusagen in der Regierungserklärung — und der Herr Bundeskanzler hat ja vorgestern selbst etwas zurückgesteckt —, angefangen von Steuersenkungen über umfassende Reformen bis hin zum Schutz des Tieres — das ist sicherlich eine wichtige Aufgabe, aber im Zusammenhang der Aufzählung in der Regierungserklärung unter 34 Punkten wird das ungefähr als sofort verwirklichbar hingestellt —, machten und machen die Regierung noch immer zum Gefangenen ihrer eigenen Versprechungen.
Sie erschwert sich dadurch selbst eine aktive Konjunkturpolitik durch rechtzeitigen und vollständigen Einsatz des ihr zur Verfügung stehenden finanzpolitischen Instrumentariums. Aber nur wer die Tagesprobleme zufriedenstellend zu meistern vermag, kann auch die Probleme der Zukunft bewältigen.
Ich will es mir ersparen, Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, nach der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht zu Beginn dieser Woche noch einmal Ihr konjunkturpolitisches Sündenregister vor Augen zu halten. Eines steht jedoch fest: Die Finanz- und Haushaltspolitik muß für das gegenwärtige Konjunkturdilemma zumindest zu einem größeren Teil mitverantwortlich gemacht werden. Erinnern wir uns nur an die konjunkturpolitische Diskussion zu Beginn des Jahres 1970. Man muß zurückblenden, wenn man in diesem Jahr dieselben Fehler nicht machen will.
Es galt schon damals eine gefährliche Preisentwicklung einzudämmen. Sie, Herr Minister Möller, versprachen als Ihren Beitrag, das Wachstum der Bundesausgaben im ersten Halbjahr 1970 auf 4 v. H. statt der geplanten 9 v. H. zu begrenzen. Ich gestehe Ihnen zu, daß Sie zunächst versuchten, das durchzusetzen, daß es aber einfach nicht möglich war. Außerdem sollte die Konjunkturausgleichsrücklage von 1,5 Milliarden DM voll aus laufenden Einnahmen finanziert werden. Sie alle wissen, daß diese Versprechen, aus welchen Gründen auch immer das soll hier gar nicht untersucht werden , nicht eingelöst wurden.
Die Bundesausgaben stiegen im ersten Halbjahr 1970 nach Ihren eigenen Angaben, Herr Finanzminister, um 10,6 %. Rechnet man die Beträge, die noch im Februar 1970 zu Lasten des Jahres 1969 gebucht worden sind, hinzu sind es sogar 13 %.
Auch die Konjunkturausgleichsrücklage wurde entgegen dem, was vorgestern wiederum hier der Herr Bundeskanzler — vielleicht weil er es nicht besser weiß; ich will keinen anderen Ausdruck gebrauchen — behauptet hat, nicht voll aus laufenden Einnahmen gedeckt, sondern zu einem Teil aus Krediten und Münzgewinnen finanziert, also weitgehend durch Geldschöpfung anstatt durch Entzug von Kaufkraft.
Herr Abgeordneter Leicht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner?
Leicht Selbstverständlich. Bitte!
Herr Leicht, wollen Sie bestreiten, daß der Haushalt 1970 mit einem Wachstum von 7 % dämpfend auf die Konjunktur gewirkt hat, wobei das Sozialprodukt um 12 '% gewachsen ist?
Herr Porzner, warten Sie doch einmal ab, bis meine Ausführungen zu Ende sind! Ich setze mich ja gerade mit dieser Rechnung des Herrn Bundesfinanzministers auseinander, und ich werde Ihnen nachweisen, daß zumindest ich und meine Fraktion der Meinung sind, daß bei näherer Beleuchtung keine konjunkturgerechte Haushaltsführung stattgefunden hat.
Es war ein folgenschwerer Fehler, durch falsche Zusagen die Entwicklung notwendiger konjunkturpolitischer Aktivitäten in einem noch einigermaßen tauglichen Zeitpunkt zu verhindern. Zumindest damals, zu Beginn Ihrer Regierungstätigkeit, Herr Bundesfinanzminister — ich sage bewußt: zumindest damals —, haben Sie sich als allzu willfähriges Werkzeug der divergierenden Interessen der Regierung erwiesen. Die Folgen dieses Fehlers konnten
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Leichtdurch den im Juli beschlossenen 10 %-Konjunkturzuschlag zur Einkommen- und Körperschaftsteuer nicht mehr beseitigt werden. Dieser Beschluß kam zu spät und war als isolierte Maßnahme unzureichend, weil er die Last der Konjunkturdämpfung einseitig auf den Steuerzahler verlagerte. Selbst die möglichen konjunkturpsychologischen Wirkungen dieser eingreifenden Maßnahme wurden durch die Beschlußfassung im Juli über den 100-Milliarden-Etat für das Jahr 1971 unterlaufen.
Die Bekenntnisse zur Stabilitätspolitik wurden damit unglaubwürdig. Die Vorlage dieses 100-Milliarden-Etats für 1971 mußte psychologisch im damaligen Zeitpunkt einfach verheerend wirken und hat sicherlich ganz entscheidend zur Ankurbelung der Preis-Lohn-Spirale im zweiten Halbjahr 1970 beigetragen.Rückschauend kann man deshalb bei unvoreingenommener Betrachtung nur zu dem Ergebnis kommen, daß zumindest damals die Verweisung eines Teils der für 1971 vorgesehenen Bundesausgaben in einen Eventualhaushalt — Herr Dr. Schäfer hat das vorgestern sehr kritisiert, wenn ich es richtig verstanden habe —, von dem dann in einem richtigen Zeitpunkt bei vorliegenden entsprechenden konjunkturellen Voraussetzungen rechtzeitig hätte Gebrauch gemacht werden können, der einzig richtige Weg gewesen wäre.
Wenn der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Wehner, in der Münchener „Abendzeitung" zur nachträglichen Rechtfertigung dieses kompletten Fehlverhaltens der Regierung sagt, daß die Verwirklichung der damals — mit breiter Zustimmung der sachverständigen öffentlichen Meinung — gemachten Vorschläge der CDU/CSU zu einer Massenarbeitslosigkeit geführt hätte, so ist dieser Appell an Angstinstinkte einfach eine demagogische Verdrehung der wirtschaftlichen Realität.
Hier wird, wie ich meine, auf die Vergeßlichkeit unserer Burger, ja auch auf die Dummheit unserer Bürger spekuliert. Richtig ist: weil der Boom nicht rechtzeitig und entschieden genug gebremst wurde, deuten sich all die Gefahren an, über die am Dienstag bei der Beratung über den Jahreswirtschaftsbericht gesprochen worden ist und die in diesem Raum auch von der Regierung zum Teil anerkannt worden sind. Der Herr Bundesminister der Finanzen hat hier ja auch einmal ähnliche Bemerkungen gemacht. Ich glaube, aus der heutigen Distanz sollten Sie, Herr Minister Möller — wahrscheinlich werden Sie das auch tun , die Dinge in einem gänzlich anderen Licht sehen. Sie selbst wissen am besten um die Gefahren, die die Vernachlässigung der Preisstabilität auf längere Sicht nicht nur für Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum, sondern auch und gerade für die öffentlichen Haushalte und für die Finanzen hat. Wer gleichwohl zur Rechtfertigung nicht zu rechtfertigender Standpunkte immer wieder die Gefahren der schleichenden Inflation zu verniedlichen sucht — er mag heißen wie er will; ich spreche nicht vonIhnen -, verliert entweder den Anspruch, ernst genommen zu werden, oder erweckt zumindest den Eindruck, einen inflationären Prozeß zu wollen.
Was nun die Haushaltsführung 1970 angeht, so kann der Finanzminister zwar für sich in Anspruch nehmen, daß das von ihm ausgewiesene Ausgabenergebnis um 2 vom Hundert Punkte unter der von ihm vorgelegten Planung liegt. Das Ergebnis als solches — ich muß das hier feststellen, weil einige Schlagzeilen in der Presse einen anderen Eindruck vermittelten — habe ich in einer Pressekonferenz mit Herrn Kollegen Dr. Althammer anerkannt, und ich tue das auch heute.
— Ich schäme mich nicht, Herr Haehser. Vielleicht müßten Sie sich manchmal schämen.Bei näherer Prüfung ergibt sich jedoch folgendes. Zunächst einmal liegt die Steigerungsrate für 1970 bei richtiger Rechnung über 7 vom Hundert. Sie erinnern sich sicher alle an die Diskussionen, in denen nachgewiesen worden ist, daß der Finanzminister, um die hohe und konjunkturpolitisch äußerst bedenkliche Ausgabensteigerung des Jahres 1970 niedrig zu halten, eine Reihe von Ausgaben teils noch auf das Jahr 1969 vorgezogen und teils noch im Jahre 1970 zu Lasten des Jahres 1969 gebucht hat.Der von uns im Vorjahr gestellte Antrag, den Bundesrechnungshof zu beauftragen, Licht in dieses Dunkel zu bringen, ist leider im Ausschuß an dem wie so oft auf formalrechtliche Gründe gestützten Widerspruch des Finanzministeriums gescheitert. Wir können diese Frage heute also leider nicht objektiv ausbreiten. Diese Ausgaben, von denen ich eben gesprochen habe, müssen zur Herstellung eines exakten Zeitvergleiches zumindest dem Haushaltsvolumen 1969 ab- und den IstAusgaben 1970 zugerechnet werden. So gerechnet, beläuft sich die Steigerungsrate der Ist-Ausgaben 1970 gegenüber 1969 nicht auf 7 %, sondern auf annähernd 12 %. Schon angesichts dieser Zahlen, Herr Porzner, ist gewiß kein Grund gegeben, im Hinblick auf 1970 von einer konjunkturgerechten restriktiven Haushaltspolitik zu sprechen, wie es in einer Pressemitteilung des Finanzministeriums vom 20. Januar geschehen ist.
Aber abgesehen davon: Herr Minister, Sie sind sich dessen sicherlich bewußt, daß Sie damit — —
Eine Sekunde. Was ich jetzt bekanntgebe, hat nichts mit diesem Haushalt und auch nichts mit der Zwischenfrage, die erbeten wurde, zu tun. Die Astronauten sind planmäßig um 10.16 Uhr gelandet. Ich nehme an, daß dies das Hohe Haus interessiert.
Sind Sie damit einverstanden, daß Ihnen der Kollege Porzner eine Zwischenfrage stellt?
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Selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Porzner!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Leicht, hat Ihre Fraktion hier im Plenum des Bundestages irgendeinen konkreten Antrag gestellt, der zu einer Dämpfung der Konjunktur über Haushaltskürzungen führen könnte?
Sie werden gleich hören, welche Anträge wir gestellt haben und was im Endeffekt eingetreten ist. Ich werde es Ihnen gleich darlegen. Herr Porzner, wir sind dieses Jahr in einer sehr guten Position. Das sind wir nicht immer.
Herr Finanzminister, Sie sind sich doch sicherlich bewußt, daß Sie damit der hier und dort laut werdenden Befürchtung neue Nahrung geben, daß das Ist-Ergebnis für das Jahr 1969 etwas nach oben und das für das Jahr 1970 aus durchsichtigen Gründen unter Umständen ein bißchen nach unten festgesetzt worden ist. Es würde uns im Haushaltsausschuß alle sicherlich spreche ich hier nicht nur für mich allein — sehr freuen, wenn Sie uns einmal persönlich diese Zahlen erläutern und Zweifelsfragen klären könnten. Beim Abschluß der Haushaltsberatungen war das ja nicht möglich, weil Sie nicht da sein konnten. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen. Ich mache Ihnen deshalb auch keinen Vorwurf.
Grund zur Freude oder zum Jubel besteht aber auch dann nicht, wenn man den vom Finanzminister zugelassenen zeitlichen Abfluß der Mittel konjunkturpolitische würdigt. Gemessen an den Auftragseingängen lag der Höhepunkt der Konjunkturüberhitzung im Jahre 1970 eindeutig — hören Sie jetzt gut zu, Herr Porzner in der ersten Jahreshälfte. Zur Eindämmung der Preissteigerungstendenzen wäre es deshalb notwendig gewesen, gerade in der ersten Jahreshälfte Zurückhaltung zu üben und eher im zweiten Halbjahr, wenn überhaupt, die Bremsen etwas zu lockern.
Genau das Gegenteil war aber der Fall. Im ersten Halbjahr lag die Ausgabensteigerung um 1,5 v. H. — also bei 10,5 statt 9 % — über den geplanten Ausgaben.
Wenn es gelungen ist, trotzdem die Ist-Ausgaben im Gesamtjahr um zwei Punkte unter dem angestrebten Wachstum zu halten, so ist das nur das Ergebnis der Wirtschaftsführnug im zweiten Halbjahr 1970, vor allem aber im Dezember. Im Dezember 1970 lagen die Ausgaben sage und schreibe um 19,3 v. H. unter denen des entsprechenden Vorjahresmonats, währed sie im Dezember 1969, also auf dem Höhepunkt des Booms, um 26 v. H. gegenüber dem Dezember 1968 gestiegen waren.
— Ich will jetzt meine Gedanken durchführen; hören
Sie mal zu! Sie können ja nachher hierher kommen.
Nimmt man die zwölf Monate von Dezember 1969 bis einschließlich November 1970, ergibt sich eine Zuwachsrate von 13 %, fürwahr keine Meisterleistung antizyklischer Finanzpolitik!
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren interessanten Punkt zu sprechen kommen.
Würden Sie vorher noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Bülow zulassen?
Selbstverständlich. Aber ich bitte, daß das dann die letzte ist. Ich werde ja andauernd unterbrochen, Herr Präsident.
Herr Leicht, da Sie nun Ihren Gedanken zu Ende geführt haben, bitte ich Sie, mir die Frage zu beantworten: Haben Sie in Ihre Betrachtungen einbezogen, daß z. B. der Aufwertungsausgleich in Höhe von 920 Millionen DM, der der Landwirtschaft zusteht, bei der Betrachtung des ersten halben Jahres berücksichtigt werden mußte, so daß — auch aus einer ganzen Reihe anderer Gründe — die Zahlen für das erste Halbjahr die von Ihnen angegriffene Höhe erzielen müßten.
Selbstverstnädlich habe ich das überlegt. Wir haben ja damals schon darauf hingewiesen. Ich werde auch darauf zu sprechen kommen, Herr Kollege Bülow, wenn ich die Anträge, die wir im Jahre 1970 gestellt haben und die jetzt im Endeffekt als Ergebnis des Jahresabschlusses 1970 vom Finanzminister festgestellt worden sind, etwas erläutere. Vielleicht werden Sie daraus einige Schlüsse ziehen für die Anträge, die wir sonst stellen, und werden auch einmal mit uns stimmen, um das durchzusetzen, was vernünftig ist.
Sie erinnern sich: Als wir im vergangenen Jahr bei den Beratungen des Haushalts 1970 beantragten, die Ausgaben um 1,8 Milliarden DM zu kürzen, wurde dies von der Koalition als völlig illusionär niedergestimmt. Auch unserer Forderung, den Ansatz für Personalverstärkung um 300 Millionen DM herabzusetzen — genau begründet, warum —, hielt der Kollege Hermsdorf am 3. Juni 1970 entgegen — ich darf es einmal wörtlich zitieren —: „Wir halten es für völlig unmöglich, daß eine Bewegungsfreiheit in dieser Höhe besteht." Jetzt zeigt die Abschlußübersicht des Bundesfinanzministers für 1970, daß die tatsächliche Minderausgabe auf diesem Sektor, bei diesem Titel also, sich auf 370 Millionen DM belief.
Und weiter: Unser Antrag, eine weitere, global zu veranschlagende Minderausgabe von 1,5 Milliarden DM zu erwirtschaften, wurde vom Kollegen Kirst als — wörtlich — „nicht vertretbar", vom Kollegen Hermsdorf als „unrealistisch" abgetan. Jetzt zeigt sich, daß sich die gesamten Minderausgaben
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Leichtim Jahre 1970 sogar auf über 2,6 Milliarden DM und nach Saldierung mit Mehrausgaben in Höhe von 0,8 Milliarden DM immer noch auf über 1,8 Milliarden DM belaufen. Das ist fast exakt der Betrag, den wir als für die zweite Lesung des Bundeshaushalts 1970 noch streichungsfähig bezeichnet haben.
Es wäre sogar noch wesentlich mehr gewesen, wenn der Finanzminister auch darauf haben wir hingewiesen, daß das so kommen muß — nicht die Konjunktursperre von 440 Millionen DM dadurch unterlaufen hätte, daß er in den betroffenen Einzelplänen die Nachdeckung von Ausgaberesten in Höhe von zusammen 500 Millionen DM, namentlich 350 Millionen DM beim Verkehr — ich habe nichts dagegen — gegenüber einer Sperre von 340 Millionen DM und 170 Millionen DM bei der Bildung gegenüber einer Sperre von 100 Millionen DM auch nichts dagegen; denn wir waren es, die noch durchgesetzt haben, daß in diesem Bereich mehr geschah — zu Lasten des Gesamthaushalts zugelassen hätte.Ich weiß nicht, Herr Minister, ob Sie sich nicht darüber im klaren gewesen sind, daß Sie mit dem vorgelegten Haushaltsabschluß 1970 der Opposition nur bestätigen, wie berechtigt ihre Vorwürfe und wie realistisch ihre haushaltspolitischen Initiativen bei der Lesung des Haushalts 1970 gewesen waren. Vielleicht sollte das auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, zu denken geben, wenn Sie künftig von uns gestellte und sorgfältig abgewogene Anträge, über die man sicherlich verschiedener Meinung sein kann, die vielleicht nicht in Ihr Konzept passen, wieder mit nichtssagenden Worten als unrealistisch, illusionär, oder wie sonst die Vokabeln heißen, abtun wollen. Wir bleiben — der Beweis ist heute erbracht in jedem Falle mehr auf dem Boden der Realität als Sie.Auch die Finanzierungsseite — ich deutete es schon an vermag wohl niemanden zu befriedigen. Allerdings, das geben wir gern zu, war im Bundeshaushalt allein die Nettokreditaufnahme trotz der hohen Steuermindereinnahmen, rein finanzwirtschaftlich betrachtet, verhältnismäßig gering. Statt der vorgesehenen Nettotilgung von 137 Millionen DM mußten Nettokredite von 500 Millionen DM aufgenommen werden. Die versprochene volle Finanzierung der Konjunkturausgleichsrücklage aus laufenden Einnahmen ist jedoch nicht erfolgt.Darüber hinaus hat der Haushalt noch weitere Schattenseiten, die näher anzusehen sich schon lohnt, weil sie auch etwas für den Haushalt 1971 aussagen. Lassen Sie mich nur drei Komplexe herausgreifen: Offa, Bahn und Post.Über die Cilia, ein Instrument zur Kreditfinanzierung von Bundesstraßen, also von originären Bundesaufgaben, außerhalb des Haushalts, das nach der Feststellung der verfassungsrechtlichen Bedenken des Rechnungshofs nun bald einmal beseitigt werden sollte, war der Bund bereits über die in der offiziellen Statistik nachgewiesenen Beträge hinaus mit 1,9 Milliarden zusätzlich verschuldet. Am Ende des Jahres 1970 waren es sicherlich bereits über 2 Milliarden DM. Allein im Geschäftsjahr der Öffavom 1. Juli 1969 bis 30. Juni 1970 nahm die Öffa 360 Millionen DM Schulden auf.Die Bundesbahn hat im vorigen Jahr, wenn ich richtig informiert bin, trotz wesentlich gestiegener Erträge einen Verlust von 1,2 Milliarden DM erlitten, wovon nur etwa 400 Millionen DM durch Liquiditätszuweisungen aus dem Haushalt gedeckt sind. Die restlichen 800 Millionen DM führten zwangsläufig zu einer entsprechenden Erhöhung der Verschuldung der Bahn, die ebenso wie die Verschuldung der Öffa letztlich unmittelbar dem Bund angelastet werden muß.Ähnliches gilt auch für die Post, deren Verlust von 400 Millionen DM gleichfalls nur durch zusätzliche Inanspruchnahme von Fremdmitteln ausgeglichen werden kann. Rechnet man nur die genannte Nettokreditaufnahme von Bund, Offa, Bahn und Post zusammen, so ergibt sich im Jahr 1970 eine Gesamtneuverschuldung des Bundes mittelbar und unmittelbar von 2,3 Milliarden DM. Das Bild sieht schon etwas anders aus, als es der pure Ausweis beim Abschluß des Haushalts 1970 deutlich macht.Alles in allem also, würde ich meinen, kein Haushalt der Solidität, wie er genannt worden ist. Ich würde heute sagen — nicht so kritisch wie im vergangenen Jahr, weil wir ja auch immer wieder lernen müssen —: eher ein Haushalt der Besinnung und Ermahnung. Und das sollte er für das Jahr 1971 sein. Der Bundesfinanzminister hat Pressemeldungen zufolge kürzlich vor der SPD-Fraktion davon gesprochen, daß man in der Regierung zu viele Illusionen auf finanzpolitischem Gebiet habe. Ein dankenswertes Wort, das vielleicht die uneinsichtigen Reformer, die ideologischen Plänemacher und die stabilitätsindifferenten Wachstumsfanatiker, die es sicherlich überall gibt, zur Umkehr und Mäßigung mahnen sollte. Auch der Bundeskanzler hat vorgestern an dieser Stelle anklingen lassen, daß er heute schon manches anders anpacken würde als noch bei der Verkündung seiner Regierungserklärung. Ich bedauere nur, daß er das dann einen Tag später wieder abgeschwächt hat. Am Ende muß man sich doch sagen - die Feststellung trifft sicher zu —, eine noch so gut gemeinte Politik ohne Beachtung der Realitäten ist letztlich eine falsche und schädliche Politik.
Für die Haushaltsplanung 1971 ergeben sich ein konjunkturpolitischer und ein finanzpolitischer Aspekt. Für die konjunkturpolitische Wirkung des Haushalts 1971 ist die sich ergebende Ausgabensteierungsrate gegenüber dem Ist-Ergebnis 1970 von entscheidender Bedeutung. Sie beläuft sich unter Berücksichtigung der entstandenen Minderausgaben jetzt auf 14,8 %, bei Einbeziehung der geplanten Mittel für Bildungsanleihe und die Krankenhausfinanzierung sogar auf 15,5 %. Darüber gibt es keinen Streit. Diese Steigerung ist weit höher als z. B. die Ausgabensteigerung im Jahre 1967, die 12,3 % betrug. Dieser Haushalt bedeutet fürwahr in dieser unsicheren Situation eine gewaltige Ankurbelung für unsere Wirtschaft.
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LeichtEbenso gehen starke expansive Wirkungen von der Finanzierungsseite aus, erhöhen sich doch die unmittelbaren und mittelbaren Kreditaufnahmen auf folgende Beträge — auch das sollte man realistisch sehen : Bundeshaushalt unmittelbar 3,9 Milliarden DM, Bundesmittel für Krankenhausfinanzierung 300 Millionen DM,
für die Öffa 500 Millionen DM, für die Post — ungedecktes Defizit — 800 Millionen DM, für die Bahn — ungedecktes Defizit - mindestens 1 Milliarde DM, insgesamt 6,5 Milliarden DM.Im Hinblick auf die starken expansiven Wirkungen, die sowohl von der Finanzierungseite als auch vorn Volumen ausgehen, haben wir bei der ersten Lesung die Verweisung eines wesentlichen Teils der Ausgaben in einen Eventualhaushalt verlangt, eine aus damaliger Sicht darüber sollte heute kein Streit mehr bestehen — allein richtige Entscheidung. Wir werden in der dritten Lesung einen Entschließungsantrag einbringen, daß man, wenn der Haushalt verabschiedet worden ist, nicht sofort mit allen möglichen Mitteln, die man zur Verfügung hat, in die vollen zu fahren beginnt. Wir lehnen mit dem Bundeswirtschaftsminister - ich bin sicher, auch mit dem Bundesfinanzminister —, die von vielen Seiten, z. B. Gewerkschaften, einigen Unternehmen und anderen, erhobene Forderung nach alsbaldigem Durchstarten ab.
Für uns ist der Haushalt 1971 nach seiner ganzen Anlage ein Konjunkturstimulans erster Ordnung. Wir meinen, bei seinem Inkrafttreten sollte nicht sofort hemmungslos gefahren werden.Eine zurückhaltende Haushaltsführung in diesem Sinne unter Beachtung der jeweils neuesten Konjunkturdaten ist zumindest in der ersten Zeit nach Inkrafttreten nicht nur konjunkturpolitisch erwünscht, sondern haushaltswirtschaftlich unabweisbar,
weil dieser Haushalt auch nach der Beschlußfassung durch den Haushaltsausschuß noch gewaltige Risiken in Höhe von mehreren Milliarden in sich birgt, die ihre wesentlichen Gründe in den letzten anderthalb Jahren haben.
Das zeigt sich sehr deutlich bei den Steuereinnahmen als erstem Risiko. Herr Finanzminister, Sie werden mir am Montag recht geben müssen, wenn Sie erneut die Steuern schätzen müssen. Es ist sicher sehr unangenehm. Wir werden dann vielleicht schon nicht mehr vom Risiko sprechen, wie ich es heute tun muß, sondern wir werden schon neue Zahlen haben, die bestätigen, daß es nicht nur richtig war, vom Risiko zu sprechen, sondern daß es dann auch — leider — eingetreten ist. Bereits 1970 betrugen die Steuerausfälle beim Bund 2,7 Milliarden DM. Bei den Ländern und Gemeinden sind sie in etwa gleicher Größenordnung zu beklagen.Die beispiellose Kosteninflation mußte zwangsläufig zu Ausfällen bei den Gewinnsteuern führen.Für 1971 wird dieser Ausfall vom Finanzminister auf 1,35 Milliarden DM für den Bund, für die Länder auf 2,15 Milliarden DM geschätzt. Diese Ausfallschätzung allein erscheint schon fragwürdig. Ich habe gesagt, daß man am Montag vielleicht schon anderes hört. Die Kosteninflation ist noch nicht bewältigt. Gleichwohl sollen die Gewinnsteuern auch nach der neuen Schätzung noch erheblich ansteigen. Hier ist bezeichnend, daß das Ifo-Institut die Steuerausfälle beim Bund ebenso wie im Vorjahr auf 2,7 Milliarden DM schätzt. Das wird am Montag in den Auseinandersetzungen um die Schätzungen eine gewisse Rolle spielen.
Ich will auf die Hochrechnung des Sozialprodukts nicht eingehen, aber nur das eine sagen: eine Verschätzung dort um ein Viertelprozent bedeutet für den Haushalt des Bundes ein Minus von mindestens 400 Millionen DM.
Gewisse Risiken bestehen auch bei den Personalausgaben. Das ist das zweite Risiko dieses Haushalts. Bei den Tarifverhandlungen in Stuttgart war die Regierung gezwungen, für die Arbeiter und Angetellten Verbesserungen von durchschnittlich 9,1% zuzubilligen. Bereits früher sind jedoch erhebliche Verbesserungen in diesem Bereich vereinbart worden, die aufzuzählen ich mir erspare. Es ergibt sich für die Angestellten eine Verbesserung der Bezüge in 1971 gegenüber 1970 um knapp 14 v. H. und bei den Arbeitern um 15 v. H. Für die Bezüge der Beamten sind demgegenüber Mittel für eine Verbesserung nur um durchschnittlich 9,1 % nach dem Regierungsentwurf des Ersten Besoldungsvereinheitlichungsgesetzes vorgesehen.
In dieser Divergenz liegt also ein Risiko, weil niemand weiß, ob da nicht zwangsläufig mehr kommt.
Auch die weiter fortschreitende Kostenverteuerung — das ist das dritte Risiko -, vor allem im investiven Bereich, begründet die Gefahr erhöhter Ausgaben. Alle Kostenschätzungen beruhen auf dem Stand von Anfang 1970. Zwischenzeitlich sind aber, wie wir wissen, die Preise für die im Rahmen der öffentlichen Investitionen besonders ins Gewicht fallenden Baumaßnahmen im Schnitt um 20 % gestiegen. Wenn man alle ursprünglich vorgesehenen Maßnahmen wirklich durchführen will, muß das zwangsläufig zu erheblichen Mehrausgaben führen. Kommt dieses Ergebnis nicht, dann bedeutet dies ani Ende doch weniger Straßen, als man vorhatte zu bauen,
weniger Plätze an Universitäten, als man vorhatte zu schaffen, und weniger sonstige Infrastrukturmaßnahmen, als man vorgehabt hat mit diesem Geld zu erreichen.
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5482 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
LeichtIch komme zum vierten Risiko dieses Haushalts. Bei der Darstellung der Risiken für den Haushalt 1971 muß auch das Problem des Devisenausgleichs mit den USA und Großbritannien zumindest erwähnt werden. Hier sind nicht zuletzt als Folge der Skepsis, wie ich meine, gegenüber den hektischen Ostinitiativen der Regierung ebenfalls riesige Mehranforderungen für den mit dem 1. Juli 1971 beginnenden Ausgleichszeitraum zu erwarten. Darüber kann, wie ich meine, in der Öffentlichkeit noch nicht eingehend diskutiert werden. Insofern habe ich Verständnis für die zurückhaltenden Äußerungen der Regierung, insbesondere des Finanzministers. Auf die Frage, welche Beträge dafür im Haushalt 1971 vorgesehen seien, hat die Bundesregierung erklärt, sie könne noch nicht übersehen — ich zitiere wörtlich —, „ob und welche zusätzlichen Belastungen sich aus dem Anschlußabkommen ergeben werden". Das ist also ein viertes Risiko, und es ist nicht absehbar, was es bringen wird.In Zahlen erfassen kann man das Risiko infolge des Defizits bei der Bundespost. Trotz der Gebührenerhöhung am Ende dieses Jahres ist im Haushalt der Bundespost ein Defizit in der Größenordnung von rund 800 Millionen DM eingeplant, wenn nicht mehr. Die Frage ist aufzuwerfen, ob nicht zumindest mittelbar der Bund auch da — ich will keine Größenordnungen nennen — etwas tun muß.Zahlenmäßig einigermaßen exakt greifbar ist auch das Haushaltsrisiko der Bundesbahn. Das wäre das sechste Risiko. Obwohl für 1971 Tariferhöhungen um 800 Millionen DM geplant sind, rechnet die Bundesregierung selbst nach einem Jahresverlust im Jahre 1970 in Höhe von 1,2 Milliarden nunmehr mit einem solchen von 2 Milliarden DM.
Im Bundeshaushalt 1971 ist jedoch die für eine Verlustabdeckung in Betracht kommende Liquiditätshilfe nur mit 1 Milliarde DM vorgesehen,
so daß noch in diesem Jahr ein ungedecktes Loch von 1 Milliarde DM bleibt.Auf eine von der CDU/CSU gestellte Frage nach der Erforderlichkeit der Bereitstellung zusätzlicher Haushaltsmittel im Haushaltsplan 1971 hat die Bundesregierung — ich darf das mit Genehmigung des Präsidenten zitieren — erwidert:Die Höhe des Jahresverlustes 1971 und damit die Prüfung der Frage, ob und inwieweit über die vorgesehenen Ansätze hinaus Haushaltsmittel des Bundes bereitgestellt werden, hängt u. a. von den Auswirkungen der Tariferhöhungen ab.Mit Sicherheit aber reichen die Erhöhungen der Bahntarife von 800 Millionen DM nicht aus. Hier liegt also ein weiteres, ein sechstes Risiko.Gerade dieser Fall ist symptomatisch für den Umfang der bereits erreichten Finanzmisere des Bundes. Die Bundesregierung sucht durch großangelegte Anzeigenkampagnen nachzuweisen, was sie z. B. für die Verbesserung der Infrastruktur usw. nicht alles zu unternehmen gewillt ist. Sie verspricht kostspieligeReformen, gewissermaßen goldene Berge, ist aber noch nicht einmal in der Lage, für die überkommenen Staatsausgaben die benötigten Mittel bereitzustellen.Das ist also das ungeschminkte Bild des Haushalts 1971,
das sicherlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann; denn es sind in diesem Haushalt noch viel mehr Risiken. Risiken sind immer in Haushalten; das trifft nicht Finanzminister Möller, sondern das war bei anderen so und wird in Zukunft bei anderen so sein. Es kommt nur darauf an, daß man es erkennt und seine Politik danach real einrichtet.
Die mehr und mehr sichtbar werdende Finanzmisere ist nun keineswegs nur eine vorübergehende Erscheinung. Über 1971 hinausblickend, fällt es mir schwer, eine klare finanzpolitische Linie dieser Regierung zu erkennen. Ich hoffe, sie wird am 27. Februar — wenn ich richtig informiert bin, werden Sie, Herr Finanzminister, dann Ihre Anstrengungen um die mittelfristige Finanzplanung haben; ich wünsche Ihnen viel Glück dazu — erkennbar werden.Wie gedenkt die Bundesregierung — das ist die erste Frage — die Steuerausfälle in den Jahren 1972 bis 1974 auszugleichen? Schon wird damit begonnen — ich sage das, um hier die Frage der umstrittenen Steuerlastquote wenigstens aufzugreifen; ich glaube, mein Kollege Krammig wird bei Einzelplan 16 darüber noch etwas mehr zu sagen haben —, die Aussagen in der Regierungserklärung über die konstante Steuerlastquote abzuschwächen, ja sogar diesen Vergleichsmaßstab, den die Regierung freiwillig und unaufgefordert gewählt hat, zu dikreditieren und seine geringe Aussagefähigkeit herauszustellen.Ich will mich nicht darauf einlassen, zu diskutieren, wie diese Steuerlastquote im einzelnen ist —ich glaube, Herr Finanzminister, Sie haben das in einem Artikel in der „Welt am Sonntag" auch etwas korrigiert, Sie haben sie angehoben auf 23,5 % —, wenn man all die Faktoren berücksichtigt, die man für das Jahr 1969 eben berücksichtigen muß, um zur Steuerlastquote von 24,2 % zu kommen.Sollen die sich auftuenden Lücken — das ist die zweite Frage — etwa ausschließlich durch Kredite geschlossen werden? Hier besteht ein ernstes Problem, da, wie ich in der Lesung 1970 darzutun versucht habe, die Kreditansätze der Finanzplanung bereits an der Obergrenze liegen. Sie wissen, meine Damen und Herren, die Kreditfinanzierung in der mittelfristigen Finanzplanung war mehrmals Gegenstand kritischer Äußerungen der Deutschen Bundesbank, und auch ich habe bei der Einbringung des Regierungsentwurfs hier entsprechende Bemerkungen gemacht. Lassen Sie mich nur eines deutlich herausstellen: die Behauptung der Bundesregierung, daß in den kommenden Jahren den öffentlichen Investitionen, . die für die wirtschaftliche Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung sind, beson-
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Leichtderer Vorrang zukomme, hält einem Zahlenvergleich nicht stand. Ich will zu dieser Frage nur noch eines sagen. 1971 sind Investitionen von 17,4 Milliarden DM vorgesehen. Davon werden nach den ursprünglichen Vorstellungen rund 3 Milliarden aus der Kreditaufnahme finanziert. Schon 1974 wird von 21 Milliarden DM Investitionen knapp die Hälfte durch Kredite finanziert werden müssen,
und das, meine Damen und Herren, sollte uns bedenklich stimmen.
Diese Feststellungen, so will mir scheinen, passen schlechterdings nicht in ein wachstumorientiertes, stabilitätsbewußtes finanz- und wirtschaftspolitisches Konzept. Die Kette der hier dargestellten Unsicherheiten ließe sich noch beliebig verlängern. Ich erinnere nur an die Fragen einer Neuverteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern — wir werden uns darüber Ende dieses Jahres zu unterhalten haben —, Fragen der Steuerreform und sonstige Dinge.Lassen Sie mich zum Schluß eines deutlich zum Ausdruck bringen. Für uns ist die Opposition nicht Kampf um die Wiedererlangung der Macht um jeden Preis und mit allen Mitteln. Auch in der Opposition — hören Sie zu; vielleicht kann man daraus auch etwas entnehmen — wollen und werden wir uns so verhalten, daß wir jeden Tag Regierungsverantwortung für unser Volk übernehmen können, ohne uns dann in Widerspruch zu vorherigem Tun oder Verhalten setzten zu müssen.
Sie, meine Damen und Herren, von der Regierungskoalition, hätten uns viel Kummer ersparen könnenSie könnten es auch in Zukunft —, wenn Sie sehr sorgfältig abgewogene Anträge der Opposition nicht schon deshalb abgetan hätten, weil sie nicht in Ihr Konzept passen.Die Haushaltsrisiken dieses Jahres schieben sich mit erhöhten Beträgen in die Zukunft fort, ja sie potenzieren sich. Der Weg von der Finanzmisere in die Finanzkrise — das sollte uns alle, auch uns, die Opposition, bedenklich machen — ist vorgezeichnet — eine Folge der Politik, wie wir sie in den letzten Monaten erlebt haben.
Wir haben seit Amtsantritt der neuen Regierung vor den Folgen dieser Politik gewarnt und sind als Schwarzmaler verschrien worden. Wir haben versucht, die übersteigerte Ausgabeneuphorie durch das Angebot eines Ausgabenstillhalteabkommens — ich erinnere daran, was unser Fraktionsvorsitzender Barzel nicht nur einmal, sondern öfter in dieser Frage erklärt hat — zu bremsen und durch konkrete Anträge zu stoppen. Alles vergebens!Der Minister muß wohl zugeben — und ich weiß, er tut es —, daß auch von ihm die Lage allzu optimistisch gesehen wurde. Aber er verfügt, wie ich meine, nicht mehr über das Durchsetzungsvermögen, die Kräfte zu bremsen, die er gerufen hat. Um die Finanzen des Bundes ist es daher — das ist das Fazit, das man ziehen muß — schlecht bestellt. Diese ernste, fast ausweglose Lage deutlich zu machen und den notwendigen Ernüchterungsprozeß in all unseren Reihen, auch und gerade in den Reihen der Regierung und der sie tragenden Fraktionen, im Hinblick auf die drohende gefährliche Finanzkrise zu fördern, war mein wesentliches Anliegen.
Meine Damen und Herren, die nächste Wortmeldung ist die von Herrn Abgeordneter Kirst. Die FDP-Fraktion hat 30 Minuten Redezeit angemeldet. Ich darf meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß der Vorredner die angemeldete Redezeit um zehn Minuten unterschritt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, dem Vorbild des Kollegen Leicht in dieser Beziehung nach Möglichkeit zu folgen. Das fällt deshalb um so leichter, weil sich trotz mancher Passagen in der Rede des Kollegen Leicht und trotz eines heute morgen verteilten Umdruckes mit einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur dritten Lesung nach meiner und nicht nur nach meiner Auffassung die Szene der haushaltspolitischen Auseinandersetzung zwischen der ersten Beratung dieses Bundeshaushalts 1971 im Herbst des vergangenen Jahres und heute völlig gewandelt hat. Die Frage lautet doch in der heutigen Situation nicht mehr, ob wir in diesem Bundeshaushalt die vorgesehenen Ausgaben unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten vornehmen dürfen, sondern ob wir sie unter haushalts- und finanzpolitischen Aspekten überhaupt noch vornehmen können. Das ist sicherlich eine veränderte Fragestellung.Der von der Opposition in diesem Hause und von anderen draußen im Lande monatelang angestimmte Theaterdonner wegen des Volumens des Haushalts 1971 ist verhallt und kann hier, Herr Leicht, auch nicht künstlich nachträglich neu entfacht werden.
Regierung und Koalition waren gut beraten und haben in ihrer Auffassung recht behalten, die Entscheidung über das Volumen des Haushalts 1971 zur rechten Zeit, nämlich jetzt in der zweiten und dritten Lesung, zu treffen. Alle Experten, ob sie in den Instituten sitzen, ob sie dem Finanzplanungsrat oder dem Konjunkturrat angehören, oder welche Gremien und Institutionen auch immer ein Urteil darüber abzugeben haben, sind sich schon seit Monaten darin einig, daß das Volumen des Haushalts 1971 im Bund und, nebenbei bemerkt, auch in den Ländern und Gemeinden konjunkturgerecht ist. Ich sage bewußt: Volumen — das sind die 100 Milliarden DM —, um hier nicht in eine Diskussion darüber zu geraten — Herr Leicht hat zum Teil in dieser Richtung argumentiert —, daß sich durch das
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5484 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
KirstErgebnis des Jahres 1970 die Zuwachsrate, die Prozentzahl, verändert habe. Darum geht es nicht, sondern es geht um das Volumen, um die 100 Milliarden DM, über die wir heute zu reden und in der nächsten Woche endgültig zu entscheiden haben.Daran kann auch — ich sage das im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Leicht, der Sie diese Mär noch einmal aufbrachten — das Märchen von der angeblichen Signalwirkung der Vorlage dieses Haushaltsplans im vergangenen Sommer nichts ändern.
— Sie schütteln den Kopf, Herr Leicht. Die klaren Aussagen von Regierung und Koalition — es begann mit der Pressekonferenz des Bundesfinanzministers; ich glaube, es war am 9. Juli — haben doch niemals die Behauptung einer solchen Signalwirkung gerechtfertigt. Denn vom ersten Augenblick an ist immer nur das gesagt worden, was ich einleitend wiederholte, was wir hier vertreten und was Sie nicht geglaubt haben, obwohl es richtig ist, nämlich daß wir die konjunkturpolitische Abstimmung dieses Haushalts bei der zweiten und dritten Lesung vornehmen würden, was wir jetzt auch tun.
— Herr Kollege Leicht, es wäre sicherlich eine Unterschätzung der Intelligenz derjenigen, auf die diese Signalwirkung gerichtet gewesen sein soll, wenn man behauptete, bei diesen seien solche falschen Signalwirkungen erzielt worden. Diese Signalwirkungen waren Wunschvorstellungen der ) Opposition.
Heute stellen sich die Auseinandersetzungen um den Bundeshaushalt 1971 — auch die von Ihnen erneut aufgegriffene Frage Kernhaushalt und Eventualhaushalt — als ein Methodenstreit dar, den Sie fast zu einer weltanschaulichen Auseinandersetzung hochstilisiert haben.
Ich unterschätze allerdings nicht die Intelligenz der Opposition, sondern bin der Auffassung, daß Sie es auch bei einem anderen Vorgehen der Bundesregierung fertiggebracht hätten, einen solchen Streit zu entfachen. Dessen bin ich ganz sicher.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wagner?
Bitte, Herr Dr. Wagner!
Herr Kollege Kirst, ist Ihnen entgangen, daß im Zeitpunkt der Ankündigung des Bundeshaushalts — das heutige Volumen hatte er schon, als er angekündigt wurde — in der breiten Öffentlichkeit sehr wohl eine solche Signalwirkung, die Sie bestreiten, empfunden worden ist und daß insbesondere damals in der öffentlichen Meinung sehr stark die Diskrepanz hervorgehoben worden ist, die zwischen den restriktiven, den konsumeinschränkenden Maßnahmen der Bundesregierung, die damals getroffen wurden, einerseits und dem Vorsatz der Bundesregierung, die Staatsausgaben in dieser Weise hochzuschrauben, andererseits bestand? Ist Ihnen geläufig, daß also große Teile der öffentlichen Meinung offenbar das Maß an Intelligenz, das Sie hier angeschnitten haben, nicht besessen haben und die Signalwirkung doch gesehen haben?
Vielleicht unterscheiden wir uns grundsätzlich darin, daß wir die Intelligenz unserer Mitbürger höher einschätzen als Sie.
Aber, meine Damen und Herren, die Signalwirkung sollte von Ihnen und anderen suggeriert werden.
Nennen Sie mir doch einen Unternehmer, der wegen der Ankündigung dieses Haushalts irgendwelche konjunkturpolitisch nicht gerechtfertigte Investitionsentscheidungen getroffen hat!
Darauf wäre es doch angekommen. Das wären die entscheidenden Zusammenhänge und Beziehungen gewesen.Nun, meine Damen und Herren, um das zweite nicht hängen zu lassen, Herr Kollege: Ich habe es hier wiederholt gesagt, ich habe es in den vergangenen Wochen und Monaten landauf, landab sagen müssen, weil sich diese falsche Darstellung von Ihnen natürlich verbreitet. Sie haben wieder auf den zufälligen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Beschlußfassung des Bundeskabinetts über den Bundeshaushalt 1971 und der Einführung des Konjunkturzuschlags abgestellt.
Der war nicht eindrucksvoll, der war zufällig, aber zwangsläufig. Dieses Haus hat Gesetze beschlossen,
die die Bundesregierung zwingen, im September des jeweiligen Jahres den Haushalt des nächsten Jahres vorzulegen. Das ist wohl klar. Darüber können wir uns nicht streiten.
Wenn man das will, wenn man hier gesetzestreu handeln will, muß man nach Lage der Dinge — das erfordert auch technische Vorbereitungen — im Juli den Haushalt verabschieden. Das war das sowohl zufällige wie zwangsläufige Zusammentreffen. Aber was nun von Ihnen und anderen daraus gemacht worden ist, das grenzt an — Na, ich will es nicht sagen. Hier suggeriert man dem Bürger wiederum einen Zusammenhang, den es nicht gibt, indem man ihm die Mär auftischt: Der verschwenderische Staat will 12 % mehr ausgeben, der will 100 Milliarden DM ausgeben, und du, armer Bürger, mußt deinen
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KirstKonjunkturzuschlag zahlen. Das ist doch diese Mär, das ist diese Verdächtigung.
— Herr Jenninger, so viel vom Haushalt verstehen Sie doch auch, um zu wissen, daß zwischen Konjunkturzuschlag und Haushalt überhaupt kein Zusammenhang besteht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jenninger?
Herr Kollege Kirst, stimmen Sie mir darin zu, daß beides, der Haushalt und auch der Konjunkturzuschlag, konjunktursteuernde Elemente sind und daß beide, wenn man das eine überzieht und das andere einführt, entgegengesetzte Wirkungen haben können?
Nein, Herr Jenninger. Sie vergessen nämlich wieder den Zeitfaktor.
Zunächst einmal, um das für die Bevölkerung draußen deutlich zu machen: Der Konjunkturzuschlag hat mit dem Haushalt nichts, aber auch gar nichts, absolut nichts zu tun.
Denn diese Mittel gehen in keinen Haushalt ein, weder in den des Bundes noch in den der Länder, noch in den der Gemeinden, noch in irgendeinen anderen öffentlichen Haushalt, — um das sehr deutlich zu sagen. Sie wissen das. Aber Sie versuchen immer wieder, das Gegenteil in der Bevölkerung sich festsetzen zu lassen. Dann werden wir draußen mit diesen Meinungen konfrontiert. Irgendwo muß dieses Mißverständnis ja herkommen. Aber diese Dinge haben nichts miteinander zu tun, weil die Gelder aus dem Konjunkturzuschlag, wie Sie wissen, aber immer in Ihrer Argumentation verschweigen,
bei der Bundesbank stillgelegt werden; kein Pfennig davon kann für den Bund ausgegeben werden. Das muß noch einmal klar gesagt werden. — Das ist die eine Seite; insofern kein Zusammenhang.
Was die Wirkung des Haushalts im übrigen angeht — ich habe das hier im vergangenen Februar sehr deutlich ausgeführt , so müssen wir die Grenzen einer antizyklischen Haushaltspolitik sehen. Ich will das jetzt hier nicht wiederholen.
In diesem konkreten Fall kommt aber noch hinzu, daß Sie und andere vom 9. Juli 1970 an über diesen Haushalt immer geredet haben, als wäre es ein Nachtragshaushalt für das Jahr 1970, der gar nicht erst parlamentarisch beraten werden müsse,
sondern par ordre de Mufti vom 1. Juli an wirksam
würde. Das war doch die Argumentation von Ihnen.
— Schön, das kann man allenfalls als Zwischenruf sagen.
Diese veränderte Situation zeigt sich doch schon deutlich im Vollzug des Haushalts 1970.
Mit einer 70/ oigen Zunahme der Ausgaben des Bundes im Jahre 1970 ist — Herr Leicht, Sie behaupten das Gegenteil — dieser Haushalt absolut konjunkturgerecht vollzogen worden.
Die Unken- und Kassandrarufe sind durch dieses Ergebnis überzeugend ad absurdum geführt worden.
Nun hat Herr Kollege Leicht — das war so sicher wie das Amen in der Kirche — auch die sicher nicht sehr glückliche Äußerung, die irgendwo — nebenbei: nicht einmal vom Finanzminister selbst — gemacht worden ist, mit den 4 % Ausgabesteigerungen im ersten Halbjahr 1970 angesprochen.
Eine Zwischenfrage. Bitte sehr!
Haben Sie vielleicht zufällig damals gefehlt, Herr Kollege Kirst, als der Finanzminister hier diese Erklärung abgegeben hat?
Lieber Kollege Leicht, ich bezweifle nicht, daß diese Erklärung irgendwann
— ich werde jetzt ganz sorgfältig, Herr Leicht -vom Finanzminister hier wiedergegeben worden ist, aber wir beide sind doch an einem Abend zusammengewesen — mit anderen; da war Herr Hermsdorf dabei, auch der Herr Minister und der Herr Staatssekretär —, wo sich herausgestellt hat, wie diese Äußerung von den 4 % in die Welt gekommen ist. Wenn ich so etwas erfahre, dann nehme ich es auch zur Kenntnis und werte es nicht immer wieder politisch aus, wie es mir paßt.
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5486 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Kirst— Aber Herr Kollege Leicht, doch nicht in denersten Monaten! Die sind erst später bezahlt worden.
Das ist der entscheidende Unterschied. Ich frage Sie, ob Sie, um die Zuwachsrate im ersten Halbjahr 1970 aus statistischen Gründen niedrig zu halten, auch im Jahre 1970 die Anpassung der Bezüge im öffentlichen Dienst erst später hätten vornehmen wollen.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, Herr Jenninger!
Herr Kollege Kirst, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir nicht diese Ausgaben kritisieren, sondern daß wir kritisieren, daß der Finanzminister noch im April gesagt hat, es würde eine restriktive Haushaltsführung stattfinden, obwohl er schon vorher wußte, daß beispielsweise die Besoldungserhöhungen kommen, daß beispielsweise die Ausgleichszahlungen für den Aufwertungsverlust der Landwirtschaft kommen? Also sind wir hier hinter das Licht geführt worden.
Das kritisieren wir doch.
Das Versprechen der restriktiven Haushaltsführung ist gehalten worden, soweit es nicht zwangsläufig nicht zu halten war, sonst wären wir nicht auf 10 %, sondern 12 oder 13 oder 14 % im ersten Halbjahr gekommen und nicht auf 7 % im ganzen Jahr, sondern auf 9 oder 10 %.
Ich wollte das alles gar nicht wieder aufwärmen, aber es bleibt mir hier nichts erspart. — Sie müssen im übrigen dabei auch sehen, daß dieser Streit konjunkturpolitisch wesentlich im Bereich der Investitionen interessant ist. Aber, Herr Leicht, wir wissen doch gemeinsam: Den Haushalt 1970 haben wir hier erst am 18. Juni oder wann es gewesen ist, verabschiedet. Neue Investitionen konnten also überhaupt erst im zweiten Halbjahr konjunkturwirksam werden. Was wir bis dahin getan haben, war die Fortsetzung begonnener Maßnahmen früherer Legislaturperioden.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht?
Ich gerate dann allerdings in Gefahr, mein Versprechen nicht einzuhalten.
— Das weiß man noch nicht.
Geben Sie wenigstens zu, daß es eine vorläufige Haushaltsführung gibt und daß sie ausgenutzt worden ist, daß es also nicht so stimmt, wie Sie es gesagt haben?
Ich sehe darin keinen Widerspruch, Herr Kollege Leicht.
Sicherlich handelt es sich dabei — darin stimmen wir wohl überein - nur um einen Teilerfolg, insofern, als die Ausgaben zwar erheblich gedrosselt werden konnten, dies jedoch nicht zu der gewünschten und erwarteten weiteren Rücklagenbildung führte. Ich komme im Hinblick auf einen Vorwurf des Kollegen Leicht noch einmal darauf zurück. Dies liegt im Zurückbleiben der Steuereinnahmen hinter den Schätzungen begründet — auch darüber sind wir uns wohl einig —, das prophezeit zu haben wohl niemand behaupten kann. Ich entsinne mich jedenfalls nicht an einen einzigen, der bei der Verabschiedung des Haushalts 1970 gesagt hat: Hier sind die Steuereinnahmen zu hoch angesetzt. Da sitzen wir also nun einmal alle in einem Boot, wenn ich es richtig sehe. Dieses Ergebnis erfordert sicherlich eine Analyse und legt auch grundsätzliche Überlegungen nahe.Lassen Sie mich nun etwas zu dem von Ihnen angetippten Thema der Steuerlastquote sagen. Wenn man dabei mit dem Begriff der Steuerlastquote operiert, erscheint es mir zweckmäßig — ich nehme an, aus Ihren Ausführungen ein gewisses Maß an Übereinstimmungen entnehmen zu dürfen — ihn nicht zu eng an das jeweilige Jahr zu binden. Zumindest müßte eine Abgrenzung erfolgen, die zufällige Ergebnisse bereinigt.
Ich habe ein Beispiel dafür, wenn auch in jenem Falle die Steuerlastquote nur in der zweiten Stelle hinter dem Komma beeinflußt wird. Immerhin, wie Sie wissen, habe ich im Haushaltsausschuß die Frage gestellt: „Wieso — das ist bei der allgemeinen Entwicklung doch völlig unverständlich — ist denn 1970 die Kaffeesteuer um 6 % — ich glaube, so viel war es — gegenüber 1969 zurückgegangen?" Da wurde mir gesagt, das liege eigentlich nur daran, daß eine große Firma anders abgerechnet habe als sonst. Solche Zufälligkeiten werden sich in größeren Dimensionen gewiß auch bei der Veranlagung, bei anderen Steuerarten usw. finden. Das sollten wir dabei bedenken.Man könnte dabei im übertragenen Sinne davon sprechen, daß auch eine feste Steuerlastquote — und die ist nun einmal unser politischer Wille — nur über mehrere Jahre gesehen werden kann und zwangsläufig — um einen Begriff aus einem anderen Bereich hier zu gebrauchen - gewisse Bandbreiten aufweist. Deshalb stellt der vielleicht sogar vordergründig rechnerische Rückgang ebensowenig einen Grund zur Panik dar, wie es bei einem kurzfristigen Ausschlag in umgekehrter Richtung der Fall sein würde. Wir müssen hier wirklich zu einer mehrjährigen Betrachtung kommen. Ich glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig.
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KirstIm Haushalt 1970 sind die Konsequenzen aus der veränderten Einnahmesituation im wesentlichen durch eine durchaus vertretbare Erhöhung der Kreditaufnahmen gezogen worden, deren Ausmaß weit unter der Rücklagenbildung liegt. Selbst Herr Leicht hat hier — um seine Worte anders wiederzugeben — nicht behauptet, wie draußen gelegentlich behauptet wird, daß die Konjunkturausgleichsrücklage durch Kreditmittel finanziert sei. Er hat gesagt: Nicht völlig. Das ist richtig. Aber ich würde sagen: zum weit überwiegenden Teil nicht aus Kreditmitteln. Über Tatsachen streite ich nicht. Nur, wenn sie falsch dargestellt werden, muß ich darum streiten, daß sie richtiggestellt werden. Der kreislaufmäßige Erfolg wird ja auf jeden Fall durch die Stillegung erzielt.
Nun sind wir uns alle bewußt — Herr Leicht hat einiges aufgezeigt, was z. B. auch in der Antwort auf die Kleine Anfrage, Drucksache VI/1766, eine Rolle gespielt hat , daß dieser Haushalt wie jeder Haushalt nur eine Momentaufnahme darstellt, daß er Risiken wie Chancen enthält, die überhaupt nicht vorhersehbar oder, soweit vorhersehbar, derzeit noch nicht quantifizierbar sind. Unabhängig davon ist es wohl an dieser Stelle geboten, einige Worte — auch das hat Herr Leicht aus seiner Sicht anklingen lassen — zu der nach meiner Auffassung falschen Alternative „Steuererhöhung oder keine Reformen bzw. weniger Reformen" zu sagen, auch im Hinblick auf die bevorstehende Fortschreibung der Finanzplanung. Auf das Thema „Reformen" werde ich mutmaßlich in der dritten Lesung noch einmal gründlich eingehen. Einiges habe ich ja schon bei der Einbringung des Haushalts dazu gesagt.In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen, daß ich immer wieder davor warne, den Reformgedanken der sich ja nicht nur auf Maßnahmen erstreckt, die Geld kosten — durch die dauernde Verbindung mit Finanzfragen irgendwie zu diskreditieren. Das scheint mir nämlich häufig der Hintergrund solcher Diskussionen zu sein.
Hier ist über Programme aller Art, aller Ministerien gesprochen worden. Zum Teil waren das Bestandsaufnahmen, wo gesagt wird: Wenn man das und das will, muß man das und das ausgeben. Verbindlich für die Politik der Regierung ist und bleibt eben die Finanzplanung. Darüber sollten wir uns im klaren sein. Um aber eine vernünftige Finanzplanung aufstellen zu können, muß man natürlich auch wissen, was in den verschiedenen Bereichen erforderlich ist.
Unabhängig von diesen Zusammenhängen, auf die in der dritten Lesung noch einmal einzugehen ich mir vornehme, möchte ich ganz nüchtern feststellen, daß finanzwirksame Reformen — sicherlich gibt es sehr viele davon — auf vier Wegen finanziert werden können. Die Reihenfolge, in der ich sie vorbringe, ist die Reihenfolge der Angemessenheit, wie wir sie sehen.Erstens eine Konzentration der vom Wachstum ausgehenden Zuwachsraten auf die Prioritäten. Darin eingeschlossen ist eben, daß man von Prioritäten nicht immer nur redet, sondern auch danach handelt.
— Vielleicht sollten wir, Herr Leicht und Herr Hermsdorf, das einmal unseren Kollegen in allen Fraktionen sagen, damit eben nicht das Gesamtbild entsteht, das wir bei Ihnen oft entstehen sehen, nämlich daß immer das Priorität hat, worüber man gerade geredet hat. Diese Feststellung müssen wir leider häufig treffen.
Wir meinen damit — um auch dieses Mißverständnis auszumerzen — ein Wachstum unter der relativen Preisstabilität, wie wir sie nun einmal in unserer Welt nur haben können. Ich erinnere daran, daß Herr Strauß hier im Herbst klar gesagt hat: 2 % seien auch für ihn unvermeidlich. Wenn jetzt diese Regierung über 3 1/2 % auf 3 % die Dinge hinbekommen wird, so bleibt nach meiner Ansicht für so viel demagogische Auseinandersetzung, wie wir sie hierüber in den vergangenen 15 Monaten erlebt haben, nichts mehr übrig.
Das also ist die eine Quelle. Die zweite Quelle — auch hier besteht vielleicht mehr Einigkeit zwischen Herrn Leicht und Herrn Hermsdorf und mir als mit den anderen Kollegen in den Fraktionen — besteht in einer Überprüfung aller bisherigen Haushaltsausätze, wobei es Tabus und heilige Kühe nicht geben darf.
Wie schnell aber etwas zum Tabu und zur heiligen Kuh wird, das zeigt uns die Praxis im Haushaltsausschuß, wenn wir einmal irgendwo etwas anfangen wollen.
Wir sollten uns doch tatsächlich überlegen, diese Dinge auch einmal etwas langfristiger zu betrachten. In der Hektik der Haushaltsberatungen ist das immer sehr schwer möglich. Aber wir sollten uns vornehmen, uns, sobald dieser Haushalt verabschiedet ist, nun wirklich Gedanken darüber zu machen, was wir im nächsten Jahr nicht wiedersehen wollen, wobei das möglicherweise nicht so schnell geht. Sicher, auch von mir ist hier gelegentlich von der Zementierung des Haushalts gesprochen worden. Es ist aber nur bedingt richtig, von einer solchen Zementierung zu sprechen, die in diesem Haushalt und natürlich auch überall in den anderen Haushalten in 20 Jahren angewachsen ist. Man kann eine solche Zementierung schließlich mittel- und langfristig beeinflussen. So viel zu der zweiten Quelle, aus der, wie ich meine, Geld für Reformen fließen kann.Die dritte Quelle ist eine in vertretbarem Rahmen— ich bin der Auffassung, daß wir diesen Rahmen mit der Finanzierung dieses Haushalts keineswegs sprengen — vorgenommene Kreditausweitung, die— das ist für mich das Entscheidende — gesellschaftspolitisch günstiger und vorteilhafter als eineKirstSteuererhöhung ist, und zwar deshalb, weil wir auf dem Wege der Durchführung dieser Reformen, soweit sie finanzwirksam sind, auch Investitionen vornehmen, von denen viele Generationen etwas haben sollen. Warum soll denn eigentlich eine Generation alles bezahlen? Vielleicht meinen Sie, es ginge immer so weiter, daß auch die nächste Generation ohnehin genug zu zahlen hat. Aber übersehen wir doch nicht die langfristige Entwicklung, daß wir nämlich erst einmal am Nullpunkt anfangen mußten, daß wir unsere Wirtschaft wieder aufbauen mußten, daß deshalb vieles zurückgestellt werden mußte. Jetzt können wir endlich einiges neu in Angriff nehmen. Insofern ist hier langfristig doch eine Verlagerung auf zukünftige Generationen möglich. Abgesehen davon ist eine solche Kreditausweitung auch deshalb gesellschaftspolitisch richtiger, weil der einzelne, der dem Staat über Anleihen Mittel zur Verfügung stellt, damit seiner eigenen Vermögensbildung dient, während die Steuergelder für ihn verloren sind.
— Sicher! Herr Leicht, wenn wir davon sprechen, daß es in vielen Bereichen Engpässe gibt ich will nicht das Wort „Notstand" gebrauchen, weil mir das in vieler Hinsicht übertrieben erscheint; aber darauf komme ich, wie gesagt, gleich zu sprechen —, Engpässe auf Grund von aus welchen Gründen auch immer vorhandenen Rückständen und Versäumnissen, so beinhaltet das Wort „Engpaß" doch schon die Aussicht, daß wir in späteren Zeiten, sei es in 10, 15 oder 20 Jahren, bei neuen Investitionen kurzertreten können und dann mehr Raum haben, um z. B. diese Anleihen zu tilgen. So muß man die Dinge doch sehen.
— Sie wollen anscheinend doch eine sehr hohe Selbstfinanzierungsquote des Staates. Ich halte das finanzpolitisch und gesellschaftspolitisch nicht für richtig.Ich möchte hier folgendes sehr deutlich sagen. Nur wenn und soweit die ersten drei Wege nicht ausreichend wären, stellte sich theoretisch die Frage nach einer Steuererhöhung. Diese Frage führte aber wiederum unweigerlich zu der Frage, ob nicht mögliche Vorteile durch den Nachteil einer Schwächung des Leistungswillens und der Leistungsfähigkeit aller überkompensiert würden. Das ist unsere klare Position in dieser Frage. Zugleich müßten wir in diesem Zusammenhang die Illusion zerstören, daß wir von der gegenwärtigen Steuerlastquote wie gesagt, mit der Einschränkung, die ich vorhin nannte, daß wir sie nicht genau an das Jahr binden können — herunterkommen könnten.Die CDU betreibt in dieser Hinsicht ja eine doppelte Verunsicherung. Sie verdächtigt die Regierung, die Steuern erhöhen zu wollen, und sie hält sich selbst siehe die Düsseldorfer Parteitagsbeschlüsse — alle Türen offen.
Das muß man bei dieser Gelegenheit einmal feststellen.Bei dieser Gelegenheit muß man auch noch vor einer weiteren Illusion warnen, die in diesem Lande weit verbreitet ist. Ich meine die Illusion, man könne die Steuerlastquote fühlbar erhöhen — eine Erhöhung um 1 % würde ein Mehr von 7 Milliarden DM bedeuten —, wenn man sich darauf beschränke, gewisse Korrekturen bei der Besteuerung der Spitzeneinkommen oder bei der Vermögensteuer oder Erbschaftsteuer vorzunehmen. Hier handelt es sich um ganz andere Probleme, nämlich um Probleme der Steuergerechtigkeit, die in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen.
Ich sage jedes Wort, das ich hier sage, zunächst einmal zu denen, zu denen ich hier spreche, und natürlich zu denen, die es überall hören.Herr Kollege Leicht, wie gesagt, das ist ein Problem der Steuergerechtigkeit. Aber wer, zu welchem Zeitpunkt auch immer, meint, man müsse um der öffentlichen Aufgaben willen die Steuerlastquote erhöhen, der muß dann offen hinzufügen, daß das nur geht, wenn man wirklich alle, aber auch alle damit belastet, weil das sonst nichts bringt. Darüber muß man sich im klaren sein. Das gebietet einfach die Ehrlichkeit.
Die Haushalts- und die Finanzpolitik waren im vergangenen Jahr unberechtigterweise Prügelknaben mancher Konjunkturpolitiker. Sie werden oft von den gleichen heute schon als konjunkturpolitischer Nothelfer ins Auge gefaßt. Wir sollten weder in der einen noch in der anderen Richtung die Möglichkeiten der konjunkturellen Gestaltung der Haushaltspolitik überschätzen, ganz abgesehen davon, daß wir davon ausgehen, daß die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik aus eigener Kraft in der Lage sein werden, gefährliche Entwicklungen zu vermeiden. Dabei wissen wir auch, daß zweifellos antizyklisches Verhalten in einem Aufschwung leichter ist, als wenn es sich darum handelt, zu bremsen. Das ist eine gemeinsame leidvolle Erfahrung.Lassen Sie mich nun noch wenige Sätze zu einigem sagen, was der Kollege Leicht hier so gesagt hat. Ich nehme an, da ergibt sich eine Arbeitsteilung; denn auch Kollege Hermsdorf wird noch einiges dazu sagen.Sie haben hier wieder von der Regierungserklärung gesprochen. Um es einfach zu machen: Ich weiß nicht, ob Sie es gehört haben; wenn nicht, bitte ich Sie, einmal das nachzulesen, was mein Kollege Spitzmüller Ihnen am Mittwoch dazu gesagt hat, welche famose Bilanz der Nichterfüllung z. B. der Regierungserklärung einer mit absoluter Mehrheit ausgestatteten Regierung des Jahres 1957 hier vorgewiesen werden könnte.
Ich würde überhaupt sagen: Vieles von dem, wasSie hier gebracht haben, haben wir ja nun schon
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5489
Kirstwiederholt gehört. Manches könnte man vom Tonband anhören, und wenn wir einen Computer hätten, könnten wir von diesem auf manche Behauptung, manchen Angriff die von uns darauf schon gegebenen Erwiderungen abspielen.Sie haben über Zeitpunktfragen gesprochen und bei dieser Betrachtung natürlich die Frage der Aufwertung ausgeklammert. Auch das nur der Vollständigkeit halber!Weiterhin haben Sie natürlich versucht, das Ergebnis des Jahres 1970 zu relativieren. Die CDU erweist sich hier als Kalenderreformer, indem sie neue Haushaltsjahre — von Dezember bis November - erfindet. Aber das führt ja doch alles zu nichts.Sie haben von Ihrem Antrag aus dem vergangenen Sommer bezüglich der 1,5 Milliarden DM gesprochen. Wir haben gesagt, niemand weiß,
ob das geht. Wir haben dann allerdings gesagt — und das würden wir jetzt wieder sagen —: Wenn man diese Minderausgaben einsetzen will, dann kann man das nicht global tun.
Wenn man nämlich nicht weiß, ob sich die Ausgaben entsprechend vermindern, dann muß man auch den politischen Willen bekunden, zu sagen: ich will vorab erst einmal an den und den Punkten sparen.
Dann muß man - mit Ausnahme der Personalkosten, wo Sie recht behalten haben — konkrete Streichungsanträge haben. Die haben Sie hier nicht gestellt. Wir haben den gleichen Effekt ermöglicht — daß er nicht eingetreten ist, liegt an der Steuerentwicklung , und zwar durch die Entschließung, die wir hier in der dritten Lesung durch die Koalition angenommen haben, daß nämlich alle Haushaltsverbesserungen einer zusätzlichen Rücklage zugeführt werden sollten. Diese Verbesserungen sind nicht eingetreten.Eines aber möchte ich auch noch einmal sagen, weil Sie hier wieder die große Lobeshymne auf die angeblich so ausgabenenthaltsame Opposition angestimmt haben. Herr Barzel hat das hier vor ein paar Tagen auch wiederholt.
Dieses Angebot war und bleibt ein Angebot mit doppeltem Boden.
Es ist gesagt worden: Wir sind bereit, die Entscheidung über alle ausgabenwirksamen Beschlüsse bis zu diesem Zeitpunkt — Verabschiedung des Haushalts — zurückzustellen. Wunderbar! Aber dann haben Sie — fast kaninchenhaft — ausgabenwirksame Anträge Monat für Monat, Woche für Woche produziert und in dieses Haus eingebracht,um eben den doppelten Effekt zu haben: um damit vor die Betroffenen treten und sagen zu können, die brave CDU will das und das, und das kostet, kostet, kostet!, und um gleichzeitig hier sagen zu können: generell wollen wir das natürlich gar nicht, wir wollen einen Stopp der Ausgaben! — Meine Damen und Herren, so kann man das nicht machen, wenn man ernstgenommen werden will.
Sie haben auch hier wieder unterschwellig von den Risiken und Steuerausfällen gesprochen und haben das so formuliert, als ob die Steuerausfälle Folgen der Politik dieser Regierung seien. Verehrter Kollege Leicht, Sie wissen doch genau, für welche Wirtschaftsjahre im Jahr 1970 Steuern gezahlt worden sind. Das ist doch ganz klar. Sie wissen doch, wie die Zusammenhänge sind.
- Sicher, das wissen wir auch, das kommt noch hinzu. Aber hier handelt es sich wieder um eine Zeitpunktfrage, und da müßte man wiederum auf die Frage der Aufwertung zurückkommen.
— Ich will es wegen des Zeitablaufs nicht tun.Etwas anderes, das Sie so leicht dahinreden, ist der Zusammenhang zwischen unserer Ostpolitik und dem Risiko des Devisenausgleichs. Dieser Termin des 1. .Juli 1971 ist auch eine zwangsläufige Erb' schaft von früheren Regierungen. Diesen Termin haben wir doch nicht erfunden.
Es gibt noch eine ganze Reihe von Dingen. Sie haben zum Schluß gesagt, Sie wollten so handeln, daß Sie in die Lage versetzt würden, jeden Tag die Regierung zu übernehmen, ohne an Widersprüchen zu leiden. Lassen Sie mich es etwas vergröbert sagen, aber im Prinzip richtig: Sie haben sich in fünfzehn Monaten einen Vorrat an Widersprüchen für fünfzehn Jahre für den Fall einer Regierungsübernahme aufgehalst.
Ich möchte zum Schluß ein Wort zu Herrn Kollegen Stoltenberg sagen.
— Vielleicht macht er gerade Wahlkampf in Schleswig-Holstein. Heute heißt es in den „Westfälischen Nachrichten" in einem Interview von ihm:Die zunehmende Verschärfung und Polarisierung,- ich zitiere jetzt Herrn Stoltenberg, damit keine Mißverständnisse entstehen —von der ich sprach, schränkt den Spielraum einer eigenständigen Politik der FDP immer weiter ein. Sie hat sich in den Debatten dieser Woche im Bundestag als eine Hilfsorganisation der SPD ohne eigene Profilierung dargestellt.
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5490 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
KirstIch glaube, Herr Stoltenberg kann oder will nicht zuhören. Ich habe gerade am Mittwoch hier sehr deutlich das Verhältnis der Regierungsparteien zueinander beleuchtet. Ich habe auf den Unterschied zwischen Parteien und Faktionen hingewiesen. Ich glaube, das hat er alles nicht gehört und will es nicht hören, weil es nicht in sein Konzept paßt.
Dann kam gestern Herr Benda, und der sagt wieder etwas ganz anderes.
Er spricht wieder vom „Bremser Genscher". Ichglaube, diese Argumente heben sich gegenseitigauf und weisen sich gegenseitig als unhaltbar aus.
Man kann nicht einmal das eine behaupten und einmal das andere.
Herr Abgeordneter, ich darf sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich tue das, Herr Präsident. Nach meiner Schätzung habe ich die Zeit noch nicht so viel überschritten, wie ich durch Zwischenfragen aufgehalten worden bin. Ich bin aber jetzt am Ende.
Herr Abgeordneter, ich darf feststellen, daß die Frau Schriftführerin zu meiner Rechten während der Zwischenfragen genau gestoppt hat. An ihrer Gerechtigkeit ist nicht im mindesten zu zweifeln.
Ich wage das nicht anzuzweifeln, Herr Präsident. — Damit Herr Stoltenberg es nicht wieder mißversteht: Wir vertrauen weiter auf eine solide Haushaltspolitik dieser Regierung aus Freien und Sozialdemokraten, in der gemeinsame sozialliberale Politik betrieben wird, und wir sind bereit, das Unsere zu dieser soliden Haushaltspolitik beizutragen. Wir stimmen deshalb dem Haushalt dieses Bundesministers der Finanzen zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Hermsdorf. Für ihn sind 20 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von den 20 Minuten dürfen Sie noch das abziehen, was der Kollege Kirst überzogen hat; denn ich bin vollinhaltlich mit ihm einverstanden. Es liegt mir nicht, Gesagtes zu wiederholen,
obwohl es sehr schwierig sein wird, ohne Wiederholungen auszukommen. Im übrigen freue ich mich, feststellen zu können, daß wir von heute morgen 10 Uhr an in einer Haushaltsdebatte sind. Ich weiß nicht, ob das in den früheren Tagen so erkennbar war.
Ich habe deshalb eine Bitte oder Anregung an alle Fraktionen, auch wenn von der CDU-Spitze nur der bayerische Teil der Führung hier ist.
— Einverstanden! Völlig! Klar!
Herr Kollege Stücklen, ich würde Sie keinesfalls übersehen und auch nicht unterschätzen.
— Ja, ja, das ist mir völlig klar.
Ich kenne die Absichten der Fraktionsführungennicht, wohin sie mit der Anlage dieser Debatte wollen. Das ist mir bis zur Stunde noch nicht erklärlich.
— Sie sind ja so dünn mit Ihrer Haut. Das ist schrecklich. Erstens habe ich alle angesprochen, zweitens möchte ich noch einmal sagen, damit Sie nicht gleich wieder wild werden — es ist furchtbar mit Ihnen —, daß es sich hier nicht um eine Kritik handelt, sondern um eine Feststellung und eine Anregong. Wenn auch das nicht mehr ohne Widerspruch bei der CDU erlaubt ist, dann weiß ich nicht, wozu wir in diesem Haus überhaupt noch da sind.
Stellen wir einmal den Ablauf des Haushaltsplans 1971 fest: Abschluß im Kabinett im Juli, Einbringung im September, dann Arbeit des Haushaltsausschusses; der Haushaltsausschuß bemüht sich, fristgemäß fertig zu werden. Alle Fraktionen haben die Absicht, den Haushalt so früh wie möglich zu verabschieden. Bei der Anlage dieser Debatte habe ich jedoch den Eindruck, es kann gefährlich werden. Wenn wir so weitermachen, werden wir nicht einmal nächste Woche mit der Verabschiedung dieses Haushalts fertig.
Ich halte das für ganz gefährlich.Bei dieser Regierung gibt es einen neuen Tatbestand,
den man auch einmal bei der Haushaltsdebatte berücksichtigen sollte. Wir debattieren hier tagelang über bestimmte Probleme, entweder auf Grund von Berichten der Bundesregierung oder auf Grund von Großen Anfragen. Wir haben den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Wir haben die ganze Konjunkturpolitik durchdiskutiert. Wir haben bei dem Bericht über die Lage der Nation die Außenpolitik diskutiert. Das nützt uns gar nichts. Einen Tag später machen wir bei der Haushaltsberatung genau dasselbe noch einmal.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5491
Hermsdorf
[ch weiß nicht, ob das diesem Haus und uns allen nützt. Das hilft uns nicht. In der Haushaltsdebatte steht alle Politik zur Diskussion. Aber es muß doch nicht so sein, daß man, nur weil das so ist, noch einmal alles das sagt, was zwei Tage vorher hier schon gesagt worden ist. Wir müssen uns im Interesse des Hauses überlegen, wie wir das ändern können. Ich bitte, daß sich die Fraktionsführungen und die Geschäftsführer darüber einmal Gedanken machen.
— Mehr wollte ich nicht. Das ist keine Kritik. Das geht an alle.
- Jetzt zur Sache, genau! Aber Sie werden mirdoch zugeben, daß so etwas noch einmal gesagt werden darf. Es gehört auch zur Sache.Herr Leicht, ich habe Sie bei Ihren Darlegungen bei aller Kritik, die ich dazu habe, ein bißchen bewundert, wie Sie die Kurve gekriegt haben. Sie kamen mir vor wie ein Steilwandfahrer. Ich erinnere mich an das, was von Ihnen, von der Opposition generell, gesagt wurde, als der Haushalt im Kabinett im Juli 1970 verabschiedet wurde. Blättern wir noch einmal nach — wir haben ja noch eine dritte Lesung, jetzt ist ja die zweite Lesung, das sollte man auch berücksichtigen —, was wir in der ersten Lesung gesagt haben, Sie, Herr Kollege Althammer, Kollege Strauß und alle, die dazu gesprochen haben. Ich gehe dann noch einen Schritt weiter und sehe die Beratung im Haushaltsausschuß. Als wir anfingen, gab es sogar noch einen Antrag, der in der Richtung lag wie die ursprüngliche Debatte im Juli.Sie haben heute Kritik daran geübt, wie der Haushalt 1970 gefahren wurde. Sie haben die Risiken im Haushalt 1971 aufgezeigt. Nur davon, daß das Haushaltsvolumen zu hoch sei, ist überhaupt nicht mehr die Rede. Darüber haben wir ein halbes Jahr gestritten in einer Weise, das war einfach nicht mehr drin. Jetzt stimmt alles. Schönen Dank, daß alles stimmt!
Da kann man mal sehen, wie diese Regierung vorher genau gewußt hat, welche Prioritäten und welche Zielsetzungen stimmen.
— Ich muß nicht lachen. Ich freue mich nur, wenn Sie so fröhlich sind. Wenn ich Sie so lachen sehe, möchte ich sagen: Sie sehen so fröhlich aus. Haben Sie gar keine Verwandten? Aber das ist eine andere Frage.
Bitte schön, Herr Althammer!
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Dr. Althammer.
Herr Kollege Hermsdorf, da Sie überzeugt sind, daß die Regierung das alles so wunderbar gewußt hat, wollte ich Sie nur fragen, ob sie vielleicht bei der Pythia von Bad Godesberg gewesen ist, um das zu erfahren. Vielleicht hat sie es bei der Wahrsagerin von Godesberg erfahren?
Hier kann man die weltweite Trennung zwischen Ihnen und uns sehen. Wir glauben nicht an solche Frauen, die uns das voraussagen. Wir halten uns an die Realitäten. Das ist seit Jahren so.
Es gibt also keinen Zweifel, alles was gesagt wurde, ist Vergangenheit. Die 100-Milliarden-Grenze, die so heftig umstritten war, ist nicht mehr umstritten. Es gibt keinen Antrag mehr, unter die 100Milliarden-Grenze herunterzugehen, sondern es bleibt dabei.Nun verstehe ich eines nicht. In der ersten Lesung des Haushalts 1970 haben wir hier einen Antrag gehabt, einen Eventualhaushalt einzuführen, für restriktive Haushaltsführung zu sorgen usw. Wir haben gesagt, wir trauten dieser Regierung zu, daß sie den Haushalt restriktiv fährt. Sie muß von den Prioritäten her sehen, wo sie bremst. Sie haben gesagt: Diese Regierung wird nicht bremsen. Sie waren zwar froh - das haben Sie anerkannt —, daß die Steigerung bei 7 % statt 9 % aufgehalten werden konnte, aber Sie haben auf die erste Hälfte hingewiesen. Herr Leicht, Sie wissen genauso gut wie ich, was in der ersten Hälfte automatisch gefahren werden muß. Sie wissen auch genauso wie wir alle, wie lange es braucht, bis man eine Maßnahme bis zum endgültigen Effekt durchbringt. Ich gebe Ihnen sogar zu, daß es im ersten Halbjahr nicht ganz so gewesen ist, wie wir es uns vorgenommen hatten. Aber hier komme ich auf das, was der Kollege Kirst gesagt hat. Sie wissen genau, wie die 4 % zustande gekommen sind, wer sie errechnet hat und wie diese Zahl plötzlich in die Welt kam. Sie haben auch genau gewußt, daß es mit 4 % nicht ging. Aber wir sind bei 7 % geblieben. Sie haben gesagt, Sie anerkennen das. W i r gratulieren dieser Regierung, daß sie den Haushalt so gut gefahren hat, daß wir heute diese Position haben.
Denn stellen Sie sich einmal vor, wir wären nicht so verfahren und hätten dann eine Steuermindereinnahme in dieser Höhe! Zu welchen Risiken wären wir dann im Haushalt 1971 gekommen!
— Sie bestätigen das, gut. Wir sind uns also einig. Wir diskutieren nur noch darüber, ob man im ersten Halbjahr mehr hätte bremsen müssen.Jetzt kommt der Haushalt 1971. Die 100-Milliarden-Grenze ist jetzt unumstritten. Aber jetzt sprechen Sie von Risiken. Ich habe sehr genau und anerkennend zur Kenntnis genommen, daß Sie sagen: Jeder Haushalt hat Risiken, welche Regierung ihn5492 Deutscher Bundestag — b. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971Hermsdorf
auch fährt. Sie sehen die Risiken insbesondere in der Tarifentwicklung. Gleichzeitig haben Sie mir vorgeworfen, ich hätte Anträge, die Sie im Haushaltsausschuß zum Personalhaushalt gestellt haben, für unrealistisch gehalten.
Die Marge war zwar im Personalhaushalt drin, und insofern sind Sie bestätigt worden. Sie wissen aber genauso gut wie ich: wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären, hätten Sie nicht ein Jota anders argumentiert als ich. Sie wissen auch weiter, daß diese Marge, die im Personalhaushalt drin ist, keinesfalls auf die Konjunktur durchschlagen kann. Denn die Regierung ist verpflichtet, das Personalsoll völlig zu berechnen. Wenn das Soll nicht erfüllt ist — und es ist in keinem Haushalt gegenüber dem Stellen-Ist erfüllt , bleibt natürlich eine Marge. Aber dann kann bei diesen Zahlen nicht von Konjunkturanheizung geredet werden, denn diese Mittel fallen dann eben weg; sie dürfen nicht ausgegeben werden. Das ist doch der Kernpunkt, und deshalb kann man die Personalkosten, soweit das Soll in Frage kommt, keinesfalls in die Konjunkturbetrachtung einbeziehen.Zur Frage der Tarifverhandlungen, Herr Leicht: jede Regierung ist diesem Risiko ausgesetzt.
Hier würde ich sagen — und ich sage das ungeschützt; vielleicht mag das der eine oder der andere aus meiner Fraktion in dieser Weise nicht billigen -, wir haben uns ein Gesetz gegeben, daß die Regierung zu Leitlinien hinsichtlich der Entwicklung verpflichtet. Ich weiß nicht, ob diese Leitlinien, auf die Dauer gesehen, für die Tarifverhandlungen vorteilhaft sind, denn es läßt sich ja nicht verheimlichen: je nachdem, wie die Regierung die Tarifverhandlungen ungefähr einschätzt, steht diese Zahl im Haushalt, und die Gewerkschaft, die zu Tarifverhandlungen antritt,
wird natürlich sagen: Die Regierung setzt das schon voraus; daher müssen wir mit mehr nach Hause kommen, denn sonst sagen doch unsere Anhänger wieder: Na, was habt ihr denn erreicht, das hat die Regierung doch ohnehin vorgesehen. Ich bitte, einmal zu überlegen zur Zeit sind das Gesetze, und wir sind gesetzlich dazu verpflichtet —, ob man das nicht ändern muß. Wie, darüber kann man diskutieren.Aber ich möchte hier auch noch einen Appell aussprechen, der vielleicht von meiner Seite, so werden Sie sagen, auch ein bißchen gewagt ist. Wenn ich Ihre Position zum Haushalt und hier bei Anträgen sehe, wenn ich Ihre Position gegenüber den Forderungen der verschiedensten Verbände und überhaupt unser aller Position gegenüber den Verbänden sehe, dann frage ich, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem dieses Haus — gleich, welche Fraktion — klarmachen muß, daß der Staat kein Selbstbedienungsladen ist.
— Entschuldigung, eines dürfen Sie mir glauben: daß ich das von Ihnen nicht abgeschrieben habe, denn das würde ich nie tun.
— Gesagt habe ich es von Ihnen auch noch nicht gehört. Ich habe es hier jedenfalls das erste Mal gesagt, und ich meine, man sollte das eigentlich zur Kenntnis nehmen und nicht versuchen, es abzuschwächen.
Dieses Risiko gehen wir also ein. Ich gebe Ihnen zu, daß es ein Risiko ist. Wie hoch es sein wird, wird davon abhängen, wie wir uns generell zu dieser Frage verhalten.In der Frage des Risikos der Steuerschätzung muß ich einen Unterschied zwischen Ihrem Verhalten im Finanzausschuß und Ihrem Verhalten im Haushaltsausschuß feststellen. Sie haben einen Vorbehalt gemacht - das erkenne ich an — und haben gesagt: Wir werden hierzu nicht Stellung nehmen, sondern werden das im Plenum sagen. Aber Sie haben zumindest in dieser Schlußabstimmung hinsichtlich der Steuern nicht dagegen gestimmt.Ich will Ihnen folgendes sagen. Das Risiko liegt bei den Gewinnsteuern.
Alle anderen Steuern können Sie normalerweise gut ausrechnen. Wir haben ein sehr großes Steigen bei der Lohnsteuer, aber nicht bei den Gewinnsteuern. Aber hier hat mein Kollege Kirst doch auch die Bemerkung gemacht, man müsse dabei das Wirtschaftsjahr sehen, das abgerechnet wird. Ich glaube jedenfalls nicht — und ich möchte das hier feststellen —, daß dieses gewaltige Sinken der Gewinnsteuern ausschließlich auf das Sinken der Gewinnmarge zurückzuführen ist. Es gibt noch ein paar ganz an-andere Elemente als das Sinken der Gewinne, die dabei mitspielen.
- Ich habe ja gesagt, wir sind in der zweiten Lesung, und ich werde das Vergnügen haben, mich in der dritten Lesung noch einmal mit diesem Punkt auseinanderzusetzen. Ich bin ganz sicher, daß dieser Punkt in der dritten Lesung eine größere Rolle spielen wird als jetzt. Deshalb werde ich jetzt auch nicht auf das zurückkommen, was der Kollege Leicht hinsichtlich der mittelfristigen Finanzplanung gesagt hat; das werden wir hier also bei der dritten Lesung erledigen.
Aber ich stelle abschließend fest, wir führen diese allgemeine Finanzaussprache bei Einzelplan 08 und nicht bei Einzelplan 60. Wir können sie uns also beim Einzelplan 60 ersparen. Ich verstehe auch, warum sie hier geführt wird. Sie gehört ja eigentlich hierher, wenn auch vom Plan her nicht.Ich stelle des weiteren fest: wir äußern unser Vertrauen zu diesem Finanzminister nicht nur dadurch, daß wir seinem Haushaltsplan zustimmen,
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sondern wir stimmen der gesamten Anlage dieses Haushaltsplans mit seinen Schwerpunkten und mit seinen Risiken zu. Wir sind der Meinung, daß die Risiken auf das Minimum zurückgeführt worden sind, auf das sie überhaupt zurückgeführt werden konnten. Hierüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Aber so, wie Sie sich ursprünglich gegen das Volumen gewandt haben, bestreite ich heute, daß die Risiken so groß sind, wie Sie sie angeben. Es sind Risiken enthalten; aber dieser ganze Haushalt ist das Spiegelbild klarer Vorstellungen darüber, welche Wege wir gehen wollen und wo Prioritäten liegen. Deshalb stimmen wir diesem Haushalt und diesem Einzelplan im besonderen zu.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Leicht hat als Sprecher der CDU/CSU-Fraktion noch einmal die Richtigkeit der Steigerungsrate für das Haushaltsjahr 1970 in Zweifel gezogen und den Vorwurf wiederholt, daß die Ausgaben zu Lasten des Haushaltsjahres 1969 manipuliert worden seien. Ich habe zu diesem Thema eine ausführliche Antwort auf eine Kleine Anfrage des Herrn Kollegen Leicht am 25. Mai 1970 gegeben und dann noch einmal bei der zweiten Beratung des Haushalts 1970 am 3. Juni 1970 Stellung genommen.
Inzwischen ist keine Änderung der Situation eingetreten. Ich darf nur noch einmal auf folgende Tatsache hinweisen. Die damaligen Zahlungen d. h. Beitragszahlungen an den europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds, Materialkäufe in den USA und Kreditbeschaffungskosten — gehörten sachlich in das Haushaltsjahr 1969 und sind deshalb in haushaltsrechtlich einwandfreier Weise zu Lasten des Haushaltsjahres 1969 gebucht worden. Dem von der Opposition bei der zweiten Beratung des Haushalts 1970 gestellten Antrag, den Bundesrechnungshof nach § 99 BHO um einen Sonderbericht über die angebliche Manipulation zu bitten, hat der Bundesminister der Finanzen nicht aus formal-rechtlichen Gründen widersprochen; es handelt sich einfach darum, daß die behauptete Rechtsgrundlage in § 99 BHO nicht gegeben ist. Der Bundesrechnungshof hat im übrigen inzwischen - entsprechend seiner in der BHO verankerten allgemeinen Prüfungspflicht — mit der Prüfung der beanstandeten Buchungen begonnen. Die Bundesregierung kann das Ergebnis dieser Prüfung in Ruhe abwarten.
Herr Kollege Leicht ist dann noch einmal auf die Ausgabensperre von 440 Millionen DM zu sprechen gekommen und hat gesagt, wir hätten sie dadurch unterlaufen, daß in den betreffenden Einzelplänen die Deckung von Ausgabelasten in Höhe von rund 500 Millionen DM zu Lasten des Gesamthaushalts möglich gemacht worden sei. Dazu habe ich zu erklären:
Erstens für den Bereich Verkehr. Nach einem Haushaltsvermerk zu Kap. 1210 dürfen für den Straßenbau Ausgaben in Höhe des festgestellten Aufkommens aus der Mineralölsteuer geleistet werden. Die zweckgebundenen Einnahmen aus der Mineralölsteuer 1969 sind zu Beginn des Haushaltsjahres 1970 festgestellt worden. Danach verbleiben Ausgabenreste in Höhe von rund 350 Millionen DM, die entsprechend der Zweckbindung 1970 zusätzlich zu decken waren, also ein ganz normaler, in keiner Weise zu beanstandender Vorgang.
Ich komme nun zum Bereich der Bildung.
— Entschuldigen Sie, darf ich das zu Ende führen.
Bei der Restnachdeckung im Bildungshaushalt handelt es sich im wesentlichen um Mittel für den Hochschulbau. Diese Ausgabenreste mußten freigegeben werden, weil sonst wichtige Anschlußvorhaben nicht hätten durchgeführt werden können. Gerade die Opposition hat durch ihre kulturpolitischen Sprecher, insbesondere durch Herrn Kollegen Martin — darüber gibt es auch einen Briefwechsel zwischen Herrn Kollegen Martin und dem Bundesfinanzminister -,
mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung für alle von den Ländern im Haushaltsjahr 1970 durchgeführten Baumaßnahmen die notwendigen Mittel für den Kostenanteil des Bundes nach dem Hochschulbauförderungsgesetz voll zur Verfügung stellen müsse.
Dem vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft nachgewiesenen zwingenden Bedarf mußte ich Rechnung tragen und den Haushaltsausschuß im Herbst 1970 sogar um Zustimmung zu einer überplanmäßigen Ausgabe bitten. Der Haushaltsausschuß hat dieser Bitte entsprochen. Daran werden Sie sich sicher erinnern, Herr Kollege Leicht. Es ist mir also nicht verständlich, wie Sie behaupten können, daß wir die Sperre in den Einzelplänen 12 und 31 unterlaufen hätten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht?
Bitte schön!
Herr Finanzminister, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß ich die Frage der Entsperrung dieser Mittel nicht kritisch, sondern nur im Zusammenhang mit der Betrachtung darüber aufgegriffen habe, ob man sich im Laufe des Haushaltsjahres 1970 konjunkturpolitisch richtig verhalten hat? Ich habe bewußt darauf hingewiesen, daß wir die Entsperrung für richtig hielten. Wir selber haben 1970 in einer Kampfabstimmung gegen die Regierung im Haushaltsausschuß dazu beigetragen,
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Leichtdaß z. B. die Mittel für den Wissenschaftsetat erhöht wurden. Ich wollte nur daran erinnern, daß wir bereits damals auf die Nachdeckung, die zwangsläufig kommen wird, hingewiesen haben.
Gut, Herr Kollege Leicht, ich nehme von dieser Erklärung gern Kenntnis. Aber das, was Sie in Ihrer Rede ausgeführt haben, könnte, wenn auch nicht von den Kolleginnen und Kollegen hier im Hause, so doch außerhalb des Hauses mißverstanden werden. Wir leiden ja sehr oft unter solchen Mißverständnissen. Deswegen lag mir daran, den Vorgang klarzustellen. Sie haben meine Klarstellung freundlicherweise durch Ihre Bemerkungen wirkungsvoll unterstützt. Ich danke Ihnen dafür.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit dem inzwischen vorgelegten Abschlußergebnis des Bundeshaushalts 1970 ist von Herrn Kollegen Leicht behauptet worden, die Konjunkturausgleichsrücklage des Bundes in Höhe von 1,5 Milliarden DM sei überwiegend nicht aus laufenden Einnahmen, sondern durch Kreditaufnahmen finanziert worden, und damit sei ihre restriktive Wirkung neutralisiert. Hierzu muß ich wegen der Bedeutung des Komplexes doch noch einmal grundsätzlich folgendes feststellen:
Die Konjunkturausgleichsrücklage wurde termingerecht in zwei Raten zu je 750 Millionen DM Ende März bzw. Ende Juni bei der Deutschen Bundesbank eingezahlt. Zur Jahresmitte hatte der Bund mit einem Finanzierungsüberschuß von 900 Millionen DM abgeschlossen. Hierbei muß aber berücksichtigt werden, daß der zweite Quartalsbetrag der Gewerbesteuerumlage in Höhe von etwa 600 Millionen DM, der dem Wirtschaftskreislauf bereits entzogen war, zu diesem Zeitpunkt noch nicht an den Bund abgeliefert worden war. Zum anderen werden in jedem ersten Halbjahr sieben Monatsbeträge an Gehältern, Renten usw. gebucht, während kassenmäßig nur sechs Beträge abfließen, so daß der Finanzierungsüberschuß deshalb um über 2 Milliarden DM zu niedrig ausgewiesen wurde. Die Deutsche Bundesbank weist dementsprechend nach dem Kassenprinzip im ersten Halbjahr 1970 einen Finanzierungsüberschuß von 2,6 Milliarden DM nach. Ich muß hinzufügen, daß dieses Ergebnis erreicht worden ist, obwohl auf Grund der Steuerneuverteilung im Zuge der Finanzreform die Steuereinnahmen des Bundes im ersten Halbjahr um 1,8 Milliarden DM niedriger gelegen haben.
Es kann also festgestellt werden, daß die Konjunkturausgleichsrücklage im Juni 1970 voll aus laufenden, dem Wirtschaftskreislauf entzogenen Einnahmen gebildet werden konnte. Zum Jahresende schloß der Bund ohne Kassenfehlbetrag ab. Er konnte einen Finanzierungsüberschuß von knapp einer Milliarde D-Mark erwirtschaften. Dieses positive Ergebnis wurde erreicht, obwohl im zweiten Halbjahr die Steuereinnahmen um über 2,5 Milliarden DM hinter den Soll-Ansätzen zurückgeblieben sind. Diese Mindereinnahmen konnten auf Grund der restriktiven Haushaltspolitik überwiegend durch
Minderausgaben von 1,7 Milliarden DM sowie durch Verwaltungsmehreinnahmen ausgeglichen werden. Es ließ sich allerdings nicht vermeiden, einen Restbetrag von 200 Millionen DM zur Haushaltsfinanzierung durch eine langfristige Nettokreditaufnahme abzudecken.
Ich darf in diesem Zusammenhang auf die Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht zurückkommen. Dort hat sich Herr Kollege Müller-Hermann auch mit dem Konjunkturzuschlag und dessen Zurückzahlung beschäftigt und folgendes ausgeführt:
Sobald es die konjunkturpolitische Entwicklung erlaubt, sollte der Konjunkturzuschlag gestoppt und
das ist jetzt der entscheidende Satz, den ich klarstellen wollte
entgegen den Versuchen des Bundesfinanzministers auch zurückgezahlt werden.
Wenn hier gesagt wird: „entgegen den Versuchen des Bundesfinanzministers", so muß ich annehmen, daß mir dabei unterstellt werden soll, daß ich etwa die Rückzahlung des Konjunkturzuschlags in Zweifel ziehe. Ich möchte ausdrücklich feststellen, daß es für mich nie einen Zweifel darüber gegeben hat, daß der Konjunkturzuschlag zurückgezahlt werden muß.
Ich habe mich in vielen Versammlungen im Monat November in Hessen und in Bayern immer wieder zu der Frage äußern müssen: Wie steht der Bundesfinanzminister dazu? Ich habe in diesen Versammlungen immer erklärt, daß mit voller Absicht in das Gesetz hineingeschrieben worden ist: „spätestens am 31. März 1973", um für jedermann den Rechtsanspruch auf die Rückzahlung des Konjunkturzuschlags in voller Höhe und ohne jede Art von Verrechnung klarzustellen, daß aber der wesentliche Punkt in diesem Gesetz der ist, daß es auf den konjunkturpolitisch richtigen Zeitpunkt ankommt, daß also mit dem 31. März 1973 nur der letztmögliche Zeitpunkt für die volle Rückzahlung des Konjunkturzuschlags festgelegt werden sollte.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jenninger?
Herr Minister, könnten Sie in diesem Zusammenhang vielleicht die Äußerung, die Sie getan haben, daß es darum gehe, bei einer Rückzahlung eine dämpfende Auswirkung auf eventuelle Tariferhöhungen herbeizuführen, dem Hohen Hause etwas erklären?
Eine solche Aussage ist von mir nicht gemacht worden, sondern ich habe auf folgendes hingewiesen. Wenn ein konjunkturpolitisch richtiger Zeitpunkt für die Rückzahlung gewählt wird, bedeutet das, daß wir uns in einer Situation befinden, wo jedermann ein Interesse daran haben muß, daß
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerder Konjunkturzuschlag zurückgezahlt wird, um die Nachfrage zu beleben. Hier wird die doppelte Funktion dieser Maßnahme klar: im Jahre 1970 Einführung mit dem Zweck, die Binnennachfrage zu dämpfen, Rückzahlungen insbesondere zu dem Zweck, die Binnennachfrage zu beleben. Das ist wohl unser aller Auffassung.Abschließend darf ich zu diesem Kapitel hinsichtlich der Nettokreditaufnahme, die Herr Kollege Leicht ebenfalls angesprochen hat, noch einmal feststellen, daß im Jahre 1970 für die Haushaltsführung nur ein Betrag von 251 Millionen DM in Anspruch genommen wurde. Der andere Betrag von 260 Millionen DM ist für die Bildungsanleihe zurückgestellt und bei der Bundesbank stillgelegt worden. Ich wollte das noch einmal zur Klärung der Situation gesagt haben.Nun, meine Damen und Herren, will ich nicht weiter auf den Streit über die Haushaltsführung des Jahres 1970 eingehen. Nach meiner Meinung entscheidet immer das Schlußergebnis, und dieses Schlußergebnis hat auch Ihre Erwartungen, Herr Kollege Leicht, übertroffen. Ich meine, es ist vom Bundesfinanzministerium und von der Bundesregierung der Versuch gemacht worden, der Auflage, die der Bundestag der Bundesregierung bei Verabschiedung des Bundeshaushalts 1970 gemacht hat, zu entsprechen. Wir haben gegenüber dem Haushalt 1969 mit einer Zuwachsrate in Höhe von 7 v. H. abgeschlossen und damit ganz zweifellos eine restriktive Haushaltsführung gesichert.Es ist dann auch noch einmal darauf hingewiesen worden, daß am 9. Juli 1970 bereits der Bundeshaushalt für das Jahr 1971 von der Bundesregierung verabschiedet worden ist. Was hier über Signalwirkungen usw. ausgeführt wurde, ist ja von meinen Vorrednern, insbesondere von Herrn Kollegen Kirst, behandelt worden. Ich kann mich dieser Darstellung in vollem Umfang anschließen.Ich darf mich in diesem Zusammenhang auch auf den Bericht des Herrn Vorsitzenden des Haushaltsausschusses zum Haushaltsgesetz beziehen. Da heißt es im ersten Absatz:Der Bundeminister der Finanzen hat den Bundeshaushalt 1971 am 23. September 1970 eingebracht und damit der Vorschrift des § 30 BHO, den Haushalt in der ersten Sitzungswoche nach dem 1. September einzubringen, entsprochen. Der Haushaltsausschuß hat seinerseits alles getan, um eine zügige Verabschiedung zu ermöglichen.Wir wollen also feststellen, es ist dem Bundesfinanzminister durch die Neufassung der BHO die Auflage gemacht worden, den Haushalt in der ersten Sitzungswoche nach dem 1. September jeden Jahres dem Bundesrat und dem Bundestag vorzulegen. Wenn man dem entsprechen will, ist, wie Sie, Herr Kollege Leicht, das aus Ihrer eigenen Erfahrung wissen, eben eine frühzeitige Verabschiedung des Haushalts im Bundeskabinett erforderlich, weil die ganzen drucktechnischen Arbeiten, die in Berlin durchgeführt werden müssen, eine Anzahl von Wochen in Anspruch nehmen, so daß der Bundeshaushalt, wenn wir ihn bereits im September vorlegen wollen, spätestens im Juli vom Bundeskabinett verabschiedet werden muß. Ob diese Bestimmung aus konjunkturpolitischer Sicht zweckmäßig ist oder nicht, ist eine andere Frage. Da wir uns aber pflichtgemäß auf diesen Termin eingestellt hatten, können Sie uns nicht einen Vorwurf daraus machen, daß die Bundesreigerung diesen Entwurf des neuen Haushalts am 9. .Juli verabschiedet hat.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht?
Herr Bundesminister, stimmen Sie mir zu, daß es nicht um den Zeitpunkt der Verabschiedung des Etats im Kabinett geht, sondern um die Höhe dieses Etats, und meinen Sie nicht, daß die von Ihnen — ich habe es noch nicht untersucht vielleicht zu Recht in Anspruch genommene Erfindung eines Eventualhaushalts in diesem Falle nicht gerechtfertigt gewesen wäre?
Herr Kollege Leicht, wir begehen da den üblichen Fehler, der generell gemacht worden ist, daß man versucht hat, den Bundeshaushalt 1971, der am 9. Juli 1970 verabschiedet wurde, aus der Sicht des 9. Juli zu betrachten und nicht aus der Sicht des Jahres 1971. Das ist mir ganz verständlich, weil es in früheren Jahren meist so war, daß wir im Juni/Juli den Haushalt des laufenden Jahres behandeln und verabschieden mußten, so daß eine geistigpolitische Umstellung darauf, daß man sich am 9. Juli eines Jahres mit dem Haushalt des Jahres 1971 beschäftigen muß und Überlegungen darüber anzustellen hat, ob dieser Haushalt auch in der Höhe im Vergleich zum Haushalt 1970 richtig ist, konjunkturgerecht sein wird und was sonst zur Beurteilung gehört, sehr schwierig ist. Wir waren der Meinung, daß die Verabschiedung des binnenwirtschaftlichen Stabilisierungsprogramms vom 7. Juli die Voraussetzun dafür geschaffen hat, diesen Bundeshaushalt mit einer solchen Steigerungsrate vorzulegen, weil wir mit den Beschlüssen vom 7. Juli, soweit die öffentliche Hand in Frage kommt, eine klare Kehrtwendung vollzogen hatten. Wir waren nämlich zu dem Entschluß gekommen, die Konjunkturpolitik der öffentlichen Hand nicht mehr einfach über die Ausgabenseite zu betreiben, sondern die Einnahmeseite stärker in Anspruch zu nehmen aus Gründen, die bei Einbringung des Etats 1971 eingehend dargestellt worden sind.Wir waren der Meinung, daß die Einnahmeseite für dieses binnenwirtschaftliche Programm eine wichtige Rolle spielt und daß eine weitere Beschränkung der Ausgabenseite, insbesondere für Infrastrukturmaßnahmen, einfach nicht verantwortet werden könne und schwere Schäden für die Modernisierung der Infrastruktur und die Fortsetzung innerer Reformen bringen würde, und zwar mit Wirkungen auch für die Volkswirtschaft. Das wissen wir aus den Rezessionsjahren. Da haben wir nachher feststellen können, welche Wachstumsverluste mit solchen Erscheinungen verbunden sind. Wir waren
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerder Meinung, daß solche Wachstumsverluste in der Wirtschaft nicht mit den Vorstellungen dieser Regierung zu vereinbaren seien und daß es darauf ankommt, mit einer solchen neuen Ordnung unserer Maßnahmen auch die weitere Entwicklung des Wachstums der Wirtschaft und der Produktivität entsprechend zu beeinflussen.Wenn es bei uns in der Bundesrepublik und hier in Bonn so wäre, daß man in der Bundesregierung einen Gesetzentwurf verabschieden und die Sachen dann getrost in die Druckerei geben könnte, die dann die Zeit bis zum September benötigt, ehe die Vorlage ausgedruckt ist, dann, Herr Kollege Leicht, wäre die ganze Sache etwas einfacher. Aber am 9. Juli diesen Haushalt zu verabschieden, ihn nicht der Öffentlichkeit mitzuteilen, hätte doch bedeutet, daß auf einem anderen, nicht zweckmäßigen Wege die Öffentlichkeit trotzdem von den Daten Kenntnis erhalten hätte, aber mit Kommentaren versehen, die noch weniger erfreulich gewesen wären, als die Kommentare, die wir damals leider auch haben ertragen müssen.Nun eine Anmerkung zu der Frage des Nettofinanzierungssaldos im Bundeshaushalt 1971. Gegenüber dem Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 1971 wurde die Nettokreditaufnahme um rund 1 Milliarde von 2,7 auf 3,7 Milliarden DM erhöht. Das ist eine Folge der neuen, nach unten revidierten Steuerschätzungen. Es war nicht erforderlich, die gesamten 1,3 Milliarden DM Steuermindereinnahmen auf den Finanzierungssaldo aufzuschlagen, weil die Verwaltungseinnahmen 300 Millionen DM mehr bringen werden. Diese Erhöhung des Finanzierungssaldos konnten wir mit guten Gründen vornehmen.Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden konjunkturellen Entwicklung kann man gegen diesen Kreditansatz Bedenken nicht geltend machen. Auch im Vergleich zu vorangegangenen Finanzplanungen ist der jetzige Ansatz nicht überhöht, was ich aus verschiedenen Gründen noch einmal mit Nachdruck hervorheben möchte.Ich hatte in der ersten von mir vorgelegten Finanzplanung für den Zeitraum von 1969 bis 1973 für 1971 einen Kreditansatz von 4,2 Milliarden DM vorgesehen. Herr Kollege Strauß hatte in seiner Planung für die Jahre 1968 bis 1972 für 1971 mit 3,8 Milliarden DM fast denselben Betrag eingeplant, von dem wir jetzt ausgehen. Wenn Sie bedenken, daß dieser Betrag aus der Sicht des Jahres 1968 geplant wurde, so liegen wir heute mit demselben Betrag sogar noch niedrig; denn im Jahre 1968 wurde für 1971 mit einem Bruttosozialprodukt von 613 Milliarden DM gerechnet, während jetzt für dieses Jahr 732 Milliarden DM erwartet werden. Während sich die Basis, auf der auch die Schuldenpolitik steht, um 19,3 v. H., also um fast ein Fünftel, erhöht hat, haben wir die Schuldenplanung nicht ausgedehnt.Dementsprechend lag auch der Anteil des Finanzierungssaldos an den Ausgaben in der Planung 1968 bis 1972 für 1971 bei 4,2 v. H., während er jetzt bei nur 3,9 v. H. liegt. Der Anteil der Salden im geschätzten Bruttosozialprodukt ist für 1971 inbeiden Planungen von 0,6 auf 0,5 v. H. zurückgegangen.Nun darf ich Sie auf die Finanzplanung des Bundes 1968/72 noch in einem Punkt besonders aufmerksam machen, nämlich auf den Abschnitt „Sicherung der Finanzierung". Hier hat Herr Kollege Strauß seinerzeit ausgeführt — Seite 19, Ziffer 34, „Die Erweiterung der Gesamtausgaben des Bundes in der neuen Finanzplanung gegenüber der alten Finanzplanung" —:Der Ausgleich der Einnahmeverzichte zugunsten der Länder und Gemeinden und die Erschließung zusätzlichen Handlungsspielraums durch Schaffung eines erhöhten Verfügungsbetrages für neue Maßnahmen setzt von der Finanzierungsseite her voraus,— jetzt kommen die beiden maßgebenden Feststellungen —daß a) ein Absinken der Steuerbelastungsquoteab 1971 vermieden wird und b) eine Ausweitung der Nettokreditaufnahme gegenüber den Ansätzen der alten Finanzplanung erfolgt.Das ist genau dieselbe Situation, in der wir uns zur Zeit befinden.Wenn man schließlich noch davon ausgehen muß, daß es sich jetzt um ganz andere Größenordnungen handelt, und wenn man diese Größenordnungen in Beziehung setzt zum Jahre 1968, dann ist, wie ich meine, keine Beanstandung möglich.Ich darf noch darauf aufmerksam machen, daß dieses Absinken der volkswirtschaftlichen Steuerquote auf Steuerausfälle durch auslaufende Steuergesetze und durch Steuerrechtsänderungen zurückzuführen ist.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger? — Bitte.
Herr Minister, Sie haben in einem Vortrag über die Schuldenpolitik zwei wichtige Aufgaben herausgestellt, nämlich „wachstumsfördernd" und „stabilisierend". Können Sie mir sagen, wie Sie mit dieser Nettokreditverschuldungspolitik, die Sie jetzt dargestellt haben, eine Förderung der Stabilität, was die Preise anbetrifft, im nächsten Jahr sicherstellen können?
Sie meinen das Jahr 1971?
Ich mache darauf aufmerksam, daß wir im Jahre 1971 mit einer hohen Zuwachsrate, die insbesondere auch den Investitionsteil des Bundeshaushalts berührt, glauben uns konjunkturgerecht zu verhalten. Das wird auch in dem Gutachten des Sachverständigenrates vom November 1970 besonders hervorgehoben. Es wird im Hinblick auf eine weitere mögliche Entwicklung im zweiten Halbjahr 1971 empfohlen, uns auf zusätzliche Konjunkturprogramme einzurichten, die dann eingesetzt werden sollen,
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerwenn das im Interesse des Wachstums der Wirtschaft und des Zieles, ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht zu erreichen, notwendig erscheint.Diese Feststellung bedeutet also, daß dieser Bundeshaushalt durchaus eine richtige und notwendige Konzeption aufweist — das ist wohl kaum noch irgendwo umstritten. —, daß man sich aber zu überlegen hat, was etwa im zweiten Halbjahr oder wann immer in diesem Jahr 1971 noch zusätzlich zu tun wäre, insbesondere für Investitionsvorhaben und hier wieder vordringlich für Investitionsvorhaben der Gemeinden. In der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht ist ja von allen Seiten darauf hingewiesen worden, daß hier entsprechende Reserven zur Verfügung stehen und daß wir mit der Konjunkturausgleichsrücklage eine Möglichkeit haben, etwa notwendig werdende zusätzliche Konjunkturprogramme zu finanzieren.Lassen Sie mich noch einmal darauf hinweisen, daß die volkswirtschaftliche Steuerquote auch deswegen reduziert worden ist, weil wir Steuerausfälle, auch durch Steuerrechtsänderungen, in Kauf zu nehmen hatten und in Kauf zu nehmen haben. Diese Beträge sind in ihrer Zusammensetzung nicht unwichtig, auch nicht in der Beurteilung der haushaltswirtschaftlichen Situation, und deswegen möchte ich sie ausdrücklich nennen. Ich nenne die Zahlen für das Jahr 1971, weil diese jetzt bei der Erörterung und Verabschiedung des Haushalts aktuell sind. Im Jahre 1971 wird sich auf Grund des degressiven Abbaus der Selbstverbrauchsteuer ein Steuerausfall von 1,5 Milliarden DM ergeben. Steuerausfälle durch Steuerrechtsänderungen treten insbesondere auf vier Gebieten auf. Wir meinen, daß wir durch das Vermögensbildungsgesetz mit einem Steuerausfall von 800 Millionen DM mehr zu rechnen haben als im Jahre 1970. Der Steuerausfall auf Grund des Berlin-Förderungsgesetzes wird sich auf 400 Millionen DM und der bei den Investitionszulagen und Investitionsprämien auf 1,1 Milliarden DM belaufen. Der Aufwertungsausgleich in der Landwirtschaft wird im Jahre 1971 eine Mindereinnahme von etwa 800 Millionen DM zur Folge haben.Herr Kollege Leicht hat nun auch die Frage gestellt, wie die Bundesregierung die Steuerausfälle in den Jahren 1972 bis 1974 auszugleichen gedenke. Herr Kollege Leicht, Sie haben in Ihren Ausführungen selbst auf die nächste Sitzung des Arbeitskreises „Steuerschätzungen" am 8. Februar 1971 hingewiesen. Erst wenn wir das Ergebnis der Beratungen des Arbeitskreises vorliegen haben, verfügen wir — falls es für 1971 überhaupt Änderungen geben sollte - über eine diskussionsfähige Grundlage. Die Bundesregierung wird, wie Sie richtig erklärt haben, noch in diesem Monat die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung vorbereiten, und wir werden dann über die fortgeschriebene mittelfristige Finanzplanung noch einmal reden müssen.Meine Damen und Herren, Herr Kollege Leicht hat auch einige Risiken angesprochen, die man nicht übersehen dürfe, wenn man den Haushalt 197]. und den Haushaltsvollzug beurteilen will. Es ist insbesondere die Frage zu beantworten: Wie werden wir bei den neuen Verhandlungen mit Großbritannien und den USA abkommen? Ich hoffe, daß es uns gelingt, zu Ergebnissen zu kommen, die keine wesentlichen Veränderungen für das Jahr 1971 zur Folge haben. Inwieweit die Reserven, die wir im Finanzplan ab 1972 einsetzen konnten, ausreichen, wird auch von diesen Ergebnissen abhängen. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß es sich bei diesen Verhandlungen um sehr ernst zu nehmende Verhandlungen handelt, und zwar — das füge ich hinzu - um Verhandlungen, bei denen die Bundesregierung aus übergeordneten politischen Gründen daran interessiert ist, zu einem beide Seiten zufriedenstellenden Resultat zu gelangen.Sie haben dann darauf aufmerksam gemacht, daß unsere Unternehmen, die als Sondervermögen des Bundes geführt werden, einige Risiken für den Haushalt bedeuten. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Situation bei der Deutschen Bundesbahn eingehen. Über die Situation der Deutschen Bundespost möchte ich mich noch nicht abschließend äußern, weil das neue Postverwaltungsgesetz sich noch in der parlamentarischen Diskussion befindet. Es muß festgehalten werden, daß es sich bei der Deutschen Bundesbahn um ein Unternehmen mit eigenverantwortlicher Wirtschaftsführung sowie selbständiger Kapitalbeschaffung handelt. Es ist deshalb schon, systematisch gesehen, falsch, wenn versucht wird — das hat nicht Herr Kollege Leicht getan; aber das ist in einer Presseerklärung der Mittelstandsvereinigung der CDU/ CSU von Herrn Kollegen Lampersbach versucht worden —, den Vorwurf zu konstruieren, daß der Ausgleich des Defizits der Bundesbahn in der für den Bund vorgesehenen Nettokreditaufnahme nicht berücksichtigt sei. Im Bundeshaushalt 1971 sind Zuweisungen an die Deutsche Bundesbahn in Höhe von über 4 Milliarden DM veranschlagt. Davon entfallen 500 Millionen DM auf Investitionszuschüsse, rund 2,5 Milliarden DM auf Ausgleichsleistungen des Bundes für nicht betriebsbedingte Aufwendungen der Bundesbahn und rund 1 Milliarde DM auf Liquiditätshilfen, die also dazu beitragen sollen, den Verlustausgleich zu erreichen. Die Bundesbahn schätzt den Jahresverlust 1971 unter Berücksichtigung der jüngsten Lohn- und Gehaltserhöhungen und der beabsichtigten Veränderungen ihrer Beförderungspreise auf rund 2 Milliarden DM. Davon sollen 1 Milliarde DM durch unsere Liquiditätshilfen und der Rest durch eigenwirtschaftliche Maßnahmen gedeckt werden. Die schwierige finanzielle Situation der Deutschen Bundesbahn ist also, wie Sie diesen Ausführungen entnehmen können, im Bundeshaushalt in angemessener Weise berücksichtigt worden.Ein weiteres Risiko: Wie kommen wir mit unserem Personaletat zurecht? Es war schwierig, die richtigen Mittel einzusetzen, zu überlegen, mit welcher Globalausgabe zu operieren ist — aus naheliegenden Gründen, die ich im einzelnen nicht darzustellen brauche. Wir hoffen, daß auch, soweit die strukturellen Besoldungsverbesserungen noch im Hohen Hause zu beraten sind, für den Bund Ergebnisse erreicht werden, die sich mit der Etatlage des Jahres 1971 vereinbaren lassen. Daß dabei
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5498 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller Auswirkungen auf Bundesbahn und Bundespost zu berücksichtigen sein werden, möchte ich der Vollständigkeit halber hinzufügen.Daß es vom Prinzip aus gesehen bedauerlich ist, daß wir eine Anpassung der Besoldung der Bundesbeamten an die Besoldung der Beamten der Länder und Gemeinden in Stufen vorzunehmen haben, will ich ausdrücklich erklären. Aber darin handelt es sich nicht um eine Frage des guten Willens, sondern um eine Frage der Haushaltslage. Wir können uns nur im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten bewegen. Dabei muß noch beachtet werden, daß die Bundesregierung nicht ohne Absicht bereits Ende Oktober 1970 ihre Orientierungsdaten für die Einkommensentwicklung, für die Lohnbewegungen angegeben hat und daher auch verpflichtet war, bei den von ihr zu führenden Verhandlungen für den öffentlichen Dienst diese Orientierungsdaten zu beachten. Dabei handelt es sich nach meiner Meinung um einen ganz wichtigen Punkt in der Beurteilung der weiteren konjunkturpolitischen Entwicklung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen. Es ist in der Debatte der vergangenen Tage des öfteren verlangt worden, daß der Herr Bundeskanzler oder andere Kollegen der Bundesregierung, die sich zu diesem Thema geäußert haben, deutlicher das Arbeitsprogramm der Bundesregierung zu innenpolitischen Vorhaben darstellen. Der Herr Bundeskanzler —das wird hier im Hause, aber auch in der Bericherstattung draußen übersehen — hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß die Bundesregierung ihre Auffassungen zum Arbeitsprogramm für innenpolitische Vorhaben im einzelnen dann darstellen wird, wenn die Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU erfolgt. Wenn Sie sich diese Große Anfrage ansehen — es ist tatsächlich eine „große" Anfrage —, werden Sie mir zugeben müssen, daß Sie dort alle nur denkbaren Gebiete für Reformvorhaben angesprochen haben. Wenn nun eine sorgfältige schriftliche Beantwortung dieser Großen Anfrage vorbereitet wird und wenn im Ältestenrat eine Verständigung dahingehend erzielt werden konnte, daß diese Große Anfrage Ende Februar oder Anfang März im Plenum zu behandeln ist, dann sollte es doch selbstverständlich sein, daß man in der Debatte dieser Woche nur mit grundsätzlichen Ausführungen auf das Reformprogramm der Bundesregierung und die Möglichkeiten seiner Realisierung eingeht. Ausführlich wird darüber bei Beantwortung der Großen Anfrage zu sprechen sein. Dabei ist natürlich die Frage der Finanzierung von entscheidender Bedeutung.Ich darf abschließend erklären, daß ich sehr beruhigt wäre, wenn ich aus der Debatte dieser Tage die Hoffnung schöpfen könnte, daß auch die Opposition die Grenzen finanzwirtschaftlicher Manövrierfähigkeit erkennt.
Darüber wird, Herr Kollege Barzel, bei der Beantwortung der Großen Anfrage zu sprechen sein.
Der Beantwortung der Großen Anfrage geht die Überlegung voraus: Wie ist auf Grund der jetzigen Erkenntnisse, auch der steuerwirtschaftlichen Lage, nun die Finanzplanung für die kommenden Jahre neu zu bearbeiten und abzudecken?
— Nein. Das ist leider auch im Jahre 1970 so gewesen, Herr Kollege Barzel, daß immer dann, wenn die Koalition sich zu Gesetzentwürfen durchgerungen hatte, die vom Finanzminister noch vertreten werden konnten, Vorschläge von Ihrer Seite kamen, die über unsere Vorstellungen des finanziell Möglichen hinausgegangen sind. Daß das in Zukunft nicht mehr möglich wird, daß bei Forderungen kein Wettkampf eintritt, daß wir uns weitmehr alle um eine gesunde finanzwirtschaftliche Basis bemühen, um unsere Verpflichtungen, auch die Verpflichtung zu inneren Reformen, erfüllen können, das ist mein aufrichtiger Wunsch.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker . Für ihn ist keine Verlängerung der Redezeit beantragt worden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Möller, ich habe Verständnis dafür, daß Sie seit Monaten Zurückhaltung dabei üben, welche Reformen Sie wirklich durchführen wollen, weil Ihnen ja die Mittel fehlen. Aber Sie haben bisher nicht eingestanden, daß nicht genügend Mittel für Reformen da sind. Sie haben seit Ihrer Regierungserklärung ununterbrochen über Reformen geredet. Nur hören wir nicht, welche Reformen Sie auf all diesen Gebieten auch wirklich durchführen wollen.Ich möchte noch ein paar Worte zu dem Kollegen Hermsdorf sagen: Es ist immer wieder die alte Frage mit der Konjunkturpolitik im ersten Halbjahr 1970. Herr Kollege Leicht hat völlig recht, wenn er sagt: Zwar stimmt die Zahl 7 % für das Jahr 1970, aber im ersten Halbjahr hatte der Finanzminister erklärt — Herr Möller, Sie erinnern sich daran —, bis zum Mai würde er 4% mehr ausgeben. Wieviel hat er mehr ausgegeben? — 10,5 % hat er im ersten Halbjahr mehr ausgegeben. Das war eine Grundlage für den Boom, den wir dann erlebt haben; alle Leute meinten, sie könnten nun auch mehr ausgeben, als in Wirklichkeit da war. Inzwischen haben wir uns wohl an den 100-Milliarden-Etat gewöhnt. Warum haben wir uns daran gewöhnt? — Weil Sie inflationistische Politik gemacht haben, weil wir heute, wie Kollege Pohle vor einigen Tagen darlegte, 7,5% volkswirtschaftliche Inflation haben. Dann ist ein Etat mit 100 Milliarden DM gar nicht mehr so schwerwiegend, wenn man inflationistisch arbeitet. Wenn
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5499
Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. MöllerSie heute von einem Bruttosozialprodukt 1971 von 733 Milliarden DM sprachen, Herr Minister, dann liegt das auch daran, daß in dieser Zahl wirklich enorme Inflationsraten enthalten sind.Herr Kollege Hermsdorf, Sie haben gesagt, wir seien kein Selbstbedienungsladen. Wir sind auch kein Selbstbedienungsladen. Sie müssen die Reformen, die Sie planen, vorher solide finanzieren. In der Regierungserklärung stehen Dinge, die man niemals durchführen kann.Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Diskussion in allem, was hier gesagt worden ist, sehr viel fiber Ausgaben gesprochen, aber relativ wenig über Einnahmen. Herr Kollege Kirst hat schon kurz darauf hingewiesen. Als wir einen Zwischenruf machten, hat er gesagt, er habe jetzt keine Zeit, die Dinge im einzelnen darzulegen; er werde das später tun. Bei den uns vorgelegten Zahlen, die wir im Finanzausschuß eifrig diskutiert haben, fällt auf, daß ursprüngliche Schätzungen der Regierung wesentlich gekürzt worden sind. Herr Minister Möller, Sie hatten, nachdem im Mai 1970 die Einkommensteuer nach Ihren Plänen und nach den Plänen der Institute 21,4 Milliarden DM erbringen sollte, später erklärt, daß Sie wesentlich heruntergehen und etwa 17,7 Milliarden DM vorsehen. Inzwischenvor einigen Tagen hat das Ifo-Institut erklärt, daß wir etwa 17 Milliarden DM Einkommensteuer einnehmen werden. Sie sehen also, in neun Monaten mußten Sie auf Grund Ihrer schlechten Wirtschaftspolitik, Herr Wirtschaftsminister, die Schätzung der Einnahmen aus der Einkommensteuer von 21,4 Milliarden DM noch im Mai 1970 auf 17,7 Milliarden DM und — nach dem Urteil der Institute - auf 17 Milliarden DM zurückführen.Nun haben Sie sehr optimistische Schätzungen für das Jahr 1971 auch nach all den schlechten Erf ahrungen des Jahres 1970 gemacht. Ich glaube, meine Herren, daß Sie sich Illusionen über die Ertragskraft der deutschen Wirtschaft im Jahre 1971 machen. Herr Leicht hat von den großen Risiken des Etats gesprochen. Diese Risiken gibt es im Etat 1971. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Schätzungen viel zu optimistisch angesetzt worden sind. Man kann die derzeitige Konsolidierungsphase unserer Wirtschaft nicht mit einer anderen Phase vergleichen. Wir haben zwar steigende Umsätze, diese sind aber zum Teil inflatorisch bedingt. Die Ertragskraft der Wirtschaft ist durch die Kostenexplosionen auf der ganzen Linie gesunken. Es ist kein Geheimnis mehr, daß große Unternehmen ihre Körperschaftsteuerzahlungen reduziert und zum Teil wegen der mangelnden Gewinne ganz gestoppt haben. Wir haben vor einigen Tagen die letzten Unterlagen bekommen. Die Körperschaftsteuereinnahmen sind im ersten Quartal um 5,4 %, im zweiten um 12,8 %, im dritten um 19,8 % und im vierten um 37,9 % gegenüber dem Vorjahr gesunken. Das sind alarmierende Zahlen über unsere gesamte Wirtschaftsentwicklung. Diese Kostenexplosion stammt nicht nur aus den Löhnen, sondern auch aus den Tarifen öffentlicher Unternehmungen. Sie wissen, daß die öffentliche Hand dabei ist, ihre Tarife zu erhöhen, und sie teilweise schon erhöht hat.Herr Finanzminister Möller, Sie berufen sich in der letzten Ausgabe der „Welt am Sonntag" auf die Vorschätzungen der Institute. Nach meiner Ansicht machen Sie es sich allzu bequem. Die Verantwortung für die Übernahme solcher Zahlen liegt voll und ganz bei der Regierung selbst und bei dem zuständigen Minister. Ihr bedeutender Vorgänger Schäffer hatte es relativ leicht. An seiner Seite stand ein sehr erfolgreicher Wirtschaftsminister Erhard, der eine konsequente und erfolgreiche Politik betrieb,
während Sie einen Wirtschaftsminister, Herrn Schiller, an Ihrer Seite haben, dessen Prognosen seit anderthalb Jahren absolut nicht mehr reichen, so daß Sie jetzt permanent immer geringere Steuereinnahmen haben und Ihre Pläne nicht durchführen können.Nach den neuesten Ifo-Schätzungen, die am 1. Februar veröffentlicht worden sind, werden die Einnahmen aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer wieder 1,9 Milliarden DM geringer sein und die Einnahmen aus der Gewerbesteuer noch einmal 1 Milliarde niedriger sein. Diese Schätzungen liegen unter denen, die Sie uns am 18. Januar im Finanzausschuß vorgelegt haben.Worauf ist nun diese ganze Misere zurückzuführen? Sie wissen, Herr Finanzminister Möller, daß die Wirtschaft bereit war, Ihnen bei Ihrem Amtsantritt eine faire Chance zu geben. Ich habe den Eindruck, daß Sie diese Chance in den anderthalb Jahren fast schon verspielt haben. Ich muß gestehen, daß mir persönlich Ihre Steuerreformpläne sehr imponiert haben. Ich höre und lese aber jetzt, was Sie an Plänen über Steuererhöhungen in dieser oder jener Richtung verkünden. Ich sehe, daß die Kosteninflation die Unternehmer allmählich in eine sehr schwierige Lage bringt. Deshalb meine ich, daß das Vertrauen der Wirtschaft in Ihre Politik und die Politik Ihres Kollegen Schiller doch sehr gering geworden ist.Die Regierung arbeitet zur Zeit noch mit Zweckoptimismus. Auch Sie, Herr Minister Schiller, gestehen jetzt ein, daß 50 % der Wirtschaftspolitik Psychologie sind, was Sie früher Herrn Minister Erhard vorgeworfen haben. Wenn 50 % der Politik Psychologie sind, dann hat die deutsche Wirtschaft in Zukunft schlechte Aussichten. Die Stimmung in der Wirtschaft ist bei den maßgebenden Unternehmern — das kann ich Ihnen sagen — außerordentlich schlecht. Man sieht genau, daß alle die schönen Pläne, die uns vorgelegt werden, nicht eingehalten werden können. Meine Damen und Herren, wenn so weiter Politik gemacht wird, dann sehe ich sehr schwarz für die Investitionen der Wirtschaft. Auf die Investitionen kommt es aber an, um die Preise einigermaßen im Zaum zu halten. Ich sehe also schwarz für die Rationalisierungsinvestitionen. Ich glaube, Herr Kollege Leicht hat recht, wenn er soeben bemerkte, daß eine Finanzkrise in der Bundesrepublik durchaus auf uns zukommen kann.
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5500 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Das Wort hat der Abgeordnete Krammig. Für ihn sind 20 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Kirst und die des Herrn Kollegen Hermsdorf veranlassen mich, noch einiges zu dem Problem der volkswirtschaftlichen Steuerquote zu sagen. Als Finanzpolitiker, der sich speziell mit Steuerpolitik befaßt, habe ich etwas schmunzelnd zur Kenntnis genommen, daß sowohl Herr Kollege Hermsdorf — der erst in der dritten Lesung dazu etwas sagen will -- als auch Herr Kollege Kirst hier Meinungen über das Zurückbleiben der Steuereinnahmen von sich gaben, die sie gar nicht hätten zu äußern brauchen, wenn sie die Unterlagen, die das Bundesfinanzministerium uns zur Verfügung stellt, daraufhin hätten durchsehen können. Nun weiß ich, daß die Kollegen im Haushaltsausschuß einfach überfordert sind und daher nicht alles zur Kenntnis nehmen können, genauso wie es auch uns auf den verschiedensten anderen Gebieten geht, die uns hier nicht besonders beschäftigen.Herr Kollege Kirst hat hier mit Recht bemerkt, daß man die volkswirtschaftliche Steuerquote im Zusammenhang mehrerer Jahre sehen muß. Das brauche ich nicht zu beanstanden. Was ich aber beanstanden muß, ist, daß Mitte Januar durch den Nachrichtenspiegel „Wirtschaft und Finanzen" des Bundespresseamtes eine Mitteilung gegangen ist, nach der der Bundesminister der Finanzen aus dem Zurückbleiben der volkswirtschaftlichen Steuerquote des Jahres 1970 im Verhältnis zu der des Jahres 1969 den nach meinem Dafürhalten völlig unzulässigen Schluß gezogen hat, man müsse die Steuerbelastungsquote der kommenden Jahre wieder an die des Jahres 1969 heranbringen.Wenn man das will, bleibt im Grunde genommen nur zweierlei übrig. Entweder muß man die Gründe, die 1970 dazu geführt haben, daß die Steuerbelastungsquote unter dem Normalen geblieben ist, aufdecken und diese Ursachen beseitigen, oder man muß sehr laut und deutlich sagen: die alte volkswirtschaftliche Steuerquote läßt sich nur dann wieder erzielen, wenn die Steuern erhöht werden.Ich möchte Herrn Bundesminister Möller nicht zu nahe treten. Es lag an sich mit in seiner Absicht, auch auf diesen letzteren Punkt aufmerksam zu machen. Dem hat dann allerdings der Kabinettsbeschluß einen Riegel für das Jahr 1971 vorgeschoben. Aber das hindert Kollegen aus dem Regierungslager keineswegs, wenige Wochen, nachdem dieser Kabinettsbeschluß im Raum steht, mit neuen Plänen an die Öffentlichkeit zu kommen. Ich komme im weiteren Verlauf meiner Ausführungen noch darauf zurück.Das Bundesfinanzministerium hat uns in einer Mitteilung über die Einnahmen des Bundes und der Länder aus Steuern im Dezember 1970 und im Rechnungsjahr 1970 die vorläufigen Ergebnisse mitgeteilt. Es hat im Hinblick auf das Zurückbleiben der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer hinter den Schätzungen u. a. darauf hingewiesen,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5501
In diesem Zusammenhang ist ein Nebensatz aus der Mitteilung des Bundesfinanzministeriums von besonderer Bedeutung, nämlich der, daß sich bei der Veranlagung von Arbeitnehmern die Erstattung von zuviel gezahlter Lohnsteuer aus den Einkommensteuereinnahmen verstärkt hat. Wir haben bei der Behandlung der Steuerschätzungen für das Jahr 1971 im Finanzausschuß speziell diese Frage behandelt. Meine Damen und Herren, Sie werden es nicht für möglich halten, aber der verantwortliche Leiter der volkswirtschaftlichen Gruppe des Bundesfinanzministeriums hat uns gesagt, daß sich der Jahreslohnsteuerausgleich im Jahre 1970 auf 9,5 Milliarden DM belaufen habe.Wer weiß, daß diese Lohnsteuerjahresausgleichsbeträge, weil ihnen ja sozusagen eine Veranlagung beim Finanzamt vorausgeht, zu Lasten des Einkommensteuerautkommens aus der veranlagten Einkommensteuer gezahlt werden, der sieht, daß die Zahl z. B. der Einkommensteuerschätzung für 1971 mit 16,001 Milliarden DM viel zu niedrig angesetzt ist, daß man dieser Zahl den Jahreslohnsteuerausgleich des Jahres 1971 zurechnen und zugleich das Lohnsteueraufkommen um den Betrag des Jahreslohnsteuerausgleichs kürzen müßte. Dadurch ergibt sich, daß die exorbitant hohe Steigerung der Lohnsteuer, die natürlich auch auf die Progression im Einkommensteuertarif zurückzuführen ist, zugleich aber, wenn man Jahreslohnsteuerausgleich beantragt, zu einem starken Absinken der Steuerbelastung aus der Lohnsteuer führt. Das zeigt sich ja darin, daß der Jahreslohnsteuerausgleich 1970 allein einen Betrag von 9,5 Milliarden DM ausmachte. Man kann also, wenn man die Zahlen aus dem Aufkommen der veranlagten Einkommensteuer und der Lohnsteuer miteinander vergleichen will, das nur tun, indem man entweder die Korrektur vornimmt oder daran denkt, daß die Lohnsteuer nichts anderes ist als eine in besonderer Form erhobene Einkommensteuer. Man kann also beide nur im Zusammenhang betrachten und darf vor allen Dingen nicht den einseitigen Schluß ziehen: Seht mal an, die Lohnsteuerzahler tun alles, was zu tun sie verpflichtet sind, und die Einkommensteuerpflichtigen drücken sich von ihrer Steuerzahlung. So einfach ist das nicht.
Nun, meine Damen und Herren, hat Herr Kollege Kirst ein Problem angesprochen, das auch in den Ausführungen des Herrn Bundesministers der Finanzen eine gewisse Rolle spielte, nämlich die Frage der Finanzierung öffentlicher Investitionen aus Kreditrnarktmitteln. Ich stimme, Herr Kollege Kirst, völlig mit Ihnen überein. Wir müssen werbende Anlagen an sich grundsätzlich über Anleihen finanzieren und sollten dafür möglichst wenig Steuereinnahmen verwenden. Aber man muß sich dabei vor Augen halten, daß die Kreditmarktmittel nicht allein der öffentlichen Hand zur Verfügung stehen können, sondern daß sich auch die Wirtschaft und die Privaten an den Darlehensmöglichkeiten beteiligen wollen. Wenn man das richtig sieht, muß man zu dem Ergebnis kommen, daß eben auch die öffentliche Hand nur über einen bestimmten Anteil des Kapitalmarktaufkommens verfügen kann. So gesehen wird die Sache interessant. Geht die öffentliche Hand unter Vernachlässigung steuerlicher Möglichkeiten zu stark an den Kapitalmarkt heran, schränkt sie zwangsläufig die Investitionsmöglichkeiten auch der Wirtschaft ein. Ich wollte das nur erwähnt haben, ohne selbst dazu eine wertende Stellungnahme abzugeben. Ich möchte nur darum bitten, daß man diese Dinge im richtigen Zusammenhang sieht und den Kapitalmarkt nicht für die öffentliche Hand überfordert.In diesem Zusammenhang wurde früher — heute nicht, aber früher — von Herrn Bundesminister Möller davon gesprochen, daß die öffentlichen Investitionen unterproportional bedient worden seien, und er schloß daran die Folgerung, man müsse dafür sorgen, daß diese in Zukunft überproportional bedient werden könnten. Im Zusammenhang mit den letzten Ausführungen des Herrn Bundesministers zur Auflösung der Konjunkturausgleichsrücklage unter Einführung in die Erfüllung von Gemeindeaufgaben frage ich Sie, wie das eigentlich vor sich gehen soll. Sollen die Gemeinden ihnen aus der Konjunkturausgleichsrücklage zur Verfügung gestellte Mittel in den Hochbau stecken, ohne daß zuvor eine Kapazitätsausweitung erfolgt ist? Dann würde der größte Teil des Betrags durch Preissteigerungen aufgefressen werden. Denn wenn die Nachfrage zu groß und das Angebot zu klein ist, gehen die Preise — das ist die logische Folge, wenn alle Nachfrager am Markt bleiben — in die Höhe. Das ist nun einmal ein marktwirtschaftliches Gesetz, an dem man nicht vorbeikommt. Was also will die Bundesregierung tun, um zunächst einmal die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die stärkere Nachfrage der Gemeinden am Markt auf ein zureichendes Angebot trifft? Das ist das Problem, das wir hier sehen müssen.Herr Minister, ich glaube nicht, daß jetzt der richtige Augenblick ist, um diese Angelegenheit zu vertiefen. Aber ich habe die Bitte oder den Wunsch, daß diesem Hause, bevor Sie Ihre Planung hinsichtlich der Freigabe der Konjunkturausgleichsrücklage in dem von Ihnen skizzierten Sinne zu Ende geführt haben, Gelegenheit gegeben wird, über das Problem zu diskutieren, damit wir die Lösung finden, die uns davor bewahrt, daß das Geld über Preissteigerungen nutzlos vertan wird.Das, meine Damen und Herren, war es, was ich zur Frage der volkswirtschaftlichen Steuerquote und der Investitionen sagen wollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Porzner. Fur ihn sind 20 Minuten Redezeit angemeldet.
5502 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag. den 5. Februar 1971
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Seitdem die CDU/CSU in der Opposition ist, verlaufen hier alle Debatten gleich. Sie sagen jeweils nein. Egal was die Regierung bringt: die CDU/CSU drückt sich um die Verantwortung,
sei es in der Außenpolitik,
wo Sie alles in der Schwebe lassen wollen, wo Sie die Unsicherheit verlängern wollen,
mit der Absicht, dem Emotionalen, dem Irrationalen mehr Resonanz zu verschaffen.
Genauso verfahren Sie in der Wirtschaftspolitik. Es hat, seitdem Sie in der Opposition sind, keine Debatte über wirtschaftspolitische oder finanzpolitische Themen gegeben, in der nicht jeder Redner von der CDU/CSU irgendeine Gefahr an die Wand malte, wobei Sie selbst nicht fähig sind, ein konkretes wirtschaftspolitisches Programm vorzulegen.
Sie haben im Finanzausschuß die Steuerschätzung, die übrigens nicht vom Bundesfinanzminister vorgelegt wird, als zu optimistisch betrachtet und abgelehnt. An dieser Steuerschätzung sind in dem entsprechenden Arbeitskreis der Bund, alle Länder, die Bundesbank, der Sachverständigenrat und wirtschaftswissenschaftliche Institute beteiligt.
Sie haben am gleichen Tag im Haushaltsausschuß, wo Sie eigentlich Konsequenzen auf der Ausgabenseite ziehen müßten, diese Steuerschätzung zur Kenntnis genommen, wenn auch mit dem Hinweis darauf, daß Sie heute darüber reden wollten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht?
Bitte schön!
Ist Ihnen bekannt, daß von meiner Fraktion im Haushaltsausschuß der generelle Vorbehalt gemacht worden ist, zwar über diese Dinge zu sprechen, aber keine Entscheidung darüber zu treffen?
— Im Finanzausschuß waren Sie dagegen, im Haushaltsausschuß haben Sie es zur Kenntnis genommen und nicht gewußt, wie Sie dazu Stellung nehmen sollten.
Herr Leicht, Sie haben vorhin und Redner Ihrer Fraktion haben am Dienstag gesagt, daß die Wirtschaft von einer Rezession bedroht sei,
und haben Gefahren an die Wand gemalt. Heute legen Sie einen Antrag vor, in dem von der Gefahr eines zu starken Konjunkturanreizes die Rede ist. Das ist genau das Gegenteil davon. Im Lauf der letzten Monate hatten Sie noch von einem expansiven Haushalt geredet, der die Konjunktur bedrohe, dann hatten Sie gesagt, nun sei die Gefahr vorbei, und jetzt fordern Sie in einem Antrag zur dritten Lesung des Haushalts genau das Gegenteil von dem, was Sie noch am Dienstag gefordert haben.
Sie waren am Dienstag nicht in der Lage — Wirtschaftsminister Schiller hatte Sie darum gebeten —, irgendeinen konkreten Hinweis zu geben, an welchem Punkt die Jahresprojektion der Bundesregierung geändert werden sollte. Sie haben nicht in einem Punkt Ihre Kritik quantifiziert, weil Sie nämlich der Schwierigkeit ausweichen wollen, die damit verbunden ist.
Herr Abgeordneter Porzner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krammig?
Bitte schön.
Herr Kollege Porzner, war es nicht so, daß wir im Finanzausschuß bei der Beratung der berichtigten Schätzungsergebnisse gesagt haben, daß wir die Ansätze für die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer weiter herabzusetzen wünschten, weil wir meinten, sie seien nicht zutreffend, das Aufkommen würde sicher nicht erzielt? Würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, den Herrn Minister zu fragen, ob er an den Schätzungen, die er im Finanzausschuß vorgelegt hat, nach den neuesten Zahlen hinsichtlich der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer für 1971 jetzt noch festhalten kann? Dann haben wir nämlich klar auf dem Tisch, wer recht hatte, Sie oder wir.
Herr Krammig, Sie haben im Ausschuß die Schätzungen als zu optimistisch bezeichnet und diesen Steuerschätzungsvorschlag abgelehnt. Aber Sie haben keinen Antrag gestellt, um welche Beträge die Einnahmen gesenkt werden sollten, weil Sie dann nämlich vor der Schwierigkeit ge-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5503
Porznerstanden hätten, entweder die Ausgabenseite um 1,3 Milliarden DM zu kürzen und dazu sind Sie nicht in der Lage, da haben Sie nicht den Mut, Vorschläge zu machen —
oder — was Sie vorhin kritisiert haben — die Nettokreditaufnahme zu erhöhen. Das hätten Sie tun müssen oder eine Kombination von beidem. Aber nichts von all dem haben Sie getan.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Krammig?
Ja, bitte schön.
Herr Porzner, wissen Sie nicht genauso gut wie ich, daß Steuerschätzungen von so viel Faktoren abhängig sind und daß wir selbst gar nicht in der Lage sind, uns genau zu vergewissern, ob das, was das Bundesfinanzministerium uns vorlegt, nun mit den Fakten in vollem Umfang übereinstimmt, und daß es daher verfehlt wäre, einfach gegriffen zu sagen: Das ist nicht in Ordnung?
Herr Krammig, warum sagen Sie dann, daß die Schätzung zu hoch angesetzt ist, wenn Sie Ihre Meinung überhaupt nicht begründen können?
Dann dürfen Sie die Höhe des Ansatzes auch nicht kritisieren. Ich habe vorhin aufgezählt, wer die Steuern schätzt.Im übrigen darf ich Ihnen sagen, daß es bei der veranlagten Einkommensteuer im Januar 1971 nach ersten Meldungen, die von acht Ländern vorliegen — und da ist das größte, nämlich Nordrhein-Westfalen, dabei — zu Mehreinnahmen in Höhe von 25 % gegenüber dem Vorjahresmonat gekommen ist. Der Trend ist nicht so eindeutig, wie Sie annehmen.
Noch nie ist, Herr Krammig, im Finanzausschuß oder im Haushaltsausschuß die Steuerschätzung abgelehnt worden. Wenn man es tut, dann müßte man die Konsequenzen ziehen.Sie kritisieren in jeder Rede die Solidität der Finanzpolitik, und Sie reden von Gefahren der Wirtschaftspolitik. Wir stehen im fünften Jahr sozialdemokratischer Regierungsverantwortung, und im fünften Jahr führt Bundesminister Schiller die Wirtschaftspolitik. In diesen fünf Jahren hat unsere Wirtschaft einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Reden wir von den Fakten! Das Sozialprodukt hat seit 1966 um 38 % zugenommen. Die Löhne und Gehälter auf Stundenbasis sind in dieser Zeit um 36 % gestiegen, in der Industrie sogar um 44 %. Seit 1966 haben sich die Renten um mehr als 41 % erhöht. Seitdieser Zeit sind die Investitionen und die Unternehmereinkommen kräftig gewachsen.
Es hat Preissteigerungen gegeben. Aber wenn Sie die Lebenshaltungskostensteigerung von im Schnitt 11 % abziehen, dann sind für alle Bevölkerungsschichten reale Einkommenssteigerungen in Höhe von 25 bis zu über 30 % festzustellen. Daran kommen Sie doch nicht vorbei.
Die Position unserer Wirtschaft auf dem Weltmarkt ist so gut wie eh und je. Sie haben nach der Aufwertung von der Gefahr gesprochen, die für die Wirtschaft dadurch am Weltmarkt entsteht. Ihre Warnungen und Befürchtungen haben sich nachträglich alle als falsch erwiesen. Dies alles, was ich hier nur kurz vortragen kann, sind Beweise einer soliden wirtschaftlichen und politischen Leistung, und nicht, wie Sie dem Volk vorgaukeln wollen, Anzeichen irgendwelcher Krisen.Sie reden heute den ganzen Tag von Zahlen.
Es geht ja hier nicht nur um Zahlen. Dieser Haushat, diese Zahlen sind der Ausdruck der Politik dieser Regierung. Ihre Kritik gilt der Politik der Bundesregierung, auch wenn Sie vordergründig an Zahlen herummäkeln und herumkritisieren.Wir verlassen uns nicht auf Wirtschaftswachstum allein. Inhalt dieses Haushalts ist das Ziel der Bundesregierung, hier in der Bundesrepublik dafür zu sorgen, daß das, was gemeinsam erarbeitet wird, auch gerechter verteilt wird,
daß zum Wirtschaftswachstum auch der Ausbau der Sozialordnung kommt, weil nämlich Wirtschaftswachstum allein nicht mehr soziale Sicherheit schafft, keine gerechtere Verteilung der Vermögen bringt, ganz einfach nicht schon für sich allein soziale Leistung bedeutet. Der Ausbau der Sozialordnung muß mit dem Wirtschaftswachstum Schritt halten. Wenn es uns nicht gelingen sollte, meine Damen und Herren, dafür zu sorgen, daß das, was in der modernen Industriegesellschaft wie der unseren erarbeitet wird, und zwar durch Leistung aller, gerecht verteilt wird, dann werden wir in diesem Volk und auch anderswo nicht zur Ruhe kommen.Hier ist heute wieder — bezeichnend übrigens — behauptet worden, die Politik der Bundesregierung sei vom Übel. Herr Leicht, das war ein böses Wort, aber es ist nicht zum ersten Mal gesprochen worden. Der Vorsitzende der CDU hat auf einem Parteikongreß der CSU vor wenigen Monaten gesagt, daß jeder Tag, den diese Regierung im Amt sei, vom Übel sei. Die Vermögenspolitik, die wir beschlossen haben, z. B. das Vermögensbildungsgesetz für Arbeitnehmer, das einen Spielraum zur gerechteren Vermögensverteilung von jährlich 16 Milliarden DM schafft, das ist für Sie ein Übel. Wir haben die Krankenversicherungsreform mit finanziellen Auswirkungen in Höhe von etwa 3 Milliarden DM
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5504 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Porznerdurchgesetzt. Die Lohnfortzahlung — ich beziehe das ein, weil es eine Politik ist, die wir in den letzten Jahren verfolgt haben — mit einem Verteilungseffekt von 5 Milliarden DM auf der Basis des Jahres 1971 gehört ebenfalls dazu.
Allein diese drei politischen Tatsachen bedeuten im Ergebnis zusammen etwa 24 Milliarden DM gerechterer Verteilung des Sozialprodukts, und das ist es, was Sie als Übel bezeichnen.
Herr Abgeordneter Porzner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht?
Bitte schön!
Um Sie zu charakterisieren: Wären Sie so freundlich, mir vorzulegen, wo ich gesagt habe, Ihre Politik sei vom Übel, diese Formulierung. Mein Manuskript ist nicht korrigiert. Bitte, tun Sie das .
Zweite Frage: Wären Sie so freundlich — —
Herr Kollege Leicht, Sie können immer nur eine Zwischenfrage stellen.
Herr Leicht, Sie haben gesagt: Das Übel hat begonnen mit der Regierungserklärung 1969.
Ja, diese Formulierung haben Sie gebraucht.
Ich habe es mitgeschrieben.
Diese gerechtere Verteilung, das ist es, was Sie stört, dagegen kämpfen Sie mit aller Macht.
Ich will meine Zeit hier nicht überziehen.
Die CDU/CSU bleibt aufgefordert, zur Wirtschafts-und Finanzpolitik der Regierung, wenn sie sie kritisiert, eine konkrete Alternative zu formulieren. Bis jetzt haben Sie das nicht getan. Das haben Sie der Öffentlichkeit, dem Parlament und der Regierung bisher verweigert.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lampersbach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Herr Bundesminister der Finanzen hat mich hier vorhin wegen ener Presseerklärung zitiert, die ich am 20. Januar dieses Jahres herausgegeben habe. Herr Finanzminister, Sie wollen bitte zur Kenntnis nehmen und bestätigen, daß ich in dieser Presseerklärung nicht von „ist" gesprochen habe, sondern davon, daß das Defizit 4 Milliarden DM betragen „soll". Ich habe mich auf Zahlen bezogen, die in der Öffentlichkeit allgemein bekannt sind und denen von Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht widersprochen wurde. Ich glaube, daß wir nicht nur das Recht, sondern sogar auch die Pflicht haben, die Öffentlichkeit auf Entwicklungen aufmerksam zu machen, die nach unserer Auffassung gefährlich sind.
Sie haben, Herr Bundesfinanzminister, gemeinsam mit dem Herrn Bundeskanzler in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 versprochen, eine Politik zu machen, die beinhaltet, daß bei einer rationellen Bewirtschaftung und Verwendung moderner, kostensparender Methoden die öffentlichen Haushalte des nächsten Jahres durchgeführt werden können, ohne daß die Steuerlastquote des Jahres 1969 in den nächsten Jahren erhöht wird. Der Regierungssprecher, Herr Staatssekretär Ahlers, hat das bereits eingeschränkt und es nur noch für das Jahr 1971 als möglich und gültig erklärt. Hier setzen unsere Kritik und unsere große Sorge an, daß die Steuerlastquote in den nächsten Jahren eben nicht mehr in der gleichen Größenordnung belassen wird, sondern daß sie Veränderungen unterworfen wird.
Hier ist noch ein weiterer Punkt zu berücksichtigen. Wenn das Defizit jetzt tatsächlich nur 2 Miliarden DM beträgt — ich glaube, Sie haben diesen Betrag genannt; ich habe es nicht ganz exakt verstehen können —, dann wären wir insgesamt froh, wenn auch nur mit halbem Herzen, weil immer noch ein gewaltiges Defizit abzudecken ist. Aber, Herr Bundesfinanzminister, ich muß Sie fragen: Aus welchen Töpfen wollen Sie das befriedigen? Auch die Ausführungen des Kollegen Porzner haben keine Klarheit darüber gebracht, woher das Geld genommen werden soll, ohne den sowieso strapazierten Kapitalmarkt in Anspruch zu nehmen. Dies würde bei der Finanzpolitik dieser Regierung für die mittelständige Wirtschaft von einer ungeheuer schlechten Wirkung sein. Darüber hinaus muß diese Politik aus leeren Taschen finanziert werden.
Meine Damen und Herren, was das bedeutet, wissen wir. Mit einem In-den-Griff-bekommen des Preisanstiegs, der Inflationsrate ist damit leider nicht zu rechnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu Einzelplan 08 liegen nicht vor. Änderungsanträge liegen ebenfalls nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
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Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenWir kommen zur Abstimmung über Einzelplan 08. Wer Einzelplan 08 in der vom Haushaltsausschuß vorgelegten Fassung zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die der Opposition angenommen.Ich rufe nunmehr auf:Einzelplan 07Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz— Drucksache VI/1737 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. TambléIch frage zunächst den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. — Er wünscht das Wort nicht. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel. Seine Fraktion hat für ihn eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem es in diesem Hause möglich gewesen ist, über die Frage B 10 oder B 11 fast zwei Stunden zu reden, wird es sicherlich möglich sein, auch über das wichtige Thema der Rechtspolitik eine Aussprache zu führen.
— Es liegt nicht an uns, daß wir zu so einem späten Zeitpunkt an der Reihe sind und andere Fragen in diesem Hause einen solch breiten Raum eingenommen haben.Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß das Thema der Rechtspolitik weiß Gott wichtig genug ist, um ihm in dieser Debatte einen gebührenden Platz zu geben.
Wir nähern uns der Halbzeit der Tätigkeit dieser Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Es ist deshalb an der Zeit, daß wir als CDU/CSU aus unserer Sicht eine rechtspolitische Zwischenbilanz über die bisherige Tätigkeit dieser Bundesregierung ziehen. Dazu bietet uns die Haushaltsdebatte Anlaß und Möglichkeit. Um es gleich vorweg zu sagen: wegen der Rechtspolitik dieser Bundesregierung werden wir den Haushalt des Bundesjustizministers ablehnen.
Herr Bundesjustizminister, nach gut 15 Monaten sind die Konturen Ihrer Rechtspolitik deutlicher geworden. Wir können heute sagen: in dem gleichen Maße, wie die Konturen der Rechtspolitik deutlicher geworden sind, in dem gleichen Maße wächst die Unruhe in unserer Bevölkerung über diese Rechtspolitik.
Wir können heute feststellen, Herr Bundesjustizminister, daß Sie weit an dem vorbeireformieren,was noch Verständnis und Zustimmung in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland finden kann.
Deshalb meine ich, daß es notwendig ist, deutlich zu machen, wie die Positionen hier in diesem Hause sind.Ihre Rechtspolitik, Herr Bundesjustizminister, findet zunehmend auch unseren Widerspruch. Es wäre dabei wünschenswert gewesen und noch wünschenswert — ich füge das hinzu —, wenn sich alle Fraktionen dieses Hauses in gleicher Weise ernsthaft bemühten, die von uns allen für notwendig gehaltenen Reformen im Bereich unseres Rechts mit möglichst breiten Mehrheiten in diesem Hause verabschieden zu können; denn die Zustimmung zu unserer Rechtsordnung muß, wenn diese Rechtsordnung stabil sein soll, breit sein, und jede Rechtsreform müßte auf Kontinuität unserer Rechtsordnung bedacht sein.Wir haben, Herr Bundesjustizminister, gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode unsere Kooperation für die Rechtsreformen angeboten. Sie haben ebenfalls zu Beginn dieser Legislaturperiode, zu Beginn Ihrer Amtszeit, die Hoffnung geäußert, für die Reformen unseres Rechts eine große, alle Parteien umfassende Mehrheit im Parlament zu finden. Das war Ihr eigener Wunsch und die von Ihnen ausgesprochene Hoffnung.Der erste Reif auf diese Hoffnung fiel, als Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, über unsere ernsthaften Bedenken hinweg, die bis weit in Ihre Reihen hinein geteilt wurden, aus Koalitionsräson aus keinem anderen Grunde — mit Ihrer Mehrheit die Reform der Vorschriften über die Straftaten gegen den Gemeinschaftsfrieden hier verabschiedeten. Ich will das nicht aufwärmen, sondern nur daran erinnern. Sie wissen, wie der Vorgang in Ihrer eigenen Fraktion dazu gewesen ist.In der Haushaltsdebatte am 3. Juni 1970 hat mein Kollege Benno Erhard, zurückhaltend, aber unüberhörbar vor ich möchte es einmal mit meinen Worten wiederholen - eine „Sozialdemokratisierung" der Rechtspolitik gewarnt.
— Herr Kollege Apel, haben Sie etwas gegen das Wort „Sozialdemokratisierung"?
— Damit ist nichts anderes umschrieben, Herr Kollege Apel, als daß Sie keine Rücksicht mehr darauf nehmen wollen, daß Sie bei den Rechtsreformen eine breite Mehrheit in diesem Parlament brauchen.
Ich habe nicht mehr und nicht weniger gesagt, als eben das, wovor der Kollege Erhard gewarnt hat. Sie haben auf diese Warnung nicht gehört. Ein einziger Sommer hat genügt, um die Rechtspolitik in diesem Lande zum Gegenstand harter und leiden-
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Vogelschaftlicher innenpolitischer Auseinandersetzungen werden zu lassen.
Herr Bundesjustizminister, die Reformflaute dieser Bundesregierung im letzten Sommer hat Ihnen nicht gutgetan, ist Ihnen nicht gut bekommen. Als Sie krampfhaft nach dem Motto „Reformen her, die möglichst nichts kosten" auf die Suche gehen mußten, mußten Sie Herr Minister, an die Front.; da sind Sie ins Feuer geraten. Wir haben heute den Eindruck, Herr Kollege Jahn, daß Sie sich übernommen haben,
bei allem Fleiß Ihrer Mitarbeiter, den wir durchaus bewundern. Sie sollten sich nicht zu viel vornehmen. Sonst werden Sie am Ende als „Reformankündigungsminister" auf der Strecke bleiben. Schon heute — ich sage das keineswegs mit irgendeinem persönlichen soupçon, Herr Kollege Jahn; das stammt auch nicht von uns — hängt Ihnen doch der Ruf eines „Ministers ohne fortune" an.
Ich will nicht darüber klagen, aber doch darauf hinweisen, daß uns der Herr Bundesjustizminister mit einigen überhastet fertiggestellten und unausgereiften Entwürfen ein überflüssiges Maß an Ausschußarbeit bereitet hat.
Mit Hektik und Termindruck läßt sich solide Rechtspolitik nicht betreiben. Es hat ja auch nicht jedem in Ihren Reihen gepaßt, daß Sie die Leute mit Ihren Plänen zum Sexualstrafrecht und zum Ehescheidungsrecht so sehr aufgeschreckt haben.
Weder der Zeitpunkt noch diese ganze Massivität, mit der dies dann sozusagen vor den Leuten lag, wurden auch in Ihren Reihen für richtig gehalten.
Schließlich standen auch wichtige Wahlen ins Haus.Herr Minister, inzwischen sind Sie — das gebe ich gern zu — vorsichtiger, behutsamer und vielleicht auch ein bißchen ängstlicher geworden. Geschah das aus besserer Einsicht, oder handelt es sich um Taktik? Die Frage nach der Taktik ist berechtigt, weil Sie nicht nur bei der Bevölkerung und nicht nur bei der Opposition, sondern auch in Ihren eigenen Reihen Widerstand spüren. Eines möchte ich noch hinzufügen. Seit Sie den geordneten Rückzug angetreten haben, ist Ihnen das Mißtrauen auf den Fersen.Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Alfons Bayerl — ich weiß nicht, ob Sie über ihn und seine Außerungen immer glücklich sind — hat in einem „Spiegel"-Interview am 24. August diese Taktik offengelegt.
Herr Bayerl wurde vom „Spiegel" darauf hingewiesen, daß es auch in Ihrer Partei prominente Politiker gibt, die den gegenwärtigen Porno-Paragraphen ersatzlos streichen wollen und daß z. B. der Kollege Martin Hirsch die Aufhebung des Verbots für die wirksamste Bekämpfungsmethode hält. Darauf hat Herr Bayerl geantwortet:„Da soll er sich mal im Ausschuß durchsetzen. Ich bin schließlich auch für die Streichung eingetreten. Aber um die Sexualreform— ich weiß nicht, warum er in diesem Zusammenhang den Ausdruck „Sexualreform" gebraucht hat —überhaupt durchzubringen, brauchen wir Mehrheiten — auch in unserer eigenen Fraktion undnicht nur bei den Juristen."Und jetzt kommt der entscheidende Satz: „Wir müssen eben auf Zeit noch einige Gemüter beruhigen." Damit ist doch die Taktik klar: erst einmal den Fuß dazwischen kriegen; dann wird schon der Zeitpunkt herbeizuführen sein, zu dem wir die ganze Tür offen kriegen werden. — Damit hat Herr Bayerl — ich sehe ihn nicht hier im Raum —
die Feigenblattfunktion des Geredes vom Jugendschutz, des Geredes von denen, die nicht konfrontiert werden sollen mit all diesem Zeug, offengelegt. Ich halte das — um es ganz deutlich zu sagen —nicht für ehrlich.Herr Bundesjustizminister, Sie halten sich gern etwas darauf zugute, daß Sie nicht mit fertigen Regierungsentwürfen ins Haus fallen, sondern Ihre Vorstellungen und Pläne schon vorher zur Diskussion stellen. Ich halte es auch für eine gute Sache, daß Sie das in den Reden tun, daß Sie es tun mit Diskussionsentwürfen. Aber nach den Vorgängen der letzten Monate habe ich inzwischen doch einige Zweifel bekommen, ob es Ihnen tatsächlich nur um die Diskusison geht. Ich habe Zweifel bekommen, ob es Ihnen nicht mehr auch darum geht, nun einmal zu testen, mit welchem Widerstand sie rechnen müssen, und zu testen, wie weit Sie zurückstecken müssen, um wenigstens Teile Ihrer Konzeptionen durchzubringen. Wie unsicher Sie sind, wie weit Sie gehen können, kann man in der Stellungnahme der Bundesregierung zu den Beschlüssen des Bundesrats zum Entwurf des Gesetzes zur Reform des Sexualstrafrechts nachlesen. Dort heißt es:„Die Bundesregierung hält auf Grund der Stellungnahme des Bundesrates die weitere öffentliche Erörterung des Entwurfs für sachdienlich. In diesem Sinne betrachtet sie die in dem Entwurf enthaltenen Vorschläge als eine Diskussionsgrundlage."Eine deutlichere Distanzierung von einem eigenen Entwurf kann ich mir kaum vorstellen.
Das verrät doch kaum Sicherheit.
Mehr und mehr Menschen in unserem Lande stellen sich die Frage, wohin Sie mit Ihrer Rechtspolitik wollen. Ich darf noch einmal den Faden der Rede
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Vogelmeines Kollegen Benno Erhard vom Juni des vorigen Jahres aufgreifen. Der Kollege Erhard hat Sie, Herr Bundesjustizminister, damals um etwas mehr Distanz gegenüber den Strömungen des Zeitgeistes gebeten. Ich habe das vorhin etwas deutlicher als eine Warnung vor einer „Sozialdemokratisierung" der Rechtspolitik umschrieben.
Sie wie der Herr Kollege Hirsch haben damals eine solche Distanzierung abgelehnt und damit — das muß ich heute hinzufügen — eine Absage an die Gemeinsamheit in der Rechtspolitik erteilt. Denn — um leicht abgewandelt eine Stelle aus Goethes „Faust" zu zitieren: Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist in Wirklichkeit der Herren Sozialdemokraten eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln sollen.
Das macht natürlich auch uns freier. Nicht wir sind es in erster Linie, die sich um Gemeinsamkeit in der Rechtspolitik zu bemühen haben. Nicht wir sind es in erster Linie, die sich um breite Mehrheiten in diesem Hause zu bemühen haben. Die Initiative liegt bei Ihnen, Herr Minister, und bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition.
Sie, Herr Jahn, und Ihre Freunde sprechen gern und viel von der Gesellschaftsbezogenheit des Rechts und von der Notwendigkeit, das Recht den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Bei uns hat sich inzwischen der Eindruck festgesetzt, daß Sie dabei mehr an die Gesellschaft von morgen denken, wie Sie sie haben möchten, als an die Gesellschaft von heute, und daß Sie dabei an eine Gesellschaft denken, wie wir sie jedenfalls nicht haben möchten, wie sie unseren Vorstellungen nicht entspricht.
— Herr Kollege Arndt, hören Sie einmal geduldig zu, Sie werden sehen: auch wir denken nicht an die Gesellschaft von gestern. Wir sind allerdings auch etwas bescheidener, was die Möglichkeit der prophetischen Sicht in die Zukunft angeht.
Herr Kollege Martin Hirsch war in seinem Beitrag „Rechtsreform als Gesellschaftsreform" im SPD-Pressedienst vom 17. Dezember 1970 so freundlich, das etwas näher zu erklären. Er schrieb;Der Gesetzgeber steht erstmals vor einer neuen Aufgabe;— schon das Wort „erstmals" hat mich ein wenig überrascht —er soll Gesetze schaffen, die nicht die Erfahrungen der Vergangenheit wiedergeben und damit notwendig retrospektiv sein müssen, sondern die zum Ziel haben, soziologische Verhaltensmuster für die Zukunft zu umschreiben."Und weiter:Konnte im Rahmen der Großen Koalition mitviel Arbeitsaufwand das Notwendige geschaffen werden und die allgemein gesellschaftlich anerkannten Auffassungen in manchen Rechtsbereichen der sozialen Wirklichkeit angepaßt werden — wie das beispielsweise im Bereich des Nichtehelichen-Rechts geschehen ist — so muß nunmehr die Zukunft vom Gesetzgeber gestaltet werden.Mit anderen Worten: Sie beziehen Ihre Handlungsanweisungen für Ihre Rechtspolitik heute aus dem Bild der von Ihnen erstrebten sozialistischen Zukunftsgesellschaft.
— Stört Sie das Wort „sozialistisch"?
Sie wissen doch, Demokratie wird erst richtig schön durch Sozialismus. So steht es auch in Ihrem Godesberger Programm.
Meine Damen und Herren, auf dieser Reise werden wir Sie nicht begleiten, dessen können Sie gewiß sein.
Wir werden darüber hinaus zu verhindern suchen, daß sich unsere heutige Gesellschaft eines Tages, auch auf dem Wege über ihre Rechtsform, in dieser von Ihnen angestrebten sozialistischen Gesellschaft wiederfindet. Hier ist ein grundsätzlicher Widerspruch.
Wir sträuben uns keineswegs dagegen, daß unsere Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung angeglichen werden, im Gegenteil. Aber wir sind für zeitgerechtes Angleichen, damit die Gesetze nicht in Widerspruch zum Rechtsbewußtsein geraten, sondern der Verwirklichung der Rechtsidee dienen. So steht es ja auch bei Ihnen im Godesberger Programm. Darin können wir übereinstimmen.
Die gesellschaftsideologische Zielsetzung Ihrer Rechtspolitik zwingt uns in die offensive Auseinandersetzung mit Ihren Änderungsvorstellungen zu unserem Recht.Ich möchte etwas zum Bereich des Strafrechts sagen. Allerdings möchte ich heute nicht die uns bevorstehende erste Lesung des Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts vorwegnehmen. Mein Kollege Wörner hat es zu Beginn dieser Etataussprache angesprochen. Wir werden darauf zurückkommen. Eines allerdings nehmen Sie bitte heute schon mit. Wenn Sie immer durchs Land ziehen und sagen, das Strafrecht habe nicht die Aufgabe, eine sittenbildende Kraft zu sein, dann möchte ich Ihnen entgegenhalten, daß wir nicht bereit sein werden, weder hier noch in anderen Bereichen des Strafrechts, die Verbindung von Politischem und Ethischem aufzulösen.
Ich möchte in aller Bescheidenheit auch daran erinnern, daß das Sittengesetz in Art. 2 Abs. 1 des
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VogelGrundgesetzes ausdrücklich aufgenommen ist und den gleichen verpflichtenden Charakter hat wie andere Normen des Grundgesetzes.
— Herr Kollege Hirsch, das ist eben der Punkt, der uns unterscheidet. Sie sind der Auffassung, Sie könnten alles mit Wissenschaft machen, und haben einen unendlichen Glauben an die Möglichkeiten, die Antworten aus der Wissenschaft zu bekommen. Wir sind eben sehr viel bescheidener in dem Anspruch an das, was uns die Wissenschaft an Antworten geben kann. Wir werden diese totale Verwissenschaftlichung der Politik nicht mitmachen, weil wir der Auffassung sind, daß das zwangsläufig zu einem ethischen Orientierungsverlust der Politik führen muß.
— Herr Kollege Martin Hirsch, ich habe mir das überlegt. Wahrscheinlich werden wir in vielen Punkten nicht übereinstimmen, weil einfach die Antennen anders eingestellt sind.Überlegen auch Sie bitte — nur das möchte ich zum Thema „Reform des Sexualstrafrechts" sagen— ernsthaft, ob Sie dem Treiben derer Vorschub leisten wollen, die in der sexuellen Revolution die Vorbereitung und den Ausdruck einer gesellschaftsrevolutionären Entwicklung sehen.
— Meine Damen und Herren, Sie können nicht bestreiten, ich habe nicht gesagt, daß Sie alle, die Sie dort sitzen, damit identisch sind —, um das klarzustellen. Ich gehöre nicht zu denen, die hinter jeder Ecke von der Fratze irgendeines schrecklichen Sozialismus angegrinst werden. Ich gehöre weiß Gott nicht zu denen. Aber daß es diese Kräfte gibt, meine Damen und Herren, und daß diese Kräfte mächtig sind, das allerdings werden auch Sie nicht bestreiten können. Ich hoffe, daß auch Sie — auch Sie! — sich mit diesen Kräften auseinandersetzen.
Wir sind den Kirchen dafür dankbar, daß Sie auf diesen Punkt hingestoßen haben, auch wenn es bei Ihnen Widerspruch gefunden hat.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ist Ihnen nicht klar, daß diejenigen, welche die sozialistische Revolution gesellschaftspolitisch wollen, gerade eine vermehrte Sexualbetätigung ablehnen, weil sie von der sozialistischen Gesellschaftsrevolution ablenke?
Herr Kollege, hier gibt es eben den Unterschied zwischen den Revolutionären im Block des Kommunismus und den Revolutionären, die wir hier haben. Daß die kommunistische Gesellschaft eine streng puritanische Gesellschaft ist, nehmen wir mit einigem Erstaunen zur Kenntnis und ziehen daraus unsere Schlüsse.
- Ach, Herr Kollege Borm, Sie haben genügend Gelegenheit, sich selbst zu Wort zu melden.Meine Damen und Herren, wir sind den Kirchen dafür dankbar, daß sie uns auch auf diesen Punkt hingestoßen haben. Wir sind ihnen auch dankbar dafür, daß sie mit der Schrift „Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung" eine wertvolle Orientierungshilfe für die weitere Strafrechtsreform und die weiteren Rechtsreformen gegeben haben.Auch das Thema Abtreibung wird auf uns zukommen. Ich möchte die Debatte darüber heute nicht vertiefen, möchte allerdings von vornherein eines klarstellen: Für uns ist und bleibt Abtreibung vorsätzliche Abtötung werdenden Lebens.
— Ich stelle das für uns fest. Sie haben die Möglichkeit, das für sich auch festzustellen. Ich hoffe, daß das in aller Klarheit geschieht. Dann ist viel aus der Diskussion heraus. Für uns ist menschliches Leben auch als werdendes Leben unantastbar und steht nicht zur Disposition irgendwelcher Dritter.
Wir nehmen gerne das Angebot an, das uns gestern gemacht worden ist, daß mit uns über dieses Problem gesprochen wird, bevor im Bundesjustizministerium ein Gesetzentwurf fertiggestellt wird.
— Ich habe nichts dagegen.
— Da muß er besseren, engeren Kontakt mit seinem Parlamentarischen Staatssekretär pflegen. Vielleicht erfährt er dann, was der uns sagt.Meine Damen und Herren, in einer rechtspolitischen Aussprache darf das Thema Justizreform nicht fehlen. Ich will hier nicht ins Detail gehen, sondern Sie, Herr Bundesjustizminister, bitten, bald Gelegenheit zu finden, dem Rechtsausschuß einen Bericht über den derzeitigen Stand der Justizreformüberlegungen Ihres Hauses zu geben. Nach dem Ergebnis des Hearings zu dem Gesetz zur Änderung der Amtsbezeichnungen der Richter und der Präsidialverfassung der Gerichte sollten wir auch noch einmal ganz leidenschaftslos über die Prioritäten bei der Justizreform sprechen.Ich möchte hier heute einmal, weil ich das für unsere Aufgabe halte, auf den ideologischen Meinungsstreit zu sprechen kommen, der sich an der Diskussion über die Justizreform entzündet hat. Die Furcht vor dem politischen Griff nach der Justiz,
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Vogeldie Furcht vor der Umfunktionierung der rechtsprechenden Gewalt zu einem Instrument zur Umgestaltung der Gesellschaft ist gewachsen. Diese Furcht wird dadurch genährt, daß die Propogandisten einer so verstandenen Justizreform bevorzugte personalpolitische Förderung durch sozialdemokratische Justizminister in den Bundesländern finden. Meine Damen und Herren, die Art und Weise der Berufung Rudolf Wassermanns, des Präsidenten des „Aktionskomitees Justizreform", zum Oberlandesgerichtspräsidenten in Braunschweig war für viele nicht nur eine Provokation, sondern für viele auch ein Menetekel.
— Regt Sie das nicht auf, Herr Kollege Hirsch, was Wassermann, Wiethölter, Rasehorn und andere über die „soziale Gestaltungsaufgabe" des Richters, über den „Richter als Rechtsetzer", „Sozialingenieur", „Sozialarzt" überall im Lande in die Welt setzen?An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal den Kollegen de With ansprechen, mit dem ich auf dem Juristentag in Mainz aneinandergeraten bin wegen seiner Äußerung, notfalls müsse der Richter auch bereit sein, contra legem zu entscheiden.
Nehmen Sie mir bitte ab, Herr Kollege de With: mich hat diese Äußerung tief erschreckt, und was Sie seitdem zur Abschwächung dieser Äußerung gesagt haben, hat mich nicht beruhigt.
— Ich bin noch beunruhigt.
Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten de With?
Ja, bitte!
Ist Ihnen entgangen, daß ich seitdem nichts zur Abschwächung gesagt habe, sondern daß ich lediglich in einer Zuschrift an die FAZ wiederholt habe, was ich seinerzeit gesagt habe? Und ist Ihnen entgangen, daß ich dazu aufgefordert habe, das Protokoll nachzulesen und festzustellen, was ich genau gesagt habe?
Das Protokoll ist mir leider bisher nicht zugegangen, Herr Kollege de With. Aber es wäre sehr gut, wenn Sie die Gelegenheit nähmen, hier dazu Stellung zu nehmen,
hier dazu Ihre Auffassung zu sagen und uns den Argwohn in dieser Frage zu nehmen.
Als ich über diese ganzen Dinge nachdachte, stieß ich auf die elfte „Feuerbach-These" von Karl Marx Dort steht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt drauf an, sie zu verändern." Im Anschluß an diese „FeuerbachThese" Karl Marx' kann das Grundanliegen der neuen „politischen Rechtstheoretiker" dahin definiert werden: Während es der bisherigen, unmündigen oder unkritischen Rechtswissenchaft nur um verschiedene Interpretationen des Rechts gegangen ist, kommt es der „politischen Rechtswissenschaft" darauf an, das Recht zu verändern, geht es den Vertretern der „politischen Rechtstheorie" in erster Linie um eine Veränderung der Gesellschaft selbst.
Wundert es Sie eigentlich, daß auf dem Hintergrund solcher — ich sage das mit Bedacht revolutionärer Vorstellungen von der Funktion der Rechtsprechung alle Forderungen nach „Politisierung" und „Demokratisierung" der Justiz dem Argwohn und dem Mißtrauen ausgesetzt sind? Wundert es Sie, daß auch die Forderungen nach mehr „Transparenz der richterlichen Tätigkeit" unter diesen Umständen dem Argwohn und dem Mißtrauen ausgesetzt sind?
Ich möchte in dem Zusammenhang auch auf das etwas eingehen, was über die Einführungsrede des Herrn Wassermann in Braunschweig in der Presse berichtet worden ist. Dort ist berichtet worden, Wassermann habe sich zu einer „Justiz als Mittel der Steuerung des sozialen Lebens" bekannt und erklärt, die Justiz sei nicht „der Erbhof konservativen Denkens und konservierenden Handelns" ; die „offene Justiz" mache es in der Demokratie notwendig, daß „die Strömung des Zeitgeistes die Rechtspflege durchdringe". Solche Reden, meine Damen und Herren, tragen nicht dazu bei, gute psychologische Voraussetzungen für eine Justizreform zu schaffen.
Ich meine, daß die Vorstellungen der Vertreter der „politischen Rechtstheorie" an den Grundfesten des gewaltenteilenden Rechtsstaates rütteln.
Wir haben auf diese Theorie in unserem in Düsseldorf beschlossenen Programm die Antwort gegeben. Wir haben dort ausgeführt: „Die Rechtsprechung hat die geltende Rechtsordnung durchzusetzen und das Recht unter Beachtung der vom Gesetzgeber getroffenen Grundwertentscheidungen fortzuentwickeln".
Sie, Herr Bundesjustizminister, sollten auch Ihre Meinung klar sagen, damit der Argwohn aus den Plänen der Justizreform herauskommt, damit Beruhigung in der Richterschaft, in der Anwaltschaft und weit darüber hinaus eintreten kann. Ich meine, daß es dem Anliegen der Justizreform nur förder-
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Vogellieh sein könnte, wenn das möglichst klar und eindeutig hier geschähe — auch geschähe durch die Kollegen von der Koalition.
— Ich habe 45 Minuten angemeldet und habe die Absicht, sie zu nutzen, Herr Kollege, falls Sie die Freundlichkeit haben, mir das zu gestatten.
— Sehr nett!
Meine Damen und Herren, etwas möchte ich doch sagen — und ich meine, daß wir dazu etwas mehr sagen müßten — zum Thema „Reform des Ehescheidungsrechts". Wir sind ja dankenswerterweise— auch durch Sie, Herr Kollege Hirsch - darauf gestoßen worden, daß dies für Sie nun wirklich ein brennendes und wichtiges gesellschaftspolitisches Thema ist.
Sie haben in dem Beitrag, den ich schon zitiert habe, geschrieben, nicht auf einem Nebenkriegsschauplatz, sondern in der vorderen Kampflinie gesellschaftlicher Neuorientierung finde die Reform des Rechts der Ehescheidung statt. Genauso wichtig nehmen auch wir dieses Thema, und genau das ist der Grund, aus dem dieses Thema zwischen uns kontrovers geworden ist.Herr Bundesjustizminister, Ihre Pläne sind nicht nur wegen des Unterhaltsrechts, sondern auch wegen des Rechts der materiellen Scheidungsgründe in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. Ich möchte hier unsere Position ganz deutlich machen und hinzufügen, daß nach unserer Auffassung das Institut der Ehe, wie wir es uns vorstellen, durch Ihre Vorstellungen, wie sie uns in den bisher bekanntgewordenen Entwürfen zum Ausdruck gekommen sind, gefährdet erscheint. Für die CDU/CSU ist die Ehe als die unverzichtbare und unersetzbare Urzelle der menschlichen Gesellschaft eine grundsätzlich auf Lebenszeit angelegte Gemeinschaft, und das muß seinen eindeutigen Niederschlag im neuen Ehescheidungsrecht finden.
Ihre Vorschläge, Herr Minister, enthalten uns zu weitgehende Konzessionen an die Kräfte in unserer Gesellschaft, denen es nicht in erster Linie um die Ersetzung des Schuldprinzips durch das Zerrüttungsprinzip geht, sondern darum, den Ehepartnern ein Recht zur freien Disposition über die Institution der Ehe einzuräumen.
Gerade der automatische Kalendermechanismus, den Sie in Ihren Vorschlägen vorsehen, macht die Ehe zu einer einseitig aufkündbaren Gemeinschaft und begünstigt, vor allem auch durch den Verzicht auf eine materielle Härteklausel, die Verstoßung eines aus irgendwelchen Gründen lästig gewordenen Ehepartners.Ich darf hierbei eines hinzufügen, Herr Minister: Ihr Wort, die Ehe sei ja schließlich kein Versorgungsinstitut, halte ich für ein böses Wort, das die weitere Diskussion erheblich belasten wird, es sei denn, Sie nähmen es zurück.
Wir müssen auch über die Unterhaltskonzeption sprechen, die in Ihrem Entwurf enthalten ist. Meine Damen und Herren, der Herr Bundesjustizminister wehrt sich mit aller Leidenschaft gegen die Feststellung, durch das neue Unterhaltsrecht werde die Frau benachteiligt. — Wir bleiben nach sorgfältiger Analyse auch des Referentenentwurfs dabei, daß das Unterhaltsrecht so, wie es hier konzipiert ist, tatsächlich die Frau benachteiligt, zwar nicht die Frau, die im Erwerbsleben steht, aber die Frau, die sich während der Ehe ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter widmet.
Wir halten Ihre Unterhaltskonzeption für im Ansatz falsch. Ihre Konzeption ist auf möglichst rasche Liquidation der beiderseitigen Beziehung der Ehegatten nach der Scheidung abgestellt. Das führt z. B. dazu, daß eine Frau, die nach der Scheidung zunächst eine zumutbare Erwerbstätigkeit findet, nach einem Jahr aber infolge Krankheit für den Rest ihres Lebens erwerbsunfähig wird, keinen Anspruch auf Unterhalt haben wird.
— Das steht drin! Lesen Sie die Begründung des Referentenentwurfs nach. Sie werden das wortwörtlich so finden. Ich halte es einfach nicht für gut, daß dem Kollegen Benda vorgeworfen wird, er habe den Entwurf nicht gelesen, wenn offenbar diejenigen, die den Vorwurf erheben, es selber nicht genau gelesen haben.
— Ich habe es schon richtig gelesen. Ich habe es nicht nur einmal, sondern mehrmals richtig gelesen, weil ich es nicht glauben wollte. Aber es ist so.Herr Bundesjustizminister, machen Sie sich die Abwehr unserer Kritik an Ihrem Entwurf nicht zu einfach und auch nicht zu billig dadurch, daß Sie ganz einfach nur darauf hinweisen: ihr wart ja 20 Jahre dran, ihr habt das selbst nicht geschafft, kritisiert bitte nicht! — Das ist eine beliebte Art der Reaktion auf Vorwürfe der Opposition. Ich möchte Ihnen einmal sagen, das, womit Sie hier wechseln, das ist Notgeld, dessen Kurswert langsam ganz erheblich gesunken ist.
Meine Damen und Herren, übernehmen Sie unser Konzept von der fortwirkenden Verantwortung der geschiedenen Ehegatten füreinander, die zeitlich nicht befristet ist,
die insbesondere grundsätzlich gegenseitige Unterhaltsverpflichtungen auslöst und die vor allem auch
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VogelUnterhaltsansprüche, die aus irgendwelchen Gründen überlagert sind, wieder aufleben läßt. Dann werden wir in der Lage sein, uns in diesem Punkt zusammenzufinden.Das setzt allerdings voraus - das möchte ichzum Schluß zu diesem Thema hinzufügen —, daß Sie jedem Gedanken daran abschwören, daß Sie mit Hilfe des Ehescheidungsrechts ein bestimmtes Modell der Ehe in unserer Gesellschaft durchsetzen könnten.
Das setzt den Verzicht darauf voraus,
daß Sie die Ersetzung des Leitbildes der „Hausfrauenehe" durch das Leitbild der „Ehe, in der beide Ehegatten berufstätig sind", durch das Gesetz betreiben.
Das ist der Punkt, um den es hier geht. Dieses Leitbild steht dahinter, und ich wäre sehr viel beruhigter, wenn dem nicht so wäre.
- Ich habe ihn sehr sorgfältig gelesen!
— Hier spielt nicht nur der § 1356 eine Rolle! Meine Damen und Herren, für uns hat die Hausfrauenehe auch im Blick auf die Zukunft ihren unersetzbaren Wert, und deswegen wollen wir durch die Rechtsordnung voll — ich sage: voll! — die freie Entscheidung der Ehepartner darüber gewährleisten, ob die Ehefrau sich ausschließlich ihren Aufgaben als Hausfrau und Mutter widmen oder ob sie berufstätig sein soll. Das ist der Punkt, um den es hier geht.
— Herr Kollege Hirsch, ich habe z. B. in Mainz ausdrücklich der Neufassung des § 1356, so wie er vorgeschlagen wird, zugestimmt.
Dazu gehört aber eben nicht nur der § 1356, sondern dazu gehört die Herstellung der vollen Chancengleichheit der Nur-Hausfrau gegenüber der berufstätigen Ehefrau, und dazu gehört auch die eigenständige sozialversicherungsrechtliche Alterssicherung der Frau.
— Jetzt wechseln Sie wieder mit dem Notgeld, Herr Kollege Hirsch. Ich weiß, wie schwierig dieses Thema ist. Aber hier ist der Platz, wo wir den Einstieg in die eigenständige sozialversicherungsrechtliche Alterssicherung der Nur-Hausfrau, der Hausfrau schaffen müssen.
Das, meine Damen und Herren, ist für uns ein wichtiger Punkt einer Gesamtregelung.
Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Funcke?
Ja, gern.
Herr Kollege Vogel, trifft es zu, daß die Hausfrauenrente in Ihrem sonst sehr ausführlichen Düsseldorfer Programm nicht enthalten ist,
und trifft es darüber hinaus zu, daß Ihr zuständiger Arbeitskreis gerade erklärt hat, so etwa könne nur schrittweise und in sehr langsamen Schüben eingeführt werden?
Frau Kollegin Funcke, erstens glaube ich mich zu erinnern, daß die Hausfrauenrente in unserem Programm steht.
Zum zweiten: Auch ich habe gelesen, was Sie wahrscheinlich über die Arbeit unseres zuständigen Arbeitskreises gelesen haben. Ich habe soeben selber gesagt, daß ich mir über die Schwierigkeit dieses Themas klar bin. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß wir das nicht in einem Zuge schaffen können, daß es aber wichtig ist, hier einen guten Einstieg in eine solche Regelung zu finden. Wir haben uns erst am Samstagabend bei anderer Gelegenheit, Frau Kollegin Funcke, darüber ausführlich unterhalten können. Ich war — das darf ich Ihnen sagen — von diesem Gespräch durchaus angetan.Meine Damen und Herren, ich möchte langsam zum Schluß kommen.
— Wenn es für Sie so wesentlich ist, werden wir unser Programm sorgfältig durchlesen und Ihnen nachher die Stelle zeigen.Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, daß es uns um die Herstellung der vollen Chancengleichheit von Ehen geht, in denen die Ehefrau nicht berufstätig ist, und Ehen, in denen beide Ehepartner einem Beruf nachgehen. Das setzt allerdings voraus, die in der Öffentlichkeit das Bild der Nur-Hausfrau nicht systematisch abgewertet wird. Ich muß sagen, ich war einigermaßen erstaunt darüber daß die
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5512 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
VogelBundeszentrale für politische Bildung ein Pamphlet mit der Titelüberschrift in Umlauf gebracht hat: „Hausfrau — ein mieser .lob! Wir sind die Sklaven der Nation."
Genau das ist der Punkt, um den es uns hier geht. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
Hier schließt sich der Kreis, meine Damen und Herren. Herr Kollege Lenz, bitte!
Herr Kollege Vogel, wären Sie bereit, den sozialdemokratischen Kollegen
— und Frau Kollegin Funcke; ich bitte um Entschuldigung! — davon Mitteilung zu machen, daß es in Ziffer 99 des Programms heißt:
Langfristig soll für alle Frauen ein eigenständiger Anspruch auf eine ausreichende Sicherung im Alter und bei Invalidität angestrebt werden.
— Moment! Darf ich noch einen weiteren Satz vorlesen. — Unter der Überschrift „Rechts- und Justizpolitik" heißt es — würden Sie, Herr Kollege Vogel, das den Kollegen ebenfalls mitteilen -:
Die Ehe ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt. Bei der Reform des Eherechts werden wir dafür eintreten, daß eine am verfassungsmäßigen Schutz von Ehe und Familie und an der sozialen Wirklichkeit orientierte Neuregelung der Scheidungsgründe, der Scheidungsfolgen, der Unterhalts- und Alterssicherung des geschiedenen Ehepartners und des Eheprozeßrechts gleichzeitig verabschiedet wird.
Schönen Dank, Herr Kollege Lenz! Ich bin bereit —
Herr Kollege Vogel, es kommen noch zwei Fragen. Das wollte ich Ihnen nur sagen.
Darf ich erst diese Frage beantworten: Ich bin gern bereit, das den Kollegen beider Fraktionen schriftlich oder, wenn sie es besonders eilig haben, auch per Telegramm mitzuteilen.
Gestatten Sie zunächst eine weitere Zwischenfrage der Frau Kollegin Funcke, weil sie in diesen Sachzusammenhang gehört?
Gern, bitte!
Herr Kollege Vogel, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß Ihre Programmformulierung „langfristig für alle Frauen anstreben" reichlich verschwommen ist und keine Gewähr dafür bietet, daß allen Frauen auf Grund ihres Hausfrauendaseins konkret und kurzfristig eine eigenständige Versicherung gewährt wird? Kann das nicht vielmehr auch so ausgelegt werden, daß jeder selbst einzahlen mull?
Frau Kollegin Funcke, zunächst einmal möchte ich sagen, daß das ein Programm ist, das wir, wie wir hoffen, für eine lange künftige Regierungszeit verabschiedet haben.
Zum zweiten: Auf welchem Wege und mit welchen einzelnen Maßnahmen wir den Einstieg schaffen, darüber werden wir sprechen. Dazu gehört sicherlich auch die Ermöglichung der freiwilligen Weiterversicherung der Frau während der Ehe.
Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Kollegin Diemer-Nicolaus?
Aber sehr gern.
Herr Kollege Vogel, ich darf noch einmal auf den Schluß Ihrer Ausführungen zurückkommen, wo Sie den Titel „Hausfrau — ein mieser Job" zitiert haben. Ist das nicht darauf zurückzuführen, daß sich gerade in Zusammenhang mit dem Scheidungsrecht gezeigt hat, wie völlig unbefriedigend die jetzigen Unterhalts- und Versorgungsregelungen sind, wie stark gerade die Nur-Hausfrauen benachteiligt sind, und ist nicht insofern eine Reform ganz dringend geboten,
eine Reform, die in den letzten 20 Jahren nicht im geringsten in Angriff genommen wurde? Die Hausfrauenarbeit wurde doch nicht entsprechend gewertet.
Es hätte Sie niemand in der Vergangenheit gehindert. Sie hätten Gelegenheit gehabt, in dieser Frage intiativ zu werden.
— Augenblick. Darf ich eben die Frage beantworten, Frau Kollegin. Dann möchte ich eigentlich doch langsam zum Schluß kommen, wenn ich dem Kollegen Wagner dann noch Gelegenheit zu einer Zwischenfrage gegeben habe.Das Unterhaltsrecht ist der eigentliche Punkt, der eine Reform des Eherechts notwendig macht.
— Natürlich, das ist der Punkt.
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VogelAber der Punkt muß dann auch so geregelt werden, Herr Kollege Hirsch, daß eine wirklich befriedigende Lösung dabei herauskommt und daß wir nicht auf halbem Wege dabei stehenbleiben. Das ist für uns der entscheidende Punkt.
Herr Kollege Vogel, Sie haben schon angedeutet, daß Sie noch die Zwischenfrage des Herrn Kollegen Wagner gestatten. - Bitte.
Herr Kollege Vogel, wären Sie so freundlich, die Frau Kollegin Funcke als Finanzpolitikerin, da sie vorhin das Wort „langfristig" gerügt hat, darauf hinzuweisen, daß wir in diesem Zusammenhang auf dem Parteitag von „langfristig" gesprochen haben, weil es uns nicht seriös, nicht vernünftig, nicht redlich erschienen wäre, diesen eigenständigen Unterhaltsanspruch für übermorgen oder für morgen zu versprechen?
Das ist ja das, was uns unterscheidet, daß wir, wenn wir etwas ankündigen, es seriös ankündigen und dann nicht gezwungen sind, es morgen oder übermorgen zurückzunehmen.
Herr Kollege Lenz, bitte!
Herr Kollege Vogel, würden Sie bereit sein, die Frau Kollegin Funcke davon zu unterrichten, daß ihrem Anliegen in bezug auf Weiterzahlung von Beiträgen an die Sozialversicherung im Berliner Programm unter Nr. 94 Rechnung getragen ist? Dort heißt es: „Bestimmungen des Sozialversicherungs- und anderer Rechte, die dem entgegenstehen, sind zu ändern." Gnädige Frau, Sie sehen, unsere Weitsicht geht fast so weit wie Ihre.
Herr Kollege Lenz, ich darf mich herzlich dafür bedanken. Ich würde anregen, daß wir der Frau Kollegin Funcke ein Exemplar unseres in Düsseldorf beschlossenen Programms übersenden. Das wird sicherlich eine Fundgrube für neue Erkenntnisse über die politischen Absichten und Ziele der CDU/CSU sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Eine rechtspolitische Debatte findet in diesem Hause nicht oft statt. Ich bin der Auffassung, daß von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit besteht, eine solche Debatte hier zu führen. Ich bin dankbar, daß wir Gelegenheit haben, bei der zweiten Lesung des
Haushalts diese Debatte zu führen. Ich möchte zum Schluß sagen: Rechtspolitik ist im letzten eine Frage der Menschenrechte, Rechtspolitik ist im letzten auch eine Frage des Menschenbilds, Rechtspolitik ist im letzten auch eine Frage des Koordinatensystems, in das wir die einzelnen Fragen hineinstellen. Da, meine Damen und Herren, ist der Punkt, wo wir uns in unseren Vorstellungen von Rechtspolitik in sehr wesentlichen, in sehr grundsätzlichen Fragen von Ihnen unterscheiden.
Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines habe ich mit dem Herrn Kollegen Vogel gemeinsam, ich begrüße die Gelegenheit zu einer rechtspolitischen Debatte. Ich fürchte aber, wenn er gezwungen wäre, einiges von dem, was er hier ausgeführt hat, noch zu präzisieren, würde es schon schwieriger mit dem, worüber wir uns gemeinschaftlich verständigen können. Haben Sie keine Sorge, Ihren Versuch einer Ideologisierung der Debatte um unsere Rechtspolitik
werde ich nicht beantworten, weder in der Weise, daß ich versuchte, irgend etwas von dem, was Sie hier glauben angreifen zu sollen und was nicht Gegenstand meiner Politik ist, mit gleicher Münze heimzuzahlen, noch in der Weise, daß ich andere außerhalbliegende Äußerungen in diese Debatte einführte.Meine Damen und Herren, hier sind
— nein, Herr Kollege Vogel, ich möchte jetzt erst einmal im Zusammenhang antworten — bedauernde Worte an den Anfang gestellt worden über die Schwierigkeiten, zu einer breiten Mehrheit und zu einer Gemeinsamkeit in rechtspolitischen Entscheidungen zu kommen. Es wäre gut, Sie würden diese Frage an sich und Ihre eigenen rechtspolitischen Entscheidungen stellen. Als die erste Gelegenheit dazu in diesem Hause war, haben Sie das versäumt. Wir haben damals zur Reform des Demonstrationsstrafrechts unsere Vorschläge gemacht. Wir haben sie mit der erklärten Zielsetzung verbunden, einen Beitrag zur inneren Befriedung insbesondere im Verhältnis zur jungen Generation zu leisten. Wir haben damals gesagt, unsere Vorschläge dazu seien ein geeigneter Weg. Sie haben dazu nein gesagt. Sehen Sie sich in aller Ruhe und Gelassenheit den Verlauf der rechtspolitischen Entwicklung auf diesem Gebiete seither an, und beantworten Sie die Frage einmal ganz nüchtern für sich selbst, wer denn eigentlich recht gehabt hat.
Ich stelle fest, unsere Entscheidung, die Entscheidung dieser Regierung und dieser Koalition, für eineReform der Straftaten gegen die öffentliche Ord-
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Bundesminister Jahnnung hat dazu geführt, daß wir eine breite innere Befriedigung erreicht haben.
Der Erfolg spricht für unsere Politik und nicht für Ihre Haltung.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich habe gesagt, ich möchte meine Gedanken im Zusammenhang darlegen.
Sie haben in der Frage der Rechtspolitik Ihren Standpunkt dahin umrissen, daß Sie erklärt haben, Sie seien bereit, auch Ihren Beitrag dazu zu leisten, die Rechtsordnung an die gesellschaftliche Entwicklung anzugleichen. Ich antworte Ihnen darauf, Herr Kollege Vogel, wenn das alles ist, dann ist das zu wenig. Das reicht nicht.
Sie brauchen gar nicht den Anspruch zu erheben, mit den Mitteln der Rechtspolitik selbst die Gesellschaft verändern zu wollen,
aber Sie müssen über Ihren Standpunkt hinaus durch die Rechtspolitik gewährleisten, daß gesellschaftliche Entwicklungen auch nicht verhindert und verbaut werden.
Insofern muß ich Ihrer These in aller Deutlichkeit widersprechen. Unsere Rechtspolitik — und das ist ihr Ziel, ich komme darauf noch im einzelnen — hat an vielen Stellen diese Freiheit der Entwicklung der Bürger in unserem Lande erst herzustellen, die Sie bis heute in weiten Bereichen noch verhindern.
Sie haben sich darüber mokiert, daß die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform bezüglich des Sexualstrafrekts gesagt hat, und zwar bei Verabschiedung des Entwurfes nach der Stellungnahme zu den Äußerungen des Bundesrates, sie betrachte diese Vorlage als eine geeignete Diskussionsgrundlage für das Problem. Sie geraten in Widerspruch zu sich selber, wenn Sie auf der einen Seite mehr Bereitschaft zur Diskussion um eine breite Basis fordern und auf der anderen Seite, wenn Diskussionsbereitschaft ausdrücklich erklärt wird, dies wiederum als ein Zeichen der Schwäche deklarieren. So einfach können Sie sich das hier nicht machen.
Ich antworte Ihnen — vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal —: Diese Erklärung, daß der Entwurf eine geeignete Diskussionsgrundlage sei, war ausdrücklich mit der Feststellung verbunden, daß die Bundesregierung damit ihren Respekt vor der Tatsache bekunde, daß hier Reformen in einem Bereich zur Erörterung gestellt werden, in dem mehr als in anderen die persönliche und Gewissensentscheidung des einzelnen gefordert sei und patente Antworten auch im Rahmen politischer Gruppierungen und Fraktionen nicht so einfach gegeben werden könnten. Das war der Grund dafür.Ich halte es nach wie vor, auch im Hinblick auf die Debatten, die wir miteinander darüber noch zu bestehen haben, für richtig, eine Frage von diesem Gewicht, dieser Bedeutung und dieser Schwierigkeit — darüber sind wir uns hoffentlich einig — nicht in der Form anzugehen, daß man von vornherein für sich in Anspruch nimmt, in so schwierigen Bereichen Patentantworten parat zu haben.
Nur frage ich mich: Was ist nun eigentlich in Ihren Augen die Grundlage für die Strafrechtsreform? Da mache ich aus meiner Enttäuschung kein Hehl, deswegen nicht, weil ich wirklich der Auffassung war: Sosehr wir über die Realisierung der Entscheidungen in einzelnen Bereichen verschiedener Meinung sein könnten, so gibt es doch wenigstens über die Grundsätze und Grundlagen der Ziele der Strafrechtsreform keinen Streit, keine Meinungsverschiedenheiten. Ich muß Sie, Herr Kollege Vogel, und Ihre Fraktion fragen, ob denn noch der Grundsatz gilt, über den wir uns bisher hatten verständigen können, daß Gegenstand der Strafrechtsreform die ausschließliche Bezugnahme auf die Frage sein kann und muß, was denn geeignet ist, dem einzelnen oder der Gemeinschaft Schaden zuzufügen, d. h. die Frage der Sozialschädlichkeit.
Es ist vielleicht notwendig, Ihnen an dieser Stelle durch ein Zitat eine kleine Denkhilfe zu geben — ich werde Ihnen gleich sagen, woher das Zitat stammt —:Es ist zu fragen, ob der Rechtsgüterschutz die alleinige rechtliche und kulturelle Funktion der Strafrechtsordnung sei oder ob das Strafrecht auch eine in der Sozialethik verankerte sittenbildende Aufgabe habe.
Es ist davon auszugehen, daß das Strafgesetz zahlreiche Gebote der in der Gemeinschaft lebendigen Sittenordnung bestätigt, indem es grundlegende sittliche Normen, wie sie schon im Dekalog ausgesprochen sind, in der Sprache des Gesetzes wiederholt und den Rechtsgenossen erneut vergegenwärtigt.
Somit kann dem Strafrecht ein gewisser sozialpädagogischer Charakter nicht abgesprochen werden.
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Bundesminister JahnEs geht jedoch zu weit, dem Strafrecht eine eigene sittenbildende Kraft zuerkennen und ihm selbständige Richtpunkte für das sittliche Wollen und Handeln des Menschen entnehmen zu wollen. Ferner wird das Wesen des Strafrechts verkannt, wenn als eines seiner Hauptziele die Beeinflussung der menschlichen Gesinnung, vor allem in moralischer Hinsicht, gefordert wird. Trotz der engen Verbundenheit zwischen Sittlichkeit und Recht ist das Strafrecht wie auch das Recht als Ganzes nicht in erster Linie der Moralität zugeordnet, sondern es ist gemäß seiner eigenständigen Aufgabe vornehmlich am Gedanken des Schutzes menschlicher Lebensgüter orientiert.
Dies ist zitiert aus dem von der Görresgesellschaft herausgegebenen, bei Herder erschienenen Staatslexikon.Ich möchte jetzt von Ihnen, Herr Kollege Vogel, gerne wissen, ob dies nach wie vor die gemeinsame Basis für die Verwirklichung der Strafrechtsreform ist oder ob Sie diese bisher gemeinsame Basis verlassen wollen.
Ich habe aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, den Eindruck, daß Sie nicht mehr sicher auf dieser Basis stehen. Wenn dieser Eindruck richtig ist, dann wird es allerdings schwierig, zu der von Ihnen hier geforderten Gemeinsamkeit zu kommen.
Sie haben hier die Frage nach dem § 218 aufgeworfen. Ich stelle dazu folgendes fest.Erstens. Es gibt bisher, auch wenn das gelegentlich nicht nur gegenüber Leuten, die da polemisieren wollen, dementiert werden muß, keine Vorlage und keine formulierten Vorstellungen des Bundesministeriums der Justiz.
— Sie müssen mir schon überlassen, hier festzustellen, was ich festzustellen für notwendig halte.
— Na, wenn, dann legen Sie schon ein bißchen dazu!
Zweitens. Wir arbeiten an der Vorbereitung des 5. Strafrechtsreformgesetzes, bei dem auch in dieser Frage eine Klärung erfolgen muß. Sie wissen — ich habe das in wiederholten Erklärungen sehr deutlich gesagt und wiederhole es hier —: ich bin der Überzeugung, daß auch das werdende Leben dem besonderen Schutz, wie ihn das Grundgesetz ausdrücklich formuliert, untersteht. An diesem Grundsatz und an dieser meiner persönlichen Überzeugung — eine Meinung der Bundesregierung habe ich hier nicht zuformulieren — gibt es keine Fragezeichen anzumerken.Allerdings: damit, daß Sie solche allgemeinen Feststellungen treffen, können Sie sich der Notwendigkeit, in der Reformdiskussion noch etwas genauer Stellung zu beziehen, nicht entziehen.
Sie wissen ganz genau, daß mindestens eine Frage wie die der ethischen Indikation diskutiert werden muß, ohne daß man sich einfach auf den allgemeinen Grundsatz zurückzieht.
Wenn Sie hier von Gemeinsamkeit reden, so erwarte ich eigentlich, daß Sie dazu auch dadurch einen Beitrag leisten, daß Sie in der Diskussion nicht einfach vor der Tatsache ausweichen, die Ihnen genauso gut wie mir bekannt sein sollte, nämlich der Tatsache, daß es in diesem Lande unbestrittenermaßen jährlich Hunderttausende von Fällen illegaler Abtreibung gibt, die unendliches Leid über die betroffenen Menschen bringt. Daran kann der Strafgesetzgeber in einer solchen Diskussion nicht einfach vorbeigehen, auch wenn es noch so schwierig ist, darauf eine befriedigende Antwort zu finden. Wir werden uns jedenfalls dieser Diskussion stellen, und wir werden versuchen, aus unserer Sicht eine richtige, vertretbare und angemessene Lösung vorzuschlagen.
Der Versuch, zur Frage der Justizreform bei einigen Autoren des „Rheinischen Merkurs" abzuschreiben, war ja nun wirklich nicht überzeugend.
Allerdings frage ich mich, woran es wohl liegen mag, daß eine so erfreulich klare Aussage der CDU zur Frage der Justizreform und zum Gerichtsaufbau wie die im Berliner Programm in dem Düsseldorfer Programm unter den Tisch gefallen ist.
— Ich kenne nur den Zusammenhang, Herr Vogel, daß bei Ihnen offenbar nicht mehr die Bereitschaft besteht, in dieser Frage, über die lange genug diskutiert wird, eine klare Position zu beziehen.Meine Position in dieser Frage ist klar. Ich will sie Ihnen hier in wenigen Sätzen noch einmal aufzeigen, ohne damit den im Rechtsausschuß des Bundestages bereits angekündigten und demnächst abzugebenden Bericht über die Reformvorstellungen im einzelnen vorgreifen zu wollen.Niemand kann bestreiten, daß die gegenwärtige Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf den Vorstellungen des Jahres 1877 gegründet ist. Die gerechtfertigte Frage, wie diese Organisation in unserer Zeit aussehen könnte, ist noch nicht beantwortet. Wir müssen — das ist in der Regierungserklärung ausdrücklich gesagt — zu einem drei-
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Bundesminister Jahngliedrigen Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit übergehen, weil wir ausreichend große, ausreichend organisierte und in ihrer Zusammensetzung und technischen Ausstattung leistungsfähige Gerichte brauchen. Überall in der Verwaltung wird heute in zunehmendem Maße mit modernen Mitteln der Arbeitstechnik — auch der bürokratischen Arbeitstechnik — gearbeitet. Sie können nicht im Ernst wollen, daß die Justiz davon ausgenommen ist. Wenn die Justiz leistungsfähig sein soll, müssen Sie sie ebenso dazu in den Stand versetzen, sich dieser Mittel zu bedienen, wie das im öffentlichen Leben unseres Landes der Fall ist. Dazu gehören elektronische Datenverarbeitungsanlagen ebenso wie eine moderne Einrichtung und Ausstattung der Gerichte. Solche Pläne können Sie im Bereich kleiner, mit einem Richter besetzter Amtsgerichte nicht realisieren. Wir müssen deshalb zu einer Neuorganisation der Gerichtsbarkeit kommen. Wenn Sie aber eine solche Neuorganisation anstreben, stellt sich eine Fülle von Fragen, die nicht kurzfristig beantwortet werden können. Die Neugliederung der Gerichte erfordert in den Ländern erhebliche Vorbereitungen zeitlicher und auch materieller Art. Deswegen ist es notwendig, im gegenwärtigen Zeitpunkt Antworten auf die Fragen sowohl nach der Mindestgröße der Gerichte als auch nach der zukünftigen Aufgabenverteilung der Gerichte zu finden. Die Länder müßten in den Stand versetzt werden, in einem Zeitraum von acht bis zehn Jahren das vorzubereiten, was zur Verwirklichung einer modernen Gerichtsorganisation erforderlich ist. Diese Themen werden Gegenstand unserer Vorschläge sein. Darüber wird im einzelnen zu berichten sein.Zweitens ist in diesem Zusammenhang die Frage der Vereinfachung und Vereinheitlichung unseres Verfahrensrechts zu nennen. Am Dienstag dieser Woche hat sich eine Kommission aus angesehenen Männern der Praxis und der Wissenschaft einschließlich Vertretern der beteiligten Ressorts der Bundesregierung konstituiert und ihre Arbeit aufgenommen, eine Kommission, die die Aufgabe übernommen hat, die Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Sozialgerichtsgesetzes vorzubereiten. Wir werden in diese Überlegungen auch die Zivilprozeßordnung und das Arbeitsgerichtsgesetz einzubeziehen haben, damit, wo immer das möglich ist, so viel wie möglich an einheitlichen Regeln entstehen kann.Es ist nicht zu verstehen, es ist nicht gerechtfertigt, daß wir z. B. für die Frage der Einlegung einer Beschwerde oder einer Berufung in den verschiedenen Gesetzen völlig unterschiedliche Fristen haben: einmal vierzehn Tage, einmal vier Wochen, einmal einen Monat, dann wieder noch längere oder noch kürzere Fristen. Eine solche unübersichtliche Situation ist auf die Dauer weder dem Bürger noch den sonst am Rechtsleben Beteiligten zuzumuten, ganz abgesehen davon, daß bei dieser Gelegenheit — wie schon bei der Zivilprozeßordnung im Gange — immer wieder überprüft werden muß, was wir denn eigentlich tun können, um die Verfahren vor den Gerichten spürbar zu beschleunigen.
Ich wiederhole etwas, was ich in früheren Zusammenhängen schon einmal gesagt habe: Ein Urteil, das den Bürger zu spät erreicht, nach einem zu langen Zeitablauf, kommt eher einer Rechtsverweigerung denn der Erfüllung der Rechtsprechung gleich.
Die Arbeiten, die wir jetzt aufgenommen haben, dienen dem Ziel, dem Bürger schnell zu einem überzeugenden Urteil zu verhelfen.Das dritte, was wir in der Justizreform für notwendig halten, ist eine Ausweitung der Zahl derjenigen, die als Richter in die Justiz kommen, nachdem sie sich in anderen Berufen bewährt haben, eine Modernisierung der Ausbildung der Juristen und eine Verbesserung der richterlichen Weiter-und Fortbildung.Diese drei Themen — Neugliederung der Gerichtsbarkeit, Verbesserung und Vereinheitlichung des Verfahrens, Verbesserung der Juristenausbildung und -fortbildung — sind die drei Füße, auf denen die Justizreform steht. Und jetzt frage ich Sie, Herr Kollege Vogel: Was hat alles dieses an nüchternen und sachlichen Notwendigkeiten eigentlich mit Ihrem Gerede von Ideologien in diesem Zusammenhang zu tun?
Meine Antwort darauf: überhaupt nichts. Legen Sie hier in eine sachlich notwendige Arbeit nicht einen Ton, der Sie eines Tages außerstande setzt, an einer vernünftigen Regelung dieser umfassenden Aufgaben in Ihrer Verantwortung, von der Sie so gerne gesprochen haben, mitzuwirken!
Das letzte: Sie haben hier versucht, eine sehr prinzipielle Kritik an den von mir vorgelegtenEntwürfen zum - ja, schon da muß ich überlegen,wie ich sagen soll - Eherecht zu üben. Sie habenvom Scheidungsrecht gesprochen; ich rede vom Eherecht. Das ist nicht nur ein anderes Wort,
sondern dies ist auch eine Aussage darüber, was denn Gegenstand, Inhalt und Ziel dieser notwendigen Reform ist.Um ein Wort, auf dem Sie hier mit besonderem Genuß herumgehackt haben, einmal aus der Welt zu räumen: Ich habe niemals gesagt — wie Sie es hier zitiert haben —, die Ehe sei kein Versorgungsinstitut. Ich habe mich vielmehr in einem ganz bestimmten Zusammenhang gegen die Forderung gewehrt, daß man eine Ehe selbst dann, wenn sie gescheitert ist, aufrechterhalten soll, obwohl sie außer ungelösten Unterhaltsproblemen keinerlei sonstigen Inhalt mehr hat. Ich sage Ihnen hier noch einmal: Eine solche, jeden Inhalts entkleidete Ehe ist nicht die Ehe, die Art. 6 des Grundgesetzes schützt.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5517
Bundesminister JahnIch hoffe, daß dieses klare Wort im Hinblick auf jenes Wort, das Sie hervorgeholt haben, um offenbar damit die Diskussion hier aus Ihrer Sicht zu vergiften, genügt, diesen Punkt ein für allemal auszuräumen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich habe gesagt, ich möchte meine Überlegungen hier im Zusammenhang darlegen.
— Machen Sie es sich doch nicht so billig. Wenn Sie wollen, können wir hier noch ein paar Stunden über Einzelheiten diskutieren.
— Ich weiß nicht, welche Schlußfolgerungen Sie daraus ziehen wollen.
ich habe lediglich meine Absicht darzulegen und damit auf die Fragen zu antworten, die hier von Herrn Kollegen Vogel aufgeworfen worden sind.Ich möchte zwei Feststellungen an den Anfang meiner Stellungnahme zum Eherecht stellen.Erstens. Es ist nicht zu bestreiten, daß das Eherecht, so wie es heute ist, nicht zuletzt geprägt durch Vorstellungen aus einer Zeit, in der Sie das ziemlich allein hier im Hause machen konnten, in seinen Grundlagen reformbedürftig ist, von der Ausgestaltung des Rechts der Eheführung über das Recht der Eheschließung bis hin zur Regelung der Scheidungsfolgen. Das heutige Eherecht ist ungerecht, es benachteiligt die Frauen, und es führt zu unerträglichen Zuständen bei der Durchführung von Scheidungsprozessen. Wir wünschen, daß diese unerträglichen Zustände durch eine Reform des Eherechts überwunden werden.
Meine Frage an Sie ist: Herr Kollege Vogel, sind Sie bereit, an einer Reform des Ehescheidungsrechts, die von diesen Feststellungen her begründet werden muß, mitzuwirken, oder sind Sie es nicht?
— Reden Sie doch nicht so, als hätten Sie hier nur einen bestimmten Entwurf zu verurteilen und könnten sich auf diese Weise um eine Antwort auf dieFrage herumdrücken, ob diese Reform notwendig ist oder nicht, Dazu schweigen Sie sich aus.
— Meine Antwort ist: Diese Reform ist notwendig.
Sie haben die Chance — wir werden darüber noch zu reden haben , Ihre Vorstellungen in diese Reformdiskussion einzubringen.Zu der Frage, ob die Ehe auf Lebenszeit angelegt ist, wiederhole ich meine mehrfachen Feststellungen: Dies ist nicht eine Frage, die ich als disponibel für den einfachen Gesetzgeber ansehe. Ich bin der Überzeugung, daß die Ehe nach der eindeutigen Aussage des Art. 6 des Grundgesetzes auf Lebenszeit angelegt ist, als solche geschützt ist und daß dies Grundlage jeder eherechtlichen Gesetzgebung zu sein hat.
Die zweite Feststellung. Es ist eine Unterstellung— die ich nicht akzeptiere und die durch ständige Wiederholungen nicht wahrer wird , daß ich versuchte, ein bestimmtes einseitiges Leitbild der Ehe zu propagieren oder zu verwirklichen. Ich habe nicht ohne Grund deshalb meine Frage nach Ihren Vorstellungen erhoben. Ich sage Ihnen: heute haben wir es in unserer Gesetzgebung mit der Festschreibung eines einseitigen und deswegen falschen Leitbildes der Ehe zu tun. Das heute geltende Recht geht davon aus, daß die Ehefrau nur Hausfrau sein könne und daß alles andere nur die außergewöhnliche Ausnahme sei.
Und das in einem Zeitpunkt, da in diesem Lande 10 Millionen verheiratete Frauen neben der Ehe einem Beruf nachgehen und durch diese so ausgestaltete Gesetzgebung benachteiligt werden. Der Gesetzgeber hat weder ein solch einseitig festgelegtes Leitbild aufrechtzuerhalten, noch hat er es durch ein neues, einseitiges Leitbild mit einer anderen Alternative festzulegen.Ich stelle fest: unsere Aufgabe kann nur sein, den Beteiligten die Freiheit der Entscheidung zu sichern, die sie heute nicht haben, also die Freiheit der Entscheidung für die Ehefrau gleichermaßen wie für den Ehemann, für ihre Ehe im Einzelfall jenes Leitbild festzulegen, das sie in gegenseitigem Einvernehmen für richtig halten
und nicht eine Regelung aufrechtzuerhalten, die, wie das geltende Recht, den Versuch macht, sie zu gängeln.
5518 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971Bundesminister JahnDies ist meine Grundlage für die Ausgestaltung des neuen Eherechts.
Sie erscheint mir als einzige möglich. Der Versuch einer Festlegung weder in der bisherigen Form noch in einer neuen Form auf ein einseitiges Leitbild wird weder von mir betrieben, noch halte ich ihn für zulässig.
Damit ist zugleich das erste Prinzip deutlich gemacht worden, von dem unsere Reformvorstellungen ausgehen. Das gleiche Recht für beide Ehegatten innerhalb der Ehe muß gewährleistet sein. Das wird durch die inzwischen auch von Herrn Vogel akzeptierte vorgesehene Änderung der ehelichen Lebensführungsvorschriften beispielsweise in § 1356 ausdrücklich erreicht.Es gibt eine grundsätzliche Übereinstimmung darüber, daß das bisher für das Scheidungsrecht geltende Verschuldensprinzip durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst werden soll. Hier wissen wir uns nicht nur grundsätzlich mit dem weitaus überwiegenden Teil derjenigen einig, die sich wissenschaftlich mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, sondern insbesondere auch mit der erklärten Auffassung der beiden großen Kirchen in unserem Lande. Diese Entscheidung wird eine sehr weitreichende Veränderung der bisherigen Grundlagen des Scheidungsrechts ermöglichen.Die Frage ist, wie das Scheidungsrecht im Hinblick auf das Zerrüttungsprinzip im einzelnen ausgestaltet werden soll. Das ist in der Tat ein Punkt der Diskussion. Hier haben wir keine vorgefaßte, endgültige Meinung in der Richtung, daß wir meinten, daß es um rechtsdogmatisch reine, saubere Lösungen gehe, sondern wir haben die Vorstellung, daß wir eine Lösung finden müssen, die den berechtigten Interessen beider Ehegatten in einer so schwierigen Situation gleichermaßen gerecht werden kann.Zum Unterhaltsrecht habe ich wiederholt erklärt und erkläre hier noch einmal: dafür gibt es eine einfache Leitlinie. Das Unterhaltsrecht muß sich nach dem Grundsatz ordnen, daß derjenige, der in und nach einer Ehe der wirtschaftlich und sozial Stärkere ist, dem anderen, dem wirtschaftlich und sozial Schwächeren, die notwendige Hilfe zu geben hat. Dies ist bereits die Leitlinie des Diskussionsentwurfs gewesen. Dies ist die weiterhin beibehaltene Leitlinie des Referentenentwurfs. An dieser Leitlinie werden wir festhalten und sie, wenn es möglich ist, in den Einzelausgestaltungen noch verbessern.Schließlich haben Sie, Herr Kollege Vogel, das vierte grundsätzliche Thema in diesem Zusammenhang angeschnitten, die Alterssicherung der Frau. Hier muß ich in aller Offenheit etwas sagen, was Sie meinen, mit einer Handbewegung vom Tisch wischen zu können. Sie versteigen sich heute hier zu einer Forderung, die ich nur mit Zustimmung, aber dennoch nicht ohne Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann: daß zunächst einmal die Frage der sozialen Sicherung der Frau insgesamt gelöstwerden müsse, bevor man an die Lösung dieser Probleme der Eherechtsreform gehe.Ich sage Ihnen dazu: woher nehmen Sie eigentlich den Mut, eine solche Forderung in diesem Zeitpunkt und bei der Diskussion dieser Frage aufzustellen, nachdem 20 Jahre lang von Ihrer Seite die Möglichkeit dazu bestand und nicht ergriffen worden ist, in der Frage der sozialen Sicherung der Frauen in unserem Land wenigstens einen bescheidenen Fortschritt zu erreichen? Sie haben das bis zum heutigen Tage nicht getan.
Wenn Sie jetzt bei dieser Gelegenheit mit dieser Forderung aufkommen, dann können Sie nicht den Anspruch erheben, daß Sie besonders glaubwürdig seien.Wir haben mit dem Vorschlag, in der Alterssicherung einen ersten Schritt zu tun, einen Beitrag dazu geleistet, daß die Diskussion um die soziale Stellung der Frau in unserer Gesellschaft in einem Maße in Gang gekommen ist, wie ich das nur dankbar verzeichnen und begrüßen kann. Diese Diskussion — das wissen Sie so gut wie wir — wird nicht mit einem Schlage zu einer Lösung geführt werden können. Aber ,darüber bin ich mit meinem KollegenArendt im Prinzip einig wir werden in Richtung auf eine selbständige Alterssicherung der Frauen erste Schritte über die Lösungsvorschläge im Rahmen der Reform des Unterhaltsrechtes hinaus vorschlagen und damit auch deutlich machen, in welcher Form, in welchen Regelungen im einzelnen diese schwierige, diese umfassende und diese erst in längeren Abschnitten zu verwirklichende Frage einer Lösung zugeführt werden kann.
Meine Damen und Herren, damit habe ich auf die Punkte, die Sie hier im Prinzip angeschnitten haben, meine Antwort gegeben.Ich komme auf das zurück, was Herr Kollege Vogel am Anfang gesagt hat: daß man Rechtspolitik möglichst gemeinsam führen sollte und die Entscheidungen, die dazu notwendig sind, möglichst gemeinsam treffen sollte. Ich wiederhole hier: ich bin mit Ihnen der Meinung, die Gestaltung der Rechtsordnung, die für alle Bürger dieses Landes verbindliche Maßstäbe setzt, ist eine so schwierige und weitreichende Entscheidung, daß ich es begrüßen würde, wenn möglichst viele Entscheidungen in diesem Bereich auf einer breiten Basis zustande kommen könnten. Aber haben Sie bitte keinen Zweifel daran: die Vorschläge, die hier gemacht werden, werden von einem sozialdemokratischen Bundesminister der Justiz gemacht.
Diese Vorschläge werden von einer Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten getragen. Diese Koalition und ich selber werden es an der Bereitschaft, mit Ihnen um sachgerechte und faire Lösungen zu ringen und uns auseinanderzuset-
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Bundesminister Jahnzen, nicht fehlen lassen. Aber wenn Sie versuchen, diese Diskussion durch Ideologisierungstendenzen und ähnliche Unterstellungen zu polarisieren,
wie Sie es in Ihrer Rede getan haben, dann, fürchte ich, wird an Ihnen die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Rechtspolitik scheitern. Ich würde das bedauern. Aber seien sie sicher, wir werden uns deswegen nicht davon abbringen lassen, unsere rechtspolitischen Vorschläge diesem Hause zu unterbreiten, und wir werden sie auch durchzusetzen wissen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Diemer-Nicolaus. Ihre Fraktion hat eine Redezeit von 20 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte Ihnen, Herr Bundesjustizminister, hier an allererster Stelle für die ausgezeichnete Rede danken, die sie soeben gehalten haben. Sie hat vollkommen klargestellt, daß die Freien Demokraten und die Sozialdemokraten, gerade wenn es sich um so wichtige Fragen wie die Gestaltung unseres Rechtswesens handelt, mehr Gemeinsamkeiten besitzen und besessen haben, als es je zwischen der CDU und der FDP möglich gewesen ist.
Die Rede, die Sie, Herr Kollege Vogel, heute hier gehalten haben, hat mich doch einigermaßen betroffen gemacht. Wenn ich mir allerdings vergegenwärtige, was ich in den letzten Monaten erlebt habe und wie gestern in einer Weise argumentiert wurde, die klarmachte, daß von seiten der Opposition keine faire Diskussion um die politischen Probleme geführt, sondern hier — ob in Fragen an die Regierung, in Fragen in der Fragestunde oder in Zwischenfragen — mit Unterstellungen gearbeitet wird und daß die Dinge objektiv unrichtig dargestellt werden, dann wundert mich das, was Sie gesagt haben, nicht.Herr Kollege Vogel, Sie haben heute verschiedene Probleme angesprochen. Ich möchte und kann nicht auf alles eingehen; außerdem hat der Herr Justizminister soeben in ausgezeichneter Form zu Ihren Ausführungen Stellung genommen. —Aber zu dem, was ich soeben angesprochen habe: die Unruhe, von der Sie sprechen. Woher kommt sie denn? Sie kommt doch daher, daß die Dinge nicht richtig dargestellt werden. Ich will nur ein kleines Beispiel nehmen, das Sie hier heute wohlweislich nicht gebracht haben - dazu sind Sie zu klug —, das aber zeigt, wie es draußen dann schallt. Im Bonner „General-Anzeiger" von gestern steht groß auf Seite 17: „Eine Million Flugblätter sollen für ,Aktion Porno-Stop' werben". Und dann heißt es im Text:Hannelore Pöppinghaus— das ist eine rheinische CDU-Abgeordnete -geht es darum, zum Kampf gegenund jetzt wird sie zitiert —„perverse, sadistische und masochistische Darstellungen" aufzurufen.Herr Vogel, Sie und alle, die hier die CDU vertreten, wissen doch ganz genau, daß im Vierten Strafrechtsänderungsgesetz all diese Dinge weiterhin verboten bleiben und daß gar nicht. daran gedacht wird, diese Darstellungen freizugeben.
Gegen derartige Unterstellungen wehre ich mich mit aller Eindeutigkeit! Sämtliche Zuschriften, die hier so eingehen, sind aber auf diesen Nenner abgestimmt. Woher kommt das aber?Ich möchte heute nicht so etwas wie eine erste Lesung von Gesetzen, die erst noch vorgelegt werden, veranstalten. Ich finde es aber ausgezeichnet, Herr Justizminister - denn es entspricht unserem demokratischen Staatsempfinden -, daß Sie die Öffentlichkeit schon von Ihren Vorstellungen unterrichten und diese damit zur Diskussion stellen. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß wir Freie Demokraten, als wir — es war von 1953 bis 1961 - in der Opposition waren, noch nicht einmal von den Referentenentwürfen Kenntnis bekamen. Alle anderen wußten davon, nur wir erfuhren nichts. Ich halte die heutige Handhabung für demokratischer: eine Diskussion, die so geführt wird, daß ihre Ergebnisse im Justizministerium nicht ungehört verhallen, sondern gegebenenfalls sogar schon im Referentenentwurf zu besseren Formulierungen führen, wie es jetzt beim Scheidungsrecht der Fall ist.Zu dem, was wir zu kritisieren haben, gehört ouch, daß die Dinge unrichtig dargestellt werden. In der Diskussion des Scheidungsrechts wird so getan, als wären heute das Unterhalts- und das Versorgungsrecht für die Frauen gut, als würden diese Rechte jetzt verschlechtert. Meine Damen und Herren, das stimmt doch gar nicht! Das haben Sie, Herr Vogel, auf meine Zwischenfragen jetzt auch zugegeben. Es mußte doch erst die ganze Diskussion in Gang kommen, damit man sich von seiten der CDU überhaupt einmal zu einem Reformwillen in dieser Hinsicht bekannte; ob sich auch die CSU in der Zwischenzeit zu diesem Willen bekannt hat, weiß ich nicht, Herr Kollege Jaeger, denn es liegen von Ihrer Partei dazu noch keine Äußerungen vor.
Vorhin wurde auch etwas zur sozialen Sicherung, zur Alterssicherung gesagt. Ich möchte in Ergänzung dessen, was Sie, Herr Justizminister, ausgeführt haben, noch auf folgendes hinweisen. Bis zum Jahr 1957, bis zur Rentenreform, bestand eine — allerdings außerordentlich bescheidene — Möglichkeit für Hausfrauen, sich in der Sozialversicherung zu versichern. Diese Möglichkeit wurde damals von Ihnen, die Sie die absolute Mehrheit hatten, gegen die Stimmen der Freien Demokraten und gegen die
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5520 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Frau Dr. Diemer-NicolausStimmen der Sozialdemokraten restlos beseitigt. Da dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir heute noch etwas skeptisch sind, wie weit sich Ihr Reformwille nachher auch in Taten auswirken wird, wie weit es nicht nur bei — Frau Kollegin Funcke hat es treffend bezeichnet — allgemeinen, schwammigen Formulierungen bleibt.Sie sprachen vom Einstieg. Ich bin der Meinung, man wird nicht alles auf einmal machen können. Man muß einen Stufenplan aufstellen, wie die Alterssicherung der Frauen — nicht nur der geschiedenen, sondern aller Frauen und gerade auch der Nur-Hausfrauen — verbessert und wie der heutigen sozialen Stellung der Frau in der Ehe und in der Gesellschaft Rechnung getragen werden kann. Es muß ein konkreter Plan vorliegen, der stufenweise verwirklicht wird.Nun zu etwas, wovon Sie, Herr Kollege Vogel, nicht gesprochen haben. Es wird gesagt, zuerst müsse die Sozialreform kommen, erst dann könne die Reform der Ehescheidung erfolgen. Damit schiebt man diese so dringend notwendige Reform des Eherechts und des Scheidungsrechts auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinaus.
— Ich habe nur 20 Minuten Zeit!
— Das erleben Sie doch immer wieder!
— Sie lesen es in den Schriften von der Kirche, die wir jetzt gerade bekommen haben. Wenn ich mich recht erinnere, Herr Kollege Vogel, haben auch Sie sich bei den Diskussionen, die wir verschiedentlich darüber geführt haben, in dieser Form geäußert.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das nicht der Inhalt meiner Ausführungen war, und sind Sie bereit, darüber noch einmal ein sachliches Gespräch zu führen, nachdem Sie das, was ich ausgeführt habe, nachgelesen haben?
Herr Kollege Vogel, habe ich nicht gesagt, daß Sie das hier nicht gesagt haben? Das möchte ich klargestellt haben. Aber draußen in den Diskussionen geht es doch darum, und warum soll man es dann nicht auch hier aussprechen? Ich sagte schon: Sie sind ein kluger Jurist und haben es deshalb wahrscheinlich wohlweislich hier nicht gesagt.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Frau Kollegin, Sie weisen mit Recht darauf hin — ich gestehe Ihnen dieses Recht zu —, daß Sie auf das Bezug nehmen, was in der Diskussion draußen geäußert wird. Gestehen Sie dann auch mir zu der Herr Bundesjustizminister hat das vorhin mit einer Handbewegung vom Tisch gefegt , daß ich hier auch das zur Sprache bringe, was in anderen Fragen, etwa zum Thema Justizreform, draußen im Lande diskutiert wird und die Gemüter beunruhigt?
Ich gestehe jedem Kollegen und jeder Kollegin volle Rede- und Meinungsfreiheit zu. Das ist für mich als tolerante Freie Demokratin doch selbstverständlich, auch wenn wir verschiedene Auffassungen haben.
Hier gilt es, im Zusammenhang mit der so dringend notwendigen Scheidungsreform auch diese Probleme schon in den Griff zu bekommen.
Herr Kollege Vogel, Sie hatten am Anfang eine sehr großzügige Zeitrechnung vorgenommen, als Sie sagten, nachdem nahezu die Hälfte der Legislaturperiode vorüber sei, sei es Zeit, eine rechtspolitische Zwischenbilanz zu ziehen. Sie taten so, als ob —
— Na ja.
— Aber, es klang so, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen, auch wenn noch keine großen Reformen in Angriff genommen worden sind.
Ich habe mich gefragt, warum dann der Rechtsausschuß so häufig und lange tagt.
Ist in bezug auf die Rechtsfragen tatsächlich nichts geschehen? Warum hat der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform schon so viele Sitzungen abgehalten? Er hat immerhin zwei sehr wichtige Gesetze, das Gesetz zur Reform der Demonstrationsdelikte, das zu einer Beruhigung und zu einer Klarheit, wie die Dinge heute zu behandeln sind, geführt hat,
und das Bundeszentralregistergesetz beraten?
Gestern wurden die Vorschläge der Strafrechtskommission vorgelegt. In dieser Kommission und auch in den anderen Kommissionen, die der Herr Justizminister genannt hat, arbeitet das Justizministerium mit. Diese Mitarbeit muß man sehen und auch anerkennen.
Die Frage des § 218 will ich jetzt nicht erörtern. Dabei handelt es sich um schwierigste Probleme. Hierzu warte ich die Regierungsvorlage ab. Ich meine aber — insofern stimme ich mit dem Herrn Justizminister und mit der Regierung überein —, daß das Gegenstand des Fünften Strafrechtsänderungsgesetzes werden muß.
Frau Dr. Diemer-Nicolaus
Herr Justizminister, ich habe aber noch eine andere Bitte. — Herr Lenz!
Gnädige Frau, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Neuregelung des Abtreibungsrechts das Fünfte Strafrechtsänderungsgesetz werden soll?
Herr Kollege Lenz, warum wollen Sie mich partout mißverstehen? Das Fünfte Strafrechtsänderungsgesetz wird, so wie ich es verstehe, diejenigen Fragen regeln, die mit dem Arztrecht zusammenhängen. Dazu gehört natürlich auch die Frage, ob und wann eine Schwangerschaftsunterbrechung zulässig sein soll. Habe ich mich jetzt deutlich genug ausgedrückt?
Schönen Dank, gnädige Frau! Sie haben meine Vermutung bestätigt.
: Darf ich
auch eine Frage stellen?)
Herr Kollege Erhard, ich habe nur 20 Minuten Zeit. Ich muß pünktlich aufhören. Haben Sie bitte Verständnis dafür!
Ich halte aber noch etwas anderes für besonders wichtig, und zwar sind das die Probleme der Wirtschaftskriminalität. Ich darf Sie daran erinnern, daß Professor Tiedemann kürzlich eine ausgezeichnete Schrift vorgelegt hat, in der Material über die Wirtschaftskriminalität zusammengetragen ist. Meine Damen und Herren, wir packen heute den kleinen Zechbetrüger. Dieser muß natürlich bestraft werden. Aber dabei geht es um verhältnismäßig kleine Summen. Dagegen handelt es sich — das haben die bisherigen Wirtschaftsstrafverfahren gezeigt — bei Tatbeständen der Wirtschaftskriminalität um Milliardenbeträge, die der öffentlichen Hand verlorengehen oder um die einzelne geschädigt werden. Die gesetzlichen Bestimmungen sowohl im materiellen Recht als auch im Verfahrensrecht reichen nicht aus, um die Ermittlungen und die späteren Hauptverfahren zügig durchführen zu können. Ich meine deshalb, daß es dringend notwendig ist, auch noch diesen Komplex in das Strafrechtsprogramm dieser Legislaturperiode einzubeziehen.
— Das höre ich mit Freuden.
Lin Wort vielleicht zum Strafverfahren. Herr Bundesjustizminister, d Wiederaufnahmeverfahren ist reformbedürftig; Ihnen sind die spektakulären Fälle bekannt. Nach meiner Auffassung muß es in einem Rechtsstaat vor allem in Fällen schwerster Kriminalität eine zweite Tatsacheninstanz in der einen oder anderen Form geben. Das wollte ich zur Reform des Revisionsverfahrens sagen.
Zum Schluß möchte ich noch einmal die Frage stellen, Herr Kollege Vogel, ob es überhaupt noch eine gemeinsame Grundlage für unsere Beratungen gibt. Am Mittwoch hat Herr Wörner behauptet, die Reform des Scheidungsrechts sei ein Rückschritt. Demgegenüber muß ich feststellen, daß Ihre Ausführungen heute nach meiner Meinung ein Rückschritt hinsichtlich der Vorstellungen sind, die die CDU oder ihr nahestehende Kreise früher gehabt haben. Ich darf mich hier auf das beziehen, was der Herr Bundesjustizminister aus dem Herdersehen Staatslexikon zu der Frage zitiert hat, welches die Grundlage unseres Strafrechts sein sollte. Es hat sich doch gezeigt, daß der Glaube an die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes zum großen Teil ein Irrglaube ist. Sie haben die Feststellung angegriffen, Herr Kollege Vogel ich habe es mir notiert —, daß das Strafrecht nicht die Aufgabe hat, sittenbildende Kraft zu sein. Sie sind damit von dem Gedanken abgewichen, daß sich das Strafrecht an der Sozialschädlichkeit orientieren muß. Sie haben sich damit allerdings von sämtlichen Gutachtern in dem Hearing unterschieden. Auch die Vertreter der Kirchen sind davon ausgegangen - auch die Denkschriften der Kirchen —, daß das Kriterium die Sozialschädlichkeit sein muß. — Sie haben so verschiedentlich den Kopf geschüttelt. Sollte ich Sie mißverstanden haben und sollte das auch aus Ihrer Sicht ausschlaggebend für die Frage sein, was kriminell bestraft werden muß,
dann wäre die gemeinsame Basis doch wieder gegeben.
Ich würde es aber bedauern, wenn eine Polarisierung zwischen Regierungsparteien und Opposition, wie wir sie im Augenblick erleben, dazu führen würde, daß Sie einer objektiven, sachlichen Diskussion, wie wir sie in den Rechtsausschüssen des Bundestages eigentlich immer gehabt haben, nicht mehr so aufgeschlossen wären, wie das früher der Fall war.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Vogel hat mir — und er meinte wohl auch die SPD — einen schrecklichen Vorwurf gemacht, nämlich den, daß wir, wenn wir von der Rechtsreform sprechen, meinen, wir könnten damit auch unsere Gesellschaft verändern. Nun, Herr Vogel, wenn ich da Ihr Angeklagter sein sollte, lege ich ein volles Geständnis ab. Ich gestehe, daß wir das wollen und daß wir stolz darauf sind und daß wir hoffen, daß wir das schaffen.
Nur steckt in dem, was Sie uns da vorgeworfen stolz darauf sind und daß wir hoffen, daß wir das haben, die berühmte Methode vom Sozialismus-Schreck. Sie sagen, das bedeute für die SPD sozialistische Gesellschaftsreform, und dann sollen die Leute denken, da ist das so wie in finsteren östlichen Ländern. Das ist die Methode, die ich Ihnen persönlich gar nicht mal zur Last legen will. Aber
Hirsch
Sie waren vielleicht nicht im bayrischen Wahlkampf. Da hat sich das so abgespielt. Es ist sehr bedauerlich, daß von den Damen und Herren der CSU so wenige hier sind. Die könnten wir ja mal fragen, was sie da draußen gesagt haben.
Aber um Sie zu beruhigen — das ist die Sache, die Sie letzten Endes wie all die anderen Punkte auf präzise Fragen haben klarstellen müssen —. sozialistische Gesellschaftsreform bedeutet für uns Sozialdemokraten Reform im Rahmen des Godesberger Programms.
Das ist genau das Gegenteil, gerade auf dem Gebiet des Rechts, von dem, was in den östlichen Ländern geschehen ist. Das haben Sie uns bei all den Themen, um die es heute hier ging, zugeben müssen, wie z. B. Eherecht und Sexualstrafrecht.
Herr Abgeordneter Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Herr Kollege Hirsch, dürfen wir die Äußerung, daß Ihre Rechtspolitik der Veränderung der Gesellschaft nach dem Modell des Godesberger Programms dient, draußen zitieren, ohne deswegen von Ihnen angegriffen zu werden?
Na, das ist aber eine merkwürdige Frage. Die entspricht eigentlich nicht Ihrem Niveau, Herr Lenz. Daß wir hinter dem Godesberger Programm stehen, scheint mir klar zu sein. Daß ich dahinter stehe, das zu bezweifeln gibt es keinen Anlaß. Sie können das also tun, wenn es Ihnen Spaß macht. Ich wäre Ihnen sogar dankbar. Sie sollten das tun, wenn Sie ehrlich mit uns argumentieren wollen.
Das ist ja das Erstaunliche: wenn man über diese Fragen — Rechtsreform — bei einzelnen Veranstaltungen mit einem von Ihnen diskutiert, stellt man schnell fest, wenn es ein Fachmann ist, daß die Unterschiede unverhältnismäßig gering sind. Wenn Sie dann aber öffentlich reden, tun Sie so, als ob die Unterschiede gewaltig wären. Das ist dann reine Propaganda, um uns in eine bestimmte Ecke zu bringen.
Herr Abgeordneter Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herr Ostman von der Leye?
Bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hirsch, könnten Sie den Herrn Kollegen Dr. Lenz darauf aufmerksam machen, daß wir, wenn bisher die Gesellschaft nicht verändert worden wäre, auch nicht von Rechtsgelehrten geändert worden
wäre, heute noch auf den Bäumen säßen und Nüsse knackten?
Das kann ich Ihnen nur bestätigen.
Vielleicht ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen, Herr Dr. Lenz, der, daß Sie, wenn ein Zug fährt und die Weichen falsch gestellt sind, versuchen, den Zug anzuhalten, und ihn gerade noch vor dem Entgleisen behüten können — gelegentlich ist er dann entgleist --, während wir die Weichen rechtzeitig so stellen, daß er vorwärtsfahren kann.
Aber ich wollte noch ein Zweites sagen, um Ihnen klarzumachen, warum es so schwierig wird, mit Ihnen eine gemeinsame Politik zu machen, die ich gerade auf dem Gebiete des Rechts sehr begrüßen würde. Sie haben hier — wie ich meine, zu Recht — in der Diskussion über den Etat des Innenministeriums beanstandet, daß die Abgeordneten dieses Hauses die Referentenentwürfe nicht bekämen. Nun haben wir hier einen Minister, der uns nicht nur Referentenentwürfe vorzeitig bekanntgemacht hat, sondern er hat sogar noch vor dem Referentenentwurf einen Diskussionsentwurf öffentlich zur Diskussion gestellt. Das finde ich doch großartig, dazu sollten Sie ja sagen. Dieser Umstand gibt Ihnen doch heute Gelegenheit, mit uns über diese Dinge zu diskutieren.
Als wir den sogenannten Entwurf 62 über das Strafrecht hier ins Haus bekamen, haben wir mit allen Mitteln vergeblich versucht, auch nur ein Wort aus dem Justizministerium zu erfahren, das damals von Ihnen regiert war. Nichts hat man bekommen. Es hieß, nein, es ist noch nicht so weit, und man hat das zum erstenmal zu sehen bekommen, als die Bundestagsdrucksache hier im Hause war. Das ist der Unterschied in der Methode, und eigentlich sollten wir uns einig sein, gerade weil Sie jetzt in der Opposition sind, daß unsere oder Gerhard Jahns Methode die bessere ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Ja, bitte!
Herr Kollege Hirsch, ist Ihnen entgangen, daß ich in meiner Rede ausdrücklich begrüßt habe, daß diese Möglichkeit besteht? In dieser Frage besteht also überhaupt kein Streit. Aber wenn wir schon die Frage der Gemeinsamkeit ansprechen, erinnern Sie sich daran, mit, welcher Mehrheit in Ihrer Fraktion kurz vor der Verabschiedung des Dritten Strafrechtsreformgesetzes der Vorschlag, den wir als Kompromißbasis unterbreitet hatten, abgelehnt worden ist?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5523
Herr Vogel, darüber kann man sicherlich diskutieren, ob man da auch hätte ja sagen können. Ich finde, unsere Entscheidung war richtig, denn das Ergebnis beweist, daß wir mit diesem Gesetz die Befriedung erzielt haben.
Ich will Ihnen noch ein paar grundsätzliche Dinge sagen, an denen klar wird, wie schwer Sie es einem machen. Sie führen in der Öffentlichkeit Ihre Kritik an dem Vierten Strafrechtsänderungsgesetz praktisch mit dem Motto: Die bösen Sozialdemokraten und die bösen Freien Demokraten wollen die Pornographie freigeben. Sie haben mich dann sozusagen vom Hörensagen, aus dritten Hand zitiert. Ein Mann von dem, was Sie früher „ein Nachrichtenmagazin" zu nennen beliebten, also vom „Spiegel", hat meinen Freund Bayerl interviewt und hat ihn gefragt: Was denkt der Martin Hirsch darüber? Und dann hat der etwas dazu gesagt, und darauf wollen Sie mich festlegen.
Es wäre besser, Sie hätten eine Äußerung gebracht, die ich irgendwo direkt gesagt oder geschrieben habe. Aber wichtiger ist etwas ganz anderes.
— Herr Vogel, bitte, lassen Sie mich jetzt den Gedankengang zu Ende führen. — Diese Ihre Behauptung — das wissen Sie doch genauso wie ich —, daß wir über eine Änderung des § 184 die Pornographie freigeben und den heutigen Zustand auf diesem Gebiet billigen wollten, ist doch einfach falsch. Sie wissen das, aber diejenigen, denen Sie es sagen, die glauben Ihnen, wenn Sie nachher als Schlußfolgerung zum Gegenteil kommen.
All das, was jetzt an grausigen Dingen auf dem Gebiete der Pornographie auf dem Markt ist, ruft doch dort nach dem geltenden Gesetz, unter dem geltenden § 184 und unter dem geltenden Jugendschutzgesetz. Und da gibt es in den öffentlichen Diskussionen unter den Nichtfachleuten Ihre Leute, die sagen, der § 184, unter dem das alles passiere, dürfe um Gottes willen nicht geändert werden, und die bösen Sozialdemokraten, wenn sie ihn änderten, brächten die Unsittlichkeit endgültig in das Volk. Das ist doch Ihr Tenor. Daß wir genau das Gegenteil wollen, sollten Sie wissen, Herr Vogel, und ich nehme an, Sie wissen es: der heutige Zustand hinsichtlich der Pornographie ist für uns unerträglich, und wir überlegen uns, wie wir ihn bessern können. Dabei haben wir auf der einen Seite die Freiheit der Menschen und die Intimsphäre zu beachten — wir wollen keine Schnüffelei im Schlafzimmer haben —, auf der anderen Seite haben wir denjenigen zu schützen, der von dem Zeug nichts wissen will. Und da kann man über Formulierungen weiß Gott streiten. Ich halte die letzte Formulierung, die der offiziellen Regierungsvorlage, nicht für den Stein der Weisen; das muß ich ganz deutlich sagen. Aber Entwürfe sind die beste Möglichkeit zur Diskussion
— das müßten Sie doch honorieren — , und auch die Bundesregierung hat die Entwürfe ausdrücklich als Diskussionsgrundlage hingestellt. Wenn es nicht einmal einen Entwurf gibt, wie soll man dann diskutieren?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Hirsch, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es niemanden gibt, der im Gegensatz zum geltenden Recht daran denkt, den Konsumenten von Pornographie zu bestrafen? Und halten Sie es nicht für gut, Redensarten wie „in die Schlafzimmer gucken" und „nachschnüffeln" aus der Diskussion herauszulassen? Das ist doch das, was von Ihrer Seite immer kommt.
Von mir bestimmt nicht, Herr Vogel! Ich wollte klarmachen, was wir wollen. Die Schwierigkeit bei der Sache — das hat das Hearing doch gezeigt — ist die Frage, was der richtige Weg ist. Nur darum geht es doch. Wenn man weiß, was man will, und eine Gemeinsamkeit und einen guten Willen hat, Herr Vogel, wird man, auch wenn man in der Opposition sitzt, mit der Regierung zusammenarbeiten, um den richtigen Weg zu finden. Das wird unsere Aufgabe bei den Beratungen hier im Hause sein. Dann sollten Sie in der Öffentlichkeit diese Diffamierung unterlassen ich meine nicht Sie persönlich —, die die Gemüter verwirrt und genau das verhindert, was wir wollen, nämlich eine Reform dieses Gebiets. Wir müssen § 184 ändern, wie auch immer, und wir müssen dazu unser Jugendschutzgesetz ändern, wie auch immer. Über Einzelheiten wird man reden können. Da wird es Meinungsverschiedenheiten geben, weil nämlich keiner von uns genau weiß, was das richtige Mittel ist, und man auf Spekulationen angewiesen ist, welches die richtige Methode sein könnte.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Kollege Hirsch, bin ich richtig informiert, daß Sie an den Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz Deutschlands einen Brief geschrieben haben, in dem Sie ausführten, weil Sie nicht wüßten, wie man der Flut der Pornographie Herr werden könnte, sollte die Strafbarkeit vorübergehend und probeweise aufgehoben werden?
Nein, nein. Ich habe einen Brief geschrieben.
— Nicht mit diesem Inhalt! Ich habe gesagt: Man wird überlegen müssen, ob das Strafrecht das richtige Mittel ist. Es könnte sein, so habe ich geschrieben, daß eine Freigabe vielleicht am ehesten zu einer Heilung führt, habe das aber keineswegs als endgültige Lösung vorgeschlagen. Es ist nämlich so:
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5524 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Hirschda wir alle noch nicht genau wissen, welches das richtige Mittel ist, muß man unter Umständen sehr vorsichtig überlegen. Auch wenn man ein Mittel für das richtige hält, muß man unter Umständen sagen: Da ich seine Wirksamkeit nicht beweisen kann, muß ich zunächst etwas anderes machen. Das ist der heutige Stand meiner Meinung; das muß ich Ihnen ganz deutlich und ehrlich sagen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Hirsch, halten Sie es nicht für das eigentlich schwierigste Problem unserer Gegenwart, daß die auf diesem Gebiet vorhandene Rechtsordnung von den dazu berufenen Organen des Staates nicht beachtet wird?
So können Sie das nicht sagen. Das wäre ja ein sehr harter Vorwurf gegen Polizei, gegen die zum Jugendschutz Verpflichteten, gegen Staatsanwaltschaften und Gerichte. Der Grund liegt darin, daß erstens das Instrumentarium offensichlich nicht richtig ist und wir es verbessern müssen, zweitens darin, daß die Leute verunsichert sind, weil sich die Auffassungen darüber
lassen Sie mich doch einmal ausreden; wenn Sie mich fragen, muß Ihnen doch daran gelegen sein, daß ich eine Antwort gebe —, was Pornographie ist, nun einmal geändert haben. Von der „Sünderin" über „Schweigen" zu dem, was heute stattfindet, ist halt ein weiter Weg; da werden Sie mir recht geben. Alles unter dem gleichen Gesetz! — Ich möchte das Thema hier nicht vertiefen; dazu fehlt mir die Zeit. Darum nehmen Sie es mir bitte nicht übel, daß ich eine weitere Zwischenfrage nicht mehr beantworten kann.
Mir geht es nur darum, aufzuzeigen, welches der Weg für Gemeinsamkeiten sein könnte. Sie dürfen uns nicht verteufeln. Wir sollten uns darüber einigen, daß unser Ziel das gleiche ist. Wir müssen versuchen, den richtigen Weg zu finden. Bisher habe ich von Ihnen außer der Behauptung, es müsse bei dem heutigen § 184 bleiben, keinen Ratschlag gehört, wie man einen besseren Weg finden könnte. Das bedaure ich.
Nun ein Wort zum Eherecht. Auch da kann man wieder exemplifizieren, wie Sie das machen. Sie behaupten, die Ehe müsse auf Lebenszeit geschlossen bleiben. Dann tun Sie so, als ob wir anderer Meinung wären. Die Eherechtskommission, der Juristentag und jede Äußerung von uns sagt: Selbstverständlich wird die Ehe auf Lebenszeit geschlossen. Und da kommen Sie jetzt plötzlich und sagen: Das muß aber auch ins Gesetz hineingeschrieben werden.
Das sagen Sie dauernd. Überall hört man es, und in Denkschriften liest man es. Dabei verläßt man sich darauf, daß die Leute nicht wissen, daß im geltenden bürgerlichen Recht und im geltenden Eherecht kein Wort in dieser Richtung steht, weil das nämlich selbstverständlich ist und sich im übrigen bei uns aus dem Grundgesetz ergibt.
Also was soll diese Argumentation? Aber wenn Sie es haben wollen, bitte, ich versichere Ihnen: auch der Martin Hirsch, der in der Eherechtskommission war und ist, hat nie daran gedacht, an der Ehe auf Lebenszeit etwas zu ändern, und in der gesamten Eherechtskommission, die von rechts bis links weiß Gott verschiedene Köpfe aufweist, hat niemand daran gedacht, an dieser Tatsache etwa zu ändern, der Justizminister gewiß auch nicht. Man sollte deshalb über diese Dinge, die selbstverständlich sind, nicht noch streiten.
Nun können Sie — das ist Ihr Recht — die Einzelbestimmungen prüfen und dabei sagen: Würde das vielleicht nicht diesen Grundsatz verletzen? Insofern bin ich bereit, mit Ihnen zu argumentieren. Wenn es so wäre, daß irgendeine Bestimmung in dem Referentenentwurf gefährlich ist, und wenn Sie mit sachlichen Argumenten kommen, wird man sich überlegen müssen, was zu tun ist, um auch nur den Eindruck zu verhindern, es könnte an der Ehe auf Lebenszeit etwas geändert werden. Aber diese falsche Argumentation in der Öffentlichkeit, diese Diffamierung und dann gleichzeitig der Wunsch nach gemeinsamen Lösungen, das paßt doch nicht zusammen! Herr Vogel, da müssen Sie mir schon recht geben.
Herr Abgeordneter, Sie hatten schon zwei Zusatzfragen zu diesem Punkt. Eine dritte steht Ihnen nicht zu.
— Die Geschäftsordnung erlaubt zu demselben Punkt der Ausführungen nur zwei Zusatzfragen!
Herr Präsident, ich bin gern bereit, noch eine Frage des Herrn Kollegen Vogel zu beantworten.
Bitte, stellen Sie Ihre Frage!
Herr Kollege Hirsch, da wir hier schon diesen Punkt diskutieren, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, zuzugeben, daß folgendes aus Ihrer Feder stammt:Nicht ohne Grund ist daher der Diskussionsentwurf des Bundesjustizministers Gerhard
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5525
VogelJahn zum Ehescheidungsgesetz so umstritten. Allein der Gedanke, daß eine Ehe nicht in jedem Fall auf Lebenszeit angelegt sein muß, ruft Angstzustände hervor; denn wer in der Ehe die weitgehende Erfüllung menschlichen Seins sieht und dieses Institut als grundlegende Form menschlichen Zusammenlebens propagiert, kann grundsätzlich die Scheidung nicht akzeptieren. Allein die Vorstellung einer möglichen Ehe auf Zeit muß feste Erziehungsgrundsätze ins Wanken bringen; denn trotz Emanzipation ist es bis heute kaum gelungen, das traditionelle Bild der Frau in der Familie zu verändern.
Selbstverständlich habe ich das geschrieben. Aber für denjenigen, der das nicht gelesen hat und der es verstehen soll, müßten Sie den ganzen Artikel vorlesen. Da wird nämlich versucht, klarzumachen, wie schwierig die Diskussion ist.
Diese Äußerung ist doch nicht meine Meinung dazu, sondern ich habe klarmachen wollen, was es da für Meinungen gibt, und die gibt es. Natürlich gab es sie auch im Rahmen der Vordiskussion über das Eherecht. Da werden Pläne gemacht, man solle nur zum Standesamt gehen und sagen: Ich erkläre meine Ehe für getrennt. Man hat gesagt: Was soll der Unsinn mit dem Gericht? Daß das nicht mein Standpunkt ist, das werden Sie mir ja wohl hoffentlich glauben, und daß das nicht der Standpunkt der Sozialdemokraten ist, das können Sie mir auch glauben.
— Herr Kollege Stark, ich möchte jetzt zum Ende kommen; es tut mir leid.Ich wollte Ihnen nur klarmachen, daß Sie Ihre Forderungen nach gemeinsamer Arbeit, nach gemeinsamer Lösung selbst gefährden, indem Sie solche diffizilen Dinge zum Gegenstand von Wahlkämpfen und Wahläußerungen machen, gerichtet an Leute, die das gar nicht durchdenken können, weil sie nicht wissen, was das geltende Recht ist, und die dann solche falschen Schlüsse ziehen. Das ist ja von Ihnen — immer nicht Sie selbst, Herr Vogel — auch gewollt und beabsichtigt, und dagegen wehren wir uns.
Nun muß ich, was das Eherecht betrifft, mich eigentlich wundern.
— Ich wundere mich darüber, wie einig wir eigentlich in so kurzer Zeit über die Grundzüge einer denkbaren Ehescheidungs- und Eherechtsreform geworden sind. Denken Sie doch einmal ein bißchen nach!
Da hatten wir also unser geltendes Eherecht mitdem § 48. Das haben Sie dann, als Sie hier diealleinige Mehrheit hatten, im Jahre 1961, wie wirmeinen, verschlechtert. Alle Bemühungen, das zu ändern, waren vergeblich. Dann machte die FDP während der Großen Koalition einen Vorstoß in der Richtung einer Rückänderung des § 48. Das genügte uns nicht, und da habe ich hier gestanden und für meine Fraktion einen Antrag formuliert und begründet, der dahin ging, daß der Bundesjustizminister eine Eherechtskommission schaffen solle. Sie hatte den Auftrag, sich nicht nur mit dem Scheidungsrecht — lesen Sie es bitte nach —, sondern auch mit allen Folgen einschließlich der beamtenrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Aspekte und mit der eigenständigen Sicherung der Frau zu befassen. Wenn ich mich nicht irre, ist dieser Antrag hier im Hause einstimmig angenommen worden. Diese Eherechtskommission hat dann ihre Arbeit begonnen.
Aber keiner von uns hat damals gewußt — ich, weiß Gott, auch nicht —, zu welchem Ergebnis diese Kommission kommen würde. Wir haben uns dort einstimmig zur Umstellung vom Verschuldens- auf das Zerrüttungsprinzip bekannt. In der ganzen ernst zu nehmenden Diskussion in diesem Lande gibt es keine Stimme, die auch nur ein Wort noch zugunsten des Verschuldensprinzips, das gilt, verliert. Herr Vogel, das ist doch eine großartige Sache. Diese Umstellung des Prinzips ist der Kernpunkt der Reform des Eherechts. Alles andere sind Dinge, fiber die man sich verständigen kann. Ob man eine Härteklausel braucht, wie weit sie gefaßt sein muß, wie man die Zerrüttung feststellt — all das sind wichtige Fragen, die aber nicht den Kern der Reform berühren. Wenn Sie draußen diskutieren, reden Sie über Einzelfragen, aber nicht über den Grundsatz, über den wir uns in Wirklichkeit einig sind. Ich hoffe jedenfalls, daß wir uns über das Ziel einig sind! Heile Ehen sind durch die Verfassung geschützt. Wir müssen alles tun, um sie zu schützen, damit sie heil bleiben. Wir müssen alles tun, um kranke Ehen möglichst wieder gesund zu machen. Wir müssen aber dann, wenn sich herausstellt, daß eine Ehe endgültig kaputt ist, einen anständigen Weg finden, um die Partner auseinanderzubringen, unter Wahrung der Verpflichtungen gegenüber den Kindern, unter Vermeidung des Waschens schmutziger Wäsche, unter Wahrung aller Rechte. Das sind alles Dinge — Sie nicken mit dem Kopf , über die wir uns einig sind. Warum stellen Sie dann die Unterschiede in den Kleinigkeiten so heraus?Nehmen wir den umgekehrten Fall, Herr Vogel — ich hoffe, darüber sind wir uns auch einig; das sollten Sie auch einmal öffentlich sagen —: Die Aufrechterhaltung einer reinen Papierehe, einer völlig gescheiterten Ehe gefährdet die Institution der Ehe,
und sie gefährdet die Menschen, die in dieser Ehefestgehalten werden, weil sie nämlich daran krankwerden. Fragen Sie einen Psychiater, der mit Frauen
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5526 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Hirschzu tun hat, die unter dem heutigen Red il an ihrer Ehe festhängen, die nicht geschieden werden, weil es § 48 gibt. Wir sollten uns auch in dieser Hinsicht einig sein. Ich hoffe, wir werden uns in den Ausschüssen verständigen. Dort können Sie Ihre Argumente vorbringen. Ich kenne sie doch aus der Eherechtskommission. Wenn ich mich in dieser Kommission mit Herrn Professor Bosch verständigen konnte, werde ich mich mit Ihnen auch verständigen können, Herr Vogel. Halten Sie diese Argumente doch einmal aus der verschrobenen öffentlichen Diskussion heraus und versuchen Sie, mit uns einen gemeinsamen Weg zu finden.Zum Schluß möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen, zu dem bisher leider zu wenig gesagt worden ist; der Minister konnte schlecht etwas dazu sagen. Was dieser Justizminister in seiner relativ kurzen Amtszeit zusammen mit uns und in den Ausschüssen auch mit Ihrer Hilfe bereits an Rechtsreformen geschaffen hat, kann sich sehen lassen. Über das Demonstrationsstrafrecht haben wir gesprochen. Wir haben das Gesetz über das Verfassungsgericht reformiert Dieses Gesetz war längst reformbedürftig. In der letzten Legislaturperiode ist es, obwohl es Ansätze zur Reform gegeben hat, nicht reformiert worden. Wir haben endlich das Problem eines modernen Strafregisterrechts gelöst; das ging bisher auch nicht. Wir haben auch das alte Problem einer anständigen Entschädigung für unschuldig erlittene Haft endlich gelöst. Nun schauen Sie sich bitte einmal an, was die Herren, die die Ehre hatten, in der Rosenburg zu sitzen, und die von Ihrer Fakultät kamen, in entsprechend längeren Zeiträumen an Reformen geschafft haben. Vergleichen Sie das mit dem, was hier in einem Jahr geschafft worden ist. Ich glaube, dann müssen sogar Sie zugeben, daß die Bilanz dieses Ministers verdammt gut aussieht und daß er nicht Ihr Mißtrauen verdient.
Meine Damen und Herren, ehe ich dem nächsten Redner das Wort erteile, habe ich eine Feststellung zu treffen. Bei der Durchsicht der Protokolle von gestern habe ich festgestellt, daß während der Rede des Abgeordneten Freiherr von Fircks ein Zwischenruf gemacht wurde, der nicht ordnungsgemäß ist. Herr Abgeordneter Schäfer hat Herrn von Fircks einen Verleumder genannt. Ich rufe ihn zur Ordnung.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf vielleicht damit anfangen, daß ich den Faden weiterspinne, den der Kollege Hirsch hier soeben hat abrollen lassen. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Kollege Hirsch, Sie haben sicherlich recht, wenn Sie sagen: Es gibt eine ganze Reihe Dinge, die wir gemeinsam tun können und die wir gemeinsam getan haben. Wir haben hier noch einen relativ breiten Raum der möglichen Zusammenarbeit. Dies ist der eine Punkt. Aber es gibt auf der anderen Seite offenbar einen Punkt, wo das nicht mehr so gut geht. Wenn z. B. soeben der Herr Bundesminister der Justiz gesagt hat, er sei nun Sozialdemokrat und habe seine Vorstellungen, er werde sie notfalls mit der Mehrheit in diesem Hause durchsetzen, dann kann ich nur sagen, das ist sein gutes Recht. Aber er kann nicht verlangen, daß wir auf die Auseinandersetzung über diejenigen Punkte verzichten, die ausschließlich von dem Gedankengut der derzeitigen Koalition getragen sind. Ich glaube, über diesen Punkt müßten wir einig sein.
Lassen Sie mich vielleicht einige Worte sagen zu den Fragen Gerichtsaufbau, Verfahren und Ausbildung, die der Herr Bundesminister der Justiz hier angesprochen hat.Ich darf bei der Ausbildung anfangen. Hier gibt es ohne Zweifel einen gemeinsamen Ansatzpunkt, nämlich den, daß der derzeitige Zustand keinen von uns befriedigt. Hier haben wir, glaube ich, eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Reform klar: Wir sind einig, daß der derzeitige Zustand nicht in Ordnung ist. Ob wir uns auch darüber einigen können, wie die Ausbildung reformiert werden muß, das wird sich herausstellen. Die schlichte Addition oder Subtraktion von Monaten bei der Ausbildungszeit — insoweit herrscht Einstimmigheit im Rechtsausschuß — scheint jedenfalls als Reform nicht zu genügen.Dem, was der Herr Bundesminister der Justiz zur Reform der Verfahren gesagt hat, nämlich zur Beseitigung sachlich nicht gerechtfertigter unterschiedlicher Behandlungen gleicher Materien, können wir nur vollinhaltlich zustimmen. Wir hätten durchaus Verständnis dafür gehabt, wenn dieses Gesetz an der Spitze der Reformprojekte der Bundesregierung gestanden hätte; denn notwendig wäre das.
Ich weiß auch, daß wir uns hier mit allen Kreisen der rechtspflegenden Berufe — wenn ich das einmal so ausdrücken darf — in weitgehender Übereinstimmung befinden. Weshalb man dann aber, Herr Kollege Hirsch, vorher eine Novelle auf den Weg geschickt hat, die das gleiche Rechtsgebiet — das Zivilprozeßrecht — berührt, und weshalb man nicht die Vereinheitlichung abgewartet hat, diese Frage sollte mindestens für objektive Beobachter ein Punkt des Zweifels daran sein, ob hier die Prioritäten richtig gesetzt worden sind.
Und, Herr Kollege Hirsch, wenn noch vor diesem Beschleunigungsgesetz ein Gesetz über die Amtsbezeichnungen gekommen ist, dann möchte ich noch einmal die Frage stellen: War es wirklich ein gutes Etikett für die Reformpolitik der neuen Regierung, daß man ausgerechnet mit diesem doch wohl nicht als zentral zu bezeichnenden Problem angefangen hat?
— Herr Kollege Hirsch, ich kann mich da auf dieAnhörung beziehen, die wir in dieser Woche durchgeführt haben. Sie konnten nicht immer dabei sein.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5527
Dr. Lenz
Die Herren Richter, die wir dort angehört haben, haben die Frage der Reihenfolge in unüberhörbarer Weise gestellt.
— Über diese Ziele, Kollege Arndt, war in diesem Zusammenhang in der Diskussion auch die Rede; es war die Rede von trojanischen Pferden. Ich will diese Diskussion hier aber nicht weiterführen; dazu werden wir im Ausschuß ja noch genügend Gelegenheit haben.Lassen Sie mich zu einem anderen Punkt kommen, dem Gerichtsaufbau, Herr Kollege Jahn. Ohne jeden Zweifel haben Sie recht: es macht einen harmonischeren, schöneren Eindruck, wenn alles gleichmäßig schön dreistufig ist. Aber ob die Dinge so einfach sind, wie Sie sie sich vorgestellt haben, als Sie dieses Projekt aufgriffen, daran haben Sie inzwischen wohl selber Zweifel bekommen.
Es geht auch nicht an, Herr Minister Jahn, jede Reform, die uns hier vorgeschlagen wird, mit der Einführung des Computers zu begründen. Soweit ich unterrichtet bin — aber das mag unvollständig sein , ist ein Computer ein Apparat, von dem man gespeicherte Informationen mit Hilfe eines Telefons abrufen kann. Angesichts der Erfindung dieses Apparats ist eigentlich nicht mehr recht einzusehen, weshalb nicht jeder Richter auf seinem Schreibtisch ein solches Telefon hat, so daß es völlig überflüssig wäre, sie in großen Mengen in einem Gebäude zusammenzusperren. Ich glaube, mit der Einführung des Computers kann man die Dreistufigkeit schlechterdings nicht begründen.Ich möchte einen Punkt aufnehmen, Herr Minister, den Ihr Vorgänger einmal in einer sehr bemerkenswerten Rede vor der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen ausgeführt hat. Er hat gesagt, daß wir auf dem Gebiet der Justiz an einem großen Informationsdefizit leiden, daß uns die Fakten zur Beurteilung der Wirksamkeit unserer Gesetze, der Wirksamkeit unserer Justizeinrichtungen einfach fehlen. Ich würde es außerordentlich begrüßen, Herr Bundesminister der Justiz, wenn Sie uns Fakten, soviel Fakten wie möglich vorlegten, bevor Sie Ihr Gesetz über die Reform des Gerichtsaufbaus einbringen. Denn erst wenn eindeutig nachgewiesen ist, daß erstens der geltende Aufbau schlecht ist und zweitens der kommende voraussichtlich besser ist, können wir vernünftig über eine Reform diskutieren.Schließlich ist hier einiges davon gesagt worden, daß die Politik dieser Regierung auf dem Gebiet des materiellen Rechts in die Schußlinie gekommen ist. Meine Damen und Herren, versuchen wir doch einmal, die Fakten zu sehen, so wie wir alle sie hier gesetzt haben, auch wir von der CDU/CSU. Womit haben wir denn bei der Strafrechtsreform angefangen? — Mit der Homosexualität, mit der Unzucht mit Tieren, mit der Abschaffung der Strafbarkeit des Ehebruchs. In der gleichen Legislaturperiode haben wir die Reform des Unehelichenrechts angefangen, das dann Nichtehelichenrecht hieß. In dieserLegislaturperiode geht es weiter mit dem § 184, Verbreitung unzüchtiger Schriften, usw. Frau Kollegin Diemer-Nicolaus hat dem staunenden Hause angekündigt,' daß als nächstes die Delikte im Kreise des Arztes kämen, nämlich unter anderem die Frage der Abtreibung. Auf dem Zivilgesetzsektor geht es weiter mit der Erleichterung des Scheidungsrechts. Denn das, Herr Minister, ob man das Gesetz nun so oder so beurteilt, wird wohl als Ergebnis herauskommen.Und dann fragen Sie noch, woher draußen im Volk die Diskussion kommt, wo denn eigentlich das Ziel und die Richtung dieser Politik ist.
Ich unterstelle Ihnen, Herr Minister, gar nicht und unterstelle niemandem in diesem Hause, daß .diese Zusammenfassung von Maßnahmen und gesetzgeberischen Akten auf ein ganz bestimmtes weltanschaulich bezogenes Wertsystem ausgezeichnet paßt. Aber Sie können doch die Frage danach draußen nicht einfach mit dem Argument zurückweisen: Das ist im einzelnen ganz gut und schön. Der Unterschied zwischen einer Politik und einer Summe von Einzelmaßnahmen ist eben, daß man die engeren Zusammenhänge sehen und ihre Wirkungen begreifen muß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Arndt?
Herr Kollege Dr. Lenz, haben Sie denn in der vorigen Legislaturperiode, als Sie außer dem von Ihnen eben erwähnten § 184 all den Gesetzen dieser Reform zugestimmt haben, diese Zielsetzung übersehen?
Herr Kollege Dr. Arndt, ich will Ihnen darauf in ganz großem Freimut antworten, daß ich einigen dieser Gesetze nicht zugestimmt hätte, wenn ich davon ausgegangen wäre, daß man diese Zustimmung als Begründung für die jetzt angekündigten Reformen verwenden würde. Das sage ich Ihnen in aller Offenheit.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Ostman von der Leye?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Dr. Lenz, ist Ihnen entgangen, daß ein großer Teil der von Ihnen jetzt im einzelnen aufgezählten Dinge daher kommt, daß durch eine sehr bedauerliche Entwicklung in vorhergehenden Jahrhunderten der Sittlichkeits- und Sittenbegriff auf den Begriff der Sexualität eingeengt worden ist und daß das Vatikanische Konzil im wesentlichen — —
— Das Zweite Vatikanische Konzil. Meinten Sie denn wirklich, wir seien noch bei 1870? Man glaubt es ja manchmal, daß Sie im Jahre 1870 seien. — Um meine Zwischenfrage zu beenden: Herr Kollege, sind
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5528 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Freiherr Ostman von der LeyeSie nicht mit mir der Meinung, daß das Zweite Vatikanische Konzil gerade die Möglichkeit gesucht hat, den Sittlichkeitsbegriff auf ganz andere Dinge auszudehnen?Dr. Lenz (CDU; CSU) : Herr Kollege Ostman von der Leye, was mich persönlich angeht, bedurfte es dazu des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht.
Ich möchte jetzt zu einem anderen Punkt kommen.
Herr Abgeordneter, eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege Eyrich!
Herr Kollege Dr. Lenz, würden Sie mir bestätigen, daß es immerhin erstaunlich ist, daß eine Bundesregierung, die unter anderem immer wieder von der Würde des Menschen spricht, in einer Gesetzesvorlage schreibt, daß sie sich darüber im klaren sei, daß die Pornographie die sexuelle Darstellung verzerre und die Frau herabwürdige, daß dies eine doch immerhin, glimpflich gesagt, Verdrehung der Tatsachen ist und daß es tatsächlich nicht tragbar erscheint, daß in einer solchen Vorlage so etwas von einer Regierung gesagt wird, die bei jeder Gelegenheit von der Würde des Menschen spricht?
Herr Kollege Eyrich, ich kann nur hoffen, daß die Regierung bei jedem Akt der Gesetzgebung oder der Verwaltung, den sie setzt, die Würde des Menschen als höchstes Ziel der staatlichen Ordnung in Deutschland im Auge hat. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, den Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der weiter gehenden Freigabe — so ist es doch wohl korrekt ausgedrückt, Kollege Hirsch — der Pornographie zu finden.
— Herr Kollege Hirsch, davon wollte ich gerade sprechen.
Hier war danach gefragt worden, welche Grundsätze wir für die Reform des Strafrechts haben. Ich möchte Ihnen vorlesen, was darüber in unserem neu gefaßten Berliner Programm steht:
Das neue Strafrecht muß der Gesellschaft größtmöglichen Schutz vor Verbrechen gewährleisten. Die Gebote der Sittlichkeit verpflichten das Gewissen des einzelnen. Sie sind ein Maßstab für die Gesetzgebung, bedürfen aber nicht immer des strafrechtlichen Schutzes.
Das ist unsere Haltung hierzu. Um es genau zu sagen und um ein konkretes Beispiel aufzunehmen, wir sind nicht bereit, bei jeder Frage, die man durchaus unter sittlichen Gesichtspunkten würdigen
kann, wie z. B. den Ehebruch, gleich den Strafrichter einschalten zu lassen. Umgekehrt sind wir aber auch nicht, weil eine Frage moralischen Charakter hat, bereit, von vornherein auf das Strafgesetzbuch zu verzichten.
= Entschuldigen Sie, Herr Ostman, Sie haben einfach nicht richtig zugehört, was ich gesagt habe. Ich habe auf eine Frage geantwortet, die vorhin von sozialdemokratischen Kollegen gestellt worden ist, und habe ihnen den entsprechenden Passus vorgelesen. Wenn Sie das „einen Buhmann aufbauen" nennen, können wir die Diskussion in diesem Hause abbrechen. Wenn man nicht einmal mehr auf die Fragen antworten darf, ist ja wohl das Ende der parlamentarischen Demokratie erreicht.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines sagen, das zum Thema gehört. Die Massivität dieser Gesetze, von denen hier schon die Rede war, hat wohl auch die Folge gehabt, daß beide Kirchen seit langen Jahrzehnten zum erstenmal zu diesen Fragen Stellung genommen haben. Ich möchte mit Sicherheit annehmen, daß die Stellungnahme bei den weiteren Beratungen das Gewicht hat, das ihnen Kollege Wehner in einer beachteten Äußerung kurz vor den hessischen Landtagswahlen zugemessen hat.
Der Abgeordnete Schmude möchte Sie etwas fragen. Gestatten Sie das?
Herr Kollege Lenz, ist Ihnen nicht bekannt oder übersehen Sie geflissentlich, daß es sich hier nicht um eine Stellungnahme der Kirchen, sondern um eine Stellungnahme von Einzelpersonen, die zugleich kirchliche Amtsträger sind, handelt?
Soviel ich weiß — aber ich lasse mich immer gern belehren —, haben sich die zuständigen Körperschaften der beiden Kirchen — der beiden Kirchen! - hinter diese Erklärung gestellt.
— Herr Kollege Kaffka, soviel ich weiß, haben Sie da ja ein Sonderproblem auf diesem Sektor. Das können wir jetzt hier nicht vertiefen.
— Herr Kollege Dr. Arndt, dann können Sie hinterher erklären, wieso die Informationen, die ich darüber habe, unzutreffend sind. Nach meiner Kenntnis haben sich die zuständigen Körperschaften beider Kirchen hinter diese Stellungnahme gestellt. Wenn Sie etwas anderes sagen wollen, können Sie das gleich von hier aus tun.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5529
Dr. Lenz
Lassen Sie mich noch zu einem Punkt kommen, zum Eherecht. Ich möchte das unterstreichen, was der Kollege Vogel hier schon gesagt hat, und dem Herrn Minister ausdrücklich sagen: die Methode des Diskussionsentwurfs ziehen wir nicht in Zweifel, wohl aber den Inhalt dessen, was da vorgeschlagen worden ist. Das sollte man doch wohl auseinanderhalten können.
— Herr Kollege Hirsch, ich möchte hierzu einmal ein offenes Wort sagen.
ich halte es für außerordentlich schwierig, hier über Referentenentwürfe zu diskutieren, die uns als ver- trauliche Dokumente zugeschickt worden sind. Entweder wir machen die Sachen öffentlich, oder wir lassen sie zu, bis sie öffentlich sind.Im übrigen möchte ich Ihnen auch sagen; e i n Diskussionsentwurf war eine gute Idee. Aber ihm jetzt noch 15 Referentenentwürfe folgen zu lassen, bis man sich zu einer Regierungsvorlage entschließt, würde ich bei weitem nicht für eine so gute Idee halten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Lenz, ist Ihnen bekannt, daß uns zwar dieser Referentenentwurf einschließlich Begründung mit der Bitte um vertrauliche Behandlung übersandt worden ist, daß aber gleichwohl Kollegen der SPD-Fraktion mit diesem Referentenentwurf die Diskussion in der Öffentlichkeit bestreiten?
Herr Kollege Vogel, genau auf diesen Tatbestand bezog ich meine Bemerkung, daß man sich hier darüber verständigen sollte, was öffentlich und was privat ist. Aber diese beiden Dinge abzugrenzen scheint ja auch auf anderen Gebieten ein gewisses Problem zu sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Herr Minister, was den Bereich der
Justizpolitik angeht, d.h. dessen, was den Aufbau und die Organisation und das Recht der in der Justiz Tätigen angeht, sind wir nicht grundsätzlich gegen alle Vorschläge, die Sie machen. Wir erwarten nur, daß in jedem einzelnen Falle dargetan wird, daß hier tatsächlich ein Mangel vorliegt und die Verhältnisse durch Ihre Maßnahme verbessert werden, und daß das nicht nur durch theoretische Behauptungen, sondern durch Tatsachen unterstrichen wird.
Was das materielle Recht angeht — hier komme ich auf Herrn Kollegen Hirsch zurück —, habe ich den Eindruck, Herr Kollege Hirsch, daß wir hier einen Zielkonflikt haben, und den aufzuzeigen ist der Zweck dieser Debatte.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen die Möglichkeiten, heute noch rechtzeitig nach Hause zu kommen, bekanntzugeben. Das Flugzeug nach Hamburg mit 40 Plätzen fliegt um 20 Uhr. Das Flugzeug nach München mit 40 Plätzen fliegt auch um 20 Uhr. Die Maschine nach Hannover mit noch zwei Plätzen fliegt ebenfalls um 20 Uhr. Abfahrt ab Bundeshaus, Hochhaus, spätestens 19.15 Uhr. Anmeldung zu den Flügen bis 18 Uhr bei der Reisestelle, Apparat 2366, 2368. Die Chartermaschine nach Stuttgart fliegt ebenfalls um 20 Uhr ab Flughafen Köln und ist ausgebucht. Die Teilnehmer an diesem Flug treffen sich um 19.45 Uhr am Schalter der Information im Flughafen.
Das Wort hat der Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Es scheint das Schicksal von Rechtsreformvorschlägen, insonderheit von Strafrechtsreformvorschlägen, zu sein, emotionsgeladener Polemik begegnen zu müssen. Und es scheint das Schicksal derer zu sein, die sie tragen, sich im Übermaß mit gefühlsgeladener Polemik auseinandersetzen zu müssen. Denken Sie an Feuerbach, als er 1813 sein bayerisches Kriminalstrafgesetzbuch vorlegte! Das war zwar in Bayern, aber unter einem Chef, der vielleicht fortschrittlicher war als mancher republikanische. Und denken Sie an von Liszt, an Gustav Radbruch. Ich werde das Gefühl nicht los, daß sich einige von Ihnen aus der Opposition dieser Tradition anschließen wollen.Wir haben nichts dagegen, wenn Sie unseren Reformvorschlägen mit Kritik begegnen,
aber wir wehren uns dagegen, daß Sie Unterstellungen bringen, die unsere Vorschläge in ein schiefes Licht rücken.
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5530 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Dr. de WithUnd genau das, Herr Vogel, haben Sie zu tun versucht, ebenso wie Herr Wörner. Ihre Vogel-Perspektive, Herr Vogel,
war meiner Meinung nach bei Gott kein Höhenflug.
Und wenn Sie Zweifel daran haben, was ich bei Herrn Wörner meine, darf ich nur auf dies verweisen: er hat einen einzigen Satz auf die Strafrechtsreform verwendet und darin bezeichnenderweise das Wort „Pornographie" verwendet.
Ich darf mit Genehmigung zitieren:
Wo in aller Welt nehmen Sie die Maßstäbe her, um so anspruchsvoll aufzutreten, die Freigabe der Pornographie als eine Reform uns anzubieten?
Dazu ist zweierlei anzumerken, und zwar erstens ich sage es zum wiederholten Male —, daß wir keine Freigabe der Pornographie wollen. Ich muß annehmen, daß Herr Wörner das weiß. Und zweitens meine ich, es geht — auch wenn man gerne fliegt — nicht an, das Thema Strafrechtsreform einfach mit dem einen Wort „Pornographie" abzutun. Hiermit muß man sich ernst auseinandersetzen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege de With, sind Sie bereit, zuzugeben, daß in dieser Legislaturperiode die Diskussion eingeleitet worden ist mit der Ankündigung, man werde § 184 ersatzlos streichen, und daß erst auf Grund der Diskussion die differenzierteren Überlegungen eingesetzt haben?
Ich bin nicht bereit zu sagen, daß dies von offizieller Stelle irgendwann einmal geplant worden wäre. Offenbar verwechseln Sie das mit dem Vorhaben der „Alternativ-Professoren". Ich meine, Sie sollten besser lesen, was von Regierungsseite gesagt wird.Ich kann es mir ersparen, noch einmal zu verdeutlichen, was wir in Hinsicht auf die Pornographie wollen. Nachdem dies eine Debatte über den Etat des Justizministers ist, sollten wir uns, meine ich, mehr auf das konzentrieren, was der Justizminister im letzten Jahr vorgelegt hat und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Sie sich mehr mit dem befaßt hätten, was verabschiedet worden ist.
Wir haben das Dritte Strafrechtsreformgesetz verabschiedet, und wir hatten dabei hier eine Konfrontation. Soweit ich sehe, war dies übrigens, was Strafrechtsgesetzesvorhaben anlangt, das einzige Mal, daß Sie von der Opposition eine echte Alternative vorgelegt haben. Offenbar verzichten Sie jetzt, nachdem Sie gemerkt haben, daß Sie mit Ihren Vorschlägen in der Öffentlichkeit nicht gut ankommen, darauf, weitere vorzulegen.Wir haben neben dem Dritten Strafrechtsreformgesetz die Amnestie durchgeführt, und ich glaube, daß wir alle - auch wenn es mancher vielleicht nicht einräumt — jetzt einsehen, daß es nicht nur ein mutiger, sondern auch ein weiser Entschluß war, zu diesem Zeitpunkt zu amnestieren.
Dieser Staat hat — im Gegensatz zu dem, was andere behauptet haben — kein Stück Autorität verschenkt, als er dabei großzügig verfahren ist. Ich meine, er hat seine Autorität eher gestärkt, und das hat auch eine Demokratie nötig.Wir haben eine neue Regelung des Rechts unschuldig Verfolgter gebracht; wir haben das Bundeszentralregisterwesen nach 50 Jahren endlich reformiert. Ich erinnere mich, daß auch Ihr Herr Eyrich dafür damals lobende Worte fand.Wenn wir jetzt einen Diskussionsentwurf über das Ehescheidungsrecht und den ersten Entwurf eines Strafrechtsreformgesetzes für die Sexualstraftaten vorlegen, dann können Sie sich darauf verlassen, daß diese Vorlagen auf der Linie liegen, die wir mit dem ersten und dem zweiten Reformgesetz unter Gustav Heinemann zu verfolgen begonnen haben. Ich meine — und ich wiederhole das —, es wäre wünschenswert, wenn Sie bei diesen Punkten weniger mit Unterstellungen und mehr mit Sachkritik antworten könnten. Ich erinnere an die Hinweise von Herrn Jaeger gegenüber dem Scheidungsrecht, als er von „Scheidung — Vielweiberei auf Raten" sprach. Ich meine, damit hat er sich selber disqualifiziert.
Ich kann es mir ersparen, die Argumente zu wiederholen, die gegenüber der Reform des Sexualstrafrechts gefallen sind.Wenn Sie, Herr Lenz, am Ende gefragt haben, welche Grundsätze eigentlich die Sozialdemokratische Partei bei ihren Reformen an den Tag legt, so kann ich Ihnen vielleicht mit drei Sätzen antworten:Erstens. Wir wollen nicht nur die über die derzeitig geltenden Gesetze hinausgehende Rechtsprechung kodifizieren.Zweitens. Wir wollen vielmehr Gesetze machen, die unserer Zeit entsprechen und nicht morgen wieder geändert werden müssen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5531
— Herr Lenz, es ist notwendig, daß die ZPO geändert wird. Alle die Bürger in unserem Staat, die auf ein Urteil warten und es nötig haben, rechtzeitig einen Titel in die Hand zu bekommen, werden die Intitiativen des Bundesjustizministers begrüßen, um zu einer Beschleunigung des Verfahrensgangs zu kommen.Und letztlich möchte ich als dritten Grundsatz anführen
— lassen Sie mich meinen Gedankengang zu Ende spinnen —:
wenn wir Gesetze machen, kann man das nicht einfach damit abtun, daß es heißt, die Sozialdemokraten liberalisieren wieder. Wir wollen vielmehr einmal zum Teil veraltete Gesetze, die ausgehöhlt sind und ohnehin nicht mehr beachtet werden, aufheben, andere ändern, auf der anderen Seite aber auch neue Vorschriften schaffen, um neuen Verbrechensformen begegnen zu können.
— Herr Lenz, gestatten Sie mir, daß ich zum Schluß komme. Die Debatte ist ohnehin lang genug; sonst kommt es nur zu Wiederholungen.
Herr Vogel hat mich auf einen Hinweis angesprochen, den ich auf dem Deutschen Juristentag gegeben habe. Ich finde das bezeichnend für die Politik, die Sie machen. Ich habe auf dem Juristentag gesagt, notfalls müsse jemand in der Lage sein, auch contra legem, gegen das Gesetz, zu entscheiden, und es wäre gut, wenn unsere jungen Juristen insoweit bei der Ausbildung mehr geschärft würden. Daraus haben Sie entnommen — und so ähnlich haben Sie es auch ausgedrückt —, daß ich die Jugend aufforderte, gegen das Gesetz zu entscheiden. Als ich die darauf bei einigen bestehende Unklarheit bemerkt habe, habe ich sofort eine Erklärung abgegeben, die auch einige Tage später in ihrem wesentlichen Inhalt in der FAZ abgedruckt worden ist. Trotzdem erheben Sie in diesem Haus wieder den gleichen Vorwurf und fordern mich zu einer Erwiderung auf. Ich darf, um diese Sache ein für allemal aus der Welt zu räumen, wiederholen, was ich damals u. a. gesagt habe. Ich sagte:Gemeint habe ich lediglich — und ich bin über die Fehleinschätzung einiger weniger verwundert —, daß bei fehlender Gesetzesanpassung der Richter notfalls mehr als bisher gezwungen sei, gegen den bloßen Wortlaut des Gesetzes zu entscheiden, einfach um ungerechte Urteile zu vermeiden, wie dies auch bisher schon manchmal in der Vergangenheit der Fall war, z. B.durch die Gewährung von Schmerzensgeld über die Körperverletzung hinaus oder die Gewährung von Straffreiheit bei der Abtreibung, wenn drei Ärzte die Gefahr des Todes der Mutter im Falle der Geburt attestieren. Gemeint habe ich, daß hierzu der Sinn der Juristen mehr als bisher geschärft, kurz, er insoweit besser ausgebildet werden müsse. Daß ich jene heikle Entscheidung verfassungskonform und damit weder verfassungspositivistisch noch verfassungsmystisch gefällt wissen will, bedurfte nach meinem vorangegangenen Bekenntnis zu den Thesen Rinkens meiner Auffassung nach keiner nochmaligen Unterstreichung.Ich hoffe, Herr Vogel, damit ist dieser Fall endgültig aus der Welt geräumt.
Das Wort hat der Abgeordnete von Thadden. Seine Fraktion hat für ihn eine Redezeit von 20 Minuten erbeten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine ganze Anzahl von Kollegen haben das Gefühl, daß angesichts der Tatsache, daß wir uns schon in den nächsten Monaten noch einmal mit den wichtigsten Fragen sehr gründlich zu beschäftigen haben werden, die eben in den großen rechtspolitischen Diskussionen angesprochen wurden, wir uns einmal einer anderen Frage zuwenden können, nämlich den Haushalt des Ministeriums daraufhin abzuklopfen, was er uns sagt, wozu wir Ja sagen können, was wir an Erhabenem und Lächerlichem in ihm finden.Wir von der CDU/CSU sagen ja zu allen Haushaltsansätzen, mit deren Hilfe die kontinuierliche Entwicklung unseres bestehenden Rechtssystems vorangetrieben werden soll.
Wir spüren — ich hoffe, das empfinden auch die Damen und Herren der Koalitionsfraktionen —, daß wir draußen im Lande nach zwei Richtungen zu kämpfen haben, wenn wir um die Fortentwicklung des Rechts ringen: Das eine ist die Auseinandersetzung mit den stupiden Kräften in unserem Volke, für die die Sorge um den Nächsten dann aufhört, wenn sich die Gefängnistür hinter ihm geschlossen hat. Ich gebe offen zu, daß sich dieser Stumpfsinn von Menschen, in allen Altersstufen und Wählerschichten findet. Auf der anderen Seite, meine sehr verehrten Kollegen, haben wir uns mit schwärmerischen Vorstellungen auseinanderzusetzen, wie sie beispielsweise auf dem Mainzer Juristentag in der Forderung eines Juristen zum Ausdruck kamen, der meinte, man solle in jeder Gefangenenzelle einer Haftanstalt einen Fernsehapparat aufstellen. Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, wenn ich sage: solange es noch Hunderttausende von Familien gibt, die nicht straffällig geworden sind und die sich die Anschaffung eines solchen Apparats, einer solchen „elektrischen Oma",
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5532 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
von Thaddennicht leisten können, ist eine solche Forderung nicht nur utopisch, sondern stärkt auch die in der Tat vorhandenen reaktionären Kräfte, die überhaupt keinen Fortschritt wollen.
Soviel zur Einleitung, und nun ein paar Zahlen aus diesem Haushaltsplan.Ich lese: 65 000 DM für den Verein der Bewährungshelfer. Ich lese auf der anderen Seite — ich will den umfänglichen Titel nicht zitieren, weil die dort eingesetzte 1 Million DM vorläufig gesperrt worden ist —, daß wir 1 Million DM für eine Konferenz ausgeben wollen, die auf diplomatischer Ebene über das Welturheberrecht stattfinden soll. Ich habe gar nichts dagegen, daß auch auf diesem Gebiet etwas geschieht. Aber ich möchte hier zum Ausdruck bringen, daß sehr vieles von dem, was wir an Reform und Erneuerung unseres Rechts gemeinsam erarbeiten wollen, unmöglich wird, wenn die Arbeit Tausender von Menschen, die sich beispielsweise als Bewährungshelfer draußen klaglos, ohne Entgelt und pflichteifrig für Menschen einsetzen, die gefährdet oder, strafrechtlich gesehen, bereits gefallen sind, nicht genügend anerkannt wird.Ich hoffe, quer durch die Fraktionen hindurch Verständnis zu finden, wenn ich in diesem Zusammenhang noch eine weitere Bemerkung mache. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit nicht immer nur auf die Gefangenen richten. Das sollten wir auch tun; ich habe es vorhin kurz angedeutet. Wir sollten aber auch an diejenigen denken, die die Gefangenen nun einmal zu bewachen haben. Ich denke hier insbesondere an die kleinen Justizbeamten. Hier bestehen Diskrepanzen zwischen der notwendigerweise vorerst bescheidenen Entlohnung und dem, was wir in der Zukunft von diesem Mann verlangen.
Wir erwarten von ihm, daß er gewissermaßen Professor, Psychotherapeut und möglichst auch noch Seelsorger ist. Im übrigen aber ist zur Zeit die Unterstützung unserer Gesellschaft für einen solchen Mann, der auf seinem Posten ausharren soll, oder für einen jungen Mann bzw. eine junge Frau, die als Bewährungs- oder Erziehungshelfer arbeiten, einfach zu dünn. Es hat nichts mit konservativer Verschrobenheit zu tun, wenn ich feststelle: Der Hauptgrund für das Absinken der Bereitschaft zur Mitarbeit ohne Entgelt im Dienst am Nächsten liegt darin, daß wir, dieser Staat, wir, dieses Parlament, zuwenig — ich sage bewußt: zuwenig — tun, um die immer noch vorhandene Opferbereitschaft, die gerade bei der jungen Generation immer noch vorhandene Dienstbereitschaft anzusprechen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang müssen wir uns, wenn wir an die kommenden Jahrzehnte denken — auch wir, die Mitte dieses Hauses, haben Visionen darüber, wie das aussehen sollte —, fragen, ob der Rechtsschutz für den Armen, für den Unkundigen genügend gesichert ist. Wir wollen hier heute die Arbeit all der Verbände anerkennen, die kostenlose Rechtsberatung betreiben. Aber wir werden zu überdenken haben, auch im Rechtsausschuß, ob das genügt, ob da nicht noch zuviel Leerflächen sind. Ist es nicht so, daß der eine, weil er organisiert ist, das Glück hat, in den Genuß einer Beratung zu kommen, während der andere davon ausgeschlossen ist?Nun kann man mir entgegenhalten: Ja, siehst du denn den Anwaltsstand nicht? Ich antworte darauf: Jawohl, den sehe ich. Ist aber dieser Anwaltsstand, wenn er Pflichtmandate übernehmen muß, bei der augenblicklichen Bezahlung nicht in seiner Freudigkeit beschränkt, diesen Dienst an den Armen auszuüben? Auch da sollten wir uns mehr einfallen lassen.
Ich sage ja dazu, daß im Haushaltsentwurt eine Summe von 250 000 DM eingesetzt worden ist., urn die Arbeiten an der Strafvollzugsreform voranzutreiben. Nur, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, werden wir bei bestimmten Erwartungen, soweit sie nämlich finanzieller Natur sind, auch sagen müssen, daß das recht kostspielig wird.Ich sage fur meine Freunde, Herr Minister, ein klares Ja zu einer Überprüfung des Arbeitsentgelts für unsere Gefangenen. Wir haben dabei zwei Gesichtspunkt im Auge. Zum einen — das ist der humane Gesichtspunkt - möchten wir, daß die schuldlosen Angehörigen des Gefangenen nicht über die notwendigerweise mit der Einweisung in ein Gefängnis gegebenen unangenehmen Folgen hinaus noch zusätzlich belastet werden. Aber wir wollen auch noch etwas anderes. Wir wollen nämlich, daß der Gefangene dadurch besser als bisher in den Stand gesetzt wird, das, was er angerichtet hat, wiedergutzumachen. Darum sagen wir ja dazu, wenn diese Regierung im Benehmen mit den Justizverwaltungen der Länder ich weiß so gut wie Sie, daß die hier sehr wichtig sind - Überlegungen anstellt, was getan werden kann, um die Gerechtigkeit zu stärken.Ich würde mich auch freuen, wenn von diesemganzen Hause einige kleine Gruppen, die fast unbeachtet positive Arbeit leisten, um das Verständnis für die Situation der Gestrauchelten, der Gefährdeten, aber auch der Verfolgten zu verstärken, an- erkannt würden. Ich denke hier z. B. an manche Schülerzeitungen. Ich denke aber auch an die Arbeit einer Organisation, die ohne Rücksicht darauf, ob der Betroffene in einem östlichen, in einem West-' lichen oder in einem Land der Dritten Welt Opfer seiner Überzeugung geworden ist, ihm beispringt, nämlich die Organisation Amnesty International. Hier bestehen quer durch die Reihen dieses Parlaments Verständigungsmöglichkeiten. Immer dann, wenn man sich des Unrecht Erleidenden annimmt, quer durch alle Teile unseres Globus, sind wir auf dem rechten Weg.Wenn freilich einige Sendungen eines Massenmediums den Eindruck erwecken sollten ich sage nicht, daß sie es wollen -, daß die Urteile unserer deutschen Gerichte eine Kette von Irrtümern von Sachverständigen, Dummheit des Staatsanwalts und Fragwürdigkeit richterlicher Überlegungen darstel-
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Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5533
von Thaddenlen, ist die Zeit gekommen, von dieser Stelle zu sagen, wir sollten uns hüten, negative Ausnahmen zu übertreiben.
Die Masse derer, die in unserem Volke dem Recht dient, kann in Anspruch nehmen, daß sie sich durch besondere Sparsamkeit und durch Pflichteifer auszeichnet. Ich ermutige von dieser Stelle her den Minister, wenn es zum Ringen innerhalb des öffentlichen Dienstes kommt, wie welche Tätigkeiten bewertet werden sollen, dafür einzutreten, daß unmögliche Entwicklungen, die die Justiz zu überrunden drohen, beendet werden, daß es Landgerichtsräte gibt, die in A 13 eingestuft sind, während sich in Hamburg meines Wissens bereits eine Anzahl von sicherlich sehr ehrenwerten Volksschullehrern ebenfalls dorthin bewegt. Das sind Entwicklungen, die sind nicht mehr gesund, und ich meine, da hat der Herr Justizminister ein Wort mitzusprechen.Ich komme zum letzten Teil meiner Ausführungen; dieser allerdings, Herr Minister, beschäftigt sich mit einem Punkt, der meinen Freunden und mir erhebliche Sorgen bereitet, nämlich mit der Tatsache, daß das, was Sie für die Unterrichtung der Öffentlichkeit über das Rechtswesen ausgeben wollten - es wurde Ihnen ja durch den Haushaltsausschuß beschnitten -, gegenüber 1969 um das Sechsfache verstärkt werden sollte. Ich meine, daß Sie sich von denen abheben sollten, die uns die gerade an der Macht befindlichen Minister dadurch besonders nahebringen wollen, daß man sie mal mit Strohhut, mal als Kind im Matrosenanzug vorführt. Sagen Sie doch bitte, gerade Sie als Mann, der dem Rechte dient, wenn es wieder um solche Titel geht, Ihren Kollegen im Kabinett, daß man solche ausführlichen lieben Erinnerungen natürlich in der weiteren Verwandtschaft herumreichen kann, daß aber das deutsche Volk und vor allem der deutsche Steuerzahler davon möglichst befreit bleiben sollte.
Denn die Fülle an satiniertem Papier, das sich unter einem Minister ausbreitet oder unter ihm ausgebreitet wird, sagt nichts über seinen geschichtlichen Rang. Ich weiß, daß Ulpian, um sehr weit zurückzugehen, oder in der neueren Zeit Männer, die das Allgemeine Preußische Landrecht oder das Bürgerliche Gesetzbuch geschaffen haben, nicht von dem Publicity-Rummel begleitet gewesen sind, der heute da ist. Zur Demokratie im gesunden Sinne gehört weniger Jubel um Minister und gehört sehr viel Suchen von Aussprache.
Ich möchte Ihnen einen konkreten Vorschlag machen: Natürlich wird Ihnen auch von der Mehrheit das Geld für diesen Titel bewilligt werden. Sorgen Sie dann doch, soweit es von Ihnen abhängt, und es hängt da eine Menge von Ihnen ab, dafür, daß auch einmal folgende zwei Probleme durch eine Aktion Ihres Ministeriums der Öffentlichkeit verdeutlicht werden, wobei ich sicher bin, daß viele Massenmedien Sie dabei unterstützen werden; erstens sollte das Thema der Kindesmißhandlungen immer undimmer wieder in die Öffentlichkeit hineingetragen werden, denn es gibt eine Fülle von verborgenem Leid, das daraus erwächst, daß Menschen entweder zu feige sind oder nicht wissen, wie sie sich dagegen wehren sollen. Sagen Sie zweitens, Herr Minister, auch einmal ein Wort über die Konsequenzen des Landesverrats. Ich habe eine Szene in Erinnerung — sie ist noch nicht lange her, wie wir alle wissen —, da haben sich die Scheinwerferkegel unserer Fernsehanstalten lange auf einen Mann gerichtet, der zu einer längeren Strafe wegen Verrates an unserem Volk und an unserer Staatsordnung verurteilt worden war. Besteht da nicht die Gefahr, daß, wenn ein Mann, der so gehandelt hat — ich nenne ihn darum nicht mit Namen, weil er jetzt wieder in Freiheit ist -, ins Rampenlicht gezogen wird, mancher Unreife denken könnte: Es zahlt sich aus, Agent, Spitzel und Verräter für den Weltkommunismus zu sein? Wäre es nicht gut gewesen, Herr Minister, wenn Sie sofort nach einem solchen Vorfall ein Wort dazu gesagt hätten?Oder wie sieht es mit der illegalen Besetzung von Häusern in Frankfurt-Westend aus? Hätten Sie nicht vor der Öffentlichkeit vernehmbar Ihrem Parteifreund, dem Jungsozialistenführer Carsten Voigt, ins Gewissen reden müssen, als er die Meinung äußerte, solche Besetzungen von Häusern seien zwar illegal, aber er würde sie trotzdem politisch unterstützen? Das ist der Anfang vom Ende des Rechtsstaats!
Herr Minister, gerade Ihr Amt zwingt doch wie kaum ein anderes dazu, unparteiisch zu sein.Lassen Sie mich schließen, indem ich Ihnen, Herr Minister, sage: Meine Ausführungen sollen deutlich machen, daß das Nein, welches die Fraktion, die die breite Mitte dieses Hauses ausmacht, zu Ihrem Etat aussprechen muß, nicht. ein Nein zu allen Teilen Ihres Etats bedeutet. Ich wiederhole, überall dort, wo Vernünftiges angepackt wird, werden wir Sie unterstützen. Aber wir werden auch dafür sorgen — denn auch wir fühlen, daß ein Stück von Ihrem Eid auf uns angewendet werden könnte —, daß das Volk keinen Schaden an Spielereien mit dem Recht nimmt.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller-Emmert. Er will sich auf 10 Minuten beschränken.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie, daß ich in der gebotenen Kürze auf diejenigen Ausführungen eingehe, die sich auf das Strafrecht beziehen und insbesondere von den Kollegen Vogel und Lenz gemacht worden sind.Zunächst darf ich die beiden genannten Kollegen und damit auch die gesamte Fraktion der CDU/CSU daran erinnern, daß wir uns im Bundestag schon etwa seit 1961 mit der Strafrechtsreform beschäftigen.
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5534 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Dr. Müller-Emmert— Dies ist Ihnen, Herr Kollege Lenz, offenbar entgangen. Sie haben es vorhin so vorgetragen, wie wenn wir im vorigen Bundestag praktisch nur die Reform der Sodomie- und Ehebruchsvorschriften durchgeführt hätten. Das war von Ihrer Seite aus die Darstellung eines sehr kargen Ergebnisses, das Ihre Mitarbeit im vorigen Bundestag an diesen Problemkreisen erstaunlicherweise völlig verschweigt.Ich möchte deutlich zum Ausdruck bringen — ich glaube, das kann ich vor diesem Hause sagen, nachdem ich die Arbeit an der Strafrechtsreform schon seit langen, langen Jahren kenne —, daß eigentlich Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, diejenigen waren, die immer, soweit es um die Strafrechtsreform ging, auf dem Bremserhäuschen saßen. Sie waren diejenigen, denen man jeweils mit riesiger Energie, riesigem Fleiß und riesiger Geduld irgendwelche neue Erkenntnisse beibringen mußte, bis Sie dann endlich doch zu diesen Erkenntnissen ja sagten.
Es ist an der Zeit, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie daran zu erinnern, daß die Strafrechtsreform bis zum Ende der Sitzungsperiode im Jahre 1965 deshalb nicht zustande gekommen ist, weil Sie in dieser Zeit noch völlig altertümliche Vorstellungen, insbesondere im Bereich der Kriminalpolitik, hatten. Sie können das, wenn Sie vor sich selbst ehrlich sind, beim besten Willen nicht bestreiten. Sie müssen auch einräumen, meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen von der CDU/ CSU, daß Sie erst etwa im Jahre 1967, nämlich erst dann praktisch eingeschwenkt sind, als nach dem Zweiten Römischen Konzil eigentlich auch Ihnen klargeworden ist, daß Sie so ein wenig den Fortschritt mitmachen müssen. — Das ist wahr, Herr Kollege Vogel. Ich verstehe, daß Ihnen das unangenehm ist.
— Gleichwohl stimmt es aber. Sie können nicht - -
— Herr Kollege Erhard, warum ärgern Sie sich denn so? Sie können doch gar nicht bestreiten, daß Sie erst in der vergangenen Sitzungsperiode zu einem fortschrittlichen, modernen Strafrecht bereit waren und daß vorher alle Versuche unserer Seite, Ihnen diese Dinge entsprechend vorzutragen, vergeblich waren,
eben deshalb, weil Sie damals die Mehrheit hatten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?
Bitte sehr.
Herr Kollege Müller-Emmert, sind Sie bereit, zuzugeben, daß die Einigung im Bereich der Strafrechtsreform erst möglich war, nachdem Sie sich dazu bequemt hatten, die Verantwortlichkeit und auch die Schuldfähigkeit des Menschen in strafbaren Dingen zuzugestehen?
Nein, dazu bin ich nicht bereit, und zwar deshalb nicht, weil unsere Vorstellungen schon immer sehr klar und eindeutig waren und weil wir gerade diesen Punkt schon 1963 — zu einer Zeit, in der Sie noch nicht im Bundestag waren — hier genauso klar und konsequent vertreten haben, wie wir dies auch im Mai 1969 vor diesem Hause getan haben. Ich möchte Sie bitten, einmal die Protokolle, die diesem Hause vorliegen, zu lesen. Ich weiß, daß das ein mühsames Geschäft ist. Tun Sie es gleichwohl. Sie werden dann mit aller Sicherheit eines anderen belehrt werden.
Sie wollen also in Abrede stellen, daß Sie in der Frage dieses Mischsystems im Strafrecht mit uns einen Kompromiß gefunden haben? Wollen Sie das in Abrede stellen?
Herr Kollege Erhard, Sie wollen hier die rechtstheoretisch äußerst interessante Frage ansprechen, wie man das Strafrecht gestaltet, ob man gewissermaßen nach der Idee der défense sociale — das meinen Sie doch wohl - oder nach der Idee der Zweispurigkeit des Strafens vorgeht, und da kann ich Ihnen deutlich sagen, daß wir schon immer auf der Basis des Schuldstrafrechts gestanden und daraus noch nie ein Hehl gemacht haben. Wenn Sie vielleicht anders informiert sind, so ist das — wie oft kommt so etwas bei uns vor, Herr Kollege Erhard — eine Falschinformation. Ich biete Ihnen hier eine Wette an. Man kann ja in wenigen Minuten das Protokoll aus dem Jahre 1963 heraussuchen. Ich glaube, es war Januar 1963, als hier diese Debatte geführt wurde, als der Kollege Güde, der Kollege Wittrock, die Kollegin Diemer-Nicolaus und ich gesprochen haben. Da können Sie also unsere Grundsätze nachlesen. Gehen Sie doch nicht immer auf olle Kamellen zurück, die nicht stimmen und zudem immer wieder
aus gleichen durchsichtigen Gründen vorgetragen werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich, Herr Kollege Vogel.
Herr Kollege Müller-Emmert, ist Ihnen bekannt, daß aus Ihren Reihen, auch bei Diskussionen im Lande, immer wieder bedauernd darauf hingewiesen wird, daß man im Strafrecht
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5535
Vogeldiese Kompromisse habe schließen müssen und insbesondere der Gedanke der défense sociale nicht einen so eindeutigen Ausdruck in diesem Recht gefunden habe?
Herr Kollege Vogel, daß es auch heute noch Vertreter der Auffassung der défense sociale gibt, ist beim besten Willen nicht zu bestreiten. Die Vertreter dieser Auffassung finden Sie als Professoren, sogar als vorzügliche Professoren, an allen Universitäten der Bundesrepublik. Sie müssen doch einräumen, daß es auf diese Einzel- und Außenseiterpositionen, die es auch in Ihrer Partei — ich darf sogar sagen: Gott sei Dank — gibt, beim besten Willen nicht ankommt, sondern daß es auf das ankommt, was wir hier in diesem Hause nach eingehender Diskussion als unsere Auffassung vorgetragen haben.
Das ist die entscheidende Frage, und um diese können Sie sich nicht herumdrücken. Sie müssen sich sagen lassen, zumal Sie immer so viel Kritik üben, daß Sie in der vorigen Legislaturperiode auf unseren Kurs, was das Strafrecht und die Strafrechtsreform betrifft, eingeschwenkt sind, wenn das auch für Sie eine sehr mühsame Sache war. Aber letztlich haben Sie es doch getan - ich bin froh darüber weil die Argumente, die wir vorzutragen hatten, eben griffiger und besser waren als Ihre. Das ist der entscheidende Punkt. Deswegen verstehe ich nicht, Herr Kollege Lenz, wie Sie davon reden können, daß im vorigen Bundestag nur hinsichtlich der Vorschriften über die Sodomie und den Ehebruch Reformen vorgenommen worden seien. Insofern sind Sie denkbar ungerecht gegenüber dem vormaligen Vorsitzenden des Strafrechtsausschusses, unserem Kollegen Dr. Güde,
— der Mann hat ja auch lange genug mit uns zusammengearbeitet, Herr Kollege Vogel —, der ganz fraglos — das muß ich wirklich voller Respekt und Achtung sagen — in diesen Bereich viele gute Ideen eingeführt hat und der, das weiß ich ebenfalls, im vorigen Bundestag viele von Ihnen erst von der Richtigkeit dieser unserer und seiner Auffassungen überzeugen mußte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Jawohl, selbstverständlich!
Sehr geehrter Herr Kollege Müller-Emmert, sollte es Ihnen wirklich entgangen sein, daß ich in meiner Rede nicht von der Arbeit des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, sondern von dem Eindruck gesprochen habe, der in der Öffentlichkeit durch das, was davon nach draußen gedrungen ist, entstanden ist? Man kann doch nicht bestreiten, daß der Allgemeine Teil, den wir in der letzten Legislaturperiode reformiert haben, in der öffentlichen Diskussion — zu meinem Bedauern — auch damals keine Rolle gespielt hat. Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit haben vielmehr die Reformen des Besonderen Teils, die ich angesprochen habe, und diejenigen, die jetzt fortgeführt werden, gestanden. Ihnen kann doch nicht entgangen sein, daß ich kein Gesamturteil über den Ausschuß abgegeben habe.
Herr Kollege Lenz, es wäre besser gewesen, wenn Sie sich schon vorhin in Ihren Ausführungen so präzise ausgedrückt hätten, wie Sie es soeben getan haben. Sie haben nämlich im Laufe Ihrer Ausführungen praktisch erklärt: Sodomie, Ehebruch, Unzucht zwischen Männern — was ist das alles? Das wurde reformiert!
Aber den wichtigen allgemeinen kriminalpolitischen Teil haben Sie völlig unterschlagen.
In diesem Zusammenhang muß ich Sie noch an etwas anderes erinnern. Das ist Ihnen vielleicht unangenehm, aber es ist eine Realität. Auch Sie haben im vorigen Bundestag im Mai 1969 der Abschaffung der Ehebruchsvorschrift, der Vorschrift über die Strafbarkeit der Sodomie und der Vorschrift betreffend die einfache Unzucht zwischen Männern zugestimmt. Damit haben Sie — ich begrüße das aus meiner politischen Sicht — letztlich zugegeben, daß Sie eine verschiedenartige Wertung des menschlichen Verhaltens vornehmen müssen, je nachdem, ob es um Sitte oder um Recht geht. Um diese Ihre Grundsatzentscheidung, die Sie im Mai 1969 getroffen haben, werden Sie jetzt, wenn die Reformberatungen weitergehen, letztlich nicht herumkommen. Sie haben damals ja gesagt, und Sie werden nicht umhin können, sich auch jetzt zu diesem Grundsatz, der inzwischen auch in Ihrem Düsseldorfer Programm verankert ist, zu bekennen. Wir werden Sie bei der Beratung jeder einzelnen Vorschrift, wenn es um die Durchführung der Reform geht, immer wieder fragen, ob Sie auf diesem Ihrem Kurs bleiben wollen oder nicht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lenz?
Bitte sehr, Herr Kollege Lenz!
Verehrter Herr Kollege, sehen Sie in dieser Ihrer Aussage soeben nicht auch eine Bestätigung meiner Bemerkung, daß gerade das Zitieren unserer damaligen Zustimmung, die Sie zum Vorwand Ihrer jetzigen Reformen nehmen, für uns ein Anlaß sein könnte, unsere damalige Zustimmung zu überdenken?
Das ist eine völlig andere Frage, Herr Kollege Lenz. Ich sehe in Ihren Ausführungen eine Bestätigung dessen, daß Sie im Mai 1969 eine richtige Entscheidung getroffen haben, und ich werde Ihnen diese damals und auch heute noch richtige Entscheidung immer wieder in Erinnerung bringen, wenn Sie in Zukunft von dieser richtigen Entscheidung abweichen wollen.
herr Kollege Lenz, Sie haben im Rahmen Ihrer Ausführungen auch noch die Schrift „Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung" zitiert. Sie haben behauptet, daß dies eine kirchenamtliche Außerung sei. Sie stießen sofort auf Protest von dieser Seite des Hauses, waren aber der Meinung, daß dieser Protest nicht gerechtfertigt sei. Ich habe mir diese Schrift schnell besorgt. Ich halte es für dringend notwendig, aus dem Vorwort zu dieser Schrift, selbstverständlich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten, zu zitieren. Das Vorwort stammt von Bischof Dietzfelbinger und Kardinal Döpfner. Dort heißt es:
Ein kleiner Kreis von verantwortlichen und sachkundigen Autoren aus beiden Kirchen hat es unternommen,
Sie hören, Herr Kollege Lenz: ein. kleiner Kreis zur grundsätzlichen Frage nach dein Gesetz des Staates und der sittlichen Ordnung eine gemeinsame christliche Aussage zu formulieren und von ihr her zu einigen Schwerpunkten der öffentlichen Diskussion über die Reform des Eherechts und des Strafrechtes Stellung zu nehmen. Dem Autorenkreis gehören an: auf evangelischer Seite Bischof Kunst, Oberkirchenrat Wilkens, Dr. med. Wrage, auf katholischer Seite Prälat. Forster, Professor Mikat, Prälat Wüste. In diesem Autorenkreis ist neben der Sachkompetenz auch ein breiter Bereich kirchlichen Auftrages für Fragen der Gesellschaft und der Öffentlichkeit vertreten.
Sie sehen also, daß es sich hier wirklich nicht um eine kirchenamtliche Schrift handelt.
Wie diese Schrift angekommen ist,
Herr MüllerEmmert, nur um kein Mißverständnis entstehen zu lassen: ich habe nicht gesagt, daß sie als kirchenamtliche Schrift entstanden ist, sondern daß sie hinterher die Billigung gefunden hat. Und dagegen sagen die von Ihnen zitierten Stellen gar nichts.
Herr Dr. Lenz, Sie mißbrauchen die Geduld des amtierenden Präsidenten. Sie können Fragen stellen, aber Sie dürfen von Ihrem Platz aus keine Reden halten, solange ein anderes Mitglied des Hauses das Wort hat.
Herr Kollege Lenz, Sie haben sich vorhin klar, und zwar falsch, ausgedrückt, und es ist notwendig, daß von unserer Seite aus dieser Ihr falscher Hinweis deutlich berichtigt wird. Deswegen war ich verpflichtet, Ihnen das hier zu sagen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Präsidentin Funcke?
Bitte sehr!
Herr Kollege Müller-Emmert, würden Sie dem Fragesteller Lenz sagen, daß kirchenamtliche Äußerungen, zumindest im evangelischen Raum, nur dann erfolgen können, wenn die Synode einer solchen Denkschrift zustimmt?
Ich danke Ihnen, Frau Kollegin Funcke. Ich habe ja letztlich durch diesen Hinweis, daß es sich nicht um eine kirchenamtliche Äußerung handelt, wohl das Entscheidende gesagt.
Eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt.
Würden Sie bitte dem Kollegen Lenz sagen, Herr Kollege Müller-Emmert, daß inzwischen keine Synode und meines Wissens auch seit dem 10. Dezember 1970 keine katholische Bischofskonferenz stattgefunden hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, der Herr Kollege Lenz nimmt dies gebührend zur Kenntnis.
Eine dritte Zwischenfrage!
Herr Kollege Müller-Emmert, würden Sie bereit sein, dem Herrn Minister der Justiz unter den gleichen Gesichtspunkten nahezulegen, die Äußerungen zum Ehescheidungsrecht, die von der evangelischen Seite gemacht worden sind, dann auch nicht als Äußerungen der Evangelischen Kirche zu bezeichnen?
Der Herr Minister wird sicher auch in diesem Bereich wissen, was er zu tun hat. Darauf können Sie sich verlassen.
Ich darf Ihnen nur ganz kurz noch sagen, daß diese Schrift immerhin erhebliche Diskussionen ausgelöst hat, sowohl im Bereich der Katholischen als auch der Evangelischen Kirche, Diskussionen sehr, sehr kritischer Art. Es gibt beispielsweise Kritiker, die sagen:Statt die Reformer durch gangbare Lösungsvorschläge zu unterstützen, trägt man zu einer für den gesellschaftlichen Frieden gefährlichen und gänzlich übertlüssigen ideologischen Polarisierung bei.Dies nur als Zitat!
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Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5537
Dr. Müller-EmmertVielleicht haben Sie es, Herr Kollege Lenz, versäumt, die „Frankfurter Allgemeine" vom 8. Januar 1971 zu lesen, in der ein Beitrag von Hanno Kühnert zu dieser Schrift erscheint. Ich darf auch hier zitieren:Die Schrift der sechs Kirchenmänner, unter denen sich kein einziger Strafrechtslehrer befindet, befaßt sich mit zwei strafrechtlichen und einem eherechtlichen Reformplan. Der Ehescheidung widmet sie 5, dein Schwangerschaftsabbruch 4 1/2 und der Pornographie - dein unwichtigsten Thema — 8 1/2 Seiten. Da über Pornographie schon zuviel gestritten wurde, nur eine Probe aus dieser Schrift:
- Es wäre wirklich sehr interessant, wenn Sie das vorher schon gelesen hätten.
Hören Sie doch bitte einmal ruhig zu! Das schadet Ihnen wirklich nichts; dann sind Sie bei der nächsten Diskussion um so flüssiger.Es wird da auf Seite 19 gesagt, erste Beispiele würden bereits erkennen lassen, was für die in allen Wohnungen stehenden Bildschirme zu erwarten sei, wenn die zur Zeit noch geltenden strafrechtlichen Sicherungen fielen. Das zeigt,so sagt Herr Kühnert -daß die Reformprobleme nicht wirklich studiert wurden. Im Fernsehen würde sich nämlich auch nach der Reform nichts ändern. Keinesfalls dürfte Pornographie auf den Bildschirmen flimmern.Sie sehen, daß man über diese Schrift die verschiedenartigsten Auffassungen vertritt und daß man diese Schrift sehr eingehend und gründlich prüfen muß.Wir von der Fraktion der SPD haben inzwischen schon längst das Gespräch mit cien Kirchen, nicht auf offiziöser, sondern offizieller Ebene begonnen. Wir haben schon vor einigen Wochen ein eingehendes Gespräch mit Herrn Prälat Wöste und seinen Mitarbeitern geführt, ein, wie ich meine, sehr ergiebiges und fruchtbares Gespräch. Wir werden in der nächsten Woche genauso ein Gespräch mit Herrn Bischof Kunst und seinen Mitarbeitern führen. Sie können sich darauf verlassen, daß wir alle diese Probleme sehr eingehend prüfen.Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Ich habe Verständnis dafür, Herr Lenz und Herr Vogel, daß Sie im Rahmen Ihrer Oppositionstätigkeit aus Gründen der Pflichtübung hier einiges vortragen mußten.
— Uns auch, das muß ich Ihnen sagen. Sie haben uns einen erheblichen Gefallen bereitet, indem Sie das taten.
Ich weiß, daß wir im Bereich des Strafrechts fraglos eine breite Basis benötigen. Wenn Sie heute Ihre Meinung gesagt haben, ist es wohl selbstverständlich, daß Sie uns nicht verübeln, daß auch von unserer Seite aus unsere Meinung vorgetragen wurde. Wir müssen aber - ich darf an das Beispiel der vorigen Sitzungsperiode erinnern immer daran denken, daß es notwendig ist, eine Strafrechtsreform auf breiter Basis durchzuführen. Deswegen meine ich, daß es gut ist, daß wir so eingehend diskutiert haben, daß es aber noch besser ist, wenn wir in den nächsten Tagen und Wochen beginnen, eine gute, sachliche, gemeinsame Arbeit zu leisten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stark.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst zum Ausdruck bringen, daß das, was wir hier heute tun, für uns keine „Pflichtübung" ist. Ich bin auch nicht der Meinung des Kollegen de With, daß hier schon viel zuviel zu diesen Punkten gesprochen wurde. Hören Sie sich draußen um, was über diese Probleme, die wir heute hier erörtern, gesprochen wird. Daß Ihnen diese Diskussion nicht sehr willkommen ist, Herr de With, dafür habe ich Verständnis.
Wenn hier von Herrn Müller-Emmert der Versuch gemacht wird, uns bezüglich der in der letzten Legislaturperiode verabschiedeten Gesetze in das Bremserhäuschen zu setzen — Gesetze, an denen ich persönlich mitgearbeitet habe, unter anderem zum Unehelichenrecht und zum Strafrecht -, so kann dieser Versuch einfach auf Grund der Tatsachen nicht gelingen. Ich darf Ihnen auch sagen, daß wir zu dem, was wir dort verabschiedet haben, stehen, Herr Müller-Emmert. Der Unterschied ist nur der: damals hatten Sie nicht eine Stimme Mehrheit in den Ausschüssen, damals mußten Sie auf uns hören, damals haben Sie noch mit uns sachlich diskutiert. Dazu sind Sie im Augenblick nicht mehr bereit; zum Teil gegen bessere Überzeugung, wie ich im Rechtsausschuß selber erlebe, wo Sie zunächst unseren Vorschlägen zustimmen, dann von oben eine Anweisung bekommen, daß das nicht gewollt wird, und dann wieder Ihre Beschlüsse zurücknehmen müssen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller-Emmert?
Herr Kollege Stark, wollen Sie diesen Ihren Vorwurf auch auf den Strafrechtsausschuß beziehen?
Nein, Herr Müller-Emmert, ich gehöre dem Strafrechtsausschuß nicht an. Aber ich habe, was die Bereitschaft zur
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5538 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Dr. Stark
sachlichen Diskussion anbelangt, auch über den Strafrechtsausschuß von den Kollegen, die dort tätig sind, nichts Gutes gehört.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?
Herr Stark, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir keiner Diskussion ausweichen, mag sie auch unangenehm sein, daß wir aber nichts davon halten, daß viele Dinge mehrmals diskutiert werden, so daß es den Bürger letzten Endes staatsverdrossen macht, weil er immer wieder dasselbe hört?
Herr de With, wenn Sie hier mit Unterstellungen kommen, glauben Sie doch nicht, daß Sie uns damit beeindrucken können. Wir werden über diese wichtigen Fragen der Rechtspolitik — es besteht heute erstmals die Möglichkeit — so lange diskutieren, wie wir das für erforderlich halten.
Ich darf vorweg sagen: Es kann keine Rede davon sein, daß wir uns auf dem Gebiet der Rechtspolitik und der Strafrechtsform ins Bremserhäuschen setzen wollen.
Wir sind bereit, dort, wo wirklich fortschrittliche Änderungen, fortschrittliche Vorschläge — aber nicht nur modernistische, Herr Müller-Emmert, das allein besagt noch gar nichts — gemacht werden, mitzuarbeiten, wie wir das in der Vergangenheit getan haben. Sie sagen, wir erkennten die Ergebnisse der Wissenschaft nicht an, z. B. auf den beiden Gebieten Pornographiefreigabe, Gruppensex, Kuppelei usw.
Sie hatten doch ein Hearing, Herr Müller-Emmert, zu diesen Fragen. Sie waren doch Vorsitzender. Das hören Sie natürlich nicht gern, was ich jetzt sage.
— Wollen Sie vielleicht einen Moment zuhören! Mit Lachen und Schreien werden Sie mich nicht davon abhalten, Ihnen jetzt einige Wahrheiten zu sagen, die Sie nicht gern hören.
Herr Müller-Emmert, Sie waren doch Vorsitzender dieses so berühmt gewordenen Hearings, in welchem die angeblich so klaren wissenschaftlichen Aussagen zu diesem Problem gemacht wurden. Die ganze Presse, die es verstanden hat, hat doch geschrieben, hier habe die Wissenschaft die Politiker verlassen, und die Politiker müßten jetzt selber den vernünftigen, gesunden Menschenverstand anwenden, um die Probleme zu lösen, weil der eine Wissenschaftler so sage, der andere völlig anders. Sie können doch nicht davon ausgehen, daß hier gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen.Die Bundesregierung schreibt es ja selbst in ihren Entwurf hinein:Der Entwurf bemüht sich, neueren Erkenntnissen der Medizin, Psychologie und Pädagogik Rechnung zu tragen. Allerdings— wörtlich, ich zitiere! —fehlt es im Hinblick auf einen Großteil der für die Entscheidung erheblichen Fragen an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen.Herr Müller-Emmert, wir kennen uns sehr gut vom Fußball her, nicht nur vom Strafrecht.
Herr Müller-Emmert, ich darf Ihnen einmal klar sagen, wo wir uns außer im Fußball, wo Sie in der Verteidigung spielen und ich im Sturm, noch unterscheiden.
Wir sind zu wirklich fortschrittlichen Lösungen auf der Grundlage unserer sozialethischen Übereinstimmungen in den Grundwerten bereit. Wir sind nicht dazu bereit, wenn Sie ein Strafrecht machen wollen, das einigen Dutzend superprogressiven Leuten entspricht, das aber 80 % bis 90 % unserer Bevölkerung ablehnen.
In diesem Zusammenhang muß ich noch einmal auf den Kollegen Hirsch zurückkommen. Hier scheiden und unterscheiden sich die Geister wirklich. Herr Hirsch, es tut mir leid, daß ich Sie noch einmal zitieren muß. Sie haben im SPD-Pressedienst vom 17. Dezember geschrieben:Der Gesetzgeber steht erstmals — erstmals, das ist ganz neu —seit dieser Regierungsbildung vor einer neuen Aufgabe. Er soll Gesetze schaffen, die nicht die Erfahrungen der Vergangenheit wiedergeben, damit notwendig retrospektiv sein müssen, sondern zum Ziel haben, soziologische Verhaltensmuster für die Zukunft zu umschreiben.
Sehen Sie, genau da sind wir nicht bereit, von einer ungesicherten soziologischen — zum Teil soziologistischen — Wissenschaft wie Sie Muster zu übernehmen, die noch völlig ungeklärt sind, in bezug auf die noch keine einheitliche Auffassung besteht, ob sie auch tatsächlich fortschrittlich im Sinne einer guten Regelung unserer Rechtsordnung sind. Da sind wir nicht bereit, auf Ihre sozialdemokratischen Muster einzuspringen. Wenn es lauter sozialdemokratische wären! Aber woher erhalten Sie denn Beifall für Ihre Muster? Von Leuten, die noch weit links von Ihnen stehen, zum Teil von Soziologen, die mit der Wertordnung, die wir haben, überhaupt
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5539
Dr. Stark
nichts mehr zu tun haben. Von dort erhalten Sie Beifall für Ihre Reformen.
Ich komme nun zum Ehescheidungsrecht. Ich nenne Ihnen einen solchen Soziologen, der, Herr Müller-Emmert, in dem genannten Hearing z. B. sinngemäß gesagt hat, die Ehe sei eine Gefahrenoder Risikogemeinschaft mit Freizeit- und Erholungswert. Von solchen Auffassungen trennen uns Welten, Herr Müller-Emmert.Nehmen Sie einmal den ersten Entwurf zum Ehescheidungsrecht, Herr Minister, den Diskussionsentwurf. Sie können doch nicht bestreiten, daß dieser Entwurf Bedenken hervorgerufen hat. Sie haben es selber bestätigt, indem Sie ihn zurückgezogen haben, nachdem Sie sehr viel Geld dafür ausgegeben haben, ihn unters Volk zu bringen. Warum haben Sie denn diesen in Ihren Augen hervorragenden Entwurf zurückziehen müssen? Warum hat denn selbst Ihr Fraktionsvorsitzender Wehner Bedenken geäußert? Warum haben Ihre Kolleginnen Huber und Timm Bedenken geäußert? Warum haben die Kirche und viele, viele außerhalb unserer Kreise Bedenken geäußert? Tun Sie doch nicht so, als ob da nur eine kirchliche Schrift im Raume stände, mit der Sie sich auseinanderzusetzen hätten!
Aber auch wenn Sie hier Konzile und Dekrete katholischer und evangelischer Kirchen zitieren— tun Sie wiederum nicht so, als ob wir Befehlsempfänger der Kirchen wären! Wir entscheiden uns frei. Wir werden zwar diese Schriften mit in unsere Überlegungen einbeziehen, aber wenn Sie glauben, daß wir uns allein danach richten müßten, daß wir sozusagen ein verlängerter Arm der Kirchen seien, dann kennen Sie die CDU nicht, dann leben Sie in Ihrem Vorurteil.
Zum Ehescheidungsrecht noch, Herr Minister. Sie regen sich darüber auf, daß wir Ihnen unterstellen, diesem Entwurf — es ist nicht ausdrücklich darin enthalten — liege eine Ehe auf Zeit zugrunde. Wenn Sie den automatischen Fristenablauf für die Ehescheidung vorsehen, wo der eine Partner sich also nur noch trennen muß, ganz gleich, aus welchem Grunde, und nach einem gewissen Zeitablauf zum Richter läuft und sagt: „So, jetzt ist die Zeit herum" und der Richter gar nicht mehr zu prüfen hat, warum und wieso geschieden werden soll, wenn Sie dann noch in Ihren Diskussionsentwurf den Satz aufnehmen: „Ab Ehescheidung hat jeder für sich selber zu sorgen", und wenn es in der Begründung noch sinngemäß heißt: Es muß alles darauf angelegt werden, daß die beiden Ehepartner sich auch wirtschaftlich möglichst schnell trennen, — dann riecht das doch verdächtig danach, daß man die Ehescheidung erleichtern will, daß man dem einen Partner — im Regelfall ist das in der soziologischen Wirklichkeit der Mann — die Ehescheidung erleichtern und ihn dann noch vom Unterhalt freistellen will.Ich gebe Ihnen zu, was die Unterhaltsregelung betrifft, bringt der Entwurf in einem Fall eine Verbesserung. Die schuldig geschiedene Frau hatte bisher keinen Anspruch auf Unterhalt. Aber in allen übrigen Fällen bringt dieser Diskussionsentwurf und offensichtlich auch der Referentenentwurf — ich kenne ihn leider noch nicht genau - -
— Entschuldigung, Sie haben vorhin offenbar nicht bemerkt, daß der Referentenentwurf nur einem Teil der Kollegen und diesen vertraulich zugestellt wurde, während Sie mit diesem Entwurf offen im Lande herumfahren. Das ist doch ein Problem der Informationspolitik Ihres Herrn Ministers und nicht mein Problem.
Man muß dann noch die soziologische Wirklichkeit sehen, wonach mehr als 50 % der Frauen nicht den Status haben, den der Entwurf unterstellt. Der Entwurf unterstellt praktisch, daß beide Ehepartner voll ausgebildet und berufstätig sind. Das steht zum Teil auch als Kommentar in Ihrem Diskussionsentwurf, der offenbar so hervorragend war und den Sie trotzdem zurückziehen mußten.
Meine Damen und Herren, diesem Gesetzentwurf können wir so nicht zustimmen.
Wir sind nicht gegen eine vernünftige Neuregelung des Ehescheidungsrechts. Das haben wir deutlich gesagt. Herr Minister, Sie haben gesagt, es gehe nicht um ein Ehescheidungsrecht — davon hätten Sie gar nicht gesprochen —, Ihnen gehe es um ein neues Eherecht. Der Entwurf heißt aber „Neuordnung des Ehescheidungsrechts und der Scheidungsfolgen".
— Ja, Herr Dürr, das tut mir weh. Ich weiß es.
Sie können sich doch mit solchen Äußerungen nicht aus der Verantwortung für diesen Entwurf wegstehlen.Nun noch kurz zur Pornographiefreigabe, die Sie heute nicht mehr wahrhaben wollen. Meine Damen und Herren, auch hier ein klares Wort. Es wird gesagt: Was wollt ihr denn? Nach dem jetzigen Rechtsstand ist ja die Pornographie nicht freigegeben, und trotzdem geschieht auf diesem Gebiet sehr vieles, was wir nicht wünschen. Ja, wundern Sie sich denn, daß, wenn Sie seit anderthalb Jahren täglich über Pornographiefreigabe reden und schreiben: „Das wird freigegeben", kein Polizist und kein Staatsanwalt und niemand etwas dagegen tut? Das ist
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5540 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Dr. Stark
- Entschuldigung, haben Sie einen Entwurf zur Pornographiefreigabe vorgelegt, oder haben wir einen vorgelegt?
Es kann durchaus überlegt werden — darüber lassen wir mit uns reden —, daß es strafrechtlich irrelevant ist, was der einzelne in seinem Intimbereich macht, ob er etwa Pornographie liest, und „genießt", wenn er glaubt, das trage zu seinem „Lustgefühl" bei, wie Sie es zum Teil begründen. Ich persönlich bringe überhaupt kein Verständnis dafür auf, was das mit der Befreiung des angeblich so repressiv bedrückten Menschen in unserer Gesellschaft der Bundesrepublik zu tun hat. Es wird ja so getan, als ob wir in einem puritanischen und prüden Staat lebten, in dem die Menschen auf sexuellem Gebiet total unterdrückt seien und jetzt durch diesen Entwurf befreit werden müßten. Also, ich weiß nicht, welche Vorstellungen und welche Erfahrungen dabei denjenigen von Ihnen, die diesen Entwurf gemacht haben, zugrunde liegen.
Ich fühle mich in keiner Weise repressiv unterdrückt.Meine Damen und Herren, ich sehe auch nicht die Motive, auf Grund derer das mit dieser Hartnäckigkeit betrieben wird und warum Sie, Herr Minister, nicht andere Prioritäten setzen. Diese Prioritäten wurden zum Teil schon genannt. Unsere Bürger warten auf eine Beschleunigungsnovelle, sie warten auf eine Gerichtsverfassungsreform und andere Dinge. Aber dies hier hat bei Ihnen offenbar höchste Priorität. Und ich weiß keinen Gesichtspunkt — und keiner konnte mir bisher einen nennen , der dies begründete, weder den der Menschenwürde noch den, der mit „mehr sexuelle Freiheit" bezeichnet wird, durch den dieses Vorhaben erforderlich wird.
Damit hier kein Mißverständnis entsteht: Ich glaube, viele draußen im Lande selbst und hier im Bundestag wissen nicht genau, worüber wir beim Thema „Pornographie" sprechen. Den Eindruck habe ich.
Ich würde empfehlen — ich muß das tun, denn es gehört zu unserem Geschäft —, sich einmal die neuesten beschlagnahmten Filme auf diesem Gebiet anzusehen.
Meine Damen und Herren, da werden solche Schweinereien und ein Sexualverhalten perverser Art dargestellt, daß ich keinen Gesichtspunkt sehe, unter dem so etwas irgend jemanden nützen soll; warum so etwas freigeben, hergestellt und verkauft werden soll — mit Ausnahme eines einzigen: des Interesses eines kräftigen Geschäftszweiges, der bereits auf Vorrat arbeitet.
Ich möchte es einmal salopp sagen.
— Ja, Herr Fellermaier, lebendig, hoffe ich; es muß nicht unbedingt salopp sein.
Wir sind auf diesem Gebiet keinerlei Prüderie. Und ich möchte auch einmal sagen, wer da glaubt — so wird zum Teil von Ihnen draußen argumentiert; ich habe es erlebt —, wir seien z. B. gegen die Darstellung eines Mädchens in einer Illustrierten, das sei für uns Pornographie, der arbeitet draußen in der Diskussion uns gegenüber mit Unterstellungen, um uns ins Bremserhäuschen und in die rechte Ecke zu stellen, in diese rückständige Ecke, in die uns auch Herr Müller-Emmert heute hineinzustellen versucht hat.
Herr Minister, ich möchte zum Schluß einen Appell an Sie richten.
Herr Abgeordneter, hier wird eine Zwischenfrage gewünscht.
Herr Dr. Stark, nachdem der Entwurf des Vierten Strafrechtsreformgesetzes den Stempel „Vertraulich" nicht trägt, darf ich Sie fragen, ob Sie den § 184 wirklich gelesen haben. Wenn das so wäre, könnten Sie das, was Sie hier gesagt haben, nicht mit gutem Gewissen sagen.
Ich habe den § 184 nicht nur einmal gelesen, sondern ich habe mich seit Wochen mit dieser Materie zu beschäftigen, im Arbeitskreis.
Der Redner hat nicht die Sache, sondern offenbar das Gesetz gemeint!
Nein, meine Herren, nicht am Demonstrationsobjekt, sondern im Arbeitskreis Recht der CDU/CSU-Fraktion!
Und ich hoffe, daß Sie sich, da Ihr Minister einen solchen Entwurf vorlegt, auch damit beschäftigen und das nicht unterlassen.
Herr Minister, wenn Sie, wie Sie hier immer wieder betont haben, auf diesen Gebieten eine gemeinsame Grundlage wollen, müssen Sie sich fragen, ob das, was Sie vorgelegt haben, und auch das, was Ihre Kollegen zum Teil ausgeführt haben, eine Basis für unsere Mitarbeit ist. Ich glaube, ich darf Ihnen sagen, wir sind bereit, an einer Reform des
Dr. Stark
Strafrechts, des Ehescheidungsrechts und auch an einer Überprüfung des ganzen Gebietes der Pornographiegesetzgebung mitzuarbeiten. Aber dann müssen Sie anders mit uns umgehen, dann müssen Sie auf unsere Argumente hören und dürfen nicht so, wie Sie es heute getan haben, sagen: Aber, aber, wir haben ja die Mehrheit; wir, SPD und FDP, werden unsere sozialdemokratischen Vorstellungen hier durchdrücken. - Dann können Sie nicht damit rechnen, daß wir auf das eingehen, was Sie vorschlagen. Und wenn dann Herr Hirsch noch meint, wir sollten sozialdemokratische Zukunftsmuster in die Rechtspolitik einführen, gilt dem unser klares Nein.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist immer wieder etwas überraschend, zu sehen, wie sich vom Saal 2104 bis hier herüber die Tonart, die Argumentationsweise, der Stil der Herren Kollegen, die man von dorther kennt und schätzt, doch sehr wesentlich verändert. Insbesondere die, wie er selber sagte, temperamentvollen Ausführungen von Herrn Stark machen es mir leicht, einmal etwas deutlicher und etwas weniger im Detail — so haben es ja alle gehalten — zu sagen, was wir von Ihren Darlegungen heute halten müssen.Zunächst zu dem letzten, was Sie, Herr Dr. Stark, gesagt haben. Die SPD und die FDP werden niemals sozialdemokratische Rechtspolitik machen, sondern wir machen die Rechtspolitik dieser Koalition. Das kann ich mit sehr gutem Gewissen sagen auf Grund der außerordentlich guten Zusammenarbeit, die zum einen auf klaren Absprachen und auf dem unbedingten Willen zu ihrer Einbehaltung beruhen, die zum anderen aber — Frau Diemer-Nicolaus hat das bereits betont — auf einer weitestgehenden sachlichen Übereinstimmung beruht, die wir in diesen Fragen mit Ihnen nie gehabt haben.
Sie haben vorhin die kühne Frage gestellt, warum wir nicht früher mit Ihnen Reformen durchgeführt hätten. Ihr wesentliches Reformverdienst sehe ich darin, daß Sie damals, als Sie einmal sämtliche Reformen allein hätten machen können, als Sie im Besitz der absoluten Mehrheit waren, darangegangen sind, den § 48 Abs. 2 des Ehegesetzes gegen jeden Sachverstand und gegen jede Erkenntnis aus der Praxis, aus rein grundsätzlichen Überlegungen weltanschaulicher Art, die wir einfach nicht dem gesamten Volk oktroyieren können, so zu ändern, daß inzwischen die Verhältnisse so untragbar geworden sind, daß sie — darin sehe ich das Positive daran — dazu beigetragen haben, die jetzt vorliegende Reform beschleunigen zu helfen,
weil nun in jeder Anwaltspraxis ein Bündel vonAkten liegt, die auf die von Ihnen aus weltanschaulichen Gründen vorgenommene Anderung des § 48 Abs. 2 zurückgehen und von denen jede einzelne ein hartes und ungerechtes und in keiner Weise vom Gesetzgeber zu vertretendes Lebensschicksal bedeutet. Sie können sich die Einzelheiten, soweit Sie sie nicht aus eigener Erfahrung kennen, bei jedem Anwalt, der sich überhaupt mit diesem Problem schon befaßt hat, mühelos erfragen.Und nun kommen Sie hierher und sagen: Was ihr hier macht, das taugt alles gar nichts; wir sind zwar im Grundsatz mit dem Zerrüttungsprinzip einverstanden, aber im übrigen ist alles nichts. Eines ist doch hier schon ganz deutlich von Herrn Hirsch gesagt worden: Wenn wir über das Zerrüttungsprinzip einig sind, wenn wir darüber einig sind, daß wir auf einem sehr wesentlichen und schicksalhaften Gebiet mit der Heuchelei aufräumen wollen, zu der die Anwälte, zu der die Richter und die Parteien durch das geltende Recht gezwungen werden,
dann ist das Entscheidende doch schon geleistet, und zwar in völliger Übereinstimmung zwischen unseren Fraktionen hier im ganzen Haus.
— Ich rede im Moment
— über das Ehescheidungsrecht, für das ein Reformvorschlag vorliegt, der überaus entgegenkommenderweise als Diskussionsentwurf bereits langfristig der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und der Ihnen Gelegenheit gegeben hat, alle Ihre Vorstellungen zu überdenken und vorzutragen.
- Das Wesen eines solchen Diskussionsentwurfes sehe ich für meine Person darin, daß er die Basis ist, von der aus man beliebig viele Diskussionsoder Referenten- oder wie immer Sie wollen Entwürfe fortentwickeln kann, so lange, bis wenigstens unter denen, die guten Willens sind, das erforderliche Maß an Übereinstimmung herbeigeführt worden ist und eine wirklich brauchbare Arbeit mit einer breiten Mehrheit verabschiedet werden kann.Nur für den Fall, daß das nicht möglich sein sollte - alle Redner, nicht zuletzt der Herr Bundesjustizminister selbst, haben betont, daß sie dies bedauern würden —, würden wir uns allerdings entschließen, nach dieser gründlichen Diskussion mit Ihnen und mit der Öffentlichkeit so zu verfahren, wie Sie 1961 verfahren sind, ais Sie Ihre Mehrheit dazu benutzten, eine überaus harte und ungerechte Regelung ohne eine Diskussion mit irgend jemandem anderen in das Gesetz hineinzubringen, aus dem sie jetzt endlich wieder heraus muß.
Sie stehen hier vor demselben Problem, vor dem Sie auch auf einigen anderen Gebieten stehen. Sie sind von Hause aus - das ist in meinen Augen
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5542 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Kleinertgewiß nichts Schlechtes — eine konservative Partei. Sie sind darüber hinaus aber auch eine Union und haben darum eine ganze Menge Leute in Ihren Reihen, die keineswegs konservativ sind. Außerdem entspricht es nicht dem Stil der Zeit, schlechthin konservativ zu sein; ein bißchen Fortschritt muß schon dabei sein.
Ihr Problem ist jetzt: Wie stellen wir das der Öffentlichkeit am besten dar? Genau das haben alle Ihre Redner heute versucht. Da man jedoch einen solchen Zwiespalt nicht mit sachlichen Argumenten lösen kann, ist es Ihnen allen auch heute nicht gelungen.Ich habe darüber nachgedacht, woher die Unruhe kommt, die Herr Vogel beklagt hat. Über die Ursache der Unruhe ist einiges gesagt worden. Ich habe darüber nachgedacht unter dem Gesichtspunkt, was wohl das Spezifische an dieser Art Unruhe ist, von der ich nicht glauben kann, daß sie Sie beunruhigt.
Diese Unruhe ist das Feuerchen, auf dem Sie Ihr Süppchen kochen wollen.
Aber wie entsteht sie? Wann kann man sie besonders leicht hervorrufen? Immer dann, wenn es gelingt, irgendein Problem mit einer Angstvorstellung zu verknüpfen. Das ist das Prinzip.
Da ist einmal die Angst der alternden Frau davor, verstoßen zu werden.
Dieses Wort ist hier wiederum gefallen, obwohl kein Mensch an so etwas denkt.
Da ist zum anderen die Angst ehrbarer Bürger davor, daß ihre Kinder vielleicht demnächst gezwungen werden, in der Schule das Morgengebet durch Pornolektüre zu ersetzen.
Da ist schließlich auf einem ganz anderen Gebiet, nämlich auf dem Gebiet der Deutschland- und Ostpolitik, Ihr verzweifelter Versuch, einen weiteren, sehr wichtigen Buhmann für die kommenden Wahlkämpfe im Schrank zu behalten. Diese Sorte Buhmänner sammeln Sie, und wir wollen sie Ihnen wegnehmen, und zwar ein für allemal.
— Ich habe Ihnen gleich zu Beginn erklärt, wie ichzu argumentieren gedächte, nämlich genauso wieSie, d. h. nicht rational und nicht so, wie wir das im Rechtsausschuß — dessen bin ich ganz sicher —, dazu kenne ich Sie zu lange — noch in aller Ruhe tun werden. Hier sprechen wir nun einmal so. Wir wollen klarstellen, was Sie uns in der Öffentlichkeit — im Gegensatz zu Ihrem Verhalten hier — dauernd anzuhängen versuchen, und zwar entgegen den Tatsachen, die für Sie deutlich sichtbar auf dem Tisch liegen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich!
Herr Kollege Kleinert, ist Ihnen entgangen, daß ich z. B. in dem Teil meiner Ausführungen, den ich mit „Justizreform" überschrieben habe, niemanden in diesem Hause angesprochen habe, daß ich aber sehr gern ein deutliches Wort des Bundesjustizministers gehört hätte, durch das sehr viel von dem hätte weggenommen werden können, was es draußen im Lande tatsächlich — das wissen Sie genausogut wie ich — an Befürchtungen gibt?
Ich bin sicher, daß sich der Bundesjustizminister zu gegebener Zeit auch hierzu klar äußern wird. Ich denke, daß er sich in einer Weise äußern wird, daß reichlich Gelegenheit zur Diskussion über dieses allerdings sehr wichtige und grundlegende Problem gegeben sein wird. Ich bin aber — das sage ich hier in aller Deutlichkeit, weil Sie irgendwie auch mich angesprochen haben — der Meinung, daß alle damit zusammenhängenden Maßnahmen in einem Gesamtrahmen gesehen werden müssen, daß das endgültige Ziel und jeder Schritt dorthin überlegt werden müssen und wir hier nicht so verfahren können, wie es vielleicht früher einmal geschehen ist, nämlich daß wir einige Schritte vorangehen, ohne daß klar ist, in welche Richtung weitere Schritte gehen müssen. Ich bin aber ganz sicher, daß auch der Herr Bundesjustizminister das so sieht und daß nach den ersten Erkundungen und dem Anlaufen der ersten Diskussionen auf diesem Gebiet jetzt entsprechende Untersuchungen angestellt werden, auf Grund derer dann auch diejenigen Auskünfte gegeben werden, die heute vernünftigerweise noch gar nicht verlangt werden können.Bevor ich zum Schluß komme, möchte ich noch auf eines hinweisen. Es ist ein Problem angesprochen worden, das uns in den Diskussionen sicherlich noch des öfteren beschäftigen wird, das jedoch noch nicht ausdiskutiert ist und das auch sehr schwierig ist. Das ist die Frage der Beziehungen zwischen dem Gesetz und der Moral oder anders ausgedrückt: die Frage nach der sittenbildenden bzw. sittenerhaltenden Wirkung des Strafgesetzes.Bei der Lektüre des Protokolls über die Sachverständigenanhörung ist mir aufgefallen, daß Herr Professor Trillhaas auf eine Stelle hingewiesen hat,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5543
Kleinertdie bei Paulus in den Römerbriefen steht. Ich habe das Gefühl, daß sich noch niemand in Ihrer Fraktion mit diesem Hinweis beschäftigt hat; denn es stimmt wirklich sehr nachdenklich, was Paulus darüber vor zweitausend Jahren an die Römer geschrieben hat. Ich möchte deshalb — mit Genehmigung des Präsidenten diese Stelle verlesen, um Ihnen für Ihre weiteren Überlegungen einen sachdienlichen Hinweis zu geben:
Ist das Gesetz Sünde? Nie und nimmer. Aber ich hätte die Sünde nicht erkannt, wenn nicht durch das Gesetz. Denn von der Begierde hätte ich nicht gewußt, wenn nicht das Gesetz sagte: Du sollst nicht begehren. Die Sünde aber nahm Anlaß und weckte durch das Gebot in mir jede Begierde. Denn ohne Gesetz ist die Sünde tot.
Soweit Paulus zu der Frage.
— Herr von Thadden, ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, bei Ihnen in Theologie gelegentlich noch eine Nachhilfestunde zu nehmen.Da Herr Professor Trillhaas — er erscheint Ihnen vielleicht sachverständiger als ich — diese StelleI) zitiert hat, um daran seine eigenen Bedenken über die Wechselwirkung zwischen der Sitte und dem Gesetz aufzuzeigen, habe ich mir erlaubt, Sie auf das Zitat hinzuweisen. Ich will Ihnen damit sagen, daß in der Diskussion, die insbesondere über die Änderung des § 184 geführt wird, ganz allgemein die Gefahr besteht, daß man die Problematik dieser Wechselwirkung nicht erkennt. Im übrigen bestehen die jetzt herrschenden Zustände, Herr Dr. Stark, viel länger als seit eineinhalb Jahren, die Zustände, von denen Sie behaupten, sie würden erst eintreten, wenn wir das Gesetz ändern, und wegen derer Sie Staatsanwälten, Gerichten und damit letzten Endes auch den Länderjustizministern, von denen Sie eine ganze Reihe stellen, Vorwürfe wegen mangelnden Einschreitens machen. So einfach kann das Problem doch gar nicht sein.Deshalb sind wir der Meinung, daß allerdings etwas geschehen muß, um einen schon lange bestehenden unerfreulichen Zustand, soweit das möglich ist, wieder unter Kontrolle zu bekommen.Ich möchte noch ein rechtspolitisches Argument anführen. Ich halte es für schlechthin unangängig, daß man Strafbestimmungen in der alten Form aufrechterhält, insbesondere wenn feststeht, daß die Delikte — aus was für Gründen auch immer — nach diesen Bestimmungen einfach nicht erfaßt werden. Das muß dem Gesetzgeber immer Veranlassung geben nachzuprüfen, was geändert werden muß. Es muß in jedem Fall etwas geändert werden, weil die staatliche Strafdrohung und damit der Staat selbst ad absurdum geführt wird, wenn feststeht, daß dieStrafdrohung nur noch in der Theorie existiert. Sie haben diese Konsequenz in einigen der Fälle gezogen, die hier genannt worden sind. Sie werden nicht umhinkönnen, die Konsequenz aus diesem rechtspolitischen Grunde auch in den Fällen zu ziehen, die in nächster Zeit eingehender zu beraten sein werden.
Das Wort hat der Herr Minister Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will am Ende dieser ausführlichen Debatte nur wenige Bemerkungen machen und auf einige Fragen, die an mich gerichtet worden sind, Antworten geben.An einem Punkte wird es natürlich schwierig. Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, zunächst einmal' untereinander zu klären, wo denn eigentlich nach Ihrer Auffassung die Schwerpunkte in der Rechtspolitik liegen sollten. Wenn ich mir die Verschiedenheit der Wünsche und Vorschläge, die Sie im Laufe der Debatte haben laut werden lassen, einmal ansehe, fürchte ich, selbst wenn ich Sie fragte, wie Sie es denn gern hätten, ich bekäme keine befriedigende Antwort, welches denn eigentlich Ihre Schwerpunkte sind.
Nun zu den Bemerkungen von Herrn von Thadden. Herr von Thadden, ich habe Verständnis dafür, wenn Sie sagen, 65 000 DM für Bewährungshelfer sei nicht sehr viel, und dann eine andere Zahl in Beziehung dazu setzen. Ich weiß nicht, wo Sie sich sachkundig gemacht haben. Es wäre sehr leicht gewesen, den wirklichen Sachverhalt festzustellen. Die 65 000 DM, von denen Sie hier sprachen, sind genau der Betrag, den die Vereinigung, die ihn bekommen soll, von uns erbeten hat. Und der Ansatz von 1 Million DM, den Sie in Beziehung dazu gesetzt haben, vorgesehen für eine internationale Konferenz, die sehr gut gewesen wäre, wenn sie hier in der Bundesrepublik hätte veranstaltet werden können, ist gesperrt, denn die Konferenz wird nicht durchgeführt. Auch dieses hätten Sie wissen sollen. Ich glaube nicht, daß das ein nützlicher Beitrag zum Verständnis des Justizhaushaltes war.Sie haben recht, wenn Sie sagen, bei der Diskussion der Reform des Strafvollzuges sollten wir nicht nur an die Gefangenen denken, nicht nur mit ihnen sprechen, sondern uns auch um die Beamten im Strafvollzug kümmern, die eine schwierige Aufgabe zu bewältigen haben und in den nächsten Jahren ernsthafte Unterstützung, Ermunterung und Verständnis brauchen. Das hat mich dazu geführt, bei meinem letzten Besuch in einer Vollzugsanstalt in Berlin ein ausführliches Gespräch mit den Beamten im Vollzugsdienst zu führen. Ich werde das auch weiter tun. Ich kann nur dankbar sein für jede Unterstützung, die es in dieser Richtung gibt.Sie haben die Frage der Pflichtverteidigergebühren aufgeworfen. Ich muß das zum Anlaß nehmen,
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5544 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Bundesminister Jahndeutlich zu sagen: Wir werden noch in diesem Jahr ein völlig überarbeitetes Gerichtskostengesetz vorlegen. In diesem Rahmen wird es zu konkreten Vorschlägen einer wesentlichen Erhöhung der Gebühren für die Pflichtverteidiger kommen. Diesen Teil der Frage des anwaltlichen Gebührenrechts werden wir wegen der bestehenden unbefriedigenden Situation ausdrücklich vorziehen.Dann meinen Sie, der Betrag für die Öffentlichkeitsarbeit sei zu hoch. Ich habe nie daran gedacht, daraus einen Beitrag zum „Jubel um den Minister" zu machen. Ich bedaure dennoch, daß der ursprünglich erbetene Betrag in dieser Höhe nicht bewilligt worden ist. Ich will Ihnen sagen, warum. Der Bundesjustizminister muß auf dem Gebiete der Rechtsreform mehr um Verständnis werben, als das vielleicht in anderen Bereichen notwendig ist. Wenn wir zum Beispiel Verständnis für die schwierige Funktion der dritten Gewalt in diesem Staate wecken wollen, dann müssen wir dafür mit den Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit etwas bewirken können, und das kostet bekanntlich Geld.Es gilt — um ein anderes Beispiel zu nennen —, das schwierige Gebiet des Strafvollzugs in seiner Funktion, in seiner Zielsetzung verständlich zu machen. Sie wissen so gut wie wir alle hier im Hause, daß die Einsicht und das Verständnis vieler Menschen in unserer Gesellschaft dafür erst geweckt werden muß, das das eine lange und mühselige Arbeit ist und daß wir mit ein paar hunderttausend Mark insgesamt im Etat sicherlich nur einen Tropfen auf den heißen Stein tun können, um in dieser Richtung weiterzukommen. Hier geht es nicht um Selbstdarstellung, wie immer Sie die qualifizieren mögen, sondern hier geht es um ein Stück notwendiger Information und auch Aufklärung über wesentliche rechtspolitische Ziele, für die wir diese Mittel einsetzen müssen und einsetzen wollen.Ich kann es mir nicht versagen, noch ganz wenige Bemerkungen zu dem eigenartigen Diskussionsbeitrag des Kollegen Stark zu machen, auch wenn ich mich entgegen seinen Erwartungen darüber nicht aufrege. Ich glaube, er hat ein Musterbeispiel dafür gegeben, wie man eine Diskussion nicht führen sollte, nämlich indem man von der eigentlichen Sache ablenkt.
Meine Freunde und ich haben immer wieder deutlich gesagt, daß das Vierte Strafrechtsreformgesetz sehr viel gewichtigere und andere Themen zum Gegenstand hat als das Thema der Pornographie. Aber diese macht Ihnen so viel Spaß, daß Sie vor allen Dingen hierüber reden müssen.
Dieses Gesetz geht von der Notwendigkeit aus, in einer Reihe von Bereichen klare Verhältnisse zu schaffen. Ich muß Ihnen einmal sagen: Sie operieren hier mit Unterstellungen, die Sie mit nichts belegen können.
Im Jahre 1968, lange bevor diese Diskussion in Gang gekommen war, als es noch keine Erörterung über das Vierte Strafrechtsreformgesetz gab, hat es wegen des von Ihnen so bevorzugten § 184 in der ganzen Bundesrepublik insgesamt 281 Verurteilungen gegeben.Hier ist mit Recht - ich will das gar nicht wiederholen - gesagt worden, wo die Gründe dafürliegen. Ich bekenne mich dazu, zu sagen: Das Nichtanwenden dieser Vorschrift ist ein Beweis dafür, daß sie erstens unzulänglich ist und daß sie zweitens eine neue und bessere Fassung braucht.Wir gehen bei dieser und anderen Bestimmungen des Vierten Strafrechtsreformgesetzes davon aus, daß wir uns an einen erwachsenen, mündigen Bürger zu wenden haben, der für das, was in seinem persönlichen Lebensbereich geschieht, selber Verantwortung tragen kann. Wir gehen davon aus - und dem dienen unsere Reformvorschläge —, daß diejenigen geschützt werden müssen, die eines Schutzes bedürfen, sei es, weil damit die Interessen der Allgemeinheit berührt werden, sei es insbesondere, daß es sich um junge, in der Entwicklung befindliche Menschen handelt, die noch nicht als mündige Bürger eigene Verantwortung tragen können.Das gilt für § 184. Wenn Sie sich mit diesem Paragraphen einmal sorgfältig auseinandersetzten — das ist Ihnen trotz wochenlangen Studiums offenbar nicht gelungen —,
dann würden Sie sehr bald darauf stoßen, daß hier ein Abs. 2 vorgesehen ist, der einen so umfassenden Schutz der jungen Menschen vor Anpreisungen, Werbungen in der Öffentlichkeit enthält, wie ihn das geltende Recht nicht kennt und wie er bisher in unserer Strafrechtsordnung überhaupt nicht vorgesehen ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. - Davongehen wir aus, und von diesen Überlegungen lassen wir uns leiten.Wenn Sie meinen, in dieser Zielsetzung hätten Sie zur Diskussion außer Polemik auch noch Verbesserungsvorschläge beizutragen, - nun gut, dann lassen Sie uns darüber reden! Wir werden ja bei der Vorlage des Gesetzes dazu noch hinreichend Gelegenheit haben.
Nun ein letztes Wort. Sehen Sie, das habe ich mir gedacht, daß Sie nicht einmal in der Lage sind, einen solchen Diskussionsentwurf richtig einzuordnen, und hier dauernd glauben polemisieren zu müssen, indem Sie sagen, er sei zurückgezogen worden. Niemand hat den Diskussionsentwurf zurückgezogen. Aber ich habe den Mut gehabt — ich fand, das
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5545
Bundesminister Jahnnicht so viel dazu gehört; wenn ich Sie reden höre, muß ich das vielleicht etwas anders bewerten —, in einer bestimmten schwierigen, diese Gesellschaft außerordentlich berührenden Frage die Vorstellungen, die einen Beitrag zur Lösung des Problems der Reform sein könnten, zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Weshalb denn zur Diskussion zu stellen? Nicht um etwas abzutasten, nicht um mal zu hören, wie man es machen könnte, sondern um im breitesten Umfang all denjenigen, die sich hier und auch außerhalb dieses Hauses dazu äußern wollten, Gelegenheit zu geben, ihren Beitrag zur Lösung des Problems zu sagen. Jetzt wollen Sie mir einen Vorwurf daraus machen, daß wir aus dieser Diskussion heraus die Beiträge, die uns überzeugen konnten, aufgenommen und eingearbeitet haben und mit bei dem Referentenentwurf berücksichtigen, der schließlich zur Kabinettsvorlage werden wird. Ich weiß nicht, was Sie sich von einer solchen Interpretation versprechen. Der Mut zur Diskussion erfordert doch wohl auch, einzusehen und anzuerkennen, daß andere einem in der Diskussion etwas sagen können, was man dann vielleicht aufnimmt und selber in die eigenen Vorstellungen einfließen läßt.
Dies und nicht mehr habe ich getan. Deswegen lasse ich mir keine Vorwürfe machen, deswegen mache ich mir keine Vorwürfe. Ich finde, eine solche öffentliche Diskussion sollte auf anderen Gebieten von gleichem Gewicht öfters stattfinden. Wir würden gerade in der Gesetzgebungsarbeit auf diese Weise dazu beitragen können, daß die Menschen in diesem Lande sich nicht sosehr ausgeschlossen fühlen von der Willens- und Meinungsbildung, die hier stattfindet.
Ich widerspreche Ihnen in zwei Punkten und stelle hier folgendes klar. Sie machen es sich zu billig, wenn Sie sagen: Hier wird die Scheidung erleichtert. Nehmen Sie den Entwurf, so wie er Ihnen vorliegt und wie er bekannt ist! Die Scheidung wird nicht erleichtert werden, sondern sie wird im Verfahren menschenwürdiger gestaltet und sie wird in ihren Konsequenzen in einer Form ausgestaltet, die die Scheidung für die Zukunft zu einer Angelegenheit machen wird, bei der jeder Bürger sehr viel sorgfältiger und sehr viel genauer als heute wird prüfen müssen, ob er all die damit verbundenen Konsequenzen — ich sage bewußt: auch Belastungen materieller und immaterieller Art — auf sich nehmen will und ob er das so selbstverständlich und leicht tun kann, wie Sie das hier weismachen wollen.
Sie reden hier vom Unterhaltsrecht. Verschweigen Sie doch nicht, daß das heute geltende Recht davon ausgeht, daß derjenige, der dazu in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, das auch tun muß! Ich setze mit meinem Entwurf dieser These die andere entgegen, von der ich meine, daß sie gerechter, daß sie sauberer gegenüber allen Beteiligten ist,
nämlich die These, daß der sozial Stärkere verpflichtet ist, dem sozial Schwächeren so lange, soweit und so viel — notfalls lebenslang — zu helfen, wie es um der sozialen Sicherheit willen notwendig ist.
Ich kann Sie nur bewundern, wenn Sie glauben, irgend jemandem und der Öffentlichkeit weismachen zu können, daß ausgerechnet ein Sozialdemokrat eine andere Grundlage für die Regelung dieser schwierigen Frage finden könnte. Wir werden in dieser wie auch in all den anderen offenen Fragen die unbefriedigenden Lösungen des geltenden Rechts durch klare und eindeutige Antworten ersetzen, d. h. auch durch klare Antworten und Weisungen an diejenigen, die mit den Gesetzen umzugehen haben. Das hat unsere Rechtsordnung nötig, das wird ihr bekommen, und es wäre gut, Sie würden nicht dagegen polemisieren, sondern sich daran beteiligen.
Meine Damen und Herren, das Wort wird nicht mehr gewünscht.
Änderungsanträge liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzelplan 07 in zweiter Lesung zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Gegen viele Gegenstimmen bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 09
Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft
— Drucksachen VI/ 1739, zu VI/1739 —
Berichterstatter: Abgeordneter Röhner Abgeordneter Hauser
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Bitte!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Berichterstatter des Haushaltsausschusses für den Einzelplan 09 möchte ich jetzt nicht zu grundsätzlichen Fragen der Wirtschafts- und der Konjunkturpolitik Stellung nehmen. Ich möchte vielmehr mit einigen Bemerkungen auf die allgemeine politische Bedeutung und auf einige Schwerpunkte des Einzelplans 09 hinweisen, der doch immerhin so wichtige Förderbereiche wie Kohle, Mineralöl, Industrie, Luftfahrt, EDV, Werften, Gewerbeförderung und die regionalen Hilfsmaßnahmen enthält.In meinem Schriftlichen Bericht, der Ihnen in Drucksache VI/ 1739 vorliegt, war ich bemüht, etwas ausführlicher als sonst üblich die Einzelmaßnahmen
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5546 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Röhnerdes Wirtschaftsetats darzustellen, um auf diese Weise auch den Kolleginnen und den Kollegen, die an diesem Etat und seinen Maßnahmen besonders interessiert sind, eine zusätzliche Information und Orientierung zu geben.Ergänzend dazu möchte ich zunächst auf einige wichtige und interessante Verlagerungen in den Ausgabeblöcken des Einzelplans 09 aufmerksam machen. Hier sind Vergleiche mit dem Haushalt des vorausgegangenen. Jahres besonders aufschlußreich.Ich weise darauf hin, daß ,die Hilfe für die Kohle auf nunmehr 305 Millionen DM gesenkt worden ist. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß es im Jahre 1969 noch 590 Millionen DM und im Jahre 1970 392 Millionen DM waren. Erhebliche Steigerungsraten zeichnen sich dagegen bei der Förderung im Mineralölbereich ab, und zwar bedingt durch das neue Rohölbevorratungsprogramm. Insgesamt beläuft sich die Steigerung auf 233 Millionen DM.Im Industriebereich, der ein Volumen von rund 300 Millionen DM haben wird, erwies sich eine verstärkte Förderung der Luftfahrttechnik und der EDV als erforderlich.Dengrößten Ausgabenblock des Kap. 09 02 stellen die Mittel für die Regionalförderung dar. Im Jahre 1971 sind diese Maßnahmen zum erstenmal vom Einzelplan 60 in den Einzelplan 09 — des Bundeswirtschaftsministeriums — verlagert worden. Im Jahre 1971 werden dafür insgesamt 373,8 Millionen DM — das bedeutet ein Mehr von 17 Millionen DM — zur Verfügung stehen.Ein Wort zur Begründung der Verringerung der Kohlehilfen. Ich habe auf dieses Problem schon in meinem Schriftlichen Bericht hingewiesen. Jetzt möchte ich nur noch eine ganz kurze Erläuterung dazu geben. Ich habe auch im Schriftlichen Bericht bereits vermerkt, daß der Einzelplan 09 einer der wenigen Einzelpläne ist, die einen echten Abbau des Förderungsprogramms erkennen lassen. Dieser Weg, den Mehrbedarf für neue Aufgaben durch wesentliche Einschränkungen oder gar völligen Abbau alter Förderungsmaßnahmen zu decken, kann der Bundesregierung angesichts der von ihr geplanten vielen neuen und häufig zitierten Vorhaben nur dringend empfohlen werden.Die Bundesregierung wird sich angesichts der bekannten Haushaltsenge überhaupt zu echten Prioritätsentscheidungen durchringen müssen. Sie wird sich der in dieser Hinsicht häufig geäußerten Kritik einfach zu stellen haben.So muß auch noch einmal, bei aller Billigung der übrigen Maßnahmen, auf den Abbau der Frachthilfe im Steinkohlenbergbau hingewiesen werden. Bekanntlich hat sich das Parlament bereits anläßlich der Beratung des Haushalts 1970 mit der Aussetzung der Frachthilfe, die die Regierung am 10. Februar vergangenen Jahres beschlossen hatte, befaßt. Mit Mehrheit hat das Parlament bei der Verabschiedung des Haushalts 1970 diese Entscheidung der Regierung bestätigt. Ich stehe nicht an, hierund heute ausdrücklich zu sagen, daß ich diese Entscheidung nach wie vor bedaure und, langfristig gesehen, für den deutschen Steinkohlenbergbau für die revierfernen Gebiete für schädlich halte.Die Pressemeldungen der letzten Tage über die Schwierigkeiten der OPEC-Länder und der Erdölverbraucherländer machen deutlich, daß die Regierung gut beraten ist, wenn das neue Rohölbevorratungsprogramm mit einem Gesamtaufwand von 750 Millionen DM durchgeführt wird. Im Haushalt 1971 ist davon die erste Rate mit 118 Millionen DM eingesetzt. Es sollen 10 Millionen t Rohöl gekauft, gelagert und für Krisenfälle bereitgehalten werden.Die Exploration, der Kavernenbau und der Anschluß der Lagerstätten an die bestehenden Leitungsnetze verschlingen einen Großteil der Gesamtkosten von 750 Millionen DM. Der übrige Teil der Mittel ist für den Erwerb des Rohöls vorgesehen. Auch das scheint mir angesichts der heutigen Lage keine einfache und leichte Aufgabe zu sein.Für den Haushaltsausschuß darf ich an dieser Stelle erklären, daß er die Notwendigkeit und Bedeutung dieses Bevorratungsprogramms und seiner Realisierung voll anerkennt. Wenn er dennoch den Ansatz in diesem Jahr von 150 Millionen DM auf 118 Millionen DM gekürzt hat, so nur deshalb, weil im Anlaufjahr 1971 diese Mittel als ausreichend betrachtet werden können.Im Bereich der Industrieförderung möchte ich zwei Schwerpunkte kurz ansprechen: die Werfthilfen und die Luftfahrtförderung.Bei den Werfthilfen beobachtete der Ausschuß mit nicht geringer Sorge den seit Jahren erheblich steigenden Mittelbedarf. Für 1971 ist ein Ansatz von 27 Millionen DM erforderlich. Als Bedarf für die nächsten drei Jahre werden Summen von 39 Millionen DM, 66,9 Millionen DM und 87,3 Millionen DM genannt. Der Ausschuß verkennt nicht, daß diese Mittel der Durchführung von bereits beschlossenen Programmen dienen sollen. Er muß aber doch die Frage stellen, wie lange die auf dem Weltschiffbaumarkt herrschenden Wettbewerbsverzerrungen fortgeführt werden sollen und wie lange ihnen haushaltspolitisch Rechnung getragen werden soll. Die Bundesregierung sollte ihre Bemühungen um einen Abbau dieser Verzerrungen nachhaltiger und energischer fortsetzen.Im übrigen begrüßt es der Haushaltsausschuß, daß inzwischen ein Gutachten über die Lage der Werftindustrie in Auftrag gegeben wurde. Unsere Hoffnung im Haushaltsausschuß ist es, daß dieses Gutachten eine brauchbare Grundlage für die weiteren Überlegungen zum Thema Werfthilfen werden möge.Der zweite Schwerpunkt im Industrieförderungsbereich ist das Airbus-Projekt. Dieses Projekt beschäftigte den Haushaltsausschuß mehrfach und sehr ausführlich. Bei der Beratung des Einzelplans 09 hat der Ausschuß den Ansatz bei den Luftfahrttiteln in Höhe von 190 Millionen DM gebilligt. Der größere Teil dieses Betrages wird für die Entwicklung des Airbus benötigt werden. Der verbleibende Ansatz
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Röhnerdient der Förderung der Entwicklung, der VFW 164 und der Entwicklung von Kleinflugzeugen.Darüber hinaus hat sich der Ausschuß bei der Beratung des Haushaltsgesetzes mit der von der Deutschen Airbus GmbH erbetenen Bundesbürgschaft für die Fertigungsphase befassen und auseinandersetzen müssen. Es kann niemanden überraschen, daß die Serienfertigung des Airbus erhebliche Finanzierungsmittel erfordert, die nur mit Hilfe einer Bundesbürgschaft beschafft werden können. Der Haushaltsausschuß hat bei diesen seinen Beratungen in Aussicht gestellt, für die Fertigungskosten in Höhe von 2,3 Milliarden DM einen Bürgschaftsrahmen bereitzustellen. Für das Haushaltsjahr 1971 schien dem Ausschuß ein Rahmen von 1 Milliarde DM ausreichend. Damit ist es der Regierung jetzt überlassen, diese Ermächtigung, je nach Fortschritt des Projekts, durch entsprechende Gewährung von Bürgschaften auszufüllen.Anträge des Wirtschaftsausschusses haben den Haushaltsausschuß veranlaßt, sich eingehend mit den Gewerbeförderungsmitteln zu befassen. Beim Handwerkstitel hat der Ausschuß zusätzlich je 1 Million DM für den Bau von bundeswichtigen beruflichen Aus- und Fortbildungseinrichtungen sowie für Lehrlingsunterweisung zugelegt. Mit weiteren zusätzlichen 2 Millionen DM sollen Kooperationsvorhaben, insbesondere Gemeinschaftseinrichtungen der EDV, gefördert werden.Der Aufstockungsbetrag von 850 000 DM beim Haushaltstitel 685 10 soll die Errichtung einer Reservierungszentrale für kleinere Hotels im Bundesgebiet ermöglichen.Schließlich hat der Ausschuß auch den Produktivitätsförderungstitel um 1,5 Millionen DM erhöht, damit das Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft E. V. sich verstärkt.An dieser Stelle möchte ich auch ganz kurz auf die Stiftung Warentest eingehen. In den letzten Wochen ist eine, wie ich meine, bedauerliche juristische Kontroverse zwischen dem derzeitigen Vorstand der Stiftung und dem Bundeswirtschaftsministerium durch die Presse gegangen. Vier der fünf Vorstandsmitglieder haben ihren Rücktritt angekündigt. Der Grund liegt in der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage, wie der künftige Verwaltungsrat besetzt werden soll. Der Wirtschaftsausschuß hat am 15. Oktober letzten Jahres anläßlich seines Besuchs bei der Stiftung Warentest in Berlin darauf hingewiesen — ich zitiere aus dem Ausschußprotokoll Nr, 20, Seite 7 —, „daß er", nämlich der Wirtschaftsausschuß, „stets der Auffassung gewesen sei, daß die Stifterin die Möglichkeit haben müßte, Mitglieder für den Verwaltungsrat auch außerhalb der Liste zu berufen".Eine entsprechende eindeutige Haltung des Haushaltsausschusses gab es zu dieser Frage nicht. Aber in Anbetracht des Umstandes, daß der Etat der Stiftung zu rund vier Fünfteln aus dem Bundeshaushalt finanziert wird, ist das Verlangen des Bundeswirtschaftsministeriums verständlich und — so möchte ich meinen — nicht als sachfremd anzusehen,auf einer verstärkten Mitwirkung bei der Bestellung zu bestehen.
— Ich gebe hier eine Zusammenfassung darüber, wie die Beratung im Haushaltsausschuß vor sich gegangen ist, Herr Kollege.
— Ich habe hier die Stellungnahme des Haushaltsausschusses wiedergegeben. Ich möchte das hier ausdrücklich feststellen.
Ich würde Ihnen empfehlen, die Protokolle des Haushaltsausschusses nachzulesen oder sich von Ihren Kollegen unterrichten zu lassen, dann sind Sie davon überzeugt, daß das, was ich hier vortrage, Berichterstattung ist.Abschließend möchte ich den Kolleginnen und Kollegen, die an den Fragen der Filmförderung interessiert sind, die möglicherweise vorhandene Sorge nehmen, der Haushaltsausschuß werde sich mit der Streichung des diesbezüglichen Ansatzes gegen die Novelle zum Filmförderungsgesetz stellen. Der Haushaltsausschuß hatte im Gegenteil die Regelung, nach der der Filmförderungsanstalt besondere Mittel zur Verfügung stehen sollen, für sinnvoll gehalten. Er geht dabei von der Annahme aus, daß es sich hier um eine Förderungsmaßnahme handeln soll, die an gewisse Qualitätsmerkmale eines Referenzfilms anknüpfen soll. Aber in Anbetracht des Standes des Gesetzgebungsverfahrens mußte der Haushaltsausschuß den Ansatz bei diesem Titel für das Jahr 1971 als nicht etatreif bezeichnen und deshalb streichen.Das waren meine kurzen zusätzlichen Anmerkungen, die ich als Berichterstatter des Haushaltsausschusses zur Beratung des Einzelplans 09 in diesem Hohen Hause aussprechen wollte. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir danken dem Herrn Berichterstatter.Ein Blick auf die Uhr: wir haben noch 1 1/2 Stunden bis zu dem vom Ältestenrat vorgesehenen Schlußtermin von 19 Uhr. Die Flugzeuge sind entsprechend darauf disponiert. Nach der Rednerliste läuft die Debatte noch etwa drei Stunden. Es stellt sich jetzt die Frage, ob wir durch entsprechende Selbstbeschränkung erreichen können, daß die Zeit noch eingehalten wird.Der Herr Abgeordnete Dr. Sprung hat für 35 Minuten um das Wort gebeten.
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5548 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Tätigkeit des Bundeswirtschaftsministers hat das Haus vor drei Tagen in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. In dieser Debatte ist im wesentlichen die nationale Wirtschaftspolitik, insbesondere die Konjunkturpolitik erörtert worden.Ich möchte die Gelegenheit der Aussprache über den Haushalt des Bundeswirtschaftsministers wahrnehmen, um ein paar Worte zur europäischen Wirtschaftspolitik gleichsam nachzuschieben. Ich will keine grundsätzlichen Ausführungen machen. Das hat Herr Professor Hallstein vorgestern getan. Ich will etwas zur europäischen Tagespolitik und hier insbesondere zum derzeitigen Stand der Diskussion über die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion sagen. Ich meine außerdem, Herr Minister Schiller, es dürfte Sie für die kommenden schwierigen Verhandlungen interessieren, wie wir, die Opposition, die aktuellen Probleme sehen, wie unsere Meinung zu diesen Problemen ist. Das könnte vielleicht auch für Sie nützlich sein.Die Bundesregierung weist in ihrem Jahreswirtschaftsbericht darauf hin, daß angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Integration die Wirtschaftspolitik in der EWG zunehmend an Bedeutung für die Entwicklung der einzelnen Volkswirtschaften gewinne. Schon heute sei eine Reihe von wirtschaftspolitischen Entscheidungen dem nationalen Bereich entzogen und werde auf Gemeinschaftsebene getroffen. Die Bundesregierung bejahe diesen Prozeß der schrittweisen Kompetenzverlagerungen grundsätzlich, weil er sowohl der integrationspolitischen Zielsetzung als auch den wirtschaftspolitischen Erfordernissen im Gemeinsamen Markt entsprechen. Im Mittelpunkt der Bemühungen einer Weiterentwicklung der Gemeinschaft werde jedoch 1971 die Wirtschafts- und Währungsunion stehen.In der Tat, meine Damen und Herren, die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ist zur Schlüsselfrage für die Zukunft der EWG geworden. Was im Jahreswirtschaftsbericht über die Wirtschafts- und Währungsunion gesagt wird, scheint in der Zwischenzeit, nämlich seit der Ministerratssitzung vom 14. Dezember letzten Jahres, in Frage gestellt zu sein. Auch nach den deutsch-franzöischen Konsultationen in der letzten Woche ist weiterhin Skepsis am Platze, wenn auch wieder Hoffnung aufkeimen darf, daß die Wirtschafts- und Währungsunion doch noch auf den Weg gebracht werden kann.Im Verlaufe der Debatte über die Lage der Nation in der letzten Woche haben sowohl Herr Minister Scheel als auch Herr Minister Schiller darüber berichtet, unter welchen Voraussetzungen sich inzwischen nach französischer Meinung — was nicht bedeutet, daß man etwa zu bilateralen Beschlüssen gekommen ist; darüber können nur die Sechs gemeinsam entscheiden — doch wieder die Möglichkeit abzeichnet, die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion in Angriff zu nehmen. Völlig zutreffend hat Herr Minister Schiller dabei darauf hingewiesen, daß alle Fraktionen des Bundestages dem ursprünglich für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion erarbeiteten Konzept, dem sogenannten Werner-Plan, grundsätzlich zugestimmt haben. In der Tat gibt es über diesen Plan so gut wie keine Meinungsverschiedenheiten. Er ist ein nach langem Ringen erreichter und von allen Mitgliedstaaten schließlich akzeptierter ausgewogener Kompromiß, der klar die Ziele der Wirtschafts- und Währungsunion beschreibt und ihre Voraussetzungen nennt.Die CDU/CSU-Fraktion hat den Werner-Plan lebhaft begrüßt, weil sie in ihm einen Vorschlag für einen Weg sieht, über den derzeitigen Stand hinaus den europäischen Integrationsprozeß weiter voranzutreiben und ihn schließlich in eine auch politische Integration und Union einmünden zu lassen.In seinem Bericht vom letzten Freitag hat Herr Minister Schiller darauf hingewiesen, daß nach dem Scheitern der Verhandlungen im Dezember versucht worden sei, den abgerissenen Faden wieder aufzunehmen. In entsprechenden Sondierungen und Vorklärungen hatten sich die Chancen für eine baldige Einigung erheblich verbessert, und zwar für eine Einigung, wie er es ausgedrückt hat, ohne Aufgabe der Substanz. Das gelte auch für die Gespräche in Paris. Man habe in der Sache gute Fortschritte gemacht. Gute Fortschritte, Herr Minister, damit können Sie doch wohl nur auf das Ergebnis der Ministerratssitzung vom 14. Dezember abzielen, nicht aber auf den Werner-Bericht. In bezug auf den Stufenplan des Werner-Berichts sind in dem, was Sie über das Ergebnis der Pariser Gespräche berichteten, doch wohl recht beträchtliche Abstriche festzustellen, um es einmal sehr milde auszudrücken.Sieht man sich nun an, was nach den uns gegebenen Berichten in den Pariser Gesprächen herausgekommen ist, so läßt sich das Ergebnis sehr vorsichtig wie folgt zusammenfassen.Erstens. Der politische Wille, in einem Zeitraum von zehn Jahren die Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, ist weiterhin vorhanden.Zweitens. Die zu errichtende Wirtschafts- und Währungsunion kann nur eine Gemeinschaft der Stabilität und des Wachstums sein. In der Tat, meine Damen und Herren, entwickelt sich die Gemeinschaft nicht in diesem Sinne, so gerät sie in existenzbedrohende Gefahr. Wir sind in diesem Punkte mit Ihnen, Herr Minister, einer Meinung. Deshalb richten wir an Sie die Aufforderung, auch eine nationale Wirtschaftspolitik der Stabilität zu treiben, damit diese Gefahr nicht eines Tages von der Bundesrepublik ausgeht, und nur einer Lösung für die Wirtschafts- und Währungsunion zuzustimmen, die sich nicht eines Tages als Fehlkonstruktion erweist.Sie haben in diesem Zusammenhang als Beispiel für eine solche Regelung, die aus heutiger Sicht vielleicht schon als eine Fehlkonstruktion anzusehen sei — Sie haben es nicht so ausgedrückt, aber Sie haben es doch so gemeint —, und zwar wegen der Starrheit der getroffenen Lösung, den europaischen Agrarmarkt und seine Marktordnungen genannt. Wir stimmen Ihnen, Herr Minister, in der Beurteilung weitestgehend zu.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971 5549
Dr. SprungWas würde schon heute, Herr Minister, ohne Wirtschafts- und Währungsunion aus der Gemeinschaft werden, wenn diese erneut instabil würde und deshalb erneut Wechselkursänderungen, gleichgültig von welchem Mitgliedstaat vorgenommen, erfolgen würden oder erfolgen müßten! Wir sind daher schon heute, wenn wir an den europäischen Agrarmarkt denken und die Situation illusionslos und nüchtern beurteilen, zur Stabilität verurteilt. Wir stimmen Ihnen zu, daß wir es mit der Wirtschafts- und Währungsunion besser machen müssen, um ernste Gefahren von der weiteren Entwicklung des Gemeinsamen Marktes abzuwenden. Sonst könnte daraus tatsächlich das werden, was Sie als 100-Milliarden-Dollar-Mißverständnis bezeichnet haben.Drittens. Ein weiterer Punkt, in dem Übereinstimmung zu herrschen scheint, ist, daß zunächst für einen ersten Zeitabschnitt von drei Jahren bestimmte Maßnahmen und Aktionen vorgesehen werden. Das besagt — wenn ich es richtig verstehe —, daß man zunächst einmal beginnt, um dann nach drei Jahren festzustellen, ob und wie es weitergehen soll. Das ist offensichtlich der vielzitierte Pragmatismus, der in den Pariser Gesprächen eine so große Rolle gespielt hat. Wir können Ihnen zustimmen, Herr Minister, daß es weder möglich noch unbedingt nötig ist, alle materiellen und institutionellen Feinheiten des weiteren Weges in der Zeit nach der ersten Dreijahresperiode schon heute festzulegen. Doch wir meinen, daß um jeden Preis daran festgehalten werden muß, daß, wie Sie es in Ihrer bildreichen Sprache ausgedrückt haben, die großartige Vision der Wirtschafts- und Währungsunion sich nicht im Dämmerlicht des Endes unseren Augen entzieht.
Eine präzise Formulierung des Endzustandes der Wirtschafts- und Währungsunion muß als unabdingbare Voraussetzung bereits zu Beginn ihrer Verwirklichung vorhanden sein und dieses Ziel muß erhalten bleiben.
Was den materiellen Endzustand betrifft, so enthält der Werner-Plan das entsprechende Konzept. Der Endzustand muß durch eine vollständige und irreversible Konvertibilität der Währungen und nicht mehr änderbare, d. h. unwiderrufliche Paritäten für die nationalen Währungen untereinander gekennzeichnet sein. Dies würde gleichbedeutend mit der Möglichkeit sein, im Endzustand an die Stelle der nationalen eine europäische Währung zu setzen.Ein solcher Endzustand ist jedoch nur denkbar, wenn in ihm zugleich die europäischen Notenbanken nicht nur auf das engste zusammenarbeiten, sondern diese Zusammenarbeit in ein europäisches, unabhängiges, föderativ gegliedertes, gemeinschaftliches Notenbanksystem einmündet, etwa nach dem Beispiel der früheren Bank deutscher Länder, in der es zwar die organisatorisch selbständigen Zentralbanken gab, die geldpolitische Willensbildung jedoch zentralisiert war. Ebenso werden die sonstigen wichtigeren konjunkturpolitischen Steuerungsmaßnahmen nur auf Gemeinschaftsebene ergriffen werden können.Was die Verteilung und Übertragung von Kompetenzen betrifft, so stehen diese in engem Zusammenhang mit dem materiellen Endzustand. Die Gemeinschaft muß im Hinblick auf die ihr zuzuweisenden Aufgaben entsprechende Kompetenzen übertragen erhalten. Sonst bleibt alles nur Deklaration. Dabei kann durchaus nach dem Subsidiaritätsprinzip verfahren werden: Belassungen von so vielen Kompetenzen wie möglich bei den Mitgliedstaaten, doch auf jeden Fall Übertragung so vieler Kompetenzen wie nötig auf die Gemeinschaft und ihre Organe. Damit aber darüber nicht später Meinungsverschiedenheiten entstehen, sollte bereits vor dem Eintritt in den ersten Dreijahresabschnitt klar und eindeutig definiert werden, welche Kompetenzen auf jeden Fall auf die Gemeinschaftsorgane zu übertragen sind. Das Ende muß von Anfang an im Lichte stehen.Nun ein paar Worte zur ersten Dreijahresperiode. Bei den Maßnahmen, die für diese Periode ins Auge gefaßt sind, handelt es sich in erster Linie um monetäre Maßnahmen. Sie erwähnten insgesamt vier, erstens die Einengung der Bandbreiten, zweitens gemeinsame Aktionen auf den Devisenmärkten, drittens einen gemeinsamen Beistand in Form von Devisenhilfen und viertens in der zweiten Hälfte der ersten Dreijahresperiode, wenn gewisse Voraussetzungen gegeben sind, die Errichtung eines Devisenausgleichsfonds.Wir hoffen, Herr Minister, daß dies für die erste Dreijahresperiode nicht alles ist bzw. noch nicht alles ist. Wir hoffen, daß es dabei bleibt, daß während der ersten Dreijahresperiode neben den und parallel zu den genannten monetären Maßnahmen auch die effektive Koordinierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen in Angriff genommen wird.Sie haben zwar davon gesprochen, daß zwischen den wirtschaftspolitischen und den währungspolitischen Aktionen eine Parallelität gesichert werden muß, doch haben Sie es bei dieser Feststellung belassen. Was vor acht Wochen, Herr Minister, noch unabdingbar war, und zwar nicht etwa aus politischen, sondern aus zwingenden sachlichen Gründen, sollte es auch heute noch sein.
Geschieht das nicht, Herr Minister, werden also die genannten währungspolitischen Maßnahmen nicht von parallelen wirtschaftspolitischen Maßnahmen begleitet, so werden die ersteren nur ein Kurieren an Symptomen bleiben, und es würde die Gefahr bestehen, daß dann sowohl die clause de prudence als auch die clause de sauvegarde zur Anwendung kommen könnten, ja, so meine ich, mit Sicherheit zur Anwendung kommen würden.Das aber würde nach unserer Auffassung nicht nur — und das ist wichtig — zum derzeitigen Ausgangspunkt zurückführen, sondern würde auch das bis jetzt schon Erreichte, den derzeitigen Integrationszustand entscheidend beeinträchtigen. Mehr noch, dann bestünde die Gefahr, daß sich die Schwierigkeiten der Vergangenheit wiederholten, daß sich der
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5550 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1971
Dr. Sprungkünftig nötige Gleichschritt in der wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Mitgliedstaaten nicht einstellen würde und damit das Problem der einzelstaatlichen außenwirtschaftlichen Absicherung erneut zur Diskussion kommen könnte, dann allerdings möglicherweise mit katastrophalen Folgen für die Gemeinschaft und ihren Zusammenhalt.
Ich habe darauf bereits vorhin bei der Erwähnung der Agrarmarktregelung hingewiesen.Künftig gemeinsames Vorgehen, Konsultationen, Koordinierungen, die Festlegung quantitativer Vereinbarungen und Empfehlungen an die Mitgliedstaaten für die von ihnen zu verfolgende Wirtschafts-und Konjunktur-, Geld-, Kredit- und Haushaltspolitik von Anfang an, von Beginn der Dreijahres-periode an, müssen also, Herr Minister, unabdingbare Voraussetzungen für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion bleiben. Darüber hinaus sollte zwischen den Mitgliedstaaten, meinen wir, einigermaßen Übereinstimmung darin bestehen, was man unter „Stabilität" versteht. Die Wirtschafts und Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft kann in ihrer stabilitätspolitischen Zielsetzung keine Gemeinschaft nur relativer Stabilität, sondern grundsätzlich nur eine Gemeinschaft absoluter Stabilität sein.Ich will das ein bißchen erläutern. Bezugsgröße für das, was unter Stabilität zu verstehen ist, kann also nicht die durchschnittliche Preissteigerung in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft oder in der wirtschaftlichen Umwelt der Gemeinschaft sein, sondern ausschließlich der volkswirtschaftliche Preisindex bzw. die volkswirtschaftlichen Preisindizes. Hier kann man allerdings vorsichtig — vorsichtig! — hoffen. Sieht man sich die gemeinschaftlichen Orientierungsdaten aus dem dritten Programm für die mittelfristige Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft in dem Zeitraum von 1971 bis 1975 an, so zeigt sich, daß sowohl für das Preisniveau als auch für das wirtschaftliche Wachstum, die Beschäftigung, den Außenbeitrag usw. der nötige Gleichschritt der wirtschaftlichen Entwicklung in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft annähernd sichergestellt sein wird, wenn die Mitgliedstaaten tatsächlich eine Wirtschaftspolitik treiben, die auf die gesteckten Ziele ausgerichtet ist.
— Wenn!Dabei kommt der Preisentwicklung und — da die Gemeinschaft mit der Wirtschafts- und Währungsunion zugleich eine Stabilitätsgemeinschaft werden soll und sein will — der Preisstabilität eine entscheidende Rolle zu. Aus den Erfahrungen der Entwicklung in der Vergangenheit ist allerdings Skepsis am Platze. Der Jahreswirtschaftsbericht drückt sich dazu recht deutlich aus, und es ist doch angebracht, einige wenige Sätze aus ihm zu zitieren. Mit Erlaubnis der Frau Präsidentin möchte ich diese wichtigen Sätze vorlesen. Es heißt dort:Die wirtschaftliche Entwicklung in der Gemeinschaft war in den letzten Jahren von Spannungen begleitet. Unterschiedliche Verhaltens-weisen und Prioritäten führten zu beträchtlichen Divergenzen. Hauptproblem sind die inflatorischen Tendenzen in allen Ländern— in allen Ländern! —der Gemeinschaft. Gerade im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion wird es aber von den Preisentwicklungen in den Mitgliedstaaten abhängen, ob die Gemeinschaft auf der Basis fester Wechselkurse ohne Paritätsänderung und ohne desintegrierende Tendenzen funktionieren kann.— Wahre Worte, zutreffende Worte, Herr Minister.Es ist nicht zu sehen, wie sich diese Situation in Zukunft ändern soll, wenn die Mitgliedstaaten nicht entsprechende Verpflichtungen übernehmen, ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen und Prioritäten künftig zu koordinieren und aufeinander abzustimmen. Das kann nur in der Form geschehen, wie es im Werner-Plan für die erste Stufe im großen und ganzen vorgesehen ist.Das was Sie, Herr Minister, über die Sicherungen gesagt haben, die für den Fall eingebaut werden sollen, daß das Prinzip der effektiven Parallelität von wirtschafts- und währungspolitischen Maßnahmen nicht verwirklicht werden würde, läßt allerdings den Schluß zu, daß die bisherigen Sondierungen und Vorklärungen, insbesondere auch in den Gesprächen in Paris, noch nicht — noch nicht! — die Bereitschaft erbracht haben, feste Verpflichtungen einzugehen, die für die ersten drei Jahre vorgesehenen I währungspolitischen Maßnahmen mit parallelen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu begleiten. Welchen Sinn hätte sonst die clause de prudence, I die Vorsichtsklausel, die zur Anwendung kommen soll, wenn ein Land trotz anhaltender währungspolitischer Probleme die erforderlichen wirtschaftspolitischen Konsequenzen nicht zieht oder nicht ziehen kann, und welchen Sinn die clause de sauvegarde, die Vorbehalts- oder Verfallsklausel, die zum Zug kommen soll, wenn man sich nicht über parallele wirtschaftspolitische Maßnahmen zu den vorgesehenen monetären Maßnahmen einigt? Beide Klauseln haben doch offensichtlich nur dann einen Sinn, wenn eben keine festen Verpflichtungen bezüglich wirtschaftspolitischer Maßnahmen parallel zu den vorgesehenen währungspolitischen Maßnahmen übernommen werden.Im übrigen möchten wir Sie, Herr Minister, nachdrücklich auffordern, wenn es nur bei den Ergebnissen von Paris bleiben sollte was im höchsten Maße zu bedauern wäre —, auf die beiden Klauseln, die man besser als clauses de retraite, als Fluchtklauseln bezeichnen sollte, zu verzichten.Wir hoffen mit Ihnen, Herr Minister, daß in den Verhandlungen am 8. und 9. Februar, also in der nächsten Woche, in Brüssel und in den sicherlich zahlreichen weiteren Verhandlungen, die noch folgen werden, jene weiteren Fortschritte erzielt werden, von denen Sie sprachen, die Sie erhoffen, und von denen auch Sie den weiteren Fortschritt der Entwicklung abhängig machen und abhängig sehen. Wir hoffen, daß jene Fortschritte erzielt werden, von denen Sie sprachen, als Sie uns über die Ergebnisse
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Dr. Sprungder Pariser Gespräche unterrichteten, Fortschritte, die insbesondere die wirtschaftspolitischen Maßnahmen während der ersten Dreijahresperiode und die klare Beschreibung des Endzustandes betreffen und betreffen müssen, Fortschritte, ohne die die Wirtschafts- und Währungsunion meiner Meinung nach von Anfang an zum Scheitern verurteilt wäre. Um es noch etwas vorsichtiger mit Ihren Worten, so wie Sie es ausgedrückt haben, zu umschreiben: Von der großartigen Vision einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, könnte sonst leicht nicht mehr als nur ein höchst unvollkommenes und unausgewogenes geldpolitisches Nothilfe-system übrig bleiben.Wir hoffen, Herr Minister, daß Sie für die kommenden Verhandlungen die nötige Unterstützung auch zu Hause, hier in Bonn, haben werden.
Von anderen Mitgliedstaaten scheint sie Ihnen sicher zu sein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kulawig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus den mündlichen Erläuterungen des Kollegen Röhner zu seinem Schriftlichen Bericht war bei aufmerksamem Hinhören, glaube ich, herauszuhören, daß wesentliche Kontroversen über diesen Einzelplan bei den Beratungen im Haushaltsausschuß nicht zutage getreten sind, mit einer Ausnahme, auf die ich noch zurückkommen werde.Im Einzelplan 09 sind jedoch erstmals im Rechnungsjahr 1971 — im Schriftlichen und im mündlichen Bericht des Herrn Berichterstatters Röhner ist darauf schon hingewiesen worden — die Mittel des Regionalen Förderungsprogramms der Bundesregierung ausgewiesen. Lassen Sie mich dazu angesichts der wachsenden Bedeutung der regionalen Strukturpolitik und auch angesichts des Interesses, das diesem Fragenkomplex im Haushaltsausschuß entgegengebracht worden ist, einige Bemerkungen machen.Die Bundesregierung hat die Maßnahmen zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur in den vergangenen Jahren erheblich intensiviert. Sie hat im Rahmen ihres Regionalen Förderungsprogramms finanzielle Hilfen gewährt, deren Gesamtbetrag sich von Jahr zu Jahr beträchtlich erhöhte. Waren für das Jahr 1968 insgesamt 157 Millionen DM veranschlagt, so werden 1971 für die Regionalförderung 373,8 Millionen DM zur Verfügung stehen. Damit ist auch gegenüber dem Vorjahr wiederum eine Steigerung der Ausgaben für diese wichtigen Maßnahmen zu verzeichnen.Nachdem 1968 für Ruhr, Saar, Zonenrandgebiete und Bundesausbaugebiete und -orte das gemeinsame Strukturprogramm neu anlief, hat die Bundesregierung im Jahre 1970 erstmals für ein weiteres neues Programm, nämlich für die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur des Saarlandes und der Westpfalz,Mittel bereitgestellt. Im Jahre 1971 verteilen sich die Mittel auf die bereits seit längerem laufenden regionalen Hilfsmaßnahmen mit 273,8 Millionen DM, auf das gemeinsame Strukturprogramm mit 50 Millionen DM und auf das Programm zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur des Saarlandes und der Westpfalz mit ebenfalls 50 Millionen DM.Neben den Mitteln zur Regionalförderung aus dem Bundeshaushalt 1971 in Höhe von, wie gesagt, 373,8 Millionen DM werden nach dem im August 1969 in Kraft getretenen Investitionszulagengesetz in den Bereichen der Regionalförderung Investitionszulagen in Höhe von 10% bzw. 7,5% der Investitionen gewährt. Während der parlamentarischen Beratung des Gesetzes belief sich die Schätzung des Steuerausfalls, der sich auf Grund der Investitionszulagen ergeben wird, für das Jahr 1969 auf 270 Millionen DM und für das Jahr 1970 auf 300 Millionen DM.Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes — es betrifft Investitionen ab 1. Januar 1969 — wurden bis zum 15. Januar 1971 rund 3300 Anträge auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 4 des Gesetzes mit einem Investitionsvolumen von etwa 10,5 Milliarden DM positiv entschieden. Das bedeutet, daß den begünstigten Bereichen der Wirtschaft Investitionszulagen in Höhe von rund 1 Milliarde DM zugute kommen werden. Mit diesen Mitteln wird in den Räumen der regionalen Aktionsprogramme nach ersten Schätzungen die Schaffung von rund 125 000 neuen Arbeitsplätzen ermöglicht werden.Vor diesem eindrucksvollen Hintergrund einer in den letzten beiden Jahren besonders erfolgreichen regionalen Wirtschaftspolitik des Bundes sind die Beschlüsse des Planungsausschusses für regionale Wirtschaftsstruktur zu sehen, der sich gemäß § 6 des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wrtschaftsstruktur" im Mai vergangenen Jahres unter Vorsitz des Bundesministers für Wirtschaft konstituiert hat. Dieser Ausschuß hat beschlossen, daß für den nach dem Gesetz vorgesehenen ersten gemeinsamen Rahmenplan das System der regionalen Aktionsprogramme zugrunde gelegt werden wird. Er hat weitere Beschlüsse gefaßt, die sich im wesentlichen wie folgt kurz zusammenfassen lassen:Erstens. Der erste gemeinsame Rahmenplan soll zum 1. Januar 1972 in Kraft treten.Zweitens. Der Umfang der Förderungsgebiete soll so begrenzt und gestaltet werden, daß die Wirksamkeit der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" gewährleistet wird. Die bereits begonnenen Arbeiten für eine neue Abgrenzung der Förderungsgebiete sollen mit größter Beschleunigung fortgesetzt werden, damit die Ergebnisse noch in den ersten Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe übernommen werden können.Drittens. Im ersten Rahmenplan soll zunächst ein Teilaspekt der Ziele, die in den zwischen Bund und Ländern abgestimmten „Grundsätzen der regionalen Wirtschaftspolitik" festgelegt worden sind, quantifiziert werden, nämlich die jährlich und mittelfristig in den einzelnen Aktionsräumen zu schaffenden und zu sichernden gewerblichen Arbeitsplätze.
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KulawigViertens. Im Rahmen dieses Gemeinschaftsaufgabengesetzes soll sich die Förderung auf gewerbliche Produktionsbetriebe und auf Fremdenverkehrsbetriebe konzentrieren.Fünftens. Die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe — im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes sind es jährlich rund 270 Millionen DM — sollen nach dem Schlüssel, welcher der Aufteilung des regionalen Förderungsprogramms für 1970 zugrunde gelegen hat, auf die einzelnen Länder verteilt werden.Lassen Sie mich einen der Punkte, die im Haushaltsausschuß angesprochen worden sind, herausgreifen, weil sich an ihm ständig die regionalpolitische Diskussion entzündet; ich meine die Ausweitung der Förderungsgebiete. Sicher sind wir alle der Meinung, daß die von den bestehenden 20 regionalen Aktionsprogrammen umschlossene Fläche von rund 58 % des gesamten Bundesgebietes mit rund 31 % der Einwohner der Bundesrepblik zuviel ist, wenn man das Ziel der Effektivität der regionalen Wirtschaftsförderung weiter verfolgen will. Angesichts dieser Flächeninflation sind wir der Auffassung, daß die Förderung auf die sogenannten Schwerpunktorte der regionalen Aktionsprogramme begrenzt werden sollte und daß dieses Schwerpunktprinzip auch konsequent durchgeführt werden muß. Das ist nämlich leider nicht in allen Bundesländern gewährleistet. Dies ist um so bedauerlicher, weil es nicht nur die Effektivität der zur Verfügung stehenden knappen Haushaltsmittel des Bundes schmälert, sondern darüber hinaus die Verbesserung der Wirtschaftskraft in den strukturschwachen Gebieten und damit die Hebung des Lebensstandards der dort lebenden Menschen verlangsamt oder sogar verhindert. Wir werden jedenfalls darauf achten müssen, daß im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" kein Land Bundesmittel im Gießkannenprinzip einplant.Lassen Sie mich nun noch einige Bemerkungen zu dem Änderungsantrag der CDU-Fraktion auf Umdruck 123 auf Aufstockung des Handwerktitels machen.Neben der Bundesregierung haben gerade die Koalitionsparteien bewiesen, wie ernst sie es mit der Verpflichtung meinen, kleinen und mittleren Unternehmen die Anpassung an den schnellen wirtschaftlichen und technischen Strukturwandel zu erleichtern, Wettbewerbshemmnisse abzubauen und soziale Härten bei der Anpassung an strukturelle Veränderungen zu mildern. Das war auch bei den Beratungen zum Haushalt 1971 nicht anders.Es waren die Koalitionsparteien, die im Wirtschaftsausschuß anläßlich der Beratung des Einzelplans 09 die Förderungsmaßnahmen zugunsten des Mittelstandes und der Produktivitätssteigerung aufgeworfen und gezielte Erhöhungen bei einigen dieser Titel vorgeschlagen haben. Der Haushaltsausschuß hat sich mit diesen Aufstockungsanträgen des Fachausschusses eingehend befaßt und dabei die vom Kollegen Röhner bereits zitierten Erhöhungen beschlossen. Da es nicht alltäglich ist, daß der Haus-haltsausschuß Ansätze über den Regierungsentwurf hinaus erhöht, darf ich auf diese Aufstockungsbeträge stichwortartig noch einmal kurz eingehen. Es wurden zusätzlich bereitgestellt:Erstens. Für das Handwerk zusätzlich je 1 Million DM für Bauten und für die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung. Dazu eine kurze Erläuterung. Es wird damit zunächst eine verstärkte Förderung des Ausbaus und der Einrichtung von bundeswichtigen Institutionen zur beruflichen Aus- und Fortbildung aller im Handwerk Beschäftigten ermöglicht. Gemeint sind unter anderem Gewerbeförderungsanstalten, Fachschulen und überbetriebliche Ausbildungs- und Werkstattzentren. Weiter war es uns ein Anliegen, auch die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung als solche stärker zu fördern. Diese bundeseinheitlichen Lehrgänge dienen bekanntlich der Anpassung des Ausbildungsstandes an die technische Entwicklung. Der Bund gewährt dazu aus dem Handwerkstitel Zuschüsse zu den Kursus-gebühren und Internatskosten.Schließlich wurden zusätzlich 2 Millionen DM für einen neuen Maßnahmenkomplex im Handwerksbereich bewilligt, nämlich die Förderung von Kooperationsvorhaben, insbesondere von Gemeinschaftseinrichtungen der elektronischen Datenverarbeitung.Wir selbst bestreiten keineswegs einen generell großen Mittelbedarf im gesamten Bereich dieses Titels, es konnte uns aber während der Beratung im Haushaltsausschuß nicht überzeugend dargelegt werden, ob die geforderten zusätzlichen Mittel an- I gesichts des Vorbereitungsstandes der Projekte auch wirklich abfließen könnten, zumal da auch noch ein Rest aus dem Rechnungsjahr 1970 in Höhe von rund 2 Millionen DM zur Verfügung steht.Zweitens wurden Erhöhungen für den Handel vorgenommen, und zwar um die Errichtung einer Reservierungszentrale für kleine Hotels im Bundesgebiet fördern zu können.Drittens wurden die Mittel bei dem Titel „Maßnahmen zur Förderung der Produktivität" um 1,5 Millionen DM auf nunmehr insgesamt 12,5 Millionen DM aufgestockt.Die vor einiger Zeit dem Hause zugeleitete Drucksache VI/1666 über die „Grundsätze einer Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen" zeigt die Entwicklung der Ausgaben im Einzelplan 09 zur Leistungssteigerung und zur Förderung der beruflichen Bildung in kleinen und mittleren Unternehmen. Ich möchte sie hier kurz zitieren. 1969 wurden 58,6 Millionen DM beschlossen, 1970 waren es 61,9 Millionen DM, 1971 sind es über 84 Millionen DM, die nunmehr durch die Aufstockungsbeschlüsse des Haushaltsausschusses auf rund 90 Millionen DM angestiegen sind. Das ist insgesamt eine Steigerungsrate, die sich durchaus sehen lassen kann und die, wie ich glaube, die üble Legende von der Mittelstandsfeindlichkeit dieser Koalition schlagkräftig widerlegt.
Darüber hinaus sollten wir dankend anerkennen,daß die Bundesregierung dem Parlament mit der
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Kulawigzitierten Drucksache ihre Vorstellungen unterbreitet hat, nach welchen Grundsätzen eine gute Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen betrieben werden soll. Mit einer bloßen Aufstockung der Mittel ist es allein nicht getan, vielmehr müssen alle Einzelmaßnahmen in ein Gesamtkonzept eingebettet werden. Ich habe für meine Person erhebliche Zweifel, ob der vorliegende Änderungsantrag diese Voraussetzungen erfüllt.Ich darf abschließend noch einmal kurz zusammenfassend zu der Problematik des vorliegenden Änderungsantrages Stellung nehmen und bei dieser Gelegenheit daran erinnern, daß ich anläßlich der Beratungen des Haushaltsplans 1970 bereits gegen die Annahme einer Änderungsantrages auf Erhöhung der Mittel zum damaligen Zeitpunkt mit dem Hinweis Stellung genommen habe, es sei so gut wie ausgeschlossen, daß die damals beantragten zusätzlichen Mittel im Rahmen des Rechnungsjahres 1970 für diese Zwecke würden ausgegeben werden können. Wir stehen heute vor der Tatsache, daß aus dem Haushaltsjahr 1970, nachdem der Bundestag damals die Erhöhung abgelehnt hatte, ein Haushaltsrest von 2,15 Millionen DM mit in den Haushalt 1971 übernommen wird. Mithin stehen für die Maßnahmen zur Förderung des Handwerks folgende Beträge bereit: Nachdem der Haushaltsausschuß eine Erhöhung um 4 Millionen DM beschlossen hat, beträgt der Ansatz nunmehr 18,9 Millionen DM. Rechnen Sie den Haushaltsrest von 2,1 Millionen DM hinzu, so haben wir eine Gesamtausgabe von 21 Millionen DM im Jahre 1971 für diese Zwecke vor uns.
Das ist eine Steigerungsrate
gegenüber dem im Jahre 1970 ausgewiesenen Betrag von rund 50 %.Ich habe übrigens vorhin gesagt, daß wir durchaus der Auffassung sind, daß in der Zukunft für den Gesamtbereich mehr Mittel benötigt werden. Das setzt aber voraus, daß entsprechende Vorbereitungsarbeiten im Handwerksbereich geleistet werden, so daß diese Mittel ausgegeben werden können. Wir werden uns im kommenden Jahr erneut darüber unterhalten können.Ich möchte abschließend folgendes feststellen. Die Kaolitionsfraktionen werden dem Einzelplan 09 selbstverständlich ihre Zustimmung geben. Sie werden aber den Antrag auf Erhöhung, den die CDU/ CSU-Fraktion gestellt hat, wegen mangelnder Begründung ablehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gallus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist direkt wohltuend, mit welcher Sachlichkeit hier zu später Stunde die Probleme desEinzelplans 09 behandelt werden. Nachdem Herr Kollege Röhner die Schwerpunkte des Einzelplans bereits dargelegt hat, bin ich in der günstigen Position, sie nicht wiederholen zu müssen.Ich darf aber auf einen Schwerpunkt in diesem Haushalt hinweisen, nämlich auf die Erdölbevorratung. Ich glaube, angesichts der Haltung der OPEC-Länder ist es sehr zu begrüßen, daß dieses Programm endlich anläuft. Es wäre sicherlich gut gewesen, wenn wir bereits heute in der Erdölbevorratung über entsprechende Kapazitäten verfügen würden.In bezug auf das, was Herr Kollege Sprung angesichts der europäischen Situation und deren Weiterentwicklung zu einer Wirtschafts- und Währungsunion gesagt hat, glaube ich, ist es von Bedeutung, feststellen zu können, daß die Opposition auch in diesem Bereich die Dinge sehr real sieht. Ich vertrete die Meinung, daß sie das auch draußen tut und nicht der Einfachheit halber in der Gesamtwirtschaft und damit auch in bezug auf die Agrarpolitik feststellt: Wir brauchen eben eine Wirtschafts- und Währungsunion, dann sind die Dinge in Ordnung, ohne gleichzeitig hinzuzufügen, daß der Marsch zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion sicherlich keinen Spaziergang ins Paradies darstellen wird.Ich glaube, darüber sollten wir uns alle im klaren sein; denn bei dem, was wir heute erreicht haben — die Gemeinschaft auf dem Agrarsektor —, weiß man nicht, ob das in der Zukunft auch tatsächlich ein lebensfähiges Kind ist oder ob es bei der weiteren Entwicklung stirbt. Das letzte Wort — das habe ich auch aus den Ausführungen des Kollegen von der Opposition entnommen —, scheint darüber noch nicht gesprochen zu sein. Nun, wir überlassen diese Dinge der Zukunft.Ich möchte auch nicht auf die Dinge eingehen, die der Kollege Kulawig in so deutlicher Weise angeführt hat. Ich möchte nur ganz kurz die Tatsache erwähnen — das begrüßen wir sehr —, daß es durch das regionale Förderungsprogramm möglich geworden ist, Arbeitsplätze auch in den Gebieten zu schaffen, in denen es angesichts der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung notwendig geworden war, eine Synthese zwischen Wirtschafts- und Agrarpolitik zu finden. Dazu hat das regionale Förderungsprogramm in dankenswerter Weise beigetragen.Nun aber zu dem Änderungsantrag der Opposition, den Tit. 685 10 um 5,8 Millionen DM zu erhöhen. Ich bin der Auffassung, diese Koalition hat es sich angelegen sein lassen, das zu tun, was auf diesem Sektor notwendig ist, nämlich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß auf dem Gesamtsektor der Förderung des Handwerks tatsächlich in verstärktem Maße weitergeschritten werden kann.Wenn wir uns die Zahlen des Jahres 1970 vor Augen halten, müssen wir eines bedenken. Zu dem damaligen Ansatz von 13,25 Millionen DM kam noch ein Rest des Jahres 1960 von 3,5 Millionen DM, so daß 1970 insgesamt 16,75 Millionen DM zur Verfügung standen, von denen aber im vergangenen
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GallusJahr nur 14,6 Millionen DM ausgeschöpft werden konnten, weil das, was gefördert werden sollte, zwangsläufig noch nicht in dem entsprechenden Maße anlaufen konnte. Nachdem die Koalitionsfraktionen den Ansatz des Tit. 685 10 um 4 Millionen DM erhöht haben, sind wir nunmehr in der glücklichen Lage, im Jahre 1971 in verstärktem Maße das Gewerbe zu fördern. Im Ansatz stehen 18,9 Millionen DM zur Verfügung. Dazu kommt ein Rest von 2,1 Millionen DM aus dem letzten Jahr, so daß wir insgesamt 21 Millionen DM zur Verfügung haben. Das sind 50% mehr als im letzten Jahr. Da bin ich der Auffassung, daß hier keineswegs in irgendeiner Weise davon gesprochen werden kann — mein Herr Vorredner hat das schon gesagt —, daß diese Regierung mittelstandsfeindlich wäre. Ich bin aber der Auffassung, daß einiges getan werden muß, damit diese Mittel vom Handwerk in diesem Jahr auch tatsächlich ausgeschöpft werden, und ich bin sicher, daß diese Koalition im nächsten Jahr das Ihre dazu beitragen wird, verstärkt Mittel zur Verfügung zu stellen, soweit das notwendig ist.Eines scheint mir die verehrte Opposition bei diesem Gesamttitel vergessen zu haben, nämlich die Tatsache, daß alle Ansätze in diesem Gesamttitel gegenseitig deckungsfähig sind und daß man damit sehr wohl, wenn auf dem einen Gebiet nicht so viel erreicht werden kann, auf dem anderen Gebiet, wo es fehlt, nachhelfen kann. In diesem Sinne glauben wir, daß die Regierung für das vor uns stehende Jahr das Ihre getan hat, um auf diesem Sektor die Entwicklung nicht zu hemmen, sondern nach allen Richtungen zu fördern.
Das Wort hat der Abgeordnete Gewandt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Dr. Sprung hat schon darauf hingewiesen, daß die Erörterungen am Dienstag uns einer Würdigung der konjunkturellen Lage entheben. Das ist im Grunde bedauerlich; denn in der Zwischenzeit gibt es ja wieder alarmierende Äußerungen der Bundesbank, und aus der Zeitung haben wir entnehmen können, Herr Minister, daß die Lebenshaltungskosten in Nordrhein-Westfalen im Januar gegenüber dem Vormonat um 1,3 % gestiegen sind.
Aber wir wollen heute über die Struktur- und Ordnungspolitik sprechen und nicht über die Konjunkturpolitik.Die Bundesregierung hat einen Bericht mit Grundsätzen einer Strukturpolitik für kleinere und mittlere Unternehmen vorgelegt. Was dort grundsätzlich ausgeführt wird, stößt bei uns nicht auf Widerstand. Ich glaube, daß alle marktwirtschaftlich orientierten Professoren oder Wirtschaftspolitiker in ihren schriftlichen Darlegungen ähnliches gesagt haben. Wir begrüßen die Analyse eines Wirtschaftszweiges, in dem immerhin 60 % der Arbeitnehmer beschäftigt werden. Aber — das muß gesagt werden — hierbei handelt es sich um eine Darstellung der Situation, keineswegs um ein Aktionsprogramm, wie von der Bundesregierung gesagt wurde.Die Bundesregierung zählt in diesem Bericht Maßnahmen auf, die sie fortzuführen gedenkt. Es handelt sich um alte Bekannte, um Positionen im Haushalt, die wir schon seit vielen Jahren haben. Sicher ist es zu begrüßen, daß Rationalisierungsmaßnahmen fortgeführt, daß Forschung, Entwicklung und Innovationen gefördert werden und daß auch jetzt die Möglichkeit der Kapitalbeteiligung besteht. Aber hier geht es nur um Fortschreibung.Auf einem wesentlichen Gebiet erfahren wir nichts Neues, und das ist das Gebiet der Ordnungspolitik und des Wettbewerbs. Die Regierung hat angekündigt, daß sie beabsichtigt, eine Novelle einzubringen. In der Praxis aber erleben wir folgendes: Der Referent des Herrn Ministers arbeitet einen Entwurf aus. Alle beteiligten Verbände werden befragt. Mit dem Entwurf geht dann der Herr Minister zu seinem Koalitionspartner. Er kehrt zurück, und der Herr Kartte erstellt einen neuen Entwurf. Damit beginnt das Spiel mit den Verbänden von neuem.
Das ist außerordentlich bedenklich; denn gerade in der mittelständischen Wirtschaft muß die Kooperation gefördert werden und darf nicht an überholten Kriterien des geltenden Rechts scheitern. Im übrigen beunruhigt es natürlich, wenn auf der einen Seite von Fusionen gesprochen wird, aber man nie erfährt, nach welchen Kriterien denn Fusionen kontrolliert werden sollen. Die Bundesregierung sagt auch nichts darüber aus, nach welchen Kriterien sie beispielsweise die Mißbrauchsaufsicht verbessern will. Die einzige Aktivität im Bereich des Kartellrechts ist die Hexenjagd auf die Preisbindung. Die Preisbindung ist ein Problem, das meiner Auffassung nach im Laufe der Jahre nicht so viel Bedeutung gewonnen hat, daß der Aufwand, der gemacht wird, gerechtfertigt wäre.Die Bundesregierung hat weiterhin erklärt, sie wolle die Rentenversicherung auch für die Selbständigen öffnen. Aber auch hier ist es bei der Ankündigung geblieben, so daß es der Opposition vorbehalten ist, jetzt einen eigenen Entwurf einzubringen.
Als wir hier im Hause die Vermögensbildung für Arbeitnehmer erörterten, erklärte die Bundesregierung, daß die Förderung der Selbständigen aus Systemgründen nicht in das 624-DM-Gesetz hineinpasse. Darüber kann man sich streiten. Die Bundesregierung hat aber gleichzeitig gesagt, sie wolle in bezug auf die Vermögensbildung für Selbständige etwas unternehmen. Bisher vermissen wir jede Initiative und jede konstruktive Idee aus dem Ministerium. Das einzige, was uns bisher zur Kenntnis kam, ist ein Staatssekretärsplan, der dann aber sehr schnell in der Versenkung verschwunden ist. Dieser Plan sah eine Beteiligung an den Gewinnen vor. In der mittelständischen Wirtschaft fragt man sich allerdings, wo bei der Gewinnkompression noch jemand beteiligt werden soll.
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GewandtDie Bundesregierung räumt in ihrem Bericht ein, daß man die besondere Lage der mittleren und kleineren Betriebe in der Steuergesetzgebung berücksichtigen müsse. An konkreten Einzelheiten — auch aus dem Bericht des Beirats kennen wir bisher die Absetzung der degressiven Abschreibung, eine Verschärfung der Progression und eine Anhebung der Proportionalstufe. In dem von mir zitierten Bericht der Bundesregierung wird im Zusammenhang mit der Erbschaftsteuer darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung damit rechne, daß es zu Liquiditätsschwierigkeiten bei Unternehmen kommt. Diese Unklarheit im Bereich der Steuerpolitik ist zu beklagen. Sie trägt zur Verwirrung bei.Wir haben weiterhin gehofft, daß über die Gewerbesteuerreform etwas Konkreteres gesagt wird, die offenbar ganz an das Ende der Reformen gestellt wird. Wir bedauern dies um so mehr, als Sie offenbar nicht bereit sind, partiellen Reformen, beispielsweise unserem Antrag auf Anhebung der Nullstufe, zuzustimmen.Ein besonders gravierendes Beispiel für die nicht sehr mittelstandsfreundliche Haltung des Hauses von Minister Schiller ist das Investitionszulagegesetz. Darin wurde der Handel ausgeschaltet, obwohl etwas Derartiges nirgendwo in einer Verordnung oder gar in einem Gesetz steht. Da Klarheit nicht zu erzielen ist, sind die Betroffenen gezwungen, einen Musterprozeß zu führen. Herr Professor Schiller, Sie wissen ja, daß es seit Roscher, seit über 100 Jahren eine anerkannte Maxime der Volkswirtschaft ist, daß der Handel die Krönung der Produktion ist. Es ist also nicht einzusehen, warum die Investitionen des Handels nicht gefördert werden sollen.Meine Damen und Herren, neben diesen Absichtserklärungen, denen keine Taten gegenüberstehen, ist natürlich auch die Ertragslage beunruhigend. Es ist bedauerlich, daß die Bundesregierung in ihrem Strukturbericht auf diese Ertragslage nicht eingeht. Der Einzelhandel hat klargemacht, daß der Ertrag vor der Steuer — wie noch nie seit der Währungsreform — geschrumpft ist. Wir wissen, daß sich der Anteil der Unternehmer am Sozialprodukt nicht verbessert hat. Die Einnahmen aus unternehmerischer Tätigkeit betragen 7,5 %, die Preiserhöhung beträgt 7,4 %. Das sind beängstigende Zahlen. Die Preise steigen heute nicht mehr im Sog der Nachfrage, sondern auf Grund der Kostenbelastung. Das sind Tatsachen; das ist keine Panikmache. Die Ertragslage ist das Kardinalproblem der mittelständischen Wirtschaft. Hierauf hat die Bundesregierung keine Antwort gegeben. Der Mittelständler leidet in doppelter Weise unter dem Geldwertverfall, denn er hat keine dynamisierte Altersrente, und er ist dem Kostendruck ausgesetzt.Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, man hat den Eindruck, daß man hier mit Albert Hahn sagen müßte: Inflation ist, wenn man davon nicht sprechen darf. Wir wollen keinen Protektionismus, wir wollen eine moderne, leistungsfähige Wirtschaft. Aber dazu gehört eine Weiterentwicklung des Wettbewerbsrechts, dazu gehört die Förderung, die wir hier angesprochen haben.Nun ist es sehr schwierig, einen Adressaten für unsere Anregungen zu finden; denn wir wissen, daß in wesentlichen Fragen der Wirtschaftsminister und der Finanzminister nicht übereinstimmen. Diesen Bericht, den die Bundesregierung hier vorgelegt hat, hat der Herr Bundeskanzler unterschrieben. Man sollte eigentlich bedauern, daß ein solches Dokument, das nur eine Fortschreibung ist, nur Absichtserklärungen enthält, im Grunde genommen nur Sand in die Augen streut und zu vergleichen ist mit dem Verkauf leerer Schuhkartons.Ich möchte im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit nur noch folgendes abschließend sagen. Die Konjunkturlage ist ernst. Die Strukturpolitik wird ganz offensichtlich vernachlässigt. Wir haben hier einen Bericht erhalten, in dem viele Worte gemacht werden, aber Aktionen nur als Absichtserklärungen enthalten sind. Wir können die Regierung aber nicht werten nach Absichtserklärungen, sondern nur nach Taten. Herr Bundeswirtschaftsminister, dieses Papier, auf das Sie Ihren Bericht gedruckt haben, ist sicherlich geduldig, nicht aber die Wirtschaft. Deshalb werden Sie verstehen, daß wir Ihrem Haushalt unsere Zustimmung nicht geben können.
Das Wort hat der Minister Schiller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuerst allen Beteiligten, allen Kollegen aus dem Hohen Hause, die zu diesem Einzelplan gesprochen haben, danken für ihre sachlichen Beiträge. Dieser Dank gilt dem Berichterstatter und denjenigen, die sich zum Thema Wirtschaftspolitik oder zum Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums geäußert haben.Es gibt heute in der Tat — da stimme ich Herrn Gewandt zu — für uns alle keinen Anlaß, erneut eine Konjunkturdebatte zu führen. Wenn Herr Gewandt die in diesen Tagen gemachten Äußerungen des Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank erwähnte, die nach unserer großen Konjunkturdiskussion im Bundestag erfolgte, so kann ich dazu nur folgendes sagen. Wer den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung gelesen hat, wer die Erklärungen der Bundesregierung, die Erklärungen von Bundeskanzler Brandt und die Erklärungen des Bundeswirtschaftsministers am 2. Februar zur Kenntnis genommen hat, wird ohne weiteres feststellen, diese Bundesregierung teilt die Sorgen der Deutschen Bundesbank um die Preis- und Lohnentwicklung. Da gibt es keine Meinungsverschiedenheit.Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen: Bei der übereinstimmenden Analyse der Konjunktursituation, die wir jetzt von allen Seiten feststellen können, sollte auch in diesem Hause von seiten der Opposition ein Zeichen gegeben werden in der Weise, daß auch die Opposition — unbeschadet ihrer eigenen Auffassungen über die Verursachung deser Situation — dazu beiträgt, daß wir alle in diesem Hause — vielleicht bei der dritten Lesung — zum
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Bundesminister Dr. SchillerAusdruck bringen, daß wir Wert darauf legen und erwarten, daß alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten sich im Rahmen der Orientierungsdaten des Jahreswirtschaftsberichts halten mögen. Das wäre ein Zeichen, das allen helfen würde, nicht zuletzt auch der Deutschen Bundesbank.Zu den heute besonders behandelten Themen gehören die Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich will das alles nicht wiederholen. Ich freue mich, daß Herr Kollege Dr. Sprung ausführlich auf dieses Thema eingegangen ist und damit diesen Abend, der dem Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums gewidmet ist, dazu benutzt hat, auch die hier sonst vielleicht etwas vernachlässigten außenwirtschaftlichen Fragen zu behandeln. Ich danke ihm auch für seine sachliche Würdigung. Ich sehe, daß wir in die nächsten Runden in Brüssel im Ministerrat mit der Unterstützung aller drei Fraktionen dieses Hauses gehen können, wenn es mit Sicherheit darum gehen wird, ein Konzept für die Wirtschafts- und Währungsunion durchzusetzen, das auch unseren gemeinsamen Ansprüchen an eine Gemeinschaft der Stabilität und des Wachstums genügt. Das wollen wir, und in diesem Ziel sind wir hier im Hause einig. Die Unterstützung des Hauses wird uns im Ministerrat helfen.Ich will nicht ausführlich auf die Detailfrage eingehen, was diese Sicherungsklauseln und Vorbehaltsklauseln bedeuten, Herr Kollege Sprung. Ich möchte nur eins sagen, es müßte auch das in Ihrer Linie liegen. Mit diesen Klauseln wollen wir vermeiden, daß im Falle eines negativen Ausgangs in der ersten Phase — wenn wir also feststellen, daß die effektive Parallelität von Schritten zur Währungsunion und wirtschaftspolitischer Koordinierung nicht eingetreten ist — ein krüppelhaftes, aber teures währungspolitisches Nothilfesystem übrigbleibt, weil alle gutmeinenden Europäer, die mit der Technik dieser geldwirtschaftlichen Dinge vielleicht nicht immer so vertraut sind, dann möglicherweise sagen: Nun laßt uns doch wenigstens das behalten! Dann würden wir bei einer sehr bruchstückhaften und sehr teuren rein monetären Lösung landen. Das wollten wir mit diesen Vorschlägen von Verfallklauseln oder Vorsichtsklauseln verhindern, wofür auch unser Gesprächspartner in Paris durchaus Verständnis hatte, wie ich schon das letzte Mal sagte. Ich darf noch hinzufügen und wiederholen, wir nehmen an, daß eine solche Klausel am Ende der ersten Phase einen heilsamen Druck ausüben wird, sich in Sachen Parallelität auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, die Dinge noch einmal zu überlegen und dann dort zu einer Einigung zu kommen. Das ist eine Hoffnung. Sollte die Hoffnung nicht bestätigt werden, würden jene klaren Termine des Auslaufens wirksam werden. Und dann herrschen auch geldwirtschaftlich wieder klare Verhältnisse. Insoweit sind wir, glaube ich, in diesem Hause einig. Wir werden Ihnen mit Sicherheit - eventuell schon nächste Woche — von den weiteren Verhandlungen in Brüssel berichten können, die am Montag und Dienstag sein werden.Nun zu den Fragen der mittleren und kleineren Unternehmungen, des Handwerks, des Handels, zuden Fragen des Mittelstandes und der mittelständischen Wirtschaft. Ein Erstes, das insonderheit die Auslassungen des Kollegen Gewandt betrifft, bezieht sich auf unsere wettbewerbs- und ordnungspolitischen Vorstellungen. Ich will hier nicht wiederholen, Herr Kollege Gewandt, daß das Wirtschaftsministerium und die ganze Bundesregierung das Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs vertreten. Das ist nun mehrfach betont worden, auch und gerade anläßlich der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht durch den Herrn Bundeskanzler. Darüber besteht wohl kein Zweifel. Sie wissen auch, daß die Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt eine klare Aussage über eine Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen enthält. Diese klare Aussage — das kann ich Ihnen hier erneut versichern wird von dieser Regierung eingehalten werden.Wir sind — wie Sie alle wissen — an den Arbeiten zu dieser Novelle. Sie kennen auch die Grundsätze dieser Novelle. Wir haben sie nicht im geheimen erarbeitet, sondern haben im Laufe des letzten Jahres zwei große Anhörungen mit der davon betroffenen Wirtschaft veranstaltet. Die Grundsätze sind: 1. Wir wollen mit dieser Novelle der Ballung wirtschaftlicher Macht durch Unternehmenszusammenschlüsse, durch eine Fusionskontrolle, entgegentreten. 2. Wir wollen das Prinzip der Mißbrauchsaufsicht bei marktbeherrschenden Unternehmungen schärfer fassen und damit verstärken. 3. Wir wollen dadurch zu einer Förderung des Wettbewerbs beitragen, daß wir die Kooperation von kleinen und mittleren Unternehmungen erleichtern und verstärken.Was das erste betrifft, so kann ich Ihnen jetzt nur sagen, die Novelle, die als Entwurf noch nicht dem Kabinett vorgelegt wurde, wird für die Fusionskontrolle einen sehr klaren Maßstab enthalten, der sich an eine bestimmte Umsatzgröße hält. Er wird auch Klarheit schaffen, daß wir mit der Fusionskontrolle nicht die kleinen und mittleren Unternehmenszusammenschlüsse fassen wollen, sondern die ganz großen, bei denen tatsächlich der Anschein oder die Vermutung dafür gegeben ist, daß sich hier eine dem marktwirtschaftlichen Prozeß abträgliche Konzentration wirtschaftlicher Macht vollzieht.Ich darf weiter berichten, daß wir in dieser Angelegenheit in den beiden Koalitionsfraktionen miteinander im Gespräch sind. Daß man sich in Fragen der Wettbewerbspolitik, in Fragen einer Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in diesem Bundestag im Koalitionskreis unterhalten könnte und unterhalten muß und daß das auch im vorigen Bundestag so war, Herr Gewandt, das wissen Sie aus eigener Erfahrung. Sie wissen, daß ich auch im vorigen Deutschen Bundestag und in der damaligen Regierung einen Versuch zur Novellierung des Kartellgesetzes gemacht habe und daß es dort zumindest sehr lange Unterhaltungen gab.In diesem Fall ist es wohl für uns alle gewiß, daß die Regierung das, was Bundeskanzler Brandt in Übereinstimmung mit den Wahlplattformen beider Koalitionsparteien vorgetragen hat, durch einen
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Bundesminister Dr. SchillerEntwurf diesem Hause gegenüber bestätigen und einlösen wird.
— Das Preisbindungsverbot ist nicht Gegenstand der Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt.
— Einer Wahlplattform, nicht beider. Ich habe ganz exakt gesprochen. Ich habe schon bei der Vorbereitung der Arbeiten das genommen, was in beiden Wahlplattformen deckungsgleich vorhanden war, nicht, was kontrovers war.Was die Fusionskontrolle betrifft, Herr Kollege Luda, so habe ich bis dato bei der CDU keine klare Haltung vorgefunden. In Ihrem neuen Parteiprogramm, das Sie jetzt auf dem Düsseldorfer Parteitag beschlossen haben, steht:Ein an Weisungen nicht gebundenes Kartellamt muß ein Widerspruchsrecht gegen wettbewerbsbeschränkende Konzentrationen und Preisabsprachen haben.Ich nehme an, daß damit bei der CDU nun die Diskussion über die Ausgestaltung einer Fusionskontrolle und möglicherweise auch einer Auflockerung der Preisbindung der zweiten Hand beginnt. Denn beide Dinge sind ja wohl in diesem Düsseldorfer Leitsatz angesprochen. Auf jeden Fall wird dieses Haus, wenn die Novelle von der Bundesregierung vorgelegt werden wird, eine lebhafte Debatte zu diesem Thema veranstalten. Ich persönlich hoffe, daß ich im Frühjahr in der Lage bin, den Entwurf zu dieser Novelle für das Kartellgesetz dem Kabinett vorzulegen.
- Ich weiß, Herr Luda. Wir haben natürlich aus der Entwicklung des Jahres 1970 einiges andere mit größerer Intensität tun müssen. Im übrigen sehen Sie gerade bei den großen Zweifelsfragen, die bei dieser Novelle aufgetreten sind, daß es doch wohl gut war, daß wir im Wirtschaftsministerium uns noch ein zweites Mal mit einem Anhörungsverfahren gegen Ende des letzten Jahres an die Wirtschaft gewandt haben, um möglichst viele Meinungen dieser Seite zu sammeln, was auch, glaube ich, sehr ertragreich gewesen ist.Nun noch ein Wort zur eigentlichen Mittelstandspolitik. Herr Gewandt, Sie machen es sich, glaube ich, ein wenig zu leicht, wenn Sie in diesem neuen Programm „Grundsätze einer Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen", das wir dem Deutschen Bundestag am 29. Dezember vorigen Jahres vorgelegt haben, keine Aktionen sehen. Sie müssen doch erkennen, daß wir mit diesen Grundsätzen einer Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen versucht haben, von einer allgemeinen Wohlwollenserklärung, möglicherweise einer allgemeinen Ideologie schlechthin, für die mittelständischen Betriebe wegzukommen. Eine solche Erklärung schien uns nicht notwendig zu sein. Es schien uns viel wichtiger zu sein nachzuweisen,welche realen ökonomischen Chancen mittlere und kleine Unternehmungen in der modernen Industriewirtschaft haben. Es schien uns weiter als wesentlicher Gesichtspunkt in diesen Grundsätzen herauszuarbeiten zu sein: Wie kann man im Rahmen des allgemeinen Produktivitätsfortschritts leistungssteigernde Maßnahmen für mittlere und kleinere Unternehmen treffen?
Dieser Leistungsgesichtspunkt, diese Grundsatzfrage, wie wir kleine und mittlere Unternehmen besser in den Stand versetzen können, den Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft zu entsprechen, schien uns die Basis eines geschlossenen Konzepts für eine derartige Politik zu sein. Ich glaube, zum ersten Mal ist unter diesem Gesichtspunkt ein solches geschlossenes Konzept vorgelegt worden.
— Nein, nicht im Sinne dieses sehr deutlichen systematischen Gesichtspunktes der Ansprüche der modernen Leistungsgesellschaft an die kleinen und mittleren Unternehmen. Ich glaube, dies sollten Sie sich selber noch einmal vor Augen halten, daß hier in der Tat ein geschlossenes Ganzes an Einzelmaßnahmen vorgelegt wird. Und nun vermissen Sie Taten, Herr Gewandt. Es tut mir leid, daß Sie das gerade in einem Augenblick sagen, in dem Kollegen von Ihnen — wie z. B. der Berichterstatter und auch andere Kollegen hier aus dem Deutschen Bundestag — gesagt haben, was im Haushalt gerade für diesen Bereich steht.
Das ERP-Kreditprogramm für kleine und mittlere Unternehmen enthält für dieses Jahr 360 Millionen DM gegenüber 285 Millionen DM etwa im Jahre 1969. Und aus dem Haushalt, so wurde heute von einem anderen Kollegen gesagt, werden in diesem Jahr für kleine und mittlere Unternehmen 90 Millionen DM bereitgestellt, was bei diesem Ansatz gegenüber dem Vorjahr — ich wiederhole es — einer Steigerung um fast 50 % entspricht.
— Aber lieber Herr Gewandt, Sie haben nach Taten gefragt. Und wenn Sie sich im einzelnen orientieren— ich hoffe, Sie sind orientiert —, werden Sie auch feststellen, daß ganz konkrete Punkte aus dem allgemeinen Programm durch diese zusätzlichen Etatmittel aufgegriffen werden sollen, wie z. B. die Finanzierung besonderer Hilfeleistungen für Anstrengungen auf dem Gebiet der Innovation oder die Hilfestellung für Kapitalbeteiligungsgesellschaften und ähnliches. Das alles scheint mir ein Fortschritt zu sein, ein Fortschritt nicht nur im Konzept, sondern auch ein Fortschritt in den Taten.
Herr Bundesminister, Sie haben als Mitglied der Bundesregierung das Recht, jederzeit zu sprechen. Nur wenn
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Vizepräsident Frau FunckeSie Ihren Etat noch vor dem Wochenende gesichert haben wollen,
dann liegt es in Ihrer Hand, jetzt — —
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Frau Präsidentin, ich war ohnehin in meinen Antworten an die Kollegen praktisch bei den letzten Worten angelangt. — Ich kann nur noch einmal sagen: ich möchte trotz der kritischen Bemerkungen, die Herr Gewandt zum Schluß dem Wirtschaftsministerium widmete, allen, auch ihm, für ihre kritischen Worte und für das, was sie uns — auch als Anregung für die weitere Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums — gesagt haben, sehr herzlich danken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Frerichs.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die verehrten Kollegen Kulawig und Gallus haben eben mit beredten Worten versucht, ihr schlechtes Gewissen zu verbergen,
das sie zweifellos wegen der Ablehnung unseres Antrages zur Erhöhung der Gewerbeförderungsmittel für das deutsche Handwerk um 5,8 Millionen DM haben.
Meine Damen und Herren, worum geht es? Sie wissen, daß wir am 1. September 1969 das Berufsausbildungsgesetz gemeinsam verabschiedet haben. In § 45 dieses Gesetzes heißt es, daß die zuständige Stelle die Durchführung der Berufsausbildung überwacht und fördert durch Beratung der Ausbildenden und der Auszubildenden. Sie hat also zu diesem Zweck sogenannte Ausbildungsberater zu stellen. Das Gesetz schreibt somit den Kammern vor, daß sie Ausbildungsberater einstellen sollen, ohne daß es etwas über die Finanzierung dieser Maßnahmen sagt. Es gibt also bis heute keinen anerkannten Richtwert, für wie viele Lehrlinge ein Ausbildungsberater eingestellt werden muß. Ich habe Band 11 der Gutachten und Studien zur Situation der Lehrlingsausbildung nachgelesen. Dort heißt es, daß man vorläufig für jeweils zirka 300 Lehrlinge einen hauptamtlichen Ausbildungsberater einstellen solle.
Nun habe ich mir einmal ausgerechnet, was dies beispielsweise für die Handwerkskammer in Düsseldorf bedeuten würde. Bei dort 34 195 Lehrlingen müßte diese Kammer 114 Ausbildungsberater einstellen. Ein Ausbildungsberater kostet im Jahr rund 40 000 DM. Insgesamt wären allein für Ausbildungsberater etwa 4,5 Millionen DM im ersten Jahr aufzubringen. Demgegenüber betragen die gesamten Einnahmen aus Beiträgen für die Kammer nur 5,3 Millionen DM. Sie sehen also, um welche Beträge es sich hier handelt und daß unser Antrag auf Erhöhung in diesem Punkt praktisch nur eine Minimalforderung bedeutet. Sie können sich auch ausrechnen, welche Summe sich ergibt, wenn wir die Kosten für die 45 Handwerkskammern im Bundesgebiet berechnen. Ich habe die Fehlbeträge ausgerechnet, will es mir jedoch ersparen, Ihnen jetzt noch die Zahlen vorzutragen.
Lassen Sie mich ganz zum Schluß noch eine kurze Überlegung anstellen. Im Bericht der Bundesregierung zur Bildungspolitik heißt es sehr verheißungsvoll:
Der Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit muß durch eine intensive und individuelle Förderung aller Lernenden in allen Stufen des Bildungssystems verwirklicht werden.
Aber wie sieht es damit in der Praxis aus? Die Ausgaben der öffentlichen Haushalte für Hochschulen beliefen sich im Jahre 1967 auf 4,2 Milliarden DM. Das bedeutet, daß auf jeden der 400 000 Studenten 10 500 DM entfielen. Demgegenüber wurden für 435 000 Lehrlinge unter Einbeziehung der Gewerbeförderungsmittel der Länder insgesamt 33 Millionen DM aufgewendet; das heißt, jeder Lehrling wurde mit 76 DM angesetzt. Gestatten Sie mir also die Frage: Wie will die Bundesregierung die von ihr propagierte Chancengleichheit hier und außerhalb des Hauses glaubhaft vertreten, wenn sie für jeden Studenten jährlich mindestens 10 500 DM, aber für jeden Lehrling jährlich nur 76 DM aufwendet?
Man könnte die Beträge im einzelnen noch aufschlüsseln, was ich mir im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit jedoch erspare. Ich möchte nur sagen, daß — hören Sie sich die Zahl genau an — bei der beantragten Erhöhung um 5,8 Millionen DM auf jeden dieser 435 000 Lehrlinge nur eine Erhöhung um 13,33 DM entfiele. Sie sehen also, meine Kollegen Kulawig und Gallus, daß wir keine unverschämte Forderung aufgestellt, sondern den Versuch unternommen haben, einen Einstieg zu finden auf Grund eines Gesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben.
Das wollte ich heute abend in aller Frische am Schluß dieses Tages sagen.
Das Wort zur Begründung des Antrags auf Umdruck 123 hat der Abgeordnete Röhner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den Ausführungen von Kollegen Frerichs kann ich die Begründung ganz kurz halten. Es liegt Ihnen der Umdruck 123 vor. Mit diesem unserem Änderungsantrag beabsichtigen wir, wie schon erwähnt, eine Erhöhung des Ansatzes bei dem Handwerkstitel für Maßnahmen zur Förderung des Handwerks.Der Antrag ist nach unserer Auffassung gerechtfertigt in Anbetracht der strukturellen und wirtschaftlichen Probleme des Handwerks in dem heute notwendigen Anpassungs- und Rationalisierungs-
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Röhnerprozeß. Der Antrag ist nach unserer Meinung auch angemessen, wenn man berücksichtigt, wie hoch der Anteil der Handwerksförderung im gesamten Einzelplan 09 ist. Ich verweise auf die im Umdruck 123 aufgeführten Positionen.Zu Ziff. 1 darf ich bemerken, daß es sich hier um die Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung wirtschaftlicher und technischer Art handelt - ein Bereich, der für die Handwerksförderung von besonderer Bedeutung ist.Die Ziffer 2 des Umdrucks beinhaltet eine Aufstockung für Maßnahmen, die zum Auf- und Ausbau sowie zur Unterhaltung von betriebstechnischen und betriebswirtschaftlichen Beratungsstellen dienen sollen.Die letzte Ziffer, die Ziffer 7, sieht eine Aufstokkung um 3 Millionen DM für Maßnahmen vor, die zur Lehrlingsunterweisung und zur Einstellung der Lehrlinge auf ständig fortschreitende technische Entwicklung erforderlich sind. Das ist nach unserem Dafürhalten notwendig, um die Lehrlinge mit den neuen Werkstoffen und Verarbeitungsmethoden vertraut zu machen.Nach den Erfahrungen bei der Verwendung der diesbezüglichen Förderungsmittel im Jahre 1970 ist damit zu rechnen, daß der Bedarf in diesem Bereich im Jahr 1971 um etwa 62 % höher liegen wird als bisher. Insgesamt werden durch unseren Änderungsantrag die gesamten Förderungsmit% für das Handwerk von 18,9 um 5,8 Millionen DM auf 24,7 Millionen DM erhöht.Ziel unseres Antrags ist es, die durch die Unternehmensgrößen bedingten strukturellen Schwierigkeiten des Handwerks zu erleichtern. Sie ergeben sich aus dem notwendigen Anpassungsprozeß an die rasch fortschreitende technische und wirtschaftliche Entwicklung. Insofern ist unser Antrag ein Beitrag dazu, die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit dieses Wirtschaftszweiges zu erhalten bzw. im Rahmen der Gesamtwirtschaft sicherzustellen. Ich bin sicher, daß wir in Anbetracht der Bekenntnisse sowohl von der linken Seite dieses Hauses als auch des FDP-Sprechers, des Kollegen Gallus, zu diesem Problem mit der Unterstützung unseres Antrags und mit Ihrer Zustimmung rechnen dürfen.
Meine Damen und Herren, der Antrag ist begründet. Wird das
Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann stimmen wir zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 123 ab.
Wer dem Änderungsantrag seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Bitte schön!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beantrage namens der Fraktion der SPD namentliche Abstimmung.
Das Wort hat der Abgeordnete Rösing.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befanden uns in der Abstimmung, und deshalb ist dieser Antrag unzulässig.
Wir stimmen
über den Einzelplan 09 ab.
Wer dem Einzelplan 09 seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.
Meine Herren und Damen, ich möchte allen herzlich danken, die gesprochen haben, aber auch all denen, die nicht gesprochen haben,
da sie in freiwilliger Selbstkontrolle dazu beigetragen haben, daß wir heute rechtzeitig mit dem Einzelplan fertig werden konnten.
Ich berufe das Haus ein auf Dienstag, den 9. Februar, 13 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.