Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, ich darf zunächst nachtragen, daß Punkt 9 der Tagesordnung — zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Soldatenversorgungsgesetzes — nicht behandelt werden kann, da der Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung nicht vorliegt.Ich teile ferner mit, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste bezeichneten Vorlagen ergänzt werden soll. -- Das Haus ist damit einverstanden. Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen.Es liegt Ihnen ferner eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:Vorlage des Staatssekretärs des Auswärtigen AmtsBetr.: Halbjahresberichte der Bundesregierung über die Tätigkeit des Europarates und der Westeuropäischen UnionBezug: Beschlüsse des Bundestages vom 22. Februar und 28. April 1967— Drucksache VI/1294 —zustandig: Auswärtiger AusschußVorlage des Generalsekretärs des Europäischen ParlamentsBetr.: Entschließung zu den vom Gemischten Parlamentarischen Ausschuß EWG—Türkei am 30. September 1970 angenommenen Empfehlungen— Drucksache VI/1324 —zuständig: Ausschuß für WirtschaftVorlage des Bundesministers des AuswärtigenBetr.: Bericht der Außenminister an die Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften— Drucksache VI/1328 —zuständig: Auswärtiger AusschußVorlage des Bundesministers für VerkehrBetr.: Verkehrsverbindungen zwischen Hamburg und dem OstseeraumBezug: Beschluß des Bundestages vom 19. Juni 1969 — Drucksache VI/ 1329 —zuständig: Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
HaushaltsausschußVorlage des Bundesministers für Bildung und WissenschaftBetr.: Bericht der Bundesregierung über Sofortmaßnahmen zum Abbau des Numerus claususBezug: Beschluß des Bundestages vom 18. März 1970 — Drucksache VI/1338 —zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
HaushaltsausschußErhebt sich gegen beabsichtigte Überweisung Widerspruch? — Ich stelle fest, daß dies nicht der Fall ist.Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat am 4. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Leicht, Dr. Pohle, Franke , Haase (Kassel) und der Fraktion der CDU/CSU betr. Ertragslage von Bundesbahn und Bundespost — Drucksache VI/1301 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1381 verteilt.Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat am 4. November 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Henze, Burger, Frau Stommel und Genossen betr. Richtlinien für den Bundesjugendplan — Drucksache VI/1296 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1382 verteilt.Die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Eignungsübungsgesetzes wird als Drucksache zu VI/1314 verteilt.Wir treten dann in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 25 der Tagesordnung auf:a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften— Drucksachen VI/880, zu VI/880 —Schriftlicher Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache VI/1374 —Berichterstatter: Abgeordneter Röhner
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. April 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen
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4266 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Präsident von HasselKommission der Europäischen Gemeinschaften — Drucksachen VI/879, zu VI/879 —Schriftlicher Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache VI/ 1374 —Berichterstatter: Abgeordneter Röhner
c) Beratung des Schriftlichen Berichts des Finanzausschusses über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten— aus Drucksache V/3774, Drucksache VI/ 1344 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Becker
Außerdem rufe ich die Zusatztagesordnungspunkte 1 und 2 — sozusagen als die Punkte 25 d und e — auf :Beratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses über die Entschließung des Europäischen Parlaments zu den vom Rat der Europäischen Gemeinschaften festgelegten Bestimmungenzur Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch Eigenmittel der Gemeinschaf tenzur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rats und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften— Drucksachen VI/915, VI/1369 —Berichterstatter: Abgeordneter RöhnerBeratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Verordnung des Rates zur Durchführung des Beschlusses vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaf ten— Drucksachen VI/956, VI/1376 —Berichterstatter: Abgeordneter RöhnerZunächst einmal danke ich den Berichterstattern für die vorgelegten Berichte. Zur Ergänzung der Berichterstattung zu Punkt 25 a und b hat der Berichterstatter, der Herr Abgeordnete Röhner, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Ergänzung des schriftlich vorliegenden Berichtes des Haushaltsausschusses auf Drucksache VI/1374 möchte ich noch folgendes bemerken. Der Haushaltsausschuß befaßte sich zunächst mit der Vorlage VI/880, die in einem gewissen Zusammenhang mit der Drucksache VI/915 zu sehen ist, also mit dem Beschluß über die Übertragung eigener Mittel an die Europäischen Gemeinschaften. Danach wird der angestrebte endgültige Zustand der Selbstfinanzierung der Europäischen Gemeinschaften zum 1. Januar 1978 eintreten. Die Zeit bis dahin wird in drei Phasen überbrückt.In der ersten Phase, in der Zeit vom 1. Januar 1971 bis zum 31. Dezember 1974, werden die Europäischen Gemeinschaften alle Einnahmen aus den Agrarabschöpfungen erhalten. Außerdem wird ihnen ein jährlich wachsender Anteil an den Zolleinnahmen zugewiesen werden. Die restliche Finanzierung muß in dieser Übergangsphase allerdings durch Haushaltsbeiträge der Mitgliedstaaten erfolgen. Für die Bundesrepublik Deutschland gilt in dieser Übergangszeit der Finanzierungsanteil in Höhe von 32,9 %.Es folgt die zweite Phase, die sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 1975 bis zum 31. Dezember 1977 erstreckt. In dieser Zeit finanzieren die Europäischen Gemeinschaften ihre Ausgaben bereits vollständig durch eigene Einnahmen. Soweit die Ausgaben durch Zölle und Abschöpfungen nicht voll gedeckt werden, erfolgt die Restfinanzierung durch eine Mehrwertsteuerbeteiligung. Dieser Mehrwertsteueranteil, der dann erforderlich ist, darf jedoch höchstens 1 % der steuerpflichtigen Bemessunggrundlage des jeweiligen Mitgliedstaats betragen. Auch für diese Phase ist eine Begrenzung des Finanzierungsanteils vorgesehen, und zwar in der Weise, daß der jeweilige Anteil eines Staates nur um höchstens 2 % im Vergleich zum vorausgegangenen Jahr steigen darf.Ich komme zur dritten Phase. Die dritte Phase, also die Endphase, beginnt am 1. Januar 1978. Von da an erfolgt die Ausgabenfinanzierung vollständig durch eigene Einnahmen. Auch die jährliche Ausgabenbegrenzung — ich sprach soeben davon, nämlich im Zusammenhang mit dem Anwachsen des Anteils um jeweils höchstens 2 % — wird nach dem 1. Januar 1978 wegfallen. Der Wegfall dieser Begrenzungsklausel führt von diesem Zeitpunkt an zu einem starken Anwachsen der deutschen Finanzierungsanteile in den folgenden Jahren.Bei der Beratung dieser Vorlage ergaben sich im Haushaltsausschuß insbesondere zwei Probleme. Ich möchte kurz darauf eingehen.Einmal ging es um die Definition der gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer. Hier ist auch die Berechnungsmethode für den Anteil an der Mehrwertsteuer mit einzuschließen. Nach Auffassung des Haushaltsausschusses ist es erforderlich, diese Richtlinien so zu fassen, daß keine zusätzlichen Steuerbelastungen für die einzelnen Mitgliedstaaten entstehen. Die Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer wäre also lediglich als haushaltsmäßige Berechnungsgrundlage mit heranzuziehen. Außerdem darf die Anteilsberechnung für den jeweiligen Mitgliedstaat nicht durch zusätzliche steuerstatistische Erhebungen erfolgen. Es muß vielmehr der Anteil eines Mitgliedstaates aus den Da-
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Röhnerten der jeweiligen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ermittelt werden.Das zweite Problem, das sich bei dieser Vorlage im Haushaltsausschuß ergab, besteht darin, daß die Finanzierungsregelung auch hinsichtlich der möglichen Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens und dreier anderer Staaten zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu erörtern war. Es ist bekannt, daß sich diese Auswirkungen zur Zeit noch nicht genau berechnen lassen. Aber es kann gesagt werden, daß eine finanzielle Entlastung der Bundesrepublik dann eintreten wird, wenn die vier beitrittswilligen Staaten das jetzt vereinbarte Finanzierungssystem uneingeschränkt übernehmen werden. In diesem Fall wird das Gesamtvolumen ,der Gemeinschaftsausgaben zwar mäßig steigen, der Finanzierungsanteil der Bundesrepublik aber gleichzeitig sinken. Schätzungen sprechen davon, daß der Finanzierungsanteil am neuen Gesamtvolumen nach diesem Zeitpunkt etwa auf 2% absinken könnte.Ein paar Bemerkungen auch zu der Vorlage über die Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments. Ich meine hier die Bundestagsdrucksache VI/879. Danach ist durch den Vertrag vom 22. April 1970 eine Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments in zwei Phasen vorgesehen.Im ersten Abschnitt, nämlich in der Zeit vom 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1974, soll die Schlußentscheidung im Haushaltsverfahren beim Rat verbleiben; er kann aber Änderungsvorschläge1 des Europäischen Parlaments, die nicht zu Mehrausgaben führen, nur mit qualifizierter Mehrheit ablehnen. Der Rat hat sich außerdem verpflichtet, den Haushaltsvoranschlag für die Ausgaben des Europäischen Parlaments nicht zu ändern.Dann kommt die zweite Phase, die am 1. Januar 1975 als Endphase beginnt. Von diesem Zeitpunkt an wird die Schlußentscheidung im Haushaltsverfahren grundsätzlich beim Europäischen Parlament liegen. Dabei bleibt das Parlament allerdings an die materielle Rechtsetzung des Rates gebunden. Das bedeutet, daß der eigentliche Entscheidungsbereich des Parlaments sich nur auf die Verwaltungsausgaben erstreckt, die ja bekanntlich, prozentual gesehen, nur einen geringen Anteil des gesamten Haushaltsvolumens ausmachen. Innerhalb dieser Grenzen kann das Europäische Parlament im Rahmen bestimmter jährlicher Steigerungsraten, hier abzustellen auf das Bruttosozialprodukt und auf das nationale Haushaltsvolumen, den Entwurf des Haushaltsplans mit der Mehrheit seiner Mitglieder und mit drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen endgültig feststellen.Lassen Sie mich abschließend die Wertung, die der Haushaltsausschuß bei der Beratung dieser Vorlagen vorgenommen hat, kurz zusammenfassen.Grundsätzlich ist es nach Meinung des Haushaltsausschusses zu begrüßen, daß durch die Annahme der Vorlagen ein weiterer Schritt zur Integration Europas getan wird. Die Gemeinschaften erhalten Finanzautonomie. Das Europäische Parlament erhält erste Ansätze zu echten Haushaltsbefugnissen. Ferner ist es nach Auffassung des Haushaltsausschusses positiv zu werten, daß erstmals eine Obergrenze für die Finanzierungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber den Gemeinschaften eingeführt wird. Allerdings muß auch darauf hingewiesen werden, daß trotz dieser Begrenzung die Obergrenze dynamisch ist, dynamisch insofern, als die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer und wohl auch die Zölle sich entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung weiterentwickeln und wachsen wird. Andererseits ist festzustellen, daß der deutsche Finanzierungsanteil in den kommenden Jahren beträchtlich anwachsen wird. Der Haushaltsausschuß möchte außerdem noch darauf hinweisen, daß die jetzt eingegangenen Verpflichtungen der Bundesrepublik in der Erwartung des Beitritts Englands und dreier weiterer Staaten zur EWG übernommen wurden. Es ist außerdem zu bedauern, daß die vereinbarten institutionellen Fortschritte — ich meine damit die Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments — der Bedeutung der jetzigen Finanzregelung noch nicht entsprechen. Hier wäre der entscheidende Schritt die Übertragung des vollen Haushaltsrechts auf das Europäische Parlament. Dies setzt die Zuerkennung echter legislativer Befugnisse an das Europäische Parlament voraus. Das wiederum wird sich ohne direkte Wahlen zum Europäischen Parlament kaum verwirklichen lassen.
Das heißt, daß ohne entscheidende Fortschritte im Bereich der politischen Union das Gefälle zwischen wirtschaftlich-finanzieller Integration einerseits und dem politischen Zusammenschluß in den nächsten Jahren andererseits vergrößert würde.Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, waren kurz zusammengefaßt die wichtigsten Überlegungen, die den Haushaltsausschuß veranlaßt haben, dem Hohen Hause die in der Drucksache 11-1/1374 enthaltene Entschließung vorzulegen.Ich darf vielleicht noch darauf hinweisen, Herr Präsident, daß der ausgedruckte Text nicht vollständig ist. In ihm ist ein letzter Punkt, den der Haushaltsausschuß beschlossen hat, noch nicht enthalten. Ich darf um entsprechende Ergänzung der Vorlage bitten.Im Auftrag und im Namen des Haushaltsausschusses bitte ich das Hohe Haus, dem genannten Entschließungsantrag des Haushaltsausschusses seine Zustimmung zu geben.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter für ,die Berichterstattung zu vier Tagesordnungspunkten, die wir aufgerufen haben.
Für den Tagesordnungspunkt 25 c hat das Wort der Berichterstatter Dr. Becker .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Entschließungsantrag, der Ihnen auf Drucksache VI/1344 vorliegt, handelt es sich um einen wichtigen Schritt zur Harmonisierung der Steuern in Europa. Es geht hier um einen Richtlinienentwurf, über den seit
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Dr. Becker
zwei Jahren in Brüssel und Bonn verhandelt wird. Der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages hat sich mit dieser Frage in verschiedenen Sitzungen sowohl in Bonn wie auch in Brüssel beschäftigt. Es ist die erste europäische Maßnahme auf dem Gebiete der direkten Steuern.Zunächst wurde die Frage gestellt, ob nach den Römischen Verträgen überhaupt direkte Steuern in Europa harmonisiert werden können, weil in Art. 99 des EWG-Vertrages nur von Verbrauchsteuern die Rede ist. Der Finanzausschuß ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Art. 100 des EWG-Vertrages die richtige Grundlage für die Harmonisierung dieser Steuern bietet.Diese Richtlinie ist von verschiedenen Seiten deswegen kritisiert worden, weil sie keine genügende Grundlage dafür bietet, die gesamte Körperschaftsteuer zu reformieren. Der Finanzausschuß bittet in seiner Erklärung den Bundestag, eine Entschließung dahingehend anzunehmen, daß die Regierung sich dafür einsetzt, daß die Körperschaftsteuern in Europa reformiert und daß darüber hinaus in Europa die Steuern insgesamt harmonisiert werden. Mit dieser Richtlinie wird praktisch die Dreifachbesteuerung der Körperschaften, die Tochtergesellschaften in verschiedenen europäischen Ländern haben, vermieden, was einen wesentlichen wirtschaftlichen Fortschritt bedeutet.Meine Damen und Herren, ich möchte aus dem Antrag des Ausschusses einen Passus vorlesen:Der Bundestag weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die nationalen Unterschiede bei den direkten Steuern weiterbestehen. Er fordert die Bundesregierung auf, ihre Bemühungen zur Harmonisierung dieser Steuern fortzusetzen und dafür einzutreten, daß in der Gemeinschaft so bald wie möglich eine Gesamtkonzeption für die Steuerharmonisierung entwickelt und vorangetrieben wird.Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, dem Antrag des Finanzausschusses zuzustimmen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Damit ist die Berichterstattung für die gesamten aufgerufenen Punkte abgewickelt.
Das Wort hat nunmehr der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die deutsche Europapolitik kann dies ein wichtiger Tag werden. Es ist schon wichtig genug, daß dem Hohen Hause zwei Europagesetze von großer Tragweite vorliegen. Noch wichtiger wäre es, wenn in dieser Debatte deutlich würde, wieviel der großen Mehrheit im Deutschen Bundestag das Werk der westeuropäischen Einigung bedeutet.Die deutsche Politik, soweit sie von der Bundesregierung zu verantworten ist, leidet nicht an Gleichgewichtsstörungen. Wir haben uns um ein besseres Verhältnis zu den Nachbarn im Osten bemüht und tun das weiter, und davon lassen wir uns auch nicht abbringen. Daß der Bundesaußenminister heute nicht hier sein kann, ergibt sich, wie das Hohe Haus wissen wird, daraus, daß er sich gerade jetzt in Warschau darum bemüht, einen Normalisierungsvertrag mit der Volksrepublik Polen auszuhandeln, einen Vertrag, der eine böse Vergangenheit hinter uns lassen und, so hoffen wir, den Weg in eine bessere Zukunft öffnen soll.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren, worüber wir immer sonst streiten mögen, was immer uns sonst trennen mag: Die guten Wünsche der allermeisten von uns sind ganz gewiß beim Außenminister und seiner schwierigen, wichtigen Aufgabe in diesen Tagen.
Aber es sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, daß alles, worum wir uns in östlicher Richtung bemühen, auf der soliden Grundlage des atlantischen Bündnisses und der sich erweiternden westeuropäischen Gemeinschaft beruht, und zwar nicht so, als ob wir dies nur sagten und selbst nichts dazu täten. Ganz im Gegenteil! Wir haben gerade in den jetzt hinter uns liegenden Monaten einen nicht geringen Beitrag dazu geleistet, daß die westliche und die westeuropäische Zusammenarbeit verstärkt worden ist. Wir haben, was die Europäische Gemeinschaft angeht, nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß eine jahrelange Stagnation überwunden werden konnte. Es geht wieder voran.
Daß es wieder vorangeht, ist auch auf deutsche Initiative zurückzuführen. Das sollte auch von denjenigen gewürdigt werden, die dieser Regierung und der sie tragenden Koalition kritisch oder ablehnend gegenüberstehen. Herr Kollege Moersch wird sich nachher im Verlauf der Debatte in Vertretung des Bundesaußenministers noch dazu äußern, was in den vergangenen zwölf Monaten im einzelnen geleistet und erreicht worden ist. Das ist nicht wenig. Ich sage noch einmal, wir können ohne Selbstgefälligkeit feststellen: die Bundesrepublik ist bei den Bemühungen um die Verstärkung und Erweiterung der westeuropäischen Zusammenarbeit und Einigung eine treibende Kraft gewesen. Sie ist es, und dabei soll es bleiben. Mit Aufforderungen, meine Damen und Herren, wir sollten mehr für die Einigung Westeuropas tun, läuft man bei dieser Bundesregierung offene Türen ein.
Allerdings gehen wir in unserer Politik — in welcher Himmelsrichtung auch immer — von den wirklichen Verhältnissen aus. Wir nehmen das in Angriff, was nach Einschätzung der Lage und der Umstände machbar ist. Wir können nur das tun, wozu auch unsere Partner bereit sind, worauf wir uns mit ihnen einigen können, wovon wir andere überzeugen können und diese uns. Wir sind bestrebt, gemeinsame Interessen aufzuspüren und sie für die europäische Sache nutzbar zu machen. Seit-
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Bundeskanzler Brandtdem sich auch andere so verhalten, geht es in unserem Teil Europas wieder voran, und zwar ohne daß es dazu wie in den 50er Jahren des Antriebs einer akuten außenpolitischen Bedrohung bedarf.Die dem Hohen Hause zur Verabschiedung vorliegenden Gesetze sind das Ergebnis langer und geduldiger Beratungen. Dies gehört zu der Verpflichtung, die die Bundesregierung auf der Haager Gipfelkonferenz im Dezember vergangenen Jahres zusammen mit ihren Partnern eingegangen ist. In den Augen von Perfektionisten mag dies unvollkommen sein. Tatsächlich sind sie, worauf auch schon der Herr Berichterstatter hingewiesen hat, zwei neue wichtige Bausteine für den inneren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft. Die in der Finanzregelung vorgesehenen eigenen Einnahmen der Gemeinschaft stellen ein Stück vorweggenommener föderativer Ordnung dar. Mit der — wenn auch noch unzulänglichen Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments wird ein Schritt in Richtung auf eine Stärkung der demokratischen Basis getan.Die Bundesregierung betrachtet diese beiden Gesetze als den Übergang in ein neues Jahrzehnt westeuropäischer Politik, in dem die Gemeinschaft zu einer möglichst beispielhaften Ordnung entwikkelt wird, einer Lebensordnung, die ihre Anziehungskraft nicht nur für die Völker, die ihr heute, und für jene, die ihr morgen angehören, wirken läßt, sondern auch für andere Völker in Europa und in anderen Teilen der Welt.
Wir schulden es nicht zuletzt der jungen Generation, daß wir der Gemeinschaft Inhalte geben und Aufgaben stellen, zu denen sie sich bekennen kann. Dazu gehört, durch unser Tun deutlich zu machen, daß für uns die Gemeinschaft mehr ist als nur ein Zweckverband zur Befriedigung materieller Bedürfnisse.
Die Bundesregierung hat sich für dieses Jahrzehnt insbesondere fünf Ziele gesetzt:— die baldige Erweiterung der Gemeinschaft um die beitrittswilligen Staaten,— die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion, die die Römischen Verträge weiterführen und vervollständigen soll,— die nun beginnende westeuropäische politische Zusammenarbeit so zu entwickeln, daß daraus eine politische Gemeinschaft werden kann,
— die Partnerschaft der Gemeinschaft mit Amerika zu etablieren und auf angemessene Weise weltpolitische Verantwortung zu übernehmen,— und nicht zuletzt den jeweils gegebenen Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation mit den Staaten Osteuropas nachzugehen und sie im allseitigen Interesse zu nutzen.Meine Damen und Herren, zu den wichtigsten Fortschritten der letzten zwölf Monate gehört dieAufnahme von Verhandlungen mit den beitrittswilligen Ländern. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Verhandlungen, die bereits auf einem guten Wege sind, in der kürzestmöglichen Zeit zu einem befriedigenden Ergebnis führen, d. h. zur Vollmitgliedschaft Großbritanniens und der anderen Staaten.
Der Beitritt dieser Länder wird die Wirtschaftskraft der Gemeinschaft vermehren, ihren sozialen Ausbau fördern und sie politisch stärken. Die Verhandlungen mit den Staaten, die eine andere Form der Verbindung mit der Gemeinschaft suchen, beginnen in diesen Tagen. Die Bundesregierung wird sich auch hier für einen zügigen Verlauf einsetzen.Die große gemeinsame Aufgabe der 70er Jahre ist die Fortentwicklung der Gemeinschaft zur Wirtschafts- und Währungsunion. Wir müssen hier mit unseren Partnern entschlossene Schritte in die Zukunft tun. Der von den Sechs zusammen mit der Kommission ausgearbeitete Stufenplan stellt in Wirklichkeit eine neue Magna Charta für die Geineinschaft dar. Dies bedeutet u. a.: Die Einigung Europas darf nicht mißverstanden werden als Einigung zugunsten der jeweils höchsten Preise.Erforderlich sind weitgehende institutionelle Reformen. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird mit der seit langem geforderten Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen verbunden sein müssen. Das parlamentarische Kontrollorgan muß verstärkt werden. Es sollte auch in der Entwicklung, die vor uns liegt, aus allgemeinen, unmittelbaren Wahlen hervorgehen können.
Die Bundesregierung ist jedenfalls bereit, diesen Weg zu gehen und sich mit ihren Partnern ein zeitliches Ziel für die Durchführung der notwendigen Aufgaben zu setzen. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird Wachstum und Stabilität im größeren Raum sichern. Diese Union wird, wenn sie ihren Nutzen voll entfalten soll, von Fortschritten in anderen Bereichen begleitet sein müssen. Dazu gehören, um nur einige wichtige Komplexe zu nennen, die Reform und Ausgestaltung der europäischen Agrarpolitik, die Ausarbeitung einer umfassenden, über die Römischen Verträge hinausführenden europäischen Technologie-Politik, die Überwindung der teilweise noch krassen Unterschiede in einzelnen Regionen der Gemeinschaft, eine Angleichung der Bildungspolitik und eine fortschrittliche europäische Sozialpolitik mit dem Ziel, die Gemeinschaft in diesem Jahrzehnt zum wrklich fortschrittlichen großen Raum dieser Erde zu machen.Dringend notwendig erscheinen mir Maßnahmen, die geeignet sind, das Wesen und die Vorteile der Gemeinschaft für die einzelnen Bürger in den Partnerstaaten unmittelbar sichtbar und fühlbar zu machen. Eine Maßnahme, die in diese Richtung zielt, wäre die Abschaffung der Grenzkontrollen im Reise- und Warenverkehr.
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4270 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Bundeskanzler BrandtDie Bundesregierung wird sich auch hier bemühen, erneut anderen mit gutem Beispiel voranzugehen.
Es ist auch dringend geboten, daß wir innere Reformvorhaben in den Ländern der Gemeinschaft aufeinander abstimmen und gemeinsame Vorstellungen entwickeln. Dabei geht es nicht nur um die Angleichung der Lebensbedingungen. Europa muß jedenfalls mehr sein als der Exerzierplatz einer Technokratie, deren Übungen von den Menschen in unseren Ländern nur schwer verstanden werden.
Das Bundeskabinett hat gestern über den Stand des Ausbaus der Gemeinschaft beraten und unsere zukünftige Marschroute festgelegt. Wir werden initiativ bleiben, so wie wir es gewesen sind; das kann ich Ihnen ohne jede Übertreibung sagen.Die politische Zusammenarbeit kommt nun endlich auch in Gang. Es ist gut, daß die sechs Außenminister ihren gemäß Ziffer 15 des Haager Kommuniqués erstatteten Bericht am 27. Oktober in Luxemburg verabschiedet haben. Mit der bevorstehenden Tagung am 19. November in München wird zum erstenmal seit 1962 ein außenpolitischer Konsultationsmechanismus zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in Gang gesetzt.Die Ergebnisse des Berichts der Außenminister mögen vielen als mager erscheinen.
— Ich würde einem solchen Urteil, Herr Kollege Barzel, nicht widersprechen. Wir mußten jedoch von der Tatsache ausgehen, daß in Wirklichkeit gerade auf diesem Feld nur Trümmer lagen; so war es doch von 1962 und den folgenden Jahren her.
— Das habe ich doch nicht gesagt!
Das habe ich doch nicht gesagt! Das weiß doch jeder, wie die europäische Entwicklung verlaufen ist!
— 1962 war ich noch nicht Außenminister. Aber es ist gut, daß Sie mir jetzt eine schon so lange Mitwirkung und Erfahrung auf diesem Gebiet zutrauen.
Es mußten neue Grundlagen geschaffen werden. Jetzt kommt es darauf an, den neugeschaffenen Konsultationsmechanismus zu nutzen und zu gegebener Zeit von den vorgesehenen Möglichkeiten einer stufenweisen Verbesserung der außenpolitischen Abstimmung Gebrauch zu machen.Für die Bundesregierung will ich sagen: Wir streben nicht nur den bloßen Meinungsaustausch, nicht nur die Gegenüberstellung von Auffassungen an, sondern wir wollen in der Gemeinschaft und mit unseren Partnern gemeinsame Auffassungen erarbeiten und gemeinsames Handeln vorbereiten.Die schrittweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Harmonisierung der außenpolitischen Zusammenarbeit können uns im Verlauf dieses Jahrzehnts an den Punkt heranführen, an dem unser Teil Europas im vollen Sinne des Wortes wirklich mit einer Stimme spricht.Ich würde es begrüßen, wenn die Außenminister bei ihren Konsultationen dem, was man Ostpolitik nennt, besondere Aufmerksamkeit widmeten. Für die Partner der Gemeinschaft geht es hier um ein gemeinsames Problem. Staatspräsident Pompidou hat bei seinem jüngsten Besuch in Moskau auf diesen Zusammenhang ausdrücklich und mit vollem Recht hingewiesen. Die Beziehungen zur Sowjetunion und zu den anderen Partnern des Warschauer Pakts dürfen nicht als ein Spielfeld rivalisierender Aktionen verstanden werden.
Es liegt im Interesse aller Beteiligten, daß sich keiner gegen einen anderen ausspielen läßt. Die westeuropäische Einigung dient nicht nur den Interessen der unmittelbar Beteiligten, sie dient auch und sie soll dienen dem friedlichen Zusammenleben zwischen West und Ost. Sie dient damit der europäischen Friedensordnung, die es zu finden und zu organisieren gilt.Meine Damen und Herren, als ich im August ein paar Tage in der Hauptstadt der Sowjetunion war, hatte ich den Eindruck, daß die dort Verantwortlichen die Realität der sich fortentwickelnden westeuropäischen Gemeinschaft zu würdigen wissen. Formelle Beziehungen zur Gemeinschaft müßten sich aus einer solchen Einsicht mit einer gewissen Logik entwickeln. Dies würde jene Kooperation fördern, die im Interesse der Staaten und der Menschen West- wie Osteuropas liegt und die dazu beitragen würde, den Frieden sicherer und hoffentlich eines Tages auch weniger kostspielig zu machen.
Im übrigen brauche ich kaum zu betonen, wie großen Wert wir darauf legen, daß die Gemeinschaft mit den Vereinigten Staaten nicht nur eng verbunden bleibt, sondern daß für diese enge Verbindung auch die geeigneten Formen gefunden werden. Es ist falsch anzunehmen, daß die amerikanische Regierung ihr Interesse an einer europäischen Einigung verloren habe. Im Gegenteil, den Vereinigten Staaten liegt sehr daran, daß Westeuropa sich durch seinen Zusammenschluß zu einem vollwertigen Partner der Friedenssicherung in Europa und darüber hinaus entwickelt.Unsere Bereitschaft, unser Teil der europäischen Bereitschaft zur Zusammenarbeit, richtet sich nicht zuletzt an die Dritte Welt. Mit der Assoziierung der afrikanischen Staaten hat die Gemeinschaft einem historisch begründeten Erfordernis entsprochen. Unsere Bereitschaft zu partnerschaftlicher Zusammenarbeit richtet sich darüber hinaus an alle Staaten, die an guten Beziehungen zur Gemeinschaft interessiert
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Bundeskanzler Brandtsind. Europa wird seiner Verantwortung nur gerecht, wenn es den Partnern in der Dritten Welt Zukunftsträchtiges zu bieten hat.Ich möchte hier gern noch ein paar Feststellungen treffen, die vielleicht — hoffentlich — für die Diskussion bei uns in der Bundesrepublik hilfreich sein können. Erstens möchte ich sagen, daß ich eine Ideologisierung der Europapolitik für ausgesprochen schädlich halte.
Die Parole oder Schreckparole von einem „sozialistischen Europa" ist ebenso töricht wie die Furcht vor einem „christdemokratischen" oder „konservativen Europa".
Die Einigung Europas ist eine zu wichtige Sache, als daß sie durch ideologische Spaltungen belastet werden dürfte.
Das ideelle Fundament des westeuropäischen Zusammenschlusses ist, daß sich seine Mitglieder unbeschadet der politischen Gruppierungen zur freiheitlichen, rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie bekennen.
Dies ist der Richtpunkt nicht nur für den Ausbau und die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, sondern auch für unsere Bemühungen um einen gesicherten Frieden in Europa und in der Welt. Nur wenn alle demokratischen Kräfte insoweit solidarisch zusammenarbeiten, werden sie die vor uns liegenden Aufgaben erfüllen können.Zweitens, meine ich, sollte niemand den Versuch machen, Kontroversen zu erfinden, wo sie nicht nötig sind.
Konkret: Die Bundesregierung hat intern und öffentlich vor und nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages vom 12. August keinen Zweifel daran gelassen, daß unser souveränes Recht nicht beeinträchtigt und nicht berührt wird, Europa zu bauen, Souveränitäten abzubauen und die heute noch bestehenden Grenzen zwischen den Partnern der Europäischen Gemeinschaft zu Verwaltungslinien zu machen.
Drittens. Auch wenn es auf dem Wege nach Europa nicht ohne Vorleistungen aller Beteiligten geht, sind wir uns sicher darin einig, daß die Interessen der Bundesrepublik ebenso . nachhaltig vertreten werden müssen, wie dies andere für ihre Interessen tun. Dennoch dürfen wir keinen inneren Widerspruch auftreten lassen, einen Widerspruch, der entstünde, wenn wir nach Westen die Zukunft und nach Osten die Vergangenheit beschwörten.
Je weiter und enger das westliche Europa zusammenwächst, je mehr unrevidierbare Entscheidungenund Entwicklungen es gibt, um so wirklichkeitsfremder werden Positionen, die ihre Logik nur in dem Ziel der Wiederherstellung eines autarken Reiches haben. Wir müssen ein Europa anstreben, in dem die Grenzen nicht schmerzen, also ein Europa des Verzichts auf Gewalt, ein Europa der Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Nur in einem solchen Europa wird es auch möglich sein, daß unser Volk seine Selbstbestimmung verwirklichen kann, ohne daß das den Frieden sichernde Gleichgewicht sich verändert oder unsere Nachbarn Sorgen zu haben brauchen.
Schließlich ist die Bundesrepublik Partner der europäischen Familie nur, solange sie den Schild der Demokratie sauberhält. Ich bin sicher, daß auch dies der gemeinsamen Einsicht und Überzeugung der übergroßen Mehrheit dieses Hohen Hauses entspricht.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel. Ihm folgt der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen es, daß der Bundeskanzler diese Europadebatte selbst eröffnet hat. Wir finden, daß er einen guten Satz zu Anfang sagte: Diese Debatte soll deutlich machen, wie sehr uns allen an der Politik der Vereinigung des freien Europa liegt. Der Satz ist gut, nur ist Europapolitik keine Frage mehr von Worten, sondern eine Frage von Taten, von praktisch abmeßbaren Taten. Davon werden wir hier gleich einiges in die Debatte einführen, um dem Bundeskanzler Gelegenheit zu geben, darzutun, wie sehr allen in diesem Hause an der politischen Vereinigung des freien Europa liegt.
Ich muß auf Grund Ihrer Einlassung, Herr Bundeskanzler, zwei Bemerkungen dazwischenschieben. Sie haben offensichtlich die Fragen, die der Kollege Scheel zur Stunde in Warschau verhandelt, nicht mit in diese Debatte einführen wollen, aber doch ein paar Sätze dazu gesagt. Wenn Sie damit eine Debatte haben wollen, kann man sie eröffnen. Wir würden bereit sein, heute darauf zu verzichten, trotz der Bemerkung des Kanzlers. Wir beschränken uns deshalb in diesem Augenblick auf zwei Sätze: Unsere guten Wünsche gelten dem Ausgleich der beiden Völker, gelten dem Finden von Lösungen und gelten den Bausteinen für eine europäische Friedensordnung. Wir sehen bisher leider nur das Suchen nach Formeln mit dem Blick in die Vergangenheit oder aus der Vergangenheit.Ein zweiter Punkt bedarf in diesem Zusammenhang der Klarstellung, auch im Zusammenhang anderer Sätze, die sich am Schluß Ihrer Einlassung, Herr Bundeskanzler, befanden. Sie haben gesagt — ich weiß nicht, gegen wen Sie diese Feststellung trafen —, das Motiv der Europapolitik der Bundesregierung, ihr „Antrieb" — so sagten Sie — sei nicht eine „außenpolitische Bedrohung". Nun will
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4272 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Barzelich jetzt nicht über die bestehenden Fakten der außenpolitischen Bedrohung sprechen. Ich glaube, es gehört nicht in diese Debatte. Die Fraktion, die die Europapolitik in diesem Hause seit über 20 Jahren als Nummer 1 ihrer Außenpolitik betrachtet hat, hat nie eine Europapolitik aus dem „Antrieb außenpolitischer Bedrohung gemacht". Dafür haben wir die Politik der NATO gehabt, Herr Bundeskanzler. Unsere europäische Politik hatte einen anderen Antrieb, nämlich den, im freien Teil Europas eine europäische Friedensordnung herzustellen, die uns allen eine Zukunft sichert, in der es unmöglich ist, daß das Böse, das in der Vergangenheit war, wiederkommen kann.
Meine Damen und Herren, dies ist eine Politik nicht aus Angst, sondern für eine bessere Zukunft. Und wir wären sehr froh, wenn dies das einzige Motiv auch in der Ostpolitik dieser Bundesregierung sein könnte, von der Sie ja auch hier am Rande gesprochen haben. Uns interessiert an dieser Politik, real Bausteine für eine gesamteuropäische Friedensordnung zu finden, so wie wir real Bausteine zur europäischen Einigung gefunden haben. Mit anderen Worten: Deutsche und Polen sind ganz Europa mindestens das als Schritt nach vorn schuldig, was Deutsche und Franzosen für das freie Europa geleistet haben. Nur dies zur Klarstellung der Positionen, Herr Bundeskanzler.
Nun zur westeuropäischen Politik im engeren Sinne. Herr Bundeskanzler, Sie haben festgestellt, es ginge wieder voran. Dies kann niemand bestreiten. Es geht voran in einer Richtung, über die wir uns nach der Konferenz von Den Haag, die ja unmittelbar nach dem Regierungswechsel stattfand, hier verständigt hatten, worüber wir übrigens auch vorher gute Gespräche hatten.Aber, meine Damen und Herren, es hieße doch nun wirklich die Arbeit des Außenministers Brandt falsch einschätzen, wenn wir in diese Debatte nicht völlig klar einführten, daß alles das, was jetzt hinsichtlich der Erweiterung der Gemeinschaft erfreulicherweise möglich geworden ist, nichts mit deutschen Initiativen zu tun hat, denn die gab und gibt es immer, sondern — wenn wir redlich diskutieren — mit einem Wechsel in Paris in der grundsätzlichen Frage zu tun hat.
Diese Feder, Herr Bundeskanzler, sollte sich hierkeiner an einen Hut stecken, weil sie nicht daranpaßt. Es ist peinlich, dies auch nur zu versuchen.
Ich hätte nun aber gerne, Herr Bundeskanzler — damit leiten wir über zu den praktischen Punkten —, von Ihnen etwas über das wirkliche Problem gehört, ob nämlich durch die Zahl der Mitgliedstaaten, die dieses Europa ausmachen werden, die vor der Tür stehen, für deren Beitritt wir sind — wir sind auch dafür, daß die anderen Möglichkeiten des Mitwirkens, der Assoziierung, wie immer Sie wollen, finden —, die Qualität der Gemeinschaft verändertwird. Mit anderen Worten: Muß man sich nicht mit der gleichen Intensität, mit der man sich um die Erweiterung bemüht, zugleich um die Vertiefung der Gemeinschaft und des politischen Ziels kümmern? Dazu hätten wir gerne Konkreteres als die allgemeinen Worte von Ihnen gehört, Herr Bundeskanzler.Nachdem Sie sagten, die Bundesregierung sei hier „die treibende Kraft", möchte ich gerne versuchen, Sie beim Wort zu nehmen:Erstens. Wenn dies so ist, sollte es der Bundesregierung möglich sein, dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, den wir in den Ausschüssen zu beraten wünschen, als hilfreich und förderlich zu betrachten, und dann sollte der Bundeskanzler eine Möglichkeit sehen, diesem Antrag, vor allen Dingen in seinen Schlußsätzen, nicht nur seine Sympathie, sondern auch seine Zustimmung zu geben. Dies ist ihm zumutbar, bei allen Rücksichten auf Nachbarn, die vielleicht eine andere Politik wollen, aber dies ist zumutbar, und deshalb, Herr Bundeskanzler, hätte ich eben gerne nicht nur die Sätze über die parlamentarischen Dinge in Europa, die wir begrüßt haben — ich komme darauf zurück —, sondern auch noch Sätze von Ihnen darüber gehört, was man in der europäischen Diskussion die Finalität der Gemeinschaft nennt, d. h. das Endziel.Da sind Sie ja immer noch mit Ihrem Wort aus London, daß Sie die politische Union auf die nächsten Generationen vertagen, — —
— Aber, Herr Kollege Wehner, wenn Sie etwas leiser rufen, ist es auch noch zu verstehen! Zweitens möchte ich Ihnen sagen, daß wir dieses Zitat im März hier in die Debatte eingeführt haben und den Kanzler gefragt haben, ob es zutreffe, was er nicht bestritten hat. Wenn Sie also über Erfindungen sprechen, müssen Sie sich an Ihren Bundeskanzler wenden und nicht an mich als den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Aber vielleicht war dies eine Form eines Dementis um die Ecke.
Dann sollte es dem Bundeskanzler um so leichter gelingen — und dann ist diese Debatte vom Tisch, Herr Kollege Wehner —, eine Möglichkeit zu finden, zur letzten Abteilung unserer Drucksache etwas Positives zu sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben auch von Wirtschaftsunion, von Währungsunion gesprochen. Alle Welt, dieses Haus, alle Kollegen in Europa diskutieren das, was unter der Überschrift „Werner-Bericht" in der Presse steht. Dies ist eine Sache, die in die richtige Richtung geht; darüber wird hier wohl kein Mensch streiten. Nur denke ich, Herr Bundeskanzler, daß auch in folgendem kein Streit sein sollte, und ich möchte dies hier für die Bundestagsfraktion der CDU/CSU in aller Deutlichkeit erklären: Ein weiteres Abgeben fundamentaler
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4273
Dr. BarzelKompetenzen, fundamentaler Zuständigkeiten der Bundesrepublik Deutschland auf den Gebieten von Währung und Wirtschaft an europäische Institutionen liegt sehr in der Richtung unserer Politik. Dies kommt aber nur in Frage, Herr Bundeskanzler, wenn erstens parlamentarische Kontrolle in diesem Europa sichtbar, glaubhaft und funktionsfähig sein wird
und wenn zweitens dies zugleich in eine politische Union führt. Ich kenne keinen Verantwortlichen, der bereit ist, ein Stück Verantwortung für seine Währung zu Hause an eine europäische Institution abzugeben, wenn nicht die europäische Institution zu einer gemeinsamen Politik führt.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, fehlt doch — unddas weiß jeder, das ist auch Ihnen nicht verborgen, und das wissen die Kollegen aller Fraktionen, die im Europäischen Parlament arbeiten, und jeder, der sich an der europäischen Diskussion beteiligt, weiß dies neben ,dem Werner-Stufenplan mit dem Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion nun der Stufenplan für die politische Union. Jeder weiß, daß er fehlt. Sie bezeichnen sich als die „Triebkraft" Europas. Warum, Herr Bundeskanzler, legen Sie einen solchen Stufenplan zur politischen Union nicht vor? Dies wäre eine Tat und nicht nur ein Wort, meine Damen und Herren!
— Aber, Herr Wehner, warum Sie heute morgen so laut sind, ist mir wirklich nicht erklärlich.
Ich wiederhole, meine Damen und Herren, daß es sehr gut wäre, wenn diese Bundesregierung nicht nur Worte, sondern Taten setzen würde. Ich habe sie gerade ermuntert, einen Stufenplan für die Errichtung der politischen Union vorzulegen, weil es sonst zur Wirtschafts- und Währungsunion nicht kommen wird, wie jedermann in Europa weiß und wie es auch Herrn Wehner nicht unvertraut ist.
Nun das Dritte, Herr Bundeskanzler. Sie haben— und dies war erfreulich zu hören — das Ergebnis des Davignon-Berichts über die politische Zusammenarbeit der Außenminister als „mager" bezeichnet. Das war eine redliche Vokabel. Ich denke, dieses „mager" haben Sie empfunden nicht nur im Blick auf den Inhalt dieses Papiers, das uns ja der Außenminister dankenswerterweise in einer Drucksache noch vorgelegt hat, sondern wohl auch hinsichtlich der Tatsache, daß sich hier neben die Gremien und neben den Gang der Institutionen, also neben die Verfassungswirklichkeit der Gemeinschaft, neue Wege zu schieben beginnen. Ich nehme an, dieses „mager" haben Sie auch so gemeint. Ich will das jetzt nicht weiter ausdehnen. Aber, Herr Bundeskanzler, an einem kann doch nun kein Zweifel sein, wenn man die Debatten dieses Hauses zur Europapolitik in den letzten zwölf Monaten ver-folgt hat: daran, daß Sie heute ein Ergebnis als „mager" bezeichnen, das Sie selbst vorgeschlagen haben. Denn Ihr eigener Vorschlag ging doch über das, was man „freiwillige Konsultation" nennt, nicht hinaus.
Das Ergebnis sind nun „freiwillige Konsultationen", und dies ist mager. Herr Bundeskanzler, warum machen Sie dann nicht für Ihre Regierung— Sie können es doch — einen weitergehenden Vorschlag? Warum treten Sie nicht mit einem Vorschlag hervor, der nun mindestens diese Konsultationen und wenn es zunächst nur für einige Themen ist—zwingend macht sowohl in dem Sinne, daß man sich konsultiert, als auch in dem, daß man sich hinterher an das gemeinsame Ergebnis hält? Das wäre Ihnen doch nach der Rede, die Sie hier gehalten haben, zumutbar, damit wir nicht nur Worte hören, sondern praktische Taten sehen.
Ich möchte Sie auffordern, Herr Bundeskanzler, auch folgendes noch zu erwägen. Da wird es ja am 19. November wieder einmal zufällig in einer Stadt, die es dem Bundesaußenminister erlaubt, seine Landtagswahlkampfverpflichtungen mit außenpolitischen Verpflichtungen in Übereinstimmung zu bringen, — —
— Herr Kollege, ich habe das höfliche Wort „zufällig" gebraucht. „Noch zufälliger" konnte ich es ja nicht sagen. Wie zufällig das Ganze ist, zeigt Ihre Erregung, Herr Kollege.
Herr Bundeskanzler, ich möchte vorschlagen, daß man doch versucht, bei dieser Konferenz in München am 19. November aus jener mageren Situation herauszukommen. Ich glaube, daß in Bayern auch mehr Verständnis für Vollmilch vorhanden ist, wenn Sie den Platz schon nutzen wollen.Ich schlage Ihnen vor, Herr Bundeskanzler, einmal zu prüfen, ob Sie nicht folgende Punkte auf die Tagesordnung setzen sollten. Warum schlagen Sie nicht vor — Sie können es doch —, daß Ihr Außenminister in München den Antrag stellt: Die Konferenz der Direktoren, die ja nun eingesetzt ist, erhält einen zusätzlichen Auftrag, nämlich den, in einer bestimmten Frist einen Stufenplan zur Erreichung der politischen Union vorzulegen?
Dies sollte Ihnen doch zumutbar sein.
— Damit wir uns hier klar verstehen, Herr Kollege Wehner: Ich sage „Stufenplan", weil natürlich jeder von uns weiß, daß nicht alles auf einmal möglich ist.
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4274 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. BarzelIch meine, es würde dieser Regierung gut anstehen, nachdem die freiwillige Konsultation beschlossen worden ist, nun eine verpflichtende, eine obligatorische Konsultation einzuführen und als nächste Stufen dann eine wirksame Koordination, eine politische Kooperation und dann die politische Union ins Auge zu fassen. Das ist ein vernünftiger Stufenplan. Das ist ein Fahrplan, der im Timing, im Zeitablauf, neben den Zeitablauf der Wirtschafts- und Währungsunion, wenn es auf diesen Gebieten gutgeht, gestellt werden muß. Herr Bundeskanzler, dazu hätte ich von Ihnen gerne etwas gehört.Unser konkreter Vorschlag ist also: Auftrag der Minister an die Direktoren, einen Stufenplan zur Erreichung der politischen Union vorzulegen, und zwar mit folgenden Stufen: obligatorische Konsultation, wirksame Koordination, politische Kooperation und schließlich politische Union.Ein weiterer Punkt, Herr Bundeskanzler, der dringend der Debatte auf dieser Konferenz in München bedarf, ist die Herstellung einer einheitlichen Auffassung der Regierungen der Sechs in den Fragen einer europäischen Konferenz, wie die Sowjetunion sie vorschlägt. Das ist doch ein wichtiges Thema. Wenn man sagt — ich habe das hier zu meiner Freude vom Bundeskanzler gehört —, wir seien der Motor Europas, dann würde ich auch gern hören, daß der Bundeskanzler vorschlägt, eine einheitliche Haltung in diesen Fragen herbeizuführen. Das könnte z. B. in München geschehen.Ein anderer Punkt, meine Damen und Herren. Es weiß doch jeder, daß 1973 die fundamentalen Entscheidungen in Sachen Handelspolitik auf die Gemeinschaft übergehen. Sie selbst haben in einem Satz, über den wir uns gefreut haben, deutlich gemacht, daß Sie die Gefahr sehen, daß sich die westlichen Industrieländer nun — lassen Sie es mich etwas deutlicher sagen — in Moskau im Hinblick auf die Höhe der Kredite gegenseitig überbieten und im Hinblick auf die Zinssätze der Kredite gegenseitig unterbieten. Herr Bundeskanzler, warum versuchen Sie nicht, diesen Punkt in München auf die Tagesordnung zu bringen, mit dem Ziel, schon jetzt eine einheitliche Haltung bei diesen großen Geschäften herbeizuführen?
Sie haben von den Problemen im Zusammenhang mit der Anwesenheit der USA hier gesprochen. Meine Damen und Herren, dies ist eine Frage, die alle Europäer angeht. Es geht hier nicht nur um die Lasten, die diese Anwesenheit mit sich bringt. Warum setzen Sie dieses Thema nicht auf die Tagesordnung?Und sprechen wir gar nicht erst von den Sorgen hinsichtlich des Mittelmeers, die sicherlich nicht nur unsere italienischen Kollegen haben. Auch dieses Thema gehört auf die Tagesordnung einer solchen Konferenz.Diese Themen machen doch deutlich, daß mit einer freiwilligen Konsultation den Europäern in ihrer Gesamtheit nicht gedient ist. Wenn wir hier weiterkommen wollen, müssen wir über alle diese Themen sprechen. Herr Bundeskanzler, wir können nichtsanderes tun, als Sie beim Wort nehmen. Sie haben die Möglichkeit, Sie haben das Mandat, Vorschläge in dieser Richtung zu machen. Sie können sich darauf verlassen, daß Sie dann, wenn Sie solche Vorschläge machen, wahrscheinlich die einstimmige Unterstützung dieses Hauses haben werden. Damit können Sie doch etwas anfangen!
— Herr Kollege Wehner, Sie freuen sich heute, daß ich hier Hoffnung habe.
— Ich bin immer froh, wenn der Bundeskanzler endlich — und das habe ich ja gehört — wieder von der politischen Vereinigung des freien Europa spricht. Darum habe ich ihn im März gebeten.
— Jetzt sagen Sie, Herr Schäfer, er handelt danach. Dann kann er gleich hier heraufkommen und zu den konkreten Vorschlägen, die in seinen Möglichkeiten liegen, Stellung nehmen und sie in die Debatte einführen, meine Damen und Herren.
Es würde, Herr Kollege Wehner, weil wir niemand überfordern wollen, uns völlig genügen, wenn er erklärte, daß er auch diese Vorschläge überprüfen wolle, weil er nicht so aus dem Handgelenk dazu Stellung nehmen kann. Das kann ich alles verstehen. Wenn das der Kanzler sagt, werden wir so froh gucken, wie Sie eben guckten, als ich dies sagte, Herr Kollege Wehner.
Meine Damen und Herren, es kommt nun ein vierter Punkt. Herr Bundeskanzler, glauben Sie nicht, daß es an der Zeit ist, nach den Erfahrungen, die doch jeder hat sammeln können, hinsichtlich der Chancen von Entspannungspolitik, die irgend jemand nur auf seine eigenen Schultern nimmt, einen Vorschlag zu machen, der folgendes völlig deutlich macht: Wir sind in diesem Europa in einer Konkurrenz zweier Konzepte. Keiner kann dies leugnen, und Sie tun dies sicher nicht. Da gibt es die Konzeption der westlichen Länder mit dem Endziel der politischen Vereinigung und inzwischen der Erweiterung. Aber dagegen steht das sowjetische Konzept einer gesamteuropäischen Konferenz, die klar gegen das Zusammenwachsen des freien Europa zu einer politischen Gemeinschaft gerichtet ist. Dieses beides muß man zur Kenntnis nehmen.Nun haben Sie den französischen Staatspräsidenten zitiert. Herr Bundeskanzler, wie wäre es, wenn Sie eine Initiative ergriffen, die folgendes zum Inhalt hätte: Wir machen jetzt diesen Stufenplan für die politische Vereinigung des freien Europa und bieten zugleich allen Europäern — gerade denen im Bereich des Warschauer Paktes — an, die praktische Entspannung im Bereich von Kultur, Wirtschaft,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4275
Dr. BarzelTourismus, Technologie und Truppenreduzierung zu einer Frage gemeinsamer Politik zu machen? Das hat doch dann mehr Chancen, Herr Bundeskanzler, und nimmt auch denen noch ihr Mißtrauen, denen in der westlichen Welt nicht überall ganz geheuer ist bei deutschen Alleingängen in solchen Richtungen.
Warum, Herr Bundeskanzler, schlagen Sie dies nicht vor?Wir sind froh, von Ihnen bessere Worte als im März gehört zu haben; aber von neuen Taten gar nichts. Sie haben die Möglichkeit, Herr Bundeskanzler, und keiner der Vorschläge, die hier gemacht worden sind, ist irgendwo in der Nähe dessen, was Sie Ideologie oder Utopie nennen. Das alles ist im Bereich des Möglichen.Und verlassen Sie sich auf folgendes. Selbst wenn Sie einmal zwei oder drei Schritte westpolitisch zu weit vorpreschen sollten und nicht alle Ihre Partner in Europa mitgehen sollten, hätte dieses Haus das lieber, als daß von Ihnen nicht, wie es doch möglich wäre, die genügenden Initiativen ausgegangen wären. Das Wort, Herr Bundeskanzler, Ihre Regierung sei die Triebkraft der Vereinigung des freien Europa, haben wir nun gehört. Lassen Sie uns bitte ein paar Taten sehen!
Bevor ich das Wort ) weitergebe, nutze ich die Gelegenheit, einen Gast in unserem Hause zu begrüßen. Der Herr Präsident des Parlaments der Republik Gambia befindet sich auf der Ehrentribüne. Ich heiße Sie, Sir Alieu S. Jack, sehr herzlich in unserem Kreise willkommen.
Wir wünschen Ihnen, Mr. Speaker, einen guten Aufenthalt in unserem Lande.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Apel. Für ihn sind 30 Minuten Redezeit angemeldet worden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion erkläre ich, daß wir mit den fünf von dem Herrn Bundeskanzler genannten Zielen der europäischen Integration voll einverstanden sind und daß die Sozialdemokraten in diesem Hause wie die Sozialdemokraten, die von diesem Hause im Europäischen Parlament arbeiten, ihre ganze Kraft einsetzen werden, um diesen Zielen der europäischen Integration zu entsprechen.
Ich glaube, Herr Kollege Barzel, wenn wir eine Bilanz der aktuellen politischen Europa-Situation, der Integration nach Westen ziehen wollen, müssen wir damit anfangen, daß in der Tat der Herr Bundeskanzler Ende 1966, als er als Außenminister zum erstenmal Regierungsverantwortung für die Bundesrepublik übernommen hat, zumindest im Verhältnis gegenüber Frankreich vor einem Scherbenhaufen gestanden hat. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß die Regierungserklärung der Großen Koalition damals der Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses einen so breiten Raum eingeräumt hat. Es ist eben falsch, zu sagen, das, was sich inzwischen an politischen Verbesserungen ergeben hat, sei nur die Folge eines politischen Klimawechsels in Paris. Es ist die Folge der zielbewußten Arbeit des Außenministers Willy Brandt gewesen. Es ist die Folge der zielbewußten Arbeit dieser sozialliberalen Koalition gewesen.
Meine Damen und Herren! Was sehr wesentlich dabei ist: Wir haben dieses deutsch-französische Verhältnis wiederhergestellt, gesund gemacht, funktionsfähig gemacht, ohne daß damit in der EWG das Mißtrauen entstanden ist, Deutschland und Frankreich könnten bilateral über die Köpfe der anderen hinweg Europapolitik vorplanen, vorprogrammieren. Dies ist eine wesentliche Aufgabe des Außenministers Brandt und des Kanzlers Brandt gewesen. Dies, Herr Barzel, kann nicht wegdiskutiert werden. Es hat eben nicht nur etwas mit dem Klimawechsel in Paris zu tun, sondern damit, daß dieser Bundeskanzler und sein Außenminister Realisten sind. Denn wir müssen Politik machen, und wir müssen mit den Gegebenheiten rechnen.Meine Damen und Herren, ein Zweites kann nicht bestritten werden: daß diese Bundesregierung und insbesondere ihr Außenminister der Motor der Beschleunigung des britischen Beitritts zur EWG gewesen sind. Herr Scheel wird in allen deutschen Zeitungen zu recht als derjenige gefeiert, der die Kuh vom Eise gebracht hat,
der dafür gesorgt hat, daß die Fristen in den Beitrittsverhandlungen kürzer werden. Und auch das haben wir wiederum erreicht, meine Damen und Herren, ohne in Paris Porzellan zu zerschlagen.Ich will über das volle Vertrauen, das zwischen der US-Außenpolitik und uns besteht, keine Einzelheiten verlieren. Aber, Herr Barzel, vielleicht wäre es ein guter Beitrag zur westeuropäischen Integration, wenn Sie einige Ihrer Kollegen daran erinnerten, daß es für unser Land übel ist, wenn diese Kollegen in den Vereinigten Staaten Verdächtigungen über die Politik dieser Bundesregierung ausstreuen, die jeder Basis entbehren.
Das sind dieselben Leute, die gern das Wort vom Landesverrat in den Mund nehmen. Ich halte es auch für einen Verrat des Landes, wenn man in den USA diese Bundesregierung verketzert.
— Wer denn? — Der Herr Strauß. Nun fragen Sie doch nicht noch so, als wüßten Sie das nicht!
Meine Damen und Herren, ich würde es auch für einen guten Beitrag zur westeuropäischen Integration halten, wenn Herr Heck, bevor er über Formu-
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4276 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Apellierungen im deutsch-sowjetischen Vertrag spricht über die Formel „unverletzlich" —, sich etwas genauer mit den Fakten beschäftigte und nicht, wie damals bezüglich der 15 Milliarden, irgend etwas behauptete, was dann nicht zu beweisen ist. Es ist eine üble Sache, wenn auf diese Art und Weise versucht wird, den Brunnen zu vergiften und zu sagen, wir könnten ja eigentlich im Bundestag auf dem Wege zur politischen Union gar nichts schaffen, obwohl die Fakten eindeutig beweisen, daß das nicht den Tatsachen entspricht.Dazu eine Zusatzbemerkung. Unsere Kollegen in den anderen EWG-Ländern hätten ja wohl kaum die politische Zusammenarbeit mit uns so weit vorangetrieben, wie aus dem Davignon-Bericht ersichtlich — ich komme darauf noch zurück , wenn das, was Herr Heck behauptet hat, auch ihren Empfindungen entspräche.
— Na ja, das wissen wir ja: Herr Heck ist eben Heckenschütze, weniger Politiker.
Herr Abgeordneter Apel, ich rufe Sie zur Ordnung wegen dieses Ausdrucks.
— Das Wort „Heckenschütze" ist fraglos eine Bezeichnung, die in diesem Hause nicht fallen darf.
Herr Präsident, lassen Sie mich einige Bemerkungen zur Frage der politischen Union machen, die ja in den Ausführungen von Herrn Barzel eine so große Rolle gespielt hat. Herr Barzel, Sie sind seit 1964 — wenn ich mich recht erinnere — Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Mein Kollege Klaus-Peter Schulz hat ein Zitat gefunden, das er hier im Bundestag am 18. Juni 1970 auch vorgetragen hat. Dieses Zitat von Herrn Erhard aus dem September 1966 lautet wörtlich:Ich glaube nicht, daß wir bemüht sein sollten,die politische Integration der EWG zu fördern.
Herr Kollege Barzel, der Sie seit 20 Jahren für sich in Anspruch nehmen, Europa politisch integrieren zu wollen, Sie haben damals Ihrem Bundeskanzler in dieser ungeheuerlichen Aussage nicht widersprochen.
Sie wagen es aber heute, dem Herrn Bundeskanzler, der konsequent um die politische Zusammenarbeit in Europa bemüht ist, zu unterstellen, er wolle das eigentlich nicht. Herr Kollege Barzel, ich gehe nicht erneut auf das zurück, was Sie wiederholt in bezug auf das Londoner Interview des Herrn Bundeskanzlers gesagt haben. Denn wenn Sie heute morgen die Presse gelesen haben, werden Sie auf Grund der Ausführungen des französischen Außenministers Schumann erkannt haben, daß nur die Politik des Bundeskanzlers, die mehr ist als diplomatische Konsultation und die in kleinen Schritten auf die politische Union zugeht, realistisch und durchsetzbar ist.Wenn wir uns in diesem Haus in Verbalradikalismen ergehen wollen, dann sind wir von der europäischen Politik entfernt. Wir landen dann erneut bei dem Scherbenhaufen, vor dem ein Außenminister einer CDU-Regierung 1965 und 1966 gestanden hat.
Ich sollte vielleicht in diesem Zusammenhang eine neutrale Stimme zitieren,
eine neutrale Stimme aus dem Europäischen Parlament, Herr Klepsch, einen Bericht des Politischen Ausschusses, der bei einer Gegenstimme mit einer Enthaltung angenommen worden ist. Berichterstatter war ein italienischer Christdemokrat, Herr Scarascia Mugnozza, der alles andere ist als Mitglied der sozial-liberalen Koalition. Dieser Herr Scarascia Mugnozza hat dem Europäischen Parlament in der letzten Plenarsitzung einen Bericht vorgelegt, der so akzeptiert worden ist, in dem er feststellt — darin werden wir uns einig sein —, daß es keine Automatik zur politischen Union gibt. Das hat ja auch Herr Barzel soeben gesagt. Er hat dann ausgeführt, das Scheitern bisheriger politischer Ansätze sei auf die tiefgreifenden Disparitäten zwischen den Außenpolitiken der einzelnen Regierungen zurückzuführen gewesen.Auch aus dieser Perspektive muß einmal unsere Ostpolitik bewertet werden. Sie baut tiefgreifende Disparitäten der Außenpolitik ab. Sie vollzieht sich in freundschaftlicher und direkter Abstimmung mit Paris, mit London, mit New York, mit Rom und mit den Hauptstädten der Benelux-Länder. Insofern schafft auch die Ostpolitik eine Voraussetzung für das, was dieser italienische Christdemokrat sagt, nämlich für den Abbau der Disparitäten, die ursächlich dafür sind, daß eine politische Union nicht zustande gekommen ist.
Derselbe Berichterstatter kommt dann zu einer Bewertung dessen, was wir in politischer Zusammenarbeit in diesem Jahre geleistet haben, und sagt, man könne auch eine — ich zitiere wörtlich — sehr leichte Kritik anbringen, aber insgesamt gebe es drei positive Aspekte. Der erste positive Aspekt, so sagt er, sei der, daß zum erstenmal seit 1962 wieder ein Mechanismus politischer Zusammenarbeit
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4277
Dr. Apelin Gang gesetzt worden sei und versucht werde, die Außenpolitik der Mitgliedsländer zusammenzuführen. Er sagt dann weiter, daß diese politische Zusammenarbeit in der Gemeinschaft fest verankert worden sei und auf Grund der Bestimmungen nicht nur die derzeitigen, sondern auch die künftigen Mitglieder an ihr teilnehmen könnten. Er kommt zu dem Ergebnis, ein wesentlicher politischer Vorteil — der dritte positive Aspekt — liege darin, daß diese politische Zusammenarbeit in spätestens zwei Jahren überprüft und dann zu beschließen sein werde, was weiter zu geschehen habe.Ich meine, meine Damen und Herren, dieser Bemerkung des christlich-demokratischen italienischen Politikers ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Sie macht deutlich, daß die Bundesregierung auf dem richtigen Weg ist, daß sie die politischen Realitäten erkennt, daß sie keine Gräben zu den Nachbarn aufreißt, daß sie die Möglichkeiten voll ausschöpft. Wir begrüßen es, daß gerade jetzt in dieser Phase der Dreiklang der politischen Arbeit der Bundesregierung in der EWG in den vergangenen zwölf Monaten deutlich wird: der Werner-Bericht zur Schaffung der Währungs- und Wirtschaftsunion, der Schöllhorn-Bericht, wenn ich ihn einmal so nennen darf: die Vorlage eines Dritten Programms zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik, weil in der Tat die beiden Dinge zusammenhängen, und der Davignon-Bericht, der deutlich macht, daß wir auf dem Wege zur politischen Union sind.In zwölf Monaten diesen Dreiklang erreicht zu haben, ist eine gute Leistung.
Wir brauchen uns nicht zu verstecken, und wir können die Opposition nur auffordern, unsere Initiativen zu unterstützen und mit uns zusammen Europa zu bauen. Es hat in diesem Hause bis zum Oktober 1969 niemals Gegensätze in der Europa-Politik gegeben. Wir waren uns einig in dem Ziel der westlichen Integration. Sie versuchen dagegen jetzt aus naheliegenden Überlegungen, einen solchen Gegensatz aufzureißen. Wir bitten Sie, im Interesse der europäischen Integration von dieser für Europa gefährlichen Politik abzulassen.
Das Wort hat für die FPD-Fraktion der Abgeordnete Borm. Es sind 30 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht in der Tat wieder einmal um die Schicksalsfragen unseres Erdteils, und wir begrüßen es, daß es wieder einmal möglich ist, über das, was uns trennt, aber auch über das, was uns vereinen sollte und Gott sei Dank auch auf weiten Wegen vereinigt, zu reden. Es geht um die Schaffung einer eigenen Finanzhoheit in Brüssel, und es geht um eine Verstärkung und Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments. Gerade in dem letzten scheint uns eine besondere Bedeutung zu liegen; denn hier wird ein erster Schritt getan, um die Parlamente als Vertreter des Volkswillens — und nicht die Regierungen — auch auf dem europäischen Gebiet zu dem hinzuführen, was ihr ureigenstes Recht ist: zur Etathoheit. Es war ein langer Weg bis dahin, und wer die heutige Situation verstehen will, sollte sich einmal kurz das in die Erinnerung rufen, was damals schon Gegenstand der Debatte und Gegenstand der verschiedenen Auffassungen war. Sie wissen alle, daß ich in diesen entscheidenden Zeiten nicht hier sein konnte. Deshalb habe ich mich in Vorbereitung auf das, was heute im Bundestag verhandelt wird, einmal mit den schriftlichen Unterlagen befaßt. Dabei war es sehr lehrreich zu sehen, daß die gleichen Bedenken, die heute von Ihnen vorgetragen werden, damals, im Jahre 1955, von uns, den Freien Demokraten, wenigstens zum Teil vorgetragen worden sind.Herr Kollege Barzel sprach über einen fehlenden Stufenplan, den wir vorlegen sollten, den die Regierung vorlegen sollte. Dem halten wir entgegen, daß es damals die Meinung der CDU/CSU-Fraktion war, daß es in erster Linie darauf ankomme, die wirtschaftliche Union herzustellen. Damals, meine Damen und Herren von der Opposition, war sehr wenig von einer politischen Einigung zu reden. Es mag schwer gewesen sein,
aber es wäre gut gewesen, wenn Sie diese Forderung nach einem Stufenplan nicht heute erhoben hätten, sondern wenn Sie in einer Zeit, als Sie selbst die Regierung führten, das Ihre dazu getan hätten.
— Ja, was hat er denn getan?
Und was ist dabei herausgekommen?
— Ich verwahre mich ja nur dagegen, Herr Kollege Marx, daß wir diese Lebensfrage nicht nur unseres Volkes, sondern Europas unter parteipolitischen Gesichtspunkten betrachten. Ich glaube, wir sollten mehr versuchen, zusammenzukommen. Ich will gar nicht polemisch sein; aber ich will mir nur die Frage erlauben, warum Sie dann zu Ihrer Zeit, vielleicht dann nicht nur einmal durch Herrn Adenauer 1961, sondern laufend, nicht auf das gedrückt haben, was Sie jetzt von uns verlangen.
— Nun, wie dem auch sei.Zweitens. Wir hatten damals große Bedenken, uns auch im Anfang zunächst zu beschränken auf nur sechs; denn diese Sechs sind eben nicht Europa, sie sind auch nicht einmal Westeuropa. Infolgedessen drängten wir auf die Vereinigung weiterer Völker Europas in dieser EWG, die jetzt Gott sei Dank sich4278 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung, Bonn, Freitag, den 6. November 1970Bormanschickt, eine EG, eine Europäische Gemeinschaft und nicht nur eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu werden. Auch dort, meine Damen und Herren von der Opposition, wäre es vielleicht gut gewesen, wenn Sie in den 15 Jahren, die dazwischen liegen, sich etwas mehr dieser jetzt von Ihnen erhobenen Forderung bewußt gewesen wären.
Wir befürchteten damals Zollmauern durch Europa, und wer sich die Dinge ansieht, der weiß, in welche Schwierigkeiten die skandinavischen Staaten, in welche Schwierigkeiten Großbrtannien und Irland geraten sind; aber er weiß auch darum — auch das war heute bereits Gegenstand einer Bemerkung —, daß diese Zollmauern, die vielleicht errichtet werden sollten, in den USA zu großen Bedenken Anlaß gaben.Und das letzte: die parlamentarische Kontrolle! Das Fehlen der parlamentarischen Kontrolle, die jetzt institutionalisiert zu werden beginnt, war das, was wir damals als Mangel empfunden haben. Und da allerdings bin ich der Meinung, daß gerade das in den vergangenen 15 Jahren etwas mehr hätte vorangetrieben werden sollen.Der Herr Kollege Barzel ist ungeduldig. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Kollege, daß sie ungeduldig sind; aber in dieser Ungeduld stehen Sie wirklich nicht allein.
Ich entsinne mich sehr wohl auch Ihres Wortes, das mir sehr gefallen hat, daß Sie sagten: Dieses Europa der Sechs ist schon so weit fortgeschritten, daß es nicht mehr rückgängig gemacht wird. Sie gebrauchten das schöne Bild von den Eiern, die man in eine Schüssel geschlagen hat. Ich war sehr davon angetan; es ist einleuchtend. Aber nun sprechen Sie heute von „mager", Herr — —
— Ja, sehen Sie, genau da, Herr Kollege, sind wir. Zu einem Omlett gehört etwas Fett, und auch Ihre Politik ist etwas mager — die Sie heute u n s vorwerfen —, denn wir sind in der Tat mit ihr nicht weitergekommen.
Denn es nützt ja nichts,
heute nur Forderungen zu stellen; dann müssen Sie sich schon gefallen lassen, daß wir Ihnen eine Rechnung aufmachen, was auch Sie in 15 Jahren nicht erreicht haben.
— Ja nun, wußten Sie vor 15 Jahren, was alles ist?
Nur finden wir, Herr Kollege Lenz, manches bestätigt von den Befürchtungen, die wir damals gehegt haben.Aber es ist heute trotzdem noch ein Fehler — und das gebe ich sehr gerne zu —, wenn etwa für das nächste Jahr der Etat der Europäischen Gemeinschaft um 19 % erhöht wird und wenn dann die parlamentarischen Institutionen nur mit kümmerlichen 10 % bedacht werden. Ich glaube, das wird man einmal unter die Lupe zu nehmen haben.Und hinsichtlich der Bewertung dessen, was seitens der Bundesregierung geschehen ist, darf ich doch wohl auf ein sehr unverfängliches Zeugnis zurückgreifen. Dieses Zeugnis stammt aus der Sitzung der französischen Kammer von gestern abend und ist abgegeben worden von Herrn Schumann, von dem Sie sicher nicht glauben werden, daß er etwa voreingenommen sei. Er sagt, verfahrensmäßig müsse man verlangen, daß die Gemeinschaft mit einer einzigen Stimme spreche — Ihre Forderung, meine Damen und Herren von der Opposition, und unsere Forderung! —, so wie es der Präsident — und dieser Präsident heißt derzeit Bundesaußenminister Walter Scheel — zur Zeit tue, der sich dieser schwierigen Aufgabe ausgezeichnet unterziehe; und dann fügt er hinzu: der aber immer bedroht sei. — Von wem wohl, meine Damen und Herren?
Auch in Paris ist man ungeduldig, weil es nicht schnell genug vorangeht. Ich empfehle Ihnen, das, was darüber auch von Herrn Schumann gesagt worden ist, nachzulesen; dort stehen manche Dinge, vor allem steht dort, daß sich der entscheidende Schritt zur Einigung Europas im Jahre 1970 vollzogen habe oder noch vollziehen werde. Soviel ich weiß, waren Sie zu diesem Zeitpunkt nicht an der Regierung.
Das alles wurde in der französischen Kammer gesagt und scheint mir infolgedessen als Zeugnis unverdächtig zu sein.Diese Dinge kann man aber natürlich nicht vollkommen losgelöst von der allgemeinen Entwicklung unserer Bundesrepublik betrachten. Die Wurzeln dafür, daß eine solche Politik überhaupt möglich ist, liegen im Grundgesetz, sie liegen in der Entscheidung über die freie Marktwirtschaft. Und auch da, meine Damen und Herren, sollten Sie, so wie ich es tue, gelegentlich nachlesen. Nicht alle in Ihrem Kreise waren damals der Meinung, daß die freie Marktwirtschaft richtig sei. Auch dort glaubte man nach Ahlener Vorstellungen — ich will nicht rechten, sondern es nur feststellen —, daß eine andere Wirtschaftsform, eine Planwirtschaft eher mit den damaligen Nöten fertig werden könne. Sich das ein-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4279
Bormmal ins Gedächtnis zurückzurufen, scheint mir durchaus notwendig zu sein. Hier waren es die Liberalen, meine Damen und Herren,
die da nicht irgendwie eine andere Meinung vertreten haben, — —
— Bitte, sagen Sie, wen Sie meinen mit „Ihr". Von mir darf ich annehmen, daß ich ein in der Wolle gewaschener Liberaler bin. Deswegen bin ich Ihnen vielleicht manchmal so unbequem.
Wir haben stets sehr klar und sehr eindeutig hier und anderswo in der Öffentlichkeit das vertreten, was wir für die Entwicklung in unserem Europa für notwendig halten. Ich verweise nur auf das, was unser verstorbener Kollege Thomas Dehler vorgetragen hat, wie schwer er manchmal an der Engstirnigkeit derer gelitten hat, die glaubten, für Europa sei genug geschehen, wenn sich sechs Völker zusammengefunden hätten. Ich sage Ihnen heute, meine Damen und Herren: Nicht Westeuropa allein ist es, um das es geht. Dieses Europa ist größer. Unser Streben danach mag heute noch wenig Aussicht auf baldige Realisierung haben. Es mag sein, daß darin von einigen eine Utopie vermutet wird. Aber fast alles, was in der Geschichte groß und notwendig war, begann mit Vorstellungen, die von manchen, die kleinmütig waren, als Utopie bezeichnet wurden.Es geht eben nicht nur um den Westen. Dieser Westen kann so stark und so gefestigt sein, wie er will, — wenn es nicht gelingt, zugleich zu einem Ausgleich mit dem Osten zu kommen, werden wir militärisch, wirtschaftlich, ideologisch immer bedroht sein. Wir wissen auch um die Gefahren, die darin liegen, daß man sich in eine Berührung mit totalitären Mächten begibt. Das wissen wir von uns hier im eigenen Land, und das weiß keiner besser als ich, der es leider lange genug hat machen müssen. Aber eines, meine Damen und Herren, wissen wir auch: daß wir in unserer Überzeugung, durch unsere Wirtschaftskraft und durch das, was wir bisher erreicht haben, gegen ideologische Gefahren genauso gefeit sind wie — durch das Bündnis, in dem wir vertreten sind — gegen militärische Gefahren.Immer wieder waren es die Freien Demokraten, die zur Politik drängten, wenn ängstlicher Immobilismus diese Politik zu ersticken drohte — vielleicht deswegen, weil man glaubte, daß das, was erreicht war, dadurch gefährdet werden könnte. Was erreicht wurde, ist viel; das gebe ich zu. Aber es ist noch längst nicht genug. Wir Freien Demokraten waren in diesem Land die ersten, die für diesen Ausgleich mit dem Osten eingetreten sind, nicht nur im Interesse unseres Landes, nein, im Interesse Europas. Ich erinnere daran, daß es der damals als „Utopist", als „ein Mann mit Hirngespinsten"so sehr verspottete Kollege Pfleiderer war, der diese Ideen schon 1952 in die Öffentlichkeit gebracht hat.Ich möchte noch etwas anderes nennen, was wir uns als Erfolg der jetzigen Regierung zurechnen. Ich meine die Ostpolitik. Ich will nicht sagen, daß es frühere Bundesregierungen nicht auch versucht hätten; aber erst jetzt werden die Dinge konsequent verfolgt. Und gerade heute zeigt sich, daß diese Politik die unausweichliche Voraussetzung dafür ist, daß unsere Frage, die deutsche Frage, gelöst wird. Die Lösung der deutschen Frage also ist eine unabdingbare Voraussetzung des ganzen Europa. Insofern ist das, was wir jetzt als Gewaltverzicht mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der Tschechoslowakei durchzuführen uns bemühen, im wahrsten Sinne nationale und zugleich europäische Politik. Erstmalig seit vielen Jahren in dieser neuesten Geschichte unseres Volkes sind unsere nationalen Interessen gleichlaufend mit den europäischen.
— Das glaube ich sehr wohl; denn wie wollen Sie die deutsche Frage lösen, wenn Sie nicht irgendwie in ein vernünftiges Verhältnis mit dem Osten kommen? Durch den kalten Krieg mit dem Osten bestimmt nicht!
— Wer redet denn von Unterjochung? Wollen Sie unterjochen? Verdrehen Sie doch nicht die Tatsachen, Herr Kollege! Wollen Sie nicht oder können Sie nicht verstehen?
— Wahrscheinlich. Herr Kollege, darauf kann man nicht antworten. Eine so billige Polemik ist wahrlich unter Ihrer Würde.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lemmrich?
Herr Kollege, ist das billige Polemik, wenn man Sie an Prag erinnert?
Entschuldigen Sie, wir treiben hier keine tschechische oder sowjetische Politik, sondern deutsche Politik.
Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie gerade diese Unterjochung nicht aus Europa herausbrächten, wenn wiruns wiederum — wie wir es lange, viel zu lange
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4280 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Bormgetan haben — in eine Position des kalten Krieges hineinbegäben. Das habe ich Ihnen gesagt.
Ich darf feststellen — ich habe Ihnen eben eine Bestätigung aus der französischen Kammer vorgelesen —: der Durchbruch in Den Haag ist erfolgt, während diese Regierung im Amt war, nicht während Sie im Amt waren.
Die mutige Ostpolitik, die wir angefangen haben, die genau dem dienen soll, den europäischen und den deutschen Interessen, ist von uns konsequent durchgeführt worden, trotz mancher verbalen Äußerungen, die wir von Ihnen gehört haben.Aber es geht auch noch um die Innenpolitik, und hier sei mir bitte noch ein sehr ernstes Wort gestattet.
— Genau auf Ursache und Wirkung werden wir kommen, Herr Kollege. — Diese Innenpolitik, das wissen wir genau, nämlich diejenigen Parteien, die die jetzige Regierung tragen, und auch die Regierung selbst, diese Innenpolitik ist bedroht von Extremisten von rechts und von links. Deren von links werden wir uns erwehren können. Aber wenn man gestern abend im Fernsehen hören konnte, daß der bayerische Innenminister sich unterfängt zu sagen, an dem, was in Würzburg mit diesem makabren Haufen geschehen ist, sei das liberalisierte Demonstrationsrecht schuld, dann beweist das, daß man da die Dinge auf den Kopf stellt.
— Wer hat denn den Haufen zusammengebracht, das Demonstrationsrecht oder wer?
— Ich frage, wer den Haufen zusammengebracht hat!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ott?
Herr Kollege Borm, können Sie mir sagen, ob in Würzburg der Oberbürgermeister oder der Polizeichef nicht der SPD angehört?
Entschuldigen Sie gütigst, ich rede nicht davon.
— Ich habe nicht davon geredet, daß in Würzburg Dinge auf der Straße geschehen sind; dem ist ja auch entgegengetreten worden. Ich habe davon geredet, wer diesen makabren Haufen zusammengebracht hat, und das waren nicht die Sozialdemokraten oder die Freien Demokraten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Fellermaier?
Herr Kollege Borm, können Sie mir in der Feststellung zustimmen, daß die monatelangen Haßtiraden des „Bayernkuriers" gegen die Bundesregierung
ein Klima erzeugen, welches zu Würzburg führen kann?
Herr Kollege Fellermaier, diese Dinge werden mit dazu beigetragen haben. Aber die Ursachen liegen noch viel tiefer. Denn diejenigen Kräfte, die schon zweimal Europa und unser Volk beinahe in den Abgrund gestürzt hätten, die sind wieder da. Und das ist nicht nur der „Bayernkurier",
aber die da vielleicht dahinterstehen, die mögen es sein.
Meine Damen und Herren, ich lasse noch eine letzte Zwischenfrage zu. — Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Ott zuzulassen?
Bitte sehr!
Herr Kollege Borm, ist Ihnen bekannt, daß das innenpolitische Klima bereits dadurch verschlechtert wurde, daß Herr Waldemar von Knoeringen bereits 1957
— ja, ja, daß Waldemar von Knoeringen bereits 1957 damit begann, Franz Josef Strauß als den Volksfeind Nummer eins zu bezeichnen?
Herr Kollege, ich war 1957 nicht bei Ihnen, ich war woanders. Wenn er das gesagt haben soll, so sind wohl Sie aufgefordert, das zu beweisen. Ich weiß es nicht, ich kann dazu überhaupt nichts aussagen, weil ich nicht hier war.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4281
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Barzel?
Bitte!
Glauben Sie nicht, Herr Kollege, daß es der Schlußaufforderung des Bundeskanzlers, den Schutzschild der deutschen Demokratie klar zu haben, wohl bekommen würde, wenn Sie alle Verdächtigungen der Art, wie sie der Kollege Fellermaier und Sie selbst hier eben geäußert haben, vom Tisch nähmen, indem Sie völlig klarmachten, daß in diesem Hause demokratisch mit unterschiedlichen Meinungen gerungen wird und man dem andern nichts unterstellen sollte, so wie Sie es eben getan haben?
Herr Kollege Barzel, ich muß Ihnen energisch widersprechen. Ich habe diesem Hause nichts unterstellt.
Ich habe mich nur gegen die Kräfte gewandt, die Gott sei Dank in diesem Hause nicht sind.
— Der „Bayern-Kurier" ist ja auch nicht hier. Das
möchte ich betonen. Nichts ging gegen dieses Haus.
Meine Damen und Herren, ich darf vorschlagen, daß wir auf allen Seiten des Hauses in der Europa-Debatte fortfahren. Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Meine Damen und Herren, nicht ich habe diese längere Unterbrechung in der Erörterung der Europapolitik herbeigeführt. Es gehört aber auch zu einer erfolgreichen Europapolitik, daß das deutsche Volk von dieser Tribüne erfährt, was im Innern diese Politik von rechts und von links durch Extremisten gefährden kann. Dieses Recht sollte jeder von uns für sich in Anspruch nehmen.
Ein letztes, meine Damen und Herren. Diese neue Regierung ist ein Jahr am Werk. Sie hat sich, vergleichen Sie die Regierungserklärungen, sehr viel vorgenommen, nach innen und nach außen. Vor dem Hintergrund, daß wir im Innern an die Befriedung unseres Volkes herangehen wollen, wollen wir nicht dulden, daß Extremisten dieses Werk gefährden. Viele Dinge — Dinge, die vielleicht erst langsam gereift sind —, sind von Ihnen jedoch nicht in Angriff genommen worden, sind noch zu erledigen; wir betreiben nach dem Westen hin eine erfolgreiche — ich wiederhole: erfolgreiche — schrittweise Politik. Wir gehen aber auch nach dem Osten. Wenn wir uns das alles vor Augen halten,
dann wirkt Ihre Frage, was wir denn nun eigentlich erreicht haben, sehr merkwürdig. Ich wünschte sehr, daß, statt von Ihnen nur Kritik — manchmal als Selbstzweck — zu hören, eine wirklich konstruktive Mitarbeit der Opposition festgestellt werden könnte.
Meine Damen und Herren, es geht ja nicht nur um diese Regierung, es geht nicht nur um die Bundesrepublik, es geht um Europa. Da wäre, glaube ich, eine Kritik nur um der Kritik willen fehl am Platze. Ich vermisse Ihre Anregungen, wie es wohl weitergehen sollte, auf allen Gebieten. Das scheint mir wichtiger zu sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klepsch?
Herr Kollege Borm, Ihren letzten Satz kann man nur dann verstehen — das darf ich einleitend zu meiner Frage bemerken —, wenn man davon ausgeht, daß Sie während der Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU nicht im Saal gewesen sind. Deshalb frage ich Sie: Hat nicht der Kollege Dr. Barzel hier sehr präzise und konkrete Vorschläge darüber gemacht, wie es weitergehen soll? Wir hatten gehofft, von Ihnen zu hören — das darf ich Sie fragen —, wie Sie als Sprecher der Freien Demokratischen Partei zu diesen Vorschlägen stehen.
Sie haben, Herr Kollege Klepsch, manchmal etwas gehofft, was Gott sei Dank nicht in Erfüllung gegangen ist. Ich gebe aber sehr wohl zu, daß die Anregungen, die Herr Kollege Barzel gegeben hat, durchaus überlegenswert sind. Es ist aber nicht meine Sache als Parlamentarier, dazu Stellung zu nehmen. Dafür ist die Regierung da.
Hier allerdings, meine Damen und Herren, muß ich sagen, ist ein kleines Körnchen von — noch dazu sehr polemischen — Anregungen, das Sie bereits als einen Erfolg darstellen wollen, noch nicht so wertvoll, daß ich es als eine wirklich konstruktive Mitarbeit werten könnte.
Die Freien Demokraten wollen, daß das Werk, das die Regierung begonnen hat, nicht nur in Brüssel, sondern überall fortgeführt wird. Deshalb werden wir auf diesem Teilgebiet der Ratifikation zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wagner. Für ihn hat die CDU/CSU-Fraktion 30 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redezeit, die unter anderen Voraussetzungen beantragt war, werde ich mit Sicherheit nicht benötigen.
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4282 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Wagner
Ich habe den Auftrag, im Namen der Fraktion der CDU/CSU einige Bemerkungen zu den uns vorliegenden Ratifizierungsgesetzen betreffend die neue europäische Finanzverfassung zu machen und etwas über den politischen Zusammenhang zu sagen, in dem wir diese beiden Finanzvorlagen sehen.Es wird dabei wohl kaum geboten sein, sich eingehend mit der Rede des Herrn Kollegen Borm zu beschäftigen, die sich ja zu einem guten Teil nicht mit europapolitischen Fragen befaßt hat. Es sei mir dazu nur eine Anmerkung vorweg erlaubt. Es ist eine sonderbare Sache, wenn ein Vertreter der Freien Demokraten, deren europapolitische Aktivität in den letzten 15 Jahren allgemein bekannt ist und die es nicht einmal seinerzeit über sich gebracht haben, für die Römischen Verträge zu stimmen, heute der CDU/CSU vorwirft, sie habe in den letzten 15 Jahren nicht genug für Europa getan.
Ich glaube, Vorwürfe dieser Art bedürfen nicht der Widerlegung.
Die beiden Ratifizierungsvorlagen stellen einen bedeutenden Schritt in der europäischen Entwicklung dar. Sie bringen den europäischen Gemeinschaften die Ausstattung mit eigenen Mitteln, und sie bringen eine bestimmte Verbesserung des Haushaltsverfahrens.Zunächst einige Worte zu den finanziellen Auswirkungen dieser Vorlagen. Positiv ist zu bewerten, daß die Gemeinschaften eigene Einnahmen bekommen, die an die Stelle der bisherigen Matrikularbeiträge treten, und daß dies stufenweise geschieht. Auf Bedenken müssen — jedenfalls muß das hier erörtert werden — die beträchtlich steigenden Finanzierungslasten stoßen, die durch diese Texte auf uns zukommen. Es ist nicht unsere Absicht, hier in irgendeiner Form eine billige Tour zu reiten, der Regierung die Verantwortung für steigende Lasten einseitig zuzuschieben; es ist aber unsere Auffassung, daß über diese Zahlen gesprochen werden muß, und zwar aus zwei Gründen:Unserer Auffassung nach muß über die Finanzierungslasten, die in der Zukunft auf uns zukommen, erstens, Herr Bundeskanzler, unter der Rubrik „Klarheit und Wahrheit", wenn Sie so wollen, oder auch unter der Rubrik „Mehr Demokratie" gesprochen werden. Die Bundesregierung hat es von Anfang an unterlassen, die deutsche Öffentlichkeit und dieses Haus in vollem Umfange über die Belastungen aufzuklären, die sich aus diesen Gesetzen ergeben. Sie hat zunächst nur Berechnungen für die Jahre bis 1974 vorgelegt. Danach ergibt sich eine langsame Steigerung von jetzt etwa 31 % des deutschen Anteils auf 32,4 %. Sie hat dann durch den Herrn Bundesfinanzminister diese langsame Steigerung auch noch dadurch zu kaschieren versucht, daß sie eine Durchschnittsberechnung für die Jahre 1971 bis 1974 vortrug, die dann, um 32 % lag — für die Zeit nach 1974 nichts, Herr Bundeskanzler!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Rutschke?
Herr Kollege, würden Sie dabei berücksichtigen, daß der Art. 201 des EWG-Vertrages, der doch die Grundlage für die höheren Leistungen ist, die wir zu tragen haben, nicht von dieser Regierung unterschrieben worden ist?
Herr Kollege Rutschke, das ist eine von den Behauptungen, die öfter mal wiederkommen, aber an denen natürlich nichts ist.
Sie bewegt sich in der Vorstellung, weil irgendwann einmal ein EWG-Vertrag unterschrieben worden ist, folgten sämtliche Weichenstellungen, die seither eingetreten sind, nun automatisch aus diesem Vertrag. Davon kann überhaupt keine Rede sein.
— Der Art. 201 steht im EWG-Vertrag, der 1957 unterschrieben worden ist. Selbstverständlich hat es in dieser europäischen Entwicklung danach viele Weichenstellungen gegeben. Aber diese Weiche, Herr Kollege, hat Ihre Bundesregierung in den Verhandlungen gestellt. Daran ist kein Zweifel. Und es besteht für mich auch nicht der geringste Zweifel daran, daß Ihre Fraktion, wenn sie noch in der Opposition wäre, diesen Gesetzen nicht zustimmen würde,
wie wir es heute tun werden.
Aber zurück zu den Zahlen.
— Bitte, Herr Lenz!
Herr Kollege Dr. Wagner, gehe ich richtig in der Annahme, daß die Fraktion der FDP diesen Gesetzen heute nicht zustimmen würde, weil sie auch dem Grundvertrag nicht zugestimmt hat?
In dieser Annahme gehen Sie zweifellos nicht fehl, Herr Kollege Lenz. Ich glaube, daß dies eine klare Linie der Fraktion der FDP wäre und daß wir mit Sicherheit mit dieser Linie zu rechnen hätten.
Aber zurück zu meinen Zahlen. Ich habe, da uns die Bundesregierung keine Auskunft über die finanziellen Auswirkungen gegeben hatte, in der Debatte anläßlich der zweiten Lesung des Bundeshaushalts 1970 auf Grund eigener Berechnungen ein paar Zahlen genannt und habe damals vorgetragen,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4283
Dr. Wagner
daß der deutsche Finanzierungsanteil schnell weiter ansteigen und 1977 zwischen 34 und 35 % und 1978 dann zwischen 37 und 38 % — näher bei 38 % —liegen würde. Dies ist damals als absurd bezeichnet worden. Der Herr Bundesfinanzminister hat sich die Mühe gemacht, es mit Nachdruck zu dementieren und auf den Erfolg der Bundesregierung hinzuweisen, der darin bestehe, daß es gelungen sei, diese Lasten gerade in Schranken zu halten. Wir können heute feststellen, daß die von uns genannten Zahlen, wie sich bei den Ausschußberatungen ergeben hat, inzwischen unstreitig sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Apel? — Bitte!
Herr Kollege Wagner, halten Sie es eigentlich aus dem europäischen Selbstverständnis der CDU/CSU heraus für vertretbar, in dieser Art und Weise zu argumentieren, und befürchten Sie nicht, daß Sie damit doch wieder sehr stark in die Nähe rein nationalistischer Argumentation rükken,
sosehr ich mit Ihnen zusammen ein Interesse daran habe, daß das burden sharing, also eine gleichmäßige Lastenverteilung, erreicht wird?
Herr Kollege Apel, ich habe gesagt, warum ich der Auffassung bin, daß diese Zahlen hier genannt werden müssen. Ich glaube, daß es mir im weiteren Verlaufe meiner Ausführungen gelingen wird, Ihre Befürchtungen hinsichtlich nationaler oder nationalistischer Ausrichtung zu zerstreuen.
Der zweite Grund, aus dem meiner Auffassung nach diese Zahlen hier genannt werden müssen, ist nämlich der folgende. Es gibt einen politischen Zusammenhang zwischen finanzieller Integration, Haushaltsintegration und Integration im allgemeinen. Wenn man diesen Zusammenhang richtig würdigen will, wenn man erkennen will, ob in dieser Gemeinschaft alles im Gleichgewicht ist, muß man auch das Gewicht der Zahlen kennen. Nur dann kann der politische Zusammenhang wirklich erkannt werden.
Eine kurze Bemerkung zur steuerrechtlichen Frage. Unsere Fraktion stimmt mit den Fachausschüssen überein, die festgestellt haben, daß die Berechnung eines Teiles der Eigenleistungen der Staaten auf der Grundlage der Mehrwertsteuer uns der Steuerharmonisierung noch nicht näherbringt. Wir haben aber die Hoffnung, daß dadurch die Steuerharmonisierung gefördert werden kann. Eine Garantie besteht jedoch nicht. Für den heutigen Zustand ist es daher wichtig, daß die Fachausschüsse des Bundestages festgestellt haben, die Berechnung der Anteile der Mitgliedstaaten solle sich an statistischen Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung orientieren.Einige Worte zu dem politischen Zusammenhang, in dem diese Gesetze gesehen werden müssen. Für uns stellt sich die Frage: Was wird mit diesen Ratifizierungsgesetzen bewirkt, wohin führen sie, und inwieweit führen sie in Europa weiter? Dieser politische Zusammenhang kam in den Äußerungen der Bundesregierung zunächst nur sehr wenig zur Sprache. Heute morgen haben wir vom Herrn Bundeskanzler einiges dazu gehört.Der einzige politische Zusammenhang, den die Bundesregierung bisher zu sehen schien, war derjenige der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien. Meine Damen und Herren, dieser Aspekt ist richtig, aber der Gesichtskreis ist mit Sicherheit zu eng. Wir sehen hier vor allem einen Zusammenhang zwischen finanzieller Integration und dem Fortschritt der Gemeinschaften auf eine föderative Ordnung hin. Dieser Zusammenhang läßt sich wie folgt formulieren: Zu einer Gemeinschaft gehört ein Gemeinschaftshaushalt. Wer die Intregration will, wird sie auch im Finanziellen wollen müssen. Eine Integration, die sich einseitig auf das Zusammenlegen finanzieller Ressourcen konzentriert, wäre aber nicht annehmbar. Anders ausgedrückt: Was die Bundesregierung uns heute vorlegt, kann als der Anfang eines Bundeshaushalts bezeichnet werden. Wer einen Bund will, wird auch den Haushalt dieses Bundes wollen müssen. Was aber nicht möglich ist und auf die Dauer auch nicht haltbar wäre, ist ein Bundeshaushalt ohne Bund.
Wir sind daher der Überzeugung, daß wir auch gegenüber unseren Partnern in dieser Gemeinschaft das Recht und die Pflicht haben, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen. Das hat nichts damit zu tun, meine Damen und Herren, daß die Bundesrepublik Deutschland gehalten oder gewillt sein sollte, durch finanzielle Zugeständnisse Integrationsfortschritte zu kaufen. Es geht anders. Es handelt sich hier um zwei Seiten derselben Medaille. In einer Gemeinschaft, die immer enger zu einer föderativen Ordnung zusammenwächst, geht vieles, auch an finanzieller und haushaltsmäßiger Integration. In einer Gemeinschaft, die sich auf einen losen Bund im übrigen souveräner Staaten beschränkte, ginge dies auf die Dauer nicht, weil es auf permanente Einkommensübertragungen zwischen souveränen Staaten hinausliefe.
Deswegen muß nach der Auffassung unserer Fraktion sowohl in Betracht gezogen werden, welche institutionellen Fortschritte für die Gemeinschaft durch diese Gesetze bewirkt werden können, als auch berücksichtigt werden, welche Fortschritte sich in anderen Bereichen der Integration abzeichnen. Wir erkennen gern an, daß hier in den letzten Monaten das eine oder andere in Bewegung gesetzt werden konnte. Es gilt dies für die Konferenz in Den Haag, auf der zumindest Steine aus dem Weg geräumt worden sind. Es gilt dies auch für die Vorarbeiten
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4284 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Wagner
im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion.Wir können aber nicht anders, als unserer Enttäuschung über das Ausdruck zu geben, was im Zusammenhang mit dieser Finanzregelung etwa im institutionellen Bereich bewirkt worden ist. Das Haushaltsrecht, das dem Europäischen Parlament eingeräumt wurde, ist ungewöhnlich bescheiden. Das Parlament hat das letzte Wort bezüglich der Verwaltungsausgaben. Ich weise darauf hin, daß die Verwaltungsausgaben nur etwa 4 % der Gesamtausgaben der Gemeinschaften ausmachen. Bezüglich aller anderer Ausgaben — das sind etwa 96 % — ist das Parlament nach wie vor an das Votum des Ministerrats gebunden. Das bedeutet, daß der weitaus überwiegende Teil der Milliardenbeträge, die in Zukunft im Gemeinschaftshaushalt stehen werden, nach Inkrafttreten dieser Regelung jeder parlamentarischen Kontrolle in Europa, sowohl der nationalen als auch der europäischen, entzogen sein wird.Wir sehen den Zusammenhang, den es hier zwischen dem vollen Haushaltsrecht und dem Gesetzgebungsrecht des Europäischen Parlaments gibt. Ein volles Haushaltsrecht wird sich, so glaube ich, nur erreichen lassen, wenn dem Europäischen Parlament auch Gesetzgebungsbefugnisse übertragen werden. Eben dies ist unsere Forderung.Gleichzeitig ist unsere Forderung, daß die direkte Wahl des Europäischen Parlaments herbeizuführen ist. Dabei sind wir der Auffassung, daß der Bundestag, wenn sich die Verhandlungen über die direkte Wahl weiter ad infinitum im Rat hinschleppen sollten, selber die Initiative ergreifen sollte und nicht zögern sollte, die Direktwahl zumindest der deutschen Abgeordneten zum Europäischen Parlament, isoliert zunächst, herbeizuführen in der Erwartung und der Hoffnung, daß dies dann die anderen Staaten, einen nach dem anderen, nach sich zieht.
Bitte, Herr Apel.
Herr Kollege Wagner, ist Ihnen bekannt, daß die CDU/CSU einen Antrag der SPD-Fraktion, der in die gleiche Richtung ging, mit rechtlichen, aber auch mit einer Reihe politischer Überlegungen vor einigen Jahren abgelehnt hat?
Herr Kollege Apel, Sie sagen mit Recht: vor einigen Jahren. Das ist der Punkt. Die Zeit ist reifer. Die Gemeinschaft ist in ihr Endstadium eingetreten.
Wir sind dabei, in die Wirtschafts- und Währungsunion einzutreten. Wir haben diese Finanzgesetze vor uns. Wir sind also der Meinung, daß die Zeit für den damaligen Standpunkt, noch etwas abwarten zu können in der Hoffnung, daß dann alle mitmachen, jetzt vorbei ist, jedenfalls daß nicht mehr beliebig
lange gewartet werden kann und daß deshalb eine solche Initiative notwendig werden könnte.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Bitte.
Herr Kollege Wagner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Bundesregierung sehr intensiv in diesen Fragen in Brüssel vorstellig geworden ist, und sind Sie sich des Problems bewußt, daß die schwerwiegenden rechtlichen Argumente von 1965 für meine Fraktion natürlich leider auch heute noch gelten?
Herr Kollege Apel, es ist mir bekannt, daß die Bundesregierung in Brüssel vorstellig wird. Da Sie es mir sagen, bin ich auch gern bereit, hiermit zur Kenntnis zu nehmen, daß sie intensiv vorstellig wird.
Die rechtlichen Fragen sind von uns geprüft worden. Wir sind der Auffassung, daß die rechtliche Problematik, die sich mit einem solchen isolierten Vorgehen zweifellos stellen würde, überwindbar ist. Das heißt, daß sich Formen und Gestaltungsmöglichkeiten finden lassen, die sowohl mit nationalem Verfassungsrecht als auch mit europäischem Recht vereinbar sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Blumenfeld?
Bitte, Herr Blumenfeld.
Herr Kollege Dr. Wagner, würden Sie mir nicht zustimmen, daß sich die Frage erhebt, warum die sozialdemokratische Fraktion, wenn sie den Antrag des Kollegen Dr. Mommer, auf den Herr Dr. Apel eben abgehoben hat, immer noch gültig und rechtlich einwandfrei findet, ihn nicht als Entschließungsantrag eingebracht hat, sondern einen anderen Text vorgelegt hat?
Herr Kollege Blumenfeld, ich kann Ihnen selbstverständlich nur zustimmen. Diese Frage liegt sehr nahe. Der Zwiespalt bei der Fraktion der SPD scheint offen zutage zu liegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gerlach?
Ja, mit der Bemerkung, Herr Präsident, daß ich bei Fortsetzung
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4285
Dr. Wagner
1 der Zwischenfragen Gefahr laufe, meine Redezeit von 30 Minuten doch noch zu erreichen.
Herr Kollege, wir werden dann Toleranz üben.
Herr Kollege Dr. Wagner, würden Sie so liebenswürdig sein, zur Kenntnis zu nehmen, daß nach dem Protokoll der letzten Ministerratssitzung die Expertenkommission beauftragt worden ist, eine Feststellung über die Möglichkeit der Wahlen für das Europäische Parlament zu treffen, und zwar in den einzelnen Mitgliedsstaaten nach einem möglichst einheitlichen System?
Ich bin gern bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen bzw. aus Ihrem Mund mir abermals bestätigen zu lassen. Aber ich muß andererseits sagen, daß uns Beschlüsse ähnlicher Art, nämlich Prüfungen und Aufträge an Expertengruppen usw., aus den vergangenen Jahren schon sattsam bekannt sind. Wir haben Beschlüsse dieser Art schon öfter gehabt und leider die Erfahrung gemacht, daß sie oft wieder nur in den Schubladen landeten.
Selbstverständlich ist auch die Fraktion der CDU/ CSU ganz klar der Meinung, daß es das weitaus beste wäre, die direkte Wahl aller Abgeordneten zum Europäischen Parlament in allen Ländern nach einem einheitlichen Verfahren durchzuführen. Die Formulierung in unserem Entschließungsantrag, daß wir dies notfalls auch allein tun würden, ist eben, wenn Sie so wollen, eine Notformulierung, eine Formulierung für den Fall, daß es anders nicht geht.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Koch gestatten?
Bitte.
Herr Kollege Wagner, sind Sie bereit, zuzugeben, daß die Gewinnung dieser zweifellos bescheidenen Haushaltsrechte beinahe schon an dem Widerstand einer großen westlichen Macht der EWG gescheitert wäre und daß es angesichts dieses Widerstands praktisch nicht möglich war, darüber hinauszugehen?
Herr Kollege Dr. Koch, ich bin nicht bereit, Ihnen dies zuzugestehen. Ich bin der Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland in diesen Verhandlungen eine ungewöhnlich starke Position hatte, und zwar ganz einfach deshalb, weil sie der finanziell gebende Teil ist.
Ich bin deswegen der Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland hier einen Hebel hatte, den sie hätte ansetzen können und müssen.
Ich glaube, daß die Bundesregierung ihre Verhandlungsposition von vornherein dadurch geschwächt hat, daß sie sich einseitig auf, sagen wir, das Freimachen des England-Beitritts fixiert hat. Die Bundesregierung ist mit der Vorstellung, mit der Überzeugung in diese Finanzverhandlungen gegangen, hier ganz einfach nachgeben zu müssen, damit die Beitrittsverhandlungen beginnen können. Nur die Beitrittsverhandlungen; es handelt sich ja noch keineswegs um den Beitritt. Deswegen hat sie nicht mehr die Kraft gehabt, gaube ich, — —
— Herr Wehner, ich sage hier aber, was ich glaube. Ob Sie das interessiert, interessiert vielleicht andere wieder nicht.
— Herr Wehner macht hier wieder die charmanten Bemerkungen, durch die er dem ganzen Hause so bekannt und auch bei allen so beliebt ist. Das kennen wir und das rührt niemanden mehr. Das wird allmählich zum Amusement des Hauses.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lenz?
Herr Kollege Dr. Wagner, die Kollegen von den Koalitionsfraktionen haben darauf hingewiesen, daß die Verhandlungen in Brüssel so ungeheuer schwierig waren. Halten Sie vor diesem Hintergrund die Ausführungen des Kollegen Apel für berechtigt, man könne frühere Bundesregierungen dafür tadeln, daß sie in der Zeit bis 1969 — bei anderen Verhältnissen in einem anderen Mitgliedstaat — größere Fortschritte nicht gemacht haben?
Herr Kollege Lenz, ich halte unter diesem Aspekt die Ausführungen des Herrn Kollegen Apel in der Tat für falsch. Ohne jeden Zweifel sind diese Verhandlungen, seitdem sich in Paris etwas geändert hat, leichter geworden und ist eine ganze Reihe von Dingen überhaupt erst wieder möglich geworden. Das wissen die Kollegen bei der sozialdemokratischen Fraktion— zumindest einige von ihnen — so gut wie wir.Wir sind im übrigen der Auffassung, daß abgesehen von diesen institutionellen Fragen, die ihre große Bedeutung haben, auch der gesamtpolitische Zusammenhang, d. h. die Ausdehnung der Integration auf Bereiche, die bisher von ihr nicht erfaßt sind, hier hineingehört. Dazu hat unser Fraktions-
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4286 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Wagner
vorsitzender heute morgen einiges ausgeführt, dem wir nichts hinzuzufügen haben. Es ist ein sonderbares Mißverhältnis — dabei werden wir bleiben —, daß hier Finanzierungsregelungen, horizontale Finanzausgleiche bis 1978 und darüber hinaus festgelegt werden, während gleichzeitig dieselben Partner, die das mit uns machen, uns erklären — so trägt die Bundesregierung ja vor —, daß halbjährliche Konsultationen der Außenminister ohne jede Struktur, ohne jedes Sekretariat, ohne jede Abstufung in der Planung das Maximum an außenpolitischer Zusammenarbeit sei, das heute erreicht werden könne. Wir meinen, daß es nötig ist, auch auf dieses Mißverhältnis heute hinzuweisen.
Weil wir diesem Zusammenhang für entscheidend halten, haben wir den Entschließungsantrag auf Umdruck 86 *) vorgelegt, der dem Hause zur Beschlußfassung von uns empfohlen wird. Nach den Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers heute morgen nehmen wir an, daß die Koalitionsfraktionen in der Lage sein werden, diesem Entschließungsantrag zuzustimmen.Ich darf unsere Position zu den vorliegenden Gesetzen kurz wie folgt zusammenfassen. Die Ausstattung der Europäischen Gemeinschaften mit eigenen Einnahmen ist ein bedeutender Fortschritt auf dem Wege zum europäischen Zusammenschluß. Die Gemeinschaften erhalten mit ihr erstmals die begrenzte Finanzautonomie. Dies begrüßen wir.Allerdings bedeutet die neue Finanzordnung fürdie Bundesrepublik Deutschland die Übernahme beträchtlicher neuer Finanzlasten. Über ihre Annahme kann daher nur auf der Grundlage einer politischen Gesamtwürdigung entschieden werden. Die Tatsache, daß ein Teil der eigenen Einnahmen auf der Grundlage der Mehrwertsteuer berechnet wird, bringt uns als solche der notwendigen Steuerharmonisierung in der EWG noch nicht näher. Im gegenwärtigen Zeitpunkt schließen wir uns der Auffassung der zuständigen Ausschüsse an, daß durch die Annahme der neuen Finanzierungsregeln das Besteuerungsverfahren der Staaten nicht zusätzlich erschwert werden soll und daß die Anteile der einzelnen Staaten daher nach den statistischen Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu ermitteln sind.Zu den neuen Finanzierungsregeln gehören untrennbar Reformen der Gemeinschaftsverfassung. Die beschlossene Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments ist sehr bescheiden und entspricht nicht der finanziellen und politischen Tragweite der Schaffung eigener Einnahmen. Die Bundesregierung hat die Chance nicht genutzt, im Zusammenhang mit der Einigung über die neue Finanzregelung gleichzeitige und gleichgewichtige Fortschritte auf den europäischen Zusammenschluß hin zu erreichen. Die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit den vier beitrittswilligen Staaten ist als solche kein Äquivalent für die finanziellen Zugeständnisse der Bundesrepublik.
*) Siehe Anlage 2
Dringlich sind europapolitische Initiativen besonders auf folgenden Gebieten. Die institutionelle Struktur der Gemeinschaften muß verstärkt werden. Dem Europäischen Parlament ist das volle Haushaltsrecht und eine echte Gesetzgebungsbefugnis gemeinsam mit dem Rat zu übertragen. Die direkte Wahl des Europäischen Parlaments darf nicht länger verzögert werden.Die Wirtschafts- und Währungsunion soll auf der Grundlage des Werner-Berichts in den nächsten zehn Jahren verwirklicht werden. Dies wird nur gelingen, wenn gleichzeitig eine immer festere politische Union entsteht. Ich füge hinzu, daß dies auch schon deswegen erforderlich ist, weil es nicht mehr angeht, die Agrarpolitik im Bereiche der europäischen Wirtschaftspolitik länger allein zu lassen.
Aus diesem Grunde und im Hinblick auf die allgemeinen politischen Notwendigkeiten ist die politische Union heute der Kern aller Bemühungen um die weitere Einigung Europas. Für sie sind die beschlossenen halbjährlichen Konsultationen kein ausreichender Ansatz. Solange nicht deutliche Fortschritte auf diesen Gebieten erzielt sind, kann die Bundesrepublik Deutschland der Übernahme neuer Finanzierungslasten über die jetzt beschlossenen Regeln hinaus nicht zustimmen.Die Fraktion der CDU/CSU wird den vorliegenden Ratifizierungsgesetzen zustimmen. Sie tut dies in der Erwartung, damit einen Beitrag zur weiteren Entwicklung Europas zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit zu leisten. Unsere Stellungnahme hat den Sinn, den Zusammenhang zwischen dem Gegenstand unserer heutigen Beschlußfassung und der politischen Zukunft Europas deutlich zu machen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Außenministerium, Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Vertretung des Herrn Bundesaußenministers darf ich zu dieser Europadebatte einige Anmerkungen machen und Hinweise geben, die anläßlich einer solchen Ratifizierung doch von Notwendigkeit sind, zumal hier auch von Sprechern des Hohen Hauses, insbesondere der Opposition, kritische Anmerkungen über das Erreichte gemacht worden sind.Lassen Sie mich deshalb zunächst zu meinem Herrn Vorredner bemerken, daß das einheitliche Verfahren, das Sie am Vertrag offensichtlich nicht genügend gewürdigt haben und das uns zu einer Verhaltensweise zwingt, die wir politisch keineswegs immer in dieser Form gewünscht haben oder weiterhin wünschen, eben Vertragsgegenstand ist und daß deswegen ein Streit über vergangene Anträge und künftige Anträge nicht besonders sinnvoll erscheint. Wir werden in dieser Frage der Verstärkung des demokratischen Elements sicherlich nur gemeinsam in der Europäischen Gemeinschaft wei-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4287
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschterkommen. Was hier an Argumenten ausgetauscht worden ist, ist ja früher in umgekehrter Richtung ebenfalls ausgetauscht worden. Man kam am Ende immer zu dem Ergebnis, das ich Ihnen hier nur mitteilen kann: daß alles nur gemeinschaftlich zu lösen ist.Die Bundesregierung ist froh, daß sie auf dem Weg zur Verstärkung der Gemeinschaft in den vergangenen zwölf Monaten ein ganz wesentliches Stück weitergekommen ist. Der Herr Bundeskanzler hat darauf heute morgen schon hingewiesen. Die Europapolitik dieser Bundesregierung und die Europapolitik überhaupt ist seit einem Jahr mit großer Intensität betrieben worden. Diese Bundesregierung hat die europäische Aufgabe, wie ich meine, mit gutem Erfolg angepackt. Ich möchte das hier doch noch einmal im einzelnen darlegen, damit nicht ein falscher Eindruck auf Grund mancher Äußerungen der Opposition entstehen kann.Vergleicht man in der europäischen Entwicklung das Jahr 1970 mit den vorangegangenen Jahren, so wird der Wandel im positiven Sinne, der ungewöhnliche Fortschritt beim inneren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft und auf dem Wege zu ihrer Erweiterung, evident. Die Hoffnungen, die sich an das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Haag vom 1. und 2. Dezember 1969 geknüpft hatten, haben nicht getrogen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sind sich während des vergangenen Jahres in zunehmendem Maße — und das ist doch wohl entscheidend wichtig — ihrer gemeinsamen Interessen bewußt geworden. Vor vier Wochen hat Minister Scheel an dieser Stelle mitgeteilt, daß von unserer Seite die Absicht bestehe, einen Mechanismus europäischer politischer Konsultationen einzurichten. Vor wenigen Tagen nun, am 27. Oktober, gelang es, diese Absicht in Luxemburg zu verwirklichen und damit einen der wichtigsten Aufträge der Haager Konferenz zu erfüllen.Kollege Barzel hat heute morgen gesagt, das sei nicht genug; es müsse hier ein wirklicher Stufenplan ausgearbeitet werden. Ich darf darauf verweisen, daß eben dies geschehen ist.
Es ist ein Stufenplan, der hier verabschiedet worden ist. Ich werde im Verlauf dieses Beitrags noch auf einige Einzelheiten kommen, die, glaube ich, deutlich machen, daß Herr Kollege Barzel wohl den wirklichen Gehalt dieser Entscheidung nicht ganz aufgenommen hat,
daß er eine sehr euphemistische Deutung dieses Beschlusses gegeben hat
und daß eine intensive Beschäftigung mit dem Verfahren ihn sicherlich zu einem anderen Urteil gebracht hätte.
— Ich mache keinen herunter.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von und zu Guttenberg?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär 'beim Bundesminister des Auswärtigen: Bitte schön!
Herr Kollege Moersch, ist Ihnen wirklich entgangen, daß der Herr Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Dr. Barzel, heute vormittag zusätzlich zu dem Stufenplan, der den Namen des Herrn Ministerpräsidenten Werner trägt, einen Stufenplan zur politischen Union verlangt hat,
von dem er meint, daß diese Regierung ihn vorlegen solle, wenn sie sich, wie sie selbst gesagt hat, als Motor der europäischen Einigung versteht?
Herr Kollege von Guttenberg, mir ist das keineswegs entgangen,
und ich versuche ja gerade darzulegen, daß die Kritik des Kollegen Dr. Barzel an den gegebenen Tatsachen in Europa vorbeigegangen ist und daß das, was wir erreicht haben, unter den gegenwärtigen Umständen sicherlich optimal ist. Es geht nicht um das, was wir wünschen, sondern es geht um das, was möglich ist. Wir haben das getan, was möglich war.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von und zu Guttenberg?
Bitte schön!
Herr Kollege Moersch, Sie haben soeben gesagt:. „Das, was wir erreicht haben" — Sie haben dieses „wir" gewiß auf die Bundesregierung bezogen —, sei optimal gewesen. Erlauben Sie mir, daran die Frage anzuschließen, ob Sie nicht mit dieser von Ihnen getroffenen Feststellung in der Tat das tun, was Herr Dr. Barzel heute früh „die falsche Feder an den falschen Hut stecken" genannt hat; denn die Fortschritte, die es tatsächlich in Europa gegeben hat, haben doch im wesentlichen einen Grund, nämlich die politische Veränderung in einer europäischen Hauptstadt, die nicht Bonn heißt.
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4288 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Herr Kollege von Guttenberg, es läge jetzt natürlich nahe, einen kleinen Ausflug in die Bewertung vergangener Dinge zu machen.
Aber daß Sie das, was in der gesamten westeuropäischen Gemeinschaft, zuletzt gestern abend vom französischen Außenminister Schuman in der französischen Nationalversammlung, als maßgebender Beitrag dieser Bundesregierung voll gewürdigt wird, hier zu verkleinern versuchen, verstehe ich nicht, da es nicht den Tatsachen entspricht.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt?
Bitte schön! Ich möchte dann aber weiterkommen.
Herr Kollege Moersch, halten Sie eine Vielzahl von Stufenplänen auf mehreren oder vielen Gebieten, also eine Art „Stufenplanwirtschaft", wie sie dem Kollegen von Guttenberg vorschwebt, der europäischen Einigung wirklich für zuträglich?
Herr Kollege Dr. Arndt, ich werde das hier im einzelnen noch darlegen. Ich glaube, man muß deutlich unterscheiden, daß man in Wirtschafts- und Währungsfragen sehr wohl einen konkreten Stufenplan vorlegen und sich auch darüber einigen kann,
daß sich aber die Frage der intensiven politischen Zusammenarbeit danach beantwortet, ob die Interessen von den Beteiligten zunehmend identisch werden oder nicht. Daß es uns gelungen ist, zunehmend zu einer gemeinsamen Definition der Interessen in der Gemeinschaft zu kommen, halte ich, unter uns gesagt, für den größten Erfolg des vergangenen Jahres.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Bitte schön.
Herr Kollege Moersch, würden Sie mir darin beipflichten, daß die Redner der FDP heute hier den Versuch unternehmen, sich Federn eines Huhnes an den Hut zu stekken, das es gar nicht geben würde, wenn es nach dem Willen Ihrer Fraktion gegangen wäre?
Herr Kollege Dr. Lenz, ich habe hier nicht für die Fraktion zu sprechen, aber ich möchte Sie dringend vor Geschichtsklitterung und vor gewagten Bildern warnen. Denn der Einwand der Liberalen gegen diese Art von Vertrag, der damals geschlossen wurde, war u. a. ein Einwand, den Sie heute selbst vorbringen, daß nämlich die demokratische und parlamentarische Kontrolle nicht genügend entwickelt sei, und ich glaube, das ist ein ehrenwerter Einwand gewesen.
Ich kenne die Debatten von damals, und Sie müssen dann schon nicht mit halben Argumenten kommen. Denn auch hier gilt, daß, wer halb zitiert, möglicherweise ganz gewinnt, aber die Wahrheit auch ein bißchen dabei verdreht.
— Ich brauche da nicht zu lesen, ich habe ein gutes Gedächtnis, Herr Dr. Jahn. Daß Sie als engagierter Europäer hier auftreten, hätte ich nach anderen Äußerungen von Ihnen gar nicht erwarten können.
Zum Verfahren selbst: Von der Bundesregierung hier haben wir einen Bericht verabschiedet, der auch — und das bitte ich zu beachten — von den Beitrittskandidaten gebilligt worden ist. Und darauf hatten wir ganz besonders zu achten in diesen Zusammenhang, in dieser Phase der Gespräche.Die künftige Art der politischen Konsultation wird nicht nur, wie Skeptiker befürchtet haben, ein bloßer Informationsaustausch sein, sondern wird ganz wesentlich durch einen Meinungsaustausch, durch Diskussion, durch Argument und Gegenargument die Harmonisierung der Standpunkte der beteiligten europäischen Staaten in den wichtigen außenpolitischen Fragen erleichtern. Diese politische Konsultation — das beginnt sich bereits jetzt abzuzeichnen — wird die Solidarität unter den Mitgliedern der Gemeinschaft fördern.Allein die Vorbereitungen dieses Berichts haben im übrigen auch — das darf ich anmerken — dazu geführt, daß es mehr und mehr zu direkten fachlichen Kontakten leitender Beamter in den betroffenen Außenministerien gekommen ist und daß sich auf diese Weise das Verfahren bei der Abstimmung von Detailfragen innerhalb der Gemeinschaft erheblich zu vereinfachen beginnt. Das mag nebensächlich klingen. Aber man sollte auch die Bedeutung solcher Vorgänge für die Entwicklung einer politischen Praxis in dieser neuen Phase nicht unterschätzen. Wie ich überhaupt hinzufügen möchte, daß Institutionen eine Sache sind, die wir nicht unterschätzen wollen, persönliche Kontakte und
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Parlamentarischer Staatssekretär Moerschpersönliches Vertrauen aber eine andere Sache, die gewiß nicht minder wichtig ist. Und hier, so meine ich, darf gerade diese Bundesregierung mit Genugtuung auf die vergangenen zwölf Monate zurückblicken.
Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen auf die bedeutsame Tatsache, daß dieser Bericht, der Luxemburger Bericht, der Avignon-Bericht, auch von Dänemark, Irland, Norwegen und dem Vereinigten Königreich akzeptiert worden ist. Das heißt die politische Kooperation zwischen den Sechs und den Vier, wie wir sie uns vorstellen, macht es eben notwendig, daß von Anbeginn an zwischen den Sechs und den Vier ein Meinungsaustausch über die Ergebnisse der politischen Konsultationen stattfindet. Je zügiger die Beitrittsverhandlungen vorankommen, desto früher werden die vier genannten Staaten in der politischen Kommission unsere unmittelbaren Gesprächspartner sein. Und eben dies ist das Ziel der Bundesregierung, die vier beitrittswilligen Staaten so früh wie möglich in vollem Umfang an der Abstimmung der außenpolitischen Fragen für die Gemeinschaft zu beteiligen.Das Europaparlament ist bei all dem der ständige Gesprächspartner der Regierung. Das Parlament wird an der neuen politischen Zusammenarbeit der Sechs künftig beteiligt sein. Halbjährlich sollen die Außenminister und die Mitglieder der politischen Kommission der Versammlung zur Diskussion jener Fragen zusammentreffen, die Gegenstand der Konsultationen sind. In jedem Jahr wird der amtierendePräsident des Ministerrats das ganze Europaparlament über die Weiterentwicklung der Gemeinschaften unterrichten. Im Anschluß an das Ministertreffen in München ist für den 20. November das erste derartige Kolloquium, wie es genannt wird, von Ministerrat und politischem Komitee vorgesehen.Ich denke, daß Sie, meine Damen und Herren, genauso wie die Bundesregierung Genugtuung darüber empfinden oder empfinden sollten, daß wir die ersten Gastgeber in diesem neuen Abschnitt politischer europäischer Zusammenarbeit sein dürfen. Und die Kollegen aus Bayern, auch die der CSU, dürften — ich nehme an, trotz der Einlassung ihres Fraktionsvorsitzenden — dessen bin ich sicher, über die Wahl Münchens zum Tagungsort sicherlich nicht betrübt sein.
— Früher hat man in Bonn, Herr Dr. Wagner, Zufall mit CV geschrieben; daran erinnern wir uns noch sehr gut.
Spätestens zwei Jahre nach Aufnahme der außenpolitischen Konsultation werden die Außenminister der Gemeinschaft Zwischenbilanz ziehen und mögliche Verbesserungen der Zusammenarbeit vorschlagen.Von der Entwicklung dieser mehr allgemeinen Komponente, nämlich der politischen Zusammenarbeit und Konsultation, wird sicherlich Art und Umfang der Verwirklichung eines für die Praxis der europäischen Zusammenarbeit besonders bedeutsamen Projektes abhängen; ich meine die hier schon erwähnte Wirtschafts- und Währungsunion. Wenn sonst auch die mehr technisch erscheinenden Aspekte eines europäischen Einigungsprozesses relativ wenig Resonanz finden, so ist der Begriff der Währungsunion stärker ins allgemeine Bewußtsein eingedrungen, weil eben in jedem Land — und nicht nur bei uns — Währungsfragen über die Experten hinaus besondere Aufmerksamkeit finden.Zur Sache selbst darf ich anmerken, daß die Bundesregierung ihren Partnern bereits im Februar dieses Jahres einen Stufenplan zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion vorgelegt hat. Der Übergang der Gemeinschaft in eine solche Union sollte nach unseren Vorstellungen noch Ende der 70er Jahre erreicht sein. Das halten wir für eine realistische Zielsetzung.Eine Arbeitsgruppe unter der sehr verdienstvollen Leitung des luxemburgischen Ministerpräsidenten Werner hat den sogenannten Werner-Bericht vorgelegt. Wir möchten, daß der Stufenplan, der den Inhalt dieses Berichtes bildet, schon zu Beginn des kommenden Jahres in Kraft tritt. Damit kämen wir in der europäischen Zusammenarbeit und in der Richtung auf die Union der europäischen Staaten ein wichtiges Stück voran.In diesem Stufenplan wird — ich darf hier auf den Herrn Bundeskanzler verweisen — ein ,,qualitativer Sprung in Richtung auf die Begründung neuer Kompetenzen" vorgeschlagen. Insofern ist dieser Vorschlag das kühnste Unterfangen seit dem Abschluß der Gemeinschaftsverträge überhaupt.Neben diesen beiden besonders herausragenden Ereignissen der europäischen Politik in diesem Jahr 1970, nämlich der Einführung eines politischen Konsultations- und somit Einigungsverfahrens und dem vorgelegten Stufenplan für die Wirtschafts- und Währungsunion, ist auch in anderen Bereichen im vergangenen Jahr Bedeutsames geschehen. Lassen Sie mich wenigstens in Stichworten jene Liste erwähnen, die das Bild abrundet.Die Handelsabkommen der Mitgliedstaaten mit dritten Ländern sind vereinheitlicht worden. Das ist eine für die Profilierung der Gemeinschaft nach außen wichtige Sache. Daneben hat die Gemeinschaft am 1. Oktober Präferenzabkommen mit Spanien und Israel rechtskräftig werden lassen. Seit dem 1. Mai bereits wird ein nichtpräferentielles Handelsabkommen mit Jugoslawien angewandt. Darüber hinaus sind auch Verhandlungen mit der Vereinigten Arabischen Republik und mit dem Libanon im Gange. Ein Assoziierungsabkommen mit Malta steht kurz vor der Unterzeichnung.Zur Kennzeichnung der Fortschritte in der Gemeinschaft darf ich die Reform des europäischen Sozialfonds erwähnen und auf die — wenn auch im Zusammenhang mit Euratom und seinen Problemen noch schwierigen — Versuche zur Entwicklung der europäischen Technologie-Politik in den vergange
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4290 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschnen Monaten hinweisen. Zum letztgenannten Punkt muß übrigens betont werden, daß es gerade die Bundesregierung hier nicht an Initiativen und Vorschlägen hat fehlen lassen und daß sie sich mit Nachdruck um eine Weiterentwicklung der gemeinsamen Forschungsstellen bemüht.Nicht zuletzt mit Blick auf den Sozialfonds scheint mir ein prinzipieller Hinweis notwendig zu sein. Die Europäische Gemeinschaft soll nicht nur eine wirtschaftliche Stabilitätsgemeinschaft werden, sie soll auch und vor allem eine soziale Stabilitätsgemeinschaft sein, eine Gemeinschaft, die gleiche Lebenschancen allen Europäern bietet, die zu dieser Gemeinschaft gehören. Aus diesem Grunde hat sich der Rat intensiv mit Fragen der europäischen Sozialpolitik befaßt. In dem Reformbeschluß vom Juli wird festgelegt, daß die Mittel des europäischen Sozialfonds auch vorbeugend eingesetzt werden können, das heißt, schon bevor es in einer bestimmten Region der Gemeinschaft überhaupt zu einer strukturellen Arbeitslosigkeit gekommen ist.Es liegt auf der Hand, daß vor allem eine Frage die Phantasie entzündet, weil sie mit Recht in diesem Jahr als die große politische Frage empfunden wird — davon habe ich von den Rednern der Opposition vorhin relativ wenig gehört —: die Beitrittsfrage, die Frage der Erweiterung der Gemeinschaft. Auch hier ist mit der Konferenz von 'Den Haag ein neuer Anfang möglich geworden. Schwierige Vorfragen sind inzwischen schon beantwortet, seitdem die offiziellen Beitrittsverhandlungen Ende Juni begonnen wurden. Nachdem Tatsachenfeststellungen und Sachklärungen als Grundlage der Entscheidungen und Meinungsbildung mit Blick auf die Verhandlungen mit Großbritannien gut vorangekommen sind, werden wir nun noch vor Ende dieses Jahres in den eigentlichen Kernbereich der Verhandlungen vorstoßen können und uns damit jenem Punkt nähern, in dem die politischen Entscheidungen über die Erweiterung der Gemeinschaften konkret fallen werden. Was ich soeben gesagt habe, gilt speziell für das Verhältnis zu Großbritannien. Es gilt aber auch für das Verhältnis zu Dänemark, Irland und Norwegen. Der sichtbar gute Wille aller Beteiligten läßt auf der nächsten Ministerkonferenz am 15. Dezember ähnliche Fortschritte wie mit Großbritannien erwarten. Auch wenn man die Schwierigkeiten in der Interessenabstimmung der Sechs und der Vier nicht unterschätzt — es wäre falsch, dies zu tun —, so ist es heute doch eine begründete Hoffnung, daß wir in absehbarer Zeit zu einer Gemeinschaft der Zehn kommen.Nach diesen Hinweisen zur Einigungsentwicklung darf ich mich nun dem besonderen Gegenstand der heutigen Sitzung zuwenden und folgendes feststellen. Die Gesetzentwürfe zur Finanzierungsverfassung der Gemeinschaften, deren Annahme die Bundesregierung Ihnen empfiehlt, ordnen sich in diese zielstrebige Politik ein. Mit der Annahme des Gesetzes zu dem Beschluß des Rates vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften wird den Europäischen Gemeinschaften entsprechend den Römischen Verträgen ein erstes Stück Finanzautonomie verliehen. Mit dem Gesetz zu demVertrag vom 22. April 1970 zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Gemeinschaftsverträge zugunsten des Europäischen Parlaments wird das nötige Korrelat zu der wachsenden Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften von den Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten geschaffen.Die parlamentarische Prüfung in diesem Hause hat bei diesen Vorlagen eine positives Votum ergeben. Gleichzeitig aber ist — davon war hier ausführlich die Rede — in einem Antrag die Sorge über eine nicht genügende Beteiligung des Parlaments an der Haushaltsführung der Gemeinschaft zum Ausdruck gekommen. Das Europäische Parlament hat sich ähnlich geäußert. Trotz solcher Einwände, die wir nicht als gering erachten, sollten wir das jetzt Erreichte auch nicht in Frage stellen, weil es eben das ist, was unter den gegebenen Umständen erreicht werden konnte. Wir haben davon auszugehen, daß wir nicht durch den Versuch, den dritten Schritt vor dem ersten zu tun, andere Errungenschaften der Gemeinschaft in Frage stellen dürfen, die wir unter keinen Umständen in Frage stellen wollen. Ich habe auf diesen Punkt vorhin schon einmal hingewiesen.Die nunmehr gegebene Verfügungsgewalt über gemeinsame Einnahmen zeigt, daß sich die Gemeinschaft auf dem Weg zur politischen Volljährigkeit befindet. Sie, meine Damen und Herren, treffen heute in diesem Hause nicht nur eine technische Entscheidung, sondern eine Entscheidung von hohem politischem Rang; denn auch die Regelung einer speziellen Materie wird in den beteiligten Ländern unzweifelhaft politische Wirkungen haben. Hier ergeben sich Eigengesetzlichkeiten, die den Einigungsprozeß selbst voranbringen.Dieses hier gezeichnete, insgesamt positive Bild wäre unvollständig, würde nicht auch von den Dingen gesprochen, die uns Sorge machen. Ich muß deshalb noch einmal auf die bereits erwähnte Euratom-Frage zurückkommen.Seit 1967 lebt Euratom am Rande einer Krise, also seit dem Zeitpunkt, als es nicht gelang, Übereinstimmung über ein Forschungs- und Ausbildungsprogramm für die folgenden Jahre zu erzielen. Euratom muß sich seither mit Aushilfen, mit Interimsprogrammen behelfen. Diese Entwicklung — daraus mache ich kein Geheimnis — beunruhigt uns alle, nicht nur in diesem Hause. Es ist wenig sinnvoll, daß große Forschungskapazitäten gegenwärtig brachliegen, wenn gleichzeitig die Forschungskapazitäten insgesamt in den europäischen Staaten auf nationaler Basis erweitert werden. Es bleibt deshalb nicht nur für die Ratstagung im Dezember, sondern auch noch für lange Zeit eine ganz wichtige Aufgabe, in diesem Bereich von Forschung und Entwicklung, in dem Bereich der Wissenschafts- und Technologiepolitik mehr als bisher zu einer gegenseitigen Abstimmung und Übereinstimmung zu gelangen, schon wegen der wachsenden Anteile am Bruttosozialprodukt, die diese Forschungsaktivitäten nun einmal erfordern.Je mehr sich dieses Europa einer politischen Eigenständigkeit nähert, desto mehr sollten wir uns darauf einrichten, daß sich gemeinsame europäische
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Parlamentarischer Staatssekretär Moerschpolitische Überlegungen entwickeln. So wird denn das Ganze am Ende mehr sein als die Summe seiner Teile. Auch Europa wird Außenverhältnisse zu regeln haben. Es wird eigene westpolitische Beziehungen, eigene ostpolitische Beziehungen und auch eigene Beziehungen gegenüber der Dritten Welt wahrnehmen müssen.Wenn ich von den westpolitischen Beziehungen spreche, dann in erster Linie von den Beziehungen zu unseren Verbündeten jenseits des Atlantik. Unsere eigene Westpolitik macht nicht an den Ufern des Atlantik halt. Das wird auch für die gemeinsame Haltung der in der Gemeinschaft verbundenen Länder Europas gelten. Unsere Allianzpolitik, unser elementares Interesse an der Erhaltung und Sicherung unserer freundschaftlichen Beziehungen zu den USA und unser Bemühen um den Ausbau der europäischen Zusammenarbeit sind von jeher Teil eines Ganzen gewesen, Teil einer Politik, die sich an der Forderung orientiert, unsere freiheitlich-demokratischen Einrichtungen zu sichern, und sich auch in Zukunft an dieser Forderung orientieren wird.Der Herr Bundeskanzler hat vorhin bereits in überzeugender Weise dargelegt, daß wir, die europäischen Länder und Staaten, die Befürworter einer politischen Gemeinschaft, in ihrem eigenen Interesse zu einer engen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten verpflichtet sind. Wir halten es für notwendig, jeden Dialog zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite nachhaltig zu unterstützen. Wir halten es für notwendig, diesen Dialog zu intensivieren. Die Vereinigten Staaten, das wissen wir, begrüßen den politischen Gehalt unserer Fortschritte bei der Vollendung der Europäischen Gemeinschaft. Sie tun dies, obwohl bei einem wirtschaftlichen Integrationsprozeß dieses Ausmaßes für die USA, aber auch für andere Drittländer gewisse Probleme mit eben diesem wirtschaftlichen Integrationsprozeß Europas verbunden sind. -Es ist in diesem Zusammenhang sicherlich nicht unnütz, daran zu erinnern, daß die Europäer alle zusammen ihren eigenen Interessen zuwiderhandelten, wenn sie im Sinne protektionistischer Vorstellungen „einen höllisch großen Teil der Welt abzäunen" wollten, wie es kürzlich einmal etwas vorwurfsvoll an die europäische Adresse gesagt worden ist. Jedenfalls wird die Bundesregierung alles in ihren Kräften Stehende tun, um sicherzustellen, daß diese wirtschaftliche und politische Gemeinschaft Europas eben nicht einem Hause gleicht, das zwar einen gepflegten Innenhof besitzt, aber keine Fenster nach außen mehr kennt. Noch einmal: eben dies wäre am Ende nichts anderes als selbstgezimmerte Enge oder gar Unfreiheit.Es geht um einen positiven wirtschaftlichen und politischen Beitrag zur Stabilität unserer Welt. Diesem Ziel dient unsere Europapolitik. Diesem Ziel dient die Pflege der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu unseren transatlantischen Verbündeten, die Pflege einer atlantischen Interdependenz neuer Art, die schließlich nicht nur den im west-lichen Bündnis vereinigten Ländern, sondern auch jenen Ländern zugute kommen soll, die in der Dritten Welt vor den großen ungelösten und nur bei gemeinsamer Kraftanstrengung lösbaren Problemen des Sozialgefälles zwischen Süd und Nord stehen.Es ist heute hier nicht der Ort und die Zeit, im Detail auf das Verhältnis der europäischen Gemeinschaft zur Dritten Welt einzugehen. Ich glaube aber, daß wir im Laufe der siebziger Jahre zu einer koordinierten Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft gelangen müssen.Meine Damen und Herren, ich ging zu Beginn von dem Hinweis aus, daß die Ostpolitik der Bundesregierung auf einer aktiven Westpolitik aufbaut. So kann es in der Zukunft neben einer europäischen Westpolitik auch eine europäische Ostpolitik geben. Ihre wirtschaftlichen Aspekte zeichnen sich bereits heute ab. Das liegt in der Konzeption der Gemeinschaft begründet, auch in Richtung Osteuropa nicht protektionistisch vorzugehen, eine Haltung, die für uns Deutsche besonders bedeutsam ist, für uns nämlich, die wir den Austausch mit dem anderen deutschen Staat, der einer anderen Wirtschaftsorganisation angehört, weiterhin intensiv zu pflegen haben. Es liegt in unserem Interesse, durch den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit Osteuropa zur politischen Entspannung und zur Überwindung von Gräben beizutragen. Diese Feststellung ist uns wichtig, weil sich die innere Verbindung zwischen Integrationspolitik und aktiver Ostpolitik gerade hier ganz unmittelbar abzeichnet. Der Wunsch der osteuropäischen Staaten nach einer engeren wirtschaftlichen Kooperation ist nicht durch eine Kooperation mit einzelnen der westeuropäischen Staaten zu erfüllen, sondern erfordert die Partnerschaft der Gemeinschaft selbst.Die Leistungsfähigkeit der westeuropäischen Staaten gegenüber den osteuropäischen Staaten wird durch Fortschritte auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Intregration Westeuropas ständig weiter erhöht. Deshalb entspricht diese verstärkte wirtschaftliche Integration am Ende den Interessen aller europäischen Staaten, gleichgültig, welche Gesellschafts- und Staatsordnung sie haben. Bemühungen um verstärkte Integration im Westen und Entspannungsbemühungen gegenüber dem Osten gehören eng zusammen. Man kann sie nicht gesondert betrachten, sondern muß davon ausgehen, daß sie sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. Wir dürfen feststellen — das ergibt sich aus dem hier Vorgetragenen —, daß die Aktionen unserer Westpolitik mit den Fortschritten in der Ostpolitik Hand in Hand gegangen sind.Gestatten Sie mir, daß ich bei dieser Gelegenheit noch kurz an die fünfziger Jahre erinnere. Heute morgen ist wohl in einer Wendung mißverstanden worden, welche Motivation hier vorlag. Damals waren die Einigungsbemühungen in Westeuropa wesentlich durch den Schock bestimmt, den der zweite Weltkrieg ausgelöst hatte. Nicht zuletzt aber waren diese Einigungsbemühungen durch das Gefühl einer Bedrohung aus dem Osten verstärkt worden. Das war eine Komponente, aber nicht die unwichtigste dieser Europapolitik, daß sie für eine Phase
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4292 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschder Spannungen und Konflikte formuliert war. Man tut wohl niemandem unrecht, wenn man sagt, daß es Politiker in Europa gegeben hat — oder vielleicht auch noch gibt —, die befürchtet haben, daß eine erfolgreiche Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa die westeuropäische Integration störe. Wie unzutreffend solche Überlegungen sind, erweist sich nicht zuletzt an Hand dessen, was diese Bundesregierung als Zwischenbilanz ihrer Europapolitik und ihrer Ostpolitik nach dem ersten Jahr ihrer Amtstätigkeit vorlegen kann.Die Respektierung des territorialen Status quo als Voraussetzung eines politischen Modus vivendi in Europa hat den Integrationsprozeß in Westeuropa günstig beeinflußt. Diese Politik hat ihn nach den Jahren der Stagnation wieder in Gang gebracht. In der Vergangenheit mag manchmal die Bereitschaft zur westeuropäischen Zusammenarbeit gerade dadurch eingeschränkt worden sein, daß einige der Beteiligten fürchteten, sie könnten zu sehr mit den spezifischen Problemen der Deutschen belastet werden. Die von der Bundesregierung mit Entschiedenheit unternommene Entspannungspolitik hat schon jetzt wesentlich dazu beigetragen, daß sich vorhandene psychologische Widerstände gegen einen Ausbau des europäischen Zusammenschlusses allmählich verflüchtigen.Diese unsere Ostpolitik wird nicht ohne oder gar gegen den Willen unserer westlichen Nachbarn und deren Interessen betrieben, sondern in Übereinstimmung und mit Unterstützung dieser unserer Nachbarn. Ich betone noch einmal, wir sollten die Wechselwirkungen zwischen westlicher Integration und deutscher Ostpolitik fest im Auge behalten. Es gibt Anzeichen dafür, daß die Sowjetunion selbst — darauf ist hier ebenfalls schon verwiesen worden — ihr Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft zunehmend unter dem Aspekt der hier schon genannten Interessen aller europäischen Staaten zu würdigen weiß.
— Das hat der Herr Bundeskanzler hier schon einmal ausgeführt, und Sie werden 1973 sehen, wie die Verträge geschlossen werden, Herr Dr. Marx. Ich würde hier von Ungeduld abraten. Das ist ein langer Umdenkprozeß, den viele in Europa mitgemacht haben und der nicht einseitig war.Alles was Westeuropa dank der Einigungsbewegung auf dem Wege zu einer europäischen politischen Identität hinzugewinnt, liegt letztlich im Interesse Gesamteuropas, nämlich aller europäischen Staaten und Völker. Was aber die Lösung der gesamteuropäischen Probleme fördert, das dient auch — und eben das wollen wir in diesem Hause doch wohl nicht gering schätzen — der Überwindung jener Kluft, die als Ergebnis und als Folge des zweiten Weltkrieges innerhalb Europas und ganz besonders innerhalb Deutschlands entstanden ist. Mit der europäischen Einigungspolitik tragen wir dazu bei, die Konfrontation in ganz Europa abzubauen, das Zusammenleben in Europa und in Deutschland erträglicher zu machen. Politik für Europa ist deshalbauch und nicht zuletzt Politik für die Deutschen,weil sie den Weg ebnet, der vom Gegeneinanderzum Nebeneinander, zum Miteinander führen soll.Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen die Ratifizierung der vorgelegten Europagesetze.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Bülow.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich im Namen der SPD-Fraktion noch einige Anmerkungen zu dem vortrage, was hier vorhin gesagt worden ist. Ich werde mich in Anbetracht der Tatsache, daß die Zeit fortgeschritten ist und ein Großteil der Mitglieder des Hauses bereits abwesend ist, kurz halten, wobei ich allerdings nicht annehme, daß das mangelnde Interesse der Union an Europa dadurch dokumentiert wird, daß weniger als die Hälfte ihrer Kanzlerkandidaten hier heute anwesend ist.
— Beruhigen Sie sich bitte.Ich spreche hier als Mitglied des Haushaltsausschusses. Man pflegt ja manchmal gemeinhin nach einem billigen Klischee in gute und schlechte Europäer einzuteilen: die „guten" sind diejenigen, die an Europa denken, aber weniger an das Geld, und die „schlechten" Europäer sind Leute, die im Finanz-und Haushaltsausschuß sitzen und profanerweise etwas an das Geld denken. Ich glaube, daß diese Unterscheidung für die Fraktion in diesem Hohen Hause nicht gültig sein kann. Wir alle wollen versuchen, dieses Europa zu bauen, nur müssen wir versuchen, dies mit dem Augenmaß des Maurers, mit seinem Sinn für Proportionen, mit seinem Sinn für Standfestigkeit, für Statik zu tun.Der deutsche Finanzbeitrag darf nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt erörtert werden: Was zahlt die Bundesrepublik, und was springt für sie heraus? Eine solche Rechnung ist außerordentlich kompliziert. Sie setzte voraus, daß wir einmal untersuchten: Was bringt es für das Bruttosozialprodukt dieses Landes, daß es dieses Europa immer noch in dem bisherigen mangelhaften Zustand gibt? Vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Bemerkungen zu verstehen.Es hat Fortschritte gegeben, die durch diese neuen Gesetze eingeleitet worden sind und eingeleitet werden. Die Finanzverfassung der EWG ist auf eine solide Basis gestellt worden. Die EWG erhält ihre eigenen von der Haltung der nationalen Parlamente und Regierungen unbeeinflußten Einnahmen, sie erhält einen erheblichen finanziellen Spielraum, der sich auch noch dynamisch dem wachsenden Einkommen, dem wachsenden Wohlstand in diesem Europa anpaßt.Was das Wichtigste ist, der schwere Felsblock vor dem Tor zu den Beitrittsverhandlungen mit
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4293
Dr. von BülowGroßbritannien und den anderen beitrittswilligen Staaten, nämlich die Festlegung der Finanzierungsbedingungen, wurde zu erträglichen. Bedingungen beseitigt. Das Kleineuropa der Sechs kann sich zu einem in der Waagschale der Mächtigen wichtigen Bundesstaat weiterentwickeln. Ich hoffe, daß Großbritannien seinerseits zusammen mit den anderen Staaten das Zaudern überwindet und nach einer Reihe von Verhandlungen, die möglichst zügig ablaufen sollten, beitreten kann.Schließlich erhält das Europäische Parlament zum erstenmal echte Haushaltsbefugnisse, die zugegebenermaßen immer noch beschränkt sind. Es ist aber der erste Schritt in die richtige Richtung. Weitere Schritte müssen folgen. Die Resolutionen, die dem Hause vorliegen, gehen ja in Richtung der Erweiterung der Legislativ- und Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments. Ich glaube, mehr, als hier erreicht worden ist, war zur Zeit nicht herauszuholen, denn wir sind auf den Gleichklang aller Partnerstaaten angewiesen.Die Schritte auf die europäische Wirtschafts- und Währungsunion hin sind bereits eingeleitet und konkretisiert, und — was nicht zu vergessen ist — bei den Verhandlungen wurde auch das Interesse der Bundesrepublik, das auf eine Begrenzung des finanziellen Engagements hingeht, weitgehend gewahrt.Ich möchte hier vor einem Ausspruch warnen, der vorhin vom Abgeordneten Dr. Wagner getan wurde. Er sagte, wir hätten angesichts unserer Finanzkraft,) angesichts des Interesses der anderen an unserem Geld mehr herausholen können. Ich glaube, daß es gleichermaßen gefährlich ist, mit dem militärischen wie mit dem geldlichen Säbel zu rasseln.
Ich meine, das Mißtrauen in der Welt gegenüber Deutschland beruht wesentlich darauf, daß wir dieses Rasseln nicht unterlassen können. Die Regierung war meiner Ansicht nach sehr gut beraten, hier in dieser Weise zu verfahren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wagner?
Aber gerne!
Herr Kollege von Bülow, glauben Sie also, daß es gefährlich ist, wenn eine deutsche Bundesregierung in Brüssel ihren Partnern sagt, daß zu einem bestimmten Maß an Haushaltsintegration auch ein bestimmtes Maß an sonstiger Integration gehört und daß wir finanzielle Lasten für Europa durchaus zu erbringen bereit sind, dies aber gegenüber dem deutschen Steuerzahler nur verantworten können, wenn alles andere damit übereinstimmt, weil dies zwei Seiten einer
Medaille sind? Glauben Sie, daß eine Rede, so gehalten, gefährlich wäre für Europa?
Es ist zweifellos von der Regierung versucht worden, die Rechte des Europäischen Parlaments umfassender zu gestalten. Aber wir wissen genau — auch Sie wissen es; man braucht dafür nicht einmal besondere Informationen, sondern muß nur die Presse des westlichen Auslandes lesen —, daß dagegen Widerstände bestehen.
Und man muß eben ein Augenmaß auch für Widerstände haben, um sie auf die Dauer überwinden zu können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Ja, gern!
Herr von Bülow, können Sie die Opposition daran erinnern, daß uns eine entsprechende Politik des Säbelrasselns in Europa 1965/66 schon einmal eine lange Phase einer echten europäischen Krise beschert hat und daß wir aus dieser Phase wirklich gelernt haben sollten?
Sie können das „Säbelrasseln" durch das „Rasseln mit dem Geldsack" ersetzen.
Ich gehöre erst seit einem Jahre diesem Hohen Hause an, bin aber der Meinung, daß ein Teil der Schwierigkeiten, die sich 1965 vor Europa auftürmten, damit in Zusammenhang zu bringen war.Wir haben drei Phasen der Finanzierung vor uns, von denen uns nur die letzte Schwierigkeiten bereitet. Von 1971 bis 1974 haben wir eine Begrenzung des Volumens der Ausgaben von unserer Seite auf rund 32,9 %. Wir haben von 1975 bis 1977 eine Übergangsphase, in der die Finanzierung langsam mehr oder weniger in eine direkte Relation zum Bruttosozialprodukt kommt. Wir haben schließlich ab 1978 über die Mehrwertsteuerregelung mehr oder weniger eine direkte Verbindung zum Bruttosozialprodukt. Dies ist im Grunde Ausfluß des Prinzips, daß finanzielle Lasten in einem Bundesstaat nach der Leistungsfähigkeit zu verteilen sind. Ich meine, daß es geradezu ein Vorteil für die Bundesrepublik gewesen ist, daß wir diese Phase sogar bis 1978 haben hinausschieben können. Das muß man sehen, wenn man die Dinge gerecht beurteilen will.
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4294 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. von BülowIch habe in einem früheren Beitrag bereits darauf hingewiesen, daß die Einnahmeseite und die Ausgabeseite beim Europäischen Parlament zwei Paar Stiefel sind. Auf der Einnahmeseite kann man sich auf die Dauer der Forderung nicht entziehen, die finanziellen Lasten nach der Leistungsfähigkeit einzuteilen. Die Schwierigkeit, vor der wir stehen — das betone ich noch einmal —, bezieht sich auf die Ausgabeseite, auf die europäischen Marktordnungen. Es ist eben ein Unterschied, ob man mit 30, mit 36 oder mit 37 0/o an einem europäischen Butterberg beteiligt ist oder ob dieser Butterberg nicht vorhanden ist. Das ist das Entscheidende, und unsere Aufgabe muß es einfach sein, im Bereich der Marktordnungen zu vernünftigen Regelungen zu kommen, die diese Überschüsse beseitigen.Herr Dr. Wagner hat der Regierung vorgeworfen, sie habe mit versteckten Karten gespielt, sie habe für die Zeit ab 1975 kein Zahlenmaterial veröffentlicht. Darüber kann man tatsächlich streiten. Auf der anderen Seite muß man zugeben, daß Berechnungen für die Zeit ab 1975 schwer anzustellen sind. Es liegen Modellrechnungen vor, die vom Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik und ihrem Anteil an den Agrarabschöpfungen und an den Zöllen ausgehen. Inzwischen hat es einen Meinungsaustausch mit den Briten über diese Frage gegeben. Die Kommission hat sich damit beschäftigt, und sie hat erneut bestätigt, daß konkretes und genaues Zahlenmaterial letztlich nicht erarbeitet werden kann.Man kann' diese Finanzregelung natürlich kritisieren. Sie hat aber, glaube ich, einen großen Vorteil, weil sie eine dynamische Finanzierungsbasis gewährt und gleichzeitig eine Einkommensobergrenze für die EWG festsetzt.Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich glaube, daß das, was jetzt erreicht ist, ein wichtiger Teilschritt — nach den Erfahrungen der letzten Jahre kann es sich ja nur um Teilschritte handeln — auf die Vereinigten Staaten von Europa hin ist. Es ist ein Verhandlungserfolg der Regierung, daß es gelungen ist, so weit zu kommen, — zugegebenermaßen auf dem Hintergrund anderer Verhältnisse; aber die Gelegenheiten, die sich in dieser Situation boten, wurden wahrgenommen. Das Schiff der EWG-Länder und der beitrittswilligen Staaten ist flottgemacht. Dabei sind die deutschen Interessen in dem notwendigen Maße gewahrt worden.
Ganz gewiß sind weitere Schritte notwendig. Die Resolution des Haushalts- und Finanzausschusses und der Entschließungsentwurf der Fraktionen der SPD und FDP weisen den Weg. Wir müssen zur Direktwahl des Europäischen Parlaments kommen. Dem Europäischen Parlament müssen Legislativ- und Haushaltsbefugnisse übertragen werden. Es müssen weitere Schritte zur Stärkung der europäischen Institutionen und zur politischen Zusammenarbeit unternommen werden. Aber, wie gesagt, wir können hier nur Schritt für Schritt vorgehen. Alles auf einmal zu wollen bedeutet alles in Frage stellen.
Das Wort hat der Bundesminister Schiller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier in der Debatte wurde — insbesondere von Herrn Kollegen Barzel — auf die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsunion und politischer Union Bezug genommen. Meine Damen und Herren, ich möchte mit einigen wenigen Worten beweisen, daß der Bericht der Werner-Gruppe zur Wirtschafts- und Währungsunion in viel größerem Umfang bereits starke Elemente der politischen Einigung enthält, als hier angenommen wurde.
Dieser Stufenplan zeigt an einigen konkreten Stellen, wie Wirtschaftsunion und politische Union miteinander verschränkt sind. Das sollte man berücksichtigen, wenn man hier — besonders Herr Barzel hat das getan — von einem gesonderten Plan oder Stufenplan zur politischen Union spricht. Wenn man das andere nicht sieht, käme man, Herr Barzel, sehr leicht zu einer Planung im luftleeren Raum.
— Ich komme gleich auf diese Punkte zu sprechen, um Ihnen aufzuzeigen, was in dem Bericht schon gesagt ist.Herr Barzel, Sie haben gesagt: Mehr Taten als Worte! Der Werner-Bericht ist eine Tat, an der diese Regierung beteiligt ist.
Wir sollten miteinander alles tun, um zu erreichen, daß diese Tat ab 1. Januar 1971 ihre weiteren Früchte trägt.Die Gedankenführung dieses Stufenplans zur Wirtschafts- und Währungsunion ist sehr logisch. Sie läßt sich wie folgt formulieren: die Währungsunion allein, d. h. für sich und abstrakt, würde bei divergierender Politik in der Gemeinschaft und in den einzelnen Mitgliedstaaten gesprengt werden. Also gehört zur Währungsunion das solide Fundament einer wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Harmonisierung. Zu dieser wirtschaftspolitischen Harmonisierung gehört die in den Bericht eingebaute Bereitschaft zu Fortschritten zur politischen Zusammenarbeit und zum Ausbau der Institutionen mit parlamentarischer Kontrolle.Ich glaube, am wichtigsten ist in dieser Beziehung die sehr genau skizzierte mittlere Phase oder die Reihe der mittleren Stufen. Das ist jene Phase, die ich in den Verhandlungen als die Stufe der Transformation beschrieben habe, in der Befugnisse auf Gemeinschaftsorgane, die ihrerseits ausgebaut werden, übertragen werden. Da wird vom Übergang zu verbindlichen Richtlinien und Entscheidungen in der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik und vom Ausbau der Institutionen gesprochen.
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Bundesminister Dr. SchillerWas die parlamentarische Verantwortung betrifft, so ist der Bericht sehr deutlich; und wir, die Vertreter der Bundesrepublik, haben in dieser Gruppe Wert darauf gelegt, daß folgendes in diesen Bericht eingebaut wird und gerade über diese mittlere Stufe und den Übergang zur Endstufe zwingend ausgesagt wird:Mit dem Übergang von Befugnissen, die bisher von nationalen Instanzen ausgeübt wurden, auf die Gemeinschaftsebene wird gleichzeitig auch eine entsprechende parlamentarische Verantwortung von der nationalen Ebene auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden müssen. Das wirtschaftspolitische Entscheidungsgremium muß einem Europäischen Parlament gegenüber politisch verantwortlich sein. Dieses Parlament wird nicht nur hinsichtlich des Umfangs seiner Befugnisse, sondern auch hinsichtlich des Wahlmodus seiner Mitglieder einen der Erweiterung der Gemeinschaftsaufgaben entsprechenden Status erhalten müssen.Das ist ein Kernsatz aus dem Werner-Bericht. Ohne diesen Kernsatz funktioniert der Stufenplan nicht. Da ist das schon enthalten, meine Damen und Herren.Ein Weiteres. Der Bericht der Werner-Gruppe sagt: Erstens: Parallelität zwischen den monetären und den wirtschaftspolitischen Fortschritten, aber zweitens Parallelität zwischen den schrittweisen Verzicht auf nationale Autonomie und dem gleichzeitigen Aufbau gemeinschaftlicher Befugnisse,
drittens — alles schon dort festgehalten — Parallelität zwischen dem Aufbau gemeinschaftlicher Entscheidungsorgane und dem Ausbau der parlamentarischen Kontrolle auf Gemeinschaftsebene. Das ist alles dort eingebaut. Und viertens — das ist in diesem Zusammenhang für uns außerordentlich wichtig gewesen, und die Formulierung ides von mir gleich zu zitierenden Satzes bringt ganz deutlich die deutsche Handschrift zum Ausdruck — heißt es dort:Diese Übertragung von Befugnissen ist ein Vorgang von grundlegender politischer Bedeutung, der eine progressive Entwicklung der politischen Zusammenarbeit voraussetzt. Die Wirtschafts- und Währungsunion erscheint somit— das ist, glaube ich, ein guter Vergleich im Bericht der Werner-Gruppe —als ein Ferment für 'die Entwicklung der politischen Union, ohne die sie auf die Dauer nicht bestehen kann.Entwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion als ein Ferment zur politischen Union, das ist das Entscheidende, meine Damen und Herren. Hier wird in diesem Bericht gesagt, daß die Entwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion und die zur politischen Union in immannenter Wechselwirkung zueinander stehen.
Herr Bundesminister, Sie gestatten die Zwischenfrage des Abgeordneten Blumenfeld?
Herr Bundesminister, darf ich also aus Ihren Worten schließen, die Sie im Zitat vorgetragen haben, daß die Bundesregierung und Sie selbst als verantwortlicher Minister darauf dringen werden, daß dieses Papier der Werner-Gruppe nicht verwässert wird, weder durch Bestrebungen der Kommission noch durch irgendeine der anderen Regierungen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann auf diese Frage des Herrn Kollegen Blumenfeld mit einem klaren Ja antworten.
Herr Bundesminister gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von und zu Guttenberg?
Herr Bundesminister, nachdem Sie sagen, daß zwischen dem Werner-Plan und dem Fortschritt zur politischen Union eine Wechselwirkung bestehe — eine Sache, die auch wir bejahen —, möchte ich die Frage an Sie richten, ob es dann nicht logisch wäre, die Anregung des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU aufzugreifen, auch für die politische Union an die Erarbeitung eines solchen Stufenplans heranzugehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr von Guttenberg, ich darf dazu folgendes sagen. Ich habe versucht, nachzuweisen, daß der Stufenplan zur Wirtschafts- und Währungsunion hin schon Elemente der politischen Union enthält. Das halte ich für den richtigen und realistischen Weg. Ich bin der Meinung, die politische Union wird nicht geschaffen durch einen davon separierten Plan oder Stufenplan, die politische Union wird nicht geschaffen in der Retorte. Das halte ich für keinen richtigen Weg. Nach meiner Ansicht kann — und das ist das Konzept, das hier niedergelegt ist — die politische Union nur wachsen auf dem Mutterboden der Wirtschaftsgemeinschaft, nur wachsen — Herr Moersch hat das vorhin schon angedeutet — auf der zunehmenden Konvergenz der materiellen Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten. Das ist ein ganz wichtiges Ferment für die politische Union.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wagner?
Herr Bundesminister, glauben Sie nicht, daß diese Erwartung oder Hoffnung, aus dem Mutterboden der immer engeren wirtschaftlichen Einigung werde die politische Einigung erwachsen, eigentlich durch die Erfahrungen der Vergangenheit nicht bestätigt wird? Sind Sie nicht der Auffassung, daß zwar die wirt-
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Dr. Wagner
schaftliche Einigung die Voraussetzungen für die politische Union verbessert, daß aber zur Herbeiführung der politischen Union eigene politische Willensakte ergehen und eigene politische Entscheidungen getroffen werden müssen, die dann sehr wohl die Form eines Stufenplans, wie heute von Herrn Dr. Barzel skizziert, annehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie hätten recht, wenn diese Wirtschafts- und Währungsunion, Herr Kollege, eine Sache wäre, die im ökonomischen Bereich automatisch abliefe. Davon kann aber keine Rede sein. Dieser Plan ist so aufgebaut, daß von Stufe zu Stufe neu entschieden wird, und zwar politisch entschieden wird, über die Erfahrungen und über das — das ist alles in dem Bericht gesagt —, was an politischen Voraussetzungen installiert werden muß oder schon installiert worden ist, z. B. Ausbau der parlamentarischen Kontrolle, Übertragung politischer Befugnisse von nationalen Instanzen auf gemeinschaftliche Instanzen. Das wird für den Übergang von Stufe zu Stufe, besonders bei dem wichtigen Übergang von der ersten Stufe in die zweite, klar als Conditio gesagt. Diesmal kann es nicht passieren — so ist der Plan angelegt , daß es ein rein ökonomisches Fortschreiten gibt und daß daneben die Politik auf der Strecke bleibt. Diesmal ist das so eng verknüpft, konditionell verknüpft an den entscheidenden Stellen, daß die Politik mitkommt. Das ist der Unterschied zum Bisherigen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von und zu Guttenberg?
Herr Bundesminister, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß unsere Frage sich nicht etwa darauf bezieht, daß der Werner-Plan keine politischen Entwicklungen und Konsequenzen in sich schlösse
— wir wissen so gut wie Sie, daß hier nicht Wirtschaft und Ökonomie, sondern politische Bedingungen für die Wirtschaft integriert werden sollen — —
Herr Kollege, das Fragezeichen muß aber bald hörbar sein.
— — und würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß unsere Frage lautet, ob nicht dem Werner-Plan, der europäische Innenpolitik zum Inhalt hat, ein Stufenplan zur stufenweisen Erreichung gemeinsamer europäischer Außenpolitik zugesellt werden sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lieber Herr von Guttenberg, dieser Plan der Arbeitsgruppe, die unter dem Vorsitz von Ministerpräsident Werner den Bericht vorgelegt hat, ist nicht ein Plan der europäischen Innenpolitik allein, sondern er wendet sich auch an die Außenwelt. Er sagt implicite sehr viel aus bei Währungspolitik versteht sich das von selbst — über die ökonomischen Beziehungen dieser unierten Gemeinschaft nach außen.
— Nun komme ich Ihnen schon näher, indem ich sage: nachdem die Außenminister jetzt mit den Konsultationsbeschlüssen die ersten Schritte getan haben, was hindert sie in ihrer gemeinsamen Beratung daran, an einem bestimmten Punkte, wenn wir auf den Gebieten der Wirtschafts- und Währungsunion weitergekommen sind, auch ihrerseits entsprechende außenpolitische Elemente dazuzutun? Wogegen ich mich sträube ist, daß Sie hier den gesonderten Automatismus eines Stufenplans zur politischen Union hin konstruieren wollen. Ich bin der Meinung, dieser Werner-Bericht zeigt den besseren Weg. Eine politische Union, die nicht aus der materiellen Union der ökonomischen Interessen wächst, würde als zartes Pflänzchen verdorren. Ein Plan zur politischen Union, der nicht jeweils auf Fortschritten basiert sinnvoll könnte nämlich dieser Plan immer erst bei jeder Stufe für die nächste entwickelt werden —, ein solcher gesonderter Stufenplan für die Politik als solche, lieber Herr von Guttenberg, würde nach meiner Ansicht Papier bleiben, weil er nicht, so wie es hier geschehen ist, eng verknüpft wäre mit dem Zusammenwachsen der ökonomischen, finanziellen und monetären Interessen der Gemeinschaft. Das scheint mir der realistische Weg zu sein, der Weg, den man früher auch versucht hat zu gehen, der diesmal jedoch sehr viel enger und deutlicher verknüpft ist mit pragmatischen, von Stufe zu Stufe notwendigen Schritten hin zur politischen Union. Daneben brauchen Sie nicht noch eine Blaupause für einen Stufenplan in der Außenpolitik.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, Herrn von Guttenberg auch darauf aufmerksam zu machen, daß ein Stufenplan ja vorhanden ist, indem das, was an politischer Zusammenarbeit beschlossen worden ist, nach zwei Jahren revidiert wird und insofern jetzt eine erste Stufe da ist, der eine zweite Stufe folgen wird, die dann vieles von dem mit einbeziehen kann, was Sie, Herr Bundesminister, soeben erwähnt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich mache Herrn von Guttenberg gern darauf aufmerksam. Im übrigen sage ich noch einmal: dieser Approach — um es einmal so zu sagen —, dieser Versuch der neuen Verknüpfung von ökonomischer und währungsmäßiger Union mit politischen Schrit-
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Bundesminister Dr. Schillerten ist auch insofern gut, als er dem jeweiligen Mitgliedsland die Möglichkeit gibt, bestimmte eigene ökonomische Bedingungen als erfüllt oder als nicht erfüllt anzusehen und damit auch politisch entsprechend zu agieren. Ich will Ihnen nur eines nennen, was wir immer wieder in die Waagschale werfen müssen: Wenn beim Übergang von der ersten zur zweiten Stufe das ökonomische Ziel der Stabilität, das wir wollen, nicht erreicht ist, können wir auch politisch in dieser Lage nicht viel tun. Wir müßten dann erst einmal sehen, daß auf dem Gebiet der Stabilität mehr geschieht. Dieses Verfahren dient der Wahrung unserer eigenen Interessen und dient besonders dem von uns angestrebten Ziel: Stabilität und Wachstum auch in der Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Blumenfeld.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie wir in unserem Entschließungsantrag zu dem Zustimmungsgesetz, der im übrigen schon von meinem Kollegen Dr. Wagner begründet worden ist, zum Ausdruck gebracht haben, begrüßen wir die stufenweise Übertragung der Finanzautonomie auf die Europäische Gemeinschaft. Unsere Zustimmung beruht auf der klaren Vorstellung von dem, was jetzt in Europa getan werden mull. Für uns hat nämlich dieser Zusammenschluß neben vielen anderen Begründungen eine grundlegende Bedeutung. Er kann und darf nicht der puren Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedensordnung zur Disposition gestellt werden. Denn dieser unser europäischer Zusammenschluß ist ja selbst eine Art Verwirklichung der Friedensordnung, wie wir sie uns vorstellen, allerdings in dem Teil Europas das darf man hier wohl anmerken —, an dessen Grenzen eben nicht geschossen wird und in dem die Freiheit garantiert ist.
Deswegen fordern wir auch immer wieder die Bundesregierung auf, die westeuropäische Einigung und deren Erweiterung, wie sie jetzt vorgenommen wird, als das unverrückbare Fundament für die anvisierte gesamteuropäische Konstruktion aufzufassen, sich auch entsprechend zu äußern und sich vor allen Dingen entsprechend zu verhalten.
Meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, Sie halten uns manchmal entgegen — jedenfalls haben Sie das in der Diskussion der vergangenen Monate getan —, daß man abwarten müsse, ob sich nicht in der Zukunft geeignetere Modelle für eine Organisierung der europäischen Zusammenarbeit und einer europäischen Friedensordnung finden ließen. Liegt in einer solchen Haltung, die sich in ihrer Zielansprache von eventuellen zukünftigen politischen Entwicklungen abhängig macht, nicht ein Verzicht auf die politische Zielsetzung, die wir doch alle gemeinsam haben sollten?
Mir scheint, daß in einer solchen Einstellung etwas zuviel Pragmatismus enthalten ist.
— Natürlich sehen auch wir die Möglichkeit, Herr Dr. Apel, daß im Laufe der Zeit neue Kooperations-
und neue Vergemeinschaftungsmodelle verfügbar werden. Wenn wir von einem europäischen Bundesstaat sprechen, meinen wir damit nicht, daß sich die Organisation Europas in der bloßen Nachahmung bekannter Föderationen nationalstaatlichen Typs erschöpfen sollte.
Herr Abgeordneter Blumenfeld, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Dr. Apel?
Ja, ich gestatte sie gern.
Herr Kollege Blumenfeld, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die sozialliberale Koalition immer wieder und mit allem Nachdruck unterstrichen hat, daß die westeuropäische Integration mit dem Ziel einer westeuropäischen Föderation überhaupt nicht zur Debatte steht? Das ist das erklärte Ziel dieser sozial-liberalen Koalition. Wenn wir über Kooperationsformen sprechen, wie Sie es soeben getan haben, betrifft das nur das Verhältnis zwischen Ost- und Westeuropa. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und hier einen genauen Unterschied zu machen, damit wir sauber diskutieren können?
Herr Apel, ich freue mich darüber, daß Sie jetzt diesen Beitrag geliefert haben; denn bislang ist diese Form einer klaren Abtrennung in den Ausführungen Ihrer verschiedenen Redner nicht zum Ausdruck gekommen.
Das möchte ich hier einmal ganz klar feststellen.
— Ich freue mich darüber, daß Sie heute Gelegenheit genommen haben,
das hier undifferenziert zu sagen.
Meine Damen und Herren, unser Ziel und unsere Forderung entstammen eben auch nicht irgendeiner intellektuellen Spielerei, sondern wir meinen, daß wir zu dieser Feststellung gezwungen und berechtigt sind gegen den ernsten Hintergrund der politischen Lage in Europa. Sie ist nämlich heute entgegen den Versicherungen — das ist meine Auffassung —, die wir heute wieder aus dem Munde der Vertreter der Bundesregierung gehört haben, durch die neue
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BlumenfeldStrategie der sowjetischen Europapolitik bedrohter als noch vor einem Jahr.
Wir müssen doch leider als Tatsache verzeichnen, daß diese gefährlichen Tendenzen der sowjetischen Europapolitik durch die für mich unverständliche und für die deutsche und europäische Sache schädliche Hast, mit der die Bundesregierung ihre Ostpolitik betreibt, in hohem Maße gefördert werden. Das Instrument dieser sowjetischen Politik ist die propagierte europäische Sicherheitskonferenz. Mit ihr versucht nämlich die Sowjetunion eine Alternative — Herr Dr. Apel, ich hoffe, Sie stimmen mir zu — zur westeuropäischen Integration aufzubauen. Sie erhofft sich dadurch, daß sie die Vision einer gesamteuropäischen Ordnung schmackhaft macht, um die Energie und das Engagement der Westeuropäer von der europäischen Gemeinschaft abzulenken. Ihr Ziel ist dabei, die westeuropäische Integration zum Stillstand zu bringen und die Bindungen Westeuropas an die Vereinigten Staaten zu lockern, um schließlich ihren eigenen Einfluß und ihre eigenen Einflußmöglichkeiten nach Westeuropa auszudehnen.Herr Dr. Apel, bevor ich Ihnen gern die Frage gestatte, nur noch ein Wort an Sie und zu dem, was Sie uns vorhin hier erzählt haben von einem christdemokratischen Berichterstatter des Politischen Ausschusses des Europäischen Parlaments, von dem ich hoffe, daß Sie ihn für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen werden. Herr Dr. Apel, es ist schade, daß Sie nicht vor wenigen Wochen dabei waren, als eine Bundestagsparlamentariergruppe zwei Tage lang in Rom mit italienischen Parlamentariern diskutierte — von Ihrer Fraktion waren ebensoviel Kollegen dabei wie von der meinen —; dann hätten Sie nämlich gemerkt und gewußt, daß die Sorge der italienischen Parlamentarier quer durch die Parteien, von den CDU-Leuten bis zu den verschiedenen sozialistischen Gruppen, um einen Kernpunkt herum sich bewegte: Das war die Sorge um die Entwicklung, die in der Ostpolitik jetzt in Bewegung gebracht worden ist, im Hinblick auf die europäische Einigung. Genau die Sorge, die ich jetzt hier zum Ausdruck gebracht habe, ist in den Äußerungen der italienischen Kollegen sehr deutlich geworden.
Bitte schön, Herr Dr. Apel!
Herr Kollege Blumenfeld, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Herr Bundeskanzler in der Fernsehansprache, die aus Moskau in die deutschen Netze überspielt wurde, vor der Unterzeichnung des Vertrages festgestellt hat — ich zitiere wörtlich —:
Der Vertrag beeinträchtigt in keiner Weise die feste Verankerung der Bundesrepublik und ihrer freien Gesellschaft im Bündnis des Westens. Es bleibt auch bei dem Willen, immer mehr Staaten Europas mit dem Ziel einer politischen Gemeinschaft immer enger aneinanderzubinden.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, und sind Sie damit auch bereit, endlich zu unterscheiden zwischen dem. was sowjetische Aussage ist, und erklärter Politik dieser Bundesregierung?
Ich bin gern bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was der Bundeskanzler in der Fernsehansprache gesagt hat. Ich stelle das genauso wie Sie fest; das ist ja nichts Neues. Nur, Herr Apel: Sie wollen eben nicht zur Kenntnis nehmen, daß in der Erarbeitung einer Politik, die diese riesigen Gefahren beinhaltet, es nun wirklich auch darauf ankommt, zunächst einmal auf einem gesicherten Fundament gemeinsame europäische Ostpolitik zu machen, und nicht Alleingänge.
Herr Abgeordneter Blumenfeld, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner?
Ja, wenn Sie dann auch so gütig sind, Herr Präsident, das ein bißchen abzuziehen von den wenigen Minuten, die ich noch habe. Das wäre Toleranz am Freitagnachmittag.
Ja, ja. Ich hoffe, daß auch die Redner mit dem Haus Toleranz üben, dann sind wir alle zufrieden. Bitte!
Herr Blumenfeld, würden Sie dann vielleicht Herrn Dr. Apel darauf hinweisen, daß die Diskussion in der Bundesrepublik natürlich an Klarheit gewinnen würde und daß viele Sorgen zerstreut wären, wenn eben nicht gewisse Äußerungen führender Vertreter der Regierungskoalition zuweilen diese Zweifel rechtfertigen, wie etwa das Kommuniqué des Bundesvorstandes der SPD, in dem davon die Rede ist, daß die Sowjetunion an jeder Veränderung von Grenzen in Europa durch Verhandlungen zu beteiligen ist? Das mag so oder so gemeint sein. Aber meinen Sie nicht, daß es der Klarheit dienen würde, wenn solche Äußerungen unmißverständlich formuliert wären?
Ich würde Ihnen voll zupflichten.
Herr Abgeordneter Blumenfeld, würden Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel gestatten?
Schönen Dank, Herr Blumenfeld, obwohl ich mit Heizölheizung keine Kohlen mehr verwende, aber immerhin.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4299
Dr. ApelHerr Blumenfeld, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das von Herrn Wagner zitierte Kommuniqué in dem Abschnitt, über den hier gesprochen wird, sich ausdrücklich über Ostpolitik äußert und hier in der Tat natürlich die Mitwirkung der Sowjetunion bei Grenzveränderungen erforderlich ist, daß dieses Kommuniqué aber insbesondere abhebt auf die Rede des Herrn Bundeskanzlers vom 3. September, in der er die Passage verwendet hat, die ich Ihnen eben vorgelesen habe, und insofern vielleicht die journalistische Fassung dieses Kommuniqués nicht ganz glücklich ist, woraus aber nicht hergeleitet werden kann, daß Sozialdemokraten ihre Politik in dieser Frage geändert haben?
Herr Kollege Dr. Apel, ich bin erst bereit, Dinge Ihnen hier protokollmäßig zu bestätigen, wenn ich sie auch richtig gelesen habe; meine Zeit erlaubt es leider nicht, jedes Kommuniqué des sozialdemokratischen Bundesvorstands zu lesen, so wichtig das im einzelnen auch sein mag.
Aber darf ich in meinen Gedanken weiter fortfahren? — Es entspricht doch einfach nicht den Tatsachen, wenn die Bundesregierung behauptet, daß die Sowjetunion die Europäische Gemeinschaft nun endlich anerkenne und bereit sei, in ein vernünftiges Kooperationsverhältnis mit ihr zu treten. Der Bundeskanzler hat heute früh diesen Gedanken noch einmal aufgenommen und hat gesagt, er habe aus seinen Gesprächen in Moskau diesen Eindruck mitbekommen, und er hat damit praktisch das, was ich eben gerade sagte, noch einmal unterstrichen. Tatsache ist doch vielmehr, daß die Sowjetunion versucht, durch schmackhafte Angebote an einzelne Mitglieder der Gemeinschaft oder an Länder, die ihr beitreten wollen, die Gemeinschaft auseinanderzudividieren.
Es ist bezeichnend, Herr Dr. Apel, daß diese bilateralen Angebote zu einem Zeitpunkt kommen, zu dem auch für die größten Skeptiker der europäischen Einigung und Integration klar wurde, daß durch den Beginn der Beitrittsverhandlungen, durch den Plan einer Wirtschafts- und Währungsunion, durch die Ausstattung der Gemeinschaft mit eigenen Mitteln und durch die verbindliche Festlegung des Termins für eine gemeinschaftliche Außenhandelspolitik nun wirklich die Europäische Gemeinschaft sich auf dem Wege zu einer engeren politischen, zu einer einheitlichen organisatorischen Lösung befindet. Diese Entwicklung, die auch wir, genau wie Sie, für notwendig halten, will die Sowjetunion aufhalten. Und die Sowjetunion argumentiert — und das wissen wir nicht erst, seitdem Herr Schukow vor einigen Wochen in Bonn war —, daß die Europäische Gemeinschaft ein Hemmnis ist für die Überwindung der Teilung Europas.
Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich ein paar Sätze aus der „Tribuna Ludu" zitieren dürfen, die kürzlich erschienen sind. Dort heißt es:
Zu einem Zeitpunkt, da in ganz Europa eine starke Tendenz zur Einigung des Kontinents besteht, da die Initiative der sozialistischen Länder zur Schaffung eines gesamteuropäischen Systems der Sicherheit und der umfassenden Zusammenarbeit breite Anerkennung gewinnt, würde die Förderung einer in sich geschlossenen Organisation, wie es die EWG ist, die Teilung Europas nur verstärken und die Annäherung zwischen Ost und West in einer Hinsicht blockieren, gemeinsame europäische Aktionen behindern und die praktische Verwirklichung der Idee der friedlichen Koexistenz erschweren.
Das ist ein Zitat aus der „Tribuna Ludu", und es lassen sich noch eine ganze Reihe weiterer Zitate hier auf den Tisch legen; ich will das nicht tun. Ich meine nur, um dieser klar erkannten Gefahr zu begegnen — und ich hoffe, sie ist von Ihnen völlig klar erkannt, Herr Apel —, müssen wir dafür sorgen, daß die Basis unserer westlichen Politik erhalten bleibt und verstärkt wird. Dazu genügt es nicht nur — und ich sage das in diesem Hohen Hause nicht nur an die Bundesregierung gewendet, sondern an alle europäischen Regierungen —, sich europäisch zu gerieren. Die europäische Basis unserer Politik muß konsequent und effektiv ausgebaut werden. Alles, was in diesem letzten Jahr im europäischen Bereich an politischer Integration geschehen ist, bietet hierzu leider nur die Ansätze. Die Fakten stehen noch aus. Hier setzen unsere Bedenken ein.
— Herr Kollege, gestatten Sie, daß ich diesen Gedanken jetzt zu Ende entwickle; denn hier fängt das gelbe Licht schon an zu leuchten, was bedeutet, daß ich nur noch sehr wenig Zeit habe.
Ich gebe Ihnen noch einige Minuten Redezeit, nachdem Sie hier verschiedene Zwischenfragen beantwortet haben.
Gut, dann, Herr Kollege, stellen Sie die Frage!
Herr Kollege Blumenfeld, was sagen Sie in diesem Zusammenhang zu der Behauptung Ihres Fraktionskollegen Wagner, der gesagt hat, die von den Deutschen in der neuen Finanzverfassung der EWG übernommenen Verpflichtungen seien deswegen so groß, weil wir allzu deutlich den Wunsch verraten hätten, daß Großbritannien der EWG beitrete? Wenn das aber so ist, dann haben wir damit doch dokumentiert, daß wir diese Gemeinschaft des Westens durch den möglichst baldigen Beitritt Großbritanniens stärken wollen. Damit beweisen wir doch, daß wir die Westpolitik, die Integration in den Westen, sehr betont mit deutschen Finanzleistungen vorantreiben wollen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was — —
Herr Kollege Koch, ich muß bei dieser Gelegenheit
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhauseneinmal sagen, daß das Instrument der Zwischenfragenicht die Möglichkeit eines Debattenbeitrags ersetzt.
Auch ich wollte das eben sagen, Herr Präsident. Es fällt mir schwer, jetzt auf diese konkrete Frage zu antworten. Aber ich bin durchaus bereit, Herr Kollege Koch, dieses Gespräch mit Ihnen dann weiter zu führen.
Ich meine, daß wir in der Stetigkeit und der Eindeutigkeit unserer Politik für Europa einen ganz klaren Kern setzen müssen. Das ist der Kern, um den es uns geht, nämlich die politische Union. Herr Kollege Schiller hat eben davon gesprochen, daß in der Wirtschafts- und Währungsunion, in den Stufenplänen und der Basis des Werner-Berichts — der ja noch ein Plan ist und noch keine Aktion — die politische Union schon enthalten ist. Wir sehen das noch nicht so. Wir sehen zwar den Werner-Plan und begrüßen ihn — und wir würden es besonders begrüßen, wie ich vorhin in meiner Zwischenfrage dokumentiert habe, wenn er nicht verwässert würde, sondern wenn ihn die Bundesregierung durchsetzen würde —, meinen aber, daß sich die politische Union, die, wie auch Herr Kollege Moersch hier ausgeführt hat, erst in zwei Jahren weitergeführt werden soll, in ihrer Aktionsfähigkeit überhaupt noch nicht abzeichnet. Das, was wir angesichts der vor uns liegenden Zeit brauchen, ist nämlich mehr als dieses dürftige Verfahren, das sich augenblicklich aus dem Davignon-Bericht abzeichnet und das am 19. und 20. November in München ein bißchen zelebriert werden soll. Dieses muß vielmehr, wie es der Vorsitzende meiner Fraktion vorhin formuliert hat, durch entsprechende, klar definierte politische Aussagen und Anträge der Bundesregierung konkretisiert werden, damit in den kommenden zwei entscheidenden Jahren keine Unglücke passieren. Die beiden vor uns liegenden Jahre sind deswegen entscheidend, weil sie zwei Jahre des Übergangs sind, nämlich des Übergangs hinsichtlich der Erweiterung der Gemeinschaften, die eben noch nicht vollzogen ist. Die Wirtschafts- und Währungsunion befindet sich, wie Herr Kollege Schiller hier ausgeführt hat, noch in der Experimentierphase. Die institutionellen Verbesserungen der Gemeinschaft sind noch nicht voll in Kraft getreten, und die gemeinsame Außenhandelspolitik ist noch nicht in vollem Umfang zur Tatsache geworden.
In dieser Zeit, meine Damen und Herren, wird die sowjetische Europapolitik gerade effektiv. Das müssen wir heute registrieren und in den kommenden zwei Jahren sicherlich noch sehr viel stärker. Deswegen brauchen wir schon jetzt die Ausbildung des europäischen Willens und die europäische Handlungsfähigkeit. Das bedeutet, daß wir die politische Union haben müssen, sobald sie möglich ist.
— Da ist ja gerade ein Punkt, Herr Koch! Sie schieben das immer ab und sagen: Wir können uns nur auf den Minimalkoeffizienten einigen, weil die anderen es nicht wollen. Warum denn diese Schonung? Warum denn diese Zurückhaltung? In der Ostpolitik sind Sie ja auch nicht so zurückhaltend. Warum sind
Sie denn hier nicht bereit, dynamischer zu werden? Meine Damen und Herren, es würde Ihnen gut anstehen, wenn Sie in dieser Frage nun das unter Beweis stellten, was Sie bei der Regierungsübernahme angekündigt haben. Sie erklären ja, daß Sie durch Ihre Ostpolitik überhaupt erst die Westpolitik zur Integration und zur Dynamik gebracht haben. Nun beweisen Sie das doch einmal! Wir möchten auch ganz gerne die Antworten der Bundesregierung auf die Fragen, die der Fraktionsvorsitzende vorhin gestellt hat, wenn nicht heute, so mindestens im Ausschuß hören. Wir möchten wissen, wie die Bundesregierung sich die Tagesordnung der ersten Sitzung der Außenminister vorstellt, ferner, ob die Bundesregierung bereit ist, in dem Sinne, wie wir es durch den Mund unseres Fraktionsvorsitzenden vorgeschlagen haben, nunmehr sichtbar zu machen, daß sie bereit ist, sich mutig hinzustellen und auch gegen Schwierigkeiten, die uns ebenfalls bekannt sind, ihren politischen Willen zur europäischen Einigung durchzusetzen.
Ein letztes Wort! Der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß es sehr schlecht wäre, daß es von Übel wäre, wenn die Sache Europas zur Sache einer Ideologisierung gemacht würde. Wir stimmen mit ihm darin überein. Für uns ist Europa eine Sache der Vielfalt, der breiten Vielfalt der Meinungen und unserer Gesellschaftsstruktur. Es wäre gut, wenn er diese seine Auffassung auch in das Stammbuch insbesondere der Jungsozialisten seiner Partei schreiben würde.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rutschke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Blumenfeld, ich weiß nicht, ob Ihr Beitrag, den Sie hier geleistet haben, den Sinn hatte, der Bundesregierung nachzuweisen, daß sie nicht alles tut, um der europäischen Einigung jeden Impuls zu geben, der möglich ist. Wenn Sie diesen Eindruck erwecken wollten, dann tun Sie das sehr zu Unrecht. Sie persönlich sind allerdings in der Wahl Ihrer Mittel auf diesem Gebiet nicht sehr wählerisch. Denn wenn Sie hier auch aus den europäischen Gremien zitieren, denen ich ja auch angehöre, und Sie immer wieder feststellen zu müssen glauben, daß innerhalb dieser europäischen Gremien Widerstände gegen die deutsche Ostpolitik seien, so ist das schlicht und einfach unwahr.
Sie haben doch selbst erleben müssen, daß Sie eine anständige Bauchlandung machen mußten, als Sie einmal Berichterstatter sein mußten und nicht die Meinung des Ausschusses wiedergegeben haben, sondern Ihre persönliche Meinung, die eben anders aussieht als die Meinung, die die Mehrheit dort vertreten hat. Sie werden sich auch entsinnen, daß es natürlich einzelne Mitglieder in den europäischen Gremien gibt, ich denke z. B. an die von Ihnen zitierten Italiener — es sind ja praktisch nur zwei,
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Dr. Rutschkezumindest im Europarat , die eine andere Meinung über die deutsche Ostpolitik haben als die Mehrheit im Ausschuß. Nur stellen Sie das bitte nicht immer so dar, als wenn man in den europäischen Gremien Ihrer Meinung wäre! Genau das Gegenteil ist nämlich der Fall.
Herr Abgeordneter Dr. Rutschke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Blumenfeld?
Wenn Sie von einer Bauchlandung gesprochen haben, so heben Sie wahrscheinlich auf einen Bericht ab, der nicht veröffentlicht worden ist und der in Brüssel für die Nordatlantische Versammlung erstattet worden ist. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dieser Bericht keineswegs abgelehnt worden ist, sondern daß nur einzelne Passagen
dieses Berichtes, dieses Vorberichts, in dem Politischen Ausschuß auf den Widerstand der sozialdemokratischen Kollegen gestoßen sind, weil zum Zeitpunkt der Abstimmung fast nur diese dort waren, und deswegen ist so abgestimmt worden.
Herr Kollege Blumenfeld, ich glaube, auch die sozialistische Fraktion wird dann, wenn Sie die Wahrheit sagen, sicherlich zustimmen, aber in den Fällen, in denen Sie nicht die Wahrheit gesagt haben, hat sie sich dagegen gewehrt, und zwar völlig mit Recht. Mein Eindruck aus den europäischen Gremien ist der, daß Sie da klar in der Minderheit sind. Ihre Behauptungen, mit den Sie es immer so darstellen, als ob es anders sei, sind einfach nicht wahr.
— Nein, Herr Kollege Lenz, nur in der Darstellungsart sollte man etwas seriöser sein und nicht den Eindruck erwecken, als ob die große Mehrheit die deutsche Ostpolitik verdammte. Das stimmt nämlich nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall, daß sie durchaus bejaht und für vernünftig gehalten wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Klee?
Herr Rutschke, haben Sie denn nicht an der politischen Debatte des Europarates teilgenommen, um sich ein vernünftiges Urteil zu bilden, und waren Sie nicht bei der Sitzung der WEU dabei, wo man durchaus einen umgekehrten Eindruck gewinnen konnte als den, den Sie hier verkünden?
Gnädige Frau, ich war dabei, und ich hatte einen wesentlich anderen Eindruck als den, den Sie hier wiedergeben. Das scheint innerhalb Ihrer Fraktion abgesprochen zu sein, und deswegen will ich nicht näher darauf eingehen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Ostpolitik leider etwas unsere Initiativen im Rahmen der Europapolitik verdeckt hat. Es mag sein, daß die Ostpolitik natürlich etwas Neueres und Interessanteres ist als die Situation, wie sie sich auf der europäischen Ebene seit Jahren immer wieder durch verzögerliche Entwicklungen und recht erfolglose Vorstöße dokumentiert hat. Ich glaube aber nicht, daß man dieser Bundesregierung den Vorwurf machen kann, daß sie im Hinblick auf die europäische Einigung nicht jede Gelegenheit wahrgenommen hat, um diese europäische Einigung vorwärtszubringen. Sozusagen ihre erste Amtshandlung war die Haager Konferenz, wo sich die Bundesregierung mit ihrer Initiative mit gutem Erfolg durchsetzen und die stagnierende europäische Politik wieder in einen Vorwärtstrend bringen konnte.
Nun sagte Herr Kollege Barzel — ich sehe ihn leider jetzt nicht hier —, daß das durch die Änderung der Verhältnisse in Frankreich begünstigt war. Das ist sicherlich richtig. Aber zumindest hat diese Bundesregierung nicht die Fehler gemacht, die vorher gerade im Hinblick auf den Beitritt Englands gemacht worden sind, daß man, wie es Herr Bundeskanzler Kiesinger seinerzeit getan hat, nach Paris fährt und dort sehr viel Verständnis für die Haltung Frankreichs zum Ausdruck bringt und sagt: Nun ja, wir verstehen gut, daß die Franzosen die Engländer nicht in der EWG haben wollen;
und dann fährt man nach London und sagt, man habe sehr viel Verständnis dafür, daß die Engländer in die EWG eintreten wollen.
— Wenn Sie diese Veröffentlichung nicht gelesen haben, dann tut es mir leid. Sie haben offensichtlich immer für das ein sehr schlechtes Gedächtnis, was Ihnen unangenehm ist.
Herr Abgeordneter Rutschke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Guttenberg?
Herr Kollege Rutschke, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß das, was Sie eben über die Haltung des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger in Paris gesagt haben, mit der historischen Wahrheit nichts, aber auch gar nichts zu tun hat?
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4302 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Schön,
das ist Ihre Meinung; es stand jedenfalls anders zu lesen. Das ist sicher.
— Nein, nicht dort; aus den Erklärungen konnte man das entnehmen, darüber besteht gar kein Zweifel.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu den Anträgen, die uns hier zur Abstimmung vorliegen, noch einiges sagen. Die Fraktion der Freien Demokraten begrüßt die beiden Zustimmungsgesetze zur Finanzordnung der Europäischen Gemeinschaften und zur Stärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments. Wir sehen in der Annahme der beiden vorliegenden Gesetze einen wichtigen Beitrag zur weiteren politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas. Wir hoffen, daß von diesen neuen Regelungen wichtige Impulse zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion im Laufe dieses Jahrzehnts ausgehen.Wir wissen, daß ohne eine solche Finanzregelung die Verhandlungen über den Beitritt weiterer Staaten zu den Gemeinschaften nicht möglich gewesen wären. Wir verfolgen mit großem Interesse den offensichtlichen guten Verlauf dieser Beitrittsverhandlung und können der Bundesregierung für ihre besondere Aktivität, auch in den letzten Wochen und Monaten, auf diesem Gebiet danken. Dank der Initiative und Entschlossenheit dieser Bundesregierung wird die Europäische Gemeinschaft weiter wachsen.Die Finanzierungsregelung ist kein Selbstzweck. Sie wird auf die Dauer nur als ein Element der Weiterentwicklung der europäischen Gemeinschaften zu einer handlungsfähigen Union verstanden werden können.In Kenntnis dieser politischen Zusammenhänge lassen Sie mich einen Blick auf den EWG-Vertrag selbst zurück werfen. Die Schöpfer der Römischen Verträge haben richtig erkannt, daß bei einer vollendeten Zollunion und nach Abschaffung der Binnenzollgrenzen auf die Dauer die Zolleinnahmen und die zollähnlichen Einnahmen nicht mehr den Volkswirtschaften der einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden können. Sie haben daher die notwendige Konsequenz gezogen, daß sich die Zölle bei vollendeter Zollunion als besonders geeignet für die Finanzierung einer Wirtschaftsgemeinschaft erweisen. So ist es auch zu verstehen, daß der EWG-Vertrag — der Euratomvertrag in ähnlicher Form — bestimmt, daß nach Vollendung der Zollunion in erster Linie die Zolleinnahmen als Eigeneinnahmen der Gemeinschaft in Betracht zu ziehen sind.Was für die Zölle gilt, muß auch für die Abschöpfungen, die praktisch nur eine besondere Form von Agrarzöllen darstellen, richtig sein. So war es verständlich, wenn der Ministerrat aus Anlaß der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik in der Verordnung Nr. 25 vom 2. April 1962 festgelegt hat, daß die Abschöpfungen nach Ende der Übergangszeit' Eigeneinnahmen werden sollen. Der Rat hat damals — darüber muß heute bei unserer Diskussion über die finanziellen Wirkungen der vorliegenden Zustimmungsgesetze gesprochen werden — folgenden Grundsatzbeschluß gefaßt:Die Einnahmen aus den Abschöpfungen aus dritten Ländern fließen der Gemeinschaft zu und werden für gemeinschaftliche Ausgaben verwandt, so daß die Haushaltsmittel der Gemeinschaft gleichzeitig diese Einnahmen sowie alle sonstigen Einnahmen umfassen.Hier ist der Ministerrat — daran muß erinnert werden — eine politische Selbstbindung eingegangen, die am Ende der Übergangszeit einzulösen war. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat dann aus Anlaß des Übergangs zur Endphase im Juli 1969 die Probleme aufgegriffen und einen Vorschlag gemacht, der auf eine Übertragung der Zölle und Abschöpfungen hinzielte, während der Rest auch weiterhin in Form von Finanzbeiträgen geleistet werden sollteEs ist der Bundesregierung und dabei insbesondere dem Bundesaußenminister und dem Bundesfinanzminister sehr dafür zu danken, daß die Bundesregierung diesen Vorschlägen insoweit nicht gefolgt ist, als sie der Übertragung eigener Einnahmen auf die europäischen Gemeinschaften nur dann zustimmen wollte, wenn die Europäische Gemeinschaft zugleich mit den Eigeneinnahmen eine volle Finanzverantwortung auch auf der Einnahmenseite übernimmt. Nur der unnachgiebigen Haltung der Bundesregierung ist es zu verdanken, daß die Kommission in der allerletzten Phase der Verhandlungen, nämlich am 11. Dezember 1969, diesen berechtigten deutschen Wünschen gefolgt ist und zu den Zöllen und Abschöpfungen nur noch eine begrenzte Finanzmasse auf der Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer vorgeschlagen hat. Damit ist — und das halte ich für den wichtigsten Verhandlungserfolg der Bundesregierung — aus einer Europäischen Gemeinschaft mit unbegrenzter Nachschußpflicht eine Europäische Gemeinschaft mit eigener voller Finanzverantwortung, bezogen auf eine dynamisch limitierte Finanzmasse, geworden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, warum habe ich diese Entwicklung vom Zeitpunkt des Vertragsabschlusses her aufgezeigt? Wenn jetzt so getan wird — das hat besonders der Kollege Wagner getan —, als ob die Bundesregierung neue, erst jetzt im Zusammenhang mit dem neuen Finanzsystem entstandene, zusätzliche Lasten übernimmt, die ursprünglich im Vertrag nicht vorgesehen gewesen seien und sicherlich von einer Regierung mit einem CDU-Kanzler nicht übernommen worden wären, ist demgegenüber auf die Tatsache zu verweisen, daß im Jahre 1957 jemand den Artikel 201 des EWG-Vertrages unterschrieben hat. Wenn jemand
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Dr. Rutschkein Kenntnis des hohen deutschen Außenhandelsbeitrages politisch verantwortlich dem Agrarfinanzierungssystem von 1962 zugestimmt hat, dann kann man jetzt nicht jammern und bedauern, daß der deutsche Anteil um einige Prozente steigt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt den Gedanken zu Ende führen. — Hinzu kommt, daß auch ein eventueller Prozentsatz von 36 oder 37 in sehr viel späteren Jahren an sich überhaupt nichts aussagt. Entscheidend ist vielmehr das Volumen, auf das er sich bezieht. Der Wurm steckt nicht in dem Apfel der Einnahmeseite, sondern in der Struktur und der Höhe der Ausgaben. Und wie sieht es da aus? Die Ausgaben der Gemeinschaft sind zu mehr als 90 % Ausgaben für die gemeinschaftliche Agrarpolitik. Diese Kosten sind bekanntlich enorm hoch. Doch kann man wahrlich nicht dieser Regierung die Verantwortung hierfür anlasten. Man sollte sich vielmehr daran erinnern, daß es eine andere Regierung war, die bereits 1962 den grundlegenden EWG-Beschlüssen über die Finanzierung der EWG-Agrarpolitik und darin dem Grundsatz der gemeinschaftlichen Finanzierung der Agrarpolitik zustimmte, was zu der bekannten Ausgabeneskalation für die Agrarmarktordnungen führte. Sie mögen sagen, daß man damals nicht anders konnte. Das mag zutreffen. Man kann aber nicht so tun, als ob man mit der Verantwortung für die Ausgaben der EWG-Agrarpolitik nichts zu tun habe.
Daß diese Regierung aber bemüht ist, die Ausgaben zu begrenzen, hat sie in der Vergangenheit sehr deutlich gemacht. Sie war es, die den EWG-Ministerrat bei der Verabschiedung des Brüsseler Finanzpakets zu der Entschließung veranlaßte, der Rat solle vorrangig Maßnahmen zur besseren Beherrschung der Agrarmärkte und damit zur Beschränkung der Haushaltslasten beschließen. Die Regierung hat also gezeigt, daß sie bestrebt ist, den Ausgabenfluß aus den bestehenden Agrarmarktordnungen im Rahmen der verbliebenen Möglichkeiten in den Griff zu bekommen.
Entscheidend ist aber, das Entstehen neuer Ausgabensäulen zu verhindern. Die Gefahr neuer Ausgabentatbestände besteht allerdings schon. Die EWG-Kommission hat bekanntlich dem Ministerrat Vorschläge zur Gemeinschaftsfinanzierung von Agrarstrukturmaßnahmen vorgelegt, die den in der Agrarfinanzierungsverordnung beschlossenen Plafond für Agrarstrukturausgaben von 285 Millionen Rechnungseinheiten in diesem Jahr bei weitem überschreiten würden. Wenn es nicht gelingt, diesen neuen Ausgaben Einhalt zu gebieten, besteht in der Tat die Gefahr, daß die finanziellen Belastungen der Bundesrepublik kaum noch tragbar erscheinen. Deshalb sollten wir die Bundesregierung hier unterstützen und auffordern, alles zu tun, um neue Ausgabentatbestände zu vermeiden.
Nach alledem bitte ich das Hohe Haus, den beiden Zustimmungsgesetzen zuzustimmen und den vom Unterausschuß für Fragen der EWG-Finanzierung in so sorgfältiger und mühevoller Arbeit erstellten Entschließungsentwurf zu billigen.
Das Wort hat Frau Staatssekretär Focke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir nur einige wenige Bemerkungen, zu denen mich die Ausführungen von Herrn Blumenfeld veranlassen, auch wenn dieser leider inzwischen gegangen ist und auf diese Weise — —
— Das ist allerdings eine europäisch und atlantisch motivierte Entschuldigung, die ich gelten lasse.
Die Entschuldigung muß natürlich von dem amtierenden Präsidenten anerkannt werden.
Ich habe das jetzt doch nur in bezug auf meine Auseinandersetzung mit ihm gemeint, Herr Präsident.
Herr Blumenfeld hat hier eine, wie mir scheint, gefährliche Alternative aufzubauen versucht, was schon durch eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Apel in einer sehr wichtigen Hinsicht korrigiert worden ist: die Alternative zwischen Integration und Kooperation. Wir sollten dabei noch einmal ganz deutlich festhalten, daß die Integration in Westeuropa und die Kooperation zwischen West- und Osteuropa gerade zwei Dinge sind, die sich vertragen, daß es zwei Dinge sind, die zwar qualitativ auf verschiedenen Ebenen liegen, die sich aber notwendigerweise ergänzen.Es ist dann auch ein falsches Bild, wenn hier eine Alternative zwischen der Integrationspolitik im Westen und einer europäischen Sicherheitskonferenz konstruiert wird. Die europäische Sicherheitskonferenz gehört auf die Ebene der Kooperation zwischen West und Ost und stellt insofern auch wieder eine sinnvolle Ergänzung unserer bisherigen westeuropäischen Integrationsbemühungen dar. Eine solche Konferenz beißt sich in keiner Weise mit der Fortführung dieser Bemühungen.
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4304 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Frau Dr. FockeIn diesem Zusammenhang hat Herr Blumenfeld dann zunächst einmal eine gemeinsame europäische Ostpolitik gefordert. Meine Damen und Herren, der Sinn all dessen, was hier heute von Regierungsseite dargestellt worden ist, ist ja, die Voraussetzungen für eine solche gemeinsame europäische Ostpolitik zu schaffen. Dieses Vorhaben ist in mehrfacher Hinsicht unterstützt und auch dargestellt worden. Ich erinnere daran, daß alles, was in Richtung Ostpolitik geschehen ist, von höchst intensiven Konsultationen mit unseren westlichen Partnern begleitet war. Da wir keinen europäischen Bundesstaat haben, sind Konsultationen im Augenblick das einzige Instrument, das uns zur Verfügung steht. Dieses Instrument ist von uns in jeder Phase konsequent angewandt worden. Wir haben uns in jeder Phase der vollen Zustimmung unserer westlichen Partner, insbesondere auch der Partner in der Europäischen Gemeinschaft erfreut. Ich möchte daran erinnern, daß der französische Außenminister gerade wieder das zum Ausdruck gebracht hat was wir auch von anderer Seite wissen —, daß ein Mißlingen der deutschen Ostpolitik keineswegs nur für die Bundesrepublik negativ wäre, sondern für den Westen insgesamt bedauerlich sein würde.
Die substantielle politische Zusammenarbeit im Westen im Hinblick auf eine gemeinsame europäische Ostpolitik ist doch überhaupt erst durch den jetzigen deutschen Beitrag zur Ostpolitik möglich geworden, der ja nichts anderes bedeutet als den Versuch, den Stand der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den osteuropäischen Staaten auf das Normalniveau der anderen westeuropäischen Staaten zu heben. Ohne diese gemeinsame Ausgangsbasis ist doch jede Beschwörung des Fortschritts in der politischen Union in Wirklichkeit illusorisch. Wir sind dabei, diese gemeinsame Ausgangsbasis zu schaffen. In der letzten Zeit haben wir auf diesem Wege, wie uns auch von den westlichen Partnern ausdrücklich gesagt wurde, erhebliche Fortschritte gemacht.Meine Damen und Herren, ich habe es etwas bedauert, daß durch die Ausführungen von Herrn Blumenfeld wieder Konfrontationen und Alternativen in die Debatte eingeführt worden sind, die zu Beginn unserer heutigen Debatte in geringerem Maße in Erscheinung getreten sind, als es manchmal hier in diesem Hohen Hause der Fall gewesen ist. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß ich den Beitrag von Herrn Barzel — lassen wir manches Rankenwerk beiseite —, was die entscheidenden Fragen angeht, für konstruktiv und realistisch halte. Er hat den ganzen Komplex nämlich auf zwei Fragen reduziert, um die es in der Tat geht: Welche Themen sollen jetzt bei den politischen Konsultationen behandelt werden, und wie kommen wir stufenweise zu einer verstärkten politischen Zusammenarbeit?Was die erste Forderung bezüglich der Themen der Konsultationen der Außenminister betrifft, so hat der Bundeskanzler ja bereits eingangs gesagt, er hoffe, daß man sich bei den Konsultationen insbesondere ostpolitischen Fragen zuwenden werde. Damit hat Herr Barzel eine offene Tür eingerannt.Zur stufenweisen Entwicklung der politischen Zusammenarbeit hat es hier ja eine ganze Reihe von Ausführungen und Zwischenfragen gegeben. Ich erinnere insbesondere an das, was Minister Schiller gesagt hat. Mir scheint der einzig gangbare Weg, den wir gemeinsam zu gehen versuchen sollten und im Hinblick auf den es gar nicht genug Denk- und Erfahrungsbeiträge geben kann, in der Tat der zu sein, die Stufen und Fermente politischer Entwicklungen, die im Plan der Wirtschafts- und Währungsunion enthalten sind, auszunutzen, um daran angelehnt den anderen Ansatz, den wir jetzt mit dem politischen Konsultationsmechanismus gemacht haben, weiterzuentwickeln und schließlich beides zusammenzuführen. Meine Damen und Herren, das ist doch die Aufgabe, vor der wir hinsichtlich der politischen Zusammenarbeit im kommenden Jahrzehnt stehen. Die Bundesregierung wird versuchen, Beiträge zu leisten, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die Konsultation der Außenminister ist mit Recht als ein Beitrag genannt worden. Dazu sollte auch — das habe ich schon in der letzten Europadebatte vor einigen Monaten gesagt — die private europäische Bewegung — Herr Hallstein sitzt ja jetzt unter uns; er könnte dies aufgreifen ihre Beiträge leisten. Hierüber sind wir im Grunde wohl einer Meinung. Wir sollten nicht versuchen, uns wieder auseinanderzudividieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx. Für ihn sind 25 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, Herr Präsident, daß ich die Aufmerksamkeit des Hauses nicht mehr so lange beanspruchen muß, wenngleich ich sagen muß — und das gilt für alle Teile des Hauses , daß es eigentlich gut wäre, wenn wir uns einmal untereinander verständigten, daß wir Debatten dieser Art, Debatten, die mit der europäischen Problematik zusammenhängen, nicht auf eine Zeit verlegen, wo, wie wir alle wissen, der größte Teil unserer Kollegen eigene Verpflichtungen hat und nicht mehr hier im Plenum sein kann. Wir sollten tatsächlich versuchen, einmal diesen Stoff, dessen Schwierigkeit jeder kennt und der eine diffizile Argumentation notwendig macht, auf einen Tag zu verlegen, an dem die Mitglieder des Deutschen Bundestages in einem weitaus größeren Umfang vorhanden sind. Angesichts der Wirkungen dieser Debatte, die draußen sichtbar werden, sollten wir uns alle fragen, ob wir diese Themen weiter nur an Freitagen und an Freitagnachmittagen behandeln sollten.Gnädige Frau Focke, Sie haben eben — und deshalb will ich mich gleich dieser einen Frage zuwenden — gesagt, daß Integration und Kooperation durchaus zusammen stattfinden könnten, Integration im Westen und Kooperation mit den Ländern des europäischen Ostens. Aber wir sollten doch sagen, daß sich die Kooperation, so wie sie offenbar ge-
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Dr. Marx
dacht ist, erst dann wirklich wird durchsezten können, wenn es gelungen ist, eine tiefgreifende und umfassende Integration im Westen herbeizuführen. Es reicht dann eben nicht, daß die Integration nur hinsichtlich der Währungs- und Wirtschaftsunion vorangetrieben wird. Was wir dringend brauchen, auch hinsichtlich der sich anbahnenden sowjetischen Westpolitik — das ist vorhin angedeutet worden ist eine politische Abstimmung, eine politische Kooperation und dann eine politische Integration im Bereich der freien Staaten des europäischen Westens.Eine weitere Bemerkung möchte ich gern zu einer Zwischenfrage machen, die Sie, Herr Kollege Apel , vorhin gestellt haben. Sie haben uns in dieser Zwischenfrage wiederum so etwas wie eine „nationalistische Ausrichtung" unterschoben. Ich bitte herzlich darum, daß wir mit diesen Dingen aufhören. Wir müssen nicht ständig Töne, die wir auch von Ihrer Seite im Wahlkampf hören, hier bei einer solchen Diskussion, im Plenum des Deutschen Bundestages, haben. Denn, Herr Apel, wie können Sie der Fraktion der CDU/CSU, die seit dem Jahre 1949 einen großen Teil ihrer Aktivitäten darauf verwendet hat, mitzuhelfen, daß es eine europäische Politik gibt, die immerfort gezeigt hat, daß sie bereit ist, nationale souveräne Rechte aufzugeben zugunsten gemeinsamer europäischer Rechte, wie können Sie nach wie vor die Stirn haben, so muß man sagen, uns vorzuwerfen, wir würden eine nationalistische Politik machen?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Herr Kollege Marx, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich den Kollegn Wagner nur davor gewarnt habe, durch seine Argumentation in die Nähe des Nationalismus zu kommen, und sind Sie ferner bereit, sich daran zu erinnern, daß der Herr Kollege Strauß, der Ihrer Fraktion angehört, im Bundestagswahlkampf 1969, was die Agrarfinanzierung anlangt, von versteckten Reparationen gesprochen hat?
Herr Apel, ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis, daß Sie Ihre vorhergehende Zwischenfrage in einer angenehmeren Form interpretiert haben.
— Herr Apel, ich habe mich nicht nur auf diese eine Frage eben bezogen, sondern ich habe darauf hingewiesen, daß das in diesem Hause und draußen von Ihrer Seite immer wieder vorgetragen wird, und ich habe darum gebeten, endlich mit diesem Popanz, mit diesen Pappkameraden, die Sie aufbauen und die der geschichtlichen Wirklichkeit und den politischen Bekenntnissen der CDU/CSU-Fraktion nicht nur nicht gerecht werden, sondern ihnen völlig widersprechen, endlich aufzuhören.
Ich darf dann, gnädige Frau Focke, noch eine weitere Bemerkung machen.
— Herr Strauß wird sich damit auseinandersetzen. Das hat er wiederholt getan; lesen Sie die Protokolle nach! Er hat sich mit diesen von Ihnen verkürzten Behauptungen hier in diesem Hause auseinandergesetzt. Herr Apel, Sie sind ja ein Mann, der offenbar auch hinterher noch die Protokolle des Bundestages liest; tun Sie es auch dort, wo Strauß zu dem, was Sie soeben hier in Frageform vorgebracht haben, sehr eindeutig und sehr klar Stellung genommen hat, und machen Sie es nicht wie der Kollege Rutschke, der sich hier auf sehr apokryphe Quellen, die er nicht einmal genannt hat, bezogen hat für eine Behauptung gegenüber Kiesinger, die die gleiche Qualifikation verdient wie die Ihre gegenüber Strauß.Frau Focke, Sie haben noch eine andere Bemerkung gemacht, zu der ich mich meinerseits äußern will. Sie haben von der sehr eingehenden Konsultation gesprochen, die zwischen uns und den Staaten des europäischen Westens oder auch den Vereinigten Staaten immer obwalte. Darf ich Sie fragen, ob auch die Feststellungen des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung, daß es „auf deutschem Boden zwei Staaten" gebe, vorher mit unseren Verbündeten abgesprochen waren? Denn dies ist in der Tat eine der wichtigsten und politisch folgenreichsten Feststellungen, die, seit die linke Regierung, die Herr Apel die sozialliberale Regierung nennt, am Ruder ist, hier getroffen worden sind.Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in seiner heutigen Einlassung in einem seiner ersten Sätze gesagt: Die deutsche Politik leidet, soweit es diese Regierung angeht, nicht an Gleichgewichtsstörungen. Was soll das heißen? Soll das heißen, daß frühere deutsche Regierungen Gleichgewichtsstörungen gezeigt haben, etwa eine zu große Kopflastigkeit in Richtung Westen? Ist das die Fortsetzung jener Behauptung, wir hätten in der Vergangenheit Ostpolitik versäumt
war das „sehr richtig"? — aha! — und uns zu sehr mit dem Westen eingelassen? Was bedeutet das eigentlich, wenn der gleiche Bundeskanzler immer wieder sagt und wenn das heute wiederholt ausgesprochen worden ist, daß die Ostpolitik dieser Regierung nur verstanden werde und nur Erfolg haben könne, eingebaut in die feste Basis der funktionierenden Westpolitik? Merken Sie nicht, welchen Widerspruch Sie hier permanent produzieren?
Natürlich, Herr Apel, Sie produzieren permanent einen Widerspruch. Das ist auch ein unhistorisches Denken. Sie müssen sich doch bitte noch einmal in
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Dr. Marx
die fünfziger Jahre versetzen und die Frage stellen: Was war eigentlich damals möglich, und was war notwendig?
Es war möglich und notwendig, daß wir — die Bundesrepublik Deutschland — uns dort eingegliedert haben, wohin wir auf Grund unserer Geschichte, auf Grund unserer Kultur und auf Grund unseres politischen Willens gehören. Und nur diese Eingliederung gibt tatsächlich die Basis her, um das zu machen, was man eine funktionierende und erfolgreiche Ostpolitik nennen könnte.Meine Damen und Herren, ich möchte gern noch eine weitere Bemerkung machen. Herr Blumenfeld hat das Thema vorhin angesprochen, und es ist darauf auch in einer Zwischenfrage von Ihnen, Herr Apel, geantwortet worden, ob wir nicht die Unterschiede sähen zwischen den Aussagen der sowjetischen Regierung und der Bundesregierung. — Natürlich sehen wir die. Natürlich sind sie offenbar. Aber ich glaube: was wir nachholen müssen und was viel zuwenig getan wird, was, wenn es getan wird, zu oberflächlich ist, ist, daß wir sehr eingehend Kenntnis nehmen von dem, was die Sowjets sagen — denn sie haben die Eigenart, wirklich das zu meinen, was sie sagen —, und dem, was sich seit Monaten in einer ständig steigende Dynamik innerhalb der gesamten Parteiliteratur des europäischen Ostens entwickelt. Dazu möchte ich gern einen Beitrag liefern, auch deshalb, meine Damen und Herren, weil ich glaube, daß es hier in der Bundesrepublik eine große Reihe von Institutionen wissenschaftlicher Art gibt, die sich mit Ostfragen beschäftigen, daß wir jeden Tag, wenn wir wollen, zu allen Problemen hervorragende, wissenschaftlich gesicherte Ausarbeitungen erhalten können. Mir aber scheint, daß ein Problem unserer Politik darin besteht, das wissenschaftlich Erkannte in die politische Situation zu überführen. Deshalb möchte ich gern einige Bemerkungen machen, und zwar zitiere ich dabei die sowjetische Zeitschrift die Sie sicher kennen „Weltwirtschaft und internationale Beziehungen" vom Oktober 1969.In dieser Zeitschrift wird unter dem Thema der Sowjetischen Europapolitik über die „minimale Variante" gesagt, Voraussetzung sei erstens, daß die Bundesrepublik Deutschland die Unantastbarkeit aller Grenzen erkläre. Im Hinblick auf den Text des Moskauer Vertrages können wir diese sowjetische Forderung sozusagen als erfüllt abhaken.Es wird zweitens gesagt, daß die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens definiert werden müsse. Wir können auch diese sowjetische Forderung abhaken.Es wird drittens gesagt, die Grenzlinie zwischen den beiden deutschen Staaten müsse endgültig anerkannt werden. Auch dies kann abgehakt werden.Viertens wird gesagt, daß diese beiden deutschen Staaten sich gegenseitig anerkennen müßten, d. h. die volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR.Dies ist noch nicht ganz soweit. Aber es gibt hier den Verbalismus, und es gibt politische Tat.
Die Bundesregierung hat leider gezeigt, daß sie sehr viele verbale Versicherungen vorträgt, in Wirklichkeit aber darunter eine davon abweichende Politik macht.
Gestatten Sie, Herr Abgeordneter Dr. Marx, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Herr Apel, bitte sehr!
Herr Marx, halten Sie es eigentlich für Ihrer Aufgabe als deutscher Parlamentarier gemäß, in diesem Hause die Position von einem Journal der Sowjetunion zu übernehmen, sie abzuhaken und als erfüllt darzustellen? Wäre es nicht Ihrer Aufgabe als deutscher Parlamentarier gemäß, die Position der Bundesregierung zu diesen Fragen zur Kenntnis zu nehmen und auch zur Kenntnis zu nehmen, daß sich weder der Westen noch der Osten in fundamentalen Fragen aus ihren Positionen durch den deutsch-sowjetischen Vertrag oder durch andere Abkommen heraustreiben lassen? Tun Sie nicht hier etwas, was sehr gefährlich und unserer Ostpolitik abträglich ist?
Herr Kollege Apel, ich verstehe Ihre Frage als eine Reflexion auf das Gefühl, das Sie offenbar haben müssen, wenn ich Sie hier mit etwas konfrontiere, was wir viel mehr lesen und zur Kenntnis nehmen sollten. Denn ich weigere mich, so zu tun, als ob das, was in den sowjetischen Zeitschriften steht und was sowjetische Partei- und Regierungsführer sagen, eine Quantité négligeable sei. Auch Sie, verehrter Herr Apel, sollten besser dort hinhören, um zu erfahren, was eigentlich die Absichten und die Methoden dieser sowjetischen Politik sind.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Focke?
Dann werde ich wahrscheinlich doch die 25 Minuten brauchen, Herr Präsident.
Das werden wir zulegen. Bitte schön, Frau Dr. Focke!
Herr Dr. Marx, ich hätte so gerne von Ihnen gehört, was Sie für ausschlaggebend für die politische Entwicklung in Westeuropa halten: das; was Sie für die Absicht der Sowjetunion halten oder als deren Absicht interpretieren, oder unsere Absicht.
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Gnädige Frau, um die Frage konkret zu beantworten: das wird sich nicht hier in einem Rededuell zwischen uns endgültig vereinbaren lassen. Aber das wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen, und damit wir dort gerüstet sind — —
— Herr Apel, stören Sie doch nicht in einem fort. Sie haben offenbar hier die Rolle des „Störers vom Dienst". Herr Wehner, er übernimmt allmählich Ihre Funktion.
Gnädige Frau, es wird sich in den nächsten Monaten und Jahren herausstellen, wer in welcher Weise welche Position in Europa durchsetzt. Ich befürchte, daß wir nicht genau zur Kenntnis nehmen, welche Positionen die Sowjetunion aufbaut, welchen Weg sie dabei einschlägt und daß sie, wenn die Politik im Westen so weitergeht, mehr und mehr auch die Macht dazu gewinnt, diese ihre Ziele und Planungen durchzusetzen.
Ich bitte herzlich darum, dieses Faktum nicht aus der Diskussion zu lassen. Wir müssen uns damit beschäftigen.
Ich habe übrigens gesagt, Herr Apel: der Unterschied zwischen der einen und der anderen Variante. Ich habe nicht gesagt, daß das Ihre Politik ist. Ich habe abgehakt, weil das, was hier an Forderungen numerisch aufgestellt ist — niemand wird das abstreiten können, der den Text des deutschsowjetischen Vertrages kennt —, Stück um Stück tatsächlich von der Regierung unserer Bundesrepublik Deutschland sozusagen abgehakt worden ist.
Meine Damen und Herren, in dieser Zeitschrift „Weltwirtschaft und internationale Beziehungen" steht fünftens die Forderung, daß die Bundesrepublik den Alleinvertretungsanspruch aufgibt. Ich kann es nicht anders als sagen: auch dies ist geschehen. Die Forderung stammt vom Oktober 1969, nicht von gestern nachmittag.
Die genannte Zeitschrift sagt: Dies ist eine minimale Variante. Was ist die maximale, und was ist der Weg zur maximalen? Da wird man sagen müssen, daß sich mehr und mehr herausbildet — —
Herr Kollege Marx, die Zeit läuft weg, wenn Sie länger zuhören.
Herr Präsident, die Zeit läuft vor allem dann weg, wenn ich Gelegenheit habe, Äußerungen des Kollegen Wehner zu hören, von denen ich nicht weiß, ob sie dieStenographen mitbekommen haben, weil das dann Konsequenzen haben müßte.
Meine Damen und Herren, die Sowjetunion entwickelt mehr und mehr und immer deutlicher gegen das, was sie das „Kleineuropa" nennt, was sie jenes Europa nennt, das die „amerikanischen Monopole" mehr und mehr in den Griff bekommen hätten, ihre sogenannte großeuropäische oder gesamteuropäische Variante. Sie möchte gern ein Europa — und sie macht das immer deutlich — entblößt von den Vereinigten Staaten, ein Europa seiner freiwilligen und freiheitlichen Zusammenschlüsse beraubt, ein Europa, das mehr und mehr in den Sog der sowjetischen Machtpolitik gerät.Meine Damen und Herren, nach der Konsolidierung, die die sowjetische Macht etwa auf den letzten Konferenzen der Partei- und Regierungschefs oder auch durch den militärischen Eingriff und die danach folgenden tiefgreifenden und bedrückenden Veränderungen in der Tschechoslowakei erreicht hat — das ist offensichtlich —, greift sie jetzt über ihren eigenen gesicherten, von ihr geführten, in allem kontrollierten Machtbereich hinaus und versucht, neben denjenigen, die sie sich direkt zu tributärer Leistung unterworfen hat, ein neues Geflecht von indirekten tributären Verhältnissen westlich ihres eigentlichen Machtbereichs zu erreichen.Meine Damen und Herren, man sagt, daß es die Aufgabe der Westpolitik sei, Vertrauen auch gegenüber dem Osten zu schaffen. Man sagt, eine der Notwendigkeiten sei, eine Brücke zu schlagen. Nur so kann ich den Ausdruck des Kanzlers von den Gleichgewichtsstörungen, die nicht vorhanden seien, verstehen. Aber ich bitte doch, dabei zur Kenntnis zu nehmen, daß das Verhältnis der Sowjetunion gegenüber dem Westen durch ein tiefes Mißtrauen gegenüber all diesen Überlegungen gekennzeichnet ist, weil sie überall die Gefahr einer gewissen Diversion wittert. Ich muß hier einen Mann zitieren, den sicher viele dem Namen nach kennen, den früheren Chefredakteur der Prawda, Herrn Rumanzer, der alle diese Versuche als eine „leise Form der Konterrevolution" bezeichnet.Meine Damen und Herren, die Sowjetunion sagt uns, daß auf dem Gebiet der geistigen Auseinandersetzung eine Übereinstimmung keinesfalls möglich und auch nicht erwünscht sei, sondern daß es im Gegenteil darum gehe, gerade auf diesem Sektor den Sieg zu erringen.In der Parteizeitung der KPdSU, der „Prawda" — lassen Sie mich das noch hinzufügen —, stand im Juni, und zwar anläßlich des ersten Jahrestags der Moskauer Konferenz der Kommunistischen Parteien, ein offizieller Grundsatzartikel, in dem die Sowjetunion die Elemente ihrer neuen Westpolitik darlegte. Sie sagt dabei erstens, daß die Westpolitik als Mittel auf die Veränderung der bestehenden Verhältnisse in Europa hinwirken müsse. Das betrifft das Instrumentarium, das sie sich jetzt schafft. Sie erklärt, bei einer Analyse der Situation in Europa komme man zu dem Schluß, daß jetzt die Zeit für
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4308 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Marx
eine solche Entwicklung reif sei. Sie sagt drittens, die Zeit sei auch deshalb reif, weil der Verbündete Westeuropas, nämlich die Vereinigten Staaten, mehr und mehr geschwächt worden sei. Sie fordert wörtlich, „im Kampf gegen den Imperialismus jetzt offensiv neue Positionen zu erobern". Sie fügt hinzu, daß sich die Lage in Europa mehr und mehr verändere. Es wird dort auch davon gesprochen, daß das „Anwachsen realistisch denkender und progressiver Kräfte in Westdeutschland" Hoffnungen für die Durchsetzung einer solchen Politik wecke.Meine Damen und Herren, wenn wir nach den Motiven dieser Politik fragen, kann man das noch ausdehnen und sagen: Natürlich versucht man, eine Absicherung des erzwungenen Herrschaftsbereichs in Osteuropa mit der Zustimmung des Westens zu erhalten. Natürlich versucht man, die Handelsbarrieren der EWG, die drüben durchaus empfunden werden, mehr und mehr aufzulockern. Natürlich versucht man, einen Ausgleich der Nachteile zu erreichen, die der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe angesichts der wachsenden Kapazität der EWG findet. Natürlich gibt es auch weltpolitische Erwägungen — Stichwort: China —, die dabei eine Rolle spielen.Der Bundeskanzler hat heute gesagt, als er in Moskau war, habe er den Eindruck gewonnen, daß sich die Sowjetunion mit der Realität des westlichen Europa abfinde und auch mit der Realität, daß diese EWG sich ausdehnen könne durch das Hinzukommen weiterer Mitglieder. Ich weiß nicht, ob dieser Eindruck richtig ist. Ich verweise aber darauf, daß z. B. Beobachter, die die jugoslawische Szenerie sich ansehen, den Eindruck gewinnen, daß man dort die sowjetische Politik und ihre Absichten in einem anderen Zusammenhang sieht, nämlich daß man darauf hinweise, wie unangenehm der sowjetischen Seite ein unabhängiges europäisches Entscheidungszentrum ist und daß man auch sieht, wie sehr man bemüht ist, gewisse nationale Entwicklungen, Rückfälle in nationalistisches Denken im westlichen Europa, auszunutzen, um den Versuch zu machen, gemäß der ideologischen Verformung, daß es keine Versöhnung innerhalb imperialistischer und kapitalistischer Staaten gebe, die Entwicklungsbewegung auf ein einheitliches Europa umzudrehen und nationale Begehrlichkeiten überall dort, wo sie auftreten, neu zu erwecken und zu aktivieren.Es ist heute schon einmal der Name des Herrn Juri Shukow genannt worden, der ja hier, wie Sie im „Europa-Archiv" nachlesen können, in der Redoute in Godesberg eine Rede gehalten hat, in der er sich mit dieser sowjetischen Konzeption eines künftigen Europa beschäftigt hat. Ich muß Sie daran erinnern, daß er dort z. B. die Formel erfindet von dem einen Drittel Europas im Westen und von den zwei Dritteln im Osten, daß er dabei den Satz gebraucht, daß das westliche Drittel sich von den zwei östlichen Dritteln im Laufe der Zeit entfernt und getrennt habe, und daß er eine andere Formulierung gebraucht, die ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren darf. Er sagt: „Bereits ein Vierteljahrhundert versuchen die sogenannten Kleineuropäer einen politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Block der kapitalistischen europäischen Staaten zusammenzuschustern, der dem sozialistischen Europa gegenüberstünde". Es gibt einen weiteren Satz des gleichen Mannes aus der Prawda vom 12. September, in dem er sagt: Wenn im Westen Europas tatsächlich das Bestreben vorhanden ist — wörtlich —, „der amerikanischen Herausforderung eine Antwort zu erteilen, so führt dazu ein einziger Weg; dieser Weg heißt gesamteuropäische Zusammenarbeit". Er hat auch an vielen anderen Stellen— und dieser Gedanke entwickelt sich immer mehr— von der amerikanischen Herausforderung gesprochen, und er hat uns die sowjetische Hilfe angeboten bei dem Versuch, dies, was er als eine unerträgliche Herausforderung ansieht, aus Europa hinauszudränken und an die Stelle dessen, was man als eine Barriere auf dem Wege zu Gesamteuropa sieht, nämlich an die Stelle der EWG das zu setzen, was er Gesamteuropa oder das große Europa nennt.Ich komme zum Schluß — ich bedaure, daß Herr Apel jetzt nicht mehr da ist; vielleicht, Herr Kollege Wehner, erlauben Sie, daß ich es in Ihrer Richtung sage — —
— Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Apel; ich weiß, daß Sie verschiedene Gesichter haben und sehr freundlich und auch sehr hämisch sein können; ich nehme das freundliche entgegen. Herr Kollege Apel, Sie haben vorhin versucht, zu minimalisieren in bezug auf einen Satz aus dem Kommuniqué über die Sitzung des Vorstandes der SPD vom 14. September, und Sie haben behauptet, daß dies im Zusammenhang mit dem Referat Ihres Parteivorsitzenden nur die Ostpolitik betreffe. Ich muß nun daraus zitieren. Sie sagen nämlich dort:Der Parteivorstand nahm diesen Bericht einstimmig zustimmend zur Kenntnis.Und Sie sagen beim Punkt 7 auf der Seite 3 oben:Der Charakter der Grenzen in Deutschland — wie in Europa überhaupt — — es heißt nicht: in Osteuropa, sondern: — wie in Europa überhaupt —kann sich nur durch Verhandlungen und Vereinbarungen wandeln. Die Mitwirkung der Sowjetunion hieran ist unerläßlich.
Sie wissen, daß Herr Kollege Heck sich dazu geäußert hat und daß dann der Sprecher des SPD-Vorstandes, Herr Schulz, noch einmal diesen Satz bekräftigt hat. 'Ich zitiere auch dies. Es ist ganz gut, daß dies dann auch im Protokoll der heutigen Sitzung steht. Er sagt:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4309
(Zuruf von der CDU/CSU: Deutlicherbrauchten es wir nicht zu hören!)
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Ja!
Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß Sie das gesamte Kommuniqué gelesen haben.
Ist Ihnen dabei nicht aufgefallen, daß es einen Punkt 5 gibt, der sich mit der Westpolitik beschäftigt und der eindeutig den Standpunkt der Bundesregierung unterstreicht: Westliche Integration wird fortgesetzt usw. usw.,
daß der Moskauer Vertrag das nicht berührt, daß es dann einen Punkt 6 gibt, der sich mit der Ostpolitik beschäftigt? Da ist dann in der Tat eine nicht ganz kluge und intelligente Formulierung gefunden worden,
die aber eigentlich nur mißbraucht worden ist.
— Natürlich! Mißbraucht worden ist von Ihnen! Und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in dem gleichen Kommuniqué vor allem abgehoben wird auf die Rede des Bundeskanzlers in Hamburg am 3. September, und daraus habe ich heute morgen in einer Zwischenfrage bereits Abschnitte zitiert, die eindeutig machen, daß das, was Sie hier tun, zwar nicht Geschichtsklitterung, aber der Versuch ist, an einem unglücklichen Satz eine Politik zu beweisen, die wir nicht führen?
Herr Kollege Apel, Sie haben jetzt immer wieder Teilsätze Ihrer Frage mit der rhetorischen Formel eingeleitet, ob ich nicht bereit sei, zur Kenntnis zu nehmen. Um die Sache nicht noch mehr zu verschärfen, sage ich Ihnen: Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie gesagt haben, es sei dort eine unkluge Formulierung enthalten und daß vor diesem Satz zum Beginn dieser Mitteilung steht, daß dies einstimmig so von Ihnen verabschiedet worden sei.
Jeder mag sich dann unter dem Zusammenhang mit der „unklugen Formulierung" und der einstimmigen Verabschiedung seinen eigenen Vers machen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Es geht mir darum, und ich bitte, Ihnen das in allem Ernst noch einmal darlegen zu dürfen, es geht mir darum, darauf aufmerksam zu machen, daß es im gesamten sowjetisch geführten Bereich eine sich entwickelnde, gegen die westeuropäische Einigung mehr und mehr vorgehende Politik gibt, die den Versuch macht, das, was die Frucht all unserer gemeinsamen Bemühungen in den letzten beiden Jahrzehnten ist und was wir hier in diesem Hause heute besprochen haben, was wir weiter entwickeln wollen, auch zur politischen Union weiter entwikkeln wollen, von der sowjetischen Politik zerstört werden soll und daß sie versucht, es durch eine gesamteuropäische Lösung ihrer Provenienz, ohne die Vereinigten Staaten, über der der schwere, lastende und dunkle Schatten der sowjetischen Machtpolitik liegen würde, zu ersetzen. Dies ist das Problem, und meine Bitte ist, dies zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen es tun. Wir nehmen auch das, was die Sowjetunion sonst sagt auf anderen Feldern unserer Außenpolitik, zur Kenntnis. Ich bitte Sie darum, dies auch bei unserer Überlegung, dem Westen gegenüber, zur Kenntnis zu nehmen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Zum Schluß, würde ich sagen, Herr Kollege Arndt! — Bitte sehr!
Herr Kollege Marx, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß Herr Juri Schukow bei einer Diskussion im Hause Rissen in Hamburg, bei der ich die gleiche Frage, die Sie rhetorisch hier gestellt haben, an ihn richtete, mir erklärt hat, wenn die Länder Westeuropas den Zusammenschluß wünschten und diesen Zusammenschluß auch mit Amerika verbinden wollten, dann sei die Sowjetunion, da sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker achte, selbstverständlich bereit,
dieses hinzunehmen und ihre Botschaft
von Bonn nach Brüssel zu verlegen. Sie respektiere die Entscheidung, die wir hier fällen.
Herr Präsident, ich muß in zwei Variationen auf die Frage antworten. Herr Kollege Arndt, Sie haben etwas mitgeteilt, was ich nicht kannte. Deshalb muß ich Ihnen sagen: Ich nehme allerdings auch zur Kenntnis, was zum Beispiel von seiten des Herrn Popow, des Ersten Sekretärs der Sowjetischen Botschaft hier, zum gleichen Thema gesagt worden ist. Studenten fragten ihn: Was ist mit dem Selbstbestim-
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4310 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Dr. Marx
mungsrecht? Er antwortete sinngemäß — ich habe esnicht hier, sonst könnte ich es direkt zitieren — —
— Wie schade, Herr Wehner, in der Tat, denn man sollte ein solches Zitat wirklich als Zitat einführen können.
— Herr Wehner, ich weiß nicht, welche Lehrbücher Sie früher immer bei sich trugen.
Ich kann nur sagen, Herr Wehner, daß Sie offenbar vieles von dem, was dort niedergelegt ist, bis zum heutigen Tag sehr gut in Ihrem Gedächtnis aufbewahrt haben.
— Danke sehr für das Kompliment, Herr Wehner. Herr Kollege, Sie könnten sich dazu auch auslassen.
Darf ich bitten, daß wir jetzt zu einem Abschluß kommen. Herr Kollege Marx, Sie haben noch das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. Ich muß nur zu Ihnen, Herr Wehner, die eine Bemerkung machen: Ich bin gern bereit, mich mit Ihnen vor jedem Publikum darüber zu äußern, wer bei wem welchen Vorhang öffnet und was sich hinter diesem Vorhang befindet.
Ich bin dazu bereit. Ich habe kein Publikum irgendwo in Deutschland, wo ich auch nur das geringste zu verbergen hätte. Ich lade Sie ein, daß wir diese Diskussion miteinander führen.
Meine Damen und Herren, wenn einer so angesprochen wird, muß man natürlich auch damit rechnen, daß geantwortet wird.
Nun, Herr Arndt, zu dem, was Sie sagten. Ich wollte darauf hinweisen, daß von seiten des Herrn Popow den ihn fragenden Studenten gesagt worden ist, daß sie nicht vom Selbstbestimmungsrecht aus argumentieren dürften, sondern sie müßten vom Klassenbewußtsein her diese Frage angehen. Das war die erste Antwort.
.Nun das zweite. Sie haben zitiert, Herr Arndt, wie sich Herr Schukow auf eine Frage Ihnen gegenüber geäußert hat. Jetzt zitiere ich eine Antwort von ihm, mir und einem anderen Kollegen aus diesem Hause gegenüber, auf die Frage, wie es denn mit der innerdeutschen Demarkationslinie sei, die im deutsch-sowjetischen Vertrag als eine feste, endgültige Grenze, „jetzt und künftig", so heißt es,
niedergelegt sei. Er sagte: Wissen Sie, wir hoffen, daß sich Herr Bachmann — er meinte den Vorsitzenden der DKP — hier durchsetzt, daß die proletarische Revolution in der Bundesrepublik gewinnt. Dann wird ein neuer Bundestag gewählt. Der neue Bundestag wird den Anschluß der Bundesrepublik Deutschland an die Deutsche Demokratische Republik beschließen. Dann können Sie die Grenzen zwischen diesen beiden Staaten natürlich aufheben. Auch dieses Zitat sollte man der Vollständigkeit halber
und weil man — ich sage es noch einmal — —
— Ich habe nicht gesagt: ich glaube es, sondern ich habe zitiert.
— Verehrter Herr Wehner, es wird Herrn Schukow sicher sehr amüsieren,
auf dem Umweg über das Protokoll des Deutschen Bundestages von Ihnen die Zensur zu erhalten, daß dies ein Quatsch sei.
Ich habe die Antwort auf die Frage, die Herr Kollege Arndt in einer außerordentlich sachlichen und angenehmen Weise gestellt hat, an den Schluß meiner Ausführungen hier gesetzt. Herr Arndt, ich hoffe, daß ich mit dem, was ich Ihnen zusätzlich sagte, das, was Sie an mich als Frage heranbrachten, beantwortet habe. Es gibt andere Dinge, Herr Wehner; die sollte man dann, wenn Sie wollen, vor versammeltem Hause und zu anderer Stunde, dann aber nicht nur in Zwischenrufen, sondern in aller Offenheit, hier klarmachen.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesaußenminister, Herrn Moersch, erteile, möchte ich zur Geschäftslage folgendes sagen.
Es handelt sich um die letzte Wortmeldung in der Debatte. Dann folgt die Begründung des Entschließungsantrags Umdruck 85 *) durch den Kollegen Lautenschlager. Darf ich einmal fragen, ob noch weitere Wortmeldungen vorliegen? — Wir würden dann über den ganzen Komplex abstimmen. Ich müßte inzwischen zur Fragestunde läuten lassen, die dann — von jetzt an in etwa 15 Minuten — beginnen würde. Könnten wir so verbleiben? — Es liegt noch eine weitere Wortmeldung vor, und zwar von meinem Nachbarn zur Rechten, Herrn Josten, der fünf Minuten sprechen wird.
*) Siehe Anlage 3
Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4311
Präsident von Hassel
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es doch recht bezeichnend, daß der letzte Sprecher, der Sprecher der Opposition, zur europäischen Problematik, zu dem, was wir heute hier behandeln, zur Westeuropapolitik, eigentlich nur wenig beizutragen hatte,
sondern auf ein Feld ausgewichen ist, von dem ich sagen muß, Herr Dr. Marx, daß man aus falschen Analysen keine passenden Prognosen für die Zukunft ziehen kann.
— Herr Dr. Marx, ich habe das mit großer Aufmerksamkeit gehört, was Sie gesagt haben. Ich will auf den letzten Teil, der in manchem doch etwas märchenhaft war, nicht eingehen.
Ich will nur auf einen Punkt eingehen, der in der
Tat zentral ist, der nämlich die Ost- und Westpolitik betrifft. Dabei habe ich wirklich den Eindruck, daß es fast unmöglich ist, einigen Mitgliedern der Opposition den Standpunkt der Bundesregierung deutlich zu machen, den sie so oft in schriftlicher Form und in Reden dargelegt hat, der aber eben nicht in das Weltbild paßt, das Sie sich offensichtlich zurechtgelegt haben.
Denn daß die Ostpolitik die Westpolitik gefördert hat und daß zwischen Westpolitik und Ostpolitik eine Interdependenz besteht, das haben wir nicht nur begründet und gesagt, sondern das haben wir in einer Weise dargelegt, die Sie eigentlich, wenn Sie aufmerksam zugehört haben, nicht in Zweifel ziehen können. Ich will aber nicht die ganze Debatte wiederholen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Wenn es sein muß, ja.
Herr Kollege Moersch, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Herr Kollege Marx eben genau dasselbe getan hat, aus sowjetischer Sicht zu tun versucht hat, was Sie eben mit Recht hier angeführt haben, nämlich die Interdependenz zwischen Ost- und Westpolitik darzulegen?
Herr Dr. Lenz, ich finde, das ist eine feine Umschreibung, die Sie eben gegeben haben. Ich erinnere mich, daß zwei Ihrer Fraktionskollegen andere Fraktionskollegen von Ihnen gewarnt haben, die Interpretation der anderen Seite für sich in Anspruch zu nehmen und den Vertrag beispielsweise gegen die deutschen Interessen zu interpretieren. Ich möchte das hier nur ausdrücklich hinzufügen. Es waren Herr Dr. Schröder und Herr Majonica.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lenz?
Herr Moersch, ist es Ihnen entgangen, wirklich entgangen, daß der Kollege Dr. Marx nicht die Interpretation der Sowjetunion für sich in Anspruch genommen, sondern sie hier bekanntgegeben hat? Und ist es Ihnen nicht
doch klar, daß zwischen diesen beiden Dingen ein kleiner Unterschied besteht.
Herr Dr. Lenz, jetzt habe ich wirklich die Befürchtung, Sie könnten glauben, was Sie sagen.
Nein, das war eben anders. Ich will hier noch einmal darlegen, wie es war.
— Wir wollen jetzt keine weiteren Zwischenfragen, Herr Präsident, sonst schaffe ich das mit der Zeit nicht.
— Ich verstehe nicht, daß Sie mit einer solchen Empfindlichkeit reagieren, Herr Dr. Marx, wo ich doch lediglich in sehr vorsichtiger Form auf das eingehe, was Sie gesagt haben. Darüber könnte man nun wirklich einiges sagen. Aber ich meine, ich möchte dafür diese Stunde nicht in Anspruch nehmen. Ich will hier nur zur Sache einiges bemerken. Das kann man ja wohl nicht im Raume stehenlassen, was Sie heute versucht haben aus dieser Europadebatte zu machen.
Ich meine, da hört die Sanftmut bei mir auf; das muß ich allerdings bekennen.
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4312 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Moersch— Entschuldigen Sie bitte, warum haben Sie sich denn damit nicht auseinandergesetzt? Das frage ich Sie doch. Wir haben diese Auseinandersetzung in Straßburg gehabt, im Europarat, mit Ihren Kollegen. Da hat sich sehr vieles aufgeklärt. Das war eine sachliche, gute Atmosphäre. Ich will hier gar nicht, daß Sie meinen Standpunkt voll annehmen und respektieren. Aber ich will nur, daß Sie bestimmte Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Und diese Tatsachen nehmen Sie eben nicht zur Kenntnis, weil Sie dann Ihr Gedankengebäude einstürzen lassen müßten. Das ist doch das Problem.
Ich will lediglich auf eine These eingehen — deswegen habe ich mich zu Wort gemeldet —, die meiner Ansicht nach die zentrale Frage ist. Sie haben hier implicite gesagt — ich bitte Sie, mich zu widerlegen, wenn ich hier etwas Falsches schließe; ich habe es zum Teil notiert, aber das Protokoll mag es im einzelnen ausweisen, und sind im Grunde von der These ausgegangen, daß erst die Westpolitik vollendet sein müsse und daß man dann zur Ostpolitik kommen könne.
— Na gut, und was ist das anderes?
— Also, Herr Dr. Marx, wir haben uns verstanden. Ich wollte mich nur vergewissern — Ihr Zwischenruf bestätigt mir, daß ich es nicht falsch aufgefaßt habe —, damit Sie mir keinen Vorwurf daraus machen können. Sehen Sie, genau das ist der Punkt, auf den es ankommt. Ich habe hier vorhin sehr genau einen Zwischenruf aus Ihren Reihen gehört, allerdings nicht von Ihnen, sondern von einem neueren Kollegen, der die früheren Debatten dieses Hauses möglicherweise nicht so genau kennt. In diesem Zwischenruf ist mir entgegengehalten worden — ich bin nicht darauf eingegangen —, daß es falsch sei, wenn ich sage, daß die westeuropäische Integrationspolitik eben durch das, was wir ostpolitisch getan haben, wieder in Gang gekommen sei. Auf der anderen Seite ist von Ihnen — von Baron Guttenberg in Zwischenfragen — auch sehr deutlich gesagt worden, der alleinige auslösende Faktor für das Vorwärtskommen in der Europapolitik sei die Änderung in der Politik der französischen Regierung gewesen.
Das ist hier gesagt worden. Dazu sage ich Ihnen, das ist aufgelegter Unsinn, das stimmt doch nicht, diese These ist doch gar nicht zu halten. Ich wollte mich damit eigentlich nicht beschäftigen, aber ich muß Ihnen das jetzt doch sagen.
Es ist aber völlig anders verlaufen. In Wirklichkeit hat hier zweifellos ein Faktor mitgewirkt, den ich Ihnen nennen will. Die entscheidende Voraussetzung für ein Gelingen der Westeuropa-Integrationspolitik in unserem Sinn besteht darin, daß die Bundesrepublik Deutschland nun ihren Standpunkt klarmacht, was ihre Politik in der Ost-West-Frage überhaupt ist, und daß sie künftig nicht mehr mit zwei Zungen zu reden braucht. Das ist meiner Ansicht nach die Voraussetzung.Weil diese Bundesregierung das geklärt hat, weil sie geklärt hat, daß sie wirklich Westpolitik will, daß sie nicht eines Tages zwischen Ost und West stehen will und daß sie auf der Basis der westeuropäischen Zusammenarbeit und Integration Ostpolitik machen will, und weil sie deshalb diesen Vertrag gemacht hat, ist alles andere wieder in Gang gekommen. Das war die Voraussetzung, um das noch einmal deutlich zu machen. Das kann man nicht nur sagen, das muß man in der Praxis auch tun. Es ist doch unmöglich, zu behaupten, daß da kein Zusammenhang bestehe. Es ist doch unmöglich, zu sagen— wie es Herr Blumenfeld getan hat —, daß zurZeit etwas geschehe, was im Westen größte Befürchtungen auslöse. Nein, im Gegenteil, die westlichen Regierungen stimmen dieser Politik zu. Sie hätten sie viel früher von der Bundesrepublik erwartet. Sie sind lange Zeit geradezu untätig gewesen, weil die Bundesrepublik Deutschland ihren Standort in der Ost-West-Frage nicht klar genug gemacht hat.Ich will Ihnen ein Zitat vorlesen, das Sie vielleicht überzeugen kann. In diesem Zitat heißt es:Auch ohne de Gaulle wäre ein westeuropäischer Bundesstaat niemals entstanden, solange die Bundesrepublik im Verhältnis zu Mittel- und Osteuropa völlig andere Interessen verfocht als die übrigen EWG-Partner, wenn sie im Gegensatz zu diesen mit der Forderung nach Wiedervereinigung den territorialen Status quo grundsätzlich in Frage stellte.Ich frage mich, ob Sie diesem Zitat zustimmen oder nicht. Das ist doch das Problem.
— Das Zitat habe ich von einem Parteifreund von Ihnen, von Professor Besson. Es steht auf Seite 449 in dem Buch „Außenpolitik", das ich für sehr lesenswert halte.
— Sie können doch nicht ein Zitat deshalb ablehnen, weil da auch andere Zitate drinstehen. Sie müssen sagen, ob Sie glauben, daß Herr Besson irrt oder nicht. Ich sage Ihnen, er irrt leider nicht.
Und ich sage Ihnen, daß in diesem Punkt viele in diesem Hause — einschließlich der FDP und einschließlich der Sozialdemokraten — viele Jahre geirrt haben, daß es aber an der Zeit ist, diesen Irrtum aufzugeben. Ich möchte Ihnen hier einfach zurufen: Die vom Irrtum zur Wahrheit reisen, das sind die Weisen; die im Irrtum verharren, das sind die Narren!
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4313
Das Wort hat Herr Abgeordneter Josten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich kurz auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen einen Hinweis auf die Verantwortung Europas gegenüber der Dritten Welt gegeben. Ich glaube, wir alle stimmen ihm in diesem Punkt zu, und wir wissen, daß besonders die Jugend draußen auf diesem Gebiet anzusprechen ist.
Unsere Verantwortung, unsere Hilfe der Bundesrepublik fand ihren Niederschlag in der Vorlage des Bundeshaushalts für wirtschaftliche Zusammenarbeit für 1971. Diese Regierungsvorlage mit entsprechend erhöhtem Ansatz fand im Fachausschuß dieses Hauses, dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, einstimmige Annahme.
.
— Passen Sie auf, Herr Kollege Apel, wie ich Sie in dieser Hinsicht noch brauche. — Die einstimmige Annahme ist sicher ein erfreuliches Ergebnis.
Nun eine sehr bedauerliche Tatsache, meine Damen und Herren. Der Haushaltsausschuß hat in dieser Woche 120 Millionen DM von der Kapitalhilfe und leider auch andere Ansätze der Entwicklungshilfe gekürzt.
— Ja, das paßt dazu. Heute morgen wurde auf die Bedeutung hingewiesen. In den Broschüren lesen Sie von den erhöhten Ansätzen — die wir begrüßen — im Rahmen der Entwicklungshilfe. Die Mehrheit im Haushaltsausschuß — wenn es auch eine knappe Mehrheit der Regierungsparteien ist; das wissen Sie, Herr Mertes — hat anders beschlossen. Ich kann Sie daher nur bitten: Damit wir glaubwürdig bleiben, sollten wir quer durch alle Fraktionen dazu beitragen, die Regierungsvorlage wiederherzustellen. Das, meine Damen und Herren, wäre auch ein Beitrag zu unserer Europapolitik.
Wir sind am Ende der Aussprache zu den allgemeinen Betrachtungen. Das Wort zur Begründung des Umdrucks 85 hat der Herr Abgeordnete Lautenschlager.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Verabschiedung der Ratifizierungsgesetze zu den Eigeneinnahmen der Europäischen Gemeinschaften und zum Budgetrecht des Europäischen Parlaments sollte zum Anlaß genommen werden, darauf hinzuweisen, daß das Budgetrecht und daß die Rechte überhaupt einem Parlament gegeben werden, das nicht aus unmittelbaren Wahlen hervorgegangen ist. Mit dem auf Umdruck 85 vorliegenden Resolutionsentwurf soll versucht werden, diesen Zustand zu ändern. Es ist bedauerlich, daß es zu keinem gemeinsamen Entwurf des Bundestages gekommen ist. Damit hättedieses Parlament seine Einmütigkeit dokumentieren und die Sache nach außen eindrucksvoll vertreten können. Es hätte damit auch der Bundesregierung für die schwierigen Verhandlungen im Rat die entsprechende Unterstützung gewähren können. Die im Entwurf der Opposition unter Ziffer 2 geforderte nationale Lösung der Direktwahl für den Fall, daß die supranationale Lösung nicht zustande kommt, hätte schon im Jahre 1964 verwirklicht werden können, wenn der damalige sogenannte Mommer-Entwurf nicht mit rechtlichen und europäisch-politischen Bedenken als völlig unmöglich abgetan worden wäre. Wenn die CDU/CSU heute in diesem Punkt anderen Sinnes geworden ist, so kann man das nur begrüßen, daß sie sich nun auch der Argumentation der SPD bedient.Im Bewußtsein der Bürger dieses Europa ist vielfach ein Zerrbild von dem von uns allen angestrebten Endgebilde entstanden, das es in mühevoller Kleinarbeit zurechtzurücken gilt. Ein Weg dazu ist es, diese Bürger bald in ihre Rechte zur Mitwirkung an der Gestaltung eines integrierten Europas einzusetzen. Wenn man aber an die Fortentwicklung Europas mit dem Motto herangeht, „Wer zahlt, schafft an", und mit diesem Herr-im-Haus-Standpunkt den anderen zeigen will, was eine Harke ist, trägt man bestimmt nicht dazu bei, dieses Zerrbild zu beseitigen,
ganz zu schweigen von dem Erpressungsmotiv, das nach dem Vorbild eines nicht mehr im Amt befindlichen Staatspräsidenten in dieser Haltung versteckt liegt. Mit Schmollwinkelsitzen oder Auftrumpfen wird dieses Europa nicht zu einem demokratischen Gebilde, äußerstenfalls zu einem politischen Pokerklub.
Wenn wir heute mit Genugtuung feststellen können, daß die Initiative des Bundeskanzlers, noch bevor sich die Tage des Treffens von Den Haag gejährt haben, solch eindrucksvolle Erfolge erzielt hat, so wissen wir doch, daß trotz Luxemburger Abkommen, trotz Werner-Bericht, Davignon-Bericht, noch sehr viele Schritte zu tun sein werden. Bis das alles, was sich jetzt schon greifbar abzeichnet, zu Ende geführt werden kann, sind noch viele Schritte zu tun. Es geht alles in die Richtung, daß wir Schritt um Schritt nationale Souveränitätsrechte zugunsten supranationaler Einrichtungen und Organe aufgeben. Diese Entwicklung kann sich aber nur unter der ständigen Mitarbeit, Kontrolle und Einflußnahme eines nach demokratischen Grundsätzen gewählten Europäischen Parlaments gedeihlich vollziehen.Wenn der Deutsche Bundestag diese Ansicht durch seine Entschließungen unterstreicht, müssen auch dergestalt die Konsequenzen daraus gezogen werden, daß die Wähler aus den Mitgliedstaaten mit ihren Stimmzetteln entscheidend an der Zusammensetzung dieses Parlaments und damit an der politischen Gestaltung dieses neuen Europa teilnehmen. Der vorausgehende Wahlkampf würde darüber hinaus den Wählern die Möglichkeit geben, die Absicht der einzelnen politischen Parteien kennenzulernen
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4314 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Lautenschlagerund erläutert zu bekommen, welche Wege diese ein- I schlagen würden, um das Ziel eines einigen Europa zu erreichen.Durch die direkte Wahl würde das Gewicht des Europäischen Parlaments wesentlich gestärkt, und zwar auch in den Bereichen, in denen es auch in Zukunft nur beratend wird tätig sein können. Weil die Mitglieder eines nach einem supranationalen Verfahren gewählten Parlaments nicht mehr unter der Last des Doppelmandates stünden, wäre ihrer Eigeninitiative wesentlich mehr Raum gegeben. Die übrigen Organe der Gemeinschaft, besonders die Kommission und der Rat, wären dann gezwungen, in stärkerem Maße, als dies bisher der Fall ist, auf die Beschlüsse und Wünsche des Parlaments einzugehen. Auf diese Weise könnten die Ziele der Einigungsbestrebungen schneller erreicht werden, als das nach dem bisherigen umständlichen und vielen Zufälligkeiten ausgelieferten Verfahren, das wesentlich von politischen Auseinandersetzungen auf anderen Gebieten als dem der Europapolitik abhängig ist, geschehen kann.Die Entwicklung auf vielen Gebieten — auf dem der Wirtschaft, dem der Währung, dem der Wissenschaft und Forschung, um nur einige zu nennen — nimmt einen immer rascheren Verlauf. Zwar sind die Koordinierungsbestrebungen teilweise in Gang gesetzt, und es ist zu hoffen, daß die wirtschaftliche und währungspolitische Integration bis 1980 abgeschlossen sein wird; aber dies kann nicht ohne Einschaltung eines frei, allgemein und unmittelbar gewählten Parlaments geschehen.Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind heute schon mit nationalen Aufgaben gerade im Hinblick auf die Strukturwandlungen und die sich immer stärker und schneller abzeichnenden Entwicklungen über Gebühr in Anspruch genommen. Es besteht daher die große Gefahr, daß in den Organen der Gemeinschaft, soweit sie schon bisher beschließende Befugnisse haben, Absichten in die Wirklichkeit umgesetzt werden, die nicht zu kontrollieren und später nicht mehr zu korrigieren sind. Diese Gefahr kann nur vermieden werden, wenn von einem demokratisch zusammengesetzten Parlament schon jetzt eine Kontrollfunktion wahrgenommen wird.Meine Damen und Herren, die Versuche, die in den einzelnen Parlamenten der Mitgliedstaaten in Angriff genommen wurden, um eine nationale Lösung zu finden, sind sehr zahlreich. Die meisten sind an den Problemen gescheitert, die der Wortlaut des Art. 138 des EWG-Vertrages aufwirft. So wäre eine Direktwahl der deutschen Mitglieder nach der nationalen Lösung nur dem Namen nach denkbar, denn sie könnte nur unter den Bedingungen von Art. 138 Abs. 1 des EWG-Vertrages stattfinden. Das bedeutet, daß das Hauptärgernis des jetzigen Zustandes, das Doppelmandat, nicht beseitigt würde. Eine solche Lösung könnte nur die Aufgabe haben, auf den Rat dahin Druck auszuüben, nun endlich tätig zu werden und seine Verpflichtungen aus dem Vertrag zu erfüllen.Es wäre auch nicht opportun, im gegenwärtigen Zeitpunkt — ähnlich wie 1964 — einen eigenenGesetzentwurf einzubringen. Vielmehr soll die Bundesregierung mit einer Resolution aufgefordert werden, beim Scheitern der Verhandlungen über eine Vereinbarung nach Art. 138 Abs. 3, also im Falle des Nichtzustandekommens der supranationalen Lösung, die Möglichkeit aufzuzeigen, wie „nach einem von jedem Mitgliedstaat bestimmten Verfahren" — so der Wortlaut des Vertrages — ein Gesetz über die direkte Wahl der deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments zustande kommen kann.Noch aus einem anderen Grunde halte ich eine Resolution im gegenwärtigen Zeitpunkt für besser als einen Initiativgesetzentwurf. Im Gegensatz zu 1964, wo besonders auf Grund der Haltung eines Mitgliedstaates einer der Tiefpunkte in den Integrationsbestrebungen zu verzeichnen war, ist heute nach der Konferenz von Den Haag, nach den Luxemburger Beschlüssen sowie im Hinblick auf die zu erwartenden Ergebnisse des Werner- und des Davignon-Berichtes eine günstige Situation gegeben. Auch das Europäische Parlament war nicht untätig und hat seine bisherigen ständigen und vielfältigen Bemühungen fortgesetzt, den Rat unter Druck zu setzen, nun nach fast zehn Jahren seine Verpflichtung aus dem Vertrag zu erfüllen. Auf Veranlassung von Präsident Scelba fand am 26. Juni dieses Jahres ein Gespräch beim damaligen Ratspräsidenten, Herr Harmel, statt, dessen Ergebnisse zu neuen Hoffnungen Anlaß geben. Während des Gesprächs ergab sich, daß auf der Ebene des Rates eine Sondergruppe der Ständigen Vertreter gebildet werden sollte. Diese Gruppe hat ihren Auftrag bereits weitgehend erfüllt. Nach den Versicherungen von Präsident Harmel ist die Arbeit dieser Sondergruppe bereits so weit gediehen, daß berechtigte Hoffnung besteht, demnächst mit dem Politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments schon über die Einzelheiten Gespräche zu führen.Ich möchte an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen über die Problematik in politischer und rechtlicher Hinsicht machen, die eine nationale Lösung des Problems nach sich zöge. Darüber sollten wir, glaube ich, im Auswärtigen Ausschuß sprechen. Herr Präsident, ich beantrage, die beiden Resolutionsentwürfe von CDU sowie SPD und FDP dem Auswärtigen Ausschuß zur Beratung zu überweisen.
Meine Damen und Herren, die Rednerliste ist erschöpft.Ich schließe die zweite Beratung über die unter den Tagesordnungspunkten 25 a) und b) verzeichneten Gesetzentwürfe.Wir kommen zur Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf Drucksache VI/880. Wer den Artikeln 1, 2 und 3, der Einleitung und der Überschrift zustimmt, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen zur Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf Drucksache VI/879. Wer den Artikeln 1, 2 und 3 sowie der Einleitung und der Überschrift
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4315
Präsident von Hasselseine Zustimmung gibt, den bitte ich, sich zu erheben. Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ebenfalls einstimmig angenommen.Wir kommen nunmehr zu einigen Entschließungsanträgen. Bitte nehmen Sie Drucksache VI/1374 zur Hand. Auf Seite 2 finden Sie unter Abschnitt III die Vorschläge des Ausschusses. Ich bringe in Erinnerung, daß der Berichterstatter, Herr Röhner, heute morgen noch eine Nummer 7 angefügt hat. Diese Nummer 7 ist offensichtlich aus einem Versehen nicht mit ausgedruckt worden. Der Text ist in der Zwischenzeit vervielfältigt und verteilt worden.Wer der Entschließung im Abschnitt III mit den Nummern 1 bis 7 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Ich rufe den Antrag Umdruck 85 auf, der soeben von Herrn Kollegen Lautenschlager begründet worden ist. Ich stelle die Frage, ob wir über die Überweisung der Anträge auf den Umdrucken 85 und 86 zugleich abstimmen können. In beiden Fällen soll Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß erfolgen. Sind Sie einverstanden, daß darüber gemeinsam abgestimmt wird?
Wer der Überweisung des Antrags Umdruck 85, der sich auf den Tagesordnungspunkt 25 b) bezieht, und der Überweisung des Antrags Umdruck 86, der sich auf die Tagesordnungspunkte 25 a) und 25 b) bezieht, an den Auswärtigen Ausschuß zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Überweisung dieser beiden Entschließungsanträge ist einstimmig beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über Punkt 25 c) der Tagesordnung. In Drucksache VI/1344 finden Sie auf der letzten Seite unter dem Buchstaben B den Antrag des Ausschusses. Wer diesem Antrag seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.Dann kommen wir zu den beiden Zusatzpunkten, die wir heute morgen auf die Tagesordnung gesetzt und gemeinsam mit beraten haben, zunächst zu der Drucksache VI/1369. Der Ausschuß beantragt, die in Drucksache VI/915 enthaltene Entschließung zur Kenntnis zu nehmen. Wer diesem Antrag des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Schließlich zum zweiten Zusatzpunkt von heute früh. Sie finden den Antrag des Ausschusses auf Drucksache VI/ 1376. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Damit sind die Punkte 25 a) bis c) und die beiden Zusatzpunkte 1 und 2 erledigt.
Bitte schön, Herr Kollege Hermsdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung; ich war nicht im Hause, als der Abgeordnete Josten hier die Frage der Kapitalhilfe behandelte. Ich habe das nur in der Übertragung gehört. Ich stelle fest, daß sich das, was Herr Abgeordneter Josten hier gesagt hat, wie folgt abgespielt hat: Auf meinen Antrag hin ist auf Grund der vorhandenen Tatsachen bei der Kapitalhilfe mit den Stimmen der CDU gegen einige Stimmen der SPD die Kapitalhilfe gestrichen worden.
Meine Damen und Herren, es empfiehlt sich, später noch einmal das Wortprotokoll nachzulesen, um genau zu sehen, wie es sich verhält.
Wir treten jetzt ein in die Fragestunde
— Drucksache VI/1339 —
Mit Blickrichtung auf die Tribüne möchte ich auf folgendes aufmerksam machen. Da die Fragestunde von der üblichen Zeit, 9 Uhr bis 10 Uhr, auf das Ende der Plenarsitzung verschoben worden ist, ist die Beteiligung an der Fragestunde jetzt verständlicherweise wahrscheinlich geringer. Wir werden sehr schnell durchkommen, wenn Sie mir dabei helfen..
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf, zuerst die Frage 118 des Abgeordneten Hansen:
Wann gedenkt die Bundesregierung erneut und mit Nachdruck über die Rückgabe des Document Center mit der Regierung der USA zu verhandeln?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Moersch.
Ihre Frage, Herr Kollege Hansen, ist fast identisch mit der von Ihnen vor knapp einem Monat, nämlich in der Fragestunde vom 9. Oktober 1970, gestellten Frage. Ich kann nur auf das verweisen, was Ihnen der Herr Bundesaußenminister damals geantwortet hat. Schließlich ist festzustellen, daß deutsche Auskunftsersuchen vom Document Center zuverlässig beantwortet werden und Verzögerungen künftig hoffentlich nicht mehr eintreten.
Eine Zusatzfrage des Herren Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, würden Sie nicht meinen, daß, nachdem die letzten Verhandlungen über die Übergabe des Document Center im Jahre 1968 stattgefunden haben, es an der Zeit wäre, diese Verhandlungen wiederaufzunehmen? Deshalb meine erneute Fragestellung.
Die Bundesregie-
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4316 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Moerschrung wird die Verhandungen wiederaufnehmen, sobald sich herausstellt, daß ihre damaligen Wünsche und Bedingungen erfüllt werden können. Es ist wenig sinnvoll, Verhandlungen einfach um des Verhandelns willen aufzunehmen, wenn man vorher weiß, daß hier gegensätzliche Auffassungen bestehen.
Zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir die Bedingungen der USA mitzuteilen, die für uns damals nicht annehmbar waren und an denen diese Übereinkunft gescheitert ist?
Ich will mich gern bemühen, das zu tun.
Wir kommen zu der Frage 119 des Abgeordneten Rollmann. — Er ist nicht im Saal. Die Antworten auf diese Frage und auf die Frage 120 werden als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 121 und 122 sind vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 123 des Abgeordneten Werner auf:
Stimmt es, daß die 140 Millionen Entwicklungshilfe an Israel im vergangenen Jahr in ihrer Höhe gegen die Meinung des damaligen Außenministers Brandt und nur auf den ausdrücklichen Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger zustandegekommen wären und daß man diesen Betrag unter einer sozialdemokratischen Bundesregierung senken würde?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, wie bekannt ist, hat die Bundesrepublik Deutschland Israel 1969 eine Kapitalhilfe von 140 Millionen DM gewährt. Die Entscheidung über die Höhe unserer Kapitalhilfe wurde vom Kabinett getroffen. Obwohl Mitteilungen über die Ausführungen einzelner Bundesminister sowie über das Stimmenverhältnis bei Kabinettsentscheidungen für mich nicht möglich sind, möchte ich doch hinzufügen, daß in keiner Sitzung des damaligen oder auch des heutigen Kabinetts Anlaß für irgendwelche Unterstellungen gegeben wäre, wie sie aus der Frage herausgehört werden können. Die hier soeben mitgeteilte Tatsache der Entscheidung über die weitere Kapitalhilfe spricht im übrigen gegen diese Fragestellung.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Werner.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß es eine redliche Politik im Mittelmeerraum erfordert, daß einerseits die Araber nicht im unklaren gelassen werden über unsere Verpflichtungen gegenüber Israel, daß andererseits aber auch die Israelis nicht im unklaren gelassen werden über unsere Verpflichtungen im
Sinne einer europäischen Politik im Mittelmeerraum?
Herr Abgeordneter, ich bin der Meinung, daß die Politik der Bundesregierung keinen Anlaß zu dieser Fragestellung gibt und daß wir in jeder Weise eine redliche Politik treiben.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 124 ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Die Fragen 125 und 126 werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 127 des Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung zum Begriff Ratifikation „Unter der Ratifikation eines Vertrages ist seine förmliche Bestätigung durch die verfassungsrechtlich für den Abschluß völkerrechtlicher Verträge zuständigen Organe zu verstehen, nicht aber die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften nach Artikel 59 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Bestätigung wird bei zweiseitigen Verträgen durch den Austausch der von den Staatsoberhäuptern ausgefertigten Ratifikationsurkunden vollzogen."?
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet ja, weil die Begriffsbestimmung, die im „Bulletin" vom 12. August dieses Jahres unter der Überschrift „Vertragsrecht in Stichworten" erschienen ist, korrekt ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung, daß in besagter Schrift das „Vertragsrecht in Stichworten" zum besseren Verständnis für die Leser angefügt worden ist und daß es dann besser gewesen wäre, entsprechend dem „Großen Brockhaus" zu formulieren — ich zitiere —: „Ratifikation: Nach dem Staatsrecht die verfassungsrechtlich vorgesehene Bestätigung von Staatsverträgen durch das Parlament"?
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß der Brockhaus hier den wirklichen Tatbestand nicht völlig zutreffend wiedergibt. Es gibt auch Möglichkeiten, Ratifizierungen ohne Parlament vorzunehmen. Es gibt solche Dinge. Hier allerdings ist der Fall nicht gegeben.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung, daß die Inkraftsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages durch das Staatsoberhaupt der letzte Akt des Ratifizierungsvorgangs ist?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4317
Herr Abgeordneter, meine Antwort widerspricht nicht dem, was Sie sagen. Das ist in jedem Falle richtig. Aber es gibt internationale Abmachungen, die der Zustimmung des Parlaments bedürfen, und es gibt solche, die dieser Zustimmung nicht bedürfen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für mißverständlich, wenn, nachdem die Bundesregierung erklärt hat, sie wolle eine Ratifikation des deutsch-sowjetischen Vertrages erst vornehmen, wenn eine entsprechende Berlin-Regelung erfolgt ist, in dieser Sammlung des Bundespresseamts lediglich die Unterzeichnung des Ratifikationsgesetzes durch den Bundespräsidenten erwähnt wird?
Ich bin sicher, daß hier für diejenigen, die das richtig gelesen haben, kein Mißverständnis möglich war, weil es hier ja nicht um eine politische Willenserklärung geht, sondern um eine Darstellung der rechtlichen Verhältnisse, die allerdings möglicherweise zu knapp ausgefallen ist; das will ich gar nicht bestreiten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, welche Verträge keiner Ratifikation durch das Parlament bedürfen?
Herr Abgeordneter, es wäre unter Umständen möglich, Ihnen die entsprechenden Kommentare aus der Völkerrechtslehre zuzustellen. Ich bin nicht Völkerrechtler, und ich kann nicht sagen, welche Abmachungen nicht der Ratifikation durch das Parlament bedürfen. Die Mehrzahl der Verträge jedenfalls bedürfen der Ratifizierung durch das Parlament. Es gibt aber andere Abmachungen, die nicht dazu gehören. Aber diese Unterrichtung werden Sie in der Bibliothek in jedem Lehrbuch finden können.
Ich rufe die Frage 128 des Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, daß durch die Publikation des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung der Eindruck erweckt wird, als bedürfe „Der Vertrag vom 12. August 1970" nicht der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften?
Die Antwort lautet: Nein.
Keine Zusatzfrage. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir fahren fort mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Die Fragen 40 und 41 sind vorn Fragesteller zurückgezogen. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Justiz.
Wir nehmen dann den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Die Frage 56 ist zurückgezogen.
Zu den Fragen 57 und 58 erbittet der Fragesteller schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 59 des Abgeordneten Härzschel auf. Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, daß Sie sich bereit fanden, die Fragen auch ohne Anwesenheit der Abgeordneten zu beantworten.
Wir nehmen dann den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Die Fragen 60 und 61 sind zurückgezogen. Die Fragestellerin der Fragen 62 und 63 hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Das gleiche gilt für die Frage 64 des Abgeordneten Dasch. Die Fragen 65 bis 67 sind von den Fragestellern zurückgezogen worden. Auch der Abgeordnete Dr. Klepsch hat seine Frage 105, die ursprünglich im Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft stand und nun vom Bundesminister der Verteidigung beantwortet werden sollte, zurückgezogen. Zu den Fragen 68 und 69 erbittet der Fragesteller schriftliche Beantwortung. Auch hier wird die Antwort als Anlage abgedruckt. Damit sind alle Fragen aus diesem Geschäftsbereich erledigt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zunächst die Frage 70 des Abgeordneten Hussing. Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht zu sehen. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 71 des Abgeordneten Wolfram auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung von Prof. Häfner, daß die Lage der Psychiatrie in unserem Lande einen nationalen Notstand darstellt?
Der Abgeordnete ist anwesend.
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal.
Herr Kollege Wolfram, Herr Professor Häfner hat 1965 in einem Aufsatz mit dem Titel „Dringliche Reformen in der psychiatrischen Krankenversorgung in der Bundesrepublik" von einem „nationalen Notstand" im Hinblick auf die Lage der Psychiatrie gesprochen. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung in erheblichem Umfang und beschleunigt verbessert werden muß. Diesem Ziel dienen die vielseitigen
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4318 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär WestphalMaßnahmen, die bereits von den Trägern der psychiatrischen Anstalten mit Unterstützung der Länder eingeleitet worden sind.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Wolfram.
Herr Staatssekretär, welche Möglichkeiten sehen Sie, durch Früherkennung und Frühbehandlung zu verhindern, daß es auf diesem Gebiet praktisch nur krankenhausreife Patienten gibt?
Herr Kollege Wolfram, der Begriff „krankenhausreife Patienten" ist natürlich etwas problematisch; denn es gibt auf diesem Gebiet z. B. erhebliche Möglichkeiten der teilstationären Behandlung. Wenn die stationäre Behandlung wirkungsvoll gemacht werden kann, kann sie auch kurzfristiger werden. Im Hinblick auf die Früherkennung ist es in diesem Bereich natürlich besonders schwer, Ratschläge oder klare Möglichkeiten der Regelung zu geben. Es geht immer um lange Beobachtungszeiten. Die Beratung auf diesem Gebiet muß verbessert und ausgedehnt werden. Psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung in solchen Stellen ist wünschenswert, und es ist auch von diesem Haus immer wieder dringend gefordert worden, daß diejenigen, die dafür zuständig sind, solche Stellen einrichten.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wolfram.
Herr Staatssekretär, ist eine spezielle psychiatrische Krankenpflegeausbildung vorgesehen?
Innerhalb der Krankenpflegeausbildung erhält jeder Krankenpfleger eine Ausbildung auch im psychiatrischen Bereich, und zwar sind dafür ca. 100 Stunden vorgesehen. Eine besondere Aubildung für psychiatrische Krankenpflege, d. h. ein gesonderter Ausbildungsweg, ist nicht vorgesehen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Glombig.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, haben Sie den Eindruck, daß neben den Ländern auch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation auf dem Feld der Rehabilitation für psychiatrisch Kranke alles getan hat, was möglich und notwendig ist?
Zu dieser Frage möchte ich keine inhaltlichen Ausführungen machen müssen, weil dies erst mit dem
auf diesem Felde auch zuständigen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung besprochen werden müßte.
Ich rufe die Frage 72 des Abgeordneten Wolfram auf:
Welche Maßnahmen sind vorgesehen, um die augenblickliche Situation zu verbessern, und ist insbesondere ein Soforthilfeprogramm und ein nationaler Plan nach dem Beispiel der USA und anderer Länder vorgesehen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal.
In der Bundestagsdebatte vom 17. April 1970 wurden bereits Vorstellungen der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Psychiatrie mitgeteilt.
Die Möglichkeiten eines Sofortprogramms und eines nationalen Plans nach dem Beispiel der USA und anderen Ländern werden zur Zeit eingehend geprüft. Die Möglichkeiten einer raschen Verbesserung der gegenwärtigen Situation der Psychiatrie in der Bundesrepublik werden in engster Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und den Ländern sowie allen sonstigen staatlichen, halbstaatlichen und privaten Organisationen, Verbänden und Einrichtungen erörtert, um die kurzfristig und auf lange Sicht notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der Hilfe für psychisch Kranke zu programmieren und zusammenzufassen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Wolfram.
Herr Staatssekretär, ist im Zusammenhang mit der Hochschulpolitik eine Intensivierung der psychiatrischen Grundlagenforschung sowie die Errichtung von Lehrstühlen für Geriatrie, Gerontologie und Geriopsychiatrie geplant?
Aus meiner Kenntnis kann ich sagen, daß es Sonderlehrstühle z. B. für den Bereich der gerichtlichen und sozialen Psychiatrie und auch mehrere Lehrstühle für Jugendpsychiatrie gibt. Im übrigen muß ich auch hier auf einen anderen Bundesminister verweisen. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft ist derjenige, der zu diesem Bereich der Forschung Aussagen machen könnte.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Wolfram.
Herr Staatssekretär, wird an einer Beseitigung der gesetzlichen Diskriminierung der psychisch Kranken gearbeitet?
Auf Grund der im Hohen Hause behandelten Probleme der Psychiatrie und aller hier anstehenden
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970 4319
Parlamentarischer Staatssekretär WestphalSorgen — darum geht es zur Zeit ja in dem entsprechenden Fachausschuß — ist zu erwarten, daß es zu einer Enquete kommen wird, mit deren Vorbereitung wir uns jetzt schon beschäftigen. Darin geht es um Probleme, die Sie jetzt ansprechen Diskriminierungen, die sich heute noch an einzelnen Stellen für diese besondere Personengruppe — wenn man diesen Begriff verwenden will — zeigen, müssen überwunden werden.
Keine Zusatzfragen.
Die Fragen 73 und 74 sind vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Zur Frage 75 erbittet der Fragesteller schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 76 wurde bereits im Rahmen der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern beantwortet.
Wir sind am Ende der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen, zunächst zur Frage 77 des Abgeordneten Sieglerschmidt. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Das gleiche gilt für die Frage 78.
Wir kommen zu den Fragen 79 und 80 des Abgeordneten Schmidt . — Der Abgeordnete ) ist nicht anwesend. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 81 und 82 des Abgeordneten Lenzer werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen 83 und 84 des Abgeordneten Rawe. — Der Fragesteller hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 85 des Abgeordneten Dr. Enders auf:
Hält die Bundesregierung die hygienischen Einrichtungen auf den Parkplätzen der Bundesautobahnen für ausreichend?
Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist anwesend.
Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Börner.
Herr Kollege, die Bundesregierung hält die hygienischen Einrichtungen zur Zeit nur auf den 39 Rastplätzen der Bundesautobahnen für ausreichend, die mit Toiletten in Verbindung mit einem Verkaufskiosk von der damit beauftragten Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen ausgestattet worden sind.
Als Endzustand soll den Autobahnbenutzern zusammen mit den Rasthöfen und Tankstellen etwa alle zwölf Kilometer Gelegenheit zur Einnahme von Erfrischungen und zur Benutzung hygienisch einwandfreier Toilettenanlagen geboten sein.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Enders.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für notwendig, daß die Toiletten- und Waschanlagen auf den Parkplätzen an den Bundesautobahnen wenigstens während der Hauptreisezeit noch verbessert werden?
Herr Kollege, wenn Sie die laufende Überwachung der hygienischen Umstände meinen, muß ich sagen, daß wir darüber Kontrollen führen. Die Frage der Vermehrung solcher Einrichtungen berührt Ihre nächste Frage, die ich gern mitbeantworten möchte, Herr Präsident.
Ich rufe noch die Frage 86 des Abgeordneten Dr. Enders auf:
Mit welchen Maßnahmen können die hygienischen Einrichtungen auf den Parkplätzen der Bundesautobahnen verbessert werden?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Herr Kollege, hygienisch einwandfreie Zustände können auf den Rastplätzen der Bundesautobahnen, wie umfangreiche Versuche gezeigt haben, nur mit ständig beaufsichtigten und gewarteten Toilettenanlagen erreicht werden, die mit elektrischem Strom und Frischwasser versorgt werden und über Kläranlagen und Schmutzwasserableitungen verfügen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Enders.
Herr Staatssekretär, wann ist Ihrer Meinung nach damit zu rechnen, daß etwa alle zehn Kilometer Toiletteneinrichtungen 'in Rasthäusern oder an Verkaufskiosken auf den Autobahnen zu erreichen sein werden?
Herr Kollege, wir bemühen uns, diesen Zustand im Rahmen eines Ausbauprogramms in den nächsten Jahren so schnell wie möglich herbeizuführen. Ich darf darauf verweisen, daß damit auch die Frage zusammenhängt, wie stark bestimmte Reiserouten auf den Autobahnen belastet sind, weil solche Einrichtungen das ganze Jahr über betrieben werden müssen und hier bestimmte Personalkosten entstehen. Ich schlage vor, daß ich Ihnen darüber schriftlich eine ergänzende Information gebe.
4320 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Keine Zusatzfragen.
Wir kommen zu den Fragen 87 und 88 des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann. — Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 89 des Abgeordneten Niegel auf:
Gibt es besondere Gründe dafür, daß trotz Zusage weder der Bundesminister für Verkehr und für das Pest- und Fernmeldewesen noch sein parlamentarischer oder beamteter Staatssekretär am 12. Gewerkschaftstag der GDBA im Deutschen Beamtenbund in Nürnberg teilgenommen haben, jedoch beim außerordentlichen Gewerkschaftstag der Deutschen Postgewerkschaft im DGB in Kassel der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit den Staatssekretären Börner und Gscheidle anwesend waren?
Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege, die Gründe für die unterschiedliche Beteiligung der politischen Leitung unseres Hauses an den beiden Gewerkschaftstagen lagen in der Tatsache begründet, daß der Kongreß der Deutschen Postgewerkschaft in einer sitzungsfreien Woche des Bundestages durchgeführt wurde, während der Gewerkschaftstag der GDBA in einer Plenarwoche stattfand.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordneten Niegel.
Eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen — die eine gehört dem DGB, die andere dem Beamtenbund an — liegt seitens Ihres Hauses also nicht vor?
Nein. Das können Sie u. a. daraus ersehen, daß ich den neugewählten Vorsitzenden der GDBA in den nächsten Tagen zu einem Gespräch empfangen werde, so wie auch andere Herren aus der Gewerkschaftsbewegung, die mit uns in Verbindung stehen, von Zeit zu Zeit zu Fachgesprächen empfangen werden.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe auf die Frage 90 des Herrn Abgeordneten Wende:
Wie weit ist der Ausbauzustand von Notrufsäulen an Bundesautobahnen sowie an autobahnähnlich ausgebauten Bundesstraßen?
Der Herr Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung, bitte!
Von den zur Zeit in Betrieb befindlichen 4100 km Bundesautobahnen sind 3765 km, das sind rund 92 %, mit Notrufsäulen ausgerüstet. Weitere 100 km Notrufanlagen, deren Inbetriebnahme bis Ende 1970 vorgesehen ist, sind im Bau. An autobahnähnlich ausgebauten Bundesstraßen
sind Notrufanlagen nicht vorhanden, weil die fernmeldetechnischen und betrieblichen Voraussetzungen hierzu noch nicht gegeben sind. Erst nach einer Aufstufung dieser Straßen zu Bundesautobahnen können nach Verlegung der Fernmeldekabel und Errichtung von Autobahnmeistereien auch an diesen Straßen Notrufsäulen installiert werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wende.
Können Sie in diesem Zusammenhang darüber Angaben machen, Herr Staatssekretär, welche Erfahrungen gemacht worden sind — oder können Sie mir gegebenenfalls diese Angaben schriftlich zukommen lassen — mit neuartigen Notrufsäulen, die nicht mehr auf dem Kabelwege, sondern auf dem Funkwege operieren?
Herr Kollege, wir haben uns bisher für Verkabelung entschieden, weil die Betriebssicherheit und die Tatsache, daß wir sehr wenige Funkfrequenzen in der Bundesrepublik für solche Dinge nutzen können, für Verkabelungen sprachen. Wir verfolgen natürlich auch fernmeldetechnische Entwicklungen, wie Sie sie soeben zitiert haben. Ich bin gern bereit, Ihnen darüber ergänzende Auskunft zu geben.
Ich möchte aber noch hinzufügen, daß es ja nicht nur das Problem der Installierung solcher Notrufanlagen gibt, sondern auch der Vorhaltung eines c entsprechenden Rettungsdienstes. Denn es handelt sich ja hier um einen Betrieb, der über 24 Stunden in Betrieb sein muß, und nicht nur darum, daß man irgendwo ein Telefon installiert, wo man anrufen kann. Diese Fragen werden im Zusammenhang mit der Vorlage des Verkehrsberichts der Bundesregierung, der in der nächsten Woche auf der Tagesordnung des Hohen Hauses steht, dann noch weiter behandelt werden. Ich nehme an, daß sich auch die Gelegenheit ergibt, in der Aussprache über den Verkehrsbericht Ihr Petitum zu vertiefen.
Keine Zusatzfrage.Ich rufe auf die Fragen 91 und 92 des Herrn Abgeordneten Dr. Aigner. — Er ist nicht anwesend. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe auf die Frage 93 des Abgeordneten Schmidt . Ist er anwesend? — Das ist nicht der Fall. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir kommen zu Frage 94 des Herrn Abgeordneten Schmidt . — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe auf die Frage 95 des Herrn Abgeordneten Wende:Welche Voraussetzungen müssen noch erfüllt werden, um imgesamten Bundesgebiet die Notrufnummer 110 einzurichten?Bitte zur Beantwortung!Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
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Die technischen Voraussetzungen für die bundeseinheitliche Notrufnummer 110 sind gegeben. Offen ist zur Zeit noch die Frage der Finanzierung. Die Bundesregierung bemüht sich um eine Lösung dieses Problems und hofft, bald zu einem Ergebnis zu kommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wende!
Herr Staatssekretär, haben Sie Kenntnis von dem Verfahren, wie es im Regierungsbezirk Nordwürttemberg angewendet worden ist, wo in Zusammenarbeit zwischen staatlichen und privaten Stellen ein Finanzierungsschlüssel erarbeitet wurde, der es dort ermöglicht, in kürzerer Frist bereits die einheitliche Notrufnummer 110 einzuführen?
Herr Kollege, ich muß offen sagen, daß mir das Angebot privater Beteiligung an dieser Aktion nicht bekannt ist. Aber ich werde gern den Dingen nachgehen. Wir würden es selbstverständlich begrüßen, wenn hier private Initiative noch hinzukäme. Aber ich bin nicht sicher, ob Sie denselben Sachverhalt meinen, den ich in meiner Antwort angesprochen habe. Die Kosten, von denen ich hier sprach, beziehen sich auf die fernmeldetechnische Installation, also auf das, was die Deutsche Bundespost und der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hier zu tun haben. Ich nehme an, daß sich Ihr Argument mehr auf die Vorhaltung des Rettungsdienstes bezieht, den man eben mit dieser Nummer erreichen kann. Das erfordert natürlich auch erhebliche Kosten.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte schön, Herr Kollege!
Es bezieht sich nicht nur darauf. Darf ich davon ausgehen, daß bei dem vom Verkehrsausschuß geplanten Hearing Anfang nächsten Jahres gerade diese Kreise, die in Nordwürttemberg tätig waren, mit eingeladen werden?
Das obliegt dem zuständigen Ausschuß. Ich nehme an, daß der Vorsitzende, wenn Sie eine solche Anregung an ihn herantragen, keine Einwendungen dagegen erheben würde, ein solches positives Modell auch hier der Öffentlichkeit breiter bekanntzumachen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Niegel!
Herr Staatssekretär, wäre es nicht zweckmäßiger, an Stelle der Nummer 110 im gesamten Bundesgebiet die Nummer 111 zu verwenden, wie es Sachverständige, vor allem Psychiater,
vorgeschlagen haben, weil diese Nummer besser zu wählen sei und die Notrufe dann doch schlagkräftiger vorgenommen werden könnten?
Herr Kollege, sicher wird man das noch prüfen, aber die Erfahrungen unseres Hauses gehen dahin, daß die Nummer 110 in einem Teil der Bundesrepublik schon eingebürgert ist und daß hinter dieser Nummer sich auch ein bestimmter Begriff beim Kraftfahrer verbirgt, so daß man von der Gewöhnung her die Nummer 110 bevorzugen sollte. Aber, wie gesagt, ich will Ihr Argument gerne noch einmal prüfen lassen.
Wir sind am Ende des Geschäftsbereiches angelangt. Es folgt der Geschäftsbereich des Bundesministers für Wohnungswesen und Städtebau. Ich danke Ihnen zunächst, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe die Frage 96 des Herrn Abgeordneten Geisenhofer auf.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß, vor allem in München durch Zweckentfremdung von Altbauwohnungen in GastarbeiterSchlafstellen und sonstige Massenquartiere bei langeingesessenen Mietern, aber auch bei Gastarbeitern selbst, große Härten auftreten, die nicht nur Unruhe bei den Betroffenen, sondern auch in den angrenzenden Stadtteilen hervorrufen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ravens.
Herr Präsident, wenn Herr Kollege Geisenhofer einverstanden ist, so würde ich gerne beide Fragen im Zusammenhang beantworten.
Keine Bedenken. Dann rufe ich auch die Frage 97 auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß vor allem internationale Maklerfirmen, aber auch Bundesbehörden an der Zweckentfremdung solcher Häuser beteiligt sind, und gedenkt die Bundesregierung, Maßnahmen einzuleiten, wie sie in dem Gesetzentwurf der CDU/CSU, Drucksache VI/13 vom 23. Oktober 1969, gefordert werden?
Herr Kollege Geisenhofer, der Bundesregierung ist bekannt, daß auch in München Altbauwohnungen an Gastarbeiter als Schlafstellen vermietet werden. Nach Angaben der obersten Landesbehörde sind etwa 1,2 % des Altwohnungsbestandes in München von Gastarbeitern für Wohnzwecke in Anspruch genommen.Mit dem Antrag auf Drucksache VI/13, dessen Einbringung ja auch Sie beantragt haben, soll die Verwendung von Altwohnraum als Schlafstellen in München — Stadt und Land — nur mit Genehmigung der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde zulässig sein. Wir warten den Beschluß dieses Hohen Hauses über diesen Antrag ab.Die Unruhe der Bevölkerung über die Kündigung von Mietverhältnissen besteht nicht nur in München. Die Bundesregierung hat deshalb einen Gesetzentwurf verabschiedet und wird ihn im Hohen
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4322 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. November 1970
Parlamentarischer Staatssekretär RavensHause einbringen, der u. a. auch eine erhebliche Verbesserung der Rechtsstellung des Mieters, insbesondere bei Kündigung durch den Vermieter, vorsieht. Mit einer Verbesserung des Schutzes für den Mieter dürften die von Ihnen angesprochenen Härten wesentlich gemildert, wenn nicht sogar ganz beseitigt werden können.Nach fernmündlicher Rückfrage des Herrn Bundesministers der Finanzen bei der Oberfinanzdirektion München und den von dieser Behörde um Auskunft gebetenen Vermögensstellen sind Zweckentfremdungen von Altbauwohnungen in München durch Bundesbehörden nicht bekanntgeworden.Im übrigen dürfte es sich bei Ihrer Frage um das Problem der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen handeln. Auch hierzu liegt bereits ein von Ihnen miteingebrachter Initiativantrag vor, über den zur Zeit noch im zuständigen Ausschuß beraten wird. Die Bundesregierung wird auch diesen Beschluß abwarten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Geisenhofer.
Wenn ich richtig verstanden habe, warten Sie das Ergebnis der Initiative der CDU/CSU, also meiner Initiative, auf diesem Gebiet ab, und die Bundesregierung ist nicht gewillt, selbst initiativ zu werden. Sind im Artikelgesetz, das Sie ja jetzt vorbereiten, keine Maßnahmen zur Einschränkung dieser skandalösen Vorgänge vorgesehen?
Doch, Herr Kollege Geisenhofer. In diesem Artikelgesetz ist für alle Bereiche, in denen in der Bundesrepublik ein überdurchschnittlicher Wohnungsfehlbestand besteht — entgegen den Vorhersagen früherer Regierungen —, vorgesehen, daß ein weitgehender Mieterschutz eingeführt wird, daß ein Vermieter nur noch kündigen kann, wenn er ein berechtigtes eigenes Interesse hat — dieses eigene Interesse ist im Artikelgesetz definiert — wenn er Eigenbedarf anmelden kann, wenn der Mieter seine Vertragspflicht nicht erfüllt oder wenn zur Erzielung einer marktgerechten Verzinsung des Eigenkapitals eine Mieterhöhung notwendig ist. Hier sind die Gründe angegeben, die in Zukunft diese skandalösen Kündigungen, um anschließend zu exorbitanten Preisen an Gastarbeiter Schlafstellen vermieten zu können, unmöglich machen.
Darüber hinaus, Herr Kollege Geisenhofer, halte ich es für wenig wirkungsvoll, wenn die Bundesregierung einer vorliegenden Initiative aus der Mitte des Hauses nun noch einmal mit einer gleichen Initiative nachfolgen würde. Wir sollten hier im Ausschuß über diesen Problemkreis sprechen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Geisenhofer.
Herr Staatssekretär, Sie sagten, Ihnen seien keine Fälle der Fehlbelegungen dieser Art durch Bundesbehörden bekannt. Darf ich Ihnen zwei Fälle nennen? — GravelotteStraße 11 in München und in der Meilinger Straße; die Nummer ist mir jetzt gerade nicht bekannt.
Herr Kollege Geisenhofer, wir haben uns über den Bundesminister der Finanzen an die Oberfinanzdirektion München als die Verwalterin von Bundesvermögen in München gewandt. Von der Oberfinanzdirektion in München und von den von ihr um Auskunft gebetenen Vermögensstellen ist uns mitgeteilt worden, daß Zweckentfremdungen von Altbauwohnungen in München durch Bundesbehörden nicht bekannt seien. Ich bin gerne bereit, den beiden von Ihnen genannten Fällen nachzugehen. Nur bitte ich um Nachsicht, daß ich Ihnen jetzt keine andere Auskunft geben kann, weil ich hier auf die Auskunft der nachgeordneten Behörden angewiesen bin.
Danke schön.
Die Fragen 98 und 99 müssen schriftlich beantwortet werden; der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 100 und 101 des Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich angelangt, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich danke Ihnen.
Damit ist auch die Fragestunde zu Ende.
Ich berufe ,die nächste Sitzung auf Mittwoch, den 11. November 1970, 9 Uhr, ein und schließe die heutige Sitzung.