Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister des Innern hat am 6. Oktober 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Benda, Dr. Barzel, Stücklen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Neuordnung des Beamtenrechts — Drucksache VI/1177 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1246 verteilt.
Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat am 5. Oktober 1970 mitgeteilt, daß wegen Ablaufs des Aufhebungsrechts des Bundestages gemäß § 77 Abs. 7 des Zollgesetzes sich der Ausschuß für Wirtschaft mit den beiden Vorlagen
Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs Nr. 24/69 — Zollkontingente für Rohaluminium
— Drucksache VI /565 —
Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs Nr. 5,10 — Angleichungszoll für Rohkaffee
— Drucksache VI/591 —
nicht befaßt hat und eine besondere Berichterstattung an das
Plenum infolge des Zeitablaufs nicht mehr erforderlich sei.
Wir treten in die Fragestunde — Drucksache VI/1218 —
ein. Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Herr Außenminister zur Verfügung.
Ich rufe die Frage des Abgeordneten Freiherr von Fircks auf:
Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung der zweite Satz des Artikels 3 im deutschsowjetischen Gewaltverzichtsvertrag, in dem sich die Bundesregierung verpflichtet, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten, vereinbar mit dem Antwortschreiben des Auswärtigen Amtes vom 27. August 1970 auf eine Anfrage des Baltischen Rats bezüglich des Standpunktes der Bundesregierung zur Frage der Baltischen Staaten, wo es heißt, daß die Bundesregierung ihren bekannten Standpunkt in der Frage der Baltischen Staaten — der zuletzt in einem Schreiben des Bundesinnenministeriums vom 14. Juni 1968 an die IRO als „Nichtanerkennung der von der Sowjetunion durchgeführten Annexion der Baltischen Staaten" formuliert worden war — nicht geändert habe?
Herr Bundesminister!
Die Antwort des Auswärtigen Amtes vom 27. August auf das Schreiben des Baltischen Rates vom 20. Juli geht davon aus, daß keine Bundesregierung eine
Erklärung abgegeben hat, die eine Anerkennung der Eingliederung der baltischen Staaten enthält. Die Unterzeichnung des deutschsowjetischen. Vertrages hat daran nichts geändert.
Ich habe nach meiner Rückkehr von Moskau ani 7. August auf dem Flughafen gesagt — ich darf mich hier selbst zitieren —:
Unsere erklärte Bereitschaft, die Grenzen in Europa nicht mit Gewalt anzutasten, ist ein im Vertrag festgelegter Teil unseres gegenseitigen Gewaltverzichts. Grenzen können im gegenseitigen Einvernehmen auf friedlichem Wege auch in Zukunft verändert oder aufgehoben werden.
Damit ist die Tragweite des Art. 3 des deutschsowjetischen Vertrages umrissen. Durch die Verweisung auf die vorstehenden Ziele und Prinzipien im Obersatz des Artikels ist klargestellt, daß er eine Konkretisierung des Gewaltverzichts im Hinblick auf die Grenzen enthält. Die Verpflichtung beider Seiten, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa zu beachten, schließt also einseitige gewaltsame Änderungen aus.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, sind Sie mit mir nicht der Meinung, daß nach den Regeln der Logik und auch der deutschen Sprache die „Achtung der Integrität eines Staates in seinen heutigen Grenzen", wie es heißt, dann nicht unbegrenzt, sondern eingeschränkt gilt, wenn zugleich behauptet wird, daß Teile jener Grenzen völkerrechtswidrig, nämlich nicht durch Vertrag, sondern durch Annexion zustande gekommen sind?
Ich habe den letzten Teil Ihres Satzes akustisch nicht verstanden.
Wenn behauptet wird, daß ein Teil dieser Grenzen nicht nach dem Völkerrecht durch Vertrag, sondern völkerrechtswidrig durch Annexion zustande gekommen ist.
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3932 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Das hindert uns ja nicht daran, festzustellen, daß einseitige Veränderungen von Grenzen, die normalerweise immer nur mit Gewalt vor sich gehen können, den Frieden in Europa gefährden und deshalb von uns nicht zur Grundlage unserer Politik gemacht werden.
Wir haben — wenn ich das noch hinzufügen darf — zum rechtlichen Zustandekommen, zu dem Rechtscharakter von Grenzen keine Stellung genommen.
Herr Minister, gibt es irgendwo einen Nachweis oder auch nur einen Hinweis dafür, daß die UdSSR als Vertragspartner der Bundesregierung den Wortlaut und Inhalt des Art. 3 des Vertrages ebenso interpretiert, wie Sie es soeben hier getan haben?
Das wird die Diskussion über den Vertrag hier ergeben. Zu diesem Punkte bin ich befugt, aus den Protokollen der Verhandlungen die dazu gemachten Äußerungen des sowjetischen Außenministers wiederzugeben; das wird in der Diskussion zum Vertrag hier zutage kommen.
Ich rufe die Frage des Herrn Abgeordneten Hansen auf — der Herr Abgeordnete ist im Saal —:
Wann ist damit zu rechnen, daß das zur Zeit noch dem Foreign Office der USA untergeordnete „Document Center" , das wichtige Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus enthält, in die Zuständigkeit des Innenministeriums übergeführt wird?
Bitte!
1967 und 1968 fanden Besprechungen zwischen dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern und der amerikanischen Botschaft über einen amerikanischen Vorschlag statt, das Document Center in Berlin in deutsche Verwaltung zu übergeben. Die Besprechungen haben zu keinem Ergebnis geführt, weil die beiden Regierungen sich über die Bedingungen der Übergabe nicht einigen konnten. Die amerikanische Regierung besitzt als Besatzungsmacht in Berlin die Kontrolle über das Document Center. Sobald es zur Einigung über die Bedingungen kommt, wird die Bundesregierung die Archivbände übernehmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Minister, teilen Sie meine Auffassung, daß 25 Jahre nach Kriegsende auch die deutschen Historiker — und hier ist besonders an die Zeitgeschichtler zu denken — ein Recht darauf haben, jede Einsicht in alle Quellen über den Nationalsozialismus zu haben?
Ich teile diese Auffassung, aber ich glaube, daß die von den Vereinigten Staaten gestellten Bedingungen von uns nicht akzeptiert werden können. Deswegen müssen die Verhandlungen noch weitergehen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Minister, halten Sie es für vertretbar, daß Auskünfte, die von obersten Bundesbehörden beim Document Center eingeholt werden, durchschnittlich eine Laufzeit von einigen Monaten bzw. von einigen Wochen haben, obwohl zuweilen Versorgungsansprüche von Rentnern und anderen davon abhängen, und meinen Sie nicht, daß die Tatsache, daß selbst telegraphische Auskünfte an den Verfassungsschutz manchmal fünf bis zehn Tage dauern, ein Risiko für die innere Sicherheit der Bundesrepublik bedeuten kann?
Es wäre zu wünschen, daß Anfragen an das Document Center in einem Zeitraum abgewickelt werden können, der der jeweiligen Sache angemessen ist und der Dringlichkeit der Anfrage gerecht wird. Solange wir aber die Verwaltung des Document Center nicht haben, besteht naturgemäß kein direkter Einfluß auf die zügige Abwicklung von Vorgängen.
Ich rufe die Frage 107 des Herrn Abgeordneten Weigl auf:
Teilt die Bundesregierung die Befürchtungen deutscher Diplomaten, daß der vom UN-Unterausschuß zur Verhinderung von Diskriminierungen und zum Schutz der Minderheiten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen unterbreitete Resolutionsvorschlag, außer dem Verbot von Organisationen nazistischen und rassistischen Charakters auch Gruppen, die sich als Krieger-, Veteranen- oder Flüchtlingsverbände tarnen, eine Betätigungserlaubnis zu versagen, das Ziel einer Einmischung in innere Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland verfolgt?
Herr Minister!
Herr Kollege Weigl, wir haben keine ernstlichen Befürchtungen der Art, die Sie ausgesprochen haben. Der sowjetische Resolutionsvorschlag vor dem Unterausschuß, den Sie genannt haben, bringt zwar eine Ausweitung und Verallgemeinerung des behandelten Themas des Rassendiskriminierungs- und Minderheitenschutzes und bietet mit Begriffen wie „Chauvinismus", „Militarismus" und ,,Revanchismus" und dem Hinweis auf Krieger-, Vertriebenen- und Veteranenverbände gewisse Möglichkeiten weiterer Angriffe propagandistischer Art auch gegen uns. Eine Gefahr, daß damit das Ziel einer Einmischung in innere Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland verfolgt werde, wird jedoch nicht gesehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Weigl.
Herr Minister, schließt der deutsch-sowjetische Vertrag nicht von vornherein aus, daß der sicherlich von der Sowjetunion initiierte Resolutionsvorschlag auf diese Krieger- und Soldatenverbände in der Bundesrepublik abzielen könnte?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3933
Wir machen meist den Fehler, ,daß wir uns Schuhe anziehen, die möglicherweise gar nicht für uns bestimmt sind. Wenn in der Welt von Chauvinismus gesprochen wird, muß ich gestehen, daß ich schon nach der historischen Entwicklung nicht primär an die Bundesrepublik Deutschland denken würde, und wenn von Krieger- und Veteranenverbänden gesprochen wird, denke ich an viele solcher Verbände in der ganzen Welt und nicht primär und immer eingeengt an die Bundesrepublik Deutschland. Da in diesem Zusammenhang niemand von der Bundesrepublik Deutschland gesprochen hat, sondern das ein weltweites universales Problem ist, das diskutiert worden ist, kann man den Verdacht haben, ,daß es Leute geben könnte — wo, weiß ich nicht —, die auch die Bundesrepublik Deutschland im Auge haben. Dieser Verdacht muß aber nicht unbedingt zutreffen. Zunächst einmal bin ich gar nicht der Auffassung, daß wir selbst uns in der Diskussion mit solchen Fragen befassen sollten, wenn niemand sonst sich damit befaßt.
Herr Kollege, Sie haben noch eine zweite Zusatzfrage.
Wenn ich Ihre Antwort richtig verstanden habe, teilen Sie also die von mir ausgesprochenen Befürchtungen nicht?
Ich teile die Befürchtungen nicht, und ich will einen Zusatz machen: In der Behandlung des Themas im Unterausschuß der Vereinten Nationen hat der Antragsteller in seinem Antrag und in der Antragsbegründung zunächst sogar entgegen früherer Praxis die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in den Vordergrund des Interesses geschoben. Das habe ich für eine Folge des Vertragsabschlusses gehalten. Wenn in der Diskussion dann noch von allen Seiten härtere Formulierungen alten Stils gefolgt sind, ist es für uns nicht nützlich, das in den Vordergrund zu stellen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Fuchs.
Herr Bundesminister, könnten Sie verstehen, daß man aus Ihrer letzten Antwort doch entnehmen könnte, daß der eigentliche Grund die Bundesrepublik Deutschland gewesen ist, auch wenn sie aus taktischen Gründen nicht genannt wurde?
Nein. Ich kann mir Leute vorstellen, die sich in einem gewissen Eifer mit sich selbst beschäftigen und das zunächst vermuten. Aber ich kann mir auch andere vorstellen, die mit großer Gelassenheit und in Kenntnis der Struktur dieser Welt nicht primär an uns denken, weil wir wissen, daß es Angriffe dieser Art auf uns zwar geben kann, solche aber sicher ungerechtfertigt sein werden.
Ich rufe die Frage 108 des Abgeordneten Baron von Wrangel auf:
Kann die Bundesregierung die Meldung der Deutschen Presseagentur vom 26. September 1970 bestätigen, derzufolge Bundesaußenminister Scheel vor Auslandskorrespondenten in New York erklärt haben soll, Polen habe das Recht, in gesicherten Grenzen zu leben, die Bundesregierung respektiere die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens, müsse aber den Vorbehalt machen, daß diese Grenzregelung in einem Friedensvertrag, falls ein solcher zustande kommen sollte, bestätigt werde?
Diese Frage steht in einem gewissen Zusammenhang mit der nächsten Frage des Fragestellers. Wollen Sie beide Fragen gemeinsam beantworten, und ist der Herr Fragesteller damit einverstanden?
Ja, ich möchte die Fragen gemeinsam beantworten. Sie sind auch sehr kurz zu beantworten.
Ich rufe also auch die Frage 109 des Abgeordneten Baron von Wrangel auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß diese Erklärung des Bundesaußenministers im Widerspruch zu der Antwort steht, in der er am 29. April 1970 in der Fragestunde des Deutschen Bundestages auf die Frage des Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Barzel, 'ob die Bundesregierung eine Absichtserklärung für die Haltung der Bundesrepublik Deutschland für den Fall einer friedensvertraglichen Regelung plane, diese Frage verneint hatte?
— Herr Kollege, der amtierende Präsident entscheidet, inwieweit bei Fragen noch weitere Zusatzfragen zugelassen werden. Im Hinblick auf die zahlreichen eingereichten Fragen, die noch beantwortet werden sollen, habe ich jetzt die Fragen des Herrn Kollegen Wrangel aufgerufen. — Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege Wrangel, ich habe hier die dpa-Meldung vor mir liegen, auf die Sie sich beziehen. Diese Meldung ist die Zusammenfassung einer Diskussion, die ich in den Vereinigten Staaten gehabt habe, eine Zusammenfassung von Gesprächen mit Journalisten. Sie trifft nicht wörtlich, aber dem Sinne nach zu; wörtlich kann sie nicht zutreffen, da sie gerafft ist. Sie steht nicht in einem Widerspruch zu dem, was ich hier im Bundestag gesagt habe, nämlich daß eine endgültige Regelung in der Frage der Oder-Neiße-Linie nur durch einen Friedensvertrag erfolgen kann.
Der Herr Kollege von Wrangel stellt keine Zusatzfrage. Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Bundesaußenminister, können Sie versichern, daß sich die Bundesrepublik Deutschland als Bundesrepublik Deutschland nicht zur Unterlassung verpflichten will und wird, mit friedlichen, diplomatischen und politischen Mit-
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3934 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Dr. Czajateln eine Änderung der Demarkationslinien in Deutschland, insbesondere an Oder und Neiße, zu erreichen, also als politisch wirksames Völkerrechtssubjekt alles so zu betreiben, daß für Schlesien, Oberschlesien, Pommern, West- und Ostpreußen eine für Polen und Deutsche tragbare Lösung zustande kommt, und daß die Bundesrepublik Deutschland nichts unterlassen wird, um sich für die möglichste Bewahrung des Territoriums Deutschland, wie es die Berliner Feststellung vom 5. Juni 1945, das Potsdamer Protokoll und der Deutschlandvertrag zur Grundlage haben, mit diplomatischen Mitteln einzusetzen?
Herr Kollege Czaja, das war eine vorbereitete Zusatzfrage. Ich erlaube mir die Anmerkung, den Richtlinien für die Fragestunde, daß auch Zusatzfragen kurz gefaßt sein sollen, entspricht sie sicher nicht.
— Das ist eine andere Frage, ob der Herr Minister im Sinne der Richtlinien für die Fragestunde antwortet. Ich würde es aber für gut halten, wenn eine solche ausgedehnte Zusatzfrage dem Herrn Bundesminister zur Kenntnis gegeben würde.
Herr Kollege Czaja, es ist immer besonders — wie soll ich sagen — erleichternd für den Befragten, wenn er eine sehr umfangreiche Frage gestellt bekommt, die ohne weiteres ein Referat von 45 Minuten auslösen könnte, und dann im Interesse der Zeitersparnis allerdings vom Fragesteller den wohlgemeinten Ratschlag bekommt, sie mit Ja oder Nein zu beantworten.
Aber ich darf mir erlauben, eine Gegenfrage zu stellen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, fragen Sie doch, ob die Bundesrepublik Deutschland bereit ist oder nicht, zugunsten oder zuungunsten — ich weiß es nicht — der Deutschen Demokratischen Republik Grenzveränderungen mit Polen zu bestätigen oder nicht.
— Ich habe Sie also falsch verstanden.
Herr Minister, das war ja der Grund meiner Intervention bei dem Fragesteller.
Darf ich die Frage unter Zitierung der Quellen klar wiederholen? Ich darf hier doch wohl die Quellen zitieren.
Herr Kollege Czaja, für die Fragestunde gibt es Richtlinien. Diese Richtlinien sehen vor, daß die Fragen kurz sein sollen. Das heißt, Quellenzitate können nur schwer in der Fragestunde gebracht werden. Ich bitte Sie nunmehr, Ihre Frage nochmals kurz gefaßt zu stellen; ich dürfte sonst die Zusatzfrage nicht zulassen. Fragen Sie bitte!
Die bisherigen Kommentare waren noch viel länger. — Ich habe gefragt -das wird das Protokoll ausweisen —: Können Sie versichern, daß die Bundesrepublik Deutschland sich nicht verpflichtet, zu unterlassen, als politisch wirksames Völkerrechtssubjekt mit friedlichen, diplomatischen und politischen Mitteln eine Änderung der Demarkationslinie an Oder und Neiße in der Weise anzustreben, daß für Schlesien, Oberschlesien, Pommern, Westpreußen und Ostpreußen eine für Polen und Deutsche tragbare Lösung zustande kommt?
Herr Kollege Czaja, verstehen Sie denn nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland — sie hat ja, wenn ich das richtig sehe, im Augenblick keine Grenze mit Polen —, wenn sie eine solche Politik betriebe, wie Sie sie offenbar anregen wollen, in eine etwas merkwürdige Situation käme? Es kann doch nur darum gehen, Herr Kollege Czaja, daß wir in vertraglichen Regelungen, die wir mit Polen treffen wollen, zunächst einmal eines berücksichtigen, nämlich daß es eine Verantwortlichkeit der vier alliierten Mächte für alle Fragen, die Deutschland als Ganzes angehen, gibt. Das gilt auch im Hinblick auf die endgültige Regelung der Grenzfrage. Diese Verantwortlichkeit besteht so lange, his es einen Friedensvertrag geben wird. Der Friedensvertrag und die Verantwortlichkeit der vier Alliierten für die Fragen, die Deutschland als Ganzes angehen, sind zwei unauflöslich miteinander verbundene Dinge. Solange es keinen Friedensvertrag gibt — und es gibt keinen Friedensvertrag —, bleiben diese Verantwortlichkeiten bestehen, ist eine endgültige Regelung dieser Frage nicht möglich. Diese Frage regelt sich erst in einer Friedensvertragskonferenz. Das muß vorab gesagt werden.
Die Bundesregierung ist aber bereit — das habe ich hier mehrfach gesagt —, bis dahin dem Recht der Polen, in gesicherten Grenzen zu leben — dieses Recht ist früher auch von anderen Regierungen immer wieder betont worden —, dadurch wirklich Geltung zu verschaffen, daß wir die Oder-Neiße-Linie, so wie sie verläuft, als Westgrenze Polens betrachten, wobei wir über deren Rechtscharakter gar nichts sagen.
Herr Kollege von und zu Guttenberg!
Herr Minister, besteht nicht ein gewisser Widerspruch zwischen einerseits dem, was Sie vorhin in Beantwortung der Fragen des Kollegen Baron von Wrangel gesagt haben — ich bitte den Herrn Präsidenten um Verständnis dafür, daß die Begründung meiner Frage einen längeren Satz erfordert —, daß nämlich die dpa-Erklärung über das, was Sie in New York geäußert haben. dem Sinne nach richtig sei, womit Sie also bestätigen, daß Sie dort gesagt haben, eine Grenzregelung müsse in einem Friedensvertrag, falls ein solcher zustande kommen sollte, bestätigt werden, und andererseits dem, daß Sie gesagt haben, Sie sähen in dieser Ihrer New
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3935
Freiherr von und zu GuttenbergYorker Erklärung keinen Widerspruch zu dem, was Sie hier im Bundestag Herrn Dr. Barzel erklärt haben, daß nämlich die Bundesregierung nicht die Absicht habe, in diesem Zusammenhang eine Erklärung über den Inhalt eines Friedensvertrages abzugeben?
Herr Kollege von Guttenberg, es kann eigentlich nur ein übersteigertes Mißtrauen Sie zu dieser Frage geführt haben. Denn wenn ich sage, daß eine Grenzregelung einer Bestätigung durch einen Friedensvertrag bedarf, dann heißt das für jemanden, der nicht übertrieben mißtrauisch ist: wenn es eine solche Bestätigung nicht geben sollte, kann die Grenzregelung nicht rechtsgültig werden.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dasch.
Herr Minister, Sie haben vorher gesagt, daß wir keine gemeinsame Grenze mit Polen haben und daß Sie deswegen in gewisser Weise nicht antworten könnten. Ich frage Sie: Was hat denn dann eigentlich die Bundesregierung bewogen, dem Art. 3 des deutsch-sowjetischen Vertrages zuzustimmen, in dem steht: „die Oder-Neiße-
Grenze als Westgrenze Polens"?
Ich kann Ihnen präzise sagen, was die Bundesregierung dazu bewogen hat: ihre Absicht, in Europa den jetzigen Zustand zu überwinden und, nachdem es gelungen ist, mit den westeuropäischen Ländern ein Verhältnis der Freundschaft zu entwickeln, jetzt endlich, nach 25 Jahren, auch die Normalisierung unserer Verhältnisse zu Osteuropa einzuleiten.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatssekretär Professor Dr. Auerbach zur Verfügung.
Ich rufe als erste Frage die Frage 46 des Abgeordneten Müller auf:
Hält es die Bundesregierung für vereinbar mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung, wenn weibliche Fahrerinnen von Bussen oder Straßenbahnen in öffentlichen Verkehrsbetrieben gegenüber ihren männlichen Kollegen einer Reihe von Sonderauflagen unterworfen werden?
Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, darf ich die Fragen 46 und 47 zusammen beantworten?
Ist der Herr Fragesteller damit einverstanden? — Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe dann auch die Frage 47 des Abgeordneten Müller auf:
Wäre es nicht sinnvoller, unzeitgemäße Erlasse und Anordnungen aus vergangenen Jahrzehnten aufzuheben, statt die Betroffenen auf den Weg einer Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht zu verweisen?
Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist der Auffassung, Herr Abgeordneter, daß diskriminierende Sonderauflagen für Fahrerinnen von Bussen oder Straßenbahnen, also Auflagen, die nicht einem besonderen Schutzbedürfnis der Frauen dienen, nicht mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Männern und Frauen vereinbar sind. Sie hat deshalb bereits im Sozialbericht 1970 angekündigt, daß die Anordnung über die Beschäftigung von Frauen auf Fahrzeugen, die vor 30 Jahren erlassen wurde, überprüft wird. Dieser Ankündigung entsprechend ist im Juli dieses Jahres der Entwurf einer neuen Verordnung über die Beschäftigung von Frauen auf Fahrzeugen erstellt worden. In diesem Entwurf wird vorgeschlagen, das zur Zeit bestehende generelle Beschäftigungsverbot durch einen individuellen Gesundheitsschutz, insbesondere in Form regelmäßiger ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen, zu ersetzen. Frauen sollen also in Zukunft ohne besondere Ausnahmegenehmigungen beschäftigt werden können, sofern hiergegen keine gesundheitlichen Bedenken bestehen.
Herr Kollege, eine Zusatzfrage? — Bitte schön!
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß dies nicht nur eine verfassungsrechtliche Frage ist, sondern auch eine Frage, die die Nahverkehrsbetriebe wirtschaftlich sehr stark berührt, und das es deshalb wünschenswert wäre, diese Probleme beschleunigt einer Lösung zuzuführen, insbesondere nachdem Sie selbst vorhin erklärt haben, daß die alte Anordnung, auf die man sich beruft, noch in die vierziger Jahre zurückgeht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, sie stammt aus der Kriegszeit. — Herr Abgeordneter, für die Zeit bis zum November vorigen Jahres kann Herr Minister Arendt keine Verantwortung übernehmen. Wir haben sofort mit der Prüfung begonnen, welche der Arbeitsschutzverordnungen geändert werden sollten. Sie kennen die vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika vorgetragene Rechtsauffassung der sogenannten open-door-Bewegung, die besagt: Völlig unabhängig von den gesundheitlichen Gefahren, die sehr häufig für Männer und Frauen unterschiedlich sind, wollen wir gleiches Arbeitsschutzrecht haben. Das wird von allen Parteien dieses Hohen Hauses abgelehnt, genauso wie der Amtsvorgänger meines Ministers und mein Minister das ablehnen. Deshalb wollen wir einen individuellen Gesundheitsschutz. Wir stehen zur Zeit in Beratungen mit den obersten Arbeitsbehörden der Län-
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3936 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Staatssekretär Dr. Auerbachder sowie mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden. Ich kann nicht dafür garantieren, daß die Beratungen noch in diesem Kalenderjahr abgeschlossen werden können. Ich hoffe aber, daß die Verordnung in absehbarer Zeit erlassen werden kann.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Weigl, Sie hatten Ihre Frage zurückgezogen? Soll das so bleiben? — Ich will mich nur vergewissern.
Wir kommen zu der Frage 49 des Herrn Abgeordneten Härzschel:
Wie hoch waren die Darlehen, die in den Jahren 1968 und 1969 von den Rentenversicherungsträgern den Versicherten zur Erstellung von Eigenheimen und Eigentumswohnungen gewährt wurden, von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und von den Landesversicherungsanstalten?
Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Zahlen, Herr Abgeordneter, sind die folgenden.
Im Jahre 1968 hat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte rund 267 Millionen DM und im Jahre 1969 rund 348 Millionen DM Darlehen für die Erstellung von Eigenheimen und Eigentumswohnungen an Versicherte gegeben. Darin sind allerdings auch die Mittel enthalten, die den Versicherten nicht unmittelbar, sondern über Kreditinstitute zur Verfügung gestellt wurden. Es ist aber gesichert, daß die Mittel nur für Angestelltenversicherte gegeben wurden.
Bei den Trägern der Rentenversicherung der Arbeiter wirkt sich die unterschiedliche Finanzlage natürlich erheblich aus. Es sind als Hypothekendarlehen für Wohnungsgrundstücke im Jahre 1968 49 Millionen DM und im Jahre 1969 24 Millionen DM gegeben worden. Diese Statistik über die Vermögensanlage läßt nicht erkennen, in welcher Höhe diese Beträge direkt an Versicherte oder an Wohnungsbauunternehmen zur Begründung eines Belegungsrechts zugunsten Versicherter gezahlt wurden. Nach der Bewilligungspraxis der Träger kann aber angenommen werden, daß die Mittel fast ausschließlich den Versicherten zugeteilt worden sind. Es können aber im Einzelfall auch Darlehen für Rentner dieser Träger gegeben worden sein.
Außerdem haben die Träger der Rentenversicherung der Arbeiter Mittel in Pfandbriefen angelegt, die über Kreditinstitute wiederum den Versicherten für den Wohnungsbau zugute kamen. Sie beliefen sich für das Jahr 1968 auf 5,3 Millionen DM und für das Jahr 1969 auf 170 Millionen DM.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß diese Zahlen eine ungleiche Entwicklung andeuten, die auf Grund des Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes die Arbeiter erheblich benachteiligt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es besteht durch die unterschiedliche Finanzlage selbstverständlich auch ein ganz erheblicher Unterschied in der Finanzierung. Ich glaube aber nicht, daß man ohne weiteres von Benachteiligung sprechen kann, weil die Zahl der Anträge bei der Angestelltenversicherung vom Versichertenkreis her selbstverständlich viel höher ist als die Zahl der Anträge bei der Arbeiterrentenversicherung, mindestens relativ höher. Ich habe die Zahlen nicht da. Wir werden aber auch noch mit dem Verband der Rentenversicherungen diese Frage zu besprechen haben, um zu sehen, was zu machen ist. Aber Sie wissen, Herr Abgeordneter — die Beratungen liegen noch nicht lange zurück —, daß das Dritte Rentenversicherungsänderungsgesetz präzise Bestimmungen darüber enthält, daß es die erste Aufgabe ist, die Rentenzahlung jederzeit sicherzustellen, und deshalb ein Teil der Rücklage der Rentenversicherungsträger jederzeit liquide gehalten werden muß.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege? — Bitte!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß einzelne Landesversicherungsanstalten überhaupt keine Darlehen mehr an Arbeiter auszahlen, und wären Sie bereit, zu überprüfen, ob Sie hier wieder die Gleichheit der beiden Anstalten herbeiführen können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Durch die Bestimmungen des Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes, das ich mir schon zu zitieren erlaubte, müssen ,die einzelnen Träger der Rentenversicherung auf jeden Fall einen Teil ihrer Mittel liquide halten. Wir haben eine Reihe Rentenversicherungsträger, die heute schon zuschußbedürftig sind oder dicht daran sind, es zu werden. Bei diesen Trägern werden selbstverständlich die Leistungen für diesen Zweck wesentlich niedriger sein als bei den großen Landesversicherungsanstalten wie Rheinprovinz oder Westfalen.
Ich rufe die Frage 50 der Abgeordneten Frau Dr. Orth auf:
Trifft es zu, was in der ZDF-Sendung „Länderspiegel" vom 26. September 1970 festgestellt wurde, daß von insgesamt 145 000 eingereichten Anträgen zum Arbeitsförderungsgesetz 62 000 noch nicht bearbeitet worden sind?
Herr Staatssekretär, ich frage Sie, ob Sie, weil ein Zusammenhang besteht, die Fragen gemeinsam beantworten wollen, wenn die Frau Kollegin einverstanden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wäre dankbar, wenn ich das tun dürfte.
Ich rufe dann noch die Frage 51 der Abgeordneten Frau Dr. Orth auf:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3937
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenSieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, zur Vermeidung unbilliger Härten für die Antragsteller die Bearbeitung dieser Anträge zu beschleunigen?Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Anwachsen der Zahl der Anträge auf Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung, auf die sich Ihre Frage, Frau Abgeordnete, bezieht, ist im Grunde positiv zu beurteilen. Diese Tatsache zeigt nämlich, daß sich dieses Gesetz sehr rasch herumgesprochen hat.
Zur Zeit sieht der Antragsstand wie folgt aus. In Kraft getreten ist das Arbeitsförderungsgesetz am 1. Juli vorigen Jahres. Bis zum 31. August dieses Jahres sind 219 546 Anträge auf Förderung der beruflichen Fortbildung, Umschulung oder Einarbeitung gestellt worden. Alle drei Antragsarten sind in dieser Zahl enthalten.
Von diesen Anträgen waren am 1. September 1970 tatsächlich etwa 62 000 noch nicht erledigt. Allerdings muß man berücksichtigen, daß etwa ein Fünftel der Antragsteller erst beantragte, Lehrgänge besuchen zu können; sie hatten also nur ihre Absicht erklärt und am Stichtag noch keinen Anspruch auf Leistungen. Von den übrigen 44 000 Anträgen konnte in rund 15 000 Fällen die Entscheidung noch nicht getroffen werden, weil die vorliegenden Unterlagen nicht vollständig waren. Bei den restlichen Anträgen war in mehr als der Hälfte der Fälle festgestellt worden, daß die Entscheidung in absehbarer Zeit fallen würde. Wahrscheinlich ist über diese Anträge inzwischen. bereits entschieden.
Die Schwierigkeiten, die mit dem eingetretenen Bearbeitungsrückstand verbunden sind, sind vor allein auf die außergewöhnlich starke Belastung der Arbeitsämter in der Übergangsphase zurückzuführen. Zu unserem Erstaunen hat man anscheinend bei einzelnen Arbeitsämtern das Interesse an diesen Förderungsmitteln unterschätzt. Im Ministerium waren wir der Meinung, daß vielleicht sogar noch höhere Zahlen zu erwarten waren. Aber es ist unterschiedlich. In einigen Bundesländern — dazu gehört vor allem auch Baden-Württemberg — war die Zahl der Anträge ganz besonders hoch. In absehbarer Zeit wird das bewältigt werden. Die bisherigen Härten für die jungen Menschen können leider nicht beseitigt werden. In einigen Schwerpunkten, z. B. Düsseldorf, München, Nürnberg, Regensburg — ich nenne einmal nur diese vier —, werden deshalb jetzt angemessene Abschläge im voraus gezahlt. Die Feinberechnung kommt dann hinterher.
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung steht mit der Bundesanstalt in ständigem Gespräch, um eine schnellere Bearbeitung zu erreichen. Bisher ist folgendes geschehen. Die Zahl der Sachbearbeiterstellen wird erhöht, zum Teil ist es schon geschehen. Außerdem hat die Bundesanstalt einen Arbeitskreis zur Vereinfachung des reichlich komplizierten Verwaltungsverfahrens gebildet. Ferner hat der Verwaltungsrat der Bundesanstalt am 30. September beschlossen, die Pauschalierung der nach § 45 des Arbeitsförderungsgesetzes zu übernehmenden Fahrkosten zu ermöglichen. Ich habe allerdings festgestellt, daß nicht bei allen Arbeitsämtern die Durchführungsbestimmungen vorliegen. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich war so erstaunt, daß ich den Präsidenten eines Landesarbeitsamtes um Auskunft gebeten habe. Er hat mir zugesagt, das zu überprüfen, und ich bekomme eines Tages Bescheid. Wir müssen jetzt auch prüfen, ob der Verwaltungsrat sich in der Lage sieht, weitere Pauschalierungen vorzunehmen.
Frau Kollegin? — Keine Zusatzfrage. Der Kollege Müller ist auch befriedigt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Rosenthal zur Verfügung.
Der Herr Abgeordnete Blumenfeld hat seine beiden Fragen zurückgezogen.
Die Frage 20 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 21 und 22 sind nach I 2 Abs. 2 der Richtlinien wegen der Konjunkturdebatte in dieser Woche nicht zugelassen worden.
Ich rufe die Fragen 23 und 24 des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Versorgung der Bevölkerung mit Hausbrandstoffen,insbesondere mit Koks, für die Wintermonate in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem im ostbayerischen Grenzland?
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung ggf, zu treffen, um eine ausreichende und fristgerechte Versorgung der privaten Haushaltungen sicherzustellen?
Der Herr Kollege ist im Saal. Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Fuchs, die Versorgung mit Hausbrand beurteilen wir für diesen Winter eindeutig besser als im letzten Jahr. Feste Brennstoffe stehen insgesamt in ausreichender Menge zur Verfügung. Das gilt auch für den ostbayerischen Raum.
Eine Zusatzfrage.
Treffen also Ihrer Meinung nach, Herr Staatssekretär, Meldungen der „Passauer Neuen Presse" von Anfang Oktober nicht zu, daß auch zu einem Preis von 11,50 DM, der 30 % über dem Vorjahrespreis liegt, kaum Koks zu erhalten ist?
Herr Kollege Fuchs, dies dürfte nicht zutreffen. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß es auch in diesem Winter notwendig sein wird, einen Ausgleich zwischen Koks und Briketts vorzunehmen. Bei Frosteinbrüchen ist es richtig, die Bevölkerung dazu aufzufordern, rechtzeitig einzulagern, nicht wegen der zur Verfügung
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3938 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Rosenthalstehenden Menge, sondern wegen der Transportschwierigkeiten, die eventuell entstehen können.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß gerade die Familien mit geringem Einkommen durch gewisse Schwierigkeiten, die nicht zu verkennen sind, betroffen sind, insbesondere weil sie bei verspäteter Lieferung einen noch höheren saisonbedingten Preis zu zahlen haben?
Herr Kollege Fuchs, bei den Preisen für Koks ist ja noch folgendes zu beachten. Durch eine verhältnismäßig umfangreiche Umstellung von Heizungsanlagen sowie durch die Maßnahmen der Bundesregierung, wie die völlige Freigabe der Kokseinfuhren, und besonders dadurch, daß bei der Stahlindustrie ein Rückgang im Koksverbrauch eintritt, ist eine neue Situation entstanden. Das dürfte sich für eine bessere Koksversorgung ebenfalls positiv auswirken.
Die Antwort auf Ihre zweite Frage möchte ich noch vervollständigen: die volle Auslastung der Kokereikapazität im Bundesgebiet sowie die Inanspruchnahme von Lohnverkokungen im Ausland.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Fuchs.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, würden Sie sich auf Grund dieser Möglichkeiten, die Sie angedeutet haben — z. B. Rückgang bei der Stahlerzeugung —, dafür einsetzen, daß auch die Hausbrandversorgung mit Koks — denn gerade einfachere Familien haben keine Ausweichmöglichkeit schnell erfolgt?
Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Fuchs. Wir werden unser Möglichstes tun, damit der Kohlebeauftragte die Abstimmung mit den Händlern und den Produzenten in Ihrem Sinne beeinflußt.
Die Fragen des Herrn Abgeordneten Höcherl konnten wegen der Konjunkturdebatte nach den Richtlinien nicht zugelassen werden.
Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal zur Verfügung. Ich rufe die Frage 69 der Abgeordneten Frau Schimschok auf:
Ist der Bundesregierung der Artikel „Wer kontrolliert die Milchküchen" aus der Zeitschrift Selecta" — Nr. 4 vom 26. Januar 1970 — bekannt, in dem darauf hingewiesen wird, daß Säuglingsmilch in Krankenhäusern häufig Bakterien, z. B. Koli-
Bakterien, die bei Säuglingen Darmentzündungen hervorrufen können, aufweist, wobei oft Keimzahlen erreicht werden, bei denen in einigen Bundesländern die Abgabe von Milch selbst an Schulkinder verboten ist, und welche Bedeutung mißt die Bundesregierung dieser gefährlichen Tatsache bei?
Frau Kollegin Schimschok, die Bundesregierung mißt der einwandfreien Beschaffenheit der Säuglingsnahrungsmittel große Bedeutung bei. Aus diesem Grunde gelten Lebensmittel, die ,für Säuglinge bestimmt sind, als diätetische Lebensmittel und unterliegen den besonderen Anforderungen der Verordnung über diätetische Lebensmittel.
Der Bundesregierung ist der angesprochene Artikel über die Hygiene in Säuglingsmilchküchen von Krankenanstalten bekannt. Sie war hierauf bereits vor Veröffentlichung dieses Artikels durch Fachpublikationen und aus Wirtschaftskreisen aufmerksam gemacht worden. Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit hat zu Beginn dieses Jahres die obersten Landesgesundheitsbehörden und die obersten Landesveterinärbehörden, die für die Durchführung zuständig sind, in einem Schreiben gebeten, die Organe der Lebensmittelüberwachung entsprechend zu unterrichten.
Ich rufe die Frage 70 der Frau Kollegin Schimschok auf:
Besteht die Möglichkeit, die in den Vereinigten Staaten zum Schutz der Säuglingsmilch vorgeschriebene Schlußsterilisation in Krankenhäusern auch in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich festzulegen, nachdem bei diesem Verfahren nahezu jede Infektionsmöglichkeit ausgeschaltet wird, kein notwendiger Bestandteil der Säuglingsnahrung verloren geht und das durch die Erhitzung in Mitleidenschaft gezogene Vitamin C auf anderem Wege ersetzt werden kann?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Es besteht gewiß die Möglichkeit, die offenbar in den Vereinigten Staaten zum Schutz der Säuglingsmilch vorgeschriebene Schlußsterilisation in Krankenhäusern auch in der Bundesrepublik gesetzlich einzuführen. Die Schlußsterilisation ist jedoch in der Bundesrepublik nicht angewendet worden, weil nach der Auffassung und den Erfahrungen der Pädiatrie durch die Sterilisation die biologische Wertigkeit der Milch erheblich herabgesetzt wird, so daß die mit solcher Milch ernährten Säuglinge schlechter gedeihen als solche, die mit pasteurisierter Milch ernährt worden sind. In Betracht kommen könnte die Anwendung von Temperaturen und Temperatureinwirkungszeiten, wie sie bei der Pasteurisierung der Milch üblich sind. Ein sicherer Schutz ist jedoch im Hinblick auf hitzestabile Toxine auch hierdurch nicht gegeben. Erforderlich ist vielmehr eine strenge Hygiene bei der Gewinnung und Zubereitung der Säuglingsnahrung sowie eine lückenlose Kühlhaltung. Besondere Bedeutung kommt auch den hygienischen Maßnahmen auf den Stationen der Krankenanstalten zu. Zur Gewährleistung der Wirksamkeit dieser Maßnahmen ist die Eigenkontrolle in den Krankenanstalten und eine regelmäßige Überwachung durch die Gesundheitsämter und durch die Organe der amtlichen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3939
Parlamentarischer Staatssekretär Westphal Lebensmittelüberwachung der Länder erforderlich. Ergänzend ist zu bemerken, daß zunehmend Fertigpräparate Verwendung finden, die von der Wirtschaft in einwandfreier Beschaffenheit angeboten werden.
Keine Zusatzfrage? — Dann rufe ich die Frage 71 des Herrn Abgeordneten Dasch auf:
Glaubt die Bundesregierung, die Erhöhung des Kindergeldes für jedes dritte Kind um 10 DM und die Erhöhung der Freigrenze bei den Zweitkindern seien genügend, um die gestiegenen Lebenshaltungskosten der Familie mit zwei und mehr Kindern auszugleichen?
Ist der Herr Kollege im Saal? Bitte, Herr
Staatssekretär!
Herr Kollege Dasch, die Bundesregierung hat sich zu Ihrer Frage bei der ersten Lesung der Novelle zum Kindergeldgesetz sehr ausführlich geäußert, die, wie Sie wissen — Sie haben ja selbst durch Zwischenfragen in die Debatte eingegriffen —, am 16. September 1970, also vor drei Wochen, in diesem Hohen Hause stattfand. Um nicht zu verdoppeln, was damals gesagt worden ist, möchte ich Sie herzlich bitten, die entsprechenden Abschnitte im Protokoll des Bundestages nachzulesen: 64. Sitzung, Seite 3577 ff.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat Ihr Ministerium bei den Vorschlägen für die Verbesserung des Kindergeldes berücksichtigt, daß die Verteuerung beim Warenkorb von 4,1 %, umgerechnet pro Kind, 6 DM ausmacht und daß nach dem Vorschlag einer Verbesserung von 10 DM ab 3. Kind die Drei-Kinder-Familie pro Monat nur eine Verbesserung von 3,33 DM und meinetwegen eine Zehn-Kinder-Familie nur eine Verbesserung von 1 Mark bei einem Verlust von 6 DM an Kaufkraft erhält?
Unser Ministerium hat natürlich überlegt, gerechnet und viele Alternativrechnungen angestellt. Aber nun muß ich doch etwas aus dieser Debatte vom 16. September wiederholen. Das, was sich die Bundesregierung vorgenommen hat, ist der große Familienlastenausgleich. Da er erst am Ende dieser Legislaturperiode im Zusammenhang mit der Steuerreform kommen kann, war uns allen klar, daß es eine Vorwegverbesserung des Kindergeldes geben muß. Dazu gibt es Vorlagen in diesem Hause. Sie sind ausführlich begründet und enthalten eine wesentliche Verbesserung. Aber sie können nicht alles das aufholen, was seit 1965 respektive 1961, also unter Herrn Erhard, Herrn Heck und anderen zuständigen Familienministern, die nicht Sozialdemokraten sind, sich an Kaufkraftverlust der D-Mark insgesamt ergeben hat. Das letzte decken sie sicher.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Ihre Argumentation richtig ist, warum ist dann in der mittelfristigen Finanzplanung bis 1974 wiederum nicht mehr vorgesehen als praktisch nur die Weiterführung der jetzigen geringfügigen von Ihnen vorgeschlagenen Verbesserungen?
Den ersten Grund dafür habe ich bereits genannt. Der Familienlastenausgleich soll kommen, wird vorbereitet und wird also auf diese Zeit hin konzipiert. Man kann nicht jedes Jahr auf diesem Gebiet neue Vorgänge machen. Gerade der Dynamisierungsvorgang, der zur Debatte steht, wird ein Problem des Familienlastenausgleichs sein, kann aber keine der Zwischenlösungen sein, um die es jetzt geht. Darüber hinaus ist natürlich zu sagen, daß diese Regierung eine Verdoppelung des Ansatzes in der mittelfristigen Finanzplanung und eine Vorziehung um zwei .Jahre vorgenommen hat. Das war schon ganz beachtlich.
Herr Kollege Müller!
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob Ihnen noch in Erinnerung ist, daß bei der letzten Festsetzung des Kindergeldes gerade von dem heutigen Finanzminister beantragt wurde, die Grenze für das Zweitkindergeld wegfallen zu lassen.
Ich darf Ihnen in Erinnerung rufen, daß diese Bundesregierung einen Kindergeldgesetzentwurf vorgelegt hat, in dem eine erhebliche Anhebung der Einkommensgrenze enthalten ist. Sie wird gerade im Haushaltsausschuß beraten.
Ich rufe die Frage 72 des Abgeordneten Dasch auf:
Ist die Bundesregierung nicht der Meinung, daß dadurch besonders die Familien mit vier und mehr Kindern die gestiegenen Lebenshaltungskosten allein zu tragen haben?
Herr Kollege Dasch, die Bundesregierung hielt und hält nach eingehender Prüfung die Erhöhung der Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld für noch wichtiger als die Erhöhung der Kindergeldsätze für das vierte Kind. Für diese Bewertung spricht auch, daß bereits der 5. Deutsche Bundestag im Jahre 1965 die Beseitigung der Einkommensgrenze als sozialpolitisch dringend bezeichnet hat.
Eine Zusatzfrage.
3940 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Herr Staatssekretär, können Sie dann einräumen, daß wiederum nach der vorgesehenen mittelfristigen Finanzplanung bis 1974 — nach Ihren Vorstellungen eine so starke Benachteiligung der Mehrkinderfamilien eintritt, daß eine wesentliche Erhöhung dieser Ansätze in der mittelfristigen Finanzplanung unbedingt notwendig ist?
Ich bin in diesen Dingen an die Regierungsvorlage gebunden. Wir haben sie mitgestaltet, und wir haben unser Möglichstes getan, um auf diesem Gebiet vieles hinzuzubekommen. Wir haben etwas hinzubekommen; das habe ich Ihnen erläutert.
Ich kann Ihnen keine Erklärung darüber abgeben, ob und wann weitere Steigerungen möglich sind. Unsere Absicht ist, den großen Familienlastenausgleich durchzuführen. Wenn wir das schaffen — wir haben die feste Absicht, das zu tun —, werden wir auf familienpolitischem Gebiet die wirklich notwendige grundlegende Verbesserung erreichen, um die es geht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn aber in den nächsten zwei, drei Jahren diese grundlegende Änderung und Verbesserung nicht erreicht wird, ist das Bundesfamilienministerium dann bereit, eine Änderung der mittelfristigen Finanzplanung zu betreiben, um den Mehrkinderfamilien wesentlich entgegenzukommen?
Ich möchte nicht über die Antwort hinausgehen, die ich eben schon gegeben habe.
Ich rufe dann die Frage 73 des Abgeordneten Dr. Wagner auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Bestimmung des Ausbildungsförderungsgesetzes, nach der für eine Ausbildung deutscher Schüler im Ausland keine Förderung gewährt wird, sich besonders im westlichen Grenzstreiten der Bundesrepublik Deutschland nachteilig für eine gewisse Zahl von Schülern auswirkt, die aus sachlich durchaus fundierter, Gründen eine Schule im Ausland besuchen?
Wenn der Herr Staatssekretär und der Herr Fragesteller einverstanden sind, können die Fragen 73 und 74 wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet werden. — Ich rufe dann auch die Frage 74 des Abgeordneten Dr. Wagner auf:
Ist die Bundesregierung bereit, möglichst schnell eine Novelle zum Ausbildungsförderungsgesetz vorzulegen, mit der entweder die allgemeine Gleichstellung einer Ausbildung im Ausland mit der Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland, oder zumindest eine befriedigende Lösung für die Schüler im Grenzgebiet herbeigeführt wird?
Herr Kollege Wagner, der Bundesregierung ist bekannt, daß eine gewisse Zahl von Schülern, die in grenznahen Gebieten des Geltungsbereichs des Ausbildungsförderungsgesetzes ihren gewöhnlichen
Aufenthalt haben, nahegelegene Schulen im Ausland besuchen. Die Leistung von Ausbildungsförderung an diese Schüler ist nach der Regelung des § 3 des Ersten Ausbildungsförderungsgesetzes nicht möglich. Härtefälle, die sich aus dieser Regelung ergeben könnten, sind bisher noch nicht an das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit herangetragen worden.
Zu Ihrer zweiten Frage möchte ich folgendermaßen antworten. Nach dem Entwurf des Bundesausbildungsförderungsgesetzes Stand: 10. September 1970, also ganz aktuell —, das am 1. Oktober 1971 in Kraft treten soll, besteht die Absicht, die Förderung einer Ausbildung im Ausland einzubeziehen. Das gilt auch für die Schüler, die von ihrem ständigen Wohnort im grenznahen Geltungsbereich des Gesetzes im Ausland gelegene Schulen besuchen.
Eine allgemeine förderungsrechtliche Gleichstellung einer Ausbildung im Ausland mit der Ausbildung im Geltungsbereich des Gesetzes ist allerdings nicht vorgesehen. Dies ist auch deshalb nicht vertretbar, weil die ausländischen Ausbildungsstätten einer deutschen Schulaufsicht nicht unterstehen und weil die im Ausland vermittelte Ausbildung sowie die dort erzielten, für eine weitere Ausbildung erforderlichen Abschlüsse nicht sämtlich anerkannt sind. Auch die erhöhten finanziellen Aufwendungen für eine Ausbildung im Ausland tragen natürlich zu einer solchen Entscheidung bei.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner.
Herr Staatssekretär, worauf gründet die Bundesregierung die Auffassung, daß es bisher im Grenzbereich nicht zu Härtefällen gekommen ist, obwohl der Bundesregierung bekannt ist, daß eine Reihe von Schülern ausländische Schulen im grenznahen Bereich besuchen, also keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben? Ergibt sich damit nicht automatisch die Existenz von Härtefällen?
Herr Kollege Wagner, ich habe nur geantwortet, daß uns solche Meldungen bisher nicht vorliegen. Wir haben zu einer Fülle von Fragen des Ausbildungsförderungsgesetzes kritische Briefe mit Anregungen zu Verbesserungen erhalten, die wir nun zu verarbeiten haben, wenn wir an das neue Bundesausbildungsförderungsgesetz herangehen, was wir bereits tun.
Wenn Sie mir entsprechende Fälle nennen, werden wir auch diese mit in unsere Prüfung einbeziehen können. Daß wir solche Absichten haben, liegt auf der Hand. Das Gesetz, das wir jetzt befolgen, ist ein von diesem Hohen Hause beschlossenes Gesetz. Wir können es nicht zwischendurch anders handhaben, als es beschlossen worden ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3941
Herr Staatssekretär, wann rechnet die Bundesregierung mit der Vorlage bzw. dem Inkrafttreten des neuen Ausbildungsförderungsgesetzes?
Zu Ihrer Frage nach der Vorlage kann ich Ihnen sagen, daß die Absicht besteht, den Entwurf des Gesetzes im Dezember dem Kabinett zuzuleiten und ihn noch Ende dieses Jahres dem Hohen Hause vorzulegen, d. h. in den Gesetzgebungsgang zu bringen. Mit dem Inkrafttreten rechnen wir nach unseren Planungen zum 1. Oktober 1971.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie, nachdem wir mit dem vorliegenden Gesetz die Möglichkeit geschaffen haben, daß auch Deutschen im Ausland Ausbildungsförderung gewährt wird, fragen, ob Ihr Ministerium bei dem zu erwartenden Zweiten Ausbildungsförderungsgesetz, von dem Sie soeben gesprochen haben, dem Hause einen Vorschlag zur Beseitigung des hier aufgezeigten Mangels unterbreiten wird.
Ich habe schon in meiner ersten Antwort zum Ausdruck gebracht, Herr Kollege Josten, daß dies unsere Absicht ist.
Der Herr Abgeordnete Sieglerschmidt hat um schriftliche Beantwortung seiner Frage gebeten. Dem wird entsprochen. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Susset auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, cien im § 28 des Ausbildungsförderungsgesetzes vorgesehenen Beirat, der Vorschlage für die Durchführung und weitere Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung der individuellen Förderung erarbeiten soll, in Bälde zu berufen?
Der Herr Abgeordnete ist im Saal. — Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Susset, die Bundesregierung hat den Beirat für Ausbildungsförderung nach § 28 des Ausbildungsförderungsgesetzes auf Vorschlag bzw. mit Zustimmung des Bundesrates bereits berufen. Der Beirat wird am 21. Oktober 1970, also in einigen Tagen, zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten.
Keine Zusatzfrage? — Dann rufe ich die nächste Frage, die Frage 77, des Herrn Abgeordneten Susset auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, neue Ausbildungsformen, wie z. B. die des Fernunterrichts, für die Einbeziehung in die Ausbildungsförderung vorzuschlagen, und ist zu erwarten, daß die
Bundesregierung initiativ wird, um alle förderungswürdigen Ausbildungsbereiche bundeseinheitlich zu regeln?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, die Bundesregierung wird entsprechend ihrem Grundsatzbeschluß zur Ausbildungsförderung vom 4. Juni 1970 ein umfassendes System der individuellen Förderung der Ausbildung schaffen. Dabei wird sie auch neue Ausbildungsformen berücksichtigen. So hat der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in dem Entwurf des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nach dem Stand vom 10. September 1970 — das betrifft die Antwort, die ich soeben schon Ihrem Kollegen gegeben habe —, der zur Zeit mit den obersten Landesbehörden für Ausbildungsförderung beraten wird, Leistungen der Ausbildungsförderung für die Teilnahme an Fernunterrichtslehrgängen vorgesehen.
Eine Zusatzfrage.
Was gedenkt die Bundesreregierung zu tun, um darauf hinzuwirken, daß Leistungen und Leistungsberechtigungen in allen Bundesländern nach einheitlichen Kriterien gewertet werden?
Herr Kollege, ich nehme an, daß Sie vom Bereich der Fernschulen. sprechen. Hier gibt es eine Einrichtung, die von der Konferenz der Kultusminister geschaffen worden ist und die Aufgabe hat, sich insbesondere um das Problem der Seriosität solcher Institute und dessen, was sich auf diesem Gebiet entwickelt hat, zu kümmern. Wir sind auf eine wirksame Arbeit dieser Stelle sehr angewiesen. Wer in der vergangenen Legislaturperiode am Ersten Ausbildungsförderungsgesetz mitgewirkt hat, wird sich daran erinnern, daß die damalige Entscheidung, die Förderung von Fernlehrinstituten noch nicht in das Gesetz einzubeziehen, allein auf Grund des Tatbestands getroffen wurde, daß es noch keinen Überblick. und keine, sagen wir mal, Kontrolle über diesen Bereich gab.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, wird Ihr Ministerium bei dem Entwurf des Zweiten Ausbildungsförderungsgesetzes auch von dem Entschließungsantrag, den dieses Haus damals hei der Verabschiedung des Ersten Ausbildungsförderungsgesetzes angenommen hat, ausgehen?
Herr Kollege Josten, ich muß gestehen, daß ich jetzt nicht jede einzelne Passage dieses Antrags in Erinnerung habe. Aber soweit es sich auf die Frage
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3942 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Westphalbezieht und mit dem Thema Fernlehrinstitute zu tun hat, kann ich, glaube ich, mit Ja antworten.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen auf. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Borner zur Verfügung. Die erste Frage — Frage 78 — hat Herr Abgeordneter Seefeld gestellt:
Welche Möglichkeit hat die Bundesregierung, beim Neubau von Bundesautobahnstrecken sicherzustellen, daß die Inbetriebnahme der Notrufsäulen nicht erst — wie in der Regel üblich — ein bis zwei Jahre nach der Verkehrsfreigabe erfolgt?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, die Inbetriebnahme der Notrufanlagen an den Bundesautobahnen hängt von der rechtzeitigen Fertigstellung der Autobahnmeistereien ab, in die die Fernsprechkabel eingeführt und von deren Fernsprechvermittlungen die ankommenden Notrufe entgegengenommen werden. Da Planung und Bau der Autobahnen und ihrer Nebenanlagen den Straßenbauverwaltungen der Länder obliegen, hat der Bundesminister für Verkehr nur die Möglichkeit, die Länderverwaltungen zu bitten, um die rechtzeitige Fertigstellung der Autobahnmeistereien besorgt zu sein. Da die den Ländern obliegende Verkehrssicherungspflicht für
) die Bundesfernstraßen nur mit Hilfe der Autobahnmeistereien erfüllt werden kann, sind die Länder schon von sich aus bemüht, die Autobahnmeistereien mit der Verkehrseröffnung der Strecken in Betrieb zu nehmen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß man alles tun sollte, daß künftig Verzögerungen von ein bis zwei Jahren nach der Inbetriebnahme nicht mehr vorkommen?
Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu. Ich muß darauf hinweisen, daß in dem wahrscheinlich von Ihnen herangezogenen Fall eine bedauerliche Ausnahme vorliegt, die nicht auf das Verschulden der entsprechenden Straßenbauverwaltungen, sondern auf bestimmte Lieferschwierigkeiten im fernmeldetechnischen Bereich zurückzuführen ist.
Ich rufe die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Koenig auf. — Der Herr Kollege ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 80 des Herrn Abgeordneten Dr. Apel auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung das von der Kommission „Deutsche Tiefwasserhäfen" des Bundesverkehrsministeriums und der vier beteiligten Bundesländer nach 15monatiger Arbeit vorgelegte Ergebnis?
Herr Kollege, das bisherige Ergebnis ist positiv zu beurteilen. Die Tiefwasserhäfenkommission hat am 16. September 1969 zum erstenmal getagt und am 23. Juli 1970 — also nicht nach fünfzehn-, sondern. nach nur zehnmonatiger Arbeit — einen Zwischenbericht erstattet. Der Bericht räumt mit sorgfältig abgestimmten Angaben über die zu erwartenden Erz- und Erdöleinfuhren vielfach vorhandene irreale Vorstellungen aus. Bei diesen und anderen für die Planungsentscheidung wichtigen Daten hat die Tiefwasserhäfenkommission auseinandergehende Meinungen und Interessen aufeinander abstimmen können. Dazu war es nötig, vorhandenes Material zu analysieren und darüber hinaus noch umfangreiche eigene Feststellungen zu treffen. Zahlreiche Angaben über Vorgänge des Wirtschafts- und Verkehrsbereiches, die nicht nachprüfbar waren oder sich als nicht haltbar erwiesen, wurden aus den Betrachtungen ausgeschieden. Die Bundesregierung sieht in dem bisherigen Arbeitsergebnis eine wertvolle Grundlage für künftige Planungsentscheidungen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie vereinbaren Sie diese Aussage mit der Feststellung im Bericht, daß dieser Bericht auf Grund personeller und sachlicher Mängel, die in der Arbeit dieser Kommission gelegen haben, nur unvollkommen sein konnte?
Herr Kollege, man hat vielleicht die Kompliziertheit des Themas etwas unterschätzt. Der Name „Zwischenbericht" sagt ja auch, daß es sich hier um eine Frage handelt, die weiter verfolgt werden muß. Ich bin überzeugt, daß in der weiteren Arbeit zwischen den norddeutschen Küstenländern und der Bundesregierung alle noch offenen Fragen geklärt werden können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie sich bewußt, daß es der Auftrag dieser Kommission war, einen Ergebnisbericht und nicht einen Zwischenbericht vorzulegen, und bezeichnen Sie das, was hier vorliegt, als ein Ergebnis?
Herr Kollege, ich habe deutlich gemacht, daß es eine wünschenswerte Klarstellung verschiedener Faktoren war. Ich habe aber nicht gesagt, daß es kein endgültiges Ergebnis geben wird; vielmehr kann hier eine nützliche Zwischenbilanz gezogen werden. Wenn wir das Engagement des Bundes
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3943
Parlamentarischer Staatssekretär Börnerhier besonders ansprechen wollen, dann darf ich darauf hinweisen, daß wir der Wirtschaft insbesondere des norddeutschen Raumes durch die Entscheidung des Bundesministers für Verkehr, die Jade für 250 000-Tonnen-Schiffe nutzbar zu machen, eine ganz wesentliche Hilfe geleistet haben.
Ich rufe die Frage 81 des Herrn Abgeordneten Dr. Apel auf:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, daß die nötigen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse für den künftigen Standort des deutschen Tiefwasserhafens so beschleunigt werden, daß der Verkehrswirtschaft und der regionalen Entwicklung Norddeutschlands keine unnötigen Nachteile entstehen?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, die Aufgabe der Tiefwasserhäfenkommission besteht nicht darin, Vorschläge für den künftigen Standort eines deutschen Tiefwasserhafens vorzulegen, sondern darin, zu ermitteln, ob ein Bedarf für die Errichtung von Tiefwasserhäfen an der deutschen Küste besteht, und gegebenenfalls, wo diese zu errichten sind. Die Bundesregierung glaubt nicht, daß der Verkehrswirtschaft und der regionalen Entwicklung Norddeutschlands durch die bisherige und weiter geplante Arbeitsweise der Tiefwasserhäfenkommission Nachteile entstehen, zumal über den Ausbau von Wilhelmshaven für 250 000-Tonnen-Schiffe bereits Einvernehmen zwischen dem Bund und den Küstenländern erzielt worden ist.
Die Tiefwasserhäfenkommission ist auf die Mitarbeit in- und ausländischer privater Stellen angewiesen, die bisher in dankenswerter Weise großzügig mitgewirkt haben, aber nicht überfordert werden können. Die für den Wasser- und Hafenbau entscheidenden natürlichen Verhältnisse an der Nordseeküste und die technischen Ausbaumöglichkeiten bedürfen insbesondere für einen möglichen Off-shore-Hafen sorgfältiger Prüfung. Sie ist Voraussetzung für viele Kostenermittlungen. Die von der Tiefwasserhäfenkommission noch geplanten Arbeiten hält die Bundesregierung für sinnvoll. Sie wird diese Arbeiten im Rahmen ihrer Möglichkeiten fördern und beschleunigen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen entgangen, daß die Kommission selber in ihrem Bericht weitere Fragen aufwirft, nämlich die Frage der Wechselwirkung zwischen Tiefwasserhafen und Industrieansiedlung, die Frage nach den Kosten der einzelnen Projekte und die Forderung der Kosten-Nutzen-Analyse? Und wann, meinen Sie, wird diese Kommission — oder eine vielleicht personell besser ausgestattete Kommission — an die Arbeit gehen und uns vernünftige Ergebnisse vorlegen können?
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist mir keineswegs entgangen, daß die Kommission diese Fragen aufgeworfen hat, sondern ich halte es im Gegenteil — da beziehe ich mich auf meine vorherige Antwort — für außerordentlich verdienstvoll, daß dieses Problem, das, wie Sie zugeben werden, in früherer Zeit auch einmal emotional diskutiert worden ist, durch diese vielen Fragen eine wünschenswerte Vorklärung erfahren hat. Ich bitte, nicht zu übersehen, daß die weiteren Arbeiten der Kommission nicht allein von den Wünschen der Bundesregierung abhängig sind, sondern daß insbesondere der von Ihnen zitierte Bereich der Industrieansiedlung in hohem Maße landespolitische Entscheidungen der betroffenen Küstenländer erfordert bzw. daß der Standort dieses Hafens auch in Zusammenhang mit solchen Industrieansiedlungen gesehen werden muß. Die Bundesregierung wird alles tun, um, wie ich es in meiner Antwort bereits erwähnt habe, die weiteren Arbeiten dieser Kommission zu fördern. Es gibt gute Anzeichen dafür, daß wir in dieser Bewertung und in unserem Wollen mit den betroffenen Küstenländern übereinstimmen.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bewußt, daß, wenn. wir weiterhin Zeit verlieren oder verspielen, wir diese Frage nicht mehr zu diskutieren brauchen, weil dann andere europäische Länder einen Tiefwasserhafen gebaut haben werden?
Herr Kollege, ich bin nicht der Meinung, daß hier schon Zeit verspielt worden wäre oder daß wir dabei wären, das zu tun. Denn die Entwicklung in Nachbarländern zeigt, daß schnell getroffene Investitionsentscheidungen nicht immer die volkswirtschaftlich sinnvollen sind. Gerade der Hinweis auf eine Kosten-Nutzen-Analyse, den die Kommission nun gemacht hat, ist ein außerordentlich wichtiger Punkt, unsere Volkswirtschaft vor Schaden zu bewahren und die Investitionsentscheidungen der öffentlichen Hand zu objektivieren.
Ich rufe die Frage 82 des Herrn Abgeordneten Schwörer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele ermäßigte Fahrkarten an Rentner während der von der Deutschen Bundesbahn durchgeführten „Aktion 65" verkauft wurden und wie hoch der Gewinn der Deutschen Bundesbahn aus den verkauften Fahrkarten war?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, die Deutsche Bundesbahn hat bisher drei Sonderaktionen im Reiseverkehr zugunsten älterer Mitbürger eingeführt. Diese Sonderangebote richteten sich nicht nur an Rentner, sondern an alle Personen, welche die in diesen Aktionen festgelegten Altersgrenzen erreicht hatten. Von den beiden ersten Sonderangeboten wurde rund 15 Millionen mal Gebrauch ge-
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3944 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Börnermacht. Der Nettoerlös der Bundesbahn belief sich auf etwa 28 Millionen DM. Das dritte Angebot läuft zur Zeit noch, so daß abschließende Zahlen hierüber nicht bekannt sind.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, diese verbilligten Karten für Senioren gibt es in allen europäischen Ländern. Können Sie mir außer der Bundesrepublik noch ein Land nennen, das diese Gelegenheit zum verbilligten Fahren für alte Menschen auf gewisse Zeiten beschränkt?
Herr Kollege, das berührt die Antwort auf Ihre zweite Frage. — Ich wäre dankbar, Herr Präsident, wenn ich die zweite Frage noch beantworten könnte.
Ich bedaure sehr, Herr Staatssekretär, die weitere Frage kann ich nach den Bestimmungen für die Fragestunde nicht mehr aufrufen.
Eine letzte Zusatzfrage.
Ich wollte noch fragen, Herr Staatssekretär: Wenn schon von der Bundesbahn an diesen Fahrkarten noch verdient wird, warum läßt man sie dann nicht das ganze Jahr laufen, wie es in anderen Ländern ist, bzw. warum macht man kostspielige Werbeaktionen — für das, was diese Werbeaktionen kosten, könnte man die Verbilligung das ganze Jahr über laufen lassen — und macht die alten Leute nur darauf aufmerksam, wann sie günstig und wann sie weniger günstig fahren können?
Herr Kollege, da Sie seit längerer Zeit in der Verkehrspolitik tätig sind, glaubte ich annehmen zu können, daß Ihnen bekannt war, daß es sich hier nicht um einen Ausdruck von Sozialpolitik handelt, sondern um die Ausfüllung von gewissen Kapazitätsreserven, die die Bundesbahn in den Zeiten hat, wo der normale Reiseverkehr zurückgeht. Es handelt sich hier um eine Rabattgewährung für einen Personenkreis, der auf Grund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse normalerweise in dieser Zeit nicht reisen würde. Die Erfahrungen sind entsprechend gut. Ich glaube auch, daß diese Aktion der Bundesbahn großen Widerhall gefunden hat und fortgesetzt wird.
Ich muß Sie nur in allem Ernst darauf hinweisen, daß nach den Gesetzen, die Sie mitbeschlossen haben, bei sozialpolitischen Aktionen eine Ausgleichspflicht des Bundes besteht, ferner, daß der Vorstand der Bundesbahn bei solchen Rabattsituationen in eigener Verantwortung entscheidet. Wenn Sie also dieses Angebot auf das ganze Jahr ausdehnen, wird erstens das Verkehrsergebnis der Bahn möglicherweise beeinträchtigt, weil die Reisen dann nicht in diese Wellentäler der Auslastung der Bundesbahn fallen, zweitens tritt, wenn es eine politische Auflage wird, § 28 a des Bundesbahngesetzes, der von Ihrer Fraktion auch mit beschlossen worden ist, mit aller Härte gegen den Bund in Kraft.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde. Die Fragen 88 und 89 und 92 bis 96 wurden von den Fragestellern zurückgezogen. Ich wäre dankbar, wenn die Fragesteller, die gehofft hatten, daß ihre Frage noch mündlich beantwortet würde, diese gegebenenfalls zurückziehen und erneut einbringen würden. Wir geben noch wenige Minuten Karenzzeit. Andernfalls werden die Fragen nach der Geschäftsordnung schriftlich beantwortet.
Ich rufe nunmehr den nächsten Punkt der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung des Bundesaußenministers
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Als wir das letzte Mal außenpolitische Fragen im Bundestag diskutierten, stand die Politik der Bundesregierung Osteuropa gegenüber im Mittelpunkt des Interesses. Das Interesse ist auch heute noch unverändert da. Wenn bei unseren Bemühungen um Ausgleich bereits wesentliche Ergebnisse — ich denke jetzt an den Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 — erreicht wurden, so befinden wir uns dennoch, nicht am Ziel. Wir wissen, was wir wollen, wir wissen aber nicht, wann wir unser Ziel, ein Vertragswerk, das die gesamten Beziehungen zu den östlichen Gesprächspartnern regelt, erreichen werden. Das allgemeine Interesse an diesen Fragen ist infolgedessen nicht nur in unserem Lande gegeben, es reicht weit darüber hinaus. Das war —lassen Sie mich das jetzt betonen — der stärkste Eindruck, den ich bei meinen Besprechungen am Rande der UNO-Vollversammlung in New York gewann.Es scheint mir in diesem Zusammenhang geboten, die Bedeutung der Vereinten Nationen, die in diesen Tagen ihr .Jubiläum begehen, besonders hervorzuheben. Das 25jährige Bestehen dieser internationalen Körperschaft verlangt einfach einen Hinweis auf die großen Verdienste, auf die außerordentlichen Verdienste, die sich diese Institution in den Jahren ihres Bestehens erworben hat. Die Vereinten Nationen haben sich vorgenommen, und sie tun es, der Sicherung des Friedens zu dienen. Sie sind aus dem Wunsche der in zwei großen Kriegen geschundenen Völker entstanden, dem Mechanismus der Gewalt Einhalt zu gebieten. Zugleich macht aber die Existenz der Vereinten Nationen deutlich, daß kleine und große Nationen
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Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3945
Bundesminister Scheelgleichermaßen in weltpolitischen Fragen zu hören sind. Nicht wenige Staatsmänner gerade der kleineren und mittleren Nationen haben vor diesem Forum die Möglichkeit gehabt, ihre Argumente zu wichtigen Fragen der Weltpolitik gleichberechtigt zur Geltung zu bringen.Beim Zusammentreffen in der Vollversammlung, aber auch in den Unterorganisationen gibt es immer wieder jenen weltpolitischen Dialog, der allein die Alternative zur Anbetung der Gewalt sein kann. Hier wird zum Glück für die ganze Menschheit, so denke ich, das einzelne Argument immer wieder gewogen, und es wird nicht nur gezählt. Hier wird auch immer wieder deutlich, welch große Verantwortung die militärischen Supermächte, welch große Verantwortung aber auch die reichen Staaten dieser Erde, die Industrienationen, insgesamt haben. Die Bundesregierung weiß es zu würdigen, daß sie bei den Vereinten Nationen immer wieder Unterstützung und Verständnis für die uns interessierenden und für die uns lebenswichtigen Fragen gefunden hat und findet.Ich habe, meine verehrten Damen und Herren, in New York über 30 Gespräche geführt, beginnend mit dem Generalsekretär der UNO, auch mit vielen dort sich aufhaltenden Außenministern. Wenn ich den Eindruck dieser Gespräche vorwegnehmen darf, dann muß ich besonders dies sagen: Alle Gesprächspartner sehen in unserer Ostpolitik und diese Ostpolitik ist ein Begriff geworden, der auch in Fremdsprachen in Deutsch ausgedrückt wird -einen wesentlichen Beitrag zur Entspannung. Alle unsere Gesprächspartner wissen aber, daß diese Ostpolitik nicht isoliert steht, sondern daß sie die Ergänzung unserer Westpolitik ist, die auf dem Gedanken der Allianz und der Integration unverändert fest aufbaut.
Natürlich stand das Deutschlandthema im Mittelpunkt der Gespräche, und die Frage Berlin wurde von allen Gesprächspartnern nicht nur berührt, -sondern mit großem Ernst diskutiert. Auch die übrige Welt — das kann man sogar generalisieren — hat begriffen, daß es von dem Zustandekommen einer befriedigenden Berlin-Regelung abhängt, ob die von uns praktizierte Politik der Auflockerung den osteuropäischen Ländern gegenüber das Ziel, der Entspannung zu dienen und Entspannung herbeizuführen, erreicht oder nicht, ob sich nach 25 Jahren im europäischen Ost-West-Verhältnis tatsächlich jener Wandel abzeichnet, den die Völker dieses Kontinents nach den schrecklichen Erfahrungen zerstörerischer Kriege alle so sehr herbeisehnen.
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß ein positives Resultat der Viererverhandlungen über Berlin möglich ist, ein Resultat, das dann den Weg zu einer tiefgreifenden atmosphärischen Verbesserung im Verhältnis auch zu unseren östlichen Nachbarn freilegen würde. Uns, meine Damen und Herren, liegt an dieser Berlin-Regelung um so mehr, als eine Ratifizierung des Moskauer Vertrags durch uns erst möglich ist, wenn eine befriedigende Regelung des Berlin-Problems erfolgt ist.
Ich stelle damit kein juristisches Junktim
zwischen Moskauer Vertrag und Berlin-Resultat he) Daß aber ein enger politischer Zusammenhang zwischen den Einzelverhandlungen über die einzelner. Teile der von uns angestrebten vertraglichen Ge Samtplanung vorliegt, darüber besteht kein Zweifel Ich weiß mich in diesem Punkt einig mit allen, für die das Ziel einer konstruktiven Ostpolitik ein Gesamtvertragswerk ist, das eine Regelung oder einen Modus vivendi in allen zwischen uns und Osteuropa anhängigen Fragen gewährleistet. Auch unseren Gesprächspartnern ist bekannt, daß das Zustandekommen dieser Berlinregelung, die einen humanitären und einen rechtlichen Aspekt hat, nämlich die Bestätigung der bestehenden Bindungen zwischen Bund und Berlin,
eine entscheidende Grundlage unserer Ostpolitik darstellt. In dieser Frage muß Klarheit herrschen; es darf keine Unklarheit bestehen.
Meine Damen und Herren! Ich bin auf diesen Punkt eingegangen, um einer unnötigen Diskussion über diese Frage vor allem in den nächsten Tagen und Wochen entgegenzuwirken.
Denn jeder von uns weiß, daß diese Erörterung uns nichts nützt, gleich, von welcher Seite der Betrachtung des Problems sie geführt wird. Sie nützt uns nichts, am allerwenigsten nützt sie den Berlinern.Ich meine, genauso unzweckmäßig wäre die Erörterung des Themas, ob nun die vier Alliierten, vor allem aber, ob unsere drei westlichen Verbündeten in diesen Berlinverhandlungen unter besonderem Zeitdruck stehen oder nicht. Alle diese Dinge sind zu kompliziert, um übers Knie gebrochen zu werden.
Alle diese Fragen sind zu ernst, um fortgesetzt zum Gegenstand spekulativer Erörterungen gemacht zu werden.
Meine Bitte lautet: Bei der Diskussion des Berlinproblems und von Berlinproblemen: Vorsicht, Zurückhaltung, aber auch Selbstsicherheit.
Meine Damen und Herren, der Beifall in der Mitte freut mich deswegen besonders, weil ich mit
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3946 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Bundesminister Scheeldem, was ich gesagt habe - Sie werden es an der Blickrichtung gemerkt haben —,
das ganze Parlament gemeint habe, aber sicherlich auch ganz besonders die CDU/CSU-Fraktion.
Unsere Außenpolitik ist bei aller Unterschiedlichkeit des Einzelauftrages ein unteilbares Ganzes. Ich will damit sagen, daß wir uns stets der inneren Verflechtung unserer politischen Aktionen bewußt sein sollten, die auf Sicherheit auf der einen Seite und auf die Eröffnung besserer Zukunftaussichten auf der anderen Seite zugleich abgestellt sind, und dies nicht nur im Bereich der Ostpolitik.Gerade unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes der inneren Verflechtung unserer Aktionen habe ich es erfreulich gefunden, daß es mir in New York möglich gewesen ist, mich mit vielen Gesprächspartnern über die Europapolitik im engeren Sinne, nämlich über die europäische Integrationspolitik, zu unterhalten und unsere Entschlossenheit zur verstärkten Fortsetzung dieser europäischen Integrationspolitik zu bekräftigen. Damit meine ich vor allem die Intensivierung auch der politischen Zusammenarbeit in Europa im Gemeinsamen Markt, mit der wir nach zehnjähriger Stagnation endlich beginnen können. So wird es voraussichtlich noch in diesem Halbjahr, in dem wir den Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft führen, gelingen, auf der Grundlage des Davignon-Berichts, lassen Sie mich einmal sagen, den Mechanismus für politische Konsultationen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu schaffen und dabei außerdem die beitrittsbereiten Staaten schon zu beteiligen. Ich vermeide bewußt das weniger pragmatische Wort „Institution", „Institution der politischen Konsultationen", sondern ich sage: Mechanismus der politischen Konsultationen.Ich bitte dabei vor allem diejenigen Kollegen unter Ihnen um Verständnis, die in der Vergangenheit sehr viel mit dazu beigetragen haben, den Weg zur europäischen Zusammenarbeit zu ebnen. Wir wissen, daß mehr als ein vorzügliches Europakonzept an der Klippe der Auseinandersetzung über Institutionen gescheitert ist, und wir suchen zu lernen. Eine der Lehren der Vergangenheit lautet, daß man bei pragmatischem Vorgehen das gesteckte Ziel unter Umständen leichter erreicht als bei dem Versuch, politisches Handeln sofort den mitunter doch recht einengenden Regeln von Institutionen zu unterwerfen.Wenn wir diese Haltung in der Konsultationsfrage einnehmen, dann berücksichtigen wir im übrigen natürlich auch, daß vier Länder, die Mitglied dieses Gemeinsamen Markts werden wollen, noch nicht Mitglied sind, vier Länder, die alle am Zustandekommen der politischen Zusammenarbeit nicht nur ein besonders großes Interesse haben, sondern die alle selber aktiv daran mitwirken möchten. Schon deswegen ist es nicht möglich, jetzt die Institutionen zu schaffen, vorzugeben, und später diese vier Länder, ohne sie an der Ausarbeitung eines Konzepts dieser Art zu beteiligen, nur noch hineinbringen zu wollen. Es ist nicht sehr realistisch, Institutionen zu schaffen, bevor die Beitrittsfrage geregelt ist, und die Beitrittsfrage — ich bin dessen sicher — wird in einem voraussehbaren kurzen Zeitraum geregelt sein.Wesentlich bei der Entwicklung der politischen Zusammenarbeit ist für mich, daß die Konsultationen sehr gründlich vorbereitet werden. Gespräche der beteiligten Außenminister genügen nicht; diese Gespräche müssen fundiert vorbereitet sein. Wenn es am Anfang nicht immer möglich sein wird, im Zuge der Konsultationen politische Entscheidungen herbeizuführen, dann wird es doch möglich sein, gemeinsame Ausgangspunkte für gemeinsames Handeln zu finden, und das ist ein großer Fortschritt, verglichen mit der Lage, die wir augenblicklich im Europa der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorfinden.Ich glaube deshalb, daß wir die Einrichtung der Konsultationen als politisches Gegenstück zu der gemeinsamen wirtschaftspolitischen Planung nicht nur begrüßen dürfen, sondern daß wir sie verlangen müssen. Denn das, was wir heute erreichen wollen, eine Wirtschaftsunion in Europa und eine Währungsunion als konsequente Folge der Wirtschaftsunion, kann nicht funktionieren, wenn nicht gleichzeitig ein zentraler politischer Wille in Europa entsteht.Die Arbeiten an dem Zustandekommen einer Wirtschafts- und Währungsunion machen erfreuliche Fortschritte. Der Vorsitzende des Ausschusses, der sich mit diesen Fragen befaßt, der luxemburgische Ministerpräsident Werner, wird in Kürze die Arbeiten seines Ausschusses, ,die abgeschlossen sind, der Öffentlichkeit vorlegen können.Ich begrüße diese Entwicklung. Ich begrüße sie um so mehr, als der in Aussicht stehende Beitritt Großbritanniens, Dänemarks, Norwegens und Irlands zur Konsolidierung dieses Europa, an dem wir arbeiten, beitragen wird.Die Verhandlungen über die Erweiterung der Gemeinschaften haben erfreulicherweise einen guten Start gehabt. Nach Ihrer Eröffnung am 30. Juni in Luxemburg fanden am 21. Juli und am 21. und 22. September Einzelverhandlungen auf Minister- ebene statt. Dabei wurde bereits Einigkeit über das Verhandlungsverfahren erzielt und - was noch bedeutsamer ist — von allen Beitrittsbewerbern die grundsätzliche Bereitschaft zur Übernahme der Verträge und des inzwischen verabschiedeten Folgerechts erklärt.Bei meinen Gesprächen mit dem belgischen Außenminister Harmel in New York bestand Einigkeit — wir haben uns verständlicherweise über europäische Fragen unterhalten — um so mehr, als der belgische Außenminister als mein Vorgänger bedeutende Erfolge errungen hat in seiner Amtszeit als Präsident des Ministerrats und auch jetzt bereit ist, mitzuwirken an einer Beschleunigung der politischen Zusammenarbeit in Europa. Es bestand Einigkeit darüber, daß es jetzt, in diesen Monaten, darauf
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Bundesminister Scheelankomme, die sachliche Erörterung der Hauptprobleme der Beitrittsverhandlungen in Angriff zu nehmen und es nicht bei Einigungen über Formalien der Verhandlungen zu belassen und die Sachprobleme vor sich herzuschieben. Wir werden bemüht bleiben, noch unter der deutschen Präsidentschaft, die bis zum Ende dieses Jahres läuft, die Verhandlungen aus dem Stadium der Tatsachenfeststellungen herauszuführen.Wir haben uns für den Rest des Jahres ein ehrgeiziges Programm vorgenommen. Es gibt eine zweite und dritte Ministerkonferenz mit Großbritannien am 27. Oktober und am 8. Dezember. Es gibt Ministerkonferenzen mit Irland, Dänemark und Norwegen am 15. Dezember. Es gibt auch schon die notwendigen Gespräche mit den übrigen EFTA-Staaten am 10. und 24. November 1970.
Alle gewinnen in gleich hohem Maße, die sozialistischen Länder, die Bundesrepublik Deutschland und alle diejenigen, die an der Festigung des Friedens in Europa und an der Milderung der internationalen Spannungen interessiert sind.Insoweit zitiere ich Breschnew. In diesem Punkteweiß ich mich mit ihm einig. Meine Damen undHerren, weitere Auseinandersetzungen, weitere Interpretationsversuche gehören in das Reich der popolitischen Semantik, der Sprachwissenschaft
Ich meine ja alle, die sich darüber hinaus an weiteren Interpretationen versuchen.Diese Feststellung gilt auch für das Schreiben, das wir den Vertragspartnern in der Wiedervereinigungsfrage zugesandt haben. Auch hier gibt es keine Unklarheiten, und es darf auch keine Unklarheiten geben. Unser Standpunkt steht fest, und Herr Gromyko ist in keinem Zweifel darüber, daß die friedliche Verfolgung des Ziels ,der Vereinigung der Deutschen nicht im Widerspruch zum Vertrag steht. Wir können und wir wollen nicht ausschließen, daß die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands einmal einvernehmlich aufgehoben wird, gleichgültig, welche völkerrechtliche Konstruktion in Europa in dieser Zeit die Möglichkeit dazu geben wird. Ich habe dies dem Außenminister der UdSSR in Moskau gesagt, und ich habe dem auch hier nichts hinzuzufügen, meine Damen und Herren.Diese klare Linie wird auch für unsere Abmachunden mit Polen gelten. Ich hatte in New York Gelegenheit, darüber mit dem polnischen Vize-Außenminister Winiewicz auch im Hinblick auf meine Anfang November geplante Reise nach Warschau und im Zusammenhang mit dem Besuch der polnischen Delegation in Bonn zu sprechen. Unsere Position ist eindeutig. Ein Vertrag mit Warschau darf nicht die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes berühren. Ich habe heute morgen in der Fragestunde Gelegenheit gehabt, darüber noch Einzelheiten zu sagen, so daß ich es mir ersparen kann, das jetzt hier zu tun.Wir werden aber neben dieser völkerrechtlichen Frage, die eine Rolle für einen Vertragsabschluß spielen wird, auch besonders die humanitären Aspekte einer deutsch-polnischen Vereinbarung zu klären haben. Ich hoffe, daß die polnische Regierung die Bedeutung versteht, die wir z. B. auch Reiseerleichterungen im Verkehr zwischen der Bundesrepublik und Polen beimessen. Ich weiß auch, daß hier rechtliche Probleme auftauchen. Aber hierzu möchte ich bemerken, daß die Bundesregierung in ihrem Verhältnis zur DDR z. B. unter Beweis gestellt hat, daß juristische Erwägungen gegebenenfalls hinter dem Ziel humanitärer Erleichterungen zurückzutreten haben. Ich will nicht verschweigen, daß ich in dieser Bereitschaft, die wir gezeigt haben, eine erhebliche politische Leistung erblicke. Vielleicht erleichtert es diese Andeutung, daß für unseren Standpunkt Verständnis aufgebracht wird. Ich möchte, meine Damen und Herren, noch vor meiner Reise nach Warschau über all diese Fragen mit Ihnen in den dafür zuständigen Gremien, aber auch mit den interessierten Kreisen und Gruppen anderer Art sprechen.Eine Frage, deren Klärung der Bundesregierung ebenfalls ganz besonders am Herzen liegt, ist das Verhältnis zu unserem unmittelbaren Nachbarn, zur
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Bundesminister ScheelTschechoslowakei. In den nächsten Tagen wird ein Beamter des Auswärtigen Amtes nach Prag reisen, um erste Kontakte herzustellen. Auch hier wollen wir mit Behutsamkeit den Weg suchen, der eine Normalisierung unserer Beziehungen zur Tschechoslowakei erleichtern soll. Eine einvernehmliche Regelung der anhängigen Rechtsfragen sollte nach Auffassung der Bundesregierung möglich sein.Das Ziel dieser Politik ist die Sicherung unserer Zukunft durch Gewährleistung von Sicherheit und Entspannung zugleich. Es handelt sich hier nicht um Worte. Die Konflikte und Labilitäten in dieser Welt sind zahlreich — immer noch zahlreich. Wenn wir Europäer seit über zwei Jahrzehnten in Frieden leben können, so müssen wir doch gleichzeitig erleben, wie die Entwicklung in anderen Teilen der Welt — vor allem auch, was uns direkt berührt: im Nahen Osten — zu ernsthafter Besorgnis Anlaß gibt.Ich denke dabei nicht nur an die Tatsache politischer und militärischer Auseinandersetzungen, sondern vor allem auch an die Formen, die diese Auseinandersetzungen gegenüber Unschuldigen und Unbeteiligten angenommen haben. Nicht umsonst hat die Entführung deutscher Staatsbürger durch Terroristen unsere Öffentlichkeit so tief beunruhigt. Es kann nur unser aller Interesse sein, daß im Nahen Osten bald ein Zustand hergestellt wird, der die Interessen aller beteiligten Völker berücksichtigt.Meinen Gesprächspartnern aus dem nahöstlichen und Mittelmeerbereich, die ich in New York getroffen habe, ist dieser Standpunkt der Bundesregierung bekannt. Darf ich in diesem Zusammenhang, meine verehrten Damen und Herren, sagen, wie sehr ich es aus diesem Grunde bedauere, daß mit dem ägyptischen Staatspräsidenten Nasser eine der bedeutenden politischen Persönlichkeiten der arabischen Welt nicht mehr ist. Sicher war er umstritten. Aber auf ihn haben sich zuletzt im Zusammenhang mit dem Friedensplan des amerikanischen Außenministers Rogers doch die Hoffnungen für eine Befriedung des nahöstlichen Raums gerichtet.Die Vorgänge im Nahen Osten zeigen uns allen, daß sich eine internationale Entspannung nicht auf Einzelbereiche beschränken kann. Sie zeigen, daß Entspannung unteilbar sein sollte über Kontinente hinweg. Sie zeigen, daß eine Entspannung nur dann diesen Namen verdient, wenn sie alle Völker und Länder einbezieht.Aus dieser Erfahrung ergibt sich das Ziel unserer Außenpolitik: Sie soll, sie muß den Frieden sichern. Sie muß die Grundlage für unsere Sicherheit schaffen. Aber sie ist auch mehr: sie ist der notwendige Beitrag, die Voraussetzung zur Eröffnung von Zukunftsaussichten für unser Volk und für unser Land.
Eine solche Zielsetzung sollte nicht — nein: sie darf nicht mit einer innenpolitischen Motivierung zerredet, sie darf schon gar nicht den taktischen Rankünen untergeordnet werden.
Meine Damen Herren, eine Außenpolitik, die sich nur innenpolitisch orientierte oder gar von Teilinteressen bestimmt würde, verdiente die Bezeichnung Außenpolitik nicht. Ich will es noch einmal sagen: Es gibt für unser Volk keine Sicherheit ohne erfolgreiche Außenpolitik, und ich darf annehmen, daß es darüber in diesem Hause keinerlei Meinungsverschiedenheiten gibt. Deshalb bin ich auch sicher, daß dieses Haus bei allen Kontroversen, die sich in Einzelfragen ergeben mögen oder ergeben haben, jedenfalls in der Zielsetzung selbst einig ist, nämlich in der Wahrung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und in der Sicherung des Friedens.
Meine Damen und Herren, es ist ein alter Streit der Gelehrtenschulen, in welcher Form Außenpolitik in der Demokratie möglich sei, d. h. in welcher Art Parlament und Öffentlichkeit über außenpolitische Vorgänge und Entwicklungen, vor allem aber noch nicht abgeschlossene Entwicklungen zu informieren seien. Ich will ,den wissenschaftlichen Theorien darüber keine neue hinzufügen. Das ist schon gar nicht meine Aufgabe in der Bundesregierung, Theorien zu entwickeln. Außenpolitik ist ja Vollzug. Ich will an diesem Punkt lediglich darlegen, in welcher Weise nach vernünftigen Gesichtspunkten eine Güterabwägung vorzunehmen ist. Dabei ist eines ganz klar: die Bundesregierung, gerade diese Bundesregierung, hat ihre Informationspflicht immer besonders ernst genommen. Sie ist dabei bis an den Rand des Möglichen gegangen.
Die Oppositionspartei hat nach Kooperation gefragt. Wir haben diesen Gedanken aufgenommen, und wir haben unter den Gesichtspunkten, die ich bereits genannt habe, gründlich und umfassend informiert. Jedenfalls hat ,die Bundesregierung — das will ich mit allem Freimut bekennen — hier so gehandelt, wie es vernünftigerweise zu erwarten ist.Uns allen ist heute Gelegenheit gegeben, der Welt deutlich zu machen, daß in unserer politischen Zielsetzung Einigkeit herrscht, ungeachtet der im einzelnen bestehenden Differenzen zwischen den Parteien. Niemand hat bestritten, und ich denke, niemand wird bestreiten wollen, daß der Weg des Verhandelns, um zu Entspannung zu gelangen, um aus der Konfrontation in Europa eine Kooperation werden lassen zu können, der einzig denkbare Weg in unserer Zeit ist.
Der verstorbene Präsident Kennedy hat am 20. Januar 1961 in seiner Antrittsrede als Präsident der Vereinigten Staaten seinen Mitbürgern, aber auch der Welt zugerufen: „Wir wollen niemals aus Furcht heraus verhandeln. Aber wir wollen uns niemals davor fürchten, zu verhandeln." Er hat dann — mit dem Blick auf den Osten — hinzugefügt: „Laßt uns auf beiden Seiten herausfinden, welche Probleme uns vereinen, anstatt auf den Problemen herumzureiten, die uns trennen." Dieses Wort hat jetzt nach beinahe zehn Jahren nichts an seiner Aktualität eingebüßt.
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Bundesminister ScheelAber lassen Sie mich dennoch abschließend einen Hinweis geben, der nicht nur den Abgeordneten hier im Saale, sondern auch den Publizisten in unserem Lande und all unseren Bürgern gilt: Diese Bundesrepublik Deutschland hat mehr Nachbarstaaten und mehr Nachbarvölker als irgendein anderes Land in Europa. Man umschreibt diesen Zustand gewöhnlich mit der besonderen geographischen Lage, in der wir uns befinden. Aber hinter dieser Formel von der besonderen geographischen Lage verbirgt sich doch nichts anderes als die ganz besondere Verantwortung, die ein Volk, die ein Land, die ein Staat wegen dieser seiner Lage für den Frieden auf unserem Kontinent hat. Diese Verantwortung wiederum ist unteilbar. Sie ist nicht nur Verantwortung der Regierung, sie ist auch Verantwortung der Opposition; sie ist zugleich Verantwortung der Publizisten, aber auch und nicht zuletzt Verantwortung aller Bürger, aller Demokraten in dieser Bundesrepublik Deutschland. Unsere Chance, in der Außenpolitik die Ziele zu erreichen, die wir uns vorgenommen haben und die wir uns vornehmen mußten, ist abhängig vom Maß der Verantwortung, vom Verantwortungsbewußtsein all derer, die ich hier genannt habe.Wir wollen in diesem Europa als gleichberechtigter Partner gute Nachbarn unserer Nachbarn sein. Wir wollen Vertrauen erhalten und Vertrauen gewinnen, weil wir den Frieden erhalten wollen, weil wir den Frieden sichern müssen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war der Wunsch der Bundesregierung, heute hier vor diesem Hohen Hause einige Informationen auszubreiten, Informationen, die sich im Zusammenhang mit Ihren Gesprächen, Herr Bundesaußenminister, in den Vereinigten Staaten ergeben, auch Informationen, die die weitere Entwicklung der Situation im freien Europa betreffen.Wir haben 'Verständnis dafür, Herr Bundesaußenminister, daß Sie Gelegenheit suchen, hier Dinge deutlich zu machen, die wir in vielen Andeutungen in den letzten Tagen der Presse entnommen haben. Wir haben auch Verständnis dafür, daß Sie in einer recht schwierigen außen- und innenpolitischen Lage versuchen — lassen Sie es mich so sagen —, einige Glanzlichter auf eine langsam verblassende Ostpolitik zu setzen.
Natürlich, Herr Außenminister, verstehen wir auch, daß heute nicht nur der Bundesaußenminister, sondern auch der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei gesprochen hat.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben mit einer Würdigung der Vereinten Nationen begonnen. Die Vereinten Nationen, noch vor dem Ende des letzten Weltkrieges gegründet, haben in ihrer Charta all jene Prinzipien niedergelegt, die Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Völker — wie Sie sagten: der großen u n d der kleinen —, friedliche Zusammenarbeit, die Regulierung von Streitfragen und Wohlfahrt für alle garantieren. Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch — die geschichtliche Erfahrung seit 1945 hat uns dies gelehrt , daß Gewalt- und Machtpolitik so oft die Durchsetzung jener Prinzipien hinderten und daß so manche Hoffnungen enttäuscht wurden.So haben z. B. die rigorose Handhabung des Vetorechts im Sicherheitsrat und die gegensätzliche Auslegung der UN-Prinzipien bei manchen ihrer Mitglieder deutlich gemacht, wie nötig es ist, daß zum Geist der Vereinten Nationen auch der Wille ihrer Mitglieder gehört, sich in der praktischen Politik diesem Geist entsprechend zu verhalten.Gerade wir Deutschen, denen in einem Teil des Landes die Praktizierung der Menschenrechte nicht erlaubt ist, dürfen nicht in Resignation verfallen, sondern wir müssen an dem Gedanken einer umfassenden Völkergemeinschaft und an deren Prinzipien festhalten. Daher arbeiten wir überall, wo dies nützlich und nötig ist, konstruktiv mit. Wir arbeiten auch deshalb mit, weil wir tief davon überzeugt sind, daß die Völker der Welt auf die Dauer nicht an der Tatsache vorbeisehen können, daß gerade hier im Herzen des alten Kontinents, in dem das Licht der Freiheit und der Menschenwürde zuerst entzündet worden ist, daß in der Mitte und im Osten dieses Kontinents die grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte nicht nur nicht gesichert sind, sondern von den Menschen nicht ausgeübt werden dürfen.
Herr Bundesaußenminister, wir haben Ihre Reise nach Washington und New York genau verfolgt; ebenso, mit wem und was Sie dort gesprochen haben. Wir haben Ihre Interviews gelesen und die Kommentare in den Zeitungen und im Rundfunk dazu zur Kenntnis genommen. Sie nehmen mir nicht übel, wenn ich sage, daß es einem mitunter erscheint, als sei man in einem Weinland, wo man saueren Wein mit Zucker etwas aufbessert, wenn man sieht — dieser Eindruck entstand auch soeben bei Ihrer Darlegung —, daß eine Politik im Spiegelbild dessen, was Ihre Partner gesagt haben, dargeboten wird, eine Politik, die wir vor allem in ihren Konsequenzen anders sehen als Sie selbst.Aber es war, glaube ich, in dem, was Sie sagten, auch vieles, was ich als eine „realistische Tönung" bezeichnen möchte. Es muß jetzt deutlicher werden, nachdem der während und nach der Moskauer Vertragsunterzeichnung erzeugte euphorische Jubel Stück um Stück abgeebbt ist, daß wir uns alle einer nüchternen Betrachtung des deutsch-sowjetischen Vertrags und seiner weitwirkenden Konsequenten zuwenden müssen.
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3950 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Dr. Marx
Die Bundesregierung so stellen wir, Herr Bundesaußenminister, und weite Teile der deutschen Öffentlichkeit fest — hat noch vor etwa sieben Wochen das „Prinzip Hoffnung" entwickelt und an ihre Unterschriftsleistung eine Fülle von Erwartungen geknüpft. Wir sehen, daß Sie selbst und Vertreter der sie tragenden beiden Koalitionsparteien sich jetzt Mühe geben, die damals erzeugten Erwartungen und Stimmungen zu dämpfen. Ich denke daran, daß Sie, Herr Kollege Wehner, bereits in Ihrer Rede vom 18. September dieses Jahres in diesem Hause die euphorische Stimmung sehr gedämpft haben. Sie hatten dafür sicher Ihre guten Gründe. Wir haben uns damals, als wir Ihre skeptischen Bemerkungen etwa über die Möglichkeit einer befriedigenden Berlin-Regelung anhörten, gefragt: Wessen Hoffnungen dämpft Kollege Wehner eigentlich?
Ich will es Ihnen sagen: Ich glaube, Sie haben sich dabei selbst korrigiert, weil es schon nach kurzen Wochen notwendig war, einzusehen, daß der sowjetischen Politik nicht jenes Maß an Elastizität und Entspannungsbereitschaft innewohnt, das man im August noch überall behauptet hatte.
Meine Damen und Herren, wenn ich heute über Berlin spreche, geschieht das ausdrücklich unter Berücksichtigung der Tatsache, daß zur Zeit die Vier-Mächte-Verhandlungen fortgesetzt werden, wobei ich mir jedoch wünschte, daß man auch im Bereich der DDR darauf Rücksicht nähme und nicht zur gleichen Zeit die bisher umfangreichsten Manöver des Warschauer Paktes dort ablaufen ließe.
Ich will heute über Berlin selbst nur soviel sagen: Herr Bundesaußenminister, wir haben aufmerksam zugehört, als Sie noch einmal die Formel von Moskau über den untrennbaren Zusammenhang zwischen einer befriedigenden Berlin-Regelung und der Ratifikation des deutsch-sowjetischen Vertrags wiederholten. Das halten wir ausdrücklich fest. Wir stimmen dem von Ihnen mit Betonung vorgetragenen Satz zu, wo Sie sagten: „In dieser Frage muß Klarheit herrschen." Wir werden aber auch, Herr Bundesaußenminister, darüber wachen müssen, daß nicht durch andere in, wie ich sage, unverantwortlicher Weise, z. B. durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Herrn Schütz,
durch das Anerbieten substantieller Dinge auf offenem Markte, unüberlegt
und schädlich, der Inhalt dessen, was eine „befriedigende Berlin-Regelung" sein könnte, Stufe um Stufe weiter minimalisiert wird.
Herr Bundesaußenminister, ich sage das mit großem Ernst und mit der direkten Bitte an Sie, dabei nicht mitzuhelfen. Sonst könnte die weitere Entwicklung nämlich dahin gehen, daß Sie und Ihre Regierung in einen Zugzwang geraten, wobei Sie gezwungen wären, etwas als befriedigend für Berlin anzusehen, was für uns alle unbefriedigend ist.
Lassen Sie mich bitte einige Bemerkungen zu den Gesprächen in den Vereinigten Staaten machen. Meine Damen und Herren, draußen in der Öffentlichkeit — auch in diesem Hause — ist wiederholt gesagt worden, daß offizielle Erklärungen von verbündeten Regierungen als eine Zustimmung zur allgemeinen Linie und auch zu Detailfragen der deutschen Ostpolitik verstanden werden müßten. Ich selbst habe z. B. in Washington erlebt, wie peinlich es Regierungsvertretern und Mitarbeitern der Regierung ist, wenn sie feststellen — dabei knüpfe ich an Ihre letzten Bemerkungen an —, wie hinderlich es ist, wenn Erklärungen befreundeter Regierungen hier in der Bundesrepublik in der innenpolitischen Auseinandersetzung verwendet werden,
wenn also der Eindruck erweckt wird, als ob das, was man eine moderierte Haltung in der Öffentlichkeit nennen könnte jedermann weiß, daß befreundete Regierungen sich nicht gegenseitig öffentlich kritisieren —, hier als innenpolitischer Schlagstock für die Argumente der Bundesregierung benutzt wird.
Herr Bundesaußenminister, um gerecht zu sein, muß man natürlich, wenn man schon zitiert, was andere Regierungen sagen ich beziehe mich jetzt ausdrücklich nicht auf diesen Teil Ihrer Rede, sondern auf vieles, was in den letzten Wochen und Monaten durch Vertreter der Regierung und der sie tragenden Parteien in der Öffentlichkeit gesagt worden ist —, auch feststellen, daß es objektiv andere Interessenlagen gibt. Denn unser deutsches Problem, die politische, psychologische und — auch darauf wiesen Sie hin geographische Lage unseres Landes verlangen andere Maßstäbe, als sie verständlicherweise von jenen angelegt werden, die weiter ab leben und oft andere Probleme stärker und bedrängender fühlen als das deutsche.Meine Damen und Herren, wir wissen sehr gut, daß befreundete Nationen unser Fraktionsvorsitzender hat das deutlich gemacht, als er von seiner Reise in die Hauptstädte der westlichen Verbündeten zurückkam; ich glaube, es war am 7. September —, daß andere sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einmischen. Wir wissen sehr gut, daß sie aber auch hinzufügen, sie könnten natürlich nicht deutscher sein als unsere eigene deutsche Regierung.
Es ist klar, die Verbündeten wahren ihre Rechte. Aber erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, daß in der letzten Zeit doch auffällt, mit welch steigender Betonung auch unsere Verbündeten davon sprechen, daß sie auf die Rechte pochen, die ihnen als Sieger-
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Dr. Marx
mächten des zweiten Weltkriegs zufließen, und daß mehr und mehr jene Argumentation zurücktritt, die die Staatskunst Adenauers erreicht hatte, daß sie als Verbündete, als Partner ihre Rechte und Pflichten mit uns zusammen wahren.
Herr Bundesaußenminister, was Sie zur Entwicklung, zur Methodik der Beitragsverhandlungen der Beitrittswilligen gesagt haben, findet Zustimmung. Wir ermuntern Sie ausdrücklich, die Verhandlungen mit den vier beitrittswilligen Ländern in diesem Geist voranzutreiben. Wir ermuntern Sie auch, dort Ihre Politik weiter durchzusetzen — da haben Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion —, wo Sie darauf pochen, daß es notwendig ist, einen einheitlichen europäischen Willen zu erzeugen. Dies ist die treibende Kraft, die wir in der weiteren Entwicklung unserer europäischen Politik notwendigerweise brauchen. Wir haben auch beobachtet, Herr Bundesaußenminister, wie Sie in New York in Ihren Gesprächen mit den Außenministern der Länder, die aus der nichtgebundenen Welt kommen, mit den Schwierigkeiten konfrontiert waren, die sich für diese Länder ergeben, um — sagen wir einmal — die Zollmauern der EWG zu überspringen. Wir verstehen, daß in diesen Ländern versucht wird, bestimmte Formen einer direkten oder indirekten Zusammenarbeit mit der EWG zu finden, und jeder findet unsere Unterstützung, der hierbei versucht, besonders harte Schwierigkeiten durch Vereinbarungen zu regeln.Sie haben aber auch, Herr Bundesaußenminister, als Sie aus Moskau zurückkamen, uns erzählt, daß die sowjetischen Führer sich mit der Existenz der EWG und mit deren Ausweitung abgefunden hätten. Sie mag als „Monstrum" bezeichnet worden sein, aber Sie sagten doch, Sie hätten den Eindruck gewonnen, daß man sich in Moskau politisch auf die neue Tatsache einstelle.In diesem Zusammenhang müssen wir die Öffentlichkeit darauf hinweisen, daß die Sowjetunion begonnen hat — jetzt begonnen hat , mehr und mehr ihre Aktivitäten gegen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und gegen unsere Entschlossenheit, die politische Einigung Europas voranzutreiben, zu richten.
Mehr und mehr dringen Äußerungen aus dem europäischen Osten zu uns herüber, die — und ich sage das auch ganz freimütig — vor allem im Zusammenhang mit der Propagierung einer europäischen Sicherheitskonferenz versuchen, die Einigung des freien Europa abzubremsen, die Europäer gegen die Amerikaner aufzuwiegeln und den Gedanken einer „gesamteuropäischen", wie es heißt, Konzeption zu fördern. „Gesamteuropäisch" aber ist in diesem Zusammenhang, daß man versucht, das Ergebnis des Zusammenschlusses im freien Europa zu unterlaufen und unter der dominierenden Macht der Sowjetunion in Europa ein Modell zu schaffen, daß dem Bild der Sowjetunion von einem solchen künftigen Europa ohne die Amerikaner entspricht.
Wir denken — Herr Kollege zu Guttenberg — auch an das — ich sage auch dies ganz freimütig, denn es war ja eine öffentliche Rede, die darüber gehalten worden ist —, was der sowjetische Emissär Herr Juri Schukow hier vor kurzer Zeit in der Bundesrepublik sagte, daß er uns nämlich direkt oder indirekt die Hilfe der Sowjetunion anbietet, um der, wie er es nennt, „amerikanischen Herausforderung in Europa" entgegenzustehen.Herr Bundesaußenminister, wir unterstützen ausdrücklich einen. Satz, den ich etwas knapper zu fassen versuche: was wir brauchen in Europa, ist nicht nur der Wille zur Gestaltung der europäischen freiheitlichen Allianz, sondern auch die enge partnerschaftliche Bindung mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Wir brauchen Fortschritte in der politischen Einigung des Kontinents, weil nur auf diesem Hintergrund ein wirklich dauerhafter Ausgleich mit dem europäischen Osten eingeleitet und dann auch herbeigeführt werden kann.Herr Bundesaußenminister, ich muß noch einige Bemerkungen hinzufügen. Denn Sie haben — darauf bezog sich vorhin. meine Bemerkung, daß Sie diesen sauren Wein zu schönen versuchten — gesagt, bei dem Moskauer Vertrag würden. „wir alle in gleicher Weise gewinnen". Wir wollen jetzt darüber keine lange Debatte anstrengen. Aber wir wären sehr dankbar, wenn in einer dann zu führenden gründlichen Debatte Sie sich in der Lage sähen, Herr Bundesaußenminister, diesem Hohen Hause klarzumachen, ob beide Seiten bei diesem Vertrag Vergleichbares eingebracht haben und ob tatsächlich und konkret beide Seiten aus diesem Vertrag entsprechende, für uns alle brauchbare politische Nutzanwendungen ziehen können.
Sie haben weiter gesagt, Herr Bundesaußenminister, daß es nicht verschiedene Interpretationen gebe. Ich denke an einen Satz Ihrer Rede, die Sie in Straßburg vor dem Europarat gehalten haben, wo Sie sich so ausgedrückt haben: Dies alles ist klar und eindeutig, da gibt es keine Interpretationen. Es ist fast eine Preisfrage, Herr Bundesaußenminister, warum aber dann genau dieser Satz in der Veröffentlichung Ihrer Rede im „Bulletin" herausgenommen worden ist.
Herr Bundesaußenminister, wenn wir miteinander über dieses Thema diskutieren wollen, schlage ich. doch vor, daß wir uns nichts vormachen, daß wir nicht so tun, als ob es nicht verschiedene Interpretationen gebe. Sie liegen doch auf der Hand. Jedermann, der sowjetische Zeitungen liest, jedermann, der den Rundfunk in Moskau, in Warschau, in Ost-Berlin hört, jedermann, der das aufnimmt, was in den Kommuniqués steht, wenn sowjetische Führer sich treffen, muß doch ganz eindeutig feststellen, daß
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Dr. Marx
es zu dem, was die Bundesregierung sagt, weit abweichende Interpretationen des 'Vertrages gibt.
Verschweigen dieser Tatsache, Herr Bundesaußenminister, schafft die Realitäten, um die es dabei geht, nicht aus der Welt. Auch wenn Sie den Satz hinzufügen, man solle keine politische Semantik betreiben, so bitte ich in allem Ernst darauf hinweisen zu dürfen,
daß es zwingend notwendig ist, bei einem Partner wie der Sowjetunion, der aus einem anderen Denken heraus handelt und seine diplomatische Arbeit nach anderen Methoden gestaltet, Wort für Wort zu prüfen, was gemeint ist, was gesagt ist, und nichtich sage das jetzt als einen allgemeinen Vorwurf — in einer für meine Begriffe recht oberflächlichen Weise selbst an die Übersetzung eines so bedeutenden und für uns alle verbindlichen Textes zu gehen, wie wir es in einer Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion — und ich sage ausdrücklich: im Augenblick nur an einem entscheidenden Wort — dargestellt haben.
Herr Bundesaußenminister, Sie sagten auch — ich muß dies auch noch aufnehmen —: „Wir wollen nicht ausschließen, daß die innerdeutschen Grenzen einvernehmlich aufgehoben werden." Herr Bundesaußenminister, ist dies eine Form der Aktivität, die Sie zutage treten lassen: „Wir wollen nicht ausschließen" ? Sind wir nicht alle unter dem Gesetz, das uns unser eigenes Grundgesetz auferlegt? Hat nicht auch diese Regierung, auch in ihrer Regierungserklärung, ihre eigenen Aktivitäten in einer bedeutend präziseren Weise vorgetragen? Sie sagen: „Wir wollen nicht ausschließen." Was heißt das, Herr Bundesaußenminister? Ich hoffe, daß wir nicht nur „nicht ausschließen", sondern daß wir unsere politischen Aktivitäten auch in Zukunft darauf konzentrieren, der Welt deutlich zu machen, daß es eine abstrakte, schlimme Linie ist, man hier mitten durch unser Land gezogen hat, und daß es nach wie vor unsere Aufgabe bleibt, dieses Deutschland zusammenzuführen und sich nicht mit dem abzufinden, was heute ist.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß. Herr Bundesaußenminister, Sie haben sich, was die Polenprobleme anlangt, eben sehr zurückhaltend geäußert. Wir haben vorhin in der Fragestunde eine Reihe von Antworten von Ihnen gehört. Wir müssen die Texte noch einmal genau prüfen, aber der erste Eindruck, der sich bei konzentriertem Zuhören ergibt, ist doch der, daß Ihre Antworten eine Reihe von Widersprüchen enthielten.
Ich will jetzt einmal versuchen, Herr Bundesaußenminister, mich auch dazu ganz positiv zu äußern, und Ihren Satz zitieren, wo Sie sagen, zwischen dem, was die Deutsche Presseagentur aus New York gemeldet hat — wo es nämlich hieß, in einem Friedensvertrag müsse eine deutsch-polnischeRegelung ihre Bestätigung finden bzw. es bedürfe, so hieß es dort, der Bestätigung —, und dem, was Sie in Ihren verschiedenen Einlassungen hier im Bundestag und im Auswärtigen Ausschuß gesagt haben, bestünde kein Widerspruch. So haben Sie gesagt, und wir halten Sie an dieser Aussage gerne fest; wir werden es auch in der angebotenen Diskussion — ich gehe davon aus: in der nächsten Woche im Auswärten Ausschuß — deutlich machen.Herr Bundesaußenminister, es gäbe noch viele Bemerkungen zu machen, etwa die Frage an Sie zu stellen: Welche Qualität hat die Grenze, die Sie jetzt mit Polen zu vereinbaren sich anschicken? Ist dies eine Grenze, die in die nationalistischen Grenzvorstellungen des 19. Jahrhunderts zurückgeht, oder ist es eine Grenze, die jene moderne Anforderung erfüllt, die wir mit der Aussage umschreiben, sie muß durchlässig sein für Menschen, für Ideen und für Güter?Herr Bundesaußenminister, Sie haben auch darauf hingewiesen, daß so wie diese Regierung kaum eine andere ihrer Informationspflicht gefolgt sei. Wir müssen sagen, daß die Informationen, die Sie uns bisher über den Inhalt dessen gegeben haben, was Sie mit den Polen besprechen, noch immer dürftig sind. Wir hoffen, daß sich dies in den nächsten Tagen ändert. Denn, Herr Bundesaußenminister, das muß einem jeden bei uns so gehen: Es ist unwürdig und unerträglich, morgens aufgeregt nach den Zeitungen langen zu müssen, weil wir eher vermuten können, daß wir in den Zeitungen die entscheidenden Formeln unserer Regierung finden,
als daß sie den demokratischen, den parlamentarischen Körperschaften — Herr Wehner: den demokratischen, dazu berufenen Körperschaften — des Deutschen Bundestages zur Kenntnis gebracht werden.
Herr Kollege Wehner, bei allem Streit, den wir sonst auch haben mögen, bitte ich Sie freundlichst, daß wir zumindest in der Frage der Methode, wie wir so entscheidende Dinge miteinander besprechen, ein gewisses, ein notwendiges Maß von Einigung herbeiführen. Wir folgen nicht Ihrer Weisung, der Sie von Anfang an dieses Tischtuch mit Ihrer Bemerkung zerschnitten haben, Sie brauchten diese Opposition nicht. Das war nämlich das eigentliche böse Wort, das in diesem Hause und draußen so viel verdorben hat.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, lassen Sie mich, damit es für jeden klar ist, folgendes sagen. Die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union, Herr Bundesaußenminister, wollen einen Ausgleich mit Polen. Wir wollen einen redlichen, einen tragfähigen, einen Ausgleich, der diesen Namen verdient. Wir wollen, Herr Außenminister, nicht in eine Fülle juristischer Tricks eingesponnen werden. Wir wollen keine Rechtsfiktionen, welche sich diese Regierung aufbaut, um damit die Hände für ihr eigenes politisches Handeln frei zu
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Dr. Marx
haben. Das redliche, solide Fundament, auf das wir das deutsch-polnische Verhältnis gegründet wissen wollen, soll es ermöglichen, zwischen beiden Völkern schwere und lastende Hypotheken abzubauen. Dabei ist unserer festen Überzeugung nach die Grenzfrage nur eine Frage von mehreren, ja, nicht einmal die erste Frage.
Daher glauben wir, Herr Bundesaußenminister, daß das Vorziehen dieser Frage und ihre auf eine überschaubare Zeit endgültig gemachte Festlegung von uns in dieser Weise auch nicht deshalb angenommen werden kann, weil ein blasser Hinweis auf eine Bestätigung bei einer künftigen friedensvertraglichen Regelung dazu gegeben wird.Herr Bundesaußenminister, lassen Sie es mich offen sagen: Wir haben den Eindruck, daß Sie hier eine Formel verwenden, von der Sie selbst glauben, daß es nur eine Formel sei und nicht viel mehr. Aber genau dies ist es, was wir, wenn wir sowohl den Polen als auch uns selbst gegenüber ehrlich sein wollen, nicht tun dürfen. Was wir tun müssen, ist, daß wir mit einer Zunge, daß wir mit einem Willen sprechen, damit nicht nur in diesem Hause und in diesem Lande, sondern draußen in der Welt jeder weiß, daß wir, wenn wir eine Sache diskutieren und unterschreiben, hinterher auch gesonnen sind, uns allesamt daran zu halten. Darauf, auf die Glaubwürdigkeit, auf die Überzeugungskraft kommt es an, Herr Bundesaußenminister.Das war es, was ich Ihnen an dieser Stelle sagen wollte. Gehen Sie bitte davon aus, daß dies die Grundlagen und die Überzeugungen unserer Politik auch in der Polen-Frage sind.
Das Wort hat Herr Bundesaußenminister Scheel.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will auf einige der aufgeworfenen Fragen eingehen, da keine Diskussion über das Thema geführt wird.
Ich möchte, Herr Kollege Marx, mit Ihren Bemerkungen zur Informationspolitik der Regierung beginnen. Ich bin jetzt in der eigentlich glücklichen Lage, beide Seiten im Zusammenwirken zwischen Regierung und Opposition kennengelernt zu haben. Ich will es mir versagen, ein Bild über die Informationspolitik früherer Regierungen der Opposition gegenüber zu geben, unter der ich damals gelitten habe. Es würde ein schrecklich düsteres Gemälde werden. Das heißt nicht, daß sich die Informationspolitik einer Regierung möglicherweise nach der holländischen Schule orientieren müßte, sich in dunklen Farben üben müßte,
sondern im Gegenteil, wir wollen immer versuchen,
noch mehr Information zu geben. Aber das kann die
CDU/CSU im Ernst nicht sagen, daß sich die Bundesregierung nicht in dem äußersten noch vertretbaren Maß bemüht hätte, über alle außenpolitischen Vorgänge die Opposition nicht etwa im nachhinein, sondern vorher zu informieren und auch ihre Vorstellungen und Gedanken in das eigene Handeln eingehen zu lassen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten zu Guttenberg?
Bitte schön, Herr Kollege zu Guttenberg!
Herr Bundesminister, ist es nicht wahr, daß der Staatssekretär im Bundeskanzleramt in Moskau einen Vertragstext ausgehandelt hat, während uns gesagt wurde, daß dort lediglich Sondierungen stattfanden?
Nein, das stimmt nicht.
Herr Kollege, ich muß Ihnen schon deswegen widersprechen, weil ich Vorbesprechungen und Verhandlungen selbst im Auswärtigen Amt aufeinander abgestimmt und geplant habe. Wenn man aber Verhandlungen in einer so wichtigen Sache führen will, dann ist es nahezu ausgeschlossen — und es hat niemals etwas anderes gegeben —, etwas anderes zu versuchen, als in einem langen Prozeß sich in all den Einzelfragen anzunähern, bezüglich deren zwischen zwei Partnern eine gemeinsame Lösung gefunden werden soll. Aber auch darüber haben wir Auskunft gegeben. Ich habe über das Fortschreiten dieser Gespräche von Staatssekretär Bahr im Auswärtigen Ausschuß in regelmäßigen Abständen berichtet, und er selber hat in regelmäßigen Abständen berichtet und auf Fragen geantwortet. Es ist nicht etwa so, als wenn plötzlich zutage getreten wäre, daß er in Moskau solche vorbereitenden Gespräche geführt hätte. Das kann ja nun wirklich niemand sagen.
Ich will noch einmal wiederholen: die Opposition hat ein Recht, immer mehr Information zu fordern. Die Regierung muß damit nach vernünftigen Gesichtspunkten die Gepflogenheit in der internationalen Politik in Übereinstimmung bringen, über Verhandlungen — und zwar während sie geführt werden und auch nachher — Vertraulichkeit zu wahren.Das gilt auch für das in der Öffentlichkeit erhobene Verlangen — ich glaube es kam von einem Kollegen der CDU —, die Bundestagsabgeordneten müßten, um den Moskauer Vertrag würdigen zu können, alle Wortprotokolle der Verhandlungen kennen. Dies wäre ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Beziehungen der Völker zueinander. Meine verehrten Damen und Herren, das wäre dann allerdings der letzte Vertrag gewesen, den die Bun-
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Bundesminister Scheeldesrepublik mit irgend jemand abschließen kann, weil wir nämlich in der Welt keinen Vertragspartner mehr finden würden, der mit uns noch Verträge abschließen möchte.
Das ist es, was ich soeben meinte, als ich daran erinnerte, daß es auch zwischen den Beteiligten ein Maß an Vertrauen geben muß, daß es einer Regierung erlaubt, sich bei ihrem Handeln nach internationalen Normen zu richten. Sie werden auch nicht bestreiten, daß wir uns um dieses Maß an Vertrauen bemühen. Wenn beide Seiten von dieser Überzeugung ausgehen, so wird man — davon bin ich überzeugt in dieser nationalen Frage — heute morgen ist Herr Wehner in der Presse mit diesem Wort zitiert worden — zu mehr Übereinstimmung kommen, als wir im Augenblick vielleicht noch haben. Dennoch muß ich gerechterweise sagen, daß sich hier eine positive Entwicklung angebahnt hat, und sie sollte fortgesetzt werden. Das war der erste Punkt.Der zweite Punkt! Herr Kollege Marx, Sie haben von den Verhandlungen mit Polen gesprochen. Sie werden verstehen, daß ich jetzt zum Inhalt der Verhandlungen nichts sagen kann. Ich will aber etwas auf Ihre Bemerkungen antworten. Ich teile Ihre Auffassung, daß man auch in diesen Verhandlungen in den entscheidenden Fragen absolute Klarheit über das eigene Tun und Handeln und die eigenen Absichten schaffen muß. Deswegen muß man natürlich auch denjenigen, der mit — wie soll ich sagen? —ungewöhnlich geschliffenen Worten die Veränderung der Oder-Neiße-Linie als eine aktuelle politische Aufgabe bezeichnet, fragen, ob er sie denn jetzt, mit welchen Mitteln und wo zu verändern beantragen wird und zu welchem Zweck er das will. Das muß er doch füglich sagen.
Ich sage auf der anderen Seite ganz klar — —
Das muß er doch sagen, meine Damen und Herren.
Ich sage ganz klar — ich will das hier nicht verschweigen —: Wir sind entschlossen, einem völkerrechtlichen Tatbestand 'Rechnung zu tragen. Das ist einfach der unauflösbare Zusammenhang zwischen Friedensvertrag und Rechten und Verantwortlichkeiten der vier Alliierten, die es deswegen noch gibt, weil wir keinen Friedensvertrag haben. Erst der Friedensvertrag, den wir in Friedensverhandlungen abzuschließen versuchen und abschließen würden, würde diese Verantwortlichkeit und Rechte der Alliierten absorbieren. Das ist ein Tatbestand.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Czaja?
Nein, Herr Czaja hat heute morgen schon alles das verlesen, was er jetzt fragen will.
— Ich antworte hier ohnehin auf das, was Herr Czaja fragen will.
Ich darf wiederholen, meine Damen und Herren: Es gibt diesen unauflösbaren Zusammenhang, und weil es diesen Zusammenhang gibt, werden wir ihn berücksichtigen. Ich meine, das muß man doch auch zur Kenntnis nehmen, daß es so ist. Aber die Bundesrepublik, für sich handelnd, niemanden in Anspruch nehmend — was ja töricht wäre —, wird in der Lage sein, mit der Volksrepublik Polen ein Abkommen zu schließen, das den Anspruch der Polen, in sicheren, gesicherten Grenzen zu leben, erfüllt. Das ist das Problem.Dabei tauchen Fragen — die Sie berührt haben, Herr Kollege Marx — humanitärer Art auf, die mit dem, was Sie Durchlässigkeit der Grenzen genannt haben, zusammenhängen. Sie haben gesagt, wenn man das Grenzproblem unter dem Gesichtspunkt der Schaffung einer besseren Durchlässigkeit betrachtet, dann sieht es anders aus. Das gilt für diesen Bereich. Denn diese humanitären Fragen kann man nur lösen, wenn mehr Durchlässigkeit im Verhältnis der Völker zueinander insgesamt — und das bezieht sich nicht nur auf die Grenze — geschaffen wird. Aber wenn wir das schaffen wollen, können wir das nur auf der Grundlage einer vertraglichen Abmachung, die nicht allein eine Bewältigung der Vergangenheit ist, wie manche das befürchten — mit Recht —, sondern die ein Ausgangspunkt ist, um endlich wieder vernünftige Beziehungen zwischen zwei Völkern in Europa erst beginnen zu lassen. Das ist das Ziel, das wir mit unseren Absichten verbinden. Ich glaube, das ist ein Ziel, das alle Fraktionen in diesem Hause gleichermaßen verfolgen.Sie haben zu Berlin die Frage gestellt, ob die von mir hier gemachte Äußerung so klar ist, wie ich sie gesagt habe. Ich bestätige noch einmal, daß der Zusammenhang zwischen der Ratifizierung des Vertrages, den wir mit der Sowjetunion abgeschlossen haben, und der befriedigenden Regelung des Berlin-Problems von der Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gestellt worden ist. Deswegen habe ich ihn hier noch einmal bekräftigt, so nüchtern, schlicht und präzise, wie ich es ausgedrückt habe.Zur Europäischen Konferenz über Sicherheitsfragen haben Sie vermutliche Ziele der Sowjetunion genannt, Herr Kollege Marx. Es mag sein, daß die Zielsetzung der Sowjetunion sich mit Ihren Vermutungen deckt, nämlich: mehr Einfluß in Europa zu bekommen.
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Bundesminister ScheelEs mag sein, daß das so ist. Ich zweifle gar nicht daran, daß Ihre Vermutung richtig sein könnte.
Aber das ist doch kein Grund für uns, mit der Sowjetunion keine vertraglichen Regelungen zu treffen,
sofern wir bei den vertraglichen Regelungen, die wir mit der Sowjetunion abschließen, unsere Interessen, die andere sind, im Auge behalten. Und das genau, meine Damen und Herren, haben wir getan.
Deswegen habe ich eben nicht etwa meine Meinung zum Ausdruck gebracht, sondern ich habe die Ausführungen von Herrn Breschnew in Baku zitiert, wo er gesagt hat, daß man bei der Beurteilung dieses Vertrages nicht sagen könne, der eine oder der andere habe Vorteile für sich errungen. Ich habe seine Worte zitiert: Es haben eben beide gleichviel gegeben, beide gleichviel bekommen. Aber die anderen in Europa haben alle etwas bekommen, nämlich die Grundlage für mehr Sicherheit. — Ich glaube — so habe ich gesagt —, daß man mit dieser Interpretation voll übereinstimmen kann.Sie haben hier noch einmal diese Interpretationen unterschiedlicher Art von der einen und der anderen Seite erwähnt, und Sie haben Interpretationen erwähnt, die mit denen der Bundesregierung nicht übereinstimmen. Ich darf wiederholen, was ich auch in Straßburg gesagt habe: Der Text, den wir mitgebracht haben und der Ihnen vorliegt, bedarf keiner Interpretation. Er ist genau so gemeint, wie er da steht. Er bedarf keiner Interpretation, weil nämlich in unseren Abmachungen mit der Sowjetunion keine Nebenabreden enthalten sind, die durch den Text etwa nicht gedeckt wären.
— Augenblick! Es gibt natürlich Auslegungsversuche, die den Text in der einen oder anderen Interessenrichtung, z. B. bezüglich der Interessen, die die Bundesregierung für die Bundesrepublik vertreten hat, oder auch gegen deren Interessen, in Anspruch zu nehmen versuchen.
Was mich besorgt macht, ist ja nicht, daß die Sowjetunion — die tut es nicht —, sondern daß Sprecher, und zwar manchmal nicht legitimierte Sprecher der Sowjetunion so etwas versuchen.Was mich besorgt macht, ist aber etwas anderes: daß diese Versuche, einen Text gegen die Interessen der Bundesrepublik auszulegen, auch von Mitgliedern der parlamentarischen und politischen Gesellschaft unseres eigenen Landes gemacht werden.
Es ist doch geradezu erschreckend, daß ungewöhnliche Energien darauf verwendet werden, herauszufinden, ob in diesem Text nicht möglicherweise noch irgendwie eine Möglichkeit enthalten sein könnte, die den Interessen der Bundesregierung schadet. Meine Damen und Herren, dieser Eifer, hier bei uns alles herauszufinden, was möglicherweise in der Welt noch nicht entdeckt ist, macht mich besorgt. Ich will sagen, wir sollten doch eines gemeinsam haben, nämlich den Willen, die Abmachungen, die die Bundesrepublik Deutschland trifft, in einem Sinne zu nutzen, der für das ganze Volk und für die Interessen des ganzen Volkes nützlich ist. Damit ist er auch zum Nutzen für die Entwicklung in Europa.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx?
Ja, bitte schön!
Herr Bundesaußenminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein gewisses, Sie offenbar ärgerndes Insistieren von uns sehr ernst gemeint ist, weil wir sehen, daß die sowjetische Seite ihre Interpretationen aus ihrem Verständnis des Vertrages heraus vorträgt und daß sie, anders als wir, die Macht hat, ihre Interpretationen durchzusetzen?
Herr Kollege Marx, ich habe überhaupt nichts dagegen, daß die Opposition oder daß auch andere ihre Sorgen zum Ausdruck bringen und fragen, bestimmte Artikel des Vertrages genau kennen wollen und wissen wollen, was sich die Bundesregierung dabei gedacht hat. Das ist selbstverständlich, ich habe überhaupt nichts dagegen. Ich habe auch überhaupt nichts gegen eine Diskussion des Vertrages. Nur meine ich, wenn die Bundesregierung in einzelnen Punkten eine Antwort gegeben hat, dann kann man es bei dieser Antwort belassen und sollte nicht die gleiche Frage immer wieder stellen, die vorher schon beantwortet worden ist. Das, meine ich, nützt der Sache nicht, sondern schadet ihr.
Lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung zu den Fragen machen, die Sie heute morgen aufgeworfen haben. Sie haben aus meiner Rede von heute morgen meine Bemerkung zu dem Grenzproblem zwischen den beiden Teilen Deutschlands herausgenommen. Ich habe gesagt, daß der Moskauer Vertrag uns nicht hindert, durch einvernehmliche Entscheidungen diese Grenze aufzuheben, wie auch niemand in Europa daran gehindert wird, durch einvernehmliche Entscheidungen die Grenzen in Europa in einem zunehmenden Integrationsprozeß aufzuheben. Sie haben daran die Bemerkung geknüpft, Herr Kollege Marx, daß Sie erwartet hätten, die Bundesregierung hätte ein aktives Bekenntnis
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3956 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Bundesminister Scheelzur Wiedervereinigung Deutschlands hier ablegen müssen
und eine politische Tat zur Wiedervereinigung Deutschlands ankündigen müssen. Herr Kollege Marx, 25 Jahre lang haben wir Gelegenheit gehabt, solche politischen Taten in die Wirklichkeit umzusetzen. 25 Jahre lang ist das mit den Mitteln, die wir bisher angewandt haben, nicht gelungen.Was wir mit einem Ausgleich zwischen der Bundesrepublik und den Ländern Osteuropas zu erreichen versuchen, meine Kollegen, ist eine andere politische Atmosphäre in Europa, die es ermöglicht, von einem anderen Ausgangspunkt her die Grenzen in Europa, und zwar jetzt zwischen West und Ost, durchlässiger zu machen, wobei wir nicht verkennen wollen, daß es sich um Länder unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen handelt, mit denen wir es zu tun haben. Wir wollen die Grenzen durchlässiger machen, wir wollen die Zusammenarbeit zu erhöhen versuchen, damit wir auch für die eigene Politik, was das Verhältnis der beiden Teile unseres Volkes angeht, eine neue, eine erfolgversprechende Basis gewinnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Barzel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte findet statt an einem Tag und zu einer Stunde, wo die Vier Mächte über Berlin sprechen. Es war deshalb die Pflicht aller Verantwortlichen, darum bemüht zu sein — nachdem bekanntwurde, daß die Bundesregierung heute eine Erklärung abgibt , daß hier eine Aussprache stattfindet, die die Rücksichten wahrt, die im Interesse Berlins, der Berliner und der Gesamtzusammenhänge zu nehmen sind. Es sah Anfang der Woche nicht so aus, als würde es möglich sein, heute so miteinander zu sprechen.Ich möchte — bei allem, was wir an kritischen Einwendungen haben, Herr Bundesaußenminister — hier zunnächst anerkennen, daß Sie sich anders als andere Mitglieder der Regierung, vor allen Dingen anders als der Regierungschef, bemüht haben — —
— Das ist die Meinung der Opposition, die ich hier vortrage. — Ich möchte den Satz wiederholen, der auf der linken Seite zu heftigen Widersprüchen führt: Ich wollte dem Bundesaußenminister attestieren, daß er sich in dieser Woche — anders als der Herr Bundeskanzler — bemüht hat, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir heute mit Rücksicht auf diese Probleme miteinander so sprechen können. Dies wollte ich hier sagen.
An dieser Stelle, Herr Kollege Scheel, hat soeben Herr Kollege Czaja Beifall geklatscht. Ich glaube, Herr Kollege Scheel, daß Sie heute morgen und jetzt soeben gegenüber dem Kollegen Czaja nicht ganz fair waren. Sie sind engagiert für Ihre Politik, der Kollege Czaja ist engagiert für viele unserer Mitbürger. Ich meine, dies muß man verstehen, und man muß eine Frage, die er stellt — selbst wenn sie Sie einen Augenblick stören sollte —, gerade in dieser Situation beantworten. Das hätten wir gewünscht.
Herr Kollege Scheel, Sie haben uns mißverstanden. Ich will nicht sagen, daß Sie hier bewußt etwas Falsches aufgebaut haben. Unsere Position in den Fragen, die wir mit den Polen zu besprechen haben, wie in der Frage, die ganz Deutschland betrifft, ist allein die, diese Fragen jetzt in der Substanz offenzuhalten, sie nicht zu schließen, um den Weg zu einer europäischen Friedensordnung nicht zu verbauen. Das ist unsere Position und keine andere. Niemand sollte sie hier anders darstellen.
Wir begrüßen es, daß der Bundesaußenminister in seinen ersten Sätzen und jetzt soeben noch einmal von dem ganzen Vertragswerk gesprochen hat. Er meint damit offensichtlich mehrere internationale Vorgänge. Es ist nicht verborgen geblieben, daß die Fraktion der CDU/CSU mit dem Ganzen — entsprechend einem Kabinettsbeschluß vom 7. Juni 1970, dem wir in der Ziffer 5 zugestimmt haben — auch die innerdeutschen Beziehungen meint. Das heißt, das Ganze ist für uns — um es noch einmal zu bezeichnen, damit kein Mißverständnis aufkommt — der Vertrag mit Moskau, die befriedigende Berlin-Lösung, die Dinge, die jetzt mit der DDR möglich sind, die Fragen, die mit Polen zu besprechen sind, und die Frage Tschechoslowakei. Damit dies klar ist: das ist das Ganze, was wir meinen.Nun muß ich, Herr Kollege Scheel, zu den Fragen, die Berlin angehen, etwas sagen. Ich beschränke mich auf einen Punkt, den Sie in die Debatte eingeführt haben, und ich danke Ihnen, daß Sie so freundlich waren, unserer Fraktion auf unsere Bitte hin das Protokoll zur Verfügung zu stellen. Ich möchte hier — das wissen Sie — nichts erschweren. Aber es könnte sich durch Ihre Aussage ein folgenschweres Mißverständnis einschleichen. Das würde ich nicht gerne am Schluß dieser Debatte offengelassen sehen, — weniger für uns als für das, was jetzt in Berlin und künftig woanders geschieht.Wenn ich Sie und die Regierung bisher recht verstanden habe, haben Sie — entgegen unserer Meinung — gesagt, man könne den Vertrag nicht nur paraphieren und unterschreiben, weil — so waren Ihre Ausführungen — man ja v o r der Paraphierung in einer damit völkerrechtlich wirksamen Weise den Vorbehalt der befriedigenden Berlin-Lösung erklärt habe. Dies war, wenn ich die Regierung bisher richtig verstanden habe, die Einlassung. Wenn Sie nun heute sagen, Herr Kollege Scheel: „Ich stelle damit kein juristisches Junktim zwischen Moskauer Vertrag und Berlin-Resultat
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970 3957
Barzelher", aber dann „von einem engen politischen Zusammenhang" dieser Fragen sprechen, dann verstehen wir uns doch richtig wohl so, daß Sie vom politischen Zusammenhang des Gesamtwerkes sprechen; aber das, was die befriedigende Lösung in und um Berlin betrifft, bleibt ein vollgültiger juristischer Vorbehalt, der vor der Paraphierung Ihrem Vertragspartner erklärt ist. So ist es doch wohl zu verstehen;
se haben wir es bisher verstanden, und das sollte, glaube ich, klar sein.Wir danken Ihnen, Herr Außenminister, für die Feststellung, daß man über diese Fragen im übrigen nicht öffentlich sprechen sollte — wir haben dies nicht getan — und daß hier nichts eilbedürftig sei. Das ist eine sehr wichtige Feststellung.Ich muß aber, Herr Kollege Scheel, auf das Problem der Information und der Kooperation, nachdem Sie es zweimal angeschnitten haben, noch einmal zurückkommen. Sie haben gesagt — das war ein Satz, der für sich selbst sprach —: Die Bundesregierung bemühe sich, in dem vertretbaren Maße die Opposition zu informieren. Das erinnert mich an die Mitteilung, die einer meiner Professoren gemacht hat, als er über die Gleichberechtigung der Frauen las und im Zusammenhang mit der Entwicklung um die Jahrhundertwende das ganze Problem damals auf folgenden gängigen — heute würde man sagen — Slogan zusammenbrachte. Nämlich das Verhältnis sei ungefähr so: Er liest die „Frankfurter Zeitung" und teilt ihr das Nötige mit.
— Das Zitat zeigt sehr deutlich, wie die Bundesregierung hier das „vertretbare Maß" der Information, die man uns gibt, definiert und praktiziert.Damit komme ich — ich tue dies hier ganz unpolemisch, Herr Kollege Scheel, weil wir uns in einem Prozeß der Meinungsbildung befinden — auf das Problem der Protokolle zu sprechen. Sie erinnern sich: Diese Forderung entstand, als wir am 9. August über den deutsch-sowjetischen Vertrag informiert wurden, was wir dankend entgegennahmen. Dann hatten wir Fragen. Daraufhin blätterten die Vertreter der Regierung in dicken Konvoluten und lasen uns daraus „das Nötige" vor, — hier mal einen Satz und da mal einen Satz. Wir haben uns darüber unterhalten und gesagt: Also eigentlich wollen wir das Ganze lesen. Daraus entstand unsere Forderung, die in dem Brief vom 10. August zu den Geschäftsgrundlagen der Kooperation gehört, daß wir das Ganze vertraulich lesen wollen. In dieser Forderung vom 10. August wurden wir bestärkt, als wir dann vom 20. August an in den verschiedensten Verlautbarungen Ihrer Vertragspartner lasen, daß sie nicht den Vertrag rühmten, sondern die Verhandlungen und den Vertrag nannten, z. B. — um das wichtigste Dokument zu nennen — in dem Kommuniqué vom 20. August der Konferenz der Paktstaaten des Warschauer Paktes in Moskau. Da wurden wir hellhörig. Warum loben die die Verhandlungen und den Vertrag? Wir haben angenommen: weil darin solche wunderbaren Interpretationen zugunsten der Bundesregierung stehen, wollte man uns darauf aufmerksam machen, daß dies hilfreich sein könne.In diesem Zusammenhang haben wir, Herr Kollege Scheel, inzwischen noch ein anderes Argument, das Ihnen auch nicht neu ist, das wir aber zum erstenmal in die Debatte des Hauses einführen. Die Bundesregierung hat im Zusammenhang mit diesem Vertrag einen Notenwechsel mit den Westmächten geführt. In diesem Notenwechsel — das sind veröffentlichte Dokumente, deshalb kann man davon sprechen — haben Sie den drei Westmächten mitgeteilt, daß der Außenminister der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken folgende Erklärung abgegeben hat: „Die Frage der Rechte der Vier Mächte war nicht Gegenstand der Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland." Das haben Sie notifiziert. Daraufhin haben die Drei Mächte, wie erinnerlich, nicht nur — das wäre das Übliche gewesen — ihre Note im Wortlaut bestätigt, sondern sie haben einen Zusatz gemacht, der Ihnen ja bekannt ist. In dieser Gesamtnote des Westens heißt es dann: „Die Regierung der Vereinigten Staaten" — gleiche Texte der beiden anderen Westmächte - „nimmt diese Note einschließlich der Erklärung, die der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der Außenminister der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als Teil der Verhandlungen vor der Paraphierung des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zu schließenden Vertrages abgegeben haben,
in folgendem Umfang zur Kenntnis." Bleibt also mindestens festzustellen, daß die Westmächte einen Punkt, über den man nicht verhandelt hat, zu einem Teil der Verhandlungen erklären. Dies ist ein weiterer Punkt, der uns sehr interessiert macht, die Protokolle einsehen zu wollen.Herr Bundesaußenminister, Sie können hier nicht wirklich dartun, daß die Opposition ausreichend informiert worden sei. Wir haben die Debatte über diesen Vertrag noch nicht zu führen, aber ganz sicher kann man schon sagen, daß dieses Haus — ich bin jetzt sehr vorsichtig in meinem Wort — manchmal nicht ganz oder unrichtig informiert worden ist, z. B. als es um die Frage ging: Gibt es ein Bahr-Papier, was steht in ihm? Ich glaube, daß es auch einige Gespräche gab — sie betreffen nicht Ihren Verantwortungsbereich —, in denen die Information — ich bin weiter vorsichtig — nicht ganz zutreffend war.Was darüber hinaus die Kooperation betrifft, so ist das etwas anderes. Da muß man sich über die Politik unterhalten und sehen, ob man ein paar gemeinsame Punkte zustande bekommt. Wir halten fest: es gab am 9. und 16. September Kooperationsgespräche zwischen dem Herrn Bundeskanzler, Ihrem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär — in Ihrer Vertretung — und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Diese Kooperationsgespräche waren, was Berlin betrifft, auch nach unserer Meinung in
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Barzelder Sache nützlich und erfolgreich. Das sage ich hier und heute. Aber seit dem 16. September hat diese Kooperation nicht weiter stattgefunden. Das sage ich ebenfalls hier und heute, in der Hoffnung, daß es, nachdem es gelungen ist, diesen Freitag so zu erreichen und ihn nicht eskalieren zu lassen, doch noch zu mehr kommt.Es muß hier noch ein anderer Punkt angesprochen werden. Es ist uns recht, wenn die Bundesregierung von den Rechten der Vier Mächte und davon, daß sie sie achtet, spricht, weil die Vier Mächte das nicht untergegangene einige Deutschland repräsentieren. Das ist uns sehr recht.
Nur: das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite — und diese ist doch mindestens von gleichem Rang für die Politik in diesem Hause,
wenn auch vielleicht nicht in jedem Dokument, das die Regierung zustande bringt — ist die Frage: Wie ist es mit den Lebensrechten der Deutschen? Wie ist es mit dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen? Herr Bundesaußenminister, Herr Marx hat das sehr höflich gesagt: Wir hören immer nur, daß Sie von „Siegerrechten" sprechen. Das hören wir nun schon eine ganze Weile. Wir wollen einmal aus dem Mund der Regierung etwas mehr von den Rechten des deutschen Volkes hören!
Wir wollen nicht nur hören: Wir wollen „nicht ausschließen", daß sich die Deutschen eines Tages zusammenfinden können; denn das bleibt hinter dem zurück, was Grundgesetz und Geschichte uns aufgeben.Herr Bundesaußenminister, noch zwei Punkte. Sie haben Herrn Breschnew aus Baku zitiert. Dieses Zitat war für Ihre Position nötig. Herr Breschnew hat wohl empfunden, daß er in Baku etwas geraderücken mußte, was er als seine ursprüngliche Meinung in Alma Ata ganz anders ausgedrückt hat.
In Alma Ata hat Herr Breschnew im Zusammenhang mit diesem Vertrag von dem „großen Sieg der konsequenten Politik der kommunistischen Parteien Europas und der Sowjetunion" gesprochen, den dieser Vertragsabschluß darstelle. Das wäre dann eine Vervollständigung der Zitate.Der letzte Punkt betrifft den europäischen Akzent der sowjetrussischen Politik, zu dem Sie hier soeben gesprochen haben. Sehen Sie, ich glaube, daß hier Herr Marx entweder nicht verstanden worden ist oder daß man das heute nicht ganz in die Debatte einführen wollte. Nur das letztere könnte ich für heute verstehen. Herr Marx ist so zu verstehen -das gilt für uns alle —: Wir sehen, daß die Sowjetunion mit diesem Vertrag nicht nur eine Besiegelung des Status quo — wie Sie ihn interpretieren: als endgültigen — sieht, sondern daß sie bereits den nächsten Schritt einleitet. Seither fällt — es wird Ihnen unschwer möglich sein, sich das vorlegen zu lassen — in der kommunistischen Propaganda z. B. wieder das Wort „Wiedervereinigung", das wir aus kommunistischem Mund lange nicht gehört haben. Nur fällt es jetzt unter der Überschrift: Die Wiedervereinigung unter einem kapitalistischen System ist nicht möglich. Sie wissen, was das heißt. Das heißt, hier gibt es nach wie vor offensive Ziele.
Es ist doch kein Zufall, daß der erste Besucher von Rang aus der Sowjetunion, Herr Juri Schukow, hierherkommt und vom gesamteuropäischen Bewußtsein spricht, von all den Dingen, die Herr Marx mit Recht in die Debatte eingeführt hat.Sehen Sie, Herr Kollege Scheel, es war deshalb wohl nicht falsch, als wir Ihnen im März dieses Jahres in einer Europadebatte „Abteilung West" die Frage stellten: Wie es mit der Erklärung Ihres Bundeskanzlers, die politische Vereinigung des freien Europa sei Sache der nächsten Generationen? Wie verhält sich das zu dem Ja zur europäischen Sicherheitskonferenz, nachdem deutlich geworden ist — die Zitate liegen hier vor —, daß das Konzept, wie es die Sowjetunion versteht, gegen den politischen Zusammenschluß des freien Europa gerichtet ist? So weit die Analyse.Wir treten nicht in diese Analyse ein, um zu sagen, daß man das fördern oder deshalb keine Verträge mit der Sowjetunion schließen sollte. Das wäre doch wieder ein Popanz. Wir treten vielmehr in diese Analyse ein, um zu sagen, was man daraus an Konsequenzen ziehen sollte. Die Konsequenz kann doch nur sein — dazu haben Sie heute hier ein paar gute Sätze gesagt —, daß wir hier im Westen ein freies und politisch stärker vereintes Europa brauchen. Es wäre gut, wenn das diese Regierung deutlich machte.
Hier, Herr Kollege Scheel, kann sich nämlich keiner hinter dein anderen verstecken.Es ist bekannt, daß der französische Ministerpräsident erklärt hat und immer noch erklärt, Frankreich werde in den europäischen Fragen so weit gehen wie seine Partner. Es ist bekannt, daß der britische Ministerpräsident erklärt hat, er wünsche, daß England Mitglied eines Europa werde, das am Schluß mit einer Stimme spreche. Es ist bekannt, daß Ihre Initiative nach Den Haag nur die freiwillige Konsultation als eine Stufe der politischen Zusammenarbeit vorsah. Deshalb können Sie doch nicht sagen, nur das sei hier möglich. Wir möchten gerade wegen dieses Zusammenhangs die Bundesregierung in Europa zwei Schritte vor den anderen sehen.
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister Scheel.
Frau Präsidentin! Zu den Fragen, die gestellt worden sind, nur einige Bemerkungen. Zunächst ein Wort zu dem juristischen Junktim, Herr Dr. Barzel. Es ist
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Bundesminister Scheelnatürlich kein juristisches Junktim, weil es keine Abmachung ist.
Es ist aber auch gar nicht nötig, wie ich doch wohl soeben deutlich gemacht habe. Es ist der souveränen Entscheidungsgewalt der Bundesregierung unterworfen, wann sie das Ratifikationsverfahren einleitet. Niemand kann die Bundesregierung zwingen, die Ratifikation einzuleiten oder nicht einzuleiten. Es ist ihre ureigenste politische Entscheidung. Das Ratifikationsverfahren wird aber erst — das haben wir klargemacht — nach einer befriedigenden Berlin-Regelung eingeleitet.
— Wir haben klargemacht, daß das Ratifikationsverfahren nach einer befriedigenden Berlin-Regelung eingeleitet wird. Das haben wir sogar sehr klargemacht. Wir haben aber diese Geschäftsgrundlage nicht erst jetzt geschaffen, weil wir ehrliche Kaufleute sind, sondern bei unseren Verhandlungen. Das weiß der Partner. Ich glaube, das ist klar und eindeutig. Das ist der erste Punkt.Das Zweite: Information in vertretbarem Maße. Herr Dr. Barzel, wenn ich von dem vertretbaren Maß gesprochen habe, habe ich damit sagen wollen, daß wir eine Mitte suchen müssen, eine Mitte bei dem auch in unserem Interesse liegenden Maß an Information des Parlaments und speziell der Opposition. Das liegt nicht nur in Ihrem, sondern auch in unserem Interesse. Man bereitet Gemeinsamkeit durch Information vor. Wie wollen Sie es sonst machen? Zwischen diesen Gesichtspunkten auf der einen und der Notwendigkeit, bestimmte Bereiche mit Rücksicht auf unsere internationalen Partner in jedem Fall vertraulich zu behandeln, auf der anderen Seite gibt es eine Grenze. Eine Regierung kann bis dicht an die Grenze herangehen. Es kann Regierungen geben, die sich gar keine Mühe geben, zu informieren. Wir wollen bis dicht an die Grenze herangehen. Wenn es hier und da einmal mit den Terminen zu Informationsgesprächen aus technischen Gründen nicht so geht, wie wir alle das wollten, dann, so glaube ich, müssen wir uns gegenseitig zugestehen, das liegt nicht an bösem Willen auf der einen oder anderen Seite, sondern das liegt häufig an objektiven Widerständen. Ich hätte Sie z. B. sehr gern viel früher über die Berlin-Frage informiert. Wir waren uns aber einig darüber, daß ich erst nach New York reisen mußte und dann erst die Information durchführen konnte. Wir müssen auch in diesem Bereich etwas Verständnis füreinander haben.Jetzt komme ich zum letzten, zu der europäischen Politik. Ich teile die Auffassung und habe es hier klargemacht, daß das, was man jetzt auch in Fremdsprachen — so habe ich schon gesagt — Ostpolitik nennt, für uns nur ein Teil einer politischen Gesamtkonzeption ist, Teil einer Konzeption in der europäischen Integrationspolitik — ein fester, großer, tragender Teil, um auf Herrn Marx noch einmal zu antworten —, in der die atlantische Allianz ein fester, großer Bestandteil ist.Zum letzten ist zu sagen, es würde in Europa keine Sicherheit geben — merkwürdigerweise —, wenn hier keine amerikanischen Truppen stünden. Die Vereinigten Staaten und ihre Präsenz in Europa ist ein essentieller Bestandteil einer ausgedehnten Sicherheitsstruktur in Europa. Wenn sie weggingen, würde das den Verlust der Sicherheit für alle bedeuten, auch für die Sowjetunion, um das eindeutig zu sagen. Auch die Sicherheit der Sowjetunion hängt damit zusammen, daß in Europa heute amerikanische Truppen stehen, um dieses Gleichgewicht zu wahren. Denn Unsicherheit
— meine Damen und Herren, ich will Ihnen sagen, was ich damit meine —, Unsicherheit entsteht für jeden, auch für die hochgerüsteten Nuklearmächte, in dem Augenblick, in dem das geschaffene Gleichgewicht an Sicherheit zerstört wird. Deswegen sprechen wir noch von dem beiderseitigen, ausgewogenen Abbau von Truppen in Europa, weil ein unausgewogener, einseitiger Abbau von Truppen das Gleichgewicht der Sicherheit in Europa stören würde und zu einem Konflikt führen könnte.
— Herr Marx, lassen Sie mich noch einmal wiederholen: Ungleichgewicht an Sicherheit kann zu Konflikten führen, und Konflikte bedrohen die Sicherheit aller.
— Aber Herr von Guttenberg, wir leben alle im Augenblick in der ganzen Welt von dem Gleichgewicht an Sicherheit. Wir leben davon, daß es kein Vakuum geben soll, in das Unsicherheit eindringt. Das ist es, was ich sagen will.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg?
Herr Bundesminister, indem ich Ihre Aussage von soeben ausdrücklich würdige, frage ich Sie: Haben Sie diese Aussage unter Berücksichtigung der Tatsache getan, daß während der SALT-Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in Wien und Helsinki die Sowjetunion bei den Interkontinentalraketen, um die diese Verhandlungen geführt werden, einen deutlichen Vorsprung vor den Amerikanern gewonnen hat? Berücksichtigen Sie die Tatsache, daß diese beiden Supermächte in die Verhandlungen mit einem Plus der Amerikaner von etwa 100 Interkontinentalraketen hineingegangen sind und daß derzeit schon ein Plus der Russen von etwa 250 Interkontinentalraketen besteht? Berücksichtigen Sie weiter die Tatsache, daß die Sowjetunion nicht wünscht, daß die etwa 700 Mittelstrekkenraketen, die Westeuropa bedrohen in diese Verhandlungen einbezogen werden?
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3960 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1970
Herr Kollege, ich möchte jetzt keine Diskussion über den militärischen Teil der Sicherheitspolitik in Europa eröffnen. Daß uns die Mittelstreckenraketen beschäftigen, weil das eine Bedrohung gerade Westeuropas und insbesondere der Bundesrepublik ist, will ich hier nur am Rande erwähnen. Daß das bei allen Überlegungen auch um Abrüstung und um Truppenverminderung ein außerordentlich wichtiger Bereich ist, habe ich mehrfach gesagt.
Ich will in diesem Zusammenhang nur erwähnen, daß die Vereinigten Staaten, ,die sehr genau wissen, wie die militärische Kräfteverschiebung sich ändert, die SALT-Gespräche führen. Sie tun das im vollen Bewußtsein der Gegebenheiten, unter denen sie handeln, und sie tun das in dem Verantwortungsbewußtsein der Welt gegenüber, den Frieden zu erhalten. Die Sowjetunion als Gesprächspartner ist der einzige für die USA in dem Bereich der nuklearen Waffen. Es gibt nur diese beiden Supermächte. Beide haben die Verantwortung vor der Welt, durch gemeinsame Abmachungen, gemeinsames Handeln den Frieden zu erhalten. Sie geben sich offenkundig Mühe — ob alle Mühe, will ich gar nicht untersuchen; aber Mühe geben sie sich — dieses Ziel zu erreichen. Wir sollten sie dabei unterstützen. Weil zur Voraussetzung solcher Verhandlungen ausgeglichene Kräfteverhältnisse überall notwendig sind, habe ich betont, daß auch in Europa das ausgeglichene Kräfteverhältnis die Basis der Sicherheitsstruktur in Europa ist und daß deswegen ein Abzug der amerikanischen Truppen nicht möglich ist, ohne diese Ausgeglichenheit zu zerstören.
Daran jetzt theoretische Erörterungen über das Verhalten einzelner Mächte in der Machtauseinandersetzung zu knüpfen, meine ich, würde jetzt zu weit führen. Da müssen wir uns eine besondere Zeit dazu nehmen; dann würde man darüber sprechen können. Wir wären möglicherweise gar nicht so weit auseinander in der Beurteilung dieser allgemeinen Frage. Nur das will 'ich damit sagen.
Europa befindet sich also in einem ausgeglichenen Verhältnis. Unsere Politik basiert einerseits auf dieser Sicherheit und andererseits auf der Dynamik der Integration in Westeuropa. Wir haben sicher zu dieser Dynamik beigetragen. Zumindest haben wir aber wirklich gar nichts getan, um sie zu stören. Wir haben im Gegenteil in allen Bereichen diese Dynamik gefördert. Ich will uns nicht rühmen, meine sehr verehrten Damen und Herren, aber Sie selber haben mit einer positiven Würdigung die
Aktivität und den Erfolg des Bundeskanzlers in der entscheidenden Konferenz in Den Haag hier im Deutschen Bundestag erwähnt. Alles, was dann geschehen ist, ist aus diesem Impuls heraus geschehen.
Auch die politische Zusammenarbeit in Europa ist doch etwas, was bis zur Stunde überhaupt nicht vorgesehen war als eine politische Zielsetzung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, seit die damaligen Versuche völlig gescheitert waren. Wir haben die Idee neu beleben müssen. Aber wir haben bei der Ausformung der Idee der politischen Zusammenarbeit Formen entwickeln müssen, die Aussicht hatten, von allen Beteiligten akzeptiert zu werden.
Ich muß Ihnen nun einmal sagen, daß das, was wir gefunden haben, was heute von allen sechs Mitgliedern einstimmig verabschiedet werden wird, hart an der Grenze, ja auf der Grenze der augenblicklichen Möglichkeiten liegt. Die praktischen Verhandlungen darüber haben gezeigt, daß man alle Energie hat aufwenden müssen, um zu dieser Grenze vorzustoßen. Darüber hinauszugehen hätte das gleiche Dilemma gebracht, nämlich an der Frage über mehr Institutionen möglicherweise das Ganze scheitern zu lassen. Wir haben uns für das Handeln und für den Erfolg in dem Ausmaß entschieden, daß jetzt und heute erreichbar ist. Es ist besser, jetzt einen Schritt zu tun, als einem noch so schönen Plan — ich will es gar nicht Illusion nennen — erfolglos nachzurennen. Das ist unsere Haltung in der EWG.
Alle Welt, glaube ich, ist glücklich und froh darüber, daß wir praktische Fortschritte machen, weil von der Festigkeit der Zusammenarbeit in der EWG der Friede nicht nur in Europa abhängt; denn wenn in Europa einmal der Friede gefährdet wird, ist es allerdings auch mit dem Weltfrieden dahin.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Debatte.
Meine Herren und Damen, wir sind am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe das Haus auf Mittwoch, den 14. Oktober 1970, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist 'geschlossen.