Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die
Beratung der Dokumentation der Bundesregierung über die Bemühungen zur Freilassung des entführten deutschen Botschafters Karl Graf von Spreti
— Drucksache VI/622 —
Ist das Haus mit der Erweiterung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, diesen Punkt um 10 Uhr aufzurufen. Die Vorlage soll heute vom Bundesaußenminister lediglich eingebracht werden. Der Termin einer eventuellen Aussprache wird noch interfraktionell vereinbart.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache VI/610 —
Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Ich rufe die Frage 117 des Abgeordneten Flämig auf:
Was ist aus den Bemühungen der früheren Bundesregierung geworden, auf geeignetem diplomatischem Wege etwas gegen das Abschlachten Tausender von jungen Robben in Nordkanada und auf Labrador zu unternehmen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Die frühere Bundesregierung hat zweimal zur Frage des Seehundfanges in Kanada Stellung genommen, nämlich am 16. Februar 1967 und am 19. Januar 1968 auf Fragen des Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen.
Die kanadische Regierung hat im Oktober 1969 neue Richtlinien für die Robbenjagd an der Ostküste Kanadas in der Fangsaison 1970 erlassen. Diese Richtlinien enthalten gewisse Einschränkungen, die früher nicht gegeben waren. Sie verbieten insbesondere die Jagd von Flugzeugen aus und die Enthäutung von noch lebenden Tieren. Sie schließen auch Robbenbabys von der Jagd aus. Im übrigen werden in diesen Richtlinien Feuerwaffen und genau beschriebene Knüppel als Instrumente für die Robbenjagd ausdrücklich zugelassen.
Diese Bestimmungen sind übrigens im Januar 1970 auch für die norwegische Seehundjagd übernommen worden. Ein Zusammenhang zwischen den Bemühungen der Bundesregierung und diesen neuen Richtlinien besteht allerdings nicht. Sie sind unabhängig von unseren Bemühungen von der kanadischen Regierung erlassen worden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Flämig.
Herr Staatssekretär, es läßt sich also von uns aus nicht übersehen, ob die Behauptung des Beamten des Welttierschutzbundes, es habe sich trotz der Richtlinien nichts geändert, zutrifft oder nicht?
Herr Kollege, um diese Frage zu beantworten, muß ich gleich die Frage 118 mit beantworten, denn sie ist im Grunde mit der Zusatzfrage identisch.
Bitte sehr! Dann rufe ich noch die Frage 118 des Abgeordneten Flämig auf:
Treffen die Angaben in der „Report"-Sendung vom 23. März
1970 zu, wonach Feststellungen eines Beauftragten des Welttierschutzbundes ergeben haben, daß sich an den Abschlachtmethoden trotz des weltweiten Protestes nichts geändert habe?
Herr Präsident, die Bundesregierung hat in der Tat keine Möglichkeit, die Angaben zu überprüfen, die der Beauftragte des Welttierschutzbundes, Davies, gemacht hat. Wir haben diese Angaben genau studiert. Sie besagen, daß sich nach seinen Beobachtungen nichts geändert habe. Es gibt keine regierungsoffizielle Stellungnahme, und unsere Botschaft in Kanada hat bei ihren Versuchen, genaue Informationen zu bekommen, bisher keine Möglichkeit zu einer genauen Überprüfung gefunden.
Eine zweite Zusatzfrage.
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2230 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Herr Staatssekretär, beabsichtigt die Bundesregierung, in dieser Sache erneut zu intervenieren?
Herr Kollege, wir haben diese Frage genau erwogen. Die Haltung der Bundesregierung gegenüber jeder Form von Grausamkeit, gerade auch der Grausamkeit gegenüber Tieren, ist ganz eindeutig. Leider ist die Bundesregierung aber nicht in der Lage, überall in der Welt, wo Grausamkeiten gegen Menschen oder Tiere vorkommen, erfolgreich zu intervenieren. Wir bringen dieses Thema in unseren Gesprächen mit Vertretern Kanadas immer wieder zur Sprache. Das ist aber weniger als eine Intervention in dem Sinne, in dem Sie es meinen. Ich halte unsere Möglichkeiten hier für leider sehr beschränkt.
Dann rufe ich die Frage 119 des Abgeordneten Dr. Kempfler auf:
Welches ist der Stand des Ratifizierungsverfahrens für die Europäische Konvention über die konsularischen Befugnisse und der beiden Zusatzprotokolle, die am 11. Dezember 1967 von der Bundesregierung unterzeichnet wurden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, zur Vorbereitung des deutschen Ratifizierungsverfahrens ist vom Auswärtigen Amt im Benehmen mit den zuständigen Ressorts eine deutsche Übersetzung des Europäischen Übereinkommens vom 11. Dezember 1967 und der beiden FakultativProtokolle über den Schutz der Flüchtlinge und die Zivilluftfahrt gefertigt worden. Auf Einladung der österreichischen Regierung soll auf einer Übersetzungskonferenz in der ersten Hälfte des Monats Juni 1970 in Wien eine gemeinsame deutschsprachige Übersetzung des Übereinkommens und seiner beiden Fakultativprotokolle erstellt werden. Der Bundesregierung ist jedoch bekannt, daß zahlreiche europäische Staaten nicht beabsichtigen, das Übereinkommen zu unterzeichnen oder zu ratifizieren. Grund hierfür ist vor allem die Tatsache, daß das Übereinkommen in nicht unwesentlichen Punkten mit dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 nicht übereinstimmt.
Die Bundesregierung prüft daher zur Zeit, ob sie warten soll, bis insgesamt fünf Staaten — die erforderliche Anzahl für das Inkrafttreten — das Übereinkommen ratifiziert haben, um dann die Anregung zu einer Änderungskonferenz zu geben, oder ob sie jetzt schon Änderungen ins Auge fassen und mit den anderen Ländern beraten sollte, die es wahrscheinlicher machen, daß eine breitere Ratifizierungsgrundlage geschaffen wird.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Kempfler.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Ansicht, daß eine lange Zeitspanne zwischen der Empfehlung und der Ratifizierung dem Europagedanken abträglich ist? Und werden Sie deshalb im Auswärtigen Amt alles tun, um die Ratifizierung im allgemeinen und im besonderen möglichst bald herbeizuführen?
. Herr Kollege, ich teile Ihre Meinung, daß es für die Verwirklichung des Europagedankens sehr sinnvoll wäre, wenn es uns gelänge, im europäischen Bereich für die konsularischen Vertretungen Voraussetzungen zu schaffen, die günstiger sind als diejenigen, die das Wiener Abkommen vorsieht; darum geht es ja.
Zugleich haben wir aber durch unsere Missionen feststellen müssen, daß eine ganze Reihe von Ländern - darunter die Schweiz, die Niederlande, Irland, Dänemark, Malta, das Vereinigte Königreich, Luxemburg, Frankreich, Belgien — nicht bereit sind, dieses Abkommen zu ratifizieren, so daß es sehr schwierig sein wird, ohne das bloße Zurückgehen auf das Wiener Abkommen eine Grundlage zu finden, die in Europa allgemein akzeptiert wird und daher dem von uns beiden verfolgten Europagedanken dienen würde.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Kempfler.
Herr Staatssekretär, darf ich in diesem Fall also feststellen, daß es jedenfalls nicht an der deutschen Bundesregierung liegt, daß das Abkommen noch nicht ratifiziert ist.
Das ist sehr richtig. Die deutsche Bundesregierung gehört zu den Regierungen der Länder, die die Ratifizierung dieses Abkommens mit großer Entschiedenheit fördern.
Ich rufe die Frage 120 der Abgeordneten Frau Klee auf:Bis wann ist mit dem Abschluß des Ratifizierungsverfahrens für das Europäische Übereinkommen über die akademische Anerkennung von akademischen Graden und Hochschulzeugnissen zu rechnen, dessen Ratifizierungsgesetz vom Deutschen Bundestag bereits am 19. Juni 1969 verabschiedet wurde?Die Frage wird schriftlich beantwortet. Eine Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.Die Fragen 121 bis 126 wurden von den Fragestellern zurückgezogen.Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.Wir kommen zur Fortsetzung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Die Fragen 47 bis 52 wurden bereits beantwortet.Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Walkhoff auf:Ist die Bundesregierung bereit, die Tankstellenverträge hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Vereinbarkeit mit dem Kartellrecht zu überprüfen?Bitte, Herr Staatssekretär!
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2231
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte, die beiden Fragen zusammen beantworten zu dürfen.
Bitte sehr. Ich rufe auch die Frage 54 des Abgeordneten Walkhoff auf:
Kann nach angelsächsischem Vorbild eine „Monopolkommission" eingesetzt werden, die u. a. die wettbewerbsbeschränkenden Praktiken der Mineralölgesellschaften kontrolliert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine kartellrechtliche Überprüfung von Tankstellenverträgen ist nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bereits laufende Aufgabe der Kartellbehörden. Das Bundeskartellamt hat sich in der Vergangenheit in zahlreichen Verfahren mit Tankstellenverträgen beschäftigen müssen. Bei der Beurteilung ist enscheidend, daß die Märkte offenbleiben und sich die Abhängigkeit der Tankstelleninhaber von den Mineralölgesellschaften in den Grenzen des Gesetzes hält. Darüber hinaus wird erwogen, im Rahmen der Novellierung des Kartellgesetzes die Mißbrauchsaufsicht bei Ausschließlichkeitsverträgen noch zu verschärfen.
Schließlich finden zur Zeit Verhandlungen zwischen den Spitzenverbänden des Tankstellengewerbes und den Mineralölgesellschaften statt. Gegenstand der Verhandlungen ist die künftige Gestaltung der Verträge zwischen den Gesellschaften und den Stationären.
Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 und auch im Jahreswirtschaftsbericht 1969 ausgeführt, daß die Einrichtung einer unabhängigen Monopolkommission ein wichtiges Instrument für die geplante präventive Fusionskontrolle sein kann. Für die Kontrolle über wettbewerbsbeschränkende Verträge ist aber in Deutschland eine Monopolkommission nicht erforderlich, weil wir hier das Bundeskartellamt und die Landeskartellbehörden haben.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Walkhoff.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß man in Fachkreisen im Hinblick auf die Preisentwicklung im Benzingeschäft bereits von Dumping-Preisen einiger Gesellschaften spricht, die auf Kosten der Tankstellenpächter aufrechterhalten werden können, und daß man in den gleichen Fachkreisen meint, diese Preispolitik richte sich in erster Linie gegen die deutsche Aral-Gesellschaft, die als nicht erdölfördernde Gesellschaft bei einer solchen Preispolitik in einer sehr schwierigen Situation wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn ich mir zu interpretieren erlauben darf, trugen Sie ein mögliches Manöver internationaler Gesellschaften gegen die Aral vor. Dafür habe ich nicht die geringsten Indizien.
Was wir im Tankstellengewerbe bei den Benzinpreisen zu beklagen haben, sind Mißbräuche, die z. B. durch Ausnutzung steuerlicher Vorschriften — auch tatsächlich widersprüchlich auszulegender Vorschriften — entstanden sind. Sie kennen das sogenannte Blindenprivileg bei der Mehrwertsteuer, das gerade bei Produkten mit hohen Verbrauchsteuern — das ist das Benzin — zu Mißräuchen führen kann. Wir haben praktisch einen Do-it-yourself-Service bei verschiedenen Supermärkten und C & C-Läden, die ebenfalls dem normalen Geschäft der Tankstellen des mittelständischen Gewerbes Abbruch getan haben.
Aber die Bundesregierung ist in allen diesen Punkten von vornherein seit mehr als einem Jahr in Verbindung mit den Tankstellenverbänden, den Gesellschaften und mit den Außenseitern. Sie wird an den Punkten, wo Gesetzesinitiativen diesem Hause zu unterbreiten sind, auch das ihre dazu tun, damit eine vernünftige Existenz in diesem Gewerbe weiterhin möglich ist.
Dann kommen wir zur Frage 55 des Abgeordneten Höcherl. — Er ist nicht da; die Frage wird schriftlich beantwortet.
Die Fragen 56 und 57 werden schriftlich beantwortet.
Frage 58 des Abgeordneten Scheu wird auch wegen Abwesenheit des Fragestellers schriftlich beantwortet, dasselbe gilt auch für Frage 59.
Dann kommen wir zur Frage 60 des Abgeordneten Dr. Fuchs:
Ist die Bundesregierung bereit, entsprechend einer Forderung der bayerischen Grenzland-Handwerkskammern in den Zonenrand- und Ausbaugebieten zum Ausgleich der durch die Diskontsatzerhöhung wesentlich gestiegenen Kreditkosten die vorhandenen Kreditprogramme, insbesondere das ERP-Kreditprogramm, in ihren Konditionen durch Senkung der Zinssätze und die Erhöhung der Laufzeiten zu verbessern?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Mittel des ERP-
Sondervermögens sind beschränkt. Deshalb ist eine Ausweitung des Kreditvolumens in diesem Jahr nicht möglich. Durch eine Senkung der ohnehin begünstigten Zinssätze für ERP-Kredite würde das verfügbare Volumen der ERP-Kreditprogramme noch weiter eingeengt werden; d. h. es könnten dann noch weniger Antragsteller bedient werden. Deshalb kann die Bundesregierung diesen Weg nicht gehen und ist ihn bei ihrem gestrigen Beschluß über den Entwurf des ERP-Wirtschaftsplanes 1970 auch nicht gegangen.
Zudem weise ich darauf hin, daß durch das Ansteigen des Marktzinses bei dem nach wie vor gleichbleibenden günstigen Zinssatz der ERP-Kreditmittel sich der Subventionswert für den Kreditnehmer ja ohnehin erhöht hat, weil sich die Differenz von ERP- Zins zu Marktzins erhöhte.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fuchs.
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2232 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Herr Staatssekretär, sehen Sie eine andere Möglichkeit, um der doch wohl berechtigten Sorge, die in der Forderung der Grenzlandkammern auf eine Vergünstigung und eine bessere Ausstattung mit Krediten, vor allem der mittelständischen Wirtschaft in den Grenzland- und in den Aufbaugebieten, zum Ausdruck kommt, abzuhelfen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dr. Fuchs, diese Grenzlandprogramme sind alle nicht eingeschränkt, sondern ausgedehnt worden, auch die Kredite für die mittelständische Wirtschaft in den ländlichen und den sonstigen -Fördergebieten aus dem ERP-Programm. Wir haben in diesem Punkte ja nicht gespart, sondern sind — gerade wegen der guten Konjunktur und der sich daraus ergebenden Investitionschancen — weiterhin bei einer zügig expandierenden Regionalpolitik im Grenzland geblieben.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fuchs.
Herr Staatssekretär, da meine Frage ja nicht auf das Volumen abzielt, sondern auf die Bedingungen, und da Sie doch wohl zugestehen werden, daß die Bedingungen dort, in diesen wirtschaftlich schwachen Gebieten gegenüber den wirtschaftlich starken Gebieten, eine nicht unerhebliche Erschwernis darstellen, darf ich Sie noch einmal fragen, ob nicht noch eine andere Möglichkeit besteht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Die Bedingungen sind gut. In wirtschaftlich starken Gebieten gibt es nichts Vergleichbares an Förderung. Es wäre widersinnig, die Bedingungen in der Hochkonjunktur noch zu verbessern. — Wenn überhaupt, dann müßte man sie in einer schlechten Konjunkturlage gegenüber dem gegenwärtigen Stand verbessern.
Sie haben nur zwei Zusatzfragen, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs. — Diese Frage ist damit erledigt.
Wir kommen zur Frage 61 des Abgeordneten Werner:
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung in Hinsicht auf strukturelle Anpassungsmaßnahmen in Industrieländern für ihre eigene Struktur- und Raumordnungspolitik in Verbindung mit den Erwartungen der Entwicklungsländer für die zweite Entwicklungsdekade zu ergreifen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte, die beiden Fragen zusammen beantworten zu dürfen.
Bitte sehr! Dann rufe ich noch ,die Frage 62 des Abgeordneten Werner auf:
Besteht über solche Maßnahmen Ubereinstimmung mit den Ländern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung beabsichtigt, ihre in den 60er Jahren begonnene Struktur- und Raumordnungspolitik auch in diesem Jahrzehnt zielstrebig fortzusetzen. Das bedeutet für die sektorale Strukturpolitik, daß verstärkt zukunftsträchtige Wirtschaftszweige gefördert werden, und das bedeutet für den Bereich der regionalen Strukturpolitik, daß wirtschaftsschwache Gebiete ebenfalls verstärkt gefördert werden. Geschieht dies weiterhin, kann die Politik der Öffnung der Märkte der 'Bundesrepublik Deutschland — und diese Öffnung der Märkte schließt die Produkte der Entwicklungsländer mit ein — ebenfalls fortgesetzt werden.
In diesem Prozeß entstehen den Entwicklungsländern die Vorteile, die sie auf Grund ihrer Kostenlage und ihrer spezifischen Produktionen haben. Es entsteht ihnen nicht der Nachteil, daß gegenüber ihrer Produktion Sperren errichtet werden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß die Bundesregierung keinerlei Konzeption hat, wie die deutsche Wirtschaftsstruktur im Hinblick auf ihren eigenen Kabinettsbeschluß über Entwicklungshilfefragen verändert werden kann, um meinetwegen bestimmte Produktionsstufen mit Unterstützung der Regierung abzubauen? So ist doch wohl der Erlaß gemeint.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie können aus meiner Antwort keinesfalls schließen, Herr Kollege, daß wir keine Konzeption hätten. Nur gibt es sehr wenige Produktionen der Entwicklungsländer, deren Anteil an der deutschen Einfuhr so gravierend ist, daß er spezielle wirtschaftspolitische Maßnahmen rechtfertigt. Selbstverständlich haben wir Anpassungen in der Textilindustrie, die wir im Rahmen der regionalen Wirtschaftsförderung unterstützen. Aber die meisten Textilimporte kommen nicht aus Entwicklungsländern, und es wäre unsinnig, zwischen Betrieben zu differenzieren, die wegen Importen aus Entwicklungsländern und Importen aus anderen Ländern der Anpassung bedürfen.
Ich kann Ihnen aber ein Beispiel für ein Entwicklungsland-Produkt nennen, das einen sehr hohen Anteil an der deutschen Einfuhr hat, nämlich Erdöl. Als der deutsche Erdölzoll im Jahre 1963 in Verbindung mit den EWG-Regelungen aufgehoben wurde, d: h. als ausländisches, zum großen Teil arabisches Erdöl auf dem Markt preisgünstiger als die eigene deutsche Produktion auftreten konnte, hat man für die deutschen Erdölunternehmen Anpassungshilfen gegeben. Diese Hilfen setzen sich auch noch heutzutage im Bundeshaushalt fort.
Herr Staatssekretär, wenn die Strukturmaßnahmen, die ergriffen werden sollen, den Entwicklungsländern helfen sollen, würden Sie dann meinen, daß die Regierung in der Lage wäre, dafür zu gegebener Zeit irgendeine Konzeption vorzulegen?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2233
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, Sie suchen nach einer Konzeption in Richtung Dirigismus. Ich habe beinahe den Eindruck, daß man nach Ihrer Meinung diese oder jene Produktion in Deutschland unterbinden oder staatlicherseits verbieten sollte, damit Entwicklungsländer diese übernehmen können. Nichts liegt der Bundesregierung ferner als das.
Worauf die Entwicklungsländer neben der Förderung ihrer Industrialisierung und ihrer technischen Entwicklung einen Anspruch haben, ist, daß wir ihnen nach Möglichkeit unseren kaufkräftigen Markt öffnen. Hier sind wir weiter als andere Länder. Ich bitte um Ihre Unterstützung dafür, daß wir diesen Vorsprung gegenüber anderen Industrieländern auch künftig halten können.
Wir kommen dann zur Frage 63 des Abgeordneten Weigl:
Welcher Anteil des im Haushaltsjahr 1970 vorgesehenen ERP- Programms zur Gewährung von Krediten zugunsten der mittelständischen gewerblichen Wirtschaft in den von der Bundesregierung anerkannten Förderungsgebieten ist bereits durch Kreditzusagen erschöpft?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Weigl, im Haushalt 1970 sind Kreditmittel für die mittelständische gewerbliche Wirtschaft in den Bundesfördergebieten in Höhe von 207,5 Millionen DM vorgesehen. Hiervon sind zur Zeit 40 Millionen DM mit Projekten belegt, und zwar handelt es sich dabei um die Erfüllung einer Verpflichtungsermächtigung aus dem Jahre 1969.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Weigl.
Herr Staatssekretär, darf ich fragen, für welches Kreditvolumen zur Zeit Anträge vorliegen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Jedenfalls sind die restlichen 167,5 Millionen DM in keiner Weise erschöpft. Das ist mir bekannt.
Zweite Zusatzfrage.
Würden Sie mir vielleicht mitteilen, bis wann dann mit der Freigabe der restlichen Mittel .gerechnet werden kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Anträge können selbstverständlich bereits gestellt werden und werden auch bearbeitet. Der ERP-Wirtschaftsplan wird in diesen Tagen dem Bundesrat zugeleitet. Bis zur endgültigen Beschlußfassung durch Bundesrat und
Bundestag kann selbstverständlich nicht definitiv über diese Mittel verfügt werden.
Ich komme damit zur Frage 64 des Abgeordneten Dr. Hermesdorf . — Ist der Herr Abgeordnete im Saal? — Das ist nicht der Fall. Dann wird die Frage schriftlich beantwortet.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich rufe die Frage 65 des Abgeordneten Geldner auf:
Ist der Bundesregierung der Facharbeiternachwuchsmangel, insbesondere im Bereich des Handwerks, bekannt, und was kann nach Auffassung der Bundesregierung getan werden, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?
Herr Präsident, ich möchte diese Frage gern zusammen mit der Frage 66 beantworten.
Beide Fragen gemeinsam? Bitte sehr. Dann rufe ich auch die Frage 66 des Abgeordneten Geldner auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Bereitschaft, eine Handwerkslehre anzutreten bzw. nach der Lehre im Handwerk tätig zu bleiben, wesentlich davon abhängt, welche Chancen der Betreffende für die Zukunft sieht, einen Handwerksbetrieb zu übernehmen oder eine entsprechende selbständige Existenz zu gründen?
Der Bundesregierung ist der Mangel an Facharbeiternachwuchs bekannt. Es gibt allerdings keine Anhaltspunkte dafür, daß der Nachwuchsmangel im Handwerk relativ größer ist als in anderen Ausbildungsbereichen. Richtig ist vielmehr, Herr Kollege, daß im Handwerk wie auch in Industrie und Handel bestimmte Berufe ihren Bedarf an Nachwuchskräften nahezu abdecken können, während sich in anderen Berufen — auch Handwerksberufen — der Mangel an Facharbeiternachwuchs stark bemerkbar macht.Der quantitative Zugang von Nachwuchskräften zu den einzelnen Ausbildungsberufen hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit es den Betrieben gelingt, durch gute Ausbildungsleistungen attraktiv zu sein. Dieses Hohe Haus hat durch die Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes und des Arbeitsförderungsgesetzes Voraussetzungen für eine Verbesserung und Intensivierung der beruflichen Bildung geschaffen. Ich darf in diesem Zusammenhang auf die verbesserten Möglichkeiten der Berufsberatung, der Ausbildungsstellenvermittlung, der überbetrieblichen Ausbildung und der Ausbildungs- und Fortbildungsförderung verweisen. Im übrigen gibt die Bundesregierung im Rahmen der Gewerbeförderung seit langem Hilfen für überbetriebliche Aus- und Fortbildungsmaßnahmen in Handwerk und Handel sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe.Ihre zweite Frage, Herr Kollege, läßt sich nicht einfach — darum bitte ich um Verständnis — mit
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2234 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Parlamentarischer Staatssekretär RohdeJa oder Nein beantworten. Bei Antritt der Ausbildung steht für die große Masse der Handwerkslehrlinge die Überlegung, sich später selbständig zu machen, grundsätzlich nicht im Vordergrund. Vielmehr dürften hier persönliche Interessen und Neigungen sowie der Wunsch nach einer soliden Berufsausbildung vorherrschende Motive sein. Immerhin werden zur Zeit noch über 60 % aller gewerblichen Lehrlinge im Handwerk ausgebildet. Dagegen dürfte nach Beendigung der Ausbildung die Bereitschaft, im Handwerk zu bleiben, je nach dem erlernten Beruf in einer Reihe von Fällen auch davon beeinflußt werden, ob die Gründung einer selbständigen Existenz oder die Übernahme des elterlichen Betriebs möglich und vorteilhaft ist.Die Bundesregierung ist der Meinung — und hat dies schon wiederholt zum Ausdruck gebracht —, daß auch die Bereitschaft zu wirtschaftlicher Selbständigkeit gefördert werden sollte, und unterstützt dahin gehende Bestrebungen mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Hierzu wäre eine Vielzahl von Maßnahmen zu nennen, die ich Ihnen gern schriftlich mitteilen werde.
Die Frage ist erledigt.
Ich komme zu Frage 67. — Sie wird schriftlich beantwortet, da Herr Ruf abwesend ist.
Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Dröscher auf:
Kann die Bundesregierung einen Überblick darüber geben, ab wann die Verpflichtung zur Unterbringung kriegsbeschädigter Arbeitskräfte für die Wirtschaft abgebaut werden kann, und besteht — falls die Frage .bejaht wird — die Möglichkeit, eine ähnliche gesetzliche Regelung für die Unterbringung von Arbeitskräften, die auf Grund ihres Alters schlechter vermittlungsfähig sind, zu schaffen?
Die Frage wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom 15. April 1970 lautet:
Das von Ihnen angesprochene Problem wird bei der vorgesehenen Novellierung des Schwerbeschädigtengesetzes behandelt. Die Überlegungen dazu sind in meinem Hause noch nicht abgeschlossen. Ich darf aber darauf hinweisen, daß bereits nach geltendem Recht neben den Kriegsbeschädigten auch die bei Arbeitsunfällen Verletzten, die Blinden und die Berechtigten nach dem Soldatenversorgungsgesetz zu dem durch das Schwerbeschädigtengesetz besonders geschützten Personenkreis gehören. Ein Rückgang der Zahl der Kriegsbeschädigten im erwerbsfähigen Alter wird daher den Bestand des heute schon geschützten Personenkreises nicht grundlegend beeinflussen. Im übrigen wird anläßlich der Novellierung des Schwerbeschädigtengesetzes zu prüfen sein, inwieweit weitere Gruppen von Behinderten in den Schutz des Gesetzes einbezogen werden können.
Zum Problem der älteren Arbeitnehmer darf ich Ihnen versichern, daß die Bundesregierung darauf ihre besondere Aufmerksamkeit richtet. Bei Lösungsvorschlägen in Ihrem Sinne muß allerdings sorgfältig geprüft werden, welche Auswirkungen sich konkret für diesen Kreis von Arbeitnehmern ergeben würden, wenn er generell ähnlich geschützt würde wie die Schwerbeschädigten. Es muß der unzutreffende Eindruck vermieden
werden, bei älteren Arbeitnehmern sei ganz allgemein das berufliche Leistungsvermögen herabgesetzt. Es darf keine Regelung eingeführt werden, die als Diskriminierung der Betroffenen empfunden werden könnte.
Aus diesen Gründen sollte das Schwergewicht der sozialpolitischen Initiative zum Schutz der älteren Arbeitnehmer auf Maßnahmen zur rechtzeitigen beruflichen Anpassung nach dem Arbeitsförderungsgesetz und auf verstärkten Anstrengungen im Rahmen einer langfristigen betrieblichen Personalplanung liegen, um für ältere Arbeitnehmer qualifizierte Arbeitsplätze und entsprechende Einkommen zu sichern. Es geht hier um eine schwerwiegende und in ihrer Bedeutung wachsende Aufgabe, zu deren Lösung nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Tarifvertragsparteien und die Betriebe beitragen müssen. Wir wollen dieses Thema deshalb in die „Sozialpolitische Gesprächsrunde" mit den sozialen Gruppen einbeziehen, um auch auf diesem Wege bei allen Beteiligten und der Öffentlichkeit insgesamt ein größeres Verständnis für diese Aufgabe zu wecken.
Ich komme zur Frage 69 des Abgeordneten von Thadden. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Frage wird ebenso wie die nächste schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Fragen 71 und 72 des Abgeordneten Bäuerle auf:
Treffen Pressemeldungen zu, nach denen etwa 400 000 Kriegerwitwen bei der zum 1. Januar nächsten Jahres beabsichtigten Rentenanpassung nur eine geringe bzw. keine finanzielle Verbesserung erhalten, da bei der Berechnung des Schadensausgleichs die Grundrenten in vollem Umfang angerechnet werden?
Wird die Bundesregierung gesetzliche Voraussetzungen schaffen, damit zukünftige Grundrentenerhöhungen nach den jährlichen Anpassungen bei der Ermittlung des Bruttoeinkommens, an dem sich der Schadensausgleich orientiert, außer Betracht bleiben, um die Benachteiligung der Witwen zu beseitigen?
Die Fragen werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom 16. April 1970 lautet:
Zu den von Ihnen genannten Meldungen darf ich folgendes anmerken: Bei der zum 1. Januar 1971 vorgesehenen Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes kommen die meisten der 400 000 Witwen mit Anspruch auf Schadensausgleich in den vollen Genuß der Erhöhung ihrer Grund- und Ausgleichsrente. Kürzungen, die diese Witwen anläßlich der ersten Anpassung zum 1. Januar 1970 hinnehmen mußten, werden 1971 sogar wieder ausgeglichen.
Der erhebliche Unterschied, der sich für Witwen mit Anspruch auf Schadensausgleich bei der Rentenanpassung zum 1. Januar 1971 gegenüber der Rentenerhöhung 1970 ergibt, ist eine Folge der 1964 beschlossenen Regelung des Schadensausgleichs für Kriegerwitwen. Danach wird der Schadensausgleich der Witwen nach dem Unterschied zwischen dem tatsächlichen Einkommen der Witwe und dem Vergleichseinkommen, d. h. dem mutmaßlichen Einkommen ihres gefallenen Mannes berechnet. Jede Einkommenserhöhung, auch die Erhöhung der Grund- und Ausgleichsrente, führt daher zu einer Kurzung des Schadensausgleichs, wenn nicht gleichzeitig das Vergleichseinkommen entsprechend steigt. Das Vergleichseinkommen wird jedoch nach dem Gesetz nur zum Beginn jedes ungeraden Jahres neu festgestellt. Wäre schon 1969, also in einem ungeraden Jahr, ein Erstes Anpassungsgesetz verabschiedet worden, so hätte die Erhöhung des Vergleichseinkommens eine Kürzung des Schadensausgleichs verhindert. Jetzt wird ein voller Ausgleich 1971 erfolgen.
Einer Änderung des Gesetzes in dem Sinne, wie Sie es in Ihrer zweiten Frage angedeutet haben, wird unter diesen Voraussetzungen jetzt nicht näherzutreten sein. Zu prüfen ist dagegen, ob künftig eine jährliche Berücksichtigung neuer Vergleichseinkommen erreicht werden kann. Ich werde mit dem Herrn Bundesfinanzminister die Frage der dafür erforderlichen, nicht unerhebliche Haushaltsmittel im Hinblick auf eine entsprechende Gesetzesänderung vor der übernächsten Anpassung, bei der das Problem erneut akut wird , erörtern.
Dann komme ich zur Frage 73 des Abgeordneten
Leicht:
Können Heime, die Erziehung und Berufsausbildung schwererziehbarer Jugendlicher vornehmen, in den Genuß der Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz kommen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, nach § 50 Abs. 1 des Arbeitsförderungsgesetzes kann die Bundesanstalt für Arbeit Einrichtungen, die der beruflichen Ausbildung dienen, durch Darlehen und Zuschüsse fördern. Gemäß Abs. 2 dieser Vorschrift darf die Förderung aber nur erfolgen, soweit nicht der Träger der Einrichtung oder ein anderer gesetzlich verpflichtet ist, die Kosten zu tragen. Nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, die Kosten zu übernehmen, die für Jugendliche entstehen, denen Erziehungshilfe gewährt wird bzw. für die Erziehungshilfe angeordnet ist. Hierzu zählen auch die Kosten, die für die Errichtung, Einrichtung und Unterhaltung von erforderlichen Ausbildungsstätten entstehen. Somit bestehen nach den gesetzlichen Regelungen vorrangige Verpflichtungen zur
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2235
Parlamentarischer Staatssekretär Rohde Kostenübernahme, die eine institutionelle Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz ausschließen. Es sind jedoch keine Bedenken zu erheben -das will ich hinzufügen, Herr Kollege —, wenn an Maßnahmen sonstiger Einrichtungen, die nach dem Arbeitsförderungsgesetz gefördert werden, neben anderen Personen auch einzelne Jugendliche aus dem von Ihnen genannten Kreis teilnehmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Leicht.
Herr Staatssekretär, gibt es nicht auch eine Vorschrift, die besagt, daß dann, wenn die — wie Sie richtig sagten — zuständigen Träger nach der Jugendhilfe nicht einspringen, doch in zweiter Linie die Förderungsmaßnahmen des Arbeitsförderungsgesetzes in Frage kommen?
Herr Kollege, ich darf Ihnen sagen, daß ich auf Grund Ihrer Frage den Sachverhalt nach dem geltenden Gesetz habe sorgfältig überprüfen lassen. Dabei sind auch die Beamten unseres Hauses zu den Feststellungen gekommen, die ich Ihnen hier vorgetragen habe.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Glauben Sie nicht, Herr Staatssekretär, daß man gerade bei den hier angesprochenen Heimen für schwererziehbare Jugendliche davon sprechen könnte, daß diese Kinder seelisch behindert sind und damit schon unter das Arbeitsförderungsgesetz fallen?
Herr Kollege, in dem Fall, in dem sich solche Überlegungen auch auf mögliche Rehabilitationsmaßnahmen erstrecken könnten, würde ich gern Ihre Anregung aufnehmen, sie mit dem Herrn Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit zu erörtern.
Damit komme ich zur Frage 74 des Abgeordneten Hansen:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Menschenhandel mit Gastarbeitern ohne Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik Deutschland zu unterbinden, wie er laut „Panorama" am 6. April 1970 z. B. durch eine Firma in Stuttgart betrieben wird, welche Arbeitskräfte weit unter Tarif einstellen soll, wobei die geringfügigen Strafen für ihre illegale Tätigkeit die erzielten Gewinne kaum schmälern würde?
Herr Staatssekretär, bitte!
Herr Präsident, ich bitte, die vier Fragen, die von dem Herrn Kollegen Hansen, von der Frau Kollegin Lauterbach und von einem anderen Kollegen zu dem gleichen Sachverhalt gestellt worden sind, gemeinsam beantworten zu dürfen.
Das ist zwar ungewöhnlich; aber wir können es machen. Das Recht auf Zusatzfragen der einzelnen Kollegen bleibt aufrechterhalten.
Ich rufe also auch die Fragen 75 und 76 der Abgeordneten Frau Lauterbach und die Frage 77 des Abgeordneten Löffler auf:
Ist die Bundesregierung darüber informiert, daß es laut Panorama-Sendung vom 6. April d. J. rund 200 bekannte und eine nur schätzbare Dunkelziffer unbekannter Unternehmer gibt, die als Touristen einreisende ausländische Arbeitnehmer illegal anheuern und sie als „Leiharbeiter" vor allem an Baufirmen in einer Größenordnung vermieten, daß man von einer Beherrschung des sogenannten „grauen Gastarbeitermarktes" im Baugewerbe sprechen kann?
Teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß dieser Art von Firmen das Handwerk gelegt werden muß, und welche Möglichkeiten sieht sie sowohl dazu, wie auch den betroffenen Leiharbeitern zu ihren elementarsten Menschenrechten zu verhelfen?
Wie gedenkt die Bundesregierung gegen die Agenturen vorzugehen, welche ausländische Arbeiter ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung mit hohem Gewinn als Arbeitskräfte an industrielle Unternehmen weitervermitteln?
Frau Kollegin Lauterbach! Meine Herren Kollegen! Die Bundesregierung verurteilt aufs schärfste, wenn Ausländer, die sich ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Bundesgebiet aufhalten, von skrupellosen Geschäftemachern ausgebeutet werden. Die zuständigen Stellen arbeiten unter Federführung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung eng zusammen, um die von Ihnen geschilderten Praktiken durch Straf-, Bußgeld- und Verwaltungszwangsverfahren zu unterbinden.Welche Maßnahmen in den Fällen der „Panorama"-Sendung vom 6. April 1970 im einzelnen getroffen wurden, lasse ich zur Zeit feststellen. Nach Abschluß dieser Ermittlungen werde ich Sie selbstverständlich ergänzend unterrichten.Nach meinen bisherigen Informationen dürfte in den von Ihnen genannten Fällen unerlaubte Arbeitsvermittlung vorliegen. Die gesetzlichen Möglichkeiten lassen es hier zu, den illegalen Vermittlern, gegebenenfalls auch durch Betriebsschließungen, das Handwerk zu legen. Die Sachaufklärung stößt allerdings häufig .auf erhebliche Schwierigkeiten; denn von den beteiligten Personen sind gewöhnlich keine Angaben zu erhalten.Der Umfang der illegalen Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer läßt sich deshalb auch kaum abschätzen, worauf Frau Kollegin Lauterbach in ihrer Anfrage ebenfalls hingewiesen hat. Gesetzesverstöße in diesem Bereich sind im Baugewerbe besonders schwer zu erfassen. Daher dürfte hier ein Schwerpunkt der illegalen Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer liegen.Um diese Mißstände zu beseitigen, wird in meinem Hause die gesetzliche Einführung einer erweiterten Meldepflicht für Unternehmen, die sogenannte Leiharbeiter beschäftigen, vorbereitet. Außerdem laufen Vorarbeiten für gesetzliche Neuregelungen, um arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Nachteile für die betroffenen Arbeitnehmer auszuschließen. Ich hoffe, daß damit die von Ihnen zu Recht ver-
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2236 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Rohdeurteilten Praktiken ausgeschaltet werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf, Frau Kollegin, wird demHohen Hause noch im Laufe dieses Jahres zugeleitet.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatssekretär, ist bei diesen Gesetzesänderungen auch daran gedacht worden, Mittel und Wege zu finden, um die illegale Einreise von Gastarbeitern ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung überhaupt zu unterbinden und auch die bis jetzt angedrohten Strafen drastisch zu erhöhen?
Herr Kollege, zunächst darf ich ein Wort zu den Strafen nachgeltendem Recht sagen. Die illegale Anwerbung oder Arbeitsvermittlung aus dem Ausland ins Inland wird mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Weil in diesen Fällen grundsätzlich anzunehmen ist, daß der Täter aus Gewinnsucht handelt, kann die Geldstrafe bis zu einem Betrage von 100 000 DM verhängt werden. In jedem Falle soll die Geldstrafe den Gewinn, den der Täter aus der Tat gezogen hat, übersteigen. Unabhängig von der Ahndung begangener Verstöße gegen das Vermittlungsmonopol kann ,die Bundesanstalt für Arbeit nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz Betriebsschließungen vornehmen, um künftige Gesetzesverletzungen zu verhindern.
Das wollte ich zur Klarstellung des geltenden Rechts anfügen. Aber selbstverständlich wird diese Frage der Strafen ebenso wie die von Ihnen genannte andere Frage im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf, den wir vorlegen werden, erörtert werden.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Lauterbach.
Herr Staatssekretär, welche rechtlichen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung oder kann sie bis zur Einbringung des Gesetzentwurfes schaffen, um den bereits vorhandenen illegalen Gastarbeitern zu rechtsgültigen Arbeitsverträgen bzw. zu gesetzlich-sozialer Sicherheit zu verhelfen?
Frau Kollegin, ich habe schon in meiner Antwort darauf hingewiesen, daß wir nicht nur die in der Panorama-Sendung genannten Fälle verfolgen, untersuchen und Ihnen von dem Ergebnis dieser Untersuchung berichten werden, sondern daß auch unter Federführung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen der Sozialversicherung, der Steuerbehörden usw. organisiert worden ist, um die Mißstände auf dem Gebiet der Leiharbeiter abzubauen.
Im übrigen, Frau Kollegin, darf ich darauf aufmerksam machen, daß zur Zeit vor dem Bundessozialgericht ein Verfahren anhängig ist, bei dem prinzipiell über die Abgrenzung zwischen erlaubter Arbeitnehmerüberlassung und unerlaubter Arbeitsvermittlung entschieden werden soll. Allerdings hat dieses Verfahren für die in der Panorama-Sendung genannten Fälle keine Bedeutung, weil wir davon ausgehen, daß es sich hierbei offensichtlich schon nach geltendem Recht um unerlaubte Arbeitsvermittlungen handelt.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Lauterbach.
Herr Staatssekretär, würden Sie die Möglichkeit sehen, uns gelegentlich einmal mitzuteilen, in welcher Höhe durch diese Art von Firmen dem Fiskus und den Sozialversicherungsträgern durch nicht abgeführte Lohnsteuern und Sozialabgaben materieller Schaden entstanden ist?
Frau Kollegin, soweit das möglich ist, werden wir es selbstverständlich tun. Ich darf Ihnen versichern, daß in den letzten Monaten seitens unseres Hauses besonderes Gewicht darauf gelegt worden ist, diesen Mißständen auf dem Felde der Leiharbeiter auch hinsichtlich der Auswirkungen auf das Sozialversicherungs- und das Steuerrecht auf die Spur zu kommen und zu begegnen. Das wird im Zusammenhang mit der Gesetzesberatung ebenfalls zur Sprache gebracht werden.
Herr Abgeordneter Löffler, wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Dr. Geßner!
Herr Staatssekretär, Sie hatten eben mitgeteilt, daß auf Grund der geltenden Gesetze sehr erhebliche und empfindliche Strafen verhängt werden können. Ich hätte gern von Ihnen gewußt, ob Sie uns etwas über die gängige Gerichtspraxis in dieser Frage sagen können.
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich Ihnen eine Bestandsaufnahme der Gerichtsverfahren schriftlich zuleite.
Herr Abgeordneter Härzschel!
Herr Staatssekretär, ich wollte an sich dieselbe Frage stellen. Ist Ihnen bekannt, inwieweit im Rahmen des geltenden Rechts Verurteilungen stattgefunden haben? Es wäre doch für dieses Haus interessant zu wissen, wie die Praxis bisher gewesen ist.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2237
Herr Kollege, ich darf auf Ihre Frage die gleiche Antwort geben, die ich eben Herrn Kollegen Dr. Geßner erteilt habe. Sie können sicher sein, daß wir darum bemüht sind, Sie in dieser Angelegenheit zügig zu unterrichten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schulze-Vorberg!
Herr Staatssekretär, darf ich den Antworten, die Sie eben gegeben haben, entnehmen, daß die Bundesregierung tatsächlich keine Ubersicht darüber hat, welche justitiellen Gegenmaßnahmen gegen diese skandalösen Vorfälle, die die einzig wirksamen sind, getroffen worden sind?
Nein, Herr Kollege, das können Sie meiner Antwort nicht entnehmen. Sie können meiner Antwort lediglich mein Bemühen entnehmen, diese Strafen hier nicht nur in einigen Einzelfällen darzustellen, sondern eine präzise Ubersicht über .die Strafpraxis im ganzen zu geben.
Damit sind diese vier Fragen erledigt.
Ich rufe die Frage 78 des Abgeordneten Pieroth auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Alterskassen der Landwirtschaft bei Anträgen auf Landabgaberente die Voraussetzung einer fünfjährigen überwiegend hauptberuflichen Bewirtschaftung so streng auslegen, daß selbst wegen kurzer Unterbrechungen und bei Landwirten, die weit über fünf Jahre hauptberuflich tätig sind, die Rente abgelehnt wird, und ist die Bundesregierung bereit, hier eine flexiblere Regelung einzuführen, damit die Strukturverbesserung gefördert und soziale Härten vermieden werden?
Der Fragesteller hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom 16. April 1970 lautet:
Die Landabgaberente ist im Sommer vorigen Jahres neu eingeführt worden. Die Bundesregierung beobachtet laufend, welche Erfahrungen mit den einzelnen Bestimmungen des Gesetzes gemacht werden. Soweit bisher Härten aufgetreten sind, die durch eine extensive Auslegung des Gesetzes behoben werden konnten, ist dies in Zusammenarbeit mit den Stellen, die mit der Durchführung des Gesetzes beauftragt sind, geschehen. Bisher ist der Bundesregierung noch nicht berichtet worden, daß die gesetzliche Voraussetzung einer wenigstens 5jährigen überwiegend hauptberuflichen Tätigkeit als Landwirt vor der Landabgabe zu Härten der von Ihnen geschilderten Art geführt hat. Ich wäre daher dankbar, wenn Sie mir derartige Fälle, die Sie offensichtlich im Auge haben, mitteilen würden. Ich werde dann gern prüfen lassen, ob und wie auch in diesen Fällen geholfen werden kann.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich komme nun zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, zunächst zu den Fragen 79 und 80 des Abgeordneten Cramer:
Trifft es zu, daß im Bereich des Bundesverteidigungsministeriums Verbesserungsvorschläge, die bei ihrer Verwirklichung erhebliche Arbeitsleistungssteigerungen bedingen, viele Monate im Verwaltungsgang bleiben, ohne bearbeitet zu werden?
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Vorschläge aus dem Marinearsenal Wilhelmshaven 19 Monate ohne Entscheidung geblieben sind, und teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß bei einer solchen Verfahrensdauer die lobenswerte Eigeninitiative der Beschäftigten in ihrem Bereich gelähmt wird?
Herr Staatssekretär, ich darf bitten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Cramer, die Bundesregierung teilt Ihre Auffassung, daß eine zügige Bearbeitung von Verbesserungsvorschlägen die Eigeninitiative der Beschäftigten fördern kann. Sie ist daher bemüht, die Prüfung der Verbesserungsvorschläge so schnell wie möglich abzuschließen und den Verbesserungseffekt nutzbar zu machen. Die Bearbeitungsdauer ist so unterschiedlich wie die jeweiligen Verbesserungsvorschläge selbst. Bearbeitungszeiten von 19 Monaten sind jedoch Ausnahmefälle. Da weder Name noch Dienststelle des Einsenders registriert werden, um die Objektivität der Prüfung zu gewährleisten, kann ich im Moment nicht beurteilen, ob bei der Bearbeitung von Vorschlägen aus dem von Ihnen genannten Bereich unangemessene Verzögerungen eingetreten sind. Um das überprüfen zu können, bitte ich Sie, mir die genaue Bezeichnung der Verbesserungsvorschläge und die Zeiten der Einsendungen bekanntzugeben. Ich werde Sie sodann schriftlich über den Stand der Angelegenheit unterrichten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cramer.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß bei einer so langen Verzögerung der Bearbeitung von Verbesserungsvorschlägen die Gefahr besteht, daß Unberechtigte davon erfahren und zum Nachteil des Erfinders in der Zwischenzeit Rechte anmelden, vor allem, wenn solche Vorschläge in der Zwischenzeit bis zur Anerkennung schon bei Arbeitsvorgängen realisiert werden?
Herr Kollege Cramer, ich kann das nicht ausschließen. Nach der anderen Seite bemühen wir uns, um künftig besser überwachen zu können, daß bei der Bearbeitung durch die verschiedenen Stellen kein Leerlauf entsteht, ein Kontrollverfahren des Geschäftsganges und der Prüfungs- und Bewertungsausschüsse einzuführen und zu intensivieren. Im Zusammenhang damit ist beabsichtigt, Kontrollzettel einzuführen, die sofort an den Ausschuß zurückzusenden sind und auf denen Bearbeiter, Sachstand und eventuelle Hinderungsgründe für eine baldige Stellungnahme anzugeben sind. Die Erfahrungen im Vorschlagswesen — von denen bis Ende 1969 eingegangenen 6391 Vorschlägen konnten bisher 6161 abschließend bearbeitet werden — erlauben erfreulicherweise die Feststellung, daß alle am Vorschlagswesen beteiligten Stellen aufgeschlossen und im großen und ganzen zügig mitarbeiten.
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2238 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cramer.
Darf ich Sie fragen, Herr Staatssekretär, ob Sie davon Kenntnis nehmen wollen, daß dieser Fall, der 19 Monate gedauert hat, inzwischen 21 Monate andauerte, aber in den letzten Tagen erledigt wurde. Es liegen jedoch noch ähnliche Fälle vor. Wenn ich Ihnen die mitteilen darf, sind Sie bereit, dann dafür einzutreten, daß solche Fälle in Zukunft schneller beantwortet werden?
Herr Kollege Cramer, ich hatte darum gebeten. Aber Vorschläge müssen bewertet werden, und es kann sein, daß die Bewertung von komplizierten Vorschlägen wirklich viele Monate Arbeit erfordert. Ich kann hier zu den einzelnen Fällen nichts sagen, da ich sie nicht kenne.
Ich komme zur Frage 81 des Abgeordneten Hansen:
Treffen Pressemeldungen zu, wonach ein an einem Skelettschaden der Wirbelsäule leidender und damit dienstunfähiger Soldat als „Simulant" wochenlang in der neurologisch-psychiatrischen Abteilung des Hamburger Bundeswehrlazaretts zubrachte, um dann wegen „seelischer Fehlhaltung" als dienstunfähig entlassen zu werden?
Herr Kollege Hansen, ich bitte um Verständnis dafür, daß Fragen, die sich auf den Gesundheitszustand eines einzelnen Soldaten beziehen, nicht beantwortet werden können. Sie unterliegen nämlich der ärztlichen Schweigepflicht, solange der Betroffene den Arzt nicht von seiner Schweigepflicht entbindet. Sollten Sie es wünschen, so werde ich versuchen, das Einverständnis des früheren Soldaten einzuholen und Ihre Frag e sodann schriftlich beantworten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es sich hier nicht nur um das ärztliche Problem handelt, sondern um die Behandlung des Soldaten Nütz während seiner gesamten Dienstzeit in der Bundeswehr?
Herr Kollege Hansen, ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, konnte das allerdings aus der Fragestellung nicht ablesen. Ich muß Sie aber auch wissen lassen, daß wir mehrfach versucht haben, den Soldaten dazu zu bringen, daß er den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht entbindet. Das ist bisher nicht gelungen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie dann fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß, wie aus Pressemeldungen zu ersehen war, für eventuelle Ersatzansprüche des Soldaten Nütz wichtige Unterlagen — es wird von Röntgenaufnahmen gesprochen — bei Dienststellen der Bundeswehr verschwunden sein sollen.
Das ist mir bekannt, aber ich kann das hier weder bestätigen noch dementieren. Presseberichte sind vor Gericht kein beweiskräftiges Material.
Ich komme zur Frage 82 des Abgeordneten Dr. Enders:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Rückforderungen von Studienbeihilfen an Nachwuchskräfte der Bundeswehr ungleich härter eingezogen werden als Rückforderungsansprüche nach der Gewährung des Honnefer Modells?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege Enders, ich beantworte Ihre Frage folgendermaßen. Der Bundesregierung ist bekannt, daß Rückforderungen von Studienbeihilfen der Bundeswehr und Rückforderungen nach dem Honnefer Modell nach unterschiedlichen Grundsätzen eingezogen werden. Die Studienbeihilfe ist eine Förderungsmaßnahme für Nachwuchskräfte der Bundeswehr, die unabhängig von der wirtschaftlichen Lage des Bewerbers gewährt wird. Leistungen nach dem Honnefer Modell erhalten dagegen nur Studenten, die einer wirtschaftlichen Hilfe bedürfen.
Die Rückzahlung beider Förderungsbeträge richtet sich nach den allgemeinen haushaltsrechtlichen Bestimmungen des Bundes. Bei Darlehen nach dem Honnefer Modell wird von vornherein die schlechte wirtschaftliche Lage des geförderten Studenten berücksichtigt. Daher sind auch für diesen Personenkreis die Rückzahlungsbedingungen allgemein günstiger geregelt als für die Stipendiaten der Bundeswehr.
Bei der Rückforderung von Studienbeihilfen der Bundeswehr muß dagegen in jedem Einzelfall geprüft werden, ob eine Stundung unter Gewährung von Ratenzahlung, eine Niederschlagung oder ein Erlaß der Forderung gerechtfertigt ist. Die Einziehungspraxis berücksichtigt schon heute die in Ihrer zweiten Frage genannten Gesichtspunkte.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, werden vor der Gewährung der Stipendien an Nachwuchskräfte der Bundeswehr Eignungsprüfungen durchgeführt?
Herr Kollege Enders, ich kann Ihnen das nicht sagen. Auf jeden Fall muß die Eignung für die gewählte Fachrichtung, die generell von dem Studenten gefordert wird, auch von dem Soldaten nachgewiesen sein. Ich bin bereit, Ihnen diese Frage schriftlich zu beantworten.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2239
Herr Staatssekretär, würden Sie mir dann zustimmen, daß, wenn die Bundeswehr die Eignung des Bewerbers anerkennt und er aus irgendeinem Grunde seine Prüfungen nicht besteht, kein Verschulden vorliegt?
Herr Kollege Enders, es geht nicht um die Frage des Verschuldens, sondern es geht darum, daß hier Darlehen nach gesetzlichen Regelungen, an die der Bundesminister der Verteidigung gebunden ist, gewährt werden. Er hat keinen Ermessensspielraum.
Ja, Herr Kollege Dr. Enders, nunmehr käme erst Ihre nächste Fragedran, die Frage 83:
Ist die Bundesregierung bereit, von den Studenten, die als Nachwuchskräfte der Bundeswehr Studienbeihilfe erhielten und ohne nachweisbares Verschulden ihr Studium abbrechen mußten, die Rückzahlung in niedrigen Raten, ohne Berechnung der Zinsen und erst nach Abschluß einer anderen Berufsausbildung anzufordern?
Oder ist die schon 'beantwortet?
Ich glaube, sie ist schon beantwortet.
Dann können Sie noch eine Frage stellen.
Wenn Sie sich noch einmal überzeugen möchten, ob die zweite Frage beantwortet ist — —
Ich habe den Eindruck, ich habe die zweite Frage mit beantwortet.
Ja, ich hatte auch den Eindruck.
Herr Staatssekretär, möchten Sie in dem Sinne großzügig verfahren, daß Rückforderungen, wenn sie an Stipendiaten gestellt werden, mit Rücksicht auf die besondere Situation der jungen Menschen erhoben werden?
Das geschieht heute schon, Herr Kollege Enders. Auf die soziale Situation des Betroffenen wird immer Rücksicht genommen.
Dann komme ich zu den Fragen 84 und 85 des Abgeordneten Wende:
Welche Erfahrungen hat die Bundesregierung mit dem Luftsporterlaß V/R III/2, Az.: 12-03-00 vom 16. Januar 1967 hinsichtlich der Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit den Luftsportvereinen in der Bundesrepublik Deutschland gemacht?
Teilt die Bundesregierung die Bedenken, wie sie in einer kürzlich vorgelegten Dokumentation des baden-württembergischen Luftfahrtverbandes e. V. gegen den Erlaß Nr. V/R III/2, Az.: 12-03-00 vom 16. Januar 1967 erhoben worden sind?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Wende, die Fragen beziehen sich offenbar auf die kostenfreie Bereitstellung von Bundeswehr-Flugzeugen bzw. -Hubschraubern für private Luftsportvereine. In früheren Jahren konnte in dieser Frage großzügig verfahren werden. Die immer noch ungeklärte Haftungsfrage und die Haushaltsrichtlinien zwangen die Bundesregierung jedoch, die bisher geübte Großzügigkeit örtlichen privaten Vereinen gegenüber einzuschränken, und zwar auf die Unterstützung derjenigen Veranstaltungen, an denen die Bundeswehr ein erhebliches dienstliches Interesse hat. Ob und wann ,ein solches dienstliches Interesse vorliegt, regelt ein Erlaß, der durch den Führungsstab des Heeres, Referat FüH IV/3, herausgegeben ist. Die Bundesregierung versteht die finanziellen Sorgen der privaten Luftsportvereine, wie sie in der von Ihnen zitierten Dokumentation des Baden-Württembergischen Luftfahrtsverbandes e. V. bezüglich kostenfreier Gestellung von BundeswehrHubschraubern zum Ausdruck kommt. Sie sieht sich jedoch nicht in der Lage, diesen Wünschen zu entsprechen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß es Ausnahmen von dieser Verordnung dann geben sollte, wenn es sich beispielsweise um die Durchführung von Jugendlagern handelt, die bisher in sehr guter Zusammenarbeit z. B. mit der 1. Luftlandedivision in Bruchsal durchgeführt worden sind und deren Durchführung in Zukunft nicht mehr möglich ist?
Herr Kollege Wende, ich teile Ihre Meinung; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die versicherungsrechtliche Seite nicht geklärt ist. Solange sie nicht geklärt ist, kann ich nicht zulassen, daß Soldaten in eine schwierige Situation gebracht werden, weil sie unter Umständen persönlich zur Haftung herangezogen werden können.
Eine zweite Zufrage.
Herr Staatssekretär, da die Bundeswehr die Hilfe bei deutschen, Europa- und Weltmeisterschaften auch weiterhin übernimmt, wäre es nicht möglich, daß man bei sehr wichtigen internationalen Wettbewerben und auch bei Landesmeisterschaften, die nun einmal für das Training der Luftsportler notwendig sind, solche Ausnahmegenehmigungen erteilt?
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2240 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Herr Kollege Wende, die zuständigen Bearbeiter im Bundesministerium der Verteidigung beobachten diese Frage sehr sorgfältig, und jedesmal, wenn sich im Rahmen der gültigen Verordnungen und Gesetze eine Möglichkeit bietet, sind wir bereit, diese Hilfe zu gewähren. Wo gesetzliche oder Verordnungsbestimmungen dem entgegenstehen, ist das leider nicht möglich.
Sie haben wieder beide Fragen beantwortet, Herr Staatssekretär?
Ich habe beide Fragen zusammen beantwortet.
Dann haben Sie noch eine Zusatzfrage. Bitte sehr, Herr Wende!
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht auch, daß es ein unguter Zustand ist, wenn bei Veranstaltungen dieser Art die deutschen Luftsportler die Hilfe der alliierten Flugzeuge in Anspruch nehmen müssen, und daß es gerade bei internationalen Veranstaltungen einen etwas merkwürdigen Eindruck macht, wenn die deutsche Luftwaffe solche Flugzeuge nicht zur Verfügung stellt?
Ich teile Ihre Auffassung. Aber ich kann immer nur das gleiche antworten: die ausländischen Luftwaffen arbeiten unter anderen versicherungsrechtlichen Bedingungen. Wir haben bisher keine Versicherung gefunden, die bereit ist, das Risiko zu übernehmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jung.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es hier nicht darum geht, den Luftsportvereinen finanzielle Hilfe zu leisten, sondern daß es der ausdrückliche Wunsch der Bundeswehreinheiten ist, in Zusammenarbeit mit den Luftsportvereinen einmal die Bundeswehr in der Öffentlichkeit sich selbst darstellen zu lassen, zum anderen um Nachwuchs zu gewinnen, und zum dritten, um die Luftsportgruppen der Bundeswehr von den zivilen Vereinen mit zivilen Flugzeugen und Fluglehrern zu unterstützen.
Herr Kollege Jung, ich weiß natürlich, daß es einen engen Zusammenhang zwischen luftsporttreibenden jungen und älteren Damen und Herren und der deutschen Luftwaffe bzw. der zivilen deutschen Luftfahrt gibt. Nichtsdestoweniger bleibt der Tatbestand, daß wir der Werbung z. B. von Freiwilligen nicht ein so großes Gewicht beimessen können, wie es aus Ihrer Frage hervorzugehen scheint. Darüber hinaus ist die
Selbstdarstellung der Luftwaffe auch gegeben, wenn wir bei diesen Veranstaltungen nicht teilnehmen, da wir einen Teil der Teilnehmer, der Sportler, stellen, die privat in den Vereinen organisiert sind. Es ist durchaus bekannt, daß es eine enge Klammer zwischen unseren Luftwaffensoldaten und den Luftsportvereinen gibt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, diese Frage noch einmal zu prüfen, wenn z. B. die Luftsportverbände eine Versicherung fänden, die dann, von ihnen bezahlt, die Haftung für den Einsatz von Flugzeugen und Personal der Bundeswehr übernehmen würde?
Es ist sehr schwer, hierauf eine Antwort zu geben, weil ich nicht genau weiß, ob es in Ihrer Frage „Ihnen" oder „ihnen" hieß, ob es sich also auf die Luftsportvereine oder auf mich, d. h. .auf das Bundesministerium der Verteidigung, bezog.
Daher kann ich nur sagen: Wir sind immer bereit, in eine erneute Prüfung einzutreten, weil das Bundesministerium der Verteidigung ein Interesse daran hat, dem deutschen Luftsport, soweit es Gesetze und Verordnungen zulassen, zur Seite zu stehen.
Ich rufe nunmehr die Frage 86 des Abgeordneten Dr. Klepsch auf:Auf wessen Weisung haben Bundeswehrangehörige in Uniform bei der Rennrodelweltmeisterschaft in Königssee am 31. Januar 1970 die Flagge der DDR gehißt, und war es die Absicht der Bundesregierung, diesen Vorgang durch Veröffentlichung in der Wochenzeitung „Das Parlament" zu unterstreichen?Die Frage wird wunschgemäß schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Berkhan vom 17. April 1970 lautet:Zu den vom 31. 1. bis 1. 2. 1970 in Königsee durchgeführten Rennrodel-Weltmeisterschaften wurden lediglich Bahndienste durch Soldaten der Bundeswehr gestellt.Das Hissen der Flaggen durch Soldaten war bei den Vorbesprechungen mit dem Organisationskomitee ausdrücklich ausgeschlossen worden. Übermäßiger Schneefall während des Beginns verlangte den Einsatz aller zivilen Arbeitskräfte und auch vermehrt den von Soldaten zur Präparierung der Strecke. Kurz vor Beginn der Veranstaltung wandten sich die Organisatoren an den Einsatzleiter der Bundeswehr, den stellvertretenden Bataillonskommandeur GebJgBtl 232, mit der drängenden Bitte, zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen und pünktlichen Beginns der Veranstaltung, Soldaten zum Hissen der Flaggen abzustellen. Er kam dieser Bitte nach.Das Flaggenhissen erfolgte ohne militärisches Zeremoniell.Es war zu keiner Zeit Absicht der Bundesregierung, diesen nicht beabsichtigten Vorfall durch eine bildliche Veröffentlichung obendrein zu unterstreichen. Wenn auch die Herausgabe der Wochenzeitung Das Parlament" unter der Verantwortung der Bundeszentrale für politische Bildung erfolgt, so wurde das besagte Bild ohne eine diesbezügliche Weisung an den zuständigen Redakteur ausschließlich aus dessen eigener Verantwortlichkeit veröffentlicht. Er erhielt dieses Pressefoto von einem Bilddienst und fand es veröffentlichungswert.Ich rufe die Frage 87 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen auf:Welche Maßnahmen sind noch erforderlich, um die einheitliche Warenkatalogisierung für Wirtschaft und öffentliche Verwaltung gemäß dem Kabinettsbeschluß vom 16. September 1968 durchzuführen?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2241
Die Frage wird ebenfalls auf Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Berkhan vom 15. April 1970 lautet:Der in Ihrer Frage angezogene Kabinettbeschluß bezieht sich nicht auf die Einführung der einheitlichen Materialkatalogisierung in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, sondern nur in der Bundesverwaltung.Die Einführung der einheitlichen Materialkatalogisierung in der gesamten Bundesverwaltung wird sich auf einen Zeitraum von etwa fünf Jahren erstrecken, und zwar ab dem Zeitpunkt, zu dem die verwaltungsmäßigen Voraussetzungen dazu geschaffen sind. Die Einrichtung der erforderlichen zusätzlichen Stellen und ihre Besetzung mit geeigneten Kräften bereitet, besonders im Hinblick auf die gespannte Lage des Arbeitsmarktes, große Schwierigkeiten.Trotzdem sind bereits erste Erfolge erzielt worden. Folgende Maßnahmen sind noch erforderlich:1. Bereitstellung des notwendigen, aber bisher noch nicht in ausreichendem Umfange vorhandenen Personals.2. Fertigstellen von Verfahren für den Anschluß materialbewirtschaftender Stellen der Bundesverwaltung an das einheitliche Katalogisierungssystem und für die Übernahme des bereits vorhandenen Datenbestandes.3. Überarbeiten der Katalogisierungsvorschriften und -hilfsmittel, die bisher nur auf die Belange der Bundeswehr ausgerichtet waren und nun für die Anwendbarkeit in der gesamten Bundesverwaltung „neutralisiert" werden müssen.Die Herausgabe der wesentlichen Verfahrensrichtlinien und der hauptsächlichen Katalogisierungsunterlagen ist bis Ende 1970 vorgesehen.4. Verstärkung der Ausbildungskapazität ab 1970/71 bei der Logistikschule in Hamburg und beim Materialamt in Hangelar.5. Inkraftsetzen von für die gesamte Bundesverwaltung gültigen Beschaffungsgrundlagen und Richtlinien zur wirtschaftlichen Nutzbarmachung der einheitlichen Materialkatalogisierung für den Bundeshaushalt.Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.Wir kommen nun zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Ich rufe zunächst die Frage 88 des Abgeordneten Dr. Geßner auf:Hält es die Bundesregierung für angebracht, daß künftig in Pässen und Personalausweisen Blutgruppe, Rhesusfaktor oder Impfungen eingetragen werden können?Bitte sehr, Frau Ministerin!
Die vorsorgliche Blutgruppenfeststellung, die für jeden Mitbürger möglich ist, wird als lebensrettende Maßnahme für Verletzte am Unfallort, auf dem Transport zum Krankenhaus und auch bei der sofortigen nachfolgenden Krankenhausversorgung von der Öffentlichkeit überschätzt. Vollbluttransfusionen am Unfallort als Dringlichkeitsmaßnahme zur Auffüllung des Kreislaufs sind in keinem Falle notwendig und technisch auch kaum durchführbar, da es praktisch unmöglich ist, die zwingend vorgeschriebene Verträglichkeitsprobe am Unfallort durchzuführen. Die ohne Feststellung der Blutgruppenmerkmale sofort anwendbaren Humaneiweißlösungen und künstlichen Blutersatzmittel haben die gleiche und manchmal sogar eine bessere therapeutische Wirkung.
Bestimmungen des Rhesusfaktors und der Blutgruppe erfolgen im Rahmen der Schwangerenvorsorgeuntersuchung. Die Ergebnisse werden in den Mütterpaß eingetragen.
Impfungen werden in ein Impfbuch eingetragen, das jeder Impfling nach § 16 des Bundesseuchengesetzes bei der ersten Impfung erhält. Für Impfungen im internationalen Reiseverkehr gibt es Impfzeugnisse, die durch die internationalen Gesundheitsvorschriften festgelegt sind. Die nationalen und internationalen Impfzeugnisse sind in einem kombinierten Impfbuch zusammengefaßt, das zudem auf seinen beiden letzten Seiten noch Eintragungen für den Notfall enthält, u. a. auch Blutgruppe und Rhesusfaktor. Dieses kombinierte Impfbuch hat sich bewährt. Es kann in den Personalausweis eingelegt werden.
Eine Zusatzfrage, bitte!
Frau Bundesministerin, Sie hatten eben dargelegt, daß es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, um das an verschiedenen Stellen eintragen zu lassen. Aber meinen Sie nicht, daß es vielleicht doch richtiger wäre, wenn man das alles in einem Dokument zusammenfaßte?
Herr Kollege, daran ist kein Staatsbürger gehindert. Es gibt auf dem Markt eine ganze Reihe von Angeboten an solchen Pässen. Sowohl ich persönlich als auch die verschiedenen Ministerien, die darüber immer wieder Ressortbesprechungen geführt haben, sind der Meinung, daß ein solcher amtlicher Ausweis ja auf einen Untersuchungszwang hinauslaufen würde. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: da habe ich Hemmungen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Geßner.
Frau Bundesministerin, ist Ihnen bekannt, ob in anderen Staaten gleiche oder ähnliche Regelungen durchgeführt werden? Wenn ja, zu welchen Auswirkungen könnten sie dort geführt haben?
Herr Kollege, da ich nicht sicher bin, darauf eine absolut richtige Antwort geben zu können, bitte ich Sie, mich das noch prüfen zu lassen. Ich bin gern bereit, Ihnen das Ergebnis mitzuteilen.
Ich rufe dann die Fragen 89 und 90 des Abgeordneten Dr. Bechert auf.
Die Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 91 des Abgeordneten Burger auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß im Rundschreiben 225/69 des Landeswohlfahrtsverbandes Württemberg-Hohenzollern vorn 22. September 1969 eine Auslegung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes getroffen wird, die eine Einschränkung des Kreises der Hilfsbedürftigen bedeutet?
Bitte, Frau Ministerin!
Ich möchte gern die beiden Fragen zusammen beantworten.
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2242 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Dann rufe ich auch die Frage 92 des Abgeordneten Burger auf:
Ist die Bundesregierung mit mir der Auffassung, daß eine solche Auslegung dem erklärten Willen des Gesetzgebers, durch die zweite Novelle zum Bundessozialhilfegesetz keine Verschlechterungen, sondern Verbesserungen zu erreichen, widerspricht, und ist die Bundesregierung bereit, mit den Bundesländern alsbald Fühlung aufzunehmen, um derartige Fehlinterpretationen zu verhindern bzw. unverzüglich wieder zu beseitigen?
Die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, durch die 2. Novelle zum Bundessozialhilfegesetz keine Verschlechterungen, sondern Verbesserungen zu erreichen. Dies gilt auch für § 39 Abs. 1 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes, der durch eine Erweiterung des berechtigten Personenkreises eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage gebracht hat. Die Bundesregierung sieht daher in dem von Ihnen erwähnten Rundschreiben des Landeswohlfahrtsverbandes Württemberg-Hohenzollern — auch im Hinblick auf die Einführung des Wortes „wesentlich" in § 39 Abs. 1 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes — keine Einschränkung des Kreises der Hilfsbedürftigen. Die Bundesregierung ist im übrigen bemüht, im ständigen Kontakt mit den für die Durchführung des BSHG zuständigen Stellen in den Ländern auf eine dem Gesetz entsprechende und gleichmäßige Auslegung des Gesetzes im gesamten Bundesgebiet hinzuwirken.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Burger.
Ich darf noch einmal fragen, Frau Minister. Sie sind also der Auffassung, daß durch die Neufassung des BSHG, und zwar des § 39 Abs. 1 Nr. 5, wo es heißt „Personen, die durch Schwäche ihrer geistigen Kräfte wesentlich behindert sind" im Vergleich zur früheren Fassung „Personen, deren geistige Kräfte schwach entwickelt sind", keine ungewollte Beschränkung der Leistungspflicht eintreten darf?
Ich weiß aus den Verhandlungen, Herr Kollege Burger — damals war noch das Innenministerium für das BSHG zuständig, aber das Gesundheitsministerium hat sich gerade um diese Verbesserung für die geistig behinderten Personen sehr stark bemüht —, daß es uns allen um eine Verbesserung gegangen ist und vor allem auch darum, aus früheren Ermessensentscheidungen jetzt Rechtsansprüche zu machen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Burger.
Könnte, Frau Minister, durch die notwendige Neufassung des bisherigen § 5 der Eingliederungshilfeverordnung gewährleistet werden, daß keine Einschränkung der Leistungspflicht für bisher Berechtigte eintritt?
Eigentlich muß es gewährleistet sein. Aber ich bin gern bereit, über die Länder noch einmal darauf aufmerksam zu machen, daß es um eine Verbesserung und nicht um eine Minderung der Leistungen gegangen ist.
Dann komme ich zur Frage 93 des Abgeordneten Dr. Probst. Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Dann wird die Frage schriftlich beantwortet.
Ich komme zur Frage 94 des Abgeordneten Schulte . Ist er im Saal? — Das ist nicht der Fall. Dann wird auch diese Frage schriftlich beantwortet.
Ich komme zur Frage 95 des Abgeordneten Härzschel:
Wieviel beschützende Werkstätten für geistig Behinderte gibt es im Bundesgebiet und wieviel wären zusätzlich notwendig, um allen Behinderten, die dazu in der Lage sind, einen solchen Arbeitsplatz zu geben?
Bitte sehr!
Herr Kollege, auch diese beiden Fragen würde ich gern zusammen beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 96 des Abgeordneten Härzschel mit auf:
Welchen Beitrag leistet die Bundesregierung dazu, und was gedenkt sie zu tun, um den Ausbau solcher Werkstätten zu fördarn und die Unterhaltung zu sichern?
Nach den mir vorliegenden Unterlagen bestanden im Oktober 1969 insgesamt 160 beschützende Werkstätten, in denen rund 7300 geistig behinderte Menschen betreut werden. Wieviel Werkstätten dieser Art zusätzlich erforderlich sind, wird gegenwärtig im Rahmen des Aktionsprogramms der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten geprüft. Ich bin daher heute leider noch nicht in der Lage, Ihnen darüber genaue Zahlenangaben zu machen. Die Bundesregierung fördert bei der Durchführung des Aktionsprogramms im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Möglichkeiten die Errichtung und den Ausbau von Einrichtungen mit Modellcharakter oder überegionaler Bedeutung. Darüber hinaus wird der Ausbau und die Unterhaltung von beschützenden Werkstätten durch die Bundesanstalt für Arbeit auf Grund des Arbeitsförderungsgesetzes unterstützt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Härzschel.
Frau Minister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß es nicht genügt, nur Schulen für geistig Behinderte im schulpflichtigen Alter zu schaffen, sondern daß auch eine Fortsetzung der Arbeit in der beschützenden Werkstatt angestrebt werden muß?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2243
Ich stimme Ihnen vollkommen zu, Herr Kollege. Aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Durchführung des Bundessozialhilfegesetzes Aufgabe der Länder und gerade die Schaffung dieser beschützenden Werkstätten weitgehend Aufgabe der Länder und Gemeinden ist, woran sich auch die freien Verbände erheblich beteiligen. Der Bund hat verfassungsrechtlich über Modelleinrichtungen, die überregionalen Charakter haben, hinaus keine Möglichkeiten, hier direkten Einfluß zu nehmen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Härzschel.
Würden Sie bereit sein, mit den Ländern in dieser Richtung Fühlung aufzunehmen und sich dafür einzusetzen, daß diese Aufgabe auch bei den Ländern stärker in Angriff genommen wird?
Sehr gern, Herr Kollege. Ich sehe gerade auf den Gebieten, auf denen der Bund zwar Gesetzgebungsbefugnisse, aber keine Verwaltungskompetenzen hat, meine Aufgabe darin, im Wege des kooperativen Föderalismus auf eine befriedigende Lösung der Aufgaben mit hinzuwirken.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Burger.
Frau Minister, wer ist eigentlich für die Errichtung und Erstellung von beschützenden Werkstätten zuständig?
Herr Kollege Burger, die mit dem BSHG zusammenhängenden Aufgaben sind in erster Linie Aufgaben der Länder. Sie sind weitgehend auf die Gemeinden delegiert. Es ist aber niemand z. B. auch von den freien Wohlfahrtsverbänden gehindert, solche Einrichtungen zu schaffen. Der Bund selber kann das nicht.
Die Frage 97 ist bereits vom Bundesministerium des Innern beantwortet worden.
Ich rufe dann die Frage 98 des Abgeordneten Dasch auf:
Ich frage die Bundesregierung, welche Stellungnahme sie zu der Speiseeisverordnung der EWG-Kommission deswegen abgeben wird, da entgegen der vorher vorhandenen Absicht, nur tierisches Fett als Milchfett für die Herstellung von Speiseeis und kein anderes pflanzliches Fett als Kakaobutter zu verwenden, in der Verordnung jedoch vorgesehen ist, daß auch Pflanzenfetteis mit mindestens 5 % zugelassen wird?
Im Benehmen mit dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beantworte ich die Frage des Herrn Abgeordneten Dasch wie folgt: Die Vertreter der Bundesregierung im Sachverständigenausschuß bei der
Kommision haben bei der Beratung der SpeiseeisRichtlinie, die von der Generaldirektion 3 der EWG-Kommission erstellt worden ist, stets die Forderung erhoben, daß zur Herstellung von Speiseeis nur Milchfett verwendet werden soll. Sie haben gemeinsam mit den französischen Delegierten stets gegen die Verwendung anderer Fette, insbesondere von Pflanzenfett, einen Vorbehalt angemeldet. Die Vertreter der Bundesregierung beabsichtigen, auch weiterhin im Sinne der geltenden deutschen gesetzlichen Bestimmungen die Verwendung von Pflanzenfett bei der Herstellung von Speiseeis abzulehnen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dasch.
Frau Minister, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung 'bemüht ist, dem Verbraucherwillen, daß bei der Herstellung von Speiseeis nur Butterfett, also gutes, hochwertiges Fett verwendet wird, Rechnung zu tragen?
Die Bundesregierung ist in den Verhandlungen in Brüssel bemüht, die Vertreter der anderen vier Staaten von ihrer Auffassung zu überzeugen.
Eine zweite Zufrage.
Frau Minister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß die Verwendung von Butterfett, das in Deutschland und in der EWG reichlich vorhanden ist, einen Beitrag zur Marktentlastung darstellt?
Ich bin bereit, ja zu sagen, meine aber, daß dies nicht das einzige Motiv dafür sein kann, .daß bei der Herstellung von Spreiseeis Milchfette verwendet werden sollen.
Ich danke Ihnen, Frau Ministerin. Die Zeit für die Fragestunde ist abgelaufen. Die Fragen 109 und 110 sind zurückgezogen. Die nicht erledigten Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe dann den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
Beratung der Dokumentation der Bundesregierung über die Bemühungen zur Freilassung des entführten deutschen Botschafters Karl Graf von Spreti
— Drucksache VI/622 —.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Bundesregierung hat dem Hohen Hause
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2244 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Bundesminister Scheelund der Öffentlichkeit eine umfassende Darlegung aller mit der Entführung und dem tragischen Ende des deutschen Botschafters in Guatemala, Graf von Spreti, zusammenhängenden Tatsachen und Ereignisse übermittelt. Diese liegt Ihnen nun als Drucksache vor. Der Bericht gibt lückenlos den chronologischen Ablauf der Entwicklung wieder. Er stützt sich auf den Telegrammwechsel der Botschaft in Guatemala und anderer Außenstellen mit der Zenttrale, auf Telefonate und mündliche Mitteilungen des Sonderbeauftragten der Bundesregierung, Ministerialdirektor Hoppe, und des deutschen Geschäftsträgers in Guatemala, Botschaftsrat Mikesch.In Ergänzung dieses Berichtes möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren, die Motive erläutern, die das in der Dokumentation dargestellte Handeln bestimmt haben. Damit sollen gleichzeitig die in der Öffentlichkeit aufgeworfenen kritischen Fragen beantwortet werden.Nach der Entführung unseres Botschafters haben wir die Situation wie folgt gesehen. Wir waren primär auf die Mitwirkung und den guten Willen der guatemaltekischen Regierung angewiesen, die die Staatsgewalt im Lande ausübt und allein die von den Entführern zunächst gestellten Bedingungen zu erfüllen in der Lage war, nämlich die Freilassung von Gefangenen zu bewirken. Darüber hinaus hatten wir uns um die Vermittlung Dritter zu bemühen, welche die verhärteten Verhandlungspositionen hätten beeinflussen können. Schließlich mußten wir eigene Kontakte zu den Entführern suchen.All dies ist geschehen. Ein spektakuläres Auftreten der Bundesregierung gleich nach der Entführung hätte die Verhandlungsbereitschaft der guatemaltekischen Regierung nach unserer Einschätzung nicht erhöht. Daß ihre Verhandlungsbereitschaft nur sehr begrenzt war, stellte sich später heraus.Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Ministerialdirektor Hoppe, war mit allen erforderlichen Vollmachten ausgestattet. Er verfügt über eigene mehrjährige Lateinamerika-Erfahrungen und entsprechende Sprachkenntnisse. Er hat alles in seiner Macht Stehende getan, um das Leben des Botschafters zu retten. Doch schon das Bekanntwerden seiner Entsendung veranlaßte die Rebellen, ihre Forderungen heraufzuschrauben. Die Entsendung eines Staatssekretärs hätte sicher eine ähnliche Wirkung gehabt.Auch die Frage des Lösegeldes ist in der Öffentlichkeit lebhaft debattiert worden. Natürlich war die Bundesregierung bereit, zur Rettung des Botschafters Lösegeld zu zahlen. Eine öffentliche Erklärung der Bundesregierung, sie werde bedingungslos jede Lösegeldforderung erfüllen, konnte jedoch niemals erwogen werden. Damit hätten wir nur aller Welt vor Augen geführt, wie einträglich es sein kann, deutsche Diplomaten zu entführen, und dafür geradezu einen neuen Anreiz geschaffen. Gegen solche Angebote bestanden auch innerhalb des diplomatischen Corps in Guatemala erhebliche Bedenken. Sie hätten letztlich auch keine Wirkung gehabt; denn diesen Entführern ging es nicht in erster Linie um Geld — sie wußten genau, daß sie von uns Geld hätten haben können —, ihnen kam es .auf die Freilassung der Gefangenen an.Nachdem die guatemaltekische Regierung die Forderung der Entführer abgelehnt hatte, wurde es um so wichtiger, einen unmittelbaren Kontakt zu den Entführern zu finden, um zu einem Arrangement zu gelangen. Viele Ortskundige haben bis zuletzt auf ein solches Arrangement gehofft. Unsere Vertretung in Guatemala und der Sonderbeauftragte haben keine Mühe gescheut, diesen Kontakt zustande zu bringen. Es erwies sich als unmöglich; die Erpresser blieben konsequent im Untergrund undtraten mit der Umwelt nur durch Hinweise auf Fundstellen deponierter Briefe oder durch kurze Telefonanrufe von unbekannten Standorten aus in Berührung.So wurde der nächtliche Bereitschaftsdienst der Botschaft in der Nacht vom 3. zum 4. April um Mitternacht telefonisch ersucht, man möge sich in eine bestimmte Straße, begeben, dort liege ein Paket zur Abholung bereit. Der Anrufer legte nach dieser Mitteilung sofort wieder auf. Das Paket, das Angehörige der Botschaft kurz nach Mitternacht an der angegebenen Stelle fanden, enthielt die bekannten fünf Briefe des Botschafters an den Staatspräsidenten, den Außenminister, den Nuntius, den Sohn des Ermordeten und den Geschäftsträger. Die Kontakte der Rebellen mit dem Nuntius bestanden darin, daß sie an Stellen, die ein Auffinden gewährleisteten, Briefe deponierten.Erst am letzten Tag, am Sonntag, dem 5. April, um 14.45 Uhr Ortszeit, traten die Terroristen von einem unbekannten Ort aus in unmittelbare telefonische Verbindung mit dem Nuntius und sprachen mit ihm etwa zwei Minuten lang. Jedes Bemühen des Nuntius, diesen Anruf zu einer Verhandlung auszuweiten, blieb vergeblich. Die Terroristen verlangten stereotyp die sofortige Zusicherung der Freilassung der Gefangenen. Da der Nuntius diese Zusage nicht geben konnte, beendeten die Terroristen den Anruf mit der Erklärung, die Frist für Graf Spreti laufe in 20 Minuten ab. Zu keinem Zeitpunkt spielte die Lösegeldfrage eine wesentliche Rolle.Die vielfältigen Bitten der Botschaft um Hinweise an Mitglieder der deutschen Kolonie, an Experten der technischen Hilfe, Vertreter der Stiftungen, Einheimische, Bekannte und Unbekannte führten alle nicht weit. Ein deutscher Nachrichtendienst ist in Guatemala nicht vorhanden. Wir haben uns mit dieser negativen Feststellung nicht begnügt, sondern andere Dienste angesprochen, ohne daß dies eine Spur ergeben hätte.Von seiten der Entführer gab es auf unsere Kontaktversuche nicht die geringste Reaktion. Selbst wenn eine Fühlungnahme gelungen wäre, bliebe zu bedenken, daß hierdurch die guatemaltekische Regierung aus ihrer völkerrechtlichen und menschlichen Verantwortung nicht hätte entlassen werden dürfen. Bei einem Scheitern direkter Verhandlungsversuche hätte sie — vermutlich froh, der Verantwortung ledig zu sein — eine Schuld dafür der Bundesregierung angelastet.
Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß ein Kontakt zu Entführern nicht hergestellt werden kann, wenn diese sich ihm entziehen wollen. Die-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2245
Bundesminister Scheelses ist eine einfache Regel aus der Kriminologie, und sie hat sich im vorliegenden Falle bestätigt.Deshalb ist einige Skepsis angebracht, wenn jetzt, nachdem die Tragödie sich vollzogen hat, Leute mit angeblich weitreichenden Beziehungen auftreten, die von sich behaupten, sie hätten einen Kontakt zu den Entführern vermitteln können, wenn man sie nur rechtzeitig eingeschaltet hätte. Alle diese Landeskundigen und Experten, die uns ja nicht bekannt waren, meldeten sich zu spät. Sie haben der Bundesregierung ihre Dienst nicht angeboten, als der Botschafter Graf von Spreti noch lebte.Sämtliche Entscheidungen des Auswärtigen Amtes, die den Ablauf der Ereignisse in unserem Sinne beeinflussen sollten, sind nach sorgfältigster Prüfung der Umstände und Konsequenzen von den dafür zuständigen Beamten vorbereitet und in ständiger Abstimmung mit mir getroffen worden. Sie können sicher sein, daß im Auswärtigen Amt und besonders in der Botschaft in Guatemala die dazu notwendige Sachkenntnis und Vertrautheit mit den lateinamerikanischen Verhältnissen vorhanden ist.Durch Fernschreiber und Telefon mit der Zentrale zu jeder Minute verbunden, habe ich von meinem Urlaubsort aus in der sachlich gebotenen Weise auf die Entscheidungen Einfluß genommen. In dem Augenblick, in dem Aussicht bestand, mit den Entführern zu direkten Verhandlungen zu kommen, habe ich meinen Urlaub abgebrochen; Graf Spreti lebte noch, und wir alle hatten Hoffnung.Selbstverständlich habe ich mir mehr als einmal die Frage gestellt, ob wir wirklich alles getan haben, um das Leben unseres Botschafters zu retten. Ich kann darauf auch hier und heute nur antworten: wir haben alles getan, was in unserer Macht lag. Und doch konnten wir jene irregeleiteten und in ihrem kaltblütigen Haß uns so fremden Menschen nicht daran hindern, den Grafen Spreti zu töten.Die Kritik an meinem Entschluß, nach Ablauf dieser Ereignisse nach Guatemala zu fliegen, um den toten Botschafter heimzuholen, ist mir nie recht begreiflich gewesen. Ich habe mich zu der Reise entschlossen in einer spontanen menschlichen Reaktion gegenüber der schwergeprüften Familie des Ermordeten. Ich habe diese Reise zugleich aber als eine Möglichkeit betrachtet, etwas für die Sicherheit der in Guatemala lebenden Deutschen zu tun; und es sind Tausende, die dort leben. Meine Anwesenheit dort sollte schließlich allen Staaten, in denen es ähnliche Gefahren gibt, demonstrativ vor Augen führen, welche schwerwiegende und grundsätzliche Bedeutung die Bundesregierung diesem unerhörten Fall zumißt.Es war der bisher erste und einzige Fall, in dem die Entführer eines Diplomaten die erpresserische Morddrohung tatsächlich ausgeführt haben. Ihr eigentliches Ziel haben sie damit nicht erreicht, es sei denn das, Schrecken und Terror zu verbreiten. Wie gesagt, dies war der erste Fall, und wir können im Interesse geordneter internationaler Beziehungen nur hoffen, daß sich ein solches Verbrechen niemals wiederholt.Die Gefühle der Empörung und Erbitterung durften jedoch nicht der einzige Maßstab für die Reaktion der Bundesregierung gegenüber Guatemala sein. Der vielfach geforderte vollständige Abbruch der diplomatischen Beziehungen wäre eine Überreaktion gewesen, die die Sicherheit unserer Diplomaten in Lateinamerika und in anderen gefährdeten Teilen der Welt weiter beeinträchtigt hätte, weil er potentiellen Entführern ein noch stärkeres Druckmittel gegenüber ihren eigenen Regierungen in die Hand geben würde. Ferner ist zu bedenken, daß in Guatemala viele Deutsche und Deutschstämmige leben, die den unmittelbaren Kontakt zur Bundesrepublik brauchen und deren Interessen gegenüber der guatemaltekischen Regierung vertreten werden müssen. Sie haben uns dringend ersucht, die Beziehungen nicht vollständig abzubrechen.Es ist der Bundesregierung auch der Vorwurf gemacht worden, sie habe die bürgerkriegsähnliche Situation in Guatemala zu spät erkannt und ihre Vertretung zu lange dort gelassen. Bei einer solchen Sicht der Dinge müßten wir in einer beträchtlichen Zahl von Ländern unsere diplomatischen Vertretungen schließen. Das liegt weder im Interesse der in solchen Ländern lebenden Deutschen noch im wohlverstandenen Interesse der Bundesrepublik.Meine Damen und Herren, das sinnlose Opfer von Graf von Spreti darf uns nicht zu Maßnahmen verleiten, die andere Unschuldige, unsere Landsleute in Guatemala und die Bevölkerung des Landes treffen würden. Es stellt uns vielmehr vor die Aufgabe, keine Anstrengungen zu scheuen, um die Wiederholung solcher Tragödien in der Zukunft entgegenzuwirken. Wir wissen um diese Verpflichtung, sie hat unser Handeln bestimmt und wird es weiter bestimmen.Eine besondere Arbeitsgruppe des Auswärtigen Amtes hat sofort die Richtlinien für Ausnahmesituationen, die jede Auslandsvertretung hat, im Lichte dieser bestürzenden Entwicklung überprüft. Erste ergänzende Weisungen sind bereits in der letzten Woche ergangen. Weitere Maßnahmen werden vorbereitet. Wir stehen dazu auch in Fühlung mit befreundeten Regierungen. Der Herr Bundeskanzler hat das Problem bei seinem Besuch in Washington zweimal mit Präsident Nixon erörtert. Ich habe mit dem italienischen Außenminister Moro in Rom darüber gesprochen. Wir haben Kontakte mit Großbritannien und mit den Niederlanden. Der deutsche Vertreter in der WEU hat die Bildung einer Arbeitsgruppe vorgeschlagen, die sich mit diesem Problem beschäftigen wird. Unsere Überlegungen gehen schließlich dahin, im Rahmen der Vereinten Nationen etwa durch Ergänzung der Wiener Konventionen neue und erweiterte Normen zum Schutz der Diplomaten zu erarbeiten.Meine Damen und Herren, es gilt, alles zu unternehmen, um anarchischer Gewalt durch organisierte internationale Bemühungen entgegenzutreten.
Das Haus hat die Erklärung des Herrn Bundesministers des Auswärtigen entgegengenommen. Anträge zur Geschäftsord-
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2246 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Vizepräsident Dr. Jaegernung sind nicht gestellt. Über den Termin einer eventuellen Aussprache wird der Ältestenrat entscheiden.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:Beratung der von der Bundesregierung beschlossenen Ergänzung zum Entwurf des Bundeshaushaltsplans 1970— Drucksache VI//580 —Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, dem Hohen Hause den Entwurf eines Ergänzungshaushalts 1970 vorzulegen und hierzu einige Ausführungen zu machen. Lassen Sie mich zunächst einige Worte zur Entstehungsgeschichte dieses Entwurfs sagen.
Ich habe am 18. Februar 1970 den von der Bundesregierung am 23. Januar 1790 beschlossenen Entwurf des Bundeshaushalts 1970/71 und den mehrjährigen Finanzplan 1969 bis 1973 vorgelegt. In dem in den letzten Monaten des Jahres 1969 aufgestellten Entwurf des Bundeshaushaltsplans konnten aus zeitlichen Gründen die Änderungen nicht berücksichtigt werden, die sich aus der neuen Aufgabenverteilung nach der Neuorganisation der Bundesregierung ergeben haben. Über ihre den Verwaltungshaushalt berührenden Auswirkungen auf die Personal- und sächlichen Verwaltungsausgaben hinaus ist seit der Aufstellung des Haushaltsentwurfs 1970/71 in einigen Bereichen ein unvorhergesehener und unabweisbarer Bedarf entstanden.
Meine Damen und Herren, ich darf um etwas mehr Ruhe und auch darum bitten, Privatgespräche außerhalb des Sitzungssaals zu führen.
Für solche notwendig werdenden Änderungen eines Haushaltsentwurfs sieht die neue Bundeshaushaltsordnung die Vorlage eines Ergänzungshaushalts vor. Die Bundesregierung war deshalb nach dem neuen Haushaltsrecht gezwungen, sie in einem Ergänzungshaushalt zusammenzufassen. Sie hat am 19. März 1970 den Ihnen nunmehr vorliegenden Entwurf beschlossen.Es war eines der wesentlichsten Ziele der Haushaltsreform — wenn ich daran erinnern darf —, die Behandlung von Vorlagen zur Änderung des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplans so weit wie möglich zu beschleunigen. In Art. 110 des Grundgesetzes ist deshalb vorgesehen, daß Ergänzungs- und Nachtragshaushalte gleichzeitig beim Bundesrat und beim Bundestag eingebracht werden. Das durch diese Neufassung des Art. 110 des Grundgesetzes eingeführte vereinfachte Verfahren für die Behandlung von Ergänzungs- und Nachtragshaushalten sollte das früher geübte Verfahren der „Nachschiebung" endgültig beseitigen. Nach der Beratung des Ergänzungshaushalts im Parlament geht der Ergänzungshaushalt im Kernhaushalt 1970 auf.Die wichtigsten Kriterien des Entwurfs des Ergänzungshaushalts möchte ich meinen weiteren Ausführungen voranstellen.Erstens. Der Ergänzungshaushalt bezieht sich ausschließlich auf den Entwurf des Haushaltsplans für das Haushaltsjahr 1970.Zweitens. In dem den Finanzhaushalt betreffenden Teil des Ergänzungshaushalts sind nur unabweisbare Ausgaben für wichtige Maßnahmen veranschlagt worden. In den Entwurf des Ergänzungshaushalts zum Verwaltungshaushalt wurden nur die bei Anlegung eines strengen Maßstabes unausweichlichen Personalvermehrungen von insgesamt 247 Stellen aufgenommen, wovon lediglich 192 Stellen im Haushaltsjahr 1970 und der Rest in 1971 besetzt werden dürfen.Drittens. Der Entwurf des Ergänzungshaushalts 1970 erhöht das Volumen des Kernhaushalts nicht. Vielmehr sind bei den Geldansätzen auf der Ausgabenseite nur Umschichtungen in einer Gesamthöhe von 378 Millionen DM vorgenommen worden. Der Erhöhung von Ansätzen stehen Herabsetzungen an anderer Stelle in entsprechender Höhe gegenüber.Lassen Sie mich zu dieser den Ergänzungshaushalt charakterisierenden Zusammenfassung einige erläuternde Bemerkungen machen.Auf die Vorlage eines Ergänzungshaushalts für das Haushaltsjahr 1971 hat die Bundesregierung verzichtet.Den weitaus größten Anteil am Gesamtvolumen des Ergänzungshaushalts in Höhe von 378 Millionen DM nimmt der Finanzhaushalt mit einem Volumen von 316,5 Millionen DM ein, das auf folgende Maßnahmen aufgeteilt ist.Im Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft wird ein bisheriger Globaltitel von 170 Millionen DM für Hilfsmaßnahmen im Energiebereich sowie der Ansatz für Frachthilfe in Höhe von 50 Millionen DM aufgelöst und für einige nunmehr konkretisierte Einzelvorhaben verwendet. Es handelt sich hierbei um 120 Millionen DM für die Absatzförderung bei der Kokskohle, 20 Millionen DM für die Erleichterung der Versorgungslage auf dem Koksmarkt und 80 Millionen DM für Investitionszuschüsse an Bergbauunternehmen.Im Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen müssen 21,8 Millionen DM für den Grunderwerb zur Errichtung des Europäischen Patentamts in München aufgewendet werden. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß sich die Bundesregierung wie ihre Vorgängerin mit Nachdruck bemüht, diese europäische Einrichtung für die Bundesrepublik zu gewinnen. Die Verhandlungen über die Errichtung des Europäischen Patentamts werden aber zweifellos wesentlich erleichtert, wenn die grundstücksmäßigen Voraussetzungen bereits jetzt als gesichert angesehen werden können. Im übrigen ist damit keinerlei Risiko verbunden. Weitere Maß-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2247
Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllernahmen, etwa die Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs, sind von der Bundesregierung bis zur endgültigen Entscheidung über den Sitz des Europäischen Patentamts zurückgestellt worden.Im Bereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung sind für den zivilen Ersatzdienst 21,4 Millionen DM notwendig, die für den Bau einer Ausbildungsstätte und von Unterkünften für Dienstleistende sowie für Ausbildungskosten im Finanzhaushalt bereitgestellt werden müssen.Schließlich sind im Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit 19 Millionen DM für die Aufstockung der Technischen Hilfe und der multilateralen Hilfe notwendig. Diese Ausgaben sind zur Erfüllung unserer internationalen Verpflichtungen unumgänglich.Bei ihrer Beschlußfassung über den Verwaltungshaushalt hat sich die Bundesregierung von dem Grundgedanken leiten lassen, daß zusätzliches Personal nur zur Bewältigung neuer Aufgaben oder zur Intensivierung bereits begonnener Maßnahmen eingestellt werden darf, wie sie sich in ihrer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 vor allem auf innenpolitischem Gebiet zum Ziel gesetzt hat. Darüber hinaus mußte der Tatsache Rechnung getragen werden, daß in einigen Bereichen schon aus der verfassungsrechtlichen Neuverteilung von Aufgaben zwischen Bund und Ländern dem Bund zusätzliche Aufgaben erwachsen sind, die auch nur durch zusätzliches Personal bewältigt werden können. Ich darf hierzu auf die Bildungsplanung nach Art. 91 b Grundgesetz verweisen, bei der Bund und Länder auf Grund von Vereinbarungen zusammenwirken sollen, und auch auf die Krankenhausfinanzierung, für die der Bund nunmehr eine Gesetzeskompetenz hat.Daraus hat sich die Notwendigkeit von Personalvermehrungen vor allem beim Bundeskanzleramt, bei den Bundesministerien des Innern, der Justiz, für Arbeit und Sozialordnung, für Jugend, Familie und Gesundheit sowie beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ergeben.Im Bundeskanzleramt sollen mit den im Ergänzungshaushalt vorgesehenen 89 zusätzlichen Personalstellen, von denen 40 Stellen erst ab 1. Januar 1971 besetzt werden dürfen, vor allem zwei neue Abteilungen für Innere Angelegenheiten und Planung, darunter auch die Koordinierung der Bildung und Wissenschaft sowie die Koordinierung der Umweltfragen, gebildet werden. Darüber hinaus soll mit dem neuen Personal die Arbeit in den bereits vorhandenen Abteilungen intensiviert und auch der Registratur- und sonstige innere Dienst verstärkt werden.Die Bundesregierung glaubt, daß mit diesen personellen und organisatorischen Maßnahmen das Bundeskanzleramt in die Lage versetzt wird, seiner Planungs- und Koordinierungsaufgabe gerecht zu werden.Im Bereich des Bundesministers des Innern sollen mit 84 zusätzlichen Stellen, davon 15 Stellen erst ab 1. Januar 1971 besetzbar, im wesentlichen die neuen Aufgaben der Reform des Dienstrechts, derBundesstaatsreform-Kommission und eines neu zu errichtenden Instituts für Sportwissenschaft erfüllt werden. Nicht zuletzt ist aus dem Bereich des Bundesministers des Innern die Bereitstellung von zusätzlichem Personal für den zivilen Ersatzdienst zu erwähnen, die wegen der wachsenden Zahl von Ersatzdienstpflichtigen unausweichlich geworden ist. Neue Personalstellen für den zivilen Ersatzdienst sind auch im Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung notwendig.Im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft sind für .die Erfüllung der bereits erwähnten neuen Bundesaufgaben auf dem Gebiete der Bildungsplanung zusätzliche Stellen erforderlich. Darüber hinaus muß im bereits vorhandenen Geschäftsbereich ein Zuwachs an Aufgaben, vor allen Dingen im Bereich der Reaktorsicherheit, bewältigt werden.Der Mehraufwand für die neuen Personalstellen in Höhe von 5,7 Millionen DM jährlich kann teils in den Personalansätzen der betroffenen Einzelpläne, teils im Personalverstärkungstitel des Einzelplans 60 ausgewiesen werden.Zu diesem Mehraufwand für die Bezüge und Vergütungen treten zusätzliche sächliche Verwaltungsausgaben in Höhe von 55,8 Millionen DM, die nahezu ganz in den Einzelplänen und nur zu einem geringen Teil von 1,7 Millionen DM im Gesamthaushalt ausgeglichen werden müssen.Meine Damen und Herren, ich darf nochmals herausstellen, daß der aus den dargelegten Gründen notwendig gewordene Ergänzungshaushalt das Volumen des Kernhaushalts, der gegenwärtig im Haushaltsausschuß beraten wird, nicht ausweitet und auch die im Entwurf des Haushaltsgesetzes 1970 vorgesehenen Haushaltssperren nicht berührt. Eine Änderung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes ist aus diesem Grunde nicht notwendig. Der Entwurf des Ergänzungshaushalts steht auch mit den stabilitätspolitischen Bemühungen der Bundesregierung nicht in Widerspruch. Er ordnet sich vielmehr in das Konzept der Bundesregierung ein, mit einer restriktiven Haushaltspolitik in einer Phase der Hochkonjunktur zur Stabilität beizutragen.Meine Damen und Herren, ich habe dieses Konzept und die aus ihm folgenden haushaltspolitischen Stabilisierungsmaßnahmen der Bundesregierung in meiner Etatrede am 18. Februar 1970 dargelegt. Ich darf diese Maßnahmen dem Hohen Hause nochmals in Erinnerung bringen: Haushaltsgesetzliche Sperre in Höhe von 2,7 Milliarden DM, verschärfte vorläufige Haushaltsführung, Bildung einer Konjunkturausgleichsrücklage in Höhe von 1,5 Milliarden DM.Es sei mir an dieser Stelle gestattet, einen kurzen Überblick über den bisherigen Ablauf des Haushalts in den ersten drei Monaten des Jahre 1970 zu geben, aus dem deutlich wird, daß die Bundesregierung ihrem Konzept entsprechend gehandelt hat.Zunächst einige Bemerkungen zur Kassenlage des Bundes. Am Ende des Jahres 1969 hat der Bund bei der Deutschen Bundesbank einen Kassenkredit in Höhe von rund 1,8 Milliarden DM in Anspruch neh-
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2248 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllermen müssen. Er war notwendig, weil für die Zahlung von Gehältern, Versorgungsbezügen und Renten für den Monat Januar 1970 rund 2,3 Milliarden DM aufzuwenden gewesen sind. Dieser Kassenkredit konnte erst zu Beginn der zweiten Märzhälfte abgebaut werden. Am 20. März 1970 hatte der Bund wieder ein Kassenguthaben bei der Deutschen Bundesbank in Höhe von 1,583 Milliarden DM und brauchte seitdem einen Kassenkredit nicht mehr in Anspruch zu nehmen.Diese Entwicklung der Kassenlage in den ersten zwei Monaten des Jahres 1970 hat ihren Grund vornehmlich darin, daß der Bund in diesem Zeitraum fällige Schulden in Höhe von 1,3 Milliarden DM getilgt, aber mit Rücksicht auf den Kapitalmarkt von den für diese Tilgung ursprünglich vorgesehenen Anschlußfinanzierungen abgesehen hatte. Zum anderen — darauf habe ich am 23. März 1970 vor Beginn der Osterpause zur Beantwortung von Anfragen in einer Pressekonferenz bereits hingewiesen — ist diese Kassenentwicklung ganz wesentlich auch eine Auswirkung der im Rahmen der Finanzreform festgelegten Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern. Ich möchte diese Frage heute nicht weiter vertiefen, aber doch darauf hinweisen, daß ein für den Bund nachteiliger Vorfinanzierungseffekt zugunsten der Länder besteht, der sich auch künftig in den ersten Monaten eines Jahres erheblich auf die Liquiditätslage des Bundes auswirken wird. In diesem Jahr waren die Steuereinnahmen des Bundes in den Monaten Januar und Februar 1970 um 1,268 Milliarden DM niedriger, als es nach der alten Steuerverteilung der Fall gewesen wäre. Entsprechend höher sind demgegenüber die Steuereinnahmen der Länder.Trotz dieser zunächst ungünstigen Entwicklung der Kassenlage des Bundes war es möglich, die erste Rate der Konjunkturausgleichsrücklage des Bundes in Höhe von 750 Millionen DM, die nach der Verordnung der Bundesregierung vom 13. Februar, 1970 bis zum 31. März 1970 auf ein Sonderkonto bei der Deutschen Bundesbank einzuzahlen war, am 23. März aus laufenden Einnahmen des Bundes zu überweisen. Das Kassenguthaben des Bundes hat an diesem Tage nach Zahlung der ersten Rate der Konjunkturausgleichsrücklage 1,252 Milliarden DM betragen. Ich will nicht noch einmal auf die zahlreichen Äußerungen des Mißtrauens und auf die Unterstellungen aus den Reihen der Opposition eingehen, die in den Wochen vor der Zahlung der ersten Tranche der Konjunkturausgleichsrücklage zu hören waren. Ich stelle nur mit einer sicher gerechtfertigten Genugtuung fest, daß die Opposition dann die Zahlung der ersten Rate aus laufenden Einnahmen begrüßt hat. Ich muß ihr allerdings widersprechen, als sie diese Tatsache als einen Erfolg ihres ständigen Drängens wertet.Nicht zuletzt möchte ich auch auf die zustimmenden Äußerungen der Deutschen Bundesbank verweisen, die darüber hinaus die Verbesserung der Kassenlage des Bundes im ersten Vierteljahr um nicht weniger als 3,3 Milliarden DM als wesentlichen Beitrag einer gegen den Preisauftrieb gerichteten Haushaltspolitik begrüßt.Lassen Sie mich nun ein Wort zur vorläufigen Haushaltsführung des Bundes sagen. Ich habe in meiner Etatrede am 18. Februar 1970 ausgeführt, daß die Regelung der vorläufigen Haushaltsführung des Bundes bis zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 1970 gegenüber den Vorjahren verschärft worden sei. Inzwischen habe ich in meinem Hause noch die zusätzliche Anordnung getroffen, daß etwaige Ausnahmen von den Bestimmungen über die vorläufige Haushaltsführung nur mit meiner Zustimmung zugelassen werden können, und zwar ohne Rücksicht auf die Höhe des von der Ausnahme betroffenen Betrages. Ich bin mir andererseits aber darüber im klaren, daß diese strenge Handhabung der Bestimmungen über die vorläufige Haushaltsführung in manchen wichtigen Aufgabenbereichen des Bundes, z. B. im Straßenbau, zu schwierigen Situationen führen kann.Die Bundesregierung wird in jedem Einzelfall unter sorgfältiger Abwägung der konjunkturellen Erfordernisse einerseits und der regionalen und strukturellen Bedeutung der in Frage stehenden Maßnahmen andererseits entscheiden, ob eine Ausnahme von der vorläufigen Haushaltsführung zugelassen werden kann. Auf diese Weise werden wir unzumutbare Verzögerungen bei der Erfüllung wichtiger Aufgaben vermeiden können.Die restriktive Wirkung der vorläufigen Haushaltsführung wird noch dadurch verstärkt, daß erstmalig für den Monat April 1970 auf meine Anordnung die Betriebsmittelanforderungen der Ressorts um durchschnittlich 18 v. H. der nicht auf Rechtsverpflichtungen beruhenden Ausgaben gekürzt worden sind. Dadurch werden die Ausgaben des Bundes im April 1970 um rund 600 Millionen DM unter dem Betrag liegen, der nach der vorläufigen Haushaltsführung verfügbar wäre. Auch daraus mögen Sie ersehen, daß wir uns ständig darum bemühen, daß die Ausgabeentwicklung in diesen Zeiten der noch immer andauernden Hochkonjunktur antizyklisch bleibt.Ich muß in diesem Zusammenhang auf die Vorwürfe des Abgeordneten Leicht eingehen, der mir im „Deutschland-Union-Dienst" vom 9. April 1970 vorgeworfen hat, daß ich unfähig sei, eine antizyklische Haushaltspolitik zu betreiben, daß ich die Öffentlichkeit durch Haushaltsmanipulationen irregeführt und die gesetzlichen Bestimmungen der Bundeshaushaltsordnung in krasser Form mißachtet hätte. Dazu darf ich folgendes feststellen:Erstens. Zur weiteren Verschärfung der vorläufigen Haushaltsführung habe ich soeben klar und eindeutig Stellung genommen.Zweitens. Auf die erhöhten Ausgaben des Bundes im Monat Dezember 1969 bin ich während der Haushaltsdebatte am 19. Februar 1970 in detaillierter Form eingegangen. Nach meinen Informationen hat inzwischen der Haushaltsausschuß von den wesentlichsten Ausgabepositionen z. T. einstimmig z. T. mit Mehrheit zustimmend Kenntnis genommen. Darunter sind die Positionen enthalten, die Herr Kollege Leicht in seinem „Quo-vadis"-Artikel nannte.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2249
Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. MöllerDrittens. Der sehr schwere Vorwurf des krassen Verstoßes gegen Bestimmungen des Haushaltsrechts ist mir völlig unverständlich. Sie, Herr Kollege Leicht, hätten der Vollständigkeit halber auch den § 72 Abs. 3 der Bundeshaushaltsordnung zitieren und vor allem richtig würdigen müssen, wonach Zahlungen, die im abgelaufenen Haushaltsjahr fällig waren, jedoch erst später geleistet wurden, in den Büchern des abgelaufenen Haushaltsjahres gebucht werden, solange die Bücher nicht abgeschlossen sind.Bereits am 12. September 1969 — und ich bitte hier das Hohe Haus, diesen Zeitpunkt zu beachten — sind für den Abschluß der Kassenbücher des Bundes für das Rechnungsjahr 1969 die einzelnen Termine für die Amtskassen bis einschließlich Oberkassen festgelegt worden. Für die Oberkassen wurden als Abschlußtermin der 13. Januar 1970 bestimmt. In demselben Rundschreiben vom 12. September 1969 ist angekündigt worden, daß wegen des Abschlusses der Bücher der Bundeshauptkasse eine gesonderte Mitteilung ergeht. Der Abschluß der Bücher der Bundeshauptkasse ist dann auf den 25. Februar 1970 festgelegt worden.Auch in der Vergangenheit haben die Abschlußtermine für die Bundeshauptkasse immer im Februar gelegen,
so für 1967 am 20. Februar 1968 und für 1968 am 11. Februar 1969.
Bis zum 25. Februar 1970 konnten alle im Rechnungsjahr 1969 fälligen, aber erst später geleisteten Zahlungen noch für das abgelaufene Haushaltsjahr gebucht werden.Wie diese Ihre Vorwürfe, Herr Kollege Leicht, in der fachkundigen Presse gewertet werden, ergibt sich aus einer „Würdigung" der „Stuttgarter Zeitung" vom 1. April 1970, deren Schlußteil ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren darf. Er lautet:Es ist gut, wenn die Opposition genau darauf aufpaßt, daß die Haushaltswirtschaft des Bundes ohne Tricks abgewickelt wird. Aber es ist nicht gut, wenn ein Abgeordneter — und sei er noch so oppositionell — einem Bundesminister öffentlich Gesetzesbruch vorwirft, ohne daß er sich über den Gesetzeswortlaut noch einmal genau Gewißheit verschafft hat.
Liest man nämlich jenen § 72 der Bundeshaushaltsordnung,— ich zitiere immer noch die „Stuttgarter Zeitung" —den Leicht dem Minister um die Ohren schlagen möchte, dann erfährt man, daß das Bundesfinanzministerium bei seinen Nachbuchungen genau im Sinne gerade dieser Vorschrift verfahren ist. Von einem Parlamentarier, der fast drei Jahre lang einen Finanzminister politisch vertreten hat und heute dem Haushaltsausschuß des Bundestages vorsitzt, sollte man solche Mühewaltung eigentlich erwarten, wenn nicht gar verlangen dürfen.
Abermals macht es sich leider die Opposition im wahrsten Sinne des Wortes zu leicht.
Meine Damen und Herren, ich bitte das Hohe Haus um Verständnis dafür, daß ich eine Zeitungsstimme zitiert habe, da mir als Bundesfinanzminister immer daran ,gelegen sein muß, im guten Einvernehmen insbesondere mit dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundetages zusammenzuarbeiten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Althammer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt im Augenblick ein Ergänzungshaushalt zum Haushalt 1970 vor. Die Vorgeschichte dieser Debatte deutet darauf hin, daß die Koalitionsfraktionen die Überweisung dieses Ergänzungshaushaltes ohne Debatte im Plenum des Bundestages gewünscht hatten. Dieser Wunsch steht in Einklang damit, wie diskret der Herr Bundesfinanzminister die Vorarbeiten zu diesem Ergänzungshaushalt bis heute behandelt hat. Weder hat der Herr Bundesfinanzminister bei seiner Rede zur Einbringung des Bundeshaushalts 1970 ein Wort davon verlauten lassen, daß in seinem Hause bereits zu diesem Zeitpunkt ein Ergänzungshaushalt vorbereitet wird, noch hat er am 20. März dieses Jahres bei der Aussprache im Bundesrat — am Tage, nachdem dieser Ergänzungshaushalt vom Bundeskabinett beschlossen worden war — ein Wort über diesen Ergänzungshaushalt verloren.
Ich weiß nicht, ob das darauf hindeutet, daß Meldungen zutreffen, wonach der Herr Bundesfinanzminister selbst es vermeiden wollte, daß ein solcher Ergänzungshaushalt kommt und er im Kabinett überstimmt worden ist. Wenn diese Meldungen zutreffen, würde ihn persönlich das ehren. Aber das ist für uns auch die Veranlassung, daß wir von der CDU/CSU darauf bestanden haben, eine so wichtige und in ihrem finanziellen Volumen durchaus gravierende Sache wie diesen Ergänzungshaushalt hier vor diesem Hohen Hause zu diskutieren. Es handelt sich immerhin um 378 Millionen DM, die hier umgeschichtet 'werden sollen.Es ist dann — und das war erwartet worden — mit sehr großer Genugtuung darauf hingewiesen worden, daß diese Umschichtung angeblich ohne eine Ausweitung des Haushalts und damit, so sollte wohl gesagt werden, ohne zusätzlichen Anheizungseffekt auf die Konjunktur abgewickelt werden soll. Ich glaube, auch dieser Behauptung kann man nicht zustimmen. Erstens ist festzustellen, daß durch verschiedene Umschichtungen Ausgaben, die, wie bisher
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2250 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Dr. Althammervorgesehen waren, in europäische Fonds eingehen sollten, jetzt im eigenen Land in zusätzliche Leistungen umgewandelt werden. Zweitens möchte ich auf eine Tatsache hinweisen, über die der Herr Bundesfinanzminister bei seiner Rede hier eben schamhaft überhaupt hinweggegangen ist, nämlich daß dieser Ergänzungshaushalt neben dem Umschichtungsvolumen von über 300 Millionen DM noch Bindungsermächtigungen in Höhe von über 1 Milliarde DM enthält, die zu den Bindungsermächtigungen, die ohnehin schon im Kernhaushalt stehen, noch hinzukommen. Jeder Fachmann auf diesem Gebiete weiß, daß für die öffentliche Nachfrage auf dem Markt Bindungsermächtigungen so gut wie bares Geld sind,
und davon geht dann eben ein entsprechender Nachfragesog zusätzlicher Art aus.Ich glaube, diese Debatte kann es aber auch gar nicht vermeiden — und insbesondere nicht, nachdem der Herr Bundesfinanzminister selbst hier wiederum die angeblich so großartigen Leistungen im Bereich des Haushalts zur Konjunkturdämpfung erwähnt hat —, die Gesamtlandschaft, in die diese zusätzlichen Bindungsermächtigungen und diese Umschichtungen hineingestellt werden, zu beleuchten. Wie sieht heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, die wirtschafts- und konjunkturpolitische Lage aus? Uns liegen die neuesten Daten der Deutschen Bundesbank vor. Wenn ich es zusammenfassen darf: die Bundesbank sagt, daß der Boom in der Bundesrepublik unvermindert weitergeht. Hier ist doch die Frage zu stellen, ob sich eine Regierung damit beruhigen kann, daß diese Situation von einer neutralen Stelle festgestellt wird. Auch all die verschiedenen Beruhigungsversuche, die wir im ersten Vierteljahresbericht des Bundeswirtschaftsministeriums finden, gehen demgegenüber ins Leere.Ich möchte nur einige wenige Zahlen nennen, die das hektisch angeheizte Konjunkturklima in der Bundesrepublik beleuchten. Die Auftragseingänge lagen im Januar 1970 um 6% über denen des Vorjahres, und im Februar lagen sie um 9 % darüber, verglichen mit den tatsächlich ausgefolgten Lieferungen. Das bedeutet, daß wir heute in der Wirtschaft insgesamt ein Rekordpolster von Aufträgen haben, das für die Zeit von vier Monaten ausreicht. Das war seit Bestehen der Bundesrepublik noch niemals der Fall.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister insbesondere den Maschinenbau erwähnt, darf ich darauf hinweisen, daß der Überhang an Investitionen im Bereich des Maschinenbaus im Januar gegenüber dem Vorjahr bei 22 % lag und im Februar bei 27%.Wir sehen weiter, daß auf dem Arbeitsmarkt ein akuter Mangel an Arbeitskräften besteht. Wenn Sie das mit der Lohn- und Preisentwicklung zusammennehmen und insbesondere mit der Entwicklung des Geldwertes und der Geldwertstabilität, dann ergibt sich hier ganz klar, daß wir auch in der Zukunft einen hohen Zuwachs im Kostensektor haben werden, wenn nichts geschieht, um diesen Dingen entgegenzutreten. Wie sich das bereits jetzt niedergeschlagen hat, sehen Sie im Bereich der Lebenshaltungskosten, die nach den offiziellen Ziffern im Durchschnitt um 3,7 % über denen des Vorjahres liegen.Dabei müssen Sie berücksichtigen, daß die sozial schwachen Schichten unserer Bevölkerung, z. B. die Rentner und Familien mit mehreren Kindern, noch wesentlich höhere Lebenshaltungsverteuerungen zu verzeichnen haben.Ich möchte Ihnen eine andere Zahl nennen, die besonders alarmierend ist: Binnen eines Jahres — es handelt sich hier um die Vergleichszahlen von Februar 1969 bis Februar 1970 — hat sich das Geldvolumen in der. Bundesrepublik um 14 % ausgeweitet. Hier haben wir es mit einem Inflationierungsfaktor allererster Ordnung zu tun. Entsprechend sind natürlich auch die Schätzungen der Fachleute über die Geldentwertungsrate des Jahres 1930, die wir zu verzeichnen haben werden, wenn dieser Entwicklung von dieser Regierung nicht nachdrücklich entgegengetreten wird.
Wir werden nach diesen Umrechnungen der Entwicklung der letzten drei Monate auf das ganze Jahr eine Geldentwertungsrate zu verzeichnen haben, die zwischen 4,5 und 5 % liegt.
Wenn sich diese Entwicklung so fortsetzt, werden wir schließlich in eine Stagnation ohne Stabilität hineinkommen.
Schon heute ist die Bundesrepublik Deutschland, die in den vergangenen zwanzig Jahren als Musterschüler der Stabilitätspolitik galt, als Durchschnittsschüler in die Gruppe der Länder mit einer durchschnittlichen Inflationsrate zwischen 4 und 5 % hineingeraten. Das ist ein Sachverhalt, der auch von ausländischen Währungsfachleuten auf das alleräußerste bedauert wird.
Ich muß Ihnen aber noch eine weitere alarmierende Zahl mitteilen. Es handelt sich um den Rückgang der Sparneigung.
Wenn wir einen Vergleich der Sparentwicklung in den Monaten Januar und Februar des Jahres 1969 und 1970 ziehen, zeigt sich, daß sich der Zuwachs der Sparraten in diesen beiden Vergleichsräumen halbiert hat.
Wenn Sie das auf Jahreszahlen umrechnen, würde das bedeuten, daß sich das Sparkapital des Jahres 1969, das um 11,9 Milliarden DM gestiegen ist, im Jahr 1970 allenfalls noch um 5,2 Milliarden DM erhöhen würde. Das sind weniger als 50 % Zunahme gegenüber dem Vorjahr; und darin sind nicht nur
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Dr. Althammerdie geringeren Spareingänge enthalten, sondern insbesondere auch die Abhebungen, die in diesen Monaten besonders deutlich waren.Um noch ein Letztes zu sagen: Auch der Trost, daß nun die Deutsche Bundesbank den Diskontsatz auf einen seit dem Kriegsende nie erreichten Höchstsatz hinaufsetzen mußte,
schlägt offenbar nicht durch. Die neuesten Erkenntnisse auf diesem Gebiet zeigen, daß die Investitionsneigung trotz der 7,5 % Diskontsatzerhöhung ungemindert weitergeht. Wenn Sie die Frage stellen, warum das so ist, ergibt sich die bedrückende Konsequenz, daß sich offenbar allmählich die Auffassung durchsetzt, man müsse in der Bundesrepublik mit einer Inflationsquote um die 5% herum pro Jahr leben.
Wenn man sich daran gewöhnt, schrecken natürlich auch nicht mehr Zinserhöhungen von 11 bis 12 %; denn diese Quote von 5 % Geldentwertung kann man abziehen, und der Sachwertbesitzer muß feststellen, daß er immer noch günstiger dasteht, als wenn er auf irgendwelche Sachinvestitionen verzichtet hätte.
Es ist also die Frage berechtigt, was die Sozialdemokratie- in den letzten sechs Monaten in dieser Situation getan hat,
Es hat damit begonnen, daß man in der Regierungserklärung neue Versprechungen in Höhe von über einer Milliarde DM gemacht hat. Die Versprechungen haben sich darin fortgesetzt, daß man uns darauf vertröstet hat, in der zweiten Jahreshälfte 1970 werde dank der Aufwertung ein deutlicher Konjunkturabschwung eintreten.
Wir stellen heute fest, daß davon überhaupt nicht die Rede sein kann; denn die vielgepriesene Aufwertung hat genau diesen Effekt nicht gebracht.Wir haben weiter gesehen, daß im Monat Februar eine sehr dramatische Diskussion über Maßnahmen eingesetzt hat, die diese Regierung oder Teile von ihr ergreifen wollten, um diese Situation zu ändern. Bundeswirtschaftsminister Schiller hat ja sehr dramatische Vergleiche gebracht. Er hat von der „Völkerschlacht bei Leipzig" und von der „Schlacht am Skagerrak" gesprochen. Wir mußten feststellen, daß er sein Waterloo erlebt hat und daß all seine Vorschläge ins Wasser gefallen sind.
Heute fragen wir: was gedenkt die Regierung, was gedenkt die Koalition angesichts dieser Situation jetzt zu tun?
Wir hören nichts anderes als Fehlanzeigen auf diesem Gebiet. Es bleibt vielleicht noch der schwache Trost — und damit wird draußen operiert —, daß die Haushaltspolitik dieser Bundesregierung angeblich so stark antiinflationistisch sei. Darum ist es doch angebracht, nachdem der Herr Minister es heute noch einmal vorgetragen hat, auch darauf einige Gedanken zu verschwenden.
Wie war denn die Haushaltsentwicklung dieser ersten drei Monate des Jahres 1970? Der Herr Minister hat auf Reserven verwiesen, die er habe, aber er hat sich wohlweislich gehütet, die Frage zu beantworten, wie die Prozentzahlen der realen Ausgabenentwicklung des Jahres 1969 im Vergleich zur Ausgabenentwicklung des Jahres 1970 sind.
Ich darf, meine sehr verehrten Damen und Herren, das jetzt nachtragen. Die offiziellen Zahlen liegen bei 7 % Zuwachs der Ausgabenentwicklung 1969 gegenüber 1970.
Ich will hier gleich ein Argument vorwegnehmen. Man wird dagegen vielleicht einwenden, daß hier gewisse Zwangsverpflichtungen durch die Verbesserung der Kriegsopferversorgung, durch Besoldungserhöhungen und ähnliches bestanden haben. Das mag richtig sein. Dann kann man aber die Haushaltsführung des Jahres 1970 nicht als konjunkturdämpfend bezeichnen.
Es kommt noch ein Weiteres hinzu. Jetzt komme ich zur Auseinandersetzung des Herrn Finanzministers mit meinem Kollegen Albert Leicht. Mein Kollege Albert Leicht hat nachgewiesen, daß fast 1 Milliarde DM, über 900 Millionen DM, noch im Jahre 1970 auf Rechnung des Jahres 1969 bezahlt worden sind. Von dem konjunkturpolitischen Effekt dieser Maßnahme hat der Herr Minister nicht gesprochen. Denn natürlich ist unzweifelbar, daß diese Zahlungen im Jahre 1970 auf die gegenwärtige Konjunktursituation drücken und dort diesen Steigerungsprozentsatz von 7 noch einmal erhöhen.Zur rechtlichen Seite der Sache ist zu sagen, daß der Herr Minister bei seiner Darlegung übersehen hat, daß die Gesetzeslage ganz klar so ist, daß buchungs- und kassentechnische Vorgänge noch in den beiden ersten' Monaten des folgenden Jahres vorgenommen werden können, daß man aber nicht unter Berufung auf diese Möglichkeiten, einen geordneten Kassenabschluß zu vollziehen, neue wesentliche Ausgabenpositionen vom Jahr 1970 auf das Jahr 1969 übertragen kann.
Vielleicht werden die Herren von der Stuttgarter Zeitung, wenn sie das genauer studieren — und mein Kollege Leicht hat es ihnen in einem Brief noch einmal dargelegt —, auch zu der Erkenntnis kommen, daß diese Maßnahmen von den Vorschriften jedenfalls nicht gedeckt sind. Im übrigen darf
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Dr. Althammerich aus den Besprechungen im Haushaltsausschuß hier vortragen, daß man sich intern völlig darüber einig ist, daß man hier eine Entlastungsmaßnahme des Haushalts 1970 durch Belastung des Jahres 1969 vornehmen wollte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn also soviel von Konjunkturausgleichsrücklage und von den hohen Kasseneinlagen des Bundes gesprochen wird, dann kann das angesichts dieser Zahlen nur besagen, daß noch weitere Anheizungseffekte vermieden worden sind. Es ist aber unbestreitbar, daß sich durch das, was sich sowohl auf dem Haushaltsgebiet wie durch die Untätigkeit auf anderen Gebieten vollzogen hat, eine weitere Konjunkturerhitzung bewirkt hat.Ich möchte noch auf einen anderen Vorwurf eingehen, der hier gerne erhoben wird. Es wird uns gesagt, die CDU/CSU sei groß im Kritisieren der Regierung, sie steuerte aber selbst keine konstruktiven Vorschläge bei. Ich möchte deshalb noch einmal ganz kurz — ich muß mich diesen Fragen jetzt etwas gestrafft widmen — auf die wesentlichen Punkte unserer Beiträge in dieser Konjunktursituation hinweisen.Das erste und deutlichste Zeichen war wohl die Erklärung, die unser Fraktionsvorsitzender, als der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung Versprechungen mit finanziellen Auswirkungen in Höhe von über 1 Milliarde DM gemacht hat, namens der CDU/CSU von diesem Pulte aus abgegeben hat: Wir, die Opposition, werden diesen Weg nicht mitgehen; wir bieten der Regierung ein finanzielles Stillhalteabkommen an. Das war ein deutlicher Akzent in dieser Situation, als die Regierung noch davon ausging, daß man wesentlich erhöhte Ausgaben tätigen könne. Hier hat die CDU/CSU ganz deutlich die Stabilität betont.
— Bitte, Herr Kollege, lesen Sie es doch im Protokoll nach. Dann können Sie es selbst feststellen.
In der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht haben die Kollegen Müller-Hermann und Stoltenberg konkrete Vorschläge der CDU/CSU zur Konjunkturdämpfung vorgelegt. Leider hat man auf diese Vorschläge nicht gehört.
— Haben Sie einen kleinen Moment Geduld. Ich werde sofort auf diese Dinge zu sprechen kommen, und zwar in so konkreter Form, wie sie in der letzten Zeit hier von uns effektuiert worden sind. Das andere, Herr Kollege, was von der CDU/CSU sowohl in der Presse als auch von diesem Podium aus vorgeschlagen worden ist, können Sie im übrigen ja jederzeit in den Protokollen der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht nachlesen.
Ich möchte nun weiter vortragen, was die CDU/ CSU in den Ausschußberatungen konkret vorgeschlagen hat. Am 26. Februar .dieses Jahres habe ich im Haushaltsausschuß namens der CDU/CSU den Antrag gestellt, Verwaltungsbauten bis zu einer Änderung der Konjunktursituation grundsätzlich einzustellen. Der Antrag ist von der anderen Seite abgelehnt worden.In der Sitzung des Haushaltsausschusses vom 11. März habe ich namens der CDU/CSU einen weiteren detaillierten Antrag gestellt. Dieser Antrag beinhaltete eine sofortige Einzahlung der Konjunkturausgleichsrücklage in Höhe von 1,5 Milliarden DM durch den Bund. Er beinhaltete in der zweiten Ziffer, die gesperrten Haushaltsansätze, soweit sie nach der jetzigen Erkenntnis endgültig gesperrt bleiben müssen, ebenfalls dieser Konjunkturausgleichsrücklage zuzuführen. In einer dritten Position haben wir damals dem Haushaltsausschuß empfohlen, der Regierung gegenüber zum Ausdruck zu bringen, daß er nicht bereit wäre, in dieser Situation noch einen zusätzlichen Ergänzungshaushalt zu behandeln. In der vierten Ziffer haben wir noch einmal den Antrag auf Beschränkung der Bauten gestellt.Alle diese Anträge wurden von der Koalition abgelehnt. Ähnlich ergeht es uns jetzt Woche für Woche bei 'den weiteren Kürzungsanträgen, bei den Anträgen, Bindungen in endgültige Streichungen umzuwandeln. All das wird von der Koalition bisher abgelehnt.
Die Koalition wird es selber gegenüber dem Volk zu verantworten haben, wie sie sich in dieser Konjunktursituation verhält. Eines möchte ich aber hier mit aller Deutlichkeit sagen. Angesichts der Mannigfaltigkeit unserer Vorschläge — ich habe in diesem Zusammenhang unsere Vorschläge zur Vermögensbildung als weitere Maßnahme zur Konjunkturdämpfung noch nicht einmal erwähnt — sollte man uns nicht entgegenhalten, daß die CDU/CSU ihrerseits keine konstruktiven Vorschläge mache.Ich möchte nun noch einige deutliche Worte zum Ergänzungshaushalt, wie ihn die Regierung hier vorgelegt hat, sagen.Ein wesentlicher Punkt dieses Ergänzungshaushalts ist eine von der Regierung begehrte Personalvermehrung. Man muß das im Zusammenhang mit den Personalanforderungen sehen, die schon im Kernhaushalt des Jahres 1970 enthalten sind. Die Fachleute des Bundesrats haben dankenswerterweise eine 'detaillierte Aufschlüsselung dieser Stellenanforderungen vorgelegt. Danach werden im Kernhaushalt rund 5600 Stellen gefordert, davon allein 746 Stellen bei ,den Obersten Bundesbehörden. Jetzt werden 247 weitere neue Stellen im Ergänzungshaushalt gefordert.Der Herr Bundesfinanzminister hat nun zu begründen versucht, mit welchen neuen Aufgaben diese Stellenanforderungen gerechtfertigt werden könnten. Ich darf aber daran erinnern, daß diese Bundesregierung nach ihrer Installierung groß als
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Dr. AlthammerErfolg herausgestellt hat, daß die Einsparung von vier Ministerien zu wesentlichen Stellenkürzungen führen werde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, aber bei den Planstellen wird sich das auswirken. — Ich stelle heute die Frage: Wo sind die Planstellen, die hier eingespart werden sollen?
Ich habe gestern bei der Beratung eines Einzelplans im Haushaltsausschuß auch diese Frage gestellt. Darauf hat man mir beim Bundesfinanzministerium gesagt, die 22 einzusparenden Stellen seien im wesentlichen an die Herren Parlamentarischen Staatssekretäre zur Bedienung ihrer Büros gegangen.
Es kommt aber noch etwas Weiteres hinzu. Angesichts dessen, was in der Öffentlichkeit über die unguten Methoden, die sich auf dem personalpolitischen Gebiet gezeigt haben — insbesondere im Bundesfinanzministerium und noch krasser im Bundeskanzleramt —, bekanntgeworden ist, hat man, glaube ich, keine Neigung, große Stellenanforderungen. zu erfüllen.
Ich darf jetzt aber auf eine grundsätzliche Entwicklung kurz hinweisen. Wir stellen fest, daß das Bundeskanzleramt dabei ist, gigantische Pläne für Neubauten mit einem Bauvolumen von über 100 Millionen DM zu entwickeln, daß man hier in Bonn, wie schon gesagt worden ist, ein neues Pentagon errichten will. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß dann auch die Entwicklung der Personalanforderungen, wie sie jetzt begonnen hat, in den kommenden Jahren weitergehen wird.
Wir sehen weiter, daß die Planungsabteilungen bei den einzelnen Ministerien ganz deutlich die Neigung haben, sich auszuweiten. Wir stellen die Frage: Soll das dazu führen, daß neben der alten klassischen Form der Ministerien mit ihren Referaten ein neues Über-Ministerium, genannt „Planungsabteilung", stehen soll, das nun wieder zu einem Superministerium beim Kanzleramt in Beziehung gesetzt wird, so daß sich drei Instanzen — normales Ministerium, Planungsabteilung und ausgeweitetes Kanzleramt — in bürokratischer Art und Weise gegenseitig beschäftigen? Solche Fragen drängen sich auf, wenn man diese neuen Stellenanforderungen sieht.
Ein letztes — ich habe es vorhin schon kurz angedeutet —: Zu den Verpflichtungsermächtigungen im Kernhaushalt, die nach den Anträgen der Regierung 25,6 Milliarden DM betragen, sollen jetzt noch einmal 1,22 Milliarden DM weitere Verpflichtungsermächtigungen hinzukommen. Das bedeutet ein weiteres Anheizen der Konjunktur, wie ich schon eingangs dargelegt habe.
Ich darf kurz die Bilanz dieser Entwicklung ziehen. Man hätte angesichts der Konjunktursituation, die heute Daten aufweist, die in der Bundesrepublik seit Kriegsende noch nie zu verzeichnen waren, erwartet, daß die Bundesregierung dem Parlament 'deutliche, spürbare konjunkturdämpfende Maßnahmen vorlegt. Das wäre insbesondere notwendig gewesen, nachdem die Bundesbank jetzt schon zu erkennen gibt, daß auch die drastische Diskontsatzerhöhung keine wesentliche, spürbare Erleichterung bringt. Statt dessen legt man uns einen Ergänzungshaushalt mit den vorher aufgezeigten weiteren Konjunkturanheizungseffekten vor.
Man muß sich hier die Frage stellen, warum der Bundeskanzler zu dieser alarmierenden wirtschafts- und finanzpolitischen Situation dieser Monate nicht Stellung nimmt.
Das einzige, was man in der Öffentlichkeit darüber gehört hat, war seine Äußerung, daß das Stabilitätsgesetz, das ja in früheren Jahren so angepriesen worden war, ein zu grobes Geschütz sei, um dieser Konjunkturentwicklung beizukommen. Wir haben die Vermutung und den dringenden Verdacht, daß nicht das Stabilitätsgesetz ein untaugliches Instrument ist, sondern daß diese Regierung nicht den Mut hat, nachdrückliche Stabilisierungsmaßnahmen zu ergreifen.
Wir sehen heute, daß die Teuerungswelle weitergeht, daß die Inflationsrate eine nie gekannte Rekordhöhe mit der Neigung zur Dauer hat. Wir stellen fest, daß die Sparkapitalbildung alarmierend zurückgegangen ist. Das kann doch nichts anderes besagen als: daß diese Regierung einen deutlichen Vertrauensschwund in der Öffentlichkeit zu verzeichnen hat.
Wir möchten feststellen: wenn diese Entwicklung weiterhin nicht gesteuert wird und wenn unsere Bevölkerung, wenn die sozial besonders anfälligen Schichten weiter mit solchen Teuerungsraten, mit Inflationsraten von 5 % zu rechnen haben, dann können sozialpolitische Leistungen, dann können Vermögensbildungsmaßnahmen das, was hier der Bevölkerung weggenommen wird, niemals wiedergutmachen.
Ich meine, wenn diese Bilanz der ersten sechs Monate zu ziehen ist, dann ist der Regierungswechsel in Bonn im Herbst des vergangenen Jahres für unsere Bevölkerung zu teuer bezahlt worden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hermsdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Schluß der gestrigen Haushaltsausschußsitzung hatte ich mit dem Kollegen Dr. Althammer eine kurze Unterhaltung. Ich habe ihn gefragt, ob wir heute morgen über den
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2254 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Hermsdorf
Ergänzungshaushalt oder über Konjunkturpolitik reden. Die Äußerung des Kollegen Althammer zu meiner Information war: wir reden über den Ergänzungshaushalt. Ich habe hiervon so gut wie nichts gespürt.
Daß Sie hier den Versuch machen, eine allgemeine Haushalts- oder eine konjunkturpolitische Debatte zu entfachen, ist Ihr Recht. Ob Sie damit der Arbeit dieses Hauses und sich selbst dienen, lasse ich dahingestellt. Es war die Auffassung der Koalitionsfraktionen, daß eine erste Lesung dieses Ergänzungshaushalts rechtlich überhaupt nicht notwendig und sachlich nicht erforderlich gewesen wäre. Die Rede des Kollegen Althammer beweist, wie richtig wir in unserer Auffassung gelegen haben.Es war rechtlich nicht notwendig, denn wir haben — alle Fraktionen im Hause — die Geschäftsordnung dieses Hohen Hauses dahingehend geändert, daß nach § 77 ein Ergänzungshaushalt direkt, ohne Aussprache an den Haushaltsausschuß dieses Hohen Hauses überwiesen werden kann und — in der Regel — soll. Sie haben gegen den Vorschlag der Koalitionsfraktionen, dies so zu praktizieren, im Ältestenrat Einspruch erhoben. Der Bundestagspräsident hat diesen Einspruch der Großen Fraktion zur Kenntnis genommen. Somit sind wir hier angeblich zu einer Beratung des Ergänzungshaushalts gekommen.Ich kann nur sagen: das war bisher keine Beratung des Ergänzungshaushalts, sondern es war eine Debatte über Haushaltsvollzug, Kernhaushalt, Konjunkturpolitik, und in einem gewissen Sinne sind das alles Dinge gewesen, die man nach Abschluß der Beratungen des Haushaltsausschusses über Kernhaushalt und den Ergänzungshaushalt hier in einer zweiten und dritten Lesung hätte vorbringen sollen, aber nicht bei Einbringung des Ergänzungshaushaltes.Sie müssen doch zugeben, Herr Kollege Althammer — Sie haben es auch nicht bestritten —, daß eine Ausweitung des finanziellen Volumens des Haushalts durch den Ergänzungshaushalt nicht erfolgt.
Er hat also auf die Konjunktur nicht den mindesten Einfluß.Der einzige Punkt des Ergänzungshaushalts selber, den Sie angesprochen haben und über den man hinsichtlich der Konjunktur ein bißchen unterschiedlicher Meinung sein könnte, ist die Frage der Verpflichtungsermächtigungen. Durch den Ergänzungshaushalt werden für etwas über 1 Milliarde DM Verpflichtungsermächtigungen nachgeschoben. Sie wissen genausogut wie ich, daß diese 1970 nicht fällig werden. Sie wissen aber auch, daß in diesem Betrag 1 Milliarde DM Verpflichtungsermächtigungen für den Airbus enthalten sind, ein internationales Vorhaben, von dem Sie hoffentlich nicht herunter wollen. Oder sollten Sie Ihre Meinung hier geändert haben?
Das geschah also zwangsläufig.
Es besteht nicht der mindeste Anlaß, den Ergänzungshaushalt zu dramatisieren. Wir hätten wegen des Zeitdrucks, in dem wir uns befinden, und bei der Größenordnung, in der der Ergänzungshaushalt vorgelegt worden ist, besser daran getan, im Interesse der Arbeit des ganzen Hauses und der Arbeit des Ausschusses im besonderen so zu verfahren, wie es die Koalitionsfraktionen vorgeschlagen hatten.Lassen Sie mich jetzt noch ein Wort zu der Frage sagen, warum es zu dem Ergänzungshaushalt gekommen ist. Sie wissen, daß wir, d. h. alle drei Fraktionen, also auch Sie, bei der Haushaltsreform den Begriff „Ergänzungshaushalt" in das Gesetz neu aufgenommen haben, und zwar mit der Begründung, in Zukunft die Vorlage von Nachschiebelisten und ähnlichen Dingen, die am Parlament vorbeigehen und nur im Auschuß beraten werden, zu unterbinden und diesem Haus den Haushalt als Ganzes eben durch die Vorlage des Ergänzungshaushalts transparenter zu machen. Das war der allgemeine Wunsch, und diesem Wunsch ist Rechnung getragen worden. Ich weiß nicht, warum Sie sich jetzt dagegen wenden.Der nächste Punkt betrifft die Terminfrage. Aus der Terminfrage ergeben sich natürlich eine Reihe von Konsequenzen, die in der Personalfrage ihren Niederschlag gefunden haben. Sie, Herr Althammer, haben gesagt, im Kernhaushalt seien soundso viele neue Stellen ausgewiesen. Richtig, im Kernhaushalt sind 5680 neue Stellen enthalten. Sie wissen aber ganz genau, daß über 1600 Stellen allein auf das Brüsseler Paket zurückgehen und im Verteidigungshaushalt ausgewiesen sind. Diese Stellenvermehrung hat die vorhergehende Regierung zu verantworten. Ich erhebe hier keinen Vorwurf, sondern möchte nur sagen, womit das zusammenhängt, wenn man darauf verweist, was an Personal im Ergänzungshaushalt angefordert worden ist. Hier wurde das Bundeskanzleramt erwähnt. Darüber hat schon eine Debatte zwischen Herrn Wörner und Herrn Minister Ehmke stattgefunden. Sie wissen jedoch, daß im Kernhaushalt keine einzige zusätzliche Stelle für das Bundeskanzleramt steht. Die neuen Stellen sind vielmehr im Ergänzungshaushalt ausgewiesen.Sie müssen auch den Zeitdruck berücksichtigen, unter dem die Regierung gestanden hat, um den Haushalt pünktlich vorlegen zu können. Unter Berücksichtigung des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse, angefangen von der Wahl, der Bildung dieser Regierung, der Regierungserklärung, bis zur Vorlage des Haushalts, ist es selbstverständlich, daß nachträglich noch einige Umstrukturierungen, die sich auf Grund neuer Erkenntnisse ergeben haben, im Ergänzungshaushalt nachgeschoben werden müssen.Ich kann Ihnen nur sagen, daß es besser gewesen wäre, wenn Sie das berücksichtigt hätten. Sie hätten lieber zu dem Ergänzungshaushalt in der
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Hermsdorf
vorliegenden Form, der keine Verschlechterung der konjunkturellen Lage und keine Ausweitung des Finanzvolumens bedeutet, Stellung nehmen sollen. Wenn wir uns sachlich an die Arbeit gemacht hätten, wären wir schnell damit fertig geworden. Das hätte dem Hohen Hause besser angestanden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich im wesentlichen darauf beschränken, ein paarallgemeine Bemerkungen über den Charakter und die Bedeutung eines Ergänzungshaushalts zu machen und einige konkrete Feststellungen über den Ergänzungshaushalt 1970 zu treffen, den wir heute an den Haushaltsausschuß überweisen werden. Ich glaube, beides dient dazu, die meiner Ansicht nach etwas übersteigerte Allergie der Opposition gegen diesen Ergänzungshaushalt ins rechte Licht zu rücken.
Ich habe mich seit unserer letzten Debatte zwar davon überzeugt, daß es dm Bundestag Ergänzungshaushalte bisher nicht gegeben hat. So kann ich mir die Ablehnung der CDU/CSU gegenüber dem Instrument des Ergänzungshaushalts eigentlich nur als die für eine konservative Partei typische Ablehnung und Angst vor allem Neuen und Unbekannten erklären.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Leicht, es mag also im Bundestag diese Ergänzungshaushalte bisher nicht .gegeben haben. In den Ländern, wo ich bisher gewirkt habe, waren sie gang und gäbe. Vielleicht beruhigt es Sie etwas, wenn ich ihnen aus meiner Erinnerung sage, daß der erste Ergänzungshaushalt, den ich in meinem parlamentarischen Leben beraten habe, mir 1954 von einem CDU-Finanzsenator vorgelegt wurde.
Herr Kollege Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Althammer?
Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kirst, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir, nachdem wir selber an diesem Gesetz entscheidend mitgewirkt haben, den Ergänzungshaushalt selbstverständlich nicht als Institution ablehnen und daß wir ihn allenfalls in einer konkreten Situation mit diesen Zahlen ablehnen?
Herr Althammer, die Feststellung, die in Ihrer Frage lag, ist immerhin schon ein Fortschritt.
Denn nach den Vordebatten, die teils in diesemHause, teils auf anderer Ebene darüber geführtworden sind, konnte oder mußte man sogar den Eindruck haben, daß Sie, obwohl Sie die entsprechenden Gesetze im vergangenen Jahr mit beschlossen haben, überhaupt dagegen seien.Dafür aber, Herr Kollege Althammer, daß jenseits grundsätzlicher Überlegungen aus konkretem Anlaß dieser Ergänzungshaushalt ,abzulehnen sei, sind Sie uns den Beweis schuldig geblieben. Ich werde darauf im einzelnen noch eingehen.Sie haben gemeint, wir wollten diesen Ergänzungshaushalt mit Diskretion behandeln und deshalb nicht debattieren. Ich glaube, da sehen Sie die Dinge völlig falsch. Was wir wollten, Herr Kollege Althammer — und Herr Kollege Leicht wird dafür vielleicht sogar Verständnis haben —, ist folgendes. Wir hatten vorgesehen, heute noch zumindest den Vormittag mit der Beratung des Haushalts 1970 im Haushaltsausschuß zuzubringen, um eine termingemäße Verabschiedung zu den Sommerferien zu ermöglichen. Das ist uns jetzt nicht möglich.
Im übrigen, um das noch zum Grundsätzlichen zu sagen — auch darauf ist schon hingewiesen worden —: Früher hat man eben diese Nachschiebelisten, oder wie es hieß, gehabt. Das war, wenn Sie so wollen, ein Ergänzungshaushalt in Loseblattform.Der Ergänzungshaushalt ist auch in § 32 der Bundeshaushaltsordnung gesetzlich verankert. Er dient der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit. Von diesem Instrument sollte man, Herr Althammer, jenseits aller aktuellen konjunkturpolitischen Überlegungen Gebrauch machen. Wir wissen genau, daß jeder Haushaltsplan nur eine Momentaufnahme im Augenblick seiner Aufstellung sein kann und daß die dynamische Entwicklung — das Leben geht auch im Staat weiter — während der Beratungsphase einfach eine solche zeitgemäße Anpassung erfordert. Ich glaube, das Parlament sollte Wert darauf legen, am Ende im Juni hier einen möglichst aktualisierten Haushalt anzunehmen.Herr Kollege Leicht, Sie machten eben den Zwischenruf, daß ich vielleicht Nachtrag und Ergänzung verwechsle. Das tue ich bestimmt nicht. Ich gebe Ihnen in einem recht: daß der Ergänzungshaushalt 1970 insofern naturnotwendig ein Sonderfall ist, als wir den Haushalt 1970 erst im Mai oder Juni verabschieden werden und inhaltlich der Ergänzungshaushalt 1970 notwendigerweise schon mehr ein Nachtrag ist. Formal ist er aber eine Ergänzung, weil wir das Haushaltsgesetz und den Haushalt noch nicht verabschiedet haben.Wir sollten uns aber — um konkret auf die Vorlage des Ergänzungshaushalts 1970 zu kommen — nicht durch das drucktechnische Volumen über das wahre Ausmaß der Veränderungen, die darin vorgeschlagen werden, täuschen lassen. Ich glaube, das täuscht doch sehr. Das ist nun aber einfach nicht zu vermeiden. Ich meine, wenn wir den Ergänzungshaushalt 1970 konkret werten, sind zwei Feststellungen ganz klar und nicht zu widerlegen.1. Das Volumen des Haushalts 1970 ändert sich durch diesen Ergänzungshaushalt um nicht einen
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KirstPfennig. Das steht, glaube ich, fest, und das wollen wir hier festhalten.2. Herr Kollege Althammer, im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Auffassung — und nicht nur der Auffassung, sondern zu Recht der Auffassung —, daß auch die konjunkturpolitische Qualität des Haushalts 1970 durch den Ergänzungshaushalt in keiner Weise beeinträchtigt wird.Herr Kollege Althammer, Sie haben — weil auch Sie es sonst nicht belegen zu können glaubten — gemeint, daß eine Verschlechterung der konjunkturpolitischen Qualität des Haushalts durch die Bindungsermächtigungen, durch die Verpflichtungsermächtigungen — wir sollten zur Klarheit die jetzt gültigen Begriffe verwenden — eingetreten sei. Eine Milliarde DM: Herr Kollege Hermsdorf hat schon darauf hingewiesen. Da steckt aber nicht nur das drin, was er bekannterweise sagte. Da stecken auch 304 Millionen DM für die Fortsetzung und Ausweitung des Werfthilfeprogramms drin. Herr Althammer, fragen Sie einmal Ihre Kollegen Schmid-Burgk, Gewandt und andere aus der Hansestadt, die ich im Moment nicht sehe, was sie eigentlich dazu meinen, daß Sie diese Ausweitung hier ablehnen.
Ich möchte hier nicht unter falscher Flagge eine konjunkturpolitische Debatte führen. Deshalb, Herr Althammer, bin ich nicht der Meinung daß es richtig ist, hier heute die Debatten vom März fortzusetzen. Ich glaube auch, wir würden damit der damals eingenommenen Haltung, die wir hier vertreten haben, widersprechen. Wir haben seinerzeit gesagt, daß, nachdem damals die Weichen gestellt waren, es nun richtig sei, Ruhe an der Front der wirtschaftlichen Entwicklung eintreten zu lassen. Insofern gehen wir also auf diese im übrigen nicht wahrer gewordenen Behauptungen hier nicht ein.
Meine Damen und Herren! Trotz eifrigen Suchens habe ich — und das zeigt deutlich, wie begrenzt ja letzten Endes das Volumen dieses Ergänzungshaushalts ist — nur wenige Schwerpunkte in den einzelnen Bereichen finden können. Nachdem der Herr Finanzminister in seiner Einbringungsrede auf die wesentlichen Punkte hingewiesen hat, kann ich es mir ersparen, das im einzelnen hier darzulegen.Eine kurze Bilanz zeigt doch folgendes: Von den 26 Einzelplänen dieses Haushalts werden nur 17 überhaupt durch den Ergänzungshaushalt betroffen. Dabei ergibt sich für neun Einzelpläne intern eine völlige Deckung, d. h. es handelt sich um reine Umschichtungen, nicht um Veränderungen per Saldo. Lediglich in den verbleibenden acht Einzelplänen ergeben sich auch per Saldo gewisse Änderungen, die insgesamt ein Volumen von 50 Millionen DM ausmachen.Ich meine also, wir sollten weder vom konkreten Inhalt dieses Haushalts her zu unnötiger Dramatisierung noch bei falschem Anlaß zu neuen konjunkturpolitischen Debatten kommen.Ich darf den Eindruck, den ich bisher von diesem Ergänzungshaushalt gewonnen habe, wie folgt zusammenfassen. Er enthält eine Summe von vielen Hundert, in Ausmaß und Bedeutung sehr unterschiedlichen Veränderungen, die, soweit sie nicht zwangsläufig sind, sicher durchaus diskussionsfähig sind, auf Grund des ersten Eindrucks jedoch im Prinzip als akzeptabel erscheinen.Ich meine, wir sollten durch eine schnelle Überweisung dieses Ergänzungshaushalts 1970 die Voraussetzung dafür schaffen, daß der Haushaltsausschuß seine Arbeiten am Gesamthaushalt 1970 zügig fortsetzen kann.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Vorschlag des Ältestenrats geht dahin, die Vorlage an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich stelle allgemeines Einverständnis fest. Ich danke Ihnen.
Ich rufe den nächsten Punkt der heutigen Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martin, Dr. Schober, Dr. Kotowski, Dr. Mikat, Rock, Dr. Schulze-Vorberg und der Fraktion der CDU/CSU
betr. die soziale Lage der Schriftsteller, Komponisten und bildenden Künstler
— Drucksache VI/467 —
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schober.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Es gibt einen bewegenden Briefwechsel zwischen Walter v. Molo und Theodor Heuss aus dem Jahre 1952. Der Dichter machte den Präsidenten auf die schwierige Lage derjenigen aufmerksam, die ihr Brot mit der Feder verdienen müssen. Walter v. Molo unterbreitete auch einige Vorschläge, wie man die soziale Lage der Schriftsteller verbessern könne. Er verlangte nicht etwa eine staatliche Hilfe für diesen Personenkreis, sondern es kam dem Dichter darauf an, durch eine Änderung des Urheberrechts dafür zu sorgen, daß die Einkünfte der Schriftsteller stiegen.Theodor Heuss, der selber ein Schriftsteller von hohen Gnaden war, antwortete Walter v. Molo in freundlicher Weise, daß er durchaus für das Verständnis habe, was die Schriftsteller und vor allen Dingen er — v. Molo — wollten, daß aber doch gewisse Schwierigkeiten auftauchten, zunächst hinsichtlich der Frage, wer überhaupt ein Schriftsteller sei, und insbesondere auch hinsichtlich der weiteren Frage: Sind denn die Schriftsteller hinreichend organisiert, um ihre Wünsche durchzusetzen?Meine Damen und Herren, die Fragen, die im Zusammenhang mit diesem Briefwechsel aufgeworfen worden waren, sind durch die Jahre hindurch nicht mehr zur Ruhe gekommen, obgleich eine Lösung auch nicht erreicht worden ist. Im vergangenen Jahr allerdings hatten wir eine neue Situation: Am
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Dr. Schober8. Juni 1969 wurde im Kölner Gürzenich der Verband Deutscher Schriftsteller gegründet; Sie haben vielleicht in den Zeitungen davon gelesen. Vor allem hat die spektakuläre Rede von Heinrich Böll „Ende der Bescheidenheit" in der Welt Aufsehen erregt.Die Forderungen, die die Schriftsteller bei der Gründung ihres Verbandes in Köln gestellt haben, laufen eigentlich auf das hinaus, was schon Walter v. Molo wollte, nämlich eine Verbesserung des Urheberrechts. Das Verlangen nach Novellierung des Urheberrechts konzentriert sich in erster Linie auf einige Paragraphen dieses Gesetzes, die diesem Hohen Hause schon einmal vorgelegen haben; aber es ist nicht gelungen, die Änderungen, die gewünscht wurden, durchzusetzen. Es geht vor allen Dingen um die Novellierung der §§ 27 und 46.Bei § 27 handelt es sich um die Frage, ob es nicht richtig wäre, eine Vergütungspflicht auf die Buchausleihe in öffentlichen Büchereien und Werksbüchereien einzuführen. Es ist das ein Problem, das noch einmal diskutiert werden muß. Ich möchte nicht den notwendigen Erörterungen im Rechtsausschuß vorgreifen, aber ich bin doch der Meinung, daß man diese Frage einmal ernstlich prüfen sollte; denn wenn es möglich wäre, die Vergütungspflicht auch auf die Buchausleihe in öffentlichen Büchereien und Werksbüchereien zu erstrecken, ergäbe sich dadurch eine erhebliche Mehreinnahme für die Schriftsteller.Weiter ist — ich halte das ebenfalls für besonders wichtig — die Einführung der Vergütungspflicht für die Aufnahme von Werken in Sammlungen für den Schulgebrauch im Gespräch. Es handelt sich hier um den sogenannten „Schulbuch-Paragraphen". Bisher ist es ja so, daß die Schriftsteller keine Vergütung für Beiträge bekommen, die in Schulbüchern enthalten sind.Es gibt noch einige andere Probleme, die im Zusammenhang mit dem Urheberrecht stehen. Ich möchte etwa auf die alte Forderung der Schriftsteller hinweisen, eine sogenannte Urhebernachfolgegebühr einzuführen, d. h. auch solche Werke honorarpflichtig zu machen, die schon frei sind, für die also kein Schutz urheberrechtlicher Art mehr besteht. Ob es möglich sein wird, diese Nachfolgegebühr einzuführen, wage ich im Augenblick nicht vorherzusagen, jedoch bin ich der Ansicht, auch diese Frage sollte ernsthaft geprüft werden.Weiterhin meinen die Schriftsteller — und ich bin der Auffassung, daß man dem beipflichten sollte —, daß eine Neufassung der Stockholmer Urheberrechtsprotokolle hinsichtlich der Entwicklungsländer dringend notwendig ist. Die Schriftsteller fühlen sich, was die Entwicklungsländer angeht, man kann ruhig sagen: ausgebeutet, weil sie aus Übersetzungen in diesen Ländern keine Honorare bekommen. Bei der Neufassung der Stockholmer Protokolle ist dieser Punkt zunächst einmal ausgeklammert worden, eine Neuregelung ist jedoch dringend notwendig.Entscheidend ist es dem Schriftstellerverband, daß er seinen Mitgliedern — aber auch allen anderen, die sich von der Feder ernähren — zu regelmäßigen größeren Einnahmen verhilft, Einnahmen, die die Öffentlichkeit insofern trägt, als eben das Urheberrecht mit finanziellen Auswirkungen geändert wird. Es soll ein Sozialfonds gegründet werden, der 'zur Einrichtung einer Altersversorgung dient, zur Sozialhilfe für alte und in Not geratene Autoren und auch für Arbeitsbeihilfen für junge Autoren.Um diesen Forderungen möglicherweise eine Grundlage zu geben, hat die Fraktion der CDU/CSU eine Sozialenquete beantragt, und ich habe die Ehre, diese kurz noch zu begründen: Wir bitten die Bundesregierung, eine Untersuchung einzuleiten, die die soziale Lage der Schriftsteller, Komponisten und bildenden Künstler ergründet. Darüber gibt es kaum Voruntersuchungen. Der Schriftstellerverband hat hier die Initiative ergriffen, der wir uns sehr gern angeschlossen haben. Ein Frankfurter Institut ist bereit, diese Sozialenquete durchzuführen. Ich möchte nicht sagen, daß es dieses Institut sein muß; das ist Sache der Bundesregierung, das festzulegen. Die Kosten sind auf etwa 100 000 DM veranschlagt, und wir meinen, daß es möglich sein müßte, diese Aufgabe zu lösen.Nun haben wir nicht nur die soziale Lage der Schriftsteller im Auge, sondern wir meinen, daß die Komponisten und die bildenden Künstler sich in einer ähnlichen Lage befinden wie die Schriftsteller. Zwar haben die Komponisten die GEMA, die befriedigender arbeitet als die Verwertungsgesellschaft Wort; aber auch das scheint uns noch etwas undurchsichtig zu sein. Wir möchten gern für diesen ganzen Komplex eine Aufklärung haben, eine soziologische Untersuchung, die uns darlegt, wie dieser für die Zukunft des deutschen Volkes besonders wichtige Bevölkerungsteil eigentlich lebt.Nun möchten wir gern, daß die Sozialenquete sich nicht nur dafür interessiert, welche Einnahmen diese Bevölkerungskreise haben, sondern es interessiert uns auch die Frage: Wer ist eigentlich ein Schriftsteller, oder wer bezeichnet sich als einen solchen? Sind die Leute, die Schriftsteller sind oder Komponisten oder bildende Künstler, im Hauptberuf tätig, oder machen sie das nur nebenberuflich? Machen sie das vielleicht deswegen nebenberuflich, weil sie keine Chance sehen, hauptberuflich ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit zu gewinnen?
— Das ist eine Frage, Herr Moersch, die schwer zu klären ist. Goethe war sowohl Minister als auch Dichter. Aber es gab, wie Sie wissen, eine größere Zahl von Schriftstellern im vergangenen Jahrhundert — wie auch im heutigen Jahrhundert —, die versucht haben, allein mit ihrer schriftstellerischen Arbeit ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, und die die Problematik dieser Tätigkeit auch immer gesehen haben. Ich erinnere etwa an Theodor Fontane, der ja erst in sehr späten Jahren zu Ruhm und auch zu ausreichenden Einnahmen kam, der sich immer darüber Gedanken gemacht hat: Welche Stellung hat eigentlich der Schriftsteller in der Nation?
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Dr. SchoberWie können wir dafür sorgen, daß derjenige, der mit der Feder seinen Lebensunterhalt verdient, einmal die soziale Stellung hat, die er braucht, aber auch die Einnahmen, die ihn in die Lage versetzen, zu leben? Nun wollen wir natürlich nicht etwa hier postulieren, daß jeder, der sich berufen fühlt, Schriftsteller zu sein, auch einen Lebensunterhalt garantiert bekommt. Das ist natürlich eine Forderung, die man nicht erheben kann. Aber es ist doch die Frage wirklich der Erörterung wert, wie die Leute, die heute als Schriftsteller tätig sind oder als Komponisten oder als bildende Künstler, ihren Lebensunterhalt gewinnen, und wir möchten das gern durch eine Sozialenquete erhellt bekommen.
— Herr Moersch, es ist ja eben so, daß die Güter verschieden verteilt sind. Einen reichen Vater zu haben, ist sicher eine gute Sache, aber Sie würden mir doch sicher zustimmen, daß es nicht richtig wäre, daß nur diejenigen als Schriftsteller oder überhaupt als Künstler tätig sein können, die einen reichen Vater haben. Im Gegenteil, man sollte doch allen Menschen, die die Befähigung haben, diesen Beruf auszuüben, die Möglichkeit geben, sich dann eben auch durchzusetzen, und das sollte nicht von vornherein daran scheitern, daß sie von Haus aus in einer schlechten sozialen Lage sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raffert? — Bitte.
Herr Dr. Schober, wieweit könnten Sie sich denken, daß in Ihrem Kollegenkreis, im Kreis der Verleger, dazu mehr beigetragen werden könnte, als es bisher der Fall zu sein scheint?
Herr Kollege Raffert, sicherlich hat immer ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den Schriftstellern und den Verlegern bestanden; aber ich meine, daß die Änderung des Urheberrechts in den Paragraphen, die ich soeben genannt habe, vor allem in den §§ 27 und 46, nicht auf einen unüberwindlichen Widerstand im Kreise der Verleger stoßen würde. Die sogenannten Lesebuch-Verleger machen bei der Änderung des § 46 etwas Schwierigkeiten. Aber das ist nicht unüberwindlich.
Sicher ist — es gibt allerdings nur wenige Untersuchungen darüber —, daß von den etwa 6500 Menschen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich vom Bücherschreiben bestreiten, zwei Drittel weniger verdienen als 20 000 DM. Woran das liegt, müßte man im einzelnen untersuchen. Dieses Faktum sollte jedoch zum Nachdenken anregen. Deshalb haben wir die Bitte, daß diese Sozialenquete durchgeführt wird. Sie sollte auch die soziologische Stellung der Schriftsteller beleuchten, etwa ihr soziologisches Selbstverständnis, die Mitarbeit in den Organisationen, die Beurteilung dieses Standes durch andere Gruppen und ähnliches mehr.
Die Schriftsteller leben ein bißchen am Rande der Gesellschaft. Sie haben häufig den Eindruck, daß sie zwar schreiben dürfen und daß wir auch Meinungsfreiheit haben — ich möchte noch einmal deutlich betonen, daß das gar nicht anders sein kann und sein darf -, daß sie aber mit dem, was sie sagen, in der Gesellschaft nicht recht durchdringen. Wir alle in diesem Hohen Hause sollten von der bewegenden und weltgestaltenden Kraft des Wortes wie aber auch der Musik und der bildenden Kunst überzeugt sein, und wir sollten das, was in unseren Kräften steht, tun, um zu erreichen, daß dieser für die Zukunft so wichtige Teil unserer Bevölkerung die Möglichkeit erhält, ein Leben zu führen, das ihn von den größten materiellen Sorgen befreit, wenn er eben die Voraussetzungen erfüllt, die man an einen Künstler oder Schriftsteller stellen muß und stellen darf.
— Das ist das Problem, Herr Moersch. Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung,
daß es nicht eine staatlich sanktionierte oder staatlich geförderte Kunst gebne darf. Für den Schriftsteller in totälitären Staaten ist die Verführung, eine staatstreue Kunst zu betreiben und dafür dann auch das nötige Honorar einzuheimsen, sicherlich groß. Das lehnen wir natürlich ab.
Mit dem Antrag ist nicht gemeint, daß das Parlament oder eine andere Institution unseres Staates in irgendeiner Weise bevormundend diesem Kreise der Bevölkerung entgegentreten sollte. Was wir wollen, ist eine Erhellung seiner Situation, sind die gesetzlichen Konsequenzen, die ich soeben angedeutet habe. Es handelt sich haustsächlich um die Änderung des Urheberrechts. Ich hoffe und wünsche, daß dieses Hohe Haus einig ist in den Bestrebungen, die wir auf Anregung des Deutschen Schriftstellerverbandes aufgegriffen haben und die diesem Antrag zugrunde liegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wende.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben soeben sehr schöne und große Worte gehört und auch den Wunsch der CDU/CSU- Fraktion zur Kenntnis genommen, den Schriftstellern mittels einer Sozialenquete zu einem besseren soziologischen Selbstverständnis zu verhelfen. Ich würde mir an Ihrer Stelle von diesem Bemühen und diesem Ergebnis nicht allzuviel versprechen. Denn immer dann, wenn sich Schriftsteller in ihrem Selbstverständnis geäußert haben, dann gab es doch einige Konfliktsituationen gerade zur CDU/CSU. Es entbehrt eigentlich auch nicht der Pikanterie, daß es noch gar nicht so lange her ist, daß diese Spezies
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Wendevon Mitbürgern aus den ersten Reihen der CDU/CSU immerhin nicht gerade mit dem Kosenamen „Pinscher" abgetan worden ist.
— Nun ja, das ist schon eine Weile her. Da muß man wohl nicht schwer erraten, wo dann die Billigkeit gelegen hat. Die Schriftsteller haben auf ihre Weise auch sehr genau zu erkennen gegeben, wo sie eigentlich stehen, von Thaddäus Troll über Heinrich Böll bis fast — fast allerdings — Martin Walser. Das möchte ich doch sagen, und insofern hätte ich keine allzu großen Hoffnungen.Meine Damen und Herren, auch wir sind der Meinung — und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion beschäftigt sich nicht erst seit heute oder seit der Gründung des Verbandes der Schriftsteller mit der sozialen Lage der Schriftsteller —, daß die soziale Lage der Schriftsteller nicht gut ist und daß es sehr begrüßenswert wäre, wenn eine Sozialenquete einmal darüber Auskunft, und zwar wissenschaftliche Auskunft, geben würde, welche Funktion, welche Position die Schriftsteller in dieser Gesellschaft einnehmen, wie gerade ihre soziale Lage ist.Ich darf Ihnen sagen — das ist übrigens dem „Kulturpolitischen Informationsdienst" Nr. 1 des Jahres 1970 der CDU zu entnehmen —, daß der rheinland-pfälzische Kultusminister Vogel fest zugesagt hat, daß die Kultusministerkonferenz der Länder dieses Projekt in einer Größenordnung von etwa 80 000 bis 100 000 DM finanzieren möchte. Das war im Januar. In der Zwischenzeit hat sich allerdings Herr Kultusminister Vogel in der Kultusministerkonferenz der Länder offenbar nicht durchsetzen können, so daß es nicht dazu kommen wird, daß die Länder dieses Projekt finanzieren.
Wir werden das sehr begrüßen, und die Schriftsteller haben eine entsprechende Zusage bereits bekommen, so daß — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Entschuldigung, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen, weil sonst die Gefahr besteht, daß der Sachzusammenhang der Frage mit Ihren Ausführungen nicht mehr gegeben ist?
Nein, ich möchte jetzt mit diesem Punkt fortfahren. — Auch wir glauben, daß diese Sozialenquete sehr nützlich sein wird, und die Schriftsteller haben bereits eine Zusage, daß eine solche Sozialenquete aus Bundesmitteln hergestellt werden wird.
— Das ist eine Tatsache, die auf der Tagung des Verbandes der Schriftsteller in Hannover der Öffentlichkeit am 10. April bekanntgegeben worden ist.
Meine Damen und Herren, es ist klar, daß die Schriftsteller, sofern sie freie Schriftsteller sind und nicht fest angestellt sind, beispielsweise bei Rundfunkanstalten oder im Fernsehen tätig sind, daß die Autoren und auch die Künstler weit hinter der Entwicklung zurückgeblieben sind. Während in den letzten 15 Jahren die Gehälter der fest angestellten Schriftsteller und Künstler bei den Rundfunkanstalten etwa um 30 bis 40 % gestiegen sind, sind die Honorare der Schriftsteller im freien Buchgeschäft praktisch seit 15 Jahren eingefroren. Wir sind also der Meinung — und wir werden eine entsprechende initiative in das Parlament bringen —, daß das Urheberrechtsgesetz novelliert werden soll, gerade in den von Ihnen, Herr Kollege Dr. Schober, angesprochenen §§ 46 und 27, wo es um die Honorarpflicht für Werke zeitgenössischer Urheber im Schul- und Kirchengebrauch geht sowie auch um die Tantiemen bei Buchausleihe in öffentlichen Büchereien — Buchausleihe, also nicht nur Vermietung, wie ursprünglich vorgesehen — und natürlich auch bei den Werkbüchereien. Schließlich soll gerade aus Mitteln, die den Schriftstellern dadurch zufließen, ein Sozialwerk für Schriftsteller geschaffen werden, das dann das skandinavische Modell, das den Schriftstellern selbst als erstrebenswert vorschwebt, verwirklichen wird.Die Urhebernachfolgegebühr in Höhe von 1% vom Ladenpreis auf gemeinfreie Werke war, wie Sie es angedeutet haben, ursprünglich vom Gesetzgeber bereits in der gesetzlichen Regelung vom 9. September 1965 vorgesehen. Aber Sie haben auch versäumt zu erwähnen, daß sie vom Bundesrat zu Fall gebracht worden ist und hier bekannterweise auch vom Land Rheinland-Pfalz. Wahrscheinlich haben dabei Probleme der Lernmittelfreiheit eine Rolle gespielt. Vielleicht wollte Kultusminister Vogel jetzt eine Art Wiedergutmachung an den Schriftstellern leisten.Ich meine, daß bei dieser Novellierung keine Hektik am Platze sein darf. Wir haben Kontakt mit den Schriftstellern. Wir werden uns in unserer Fraktion mit den neuen Formulierungen dieser Paragraphen sehr gewissenhaft beschäftigen. Es wäre aber falsch, wollte man den Schriftstellern nun sagen, daß für sie herrliche Zeiten anbrechen würden.
Man sollte hier einmal an das Beispiel der Musiker erinnern, die es fertiggebracht haben, schon vor einigen Jahrzehnten die GEMA zu gründen. Diese mächtige Gemeinschaft — damals von Richard Strauß gegründet — hat die Musiker und Komponisten zusammen mit den Musikverlegern heute in eine feste Position gebracht. Hier hat man Solidarität gezeigt. Die GEMA hat im letzten Jahr einen Jahresabschluß von 150 Millionen DM gehabt.Wir müssen feststellen, daß die Schriftsteller und freien Journalisten, die wir ebenso wie die Künstler in diese Sozialenquete einbezogen wissen möchten — wir möchten das Gesetz also nicht nur auf die Schriftsteller beschränkt wissen —, jetzt eine „Verwertungsgesellschaft Wort" ins Leben gerufen ha-
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Wendeben. Das geht immerhin auf die Möglichkeiten desUrhebergesetzes vom September 1965 zurück. Dasist allerdings nur ein Anfang, ein erster Schritt.
— Nein. Der Jahresumsatz dieser Gesellschaft betrug im letzten Jahr bei sehr hohen Verwaltungskosten 1,6 Millionen DM. Hier ist die Frage zu stellen, ob nicht der Staat helfend eingreifen sollte, damit die Verwaltungskosten nicht auch von den Tantiemen mit bestritten werden müssen.In jedem Falle sollte man auch einmal das eine Drittel derjenigen Schriftsteller an ihre Solidarität erinnern, Herr Kollege Dr. Schober, die mehr als 20 000 DM im Jahr verdienen. Die gibt es doch wohl auch?!
Diese Schriftsteller sollten in den Zeiten, wo der Weizen bei ihnen besonders stark wächst, einmal daran denken, daß für sie auch andere Zeiten kommen können. Es ist ja immer die Krux dieses Berufsstandes — ich habe ihm selber als freier Journalist angehört —, daß man in der Zeit, in der die Honorare groß sind, nicht so sehr an die Altersversorgung denkt. In diesem Punkte ist bei den Angehörigen dieses Berufsstandes ein gewisses Umdenken nötig.Trotz der staatlichen Initiative, die kommen muß und nach dem Willen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion bald kommen soll, dürfen wir aber die Schriftsteller, die Verleger, die Chefredakteure und last not least die Intendanten der Rundfunkhäuser nicht aus der Pflicht entlassen, eine solidarische Gemeinschaftsaktion in Bewegung zu setzen, damit möglicherweise diese „Verwertungsgesellschaft Wort" gestärkt und eventuell auch auf urheberrechtliche Ansprüche ausgedehnt würde, die mit dem Bereich „Bild" zu tun haben. Schließlich sollte daraus ein Sozialwerk geschaffen werden, wie es unserer Fraktion — wie Sie wissen — auch für den ganzen 'Bereich der Presse recht klar vorschwebt. Ich glaube, daß man das nicht ohne Mithilfe aller Angehörigen dieses Berufszweiges schaffen kann.Einer der wichtigen Punkte wird die Altersversorgung sein. Sie muß auch für diesen Kreis von Kulturschaffenden — um diesen Ausdruck einmal zu .gebrauchen — gewährleistet sein. Die sozialen Leistungen müssen — ähnlich dem Beispiel der Künstlerhilfe des Bundespräsidialamtes — auch diesem Personenkreis offenstehen. Schließlich müssen Arbeitshilfen für junge Schriftsteller ermöglicht werden. Darin sind wir also einer Meinung, Herr Kollege Dr. Schober. Insofern sehe ich den weiteren parlamentarischen Beratungen dieses Problems mit Optimismus entgegen.
Meine Damen und Herren! Das war die erste Rede unseres Kollegen Wende. Ich darf ihn im Namen des Hauses herzlich dazu beglückwünschen. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Vorredner, Herr Kollege Dr. Schober und Herr Wende, haben dankenswerterweise zu den Urheberrechtsfragen Stellung genommen. Da die hier geforderten Änderungen seit langem von der FDP gewünscht und auch früher beantragt worden sind, wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg, darf ich mich diesen Forderungen hier anschließen. Soweit mir bekannt ist, befindet sich das Bundesjustizministerium mitten in der Vorarbeit für eine entsprechende Gesetzesvorlage, die den Vorstellungen des Verbandes der Schriftsteller einigermaßen gerecht werden kann, um mich vorsichtig auszudrücken.Nur eines wundert mich, meine Kollegen von der CDU/CSU, daß Sie das in Ihrem Antrag gar nicht gesagt haben. Der Antrag geht auf diesen Hauptpunkt nicht ein. Ich muß Ihnen sagen, daß mir der Antrag in der Tendenz durchaus sympathisch ist, aber der Präzision entbehrt. Ich glaube, daß wir uns deshalb im Ausschuß sehr intensiv über eine Präzisierung dieses Antrags unterhalten müssen, in einigen Fällen auch über eine Erweiterung. Denn so eng, wie hier die Begriffe gefaßt sind, kann man das Problem wahrscheinlich gar nicht angehen. Man kann keine vernünftige Untersuchung zustande bringen, wenn man die Sache einerseits zu diffus und andererseits zu eng anlegt.Es geht im Grunde um die Frage, wie in einem sozialen Rechtsstaat und in einer Arbeitnehmergesellschaft die Freiheit der künstlerisch Tätigen — ich fasse diesen- Begriff sehr weit —, die zum geistigen Gehalt der Zeit sehr entscheidend beitragen, bewahrt werden kann, ohne ihnen ein Mindestmaß sozialer Sicherung vorzuenthalten, das ihnen auch die Unabhängigkeit und Freiheit ihrer künstlerischen Betätigung gibt.
Viele Schriftsteller reagieren allerdings mit Recht allergisch, wenn in einem Parlament und in einer Regierung diese Fragen behandelt werden. Denn schon die Behandlung dieser Fragen könnte man als einen zwar wohlgemeinten, aber immerhin als einen Versuch auslegen, diese Freiheit in gewissen Fragen von Staats wegen doch zu beschränken. Das muß man sehen. Nicht alle, die eine bessere soziale Sicherung intensiv wünschen, sind ganz davon überzeugt, ob am Ende das Geschenk, das wir ihnen vielleicht machen könnten, nicht sehr teuer bezahlt werden müßte. Das ist eine Sorge, die man aussprechen muß.
— Ob wir uns einig sind, darauf kommt es nicht an, Herr Dr. Schober, sondern darauf, was die Betroffenen empfinden. Deshalb muß man hier sagen, daß eine Freiheitsbeschränkung nicht gemeint sein kann. Ich danke Ihnen, meine Herren von der CDU/CSU für diese Bestätigung.Heikel ist die Frage, wie man den Personenkreis abgrenzt. Ich meine, es verdient unsere volle Aufmerksamkeit, daß nicht nur bildende Künstler, Schriftsteller und Komponisten, sondern auch viele darstellenden Künstler, die die Freiheit ihres Be-
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Moerschrufes schätzen und die gern sehr frei leben, im Krankheitsfall und bei Alter sich vor .eine ganz schwere Situation gestellt sehen.
Für die ganze Gruppe — dazu gehören also auch die darstellenden Künstler — muß man sich — ich bin für den Hinweis von Herrn Wende dankbar — über ein umfassendes Sozialwerk Gedanken machen, da wir ohnedies heute eine fast totale Versicherungspflicht für den Staatsbürger haben. Dann kann man die künstlerisch Tätigen aus diesen allgemeinen Erwägungen nicht herauslassen.Eine andere Frage: Soll der Staat zur Finanzierung beitragen? Das Problem der Finanzen werden Sie in irgendeiner Form anschneiden müssen. Das ist allein mit Honorarabzügen oder -anteilen — dazu wird man auch manche neuen Vorstellungen entwickeln können — nicht zu machen, auch nicht mit der Änderung des Urheberrechts. Ich meine, daß wir uns ernsthaft überlegen müssen — ich bin dafür, daß wir alle hier im Hause das tun —, wie man an Gelder herankommt, die als Grundstock für ein solches Sozialwerk besonders geeignet erscheinen. Ich denke an die Werbeeinnahmen der Rundfunk- und Fernsehgesellschaften. Wir haben bei diesen öffentlich-rechtlichen Anstalten die Gebühren erhöht. Wir haben zum Teil sehr reiche Werbefunkgesellschaften. Die Mittel werden für alle möglichen Dinge ausgegeben. Aber wenn sie für etwas sinnvoll ausgegeben werden können, dann doch dafür, daß man in erster Linie den Mitbürgern, die den Rundfunk und das Fernsehen überhaupt in die Lage versetzen, Sendungen zu gestalten, im Notfall hilft, d. h., daß man hier zu einem Grundstock beiträgt, und zwar hauptsächlich für die sogenannte alte Last. Denn das zweite Problem ist, daß wir hier immer noch Kriegsfolgen zu bereinigen haben. Es gibt eine Reihe von Schriftstellern, die wir alle kennen, die jetzt 70 oder 75 Jahre alt sind und die wirklich einmal gespart haben. Es ist ja nicht so, daß sie grundsätzlich nicht sparen. Es gibt auch solche, die reich geboren worden sind. Ich denke hier an jene, die ihr Privatvermögen, das z. B. in einer Lebensversicherung oder ähnlichem angelegt war, im Kriege so gut wie verloren haben, die ihr Eigentum zum Teil in den Ostgebieten hatten und davon nichts mehr besitzen und die heute auf die Sozialhilfe, die Kollegenhilfe oder ähnliches angewiesen sind.Ich glaube, wenn wir diese Frage hier erörtern, müssen wir von dieser Stelle aus den Appell an die Gesellschaft und alle, die in dieser Gesellschaft finanziell leistungsfähig sind, richten, sich zu überlegen, ob es wirklich sinnvoll sein kann, alles und jedes gesetzlich regeln zu wollen. Es ist zu fragen, ob es nicht viel besser ist, viel mehr Anreize als bisher zu geben, einen Ausgleich .auf der Basis privater Stiftungen zu schaffen. Es würde manchem in unserem Lande wohl anstehen, wenn er die Diskussion über die Vermögensverteilung durch eine großzügige Stiftung dieser Zwecksetzung einmal in eine andere Bahn lenken wollte. Ich möchte nachdrücklich dazu auffordern. Es handelt sich nicht einmal um sehr große Summen. Aus den Zinserträgen des Stiftungskapitals könnte man heute sehr wohl — gerade in den Härtefällen, die mir bekannt sind — Hilfe leisten.
— Ich will mich nicht darauf verlassen, aber man muß das einmal öffentlich aussprechen. Man muß einmal die Anregung dazu geben. Es gibt ja Leute, die ihren Namen hier gern verewigt sehen wollen. Warum sollte man eine solche Stiftung nicht nach dem Stifter nennen und seinen Namen damit sozusagen indirekt in die Literatur einführen? Das wäre doch eine gute Sache. Es gab und gibt wieder eine solche Stiftung. Ich meine die Friedrich-Schiller-Stiftung, die früher in Weimar ansässig war und dort leider ihr Vermögen verloren hat. Das deutsche Volk hat bei den Schiller-Feiern des vergangen Jahrhunderts sehr maßgeblich zum nun verlorenen Stiftungskapital beigetragen, in der Überlegung, die schon damals ganz modern war und die wir heute wieder anstellen, wie man ein hohes Maß an Unabhängigkeit mit sozialer Sicherheit verbinden kann. Diese Frage ist auch heute gestellt worden. Der Gesetzgeber kann dazu dadurch beitragen, daß er für solche Stiftungen rechtliche, auch steuerrechtliche Erleichterungen schafft. Besonders vom Bundesrecht her müssen Erleichterungen geschaffen werden. Zur Zeit fallen solche Stiftungen noch zum Teil unter das Länderrecht, und die Fragen der Aufsicht sind, wie Sie wissen, sehr kompliziert.Ich möchte mich hier zunächst auf diese Anmerkungen beschränken. Aus der Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion ersehe ich, daß wir den Antrag, den sie gestellt hat, zur Diskussionsgrundlage machen können. Selbstverständlich kann man diesen Antrag noch abändern. Ich möchte davon abraten, sich zunächst zu sehr auf den Wortlaut des Antrages zu stützen. Es dauert sonst zu lange, bis wir einen Bericht haben. Wir müßten hier wohl in Etappen vorgehen.Wir müssen uns ernsthaft überlegen, ob man nicht überhaupt zu ganz anderen Formen der sozialen Sicherung in diesen Berufen kommen muß, weil es heute andere Medien gibt, in denen sich z. B. Schriftsteller betätigen können. Rundfunk und Fernsehen hat es früher als mögliche ständige Einnahmequellen nicht gegeben. Früher hat es auch nicht in dem Maße, wie es heute in diesen Medien der Fall ist, einen stetigen Wechsel zwischen dem Angestelltenverhältnis und dem freien Arbeitsverhältnis gegeben.Wir haben es bei der Diskussion über Pressefragen — ich erinnere Sie daran — als Voraussetzung für eine vernünftige Unabhängigkeit der in der Presse tätigen Redakteure und Journalisten angesehen, daß die Mobilität zwischen privatrechtlichen, d. h. privatwirtschaftlichen Einrichtungen und öffentlich-rechtlichen Anstalten durch ein gemeinsames Versorgungswerk verbessert wird. Künftig darf also nicht mehr der Fall eintreten, der jetzt leider eingetreten ist — Kollege Dr. Meinecke könnte uns mehr darüber sagen —, daß ein beinahe zehn Jahre in leitender Stellung bei einer
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2262 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
MoerschRundfunk- und Fernsehanstalt beschäftigter Redakteur, der mehr oder weniger aus politischen Gründen gekündigt hat, wenige Monate vor der endgültigen Versorgungszusage ausscheidet und daß das praktisch bedeutet, daß 9 1/2 Jahre lang für ihn Beiträge zurückgelegt wurden, über die er künftig nicht verfügen kann. Das bedeutet, daß er wieder bei Null anfängt, wenn er sich jetzt in einem anderen Unternehmen betätigt, obwohl er 9 1/2 Jahre lang in einer öffentlich-rechtlichen Anstalt tätig war, die für seine Altersversorgung große Rücklagen gebildet hat. Diese Rücklagen kann er aber nicht realisieren, wenn er 65 Jahre alt ist.Diese Fragen müssen wir meiner Ansicht nach vom Gesetz her angehen, weil auf diesem Gebiet eine faire Übereinstimmung und Mitarbeit auf freiwilliger Grundlage bisher offensichtlich nicht zu erzielen gewesen ist. Ich möchte hier anmerken, daß ich eine gesetzliche Regelung hierbei für einen ersten wesentlich Schritt halte.Weiter muß man sich ernsthaft überlegen, ob man nicht insofern in irgendeiner Form einen Zwang zur Vorsorge für die freiberuflich Tätigen mit einführt, als man die Verlage und die Rundfunk- und Fernsehanstalten als quasi Arbeitgeber veranlaßt, neben dem auszubezahlenden Honorar einen bestimmten Honoraranteil, den man als Arbeitgeberanteil bezeichnen könnte
— ich will hier keine Schleichwerbung für irgend jemanden machen; ich komme gleich auf diesen Fall —, in dieses Versorgungswerk zu zahlen. Denn, meine Damen und Herren, wenn wir das nicht bald auf eine gesetzliche Basis stellen, sondern es einigen sehr potenten Großverlagen mit ihrer Hausversorgung in der Form und mit den Steuerbegünstigungen überlassen, wie es jetzt ist, Herr Dr. Schober, dann entsteht leider nicht etwa eine soziale Lösung, sondern eine neue Form von Leibeigenschaft, die eine wirkliche Unabhängigkeit gerade der Autoren überhaupt nicht mehr gewährleistet.
Dann entsteht aus einer angeblich sozialen Tat heraus ein permanentes, lebenslanges Abhängigkeitsverhältnis, das man sozusagen nur mit schwerem materiellen Schaden lösen könnte.Diese Art von sozialen Wohltaten in bestimmten fundierten großen Unternehmen schätze ich gerade als Angehöriger eines freien Berufs nicht sehr; das ist nämlich eine Art von Steuerbegünstigung, die in diesem Bereich im Zweifel auf Kosten der kleinen und mittleren Verlagsunternehmen geht, vor allem auf Kosten
— entschuldigen Sie, ich will jetzt nicht darüber diskutieren, Herr Dr. Schober — der Unabhängigkeit der im weitesten Sinne künstlerisch Tätigen.Die Unabhängigkeit dieser künstlerisch Tätigen ist dabei ein vorrangiges Gut. Die soziale Sicherung hat für mich die Funktion, die Unabhängigkeit zu bewahren und zu sichern. Art. 5 GG, der diese Freiheit garantiert, ist nur zu vollziehen, wenn der Wechsel etwa des Verlages oder des Arbeitgebers wirklich nicht nur auf dem Papier als Möglichkeit steht, sondern wenn man im Konfliksfall seine Entscheidung eben revidieren kann. Eine Gesetzgebung, eine soziale Sicherung, die nicht auf diesen Konfliktsfall angelegt ist, mag gut gemeint sein, sie bewirkt aber am Ende die Einschränkung der künstlerischen Freiheit.Das gilt auch für die darstellenden Künstler. Deswegen bedaure ich ein bißchen, daß Sie diese hier ausgelassen haben. Denken Sie an die jüngsten Konflikte, etwa im Bereich des Schauspiels und der Theater, von Zürich angefangen. Was dort geschieht, wird in solchen Fällen ja merkwürdigerweise wie selbstverständlich zu den deutschen Problemen gerechnet. In anderen Fällen ist das keineswegs so, aber wenn es um ein Züricher Theater geht, ist das, wie ich höre, eine urdeutsche Angelegenheit, weil nämlich die Mobilität auch zu den Nachbarländern gewährleistet sein muß.Man sieht an solchen Beispielen, daß die Freiheit der künstlerischen Entscheidung eben aus Gründen der sozialen Sicherung bereits stark eingeengt ist.Wir sollten uns überlegen — ich bin sicher, daß wir da eine vernünftige Antragsformulierung finden —, welche Unterlagen die Bundesregierung liefern muß und welche Unterlagen die Wissenschaft liefern kann, um zu einer sinnvollen, wie gesagt, die verschiedenen Probleme abwägenden Lösung zu gelangen.Insofern bin ich der CDU/CSU für diese Initiative dankbar. Ich bin vor allem dafür dankbar, daß sie hier ihre wirkliche Aufgabe als Opposition begriffen hat. Ich sehe es durchaus zusammen mit dem Kollegen Wende als einen erfreulichen Versuch an, von manchem, was die CDU/CSU in der Vergangenheit an Spannungen in diese Gruppe der freien künstlerischen Berufe gebracht hat, nun auf diese elegante Weise abzurücken. Dazu meinen Glückwunsch!
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — federführend — sowie dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Mitberatung zu überweisen. — Es ist so beschlossen.Punkt 4 — Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betr. mittelfristige Finanzplanung, Drucksache VI/425 — ist von der Tagesordnung abgesetzt worden und wird voraussichtlich nächste Woche behandelt.Ich schlage vor — und ich nehme interfraktionelles Einverständnis an —, daß wir jetzt noch Tagesordnungspunkt 17 erledigen:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Schmid-Burgk, Dr. Pohle, Porzner, Dr. Koch, Frau Funcke, Freiherr von Kühlmann-Stumm und den Fraktionen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2263
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausender CDU/CSU, SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes 1964— Drucksache VI/389 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache VI/626 —Berichterstatter: Abgeordneter Hermsdorfb) Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/589 —Berichterstatter: Abgeordneter Löbbert
Meine Damen und Herren, die Berichte des Haushaltsausschusses und des Finanzausschusses liegen vor. Von den Berichterstattern wird das Wort nicht begehrt.Ich rufe in zweiter Lesung Art. 1, Art. 2, Art. 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Keine Wortmeldungen.Dritte Beratung.Das Wort wird nicht begehrt. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf in dritter Lesung zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.Ich rufe nunmehr den letzten Punkt der heutigen Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Picard, Dr. Martin, Dr. Jungmann, Dr. Götz, Burger, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, von Thadden, Köster und der Fraktion der CDU/CSUbetr. Situation der Psychiatrie in der Bundesrepublik— Drucksache VI/474 —Zur Begründung des Antrags hat der Herr Abgeordnete Picard das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Freitagmittag, für ein so umfassendes Thema in diesem Hause wahrscheinlich die übliche Zeit, könnte man versucht sein zu sagen. Denn das Thema, das wir zuvor behandelt haben, hat dieselbe „Aufmerksamkeit" gefunden wie das, das jetzt zur Debatte steht. Ich will mich bei der Begründung auf die notwendige Kürze beschränken. Ich habe den Herrn Präsidenten gebeten, mir etwas mehr Redezeit zu gewähren — über die zustehende Zeit hinaus —, weil ich der Auffassung bin, wir sollten uns Zeit nehmen, um wenigstens im Beginn diesen Antrag entsprechend begründen zu können.Mit der Drucksache VI/474 greift die CDU-Fraktion ein Thema auf, das meines Wissens im DeutschenBundestag bisher noch nie umfassend erörtert worden ist. Psychiatrie und Psychohygiene haben in diesem Jahrhundert im zunehmenden Maße die Aufmerksamkeit nicht nur der Fachwelt, sondern auch der allgemeinen Bevölkerung auf sich gezogen. In der Bundesrepublik hat diese Entwicklung etwas verspätet eingesetzt, und wir sind heute — im Gegensatz zu den zwanziger Jahren — nicht zu den führenden Nationen auf dem Gebiet der Psychiatrie zu rechnen, was wir eigentlich bedauern sollten.Es gibt vielmehr eine Vielzahl von beklagenswerten Mängeln, zwar nicht in der theoretischen Erkenntnis, aber in der praktischen Anwendung. Teilweise unbefriedigende Verhältnisse, besonders in psychiatrischen Krankenhäusern, haben zu emotionellen Reaktionen geführt, die die Gefahr mit sich bringen, daß Angriffe mit Recht von Krankenhauspsychiatern insoweit als unberechtigt und ungerechtfertigt empfunden werden, als in den Psychiatrischen Krankenhäusern nur mit einem hohen persönlichen Einsatz Erfolge erzielt werden können. Diese Angriffe haben zu einer Verhärtung der Fronten zwischen den sogenannten traditionellen und der modernen Psychiatern geführt, obwohl es diese Trennung im Grunde ja gar nicht gibt.Eine Besserung der gegenwärtigen Verhältnisse ist aber nur in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit aller an der Psychiatrie Interessierten zu erreichen. Der Wissenschaftsrat erklärte im Mai des vergangenen Jahres: Der gegenwärtige Zustand der Psychiatrie in der Bundesrepublik ist dringend reformbedürftig. Er sprach damit eine Erkenntnis aus, die unter Eingeweihten schon lange vorhanden ist. Die psychiatrische Krankenversorgung in der Bundesrepublik ist mangelhaft. Sie wird so gut wie ausschließlich von den niedergelassenen Nervenärzten und den 59 Psychiatrischen Großkrankenhäusern mit insgesamt 92 000 Betten getragen. Dazu kommen noch ca. 30 000 Betten in gemeinnützigen Einrichtungen. Universitätskliniken, die wenigen Psychiatrischen Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern und Privatkliniken fallen demgegenüber mit zusammen etwa 5% der Behandlungsplätze gar nicht ins Gewicht. Mit 1,8 Betten auf 1000 Einwohner verfügt die Bundesrepublik über kaum halb soviel psychiatrische Behandlungsplätze wie andere zivilisierte Staaten: Schweiz und England 3,5, Schweden 4,2, USA 4,5 pro 1000. Infolgedessen sind die ohnehin schon vielzu großen und in der Regel abgelegenen, baulich und strukturell veralteten Psychiatrischen Landeskrankenhäuser ständig weit überbelegt. Im Jahre 1965 standen der Bevölkerung etwa 1000 Fachärzte zur Verfügung, die zu einem erheblichen Teil — überwiegend — auch noch neurologisch tätig waren, ferner 30 klinische Psychologen und 40 Sozialarbeiter. Inzwischen haben sich diese Zahlen kaum geändert. In den Vereinigten Staaten waren es im gleichen Jahr 15 000 Psychiater, 10 000 Psychologen, 8000 psychiatrische Sozialarbeiter. Wenn Sie die Bevölkerungszahl vergleichen, erkennen Sie, daß die Bundesrepublik sich mit einem Zehntel an Personal oder weniger im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten begnügt.
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2264 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
PicardPraktisch kommen auf einen Arzt in der Bundesrepublik in den Psychiatrischen Landeskrankenhäusern 200 bis 300 Patienten. Die Zahl mag da oder dort in einem Landschaftsverband, z. B. hier im Rheinland, anders liegen. Ich beziehe mich auf eine kürzlich erschienene umfangreiche Berichterstattung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die diese Zahlen nochmals wiederholt hat.Die Weltgesundheitsorganisation fordert ein Verhältnis von 1 zu 30. In den nichtpsychiatrischen allgemeinen deutschen Krankenhäusern haben wir ein Verhältnis von 1 zu 18. Die Psychiatrischen Krankenhäuser und die psychisch Kranken werden dadurch also eindeutig diskriminiert. Diese Diskriminierung drückt sich u. a. in der wirtschaftlichen Situation aus. Die gesetzlichen Krankenversicherungen zahlen in einem allgemeinen Krankenhaus in der dritten Klasse Sätze von 40 bis 45 DM pro Tag ohne Anstand. In einem Psychiatrischen Krankenhaus beträgt der gleiche Satz 18 bis 21 DM, also weniger als die Hälfte. Damit müssen diese auskommen.Mehr noch als in dem gravierenden Ärztemangel zeigt sich in der Krankenpflege das eigentliche Elend der deutschen Krankenhauspsychiatrie. Die wenigen vorhandenen Pflegekräfte oder, sagen wir besser, die zu wenigen vorhandenen Pflegekräfte sind oft auch noch unzureichend ausgebildet, was nicht diesen Pflegekräften angelastet werden kann, sondern eben einfach die Folge eines ungeheuren Nachholbedarfs beim Bau und bei der Modernisierung von Ausbildungsstätten ist. Sie können den Kranken zwar verwahren, aber nicht effektiv und damit erfolgreich behandeln. In vielen Fällen müssen sogar noch Patienten zu Hilfspflegediensten herangezogen werden.Entscheidend bei der Behandlung der psychisch Kranken in den Krankenhäusern ist aber nicht bestenfalls die eine Stunde am Tag, in der der Arzt mit dem Patienten zusammenkommt, sondern entscheidend sind die übrigen 23 Stunden. In einem aufsehenerregenden und vielleicht in manchen Punkten überspitzten und deshalb als provozierend empfundenen Buch „Irrenhäuser — Kranke klagen an" von Frank Fischer sind Verhältnisse geschildert, die ihre Ursache in dem ungeheuren Personalmangel, der unzureichenden Ausbildung und den veralteten Strukturen vieler unserer Psychiatrischen Krankenhäuser haben dürften. So scheint es uns keineswegs übertrieben, wenn Professor Häfner, übrigens der einzige deutsche Lehrstuhlinhaber — wobei das Wort „Lehrstuhlinhaber" eigentlich noch etwas übertrieben ist — für Sozialpsychiatrie, die psychiatrische Krankenversorgung der Bundesrepublik schon vor fünf Jahren als „nationalen Notstand" bezeichnet hat.Es ist bezeichnend, daß solche Feststellungen kaum in das Bewußtsein der Öffentlichkeit dringen. Trotz vieler Bemühungen, trotz eines großen und bewundernswerten persönlichen Einsatzes aller in der Psychiatrie Tätigen, für den ich auch im Namen meiner Fraktion hier ausdrücklich danken möchte, hat sich in den letzten Jahren kaum etwas zumBesseren gewendet. Abgesehen von dem einen oder anderen Modellinstitut da oder dort, das auch mit Bundesmitteln gefördert werden konnte, ist die Verwirklichung der Erkenntnisse der modernen Psychiatrie in der Bundesrepublik bisher nicht gelungen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Aber man kann heute nicht mehr auf die 12 Jahre der nationalsozialistischen Vergangenheit hinweisen und hier die Ursache suchen.Auch aus anderen Gründen gibt es heute immer noch eine aktive Diskriminierung nicht nur der psychisch Kranken, sondern leider auch derjenigen, die sich für psychisch Kranke einsetzen. In weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit und auch in unseren Fraktionen konnten wir bei der Vorbereitung dieses Antrags hin und wieder in Gesprächen mit Kollegen, wenn es auch in einer sehr freundlichen Form gesagt wurde, feststellen, daß das ein Gebiet ist, das eben nicht ganz selbstverständlich zum Betätigungsfeld eines Politikers gerechnet wird. Das liegt natürlich auch an der unzureichenden Information. Wenn Sie z. B. bedenken, meine Damen und Herren, daß etwa 6 bis 7 Millionen Menschen in der Bundesrepublik nach allgemein gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, nämlich 10 bis 12 % der Bevölkerung, einer psychiatrischen Versorgung in irgendeiner Form bedürfen — welcher Form, darauf werde ich noch kommen —, sieht man die Größenordnung des Problems.Allgemein läßt sich sagen, daß die Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung geistig Behinderten gegenüber irrational ablehnend ist. Diese Haltung läßt sich in abgestufter Intensität in vielen Ländern feststellen, leider Göttes in unserem Land, so scheint es, stärker noch als in manchen unserer Nachbarländer.Einige dieser Vorurteile haben eine jahrtausendealte Tradition und wurzeln in der primitiven Furcht vor den psychisch Kranken. Es ist einfach die Furcht vor dem Unheimlichen, dem Unberechenbaren in seinem Wesen und Verhalten, die zu allen Zeiten dazu führte, psychisch Kranke als Besessene, als durch teuflische oder dämonische Mächte Überwältigte, zu erklären. Diese Verteufelung psychischer Krankheit und Abnormität verbindet sich in der Regel aber auch heute noch mit der Schuldfrage. Die Einstellung zur psychischen Störung als eines selbst-verschuldeten Zustands, im 19. Jahrhundert von der sogenannten Schule der Psychiker auch wissenschaftlich vertreten, ist bis in die Gegenwart hinein noch keineswegs überwunden.Ich empfehle Ihnen hier, einmal darüber nachzudenken, was es mit der Entmündigung nach § 6 BGB auf sich hat, die dem Strafregister gemeldet werden muß, und welchen Sinn es haben soll, .daß eine Entmündigung nach § 51 StGB z. B. niemals gelöscht werden kann, obwohl der Betreffende in vielen Fällen irgendwann einmal geheilt sein wird. Ich glaube, daß das auch ein Thema ist, das im Rahmen der Justizreform überdacht werden muß.
Denn der Gesetzgeber versteht die Entmündigung ausdrücklich und ausschließlich als eine Maßnahme zum Schutz des Kranken.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2265
PicardDazu kommt, daß Geisteskrankheit, geistige Behinderung von vielen in unserer Bevölkerung trotz gegenteiliger Erkenntnisse als unheilbar betrachtet wird. Wie kaum in einem anderen Land finden sich in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik noch negative Vorurteile und Mangel an Informationen über psychisch Kranke und ihre Behandlung.Die Haltung der Gesellschaft gegenüber den psychisch Kranken in unserem Land und der institutionelle Aufwand für ihre Versorgung sind ein Schatten auf dem humanitären Schild unserer Kultur, nicht nur, weil viele psychisch Kranke unfähig sind, sich selbst Hilfe zu suchen, sondern auch, weil ihre Krankheit .unmittelbar mit ihrer Rolle in der Gesellschaft zusammenhängt. Sie sind in einem ganz besonderen Maße auf Hilfsbereitschaft, Humanität, ja, geradezu auf Nächstenliebe ihrer Umwelt angewiesen.Aus dieser knapp geschilderten Einstellung heraus sind in der Vergangenheit zur Absonderung von Geisteskranken weit abgelegene Großkrankenhäuser errichtet worden, die wir heute noch im Volksmund unter der Bezeichnung „Irrenhäuser'', „Klapsmühlen" usw. kennen. Von diesen Abqualifizierungen abgesehen, ist das Interesse der breiten Öffentlichkeit am Schicksal .der psychisch Kranken relativ .gering, ausgenommen die Sensationslust ausnutzende besondere Berichte über tatsächliche oder angebliche Gewalttaten psychisch Kranker, mit denen von Zeit zu Zeit das Schicksal der psychiatrischen Großkrankenhäuser in das Licht der Öffentlichkeit rückt.Der scheinbar rationale Grund für die hermetische Einschließung der geistig Behinderten scheint mir tatsächlich weitgehend in der übertriebenen Furcht vor der angeblich größeren Neigung dieser Kranken zu Gewalttaten zu finden zu sein. Genauere Untersuchungen beweisen das Gegenteil. Es spricht sehr viel dafür, daß der Anteil psychisch Kranker an den Rechtsbrechern geringer ist als der nicht psychisch Kranker. Abwertung und negatives Vorurteil gegenüber den psychisch Kranken sind Zeichen der mangelhaften Information und der humanitären Unreife einer Gesellschaft.Die Auswirkungen der knapp skizzierten negativen Einstellung weiter Teile der Bevölkerung den geistig Behinderten gegenüber sind für die Kranken selbst katastrophal. Ihr an sich schon — durch die Krankheit bedingt — gestörtes Verhältnis zur Umwelt wird durch die feindliche Reaktion dieser Umwelt noch verstärkt, wo es doch gerade darauf ankommen muß, die Kranken zu befähigen, einen ihnen entsprechenden Platz in dieser Umwelt einzunehmen. Ohne ein entscheidendes Umdenken in der Öffentlichkeit wird es auch den Ärzten mit den modernsten Heilmethoden, mit den besten Pflegern, Sozialarbeitern, Psychologen, Soziologen und Psychotherapeuten kaum gelingen, diesen Circulus vitiosus zu durchbrechen. Der Abbau von Intoleranz und Vorurteilen gegenüber den geistig Behinderten erfordert den Einsatz aller im öffentlichen Leben verantwortlich Tätigen. Das war für unsere Fraktion ein wesentlicher Grund für diese Initiative. Denn sogenannte Schlüsselpersonen in der Bevölkerung, die dieseEinstellung in der Öffentlichkeit abbauen helfen, sind in einer Demokratie schließlich auch — wenn nicht vorrangig — Politiker.Vielleicht wäre in diesem Zusammenhang zu überlegen, den Begriff des psychisch Kranken durch den des geistig Behinderten zu ersetzen, ganz einfach deshalb, weil der geistig Behinderte eher die Bereitschaft und die Zuwendung seiner Mitmenschen aktiviert, während der Kranke nach allgemeiner Auffassung nur vom Arzt geheilt werden kann. Die Behinderung eines Menschen aktiviert den nicht Behinderten. Das sollte man vielleicht im Begriff zum Ausdruck bringen. Der nicht Behinderte, die gesamte Bevölkerung muß wesentlich dazu beitragen, daß die Resozialisierung des geistig Behinderten gelingt. Diese Resozialisierung ist nur durch die Mitarbeit des nicht Behinderten zu erreichen.Zur Größenordnung des Problems darf ich noch einige Zahlen nennen. Wie vorhin schon gesagt, bedürfen etwa 10 bis 12 % der Gesamtbevölkerung einer irgendwie gearteten ärztlichen psychiatrischen Versorgung. 1 % der Gesamtbevölkerung etwa leidet an Schizophrenie, 0,2 bis 0,5 % an anderen Psychosen. Die übrigen 9 bis 10% psychischer Leiden in der Durchschnittsbevölkerung verteilen sich auf die sogenannten kleineren psychischen Erkrankungen wie schwerere Psychoneurosen, Charakterstörungen, psychosomatische Erkrankungen, Süchte usw.Was die Behandlungsbedürftigkeit betrifft, ergab sich bei allen einschlägigen Untersuchungen, daß etwa 10% aller psychisch Gestörten einer psychiatrischen Hospitalisierung bedürfen, also eines längeren oder kürzeren Aufenhalts in einem Psychiatrischen Krankenhaus. Zirka 50 % benötigen eine wie auch immer geartete ambulante psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. Die restlichen 40 % können, geeignete Ausbildung und Kenntnis des praktischen Arztes vorausgesetzt, hier die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit erwarten.Bei einer Tagung .der Weltgesundheitsorganisation im vergangenen Jahr hat sich gezeigt, daß es noch nicht einmal genaue Daten über die gegenwärtige Situation der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik gibt. Die von uns zusammengetragenen Zahlen beruhen auf Einzeluntersuchungen. Sie erlauben. jedoch weder ein umfassendes Bild über die gegenwärtige Situation noch geben sie die Möglichkeit, die entsprechenden Konsequenzen zur Verbesserung der allgemeinen Situation und zur Modernisierung zu ziehen.Wir haben deshalb im ersten Teil unseres Antrages eine umfassende Untersuchung über die psychiatrisch-psychohygienische Versorgung beantragt und einen Bericht bis zum 31. März 1971 für möglich erachtet. Ob man an diesem Datum wird festhalten können, mögen Beratungen im zuständigen Ausschuß ergeben. Ich bezweifle es.Es besteht heute unter den führenden Psychiatern der Bundesrepublik Übereinstimmung darüber, daß eine umfassende Analyse die Voraussetzung für einen Gesamtplan ist und daß ohne einen
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2266 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Picardsolchen Gesamtplan für die Reform der Psychiatrie in der Bundesrepublik eine umfassende Verbesserung nicht zu erreichen ist. Diese Erkenntnis beruht auf Erfahrungen in verschiedenen anderen Ländern, in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Großbritannien, in den skandinavischen Ländern, in Frankreich, in der Sowjetunion und in weiteren Ländern. Wir sind uns darüber klar, daß der Bund nur in Zusammenarbeit mit den Ländern zu einer umfassenden Analyse, wie auch zu einem darauf basierenden Plan kommen kann.Der von uns vorgelegte Plan wurde eingehend mit Psychiatern aus dem wissenschaftlichen und dem klinischen Bereich sowie aus der Verwaltung diskutiert. Wir sind der Auffassung, daß tatsächlich die in ihm aufgeführten Punkte einer eingehenden Untersuchung bedürfen. Besondere Problembereiche sehen wir bei den psychisch Alterskranken und bei den psychisch kranken Rechtsbrechern. Hier erinnere ich an das Problem der sogenannten festen Häuser. Denken Sie daran, daß wir in der Bundesrepublik hin und wieder unter dem Vorwand, daß Rechtsbrecher sich in psychiatrischen Einrichtungen befinden, viel mehr geschlossene Anstalten haben als in anderen Ländern. Etwa 25 bis über 75 % psychisch Kranker befinden sich in der Bundesrepublik in geschlossenen Abteilungen; in Großbritannien sind es weniger als 3 %. Meine Damen und Herren, dort kommen auch nicht mehr Menschen durch psychisch Kranke ums Leben. Im Gegenteil, es sind doch Ausnahmefälle, daß so etwas passiert. Diese Furcht ist völlig unbegründet.Ich darf also noch einmal darauf verweisen, daß wir bei den psychisch kranken Rechtsbrechern ein besonderes Problem sehen, bei den Oligophrenen ebenfalls.Hervorzuheben, glauben wir, ist das Problem der Jugendpsychiatrie. Es ist heute kaum möglich, in den Psychiatrischen Landeskrankenhäusern eigene jugendpsychiatrische Abteilungen in hinreichender Zahl vorzufinden oder gar eigenständige jugendpsychiatrische Einrichtungen, wie wir sie nach dem drängenden Bedarf benötigen.Die stationären Dienste für psychisch Kranke sind der tragende Pfeiler des psychiatrischen Versorgungswesens. Deshalb und wegen der großenteils überalterten Struktur der Psychiatrischen Krankenhäuser bedürfen diese Einrichtungen einer genaueren Untersuchung. Die Wirksamkeit der Versorgung hängt nicht nur von allgemeinen Bettenquantitäten, sondern wegen der rehabilitativen Erfolgsergebnisse in der Psychiatrie ganz besonders auch von der geographischen Verteilung ab. Denken Sie daran, daß Aufnahmebezirke für Großstädte in unserem Lande ein Großkrankenhaus umfassen, das dann 60, 70, 80 km weit weg liegt. Wie wollen Sie dann die notwendige ständige Berührung mit der gewohnten Umgebung bewerkstelligen? Das ist einfach nicht zu schaffen.Die Untersuchung der Aufnahmebezirke, der Aufnahme- und Entlassungsströme muß zeigen, ob und in welchem Umfang geographische Zonen unterversorgt sind und durch die isolierte Lage der Krankenhäuser eine sinnvolle Resozialisierung nicht mehr erreicht werden kann. Aus dieser Analyse ergeben sich u. a. auch Anhaltspunkte für die Planung einer zweckmäßigen Verteilung gemeindenaher Behandlungszentren. Dazu werde ich im folgenden noch einiges ausführen müssen.Es kann überhaupt nicht bezweifelt werden, daß die Hauptschwierigkeiten der Psychiatrischen Krankenhäuser zum allergrößten Teil im Personalsektor zu suchen sind. Das betrifft nicht nur die Quantität, die Fehlstellen also, sondern vor allem die Probleme der Einstellung, der Ausbildung, des Nachwuchses auf allen Sektoren des therapeutischen Personals. Gerade auf diesem Gebiet müssen neue Wege beschritten werden, wenn es nicht zu einer Austrocknung und Stagnation kommen soll. Es hat z. B. Jahre gedauert, meine Damen und Herren, bis die erste Einrichtung, die eine sozial-psychiatrische Zusatzausbildung für Schwestern und Pflegepersonal gewährt, ihre staatliche Anerkennung gefunden hat. Bis heute wird eine solche Zusatzausbildung in der Tarifordnung noch nicht besonders honoriert. In Heidelberg wird eine solche Zusatzausbildung seit acht Jahren praktiziert, ohne staatliche Anerkennung, ohne daß die in zwei Jahren Zusatzausbildung gewonnenen notwendigen Erkenntnisse der therapeutischen Behandlung psychisch Kranker in der Honorierung irgendwie berücksichtigt würden, zumindest nicht in der Tarifordnung. Wie sollen also die qualifizierten Psychotherapeuten, die qualifizierten Schwestern und Pfleger zur Entstehung einer therapeutischen Atmosphäre beitragen, der Hauptvoraussetzung einer Modernisierung unseres psychiatrischen Krankenhauswesens und der verbesserten Resozialisierungs- und Rehabilitationsmaßnahmen, wenn keine Ausbildungsstätten vorhanden sind oder wenn Menschen, die sich einer solchen Ausbildung unterzogen haben, finanziell nicht adäquat bezahlt werden?Aus der von uns beantragten Untersuchung wird die Notwendigkeit einer viel rascheren, umfassenderen, nachdrücklichen Verbesserung der Personalsituation ersichtlich werden. Die Untersuchung wird sich der wissenschaftlichen Aktivität der psyiatrischen Universitätskliniken zuwenden und feststellen müssen, daß in den psychiatrischen Krankenhäusern, obwohl ja in ihnen die überwiegende Mehrzahl der Patienten versorgt wird, so gut wie keine wissenschaftliche Arbeit und Forschung geleistet werden kann. So kommt immer wieder die Frage auf, ob und in welcher Weise die Wissenschaft in diesen Einrichtungen angesiedelt werden könnte. Das ist deshalb ungeheuer wichtig, weil die psychiatrischen Krankenhäuser über eine Gruppe von Patienten verfügen, die den Kliniken fehlen und einer wissenschaftlichen Bearbeitung überhaupt entzogen werden. Die Untersuchung wird auf diesem Gebiet eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, insbesondere aber Verbesserungsvorschläge zu durchdenken und vorzubringen haben.Die scharfe Trennung zwischen Universität und sogenannter Anstaltspsychiatrie wird mit Recht als unbefriedigend und unhaltbar empfunden. Sie muß unter allen Umständen überwunden werden; dazu kann die Untersuchung beitragen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970 2267
PicardIn Punkt 2 unseres Antrages sind die nichtstationären Dienste aufgeführt, die im wesentlichen die Träger der Resozialisierung und Rehabilitation des geistig Behinderten sind und die, wenn sie in hinreichender Zahl vorhanden und funktionsfähig sind, in vielen Fällen - darauf kommt es ganz besonders an, meine Damen und Herren! — eine Hospitalisierung des Kranken überhaupt vermeiden. Hier liegt der Schwerpunkt einer modernen Psychiatrie, ein Schwerpunkt, den es in der deutschen Psychiatrie erst in Ansätzen gibt.Nach dem zweiten Teil unseres Antrages soll die Bundesregierung ersucht werden, umgehend im Benehmen mit den Ländern und den übrigen Trägern psychiatrischer Einrichtungen allgemein unumstrittene und für notwendig erachtete Maßnahmen zur Verbesserung der psychiatrischen Versorgung einzuleiten oder, soweit dies konkret geschehen ist, mit allem Nachdruck zu fördern. Wir sehen hier insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der Personalsituation, zur strukturellen Änderung der psychiatrischen Landeskrankenhäuser und zur Gründung und Förderung weiterer Einrichtungen der Sozialtherapie und der Rehabilitation, wie sie in Modellformen bestehen und sich sehr bewährt haben. Hierüber glauben wir einen Bericht bis zum 31. Dezember 1970 deshalb erwarten zu können, weil in diesen drei Bereichen die auch in der Bundesrepublik bisher vorgenommenen Untersuchungen und Feststellungen weitgehend zu übereinstimmenden Auffassungen geführt haben.Friedrich Panse führt in seinem im Jahre 1964 erschienenen Standardwerk für den gesamten Problembereich „Das psychiatrische Krankenhauswesen" zur sozialtherapeutischen Schlüsselstellung des Pflegepersonals folgendes aus — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren — —
Herr Kollege, da Sie gerade mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren wollen, muß ich Sie doch noch einmal auf den Wortlaut des § 37 der Geschäftsordnung aufmerksam machen, der vorsieht, daß beim Präsidenten im Wortlaut vorbereitete Reden mit Angabe von Gründen angemeldet werden müssen und der Präsident in die Verlesung einwilligen muß.
Herr Präsident, ich bitte nachträglich um die Genehmigung, mich mehr, als ich das üblicherweise tue, an das Konzept zu halten, weil es für mich, der ich ja kein Psychiater bin, sonst schwierig wäre, die von mir zusammengetragenen Fakten so flüssig hier vorzutragen.
Einverstanden! Bitte sehr!
Danke. Ich zitiere also:Die große Bedeutung, die gerade das Pflegepersonal für die psychiatrischen Patienten und deren Wohlbefinden hat, ist genauer ins Auge zu fassen. Während in einem allgemeinen Krankenhaus mit kurzer Verweildauer und intensiven diagnostisch-therapeutischen Maßnahmen der Chefarzt und der Stationsarzt in der Sicht des Patienten meist jedoch die dominierende Rolle spielt, ist das bei der längeren, nicht selten jahre- und lebenslangen Verweildauer in einem psychiatrischen Krankenhaus anders... . Vom Verhalten des Pflegepersonals hängen aber weitgehend die Stimmungen des Alltags, die menschlichen Kontaktmöglichkeiten und die Befriedigung des Aussprachebedürfnisses für den Patienten ab. Dieser Alltag besteht . . . aus den übrigen 23 Stunden . . ., in denen mindestens der durchschnittliche Patient keinen persönlichen Kontakt mit dem Arzt oder seinen besuchenden Angehörigen hat, sondern auf sich selbst, auf die Mitkranken und eben auf die für ihn in dieser langen Zeit so überaus wichtigen Pflegekräfte angewiesen, man könnte auch sagen: ihnen ausgeliefert ist.Wir messen deshalb sofortigen Maßnahmen zur Verbesserung der Personalsituation eine besondere Bedeutung bei. Das betrifft einmal die Ausbildung der Ärzte in dem Fach Psychiatrie; diesem Fach muß im Lehrplan eine größere Bedeutung gegeben werden. Der psychotherapeutische und psychiatrische Unterricht im Medizinstudium ist unseres Erachtens erheblich zu intensivieren, was nur auf dem Wege über die Studienreform gelingen mag. Es ist weiter notwendig, der Psychiatrie als Prüfungsfach ein größeres Gewicht beizumessen, als das bisher geschieht. Die postgraduierte Ausbildung für die psychiatrische Facharztlaufbahn muß diejenigen Grundkenntnisse in Psychodynamik, Sozialpsychologie, Gruppendynamik und den psychotherapeutischen Techniken vermitteln, die erforderlich sind, eine moderne, sozialpsychiatrische Therapie überhaupt anwenden zu können. Deshalb müssen Ausbildungsstätten mit geeigneten Universitätslehrern vorhanden sein. Wir haben sie nicht in genügender Zahl. Es ist hier zu überlegen, ob wir mit Stipendien, auch mit Auslandsstipendien, wesentlich helfen können.In den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Struktur und zum Ausbau der medizinischen Forschungs- und Ausbildungsstätten wird eine Auffächerung der Psychiatrie mit Schwerpunkten bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie und bei der Gereatrie verlangt. Diese Empfehlungen stammen aus dem Jahre 1968. Wir sind der Auffassung, daß sie schleunigst zu verwirklichen sind. In den Ausbildungsgang der jungen Ärzte — ich weiß nicht, ob das inzwischen überall geschehen ist; es gibt teilweise diese Praxis — muß ein Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus eingeführt werden, damit auch der praktische Arzt, auch der Arzt an anderen Disziplinen eine hinreichende Kenntnis von der Psychiatrie erhält.Die notwendige Modernisierung bestehender psychiatrischer Krankenhäuser wird allgemein anerkannt. Auch die erforderlichen strukturellen Änderungen sind im Grunde unbestritten. So ist die Umstrukturierung der psychiatrischen Behandlung und Fürsorge nach modernen Maßstäben und Mög-
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2268 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Picardlichkeiten heute klar sichtbar. Das läßt sich am besten durch zwei Stichworte bezeichnen: einmal Dezentralisierung, zum anderen Rekommunisierung. Dezentralisierung will besagen, daß die weit abgelegenen, in der Regel übergroßen Anstalten zwischen 1000 und 3000 — in einem Fall sogar darüber hinausgehend Plätzen aufgegliedert werden in kleinere Einheiten zwischen 250, 300 bis bestenfalls 600 Einheiten und an den Rand der Städte, in die Ballungszentren, in die dicht besiedelten Gebiete oder gar in die Städte hineinkommen. Rekommunisierung will besagen, daß diese kleineren Einheiten statt der weit abgelegenen Mammutkrankenhäuser in den Städten selbst mit der Gesellschaft in ständigem Kontakt arbeiten. Die Amerikaner nennen diese Einrichtung Community Mental Health Centers. Das sind Einrichtungen, die in der gewohnten, üblichen, normalen Umgebung des Menschen angesiedelt sind und hier arbeiten.Die der Nachsorge dienenden halbstationären und nichtstationären Einrichtungen bilden den Kern der Sozialisierung und Rehabilitation der psychisch Kranken überhaupt. Es ist bis heute mangels Zuständigkeit und mangels Abgrenzungsmöglichkeit zwischen den verschiedenen Trägern ungeheuer schwierig, weitgehend überhaupt unmöglich, selbst wenn der Versuch nachdrücklich gemacht wird, eine hinreichende Vor- und Nachsorge zu gewährleisten.Für zukunftsweisend halten wir die Vorstellung, an allgemeinen Krankenhäusern psychiatrische Abteilungen zu bilden,
weil auf diese Weise am allerbesten die Zurückführung der Psychiatrie in die allgemeine Medizin und die Resozialisierung des betreffenden Kranken gelingen kann.
— Herr Kollege Dr. Martin, da Sie Psychiater sind, ist das eine Bemerkung, die mich besonders freut, weil ich es einfach für einen Nachteil halte, weniger eigentlich für den Arzt — das mag auch sein — als für den Patienten, daß zwischen Psychiatern und Medizinern anderer Disziplinen eine so große Kluft besteht. In einem allgemeinen Krankenhaus mit einer psychiatrischen Abteilung können Sie sowohl dem psychisch Kranken wie dem körperlich Kranken helfen — körperliche Krankheiten gehen ja in der Regel mit psychischen Störungen einher; entweder wird das eine vom andern oder das andere vom einen verursacht —, weil beide eine optimale ärztliche Versorgung erfahren. Solche Abteilungen arbeiten auch viel billiger, weil die notwendigen technischen und sonstigen Einrichtungen, diagnostischen Einrichtungen und Behandlungseinrichtungen, auch dem psychisch Kranken zur Verfügung stehen. Eine Errichtung von Großkrankenhäusern, wie wir sie auch heute noch wieder vorfinden, ist geradezu ein Anachronismus.Die Psychiatrie ist aus .dem Stadium der Bewahrmedizin längst in das Stadium der Behandlungsmedizin übergetreten. Die Erkenntnis, daß psychischeStörungen sehr weitgehend durch die Einflüsse der Gesellschaft, der nächsten Umgebung, der Familie, der Gruppe, mit der der Mensch arbeitet, mitverursacht werden, hat dazu geführt, daß wir heute der Auffassung sind, daß Sozialpsychiatrie der Kernpunkt der Psychiatrie überhaupt ist. Die gegenwärtige Situation der Psychiatrie erfordert einfach eine verstärkte sozialpsychiatrische Zuwendung, weil nur auf diese Weise eine Basis für alles weitere, nämlich ein menschenwürdiges Umgehen mit psychisch Kranken geschaffen werden kann. Daraus ergeben sich natürlich weitreichende Konsequenzen, sowohl für den Bereich der Gesellschaft als auch für den Aufbau und die Struktur der psychiatrischen Krankenhäuser.Im Bereich der Gesellschaft liegt beispielsweise die Therapie gestörter Familien, die Beratung von Institutionen, die mit psychisch Kranken befaßt sind, der psychiatrische Notfalldienst, der Menschen in aktuellen psychischen Belastungen und Situationen Rat und Hilfe anbietet. Hier gehört z. B. die Telefonseelsorge hin, hier gehören Erziehungsberatungsstellen hin. Von der Diagnose her gesehen liegen hier die leichteren psychischen Störungen, beispielsweise Neurosen oder depressive Verstimmungen, die Energie und soziale Anpassung des Kranken erheblich beeinträchtigen. Die Sozialpsychiatrie hat quasi eine Brückenfunktion zwischen dem Krankenhaus und der freien Gesellschaft, die sie natürlich nur erfüllen kann, wenn .die Lebensbedingungen innerhalb des Krankenhauses denen in der gegenwärtigen Gesellschaft mindestens ähnlich, möglichst angeglichen sind. Diese Brücke wird dargestellt durch eine differenzierte extramurale Kette von Diensten, wie wir sie brauchen, um die Brücke einmal zu den ärztlichen Praxen, zum anderen zu den großen Krankenhäusern zu bilden. Es ist notwendig, Teilhospitalisierungseinrichtungen, wie Tag- und Nachtkliniken, Patientenklubs usw., zu schaffen, die mit spezifischer Indikationstherapie beschützende soziale Maßnahmen anbieten und wo eine Vollhospitalisierung vermieden werden kann, damit der geistig Behinderte gar nicht erst aus der Gesellschaft herausgenommen werden muß, sondern in ihr verbleiben kann und daher auch die Schwierigkeiten, wieder zurückzufinden, nicht erst zu überwinden hat.Der zweite Schwerpunkt liegt natürlich im psychiatrischen Krankenhaus. Das soziale Milieu, das der Kranke während seines Krankenhausaufenthalts vorfindet, hat für Verlauf und Ausgang der Krankheit sowie für die Rehabilitationschancen eine ausschlaggebende Bedeutung. Allein der lange Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus führt oft zu einer Verminderung der sozialen Aktivität und Flexibilität, so daß man diesen spezifischen Hospitalismus mit dem Begriff der sozialen Verkrüppelung belegt hat. Das ist sicher ein hartes Wort, aber wer psychiatrische Großkrankenhäuser kennt, insbesondere solche, wo länger Hospitalisierte verweilen, der weiß, daß sich in solchen Abteilungen oder gar Krankenhäusern eine eigene, von der übrigen Gesellschaft unterschiedliche Subkultur entwickelt, die die Resozialisierung und Rehabilitation weitgehend erschwert.
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PicardDem will die Sozialpsychiatrie vorbeugen. In einer aufgeschlossenen und verständnisvollen Umwelt können psychisch Kranke z. B. in vielen Fällen ganz zu Hause behandelt werden. Aber auch von den klinisch Behandelten kann ein sehr großer Teil schon nach vier oder zwölf Wochen wieder entlassen werden. Wenn der Kranke dann in eine Umwelt zurückkehrt, die nicht bereit ist, ihn aufzunehmen, sondern ihn vielleicht sogar erkennbar ablehnt, kommt es zu dem sogenannten Drehtüreffekt. Er kommt wieder zurück, und das Spiel wiederholt sich. Die Resozialisierung, die Wiedereingliederung und die Rehabilitation werden auf diese Weise einfach unmöglich gemacht.Lassen Sie mich noch etwas zu der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sagen. Nach der jetzt bestehenden Kompetenzverteilung im Gesundheitswesen ist es dem Bund durchaus möglich, sowohl Einrichtungen der Sozialtherapie wie auch Einrichtungen der Rehabilitation — ich denke z. B. an die Bundesanstalt in Nürnberg — zu finanzieren und Modelleinrichtungen zu schaffen, die die Zielvorstellungen der modernen Sozialpsychiatrie als Ansporn und Beispiel der Öffentlichkeit darlegen. In den meisten Kulturnationen entspricht die sozialpsychiatrische Praxis weitgehend den modernen theoretischen Erkenntnissen. Bei uns ist das noch lange nicht der Fall. Überall war Voraussetzung ein Gesamtplan, der einheitliche Überlegungen enthielt. Wir glauben, daß wir auch in der Bundesrepublik ohne einen solchen Gesamtplan nicht vorankommen.Neben den erheblichen finanziellen Aufwendungen gibt es die uns bekannten Kompetenzschwierigkeiten, die auf Grund des föderalistischen Systems der Bundesrepublik hinderlich sein können. Wir glauben, daß solche verfassungsrechtlichen Kompetenzschwierigkeiten durch die Bereitschaft zur Kooperation, die wir bei den Ländern ebenso erwarten, wie wir sie beim Bund voraussetzen und selbst praktizieren wollen, überwunden werden können. Wir stehen am Anfang einer langen, schwierigen, aber letzten Endes, so hoffen wir, fruchtbaren und erfolgreichen Entwicklung.Die Diskussion, die wir heute begonnen haben, ist zu vergleichen mit dem Beginn der Diskussion um hochschulpolitische, kulturpolitische, bildungspolitische Fragen, für die der Bund auch einmal keine Zuständigkeit hatte. Ich glaube aber, auf diesem Bereich hat die Kooperation zwischen Bund und Ländern nicht nur zur Finanzreform, sondern schon lange davor zu einer wesentlichen Zusammenarbeit geführt.Zur weiteren Behandlung schlagen wir die Verweisung des Antrags an den Gesundheitsausschuß vor und sind weiterhin der Auffassung, daß in diesem Ausschuß eine Anhörung von Psychiatern aus dem Bereich der psychiatrischen Landeskrankenhäuser, der Universitätskliniken und aus der Verwaltung vorgenommen werden sollte, um die Untersuchung abzugrenzen, zum zweiten, um die Möglichkeiten der personellen Zusammensetzung einer Kommission zu erörtern, die diese Untersuchung nur vornehmen kann.Die Zahl der geistig Behinderten in unserer Gesellschaft, die Schwere ihres Schicksals, die Möglichkeiten der Besserung dieses Schicksals, noch weitgehend unausgenutzt, rechtfertigen eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema im Deutschen Bundestag. Wir hoffen auf eine vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit zwischen den drei Fraktionen und mit dem zuständigen Ministerium und glauben, daß wir heute den Beginn für eine fruchtbare Entwicklung setzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nach dieser sehr eingehenden Begründung des vorliegenden Antrags durch Herrn Kollegen Picard noch einige grundsätzliche Ausführungen hinzufügen. Ich werde mich etwas knapper fassen und aus meinem Konzept einiges streichen. Ich glaube, daß wir später Gelegenheit haben werden — —
Herr Kollege, Ihr Hinweis auf Ihr Konzept gibt mir Veranlassung, noch einmal auf den § 37 der Geschäftsordnung hinzuweisen, wonach der Präsident in die Verlesung vorbereiteter Reden einwilligen muß.
Die Bundesregierung versuchte in der 5. Legislaturperiode, den Art. 74 Nr. 19 des Grundgesetzes dahin gehend zu ändern, daß eine größere Kompetenz bei der Behandlung psychischer Erkrankungen erreicht wurde. Sie ging davon aus, daß das Leben in der heutigen Gesellschaft die Menschen oft über die Grenzen des Zumutbaren hinaus strapaziert, so daß es zu einer Zunahme psychischer Störungen kommen muß. In der Diskussion um dieses Problem stellte sie für die Gesundheitspolitik folgende Aufgaben heraus — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten wörtlich —:Im Rahmen der allgemeinen Psychohygiene soll die Öffentlichkeit über psychische Leiden aufgeklärt werden. Vorurteile gegenüber psychisch Kranken und psychiatrischen Einrichtungen müssen abgebaut werden. Das gegenseitige Verständnis für emotionale Probleme und die Hilfsbereitschaft auch bei sozial abweichendem Verhalten sind zu fördern. In die allgemeine, präventiv wirksame Hygiene sind die Familien-, Ehe- und Erziehungsberatung und die schulpflegerischen und verwandten Einrichtungen einzubeziehen. Die präventive psychiatrische Frühbehandlung sollte intensiviert werden, um bereits im Konfliktstadium zu verhindern, daß seelische Fehlhaltungen entstehen oder seelische Leiden chronisch werden. Das setzt eine weitere Förderung der Behandlungsbereit-
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Dr. Schmidt
schaft, eine Vermehrung des speziell ausgebildeten Personals in geeigneten Einrichtungen voraus.Ich darf hier herausstellen, meine Damen und Herren, daß wir unter psychischen Erkrankungen und Leiden nicht nur die klassischen Erkrankungen der Schizophrenie und des manisch-depressiven Irreseins ansprechen dürfen — und das ist sehr wesentlich, erwähnt zu werden —, sondern ebenfalls alle Psychosen, von denen ich die Schwangerschaftspsychose und die Alterspsychose nennen möchte, nicht zu vergessen die psychosomatischen Erkrankungen, die sich bekanntlich 2u jeder Zeit einstellen können, die Charakterstörungen und -veränderungen und vor allen Dingen jenes welt verzweigte Gebiet der Neurosen jedweder Ätiologie.Wir wissen, daß in der Bundesrepublik insgesamt etwa 10 bis 12 % der Bevölkerung einer psychiatrischen Betreuung bedarf; das wurde von meinem Vorredner erwähnt und ist auch wert, ganz klar herausgestellt zu werden. Eine statistische Erhebung des Jahres 1963 in unserem größten Bundesland Nordrhein-Westfalen ergab eine Behandlungsziffer von 34 000 Patienten, die stationär betreut werden mußten. Das macht etwa zwei Patienten auf 10 000 Einwohner.Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß für die gesamte Bundesrepublik eine Zahl zwischen 6 und 7 Millionen psychisch kranker Menschen angesprochen ist. Hierunter fällt aber auch eine Quote von 3 % Arbeitsfähiger, die keine Arbeitsleistung mehr verrichten können.Zweifellos ist sowohl in der Behandlung als auch in der Unterbringung in den Krankenhäusern auch bei uns bereits ein Wandel eingetreten. Früher wurden psychisch kranke Menschen — ich will das kurz erwähnen — am Rande der Wohnorte oder weit weg von den Städten hospitalisiert, manchmal bis zum bitteren Ende.
Erst die Schaffung neuer Psychopharmaka, die Errichtung von Rehabilitations-Sonderabteilungen in psychiatrischen Eintrichtungen und eine Verstärkung der Vor- und Fürsorgewerden eine Unterbringung vermeiden lassen oder aber eine Krankenhausentlassung — wenn überhaupt möglich — wesentlich verkürzen. Frühere Berechnungen ergaben, daß auf diesem Wege die Quote der Krankenhauseinweisung bis auf 40 % verringert werden kann.Dazu gehört jedoch, daß eine lückenlose fürsorgerische Nachbetreuung erfolgt, die eine Weitereinnahme jener Psychopharmaka gewährleistet, die vom behandelnden Arzt des Krankenhauses nach Entlassung des Patienten weiter verordnet worden sind. Das setzt wiederum voraus, daß die ärztliche Besetzung und auch die Besetzung an ärztlichem Hilfspersonal ausreichen. Die Behandlung ist jedoch auch nur da gesichert, wo Ärzte und ärztliches Hilfspersonal in modernen Einrichtungen eine genügende Bettenzahl vorfinden. Wir haben ja gehört, daß bei uns zur Zeit im Durchschnitt 1,9 Betten auf 1000 Einwohner die Regel sind. Hier müssen wir zumindest versuchen — wie das an verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen erreicht worden ist —, die Bettenzahl auf 3 bis 4 pro 1000 Einwohner zu erhöhen.Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis muß in den Krankenhäusern zur Durchführung einer individuellen Therapie günstig liegen. Von den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und des Wissenschaftsrates, ein Verhältnis 30 zu 1 herzustellen, sind wir allerdings noch weit entfernt. Die Angaben über das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Bundesrepublik divergieren sehr stark. Während von manchen Landeskrankenhäusern das Verhältnis Patient-Arzt mit 300 zu 1 angegeben wird, spricht die Arbeitsgemeinschaft der Träger psychiatrischer Krankenhäuser in der Bundesrepublik nach Erhebungen aus dem Sommer 1969 von der ungünstigsten Relation bei 125 zu 1 im Patienten-Arzt-Verhältnis. Das günstigste Verhältnis gibt sie mit 57 zu 1 an.Selbstverständlich sind diese Zahlen nicht zu verallgemeinern. Es gibt gewisse Universitätskliniken, bei denen das Verhältnis günstiger ist. Das ist selbstverständlich; ich möchte es nur noch einmal zum besseren Verständnis hervorheben. Soweit mir bekannt ist, Herr Kollege Martin, hat beispielsweise die Universitätsklinik Gießen eine Relation — oder hatte sie bis vor kurzem — von 125 zu 35; dagegen hat das Landeskrankenhaus Warstein mit 13 Ärzten 1600 Patienten zu betreuen.Neue Einrichtungen wurden, soweit mir bekannt, bei den Landeskrankenhäusern der Landschaftsverbände der Rheinprovinz und Westfalen-Lippe im Sinne von Strukturveränderungen bereits geschaffen oder sie befinden sich im weiteren Ausbau. Die Großanstalten wurden in selbständige ärztliche Funktionsbereiche aufgegliedert, wie Jugendpsychiatrie, akut und chronisch Kranke, Geriatrie und Sozialpsychiatrie. Mein Vorredner hat diese Dinge bereits vertieft. Im Rheinland stehen auch zwei Tages- und zwei Nachtkliniken mit einer Bettenzahl von 51 für die Tages- und 35 für die Nachtkliniken zur Verfügung. Auch sind seit 1964 bereits Patientenklubs geschaffen worden, die z. B. 1968 in Mülheim/Ruhr 160 Patienten und Patientinnen betreuten. Aber das alles reicht nicht aus.Jetzt kommt das, was Sie als supraregionale Förderung, Herr Picard, eben angedeutet haben, wo vielleicht eine Kompetenz des Bundes gegeben sein könnte. Als Modelleinrichtungen möchte ich beispielsweise die psychotherapeutische Klinik des Vereins „Haus für Neurosekranke" in Sonnenberg bei Stuttgart, das 1967 eröffnet und mit Bundesmitteln gefördert wurde, erwähnen, oder aber die psychosomatische Klinik in Bad Honnef, die ebenfalls eine Förderung durch den Bund erfuhr.Beachtlich und erwähnenswert sind die Veröffentlichungen, die eine viel modernere Art der Therapie anschneiden und sich nicht damit zufriedengeben, daß man nur eine Arbeitstherapie alten Stils durchführt, beispielsweise mit Kartoffelschälen, Arbeiten mit gewissen Instrumenten, mit Putzen usw., sondern diese Therapie dahingehend erweitert sehen möchten, daß innerhalb der Anstalten Sport getrieben
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Dr. Schmidt
wird und Kaffeekränzchen stattfinden. Für den Psychiater oder für einen erfahrenen Facharzt sind das sicher keine großen Neuerungen. Aber man verspricht sich davon immerhin eine Auflockerung in dem stupurösen Verhalten der Patienten, so daß sie eines Tages, wenn sie wieder im öffentlichen Leben auftreten, diesem doch ganz anders gewachsen sind.Ich habe noch etwas als Fernziel anzudeuten. Das Fernziel muß natürlich das Finden neuer Wege in der psychiatrischen Krankenhausplanung und im Krankenhausbau sein. Uns schweben da gewisse Schwerpunktkrankenhäuser vor, bei denen selbständige Abteilungen in der Größenordnung von etwa 100, 150, maximal 200 Betten geschaffen werden können. Hier handelt es sich darum, erst einmal festzustellen, ob es zentrale Schwerpunktkrankenhäuser — denn danach richtet sich die Größenordnung — oder ob es allgemeine Schwerpunktkrankenhäuser sein sollen. Die Bettenzahlen sind, wie gesagt, variabel. Ich betone das aus gewissen Gründen, die sich schon vorhin aus der Diskussion ergeben haben.Nachdem nun die Grundgesetzänderung nicht verwirklicht werden konnte — Art. 74 Nr. 19 des Grundgesetzes ist hier angesprochen —, hat das Land Nordrhein-Westfalen einen eigenen Weg .beschritten, indem es das alte Landesunterbringungsgesetz aus dem Jahre 1956 durch ein neues ersetzt hat, und zwar nicht durch ein erneuertes Landesunterbringungsgesetz mit Zwangseinweisung, sondern lediglich durch ein Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten. Dieses Gesetz, das am 1. Januar 1970 in Kraft getreten ist — ich hatte die Ehre, in der zweiten Lesung damals noch als Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen dazu etwas vorzutragen —, sieht vor- und nachgehende Hilfen vor. Ich will es nicht als des Rätsels letzte Lösung bezeichnen. Aber ich halte es doch für ein sehr modernes Gesetz, von dem man doch sagen kann, daß es die fürsorgerische Betreuung zum erstenmal in dieser starken Form herausstreicht. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich aus, diesem Gesetz die §§ 34 und 35 anführen, die das näher beleuchten.§ 34 lautet:
Aufgabe der nachgehenden Hilfe ist es, den Personen, die aus der Unterbringung oder einer sonstigen stationären psychiatrischen Behandlung entlassen wurden, durch individuelle, ärztlich geleitete Beratung und Betreuung den Übergang in das Leben außerhalb des Krankenhauses zu erleichtern.
Ist die vorläufige Entlassung nach § 30 von Auflagen über eine ärztliche Behandlung abhängig gemacht worden,
— nämlich im Krankenhaus selbst —gehört es zur Aufgabe der nachgehenden Hilfe,die Einhaltung dieser Auflagen zu überwachen.§ 35 lautet:
Die nachgehende Hilfe ist in enger Zusammenarbeit mit der Außenfürsorge von Krankenhäusern und Anstalten, in die Personen nach diesem Gesetz eingewiesen werden, durchzuführen....
In der nachgehenden Hilfe ist insbesondere nach Ablauf einer vorläufigen Entlassung die betroffene Person erforderlichenfalls über die Folgen einer Unterbrechung der notwendigen ärztlichen Behandlung eindringlich zu belehren.
Wir sind uns darüber im klaren —das ist sicherlich die Meinung aller Abgeordneten dieses Hohen Hauses; ich fasse mich jetzt etwas kürzer, weil nur noch wenige Kolleginnen und Kollegen hier sind —, daß wir dies alles nur als den zarten Beginn einer Umgestaltung in der psychiatrischen Betreuung und Behandlung auffassen können. Was wäre eigentlich ein Versuch auf diesem Gebiet, wenn das Verhalten der Gesellschaft gegenüber dem psychisch Kranken weiterhin mit Vorurteilen belastet bliebe? Während z. B. physisch kranke Patienten, die geheilt sind, wieder ihren Platz in der Gemeinschaft finden, die berufliche und gesellschaftliche Wiedereinordnung erfahren — und das ist gottlob eine Selbstverständlichkeit —, denkt leider ein Großteil unserer Gesellschaft im Hinblick auf den einmal psychisch erkrankten, aber wiederhergestellten Personenkreis gerade konträr. Es ist notwendig, hier eine breitere, bessere und intensivere Aufklärung der Öffentlichkeit durchzuführen, damit jedem klar wird, daß der psychisch Kranke genau dieselben Rechte, wie der physisch Kranke besitzt und daß auch seine Erkrankung heilbar oder so weit durchaus besserungsfähig ist, daß er am täglichen Leben wieder teilnehmen kann. Der Öffentlichkeit erwächst die Verpflichtung, das endlich einzusehen und zu berücksichtigen. Wir verpflichten uns hier gerne, dabei zu helfen.Ich schließe mich im übrigen dem Vorschlag des Ältestenrates an, der vorsieht, den Antrag zur weiteren Diskussion und Vertiefung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. Ich glaube, daß in diesem Ausschuß noch grundlegende Diskussionen stattfinden werden.
Herr Kollege Dr. Schmidt, wenn ich recht unterrichtet bin, war das ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie dazu.
Meine Damen und Herren, als nächstem Redner gebe ich dem Herrn Abgeordneten Krall das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier namens der Fraktion der Freien Demokraten erklären, daß wir es dankbar begrüßen, daß dieses komplexe Thema heute in dieser Ausführlichkeit in diesem Hohen Hause besprochen wird. Ich habe den Ausführungen meiner verehrten Herren Vorredner, die sich in aller Ausführlichkeit mit diesem Problem befaßt haben, nichts Wissenschaftliches mehr hinzuzufügen. Ich spreche auch nicht als Arzt; in meinem persönlichen Bekanntenkreis gibt es aber viele psychisch kranke Men-
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Krallschen. Daher möchte ich hier auf ein besonderes Kriterium hinweisen, das in dieser Debatte noch nicht angesprochen wurde, nämlich die Frage der Früherkennung psychischer Erkrankungen. Ich bin sicher, daß es derzeit noch eine große Dunkelziffer psychisch kranker Menschen gibt, die, wie ich weiß, von Arzt zu Arzt laufen, um sich behandeln zu lassen, weil sie durch Sekundärerscheinungen auch tatsächlich Beschwerden aufzuweisen haben. Diese Menschen wissen im Grunde nicht um ihre Krankheit.Bedauerlicherweise ist es nach meinen Erfahrungen auch so, daß sehr viele Mediziner nicht die ausreichende moderne Ausbildung haben, um diese komplexen Krankheitserscheinungen gleich zu erkennen. Ich wäre dankbar, wenn die Frage der Weiterbildung der Ärzte auf dem Gebiet der Psychoanalyse im Hinblick auf Früherkennung psychischer Erkrankungen — in dem zuständigen Ausschuß besprochen würde. Ich werde die mir in diesem Punkt vorliegenden Erkenntnisse gerne mitteilen und dazu noch einiges mehr sagen.
Meine Damen und Herren, auch Herr Kollege Krall hat zum erstenmal in diesem Hause gesprochen. Ich beglückwünsche Sie dazu und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute.
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will wirklich nur ganz kurz etwas sagen, weil es einfach mißverstanden werden müßte, wenn sich der zuständige Minister zu dieser ohne Zweifel sehr wichtigen Sache nicht äußern würde.
Ich bitte aber um Verständnis dafür, daß ich es tatsächlich ganz kurz mache; denn ich bin der Auffassung, wir werden unter Zuziehung der Sachverständigen sicher sehr viel Gelegenheit haben und auch nehmen müssen, dieses Problem im Ausschuß gründlich zu beraten. Wir werden uns dabei vor allen Dingen auch des Sachverstands der Wissenschaftler und der auf diesem Gebiet praktisch Tätigen bedienen.Aber aussprechen muß ich, obwohl es Herr Kollege Picard schon sehr eingehend gesagt hat, daß die Situation der psychisch Kranken in unserer Gesellschaft völlig unbefriedigend ist, daß sie praktisch Stiefkinder der Gesellschaft sind, und zwar sowohl bezüglich der Beurteilung ihrer Krankheit durch die gesunden Menschen als auch bezüglich der Möglichkeiten der Behandlung und der sozialen Wiedereingliederung.Die psychiatrische Versorgung hat bei uns mit der modernen Entwicklung der Psychiatrie nicht Schritt gehalten. Das gilt für die stationäre Behandlung, die zum großen Teil veraltet ist, das gilt auch bezüglich des Strukturwandels, z. B. der Entwicklung der immer noch vorhandenen Mammuteinrichtungen
zu Einrichtungen mit selbständigen Funktionsbereichen usw. Das gilt — ich unterstütze das voll -auch dafür, daß eine völlige Neuplanung dringend nötig ist, insbesondere auch im Bereich der halboffenen und offenen Betreuung, also durch Tag-undNacht-Kliniken, Patientenklubs und all das mehr, was mein Kollege Schmidt schon angesprochen hat. Ich bin auch wie Sie der Meinung, daß an die Stelle des polizeilichen Unterbringungsdenkens, der Idee, daß man die anderen vor den psychisch Kranken schützen müsse, die Fürsorge für die psychisch Kranken und auch vorbeugende Maßnahmen treten müssen.Gestatten Sie mir, noch darauf hinzuweisen — wie es Kollege Schmidt schon getan hat —, daß die Bundesregierung im Jahre 1968 und ich als Gesundheitsminister für die Bundesregierung die beantragte Grundgesetzänderung — Zuständigkeit für die Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten — u. a. damit begründet haben — das steht in der Drucksache V/3515 —, wie dringend eine Reform der Gesundheitshilfe für psychisch Kranke ist, daß wir aber durch den Mangel an Zuständigkeit daran gehindert sind, z. B. den gesetzlichen Weg zu beschreiten; wir wollten ja ein Gesetz zur Hilfe für psychisch Kranke vorbereiten.Herr Martin und Herr Dr. Jungmann, ich sehe Sie hier so sitzen. Wir hatten uns alle vorgenommen, diese Debatte ohne Polemik zu führen. Aber ganz unschuldig sind Sie nicht daran, daß wir diese Zuständigkeit nicht bekommen haben. Ich erinnere an die Zwischenrufe und auch an das Gespräch zwischen Ihnen und mir in bezug auf meine damalige Begründung. Aber das ist vorbei, und das läßt sich im Augenblick, so meine ich, auch nicht zurückholen.Ich betone aber ganz deutlich, daß ich jede Aktion begrüße, die zu einer Besserung der Situation führt, und insofern eben auch diese. Ich habe vorhin schon dem Kollegen Picard gesagt: allerdings müssen wir sehen, daß wir jetzt nicht die Hoffnung erwecken: „Übermorgen wird das alles besser". Denn eine Analyse der Lage und daraus Schlußfolgerungen für die notwendigen Maßnahmen sind noch keine Verbesserung. Es ist eben nur eine Enquete. Allerdings ist eine Enquete auch immer eine Initialzündung für Maßnahmen. Die Bundesregierung ist sehr gerne bereit, diese Enquete durchzuführen. Allerdings brauchen wir dazu — das haben Sie auch schon betont, Herr Picard, die Mitwirkung der Länder, weil sie zuständig sind, und vor allen Dingen die Mitarbeit der Fachkräfte und der wissenschaftlichen Welt.Der Fragenkatalog — gestatten Sie mir, das zu sagen, damit man das von vornherein weiß — ist so umfassend und er kann noch umfassender werden, das nehme ich fast an, wenn wir uns mit den Sachverständigen unterhalten. Wir sind der Auffassung, daß die Erstellung der Enquete eine viel längere Zeit beansprucht, so daß der von Ihnen
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Bundesminister Frau Strobelangegebene Termin keinesfalls eingehalten werden kann. Aber auch darüber werden wir im Ausschuß beraten.Es kommt sowohl wie für die Enquete als auch für die gesamte Zusammenarbeit des Bundes mit den Ländern in der Gesundheitspolitik sehr darauf an, daß wir ein gutes Klima zwischen den Ländern und dem Bund, zwischen den Ländergesundheitsministern und dem Bundesgesundheitsminister haben. Wir haben das, meine ich, erreicht; das kann ich betont sagen. Aber weil das so ist, möchte ich auch nicht gern, daß die Länder hier auf der Anklagebank sitzen. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, daß — das hat Herr Kollege Schmidt auch gesagt — es mindestens schon gute Ansätze gibt, und zwar einmal durch das Gesetz in Nordrhein-Westfalen, von dem ich hoffe, daß es möglichst bald möglichst viele Länder mindestens in seiner Tendenz nachmachen. Wir haben auch nichts dagegen, wenn es die anderen Länder noch besser machen.. Vor allen Dingen liegt mir auch daran, darauf aufmerksam zu machen, daß gerade im Land Nordrhein-Westfalen in den Landschaftsverbänden schon wesentliche Strukturänderungen angesprochen und begonnen sind. Herr Kollege Schmidt hat sie erwähnt; ich brauche das nicht zu wiederholen.Die Bereitstellung von Betten in psychiatrischen Krankenhäusern ist Ländersache. Aber ich habe ein bißchen die Hoffnung, daß, wenn der Bund sich jetzt nach der Finanzreform auch an der Erstellung der Universitätskliniken zu 50 % beteiligen kann, über diesen Weg mindestens im Bereich der Universitätskliniken mehr geschehen kann. Ich hoffe auch — wenn es uns gelingt —, daß über die Beteiligung des Bundes an der Krankenhausfinanzierung, an den Investitionen,
zwar nicht in erster Linie die psychiatrischen Krankenhäuser einbezogen, aber, wenn die Länder auf der anderen Seite entlastet werden, dann dafür auch Mittel freigemacht werden.Der Bund kann nur Modellkliniken fördern, die überregional tätig sind. Er kann es auch nur im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten. Es liegt einfach im Sinne des Modells, daß man nicht zehn solcher Modelle machen kann, sondern nur eines. Herr Kollege Schmidt hat auf die zwei letzten, die wir fördern, bereits hingewiesen.Ich glaube, daß mit das drückendste und das am schwierigsten zu lösende Problem der Personalmangel ist. Das gilt nicht allein für die psychiatrischen Kliniken.. Das gilt für das Pflegepersonal für alle Kliniken. Ich bin nach wie vor der Auffassung — es hat darüber ja Beratungen, angeregt durch das Arbeitsministerium, gegeben —, daß der Personalmangel generell auf diesem Gebiet nur zu beheben ist, wenn diese Berufe höher eingestuft werden und wenn ihre Arbeitsbedingungen wesentlich verbessert werden, wenn sie also nicht nur durch die Ausbildung im Prestige gehoben, sondern wenn sie auch besser ausgestattet werden, so daß vor allenDingen auch für männliche Berufstätige ein viel größerer Anreiz geboten wird, in diese Berufe zu gehen.Wir bemühen uns, nachdem wir eine größere Zuständigkeit nicht erreicht haben, darum, im Wege des kooperativen Föderalismus auch auf diesem Gebiet Verbesserungen zu erzielen. Nächste Woche findet wieder eine Gesundheitsministerkonferenz statt. Wir beraten in den Gesundheitsministerkonferenzen über alle diese Themen zusammen mit den Ländern, insbesondere über diejenigen Probleme, für die nach wie vor allein die Länder zuständig sind.Nun haben Sie, Herr Picard, gesagt, in der Bundesrepublik gebe es im Gegensatz zu anderen Staaten leider keine Übersicht, und Sie haben das als einen besonderen Mangel bezeichnet. Wir müssen feststellen, daß wir in der Bundesrepublik keine Krankheitsstatistik haben. Wir haben sehr große Schwierigkeiten — das wissen besonders Sie, Herr Jungmann, Herr Martin und Herr Schmidt als Ärzte —, wenn wir irgendwo auch nur in die Nähe einer Meldepflicht kommen wollen. Wir haben lediglich eine Anstaltsstatistik. Es gibt auch nicht unerhebliche und gewichtige Argumente gegen eine Meldepflicht, weil wir sie bei anderen Krankheiten ebenfalls nicht haben. Ich meine, es muß uns allen daran gelegen sein, daß die psychisch Kranken nicht als besondere Kranke gelten, sondern es sind Kranke wie die physisch Kranken auch.
Nur bei dieser Betrachtung werden wir einen Wandel in der öffentlichen Meinung erreichen.Die Bundesregierung hat sich ein Aktionsprogramm für die Rehabilitation Behinderter vorgenommen, und ich hoffe, daß wir die geistig Behinderten und die psychisch Gefährdeten in dieses Rehabilitationsprogramm einbeziehen können, so wie es durch das Sozialhilfegesetz gelungen ist, ihre Gleichstellung mit den körperlich Behinderten zu erreichen. Ich denke, daß wir auch von daher gesehen etwas mehr tun können.Die Hoffnung, Herr Picard, daß der Bund, der früher, obwohl er nicht zuständig war, den Universitäten geholfen hat, eine solche Hilfe auch für den Bereich der psychiatrischen Versorgung unserer Bevölkerung gewähren könnte, habe ich, wie ich ehrlich sagen muß, nicht. Ziel der Finanzreform war nämlich, zu einer klaren Trennung bei der Finanzierung bestimmter Aufgaben zu kommen. Gegen Mischfinanzierungen wenden sich die Länder nach der Finanzreform noch mehr als vorher, weil gerade das durch die Finanzreform bereinigt werden sollte. Ich wollte ,das nur sagen, damit hier nicht Hoffnungen geweckt werden, die im Grunde nicht erfüllbar sind.Generell würde ich folgendes sagen. Bund, Länder und freie Wohlfahrtsverbände, die auf diesem Gebiet auch sehr viel tun, und wir alle hier im Bundestag müssen zusammenwirken, um den psychisch Kranken und psychisch Gefährdeten zu helfen. Die richtige Überschrift über diesem Problem,
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2274 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. April 1970
Bundesminister Frau Strobelgerichtet an die deutsche Öffentlichkeit, wäre eigentlich: Jeder sollte davon ausgehen, daß ihn ein solches Schicksal morgen selbst treffen könnte.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Martin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich sehr kurz fassen. Ich möchte zunächst dem Bundesgesundheitsminister ein Wort des Dankes und auch der Anerkennung sagen. Die Art und Weise, wie sie sich in ein solches Thema eingearbeitet, und die Behendigkeit, mit der sie die Intentionen dieses Antrags begriffen hat, finde ich erstaunlich. Ich möchte bei der Gelegenheit noch sagen, es war wohltuend, daß sich der Fraktionsvorsitzende der SPD die Sache mit offensichtlichem Interesse und offensichtlicher Zuneigung angehört hat.
Ich will nur einige Anmerkungen machen, weil das in der Begründung nicht enthalten ist. Wir haben das Ganze unter uns etwas aufgeteilt. Man muß heute davon ausgehen, daß sich die moderne Psychiatrie spezialisiert. Es gibt zunächst einmal die Tendenz, in die Ausbildung die Neurologie von der Psychiatrie abzutrennen, was ich für verhängnisvoll halte. Wir kommen nicht darum herum, eine eigene Sozialpsychiatrie und vor allem Jugendpsychiatrie zu treiben. Dazu möchte ich etwas sagen, weil ich das in politischer Hinsicht für bedeutsam halte.
Wir müssen davon ausgehen, daß es in einer modernen Gesellschaft eine immer größere Anzahl von Kindern gibt, die spezieller Hilfe bedürfen. Tragischerweise hängt das mit den Fortschritten der Medizin zusammen. Die Kinder, die nach einer Meningitis oder nach einer Enzephalitis wieder gesund werden, heilen meistens mit Defekt ab, mit Verhaltensschwierigkeiten, mit gestörten Entwicklungen. Das sind Kinder, die man früher einfach in Kinderheime gebracht hat. Man hat motorische Unruhe mit Zappelei verwechselt, extrapyramidale Störungen mit Unerzogenheit verwechselt Wir wissen heute, daß bei etwa 60 % der Kinder, die an Verhaltensstörungen leiden, im Grunde genommen frühkindliche Hirnschäden vorliegen. Mit anderen Worten, wir brauchen speziell vorgebildete Ärzte und Pflegepersonal für diese Kinder. Die dürfen wir nicht einfach in Heime stecken und dort der Hilfe ermangeln lassen, die sie eigentlich brauchen.
Es gibt gegenwärtig in Deutschland drei Ordinariate für Jugendspychiatrie, in Frankfurt, in Hamburg und in Marburg, und es gibt in der ganzen Bundesrepublik 15 habilitierte Jugendpsychiater. Ich will das jetzt hier nicht kritisieren. Ich halte das für einen guten Anfang. Ich möchte nur bitten, daß wir die Notwendigkeit von Jugendpsychiatrie und von jugendpsychiatrischen Einrichtungen jeder Art jetzt in die Betrachtung mit einbeziehen.
Ich möchte das noch in einem Zug fortführen und sagen: Wir können uns eigentlich pädagogische Heime einfach nicht mehr leisten. Nach den Befunden, die wir haben, müssen Kinderheime im Grunde heilpädagogische Heime sein, in denen sich Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Soziologen zusammentun, um hier zu helfen.
Ich möchte zweitens noch einmal auf die Notwendigkeit der Erziehungsberatungsstellen und der Früherkennung hinweisen. Wir haben in der Bundesrepublik 400 Erziehungsberatungsstellen. Das macht auf 200 000 Menschen eine Beratungsstelle. Tatsächlich brauchen wir einen Schlüssel von 1 : 50 000. Es gehört mit zu der Reform der psychiatrischen Versorgung, daß wir hier helfen. Ich kündige hier an, daß wir in irgendeiner Form ein Gesetz einbringen werden — vielleicht als Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes —, das die Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen zur Pflichtaufgabe macht und sie nicht dem Ermessen einiger Leute überläßt.
Das ist eigentlich das Wesentliche, was ich sagen wollte. Ich möchte .nur noch eines hinzufügen, was hier dauernd angeklungen ist. Wir wissen eine ganze Menge über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Zukunft und wissen auch etwas darüber, wie sich die Menschen entwickeln werden. Wir wissen ziemlich genau, daß sich Angst, Einsamkeit und Aggression in der modernen Gesellschaft ständig vermehren werden. Die Gesellschaft muß sich darauf einstellen, daß immer mehr Menschen der ärztlichen Seelsorge bedürfen; ich will hier lieber einmal diesen Ausdruck benutzen.
— Ich würde ihn nicht ausschließen, gnädige Frau.
Worauf es uns bei dem ganzen Antrag ankommt, meine Damen und Herren, ist, daß wir, wenn wir Städte bauen, Landschaften gestalten, Wohnungen entwerfen, Organisationen bedenken, auch an diesen Grundtatbestand denken, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern daß seine Seele ein Sein in der Welt ist und daß die Politik allen Anlaß hat, dafür zu sorgen, daß die Psychiatrie aus den Anstaltsmauern herauskommt. Die Sorge um den Menschen muß ein Grundbestand unserer politischen Überlegungen überhaupt werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Koenig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeit der Schlangengruben ist vorbei. Die Psychiatrie hat neben den anderen medizinischen Fachdisziplinen eine grundsätzlich gleichwertige Stellung erhalten. Die medikamentöse Behandlung, die Verhaltenstherapie, deren Methoden auf exakten Experimenten beruhen, und die Soziotherapie haben seelische Erkrankungen heilbar gemacht oder wesentlich gebessert.Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Abs. 2 das Recht auf Leben und körperliche Unver-
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Koenigsehrtheit. Wenn die Bundesregierung aufgefordert wird, eine Enquete über die Situation der Psychiatrie in der Bundesrepublik zu erstellen, kann dies nur unter diesen Gesichtspunkten geschehen. Das heißt, zwei Forderungen müssen im Vordergrund stehen, erstens die Herausführung aus der Krankheit, zweitens die Hereinführung in die Gesellschaft.Der Antrag der CDU/CSU zu diesem Problembereich ist in dieser Beziehung zu knapp formuliert. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob der Fragenkatalog erweitert wenden kann, damit wir uns auch die Erfahrungen des Auslandes auf diesem Gebiet voll und ganz nutzbar machen.Außerdem geht es um die Prioritätensetzung, ohne die man keine Organisationsformen, auch im Bereich der Psychiatrie, wirksam werden lassen kann. Z. B. muß der Untersuchung über die stationären Dienste für psychisch Kranke die Frage vorangestellt werden, wie groß psychiatrische Krankenhäuser sein müssen, um einen optimalen therapeutischen Effekt zu erhalten. Der Erlaß zum Mental-HealthGesetz in den USA von 1955 sprach sich ,erstmals deutlich für einen .Abbau der Riesenanstalten aus, die in den USA bis zu diesem Zeitpunkt bis zu 12 000 Betten umfaßten. Auch in der Bundesrepublik gibt es noch zu viele große Krankenhäuser, um nicht zu sagen: Mammutkrankenhäuser in diesem Bereich. Außerdem muß die Frage geklärt werden, ob psychisch kranke Rechtsbrecher nach § 42 b StGB und Oligophrene nicht ausschließlich in für sie bestimmte Krankenhäusern unterzubringen sind. Kleinere Krankenhäuser bedeuten aber auch ein Mehr an Krankenhäusern.Hinzu kommt, daß die Patientenzahl in den psychiatrischen Krankenhäusern steigen, in den Landeskrankenhäusern des Landschaftsverbands Rheinland z. B. von 9527 im Jahre 1956 auf 11 810 im Jahre 1969. Das bedeutet also ein Anwachsen um rund 25 %. In der Bundesrepublik stehen für 100 000 Einwohner 176 Betten zur Verfügung, während in den USA für die gleiche Einwohnerzahl 450 Betten und in Schweden 420 Betten vorhanden sind. Dabei muß man berücksichtigen, daß in den verschiedenen Industrieländern die errechneten Promille-Bedarfszahlen psychiatrischer Krankenhausbetten unterschiedlich sind. So führt hier auch Schweden mit einer Promille-Bedarfszahl von 4,2 .vor den USA mit 4,0, während die Bundesrepublik lediglich eine Bettenzahl mit 1,9 Promille angibt.Auch hier muß die Planung vor allem dem zu erwartenden Bedarfsanstieg gerecht werden. Die Untersuchung muß hier die echte Bedarfsziffer feststellen, da wegen einer fehlenden Krankenstatistik in der Bundesrepublik diese Zahl schwer zu ermitteln ist. Die Kenntnis der Bedarfsziffer sichert aber erst eine dem Problem adäquate Planung. Mit geschätzten 10 %o ist da wenig anzufangen, um so mehr, als nicht alle in diesen 10 %o befindlichen Kranken einer stationären Behandlung bedürfen.Ein weiteres wesentliches Problem ist das des Arzt-Patienten-Schlüssels. In Dänemark kommt auf 46 Patienten ein Arzt, in Schweden auf 54 einer, beim Landschaftsverband Rheinland auf 80 einer, in der Bundesrepublik insgesamt auf 125 einer und nicht, wie es, glaube ich, wohl irrtümlich in der Begründung des vorliegenden Antrages steht, auf 300 ein Arzt. Die Planungen für eine Verbesserung dieser Situation können nur langfristig sein, da mehr psychiatrische Fachärzte ausgebildet werden müssen. Im übrigen muß man auch an eine Erweiterung des Pflegepersonals denken.Für die stationären Dienste ist in Ergänzung zum Antrag der CDU/CSU zu fordern, daß die Errichtung von Aufnahme- und auch von Rehabilitationskliniken besonders geprüft wird. Die Aufnahmekliniken müssen ein Höchstmaß an diagnostischen Möglichkeiten bieten, um falsche oder ungerechte Einweisungen zu vermeiden, dies um so mehr, als das Gesetz für Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten des Landes Nordrhein-Westfalen im Interesse des Patienten eine bessere Erfassung über die Gesundheitsämter regelt. Professor Kulenkampff vom Düsseldorfer Landeskrankenhaus führte auf einem Kongreß aus, daß die Hälfte der Patienten der Landeskrankenhäuser entlassen werden könnte, wenn die Gesellschaft bereit wäre, sie zu integrieren, also bereit wäre, ihr Mißtrauen, ihre Angst, ihre Abwehr dem psychisch Kranken gegenüber zu überwinden.Die Rehabilitationskliniken, im Ausland schon sehr erprobt, bilden hier die Zwischenstation zwischen Krankenhaus und Gesellschaft. Diesem Rehabilitationsdienst muß ein Resozialisierungsdienst angefügt werden. Das heißt: Allein mit der Errichtung von Nacht- und Tageskliniken, von Halbtags- und Wochenendkliniken, von Walk-in-Departments in Großstadtkliniken ist es hier nicht getan. Vor allen Dingen müssen in einem Resozialisierungsdienst die zukünftigen Kontaktpersonen der psychisch Kranken miterfaßt werden. Das sind insbesondere die künftigen Arbeitskollegen, Fürsorgerinnen, Sozialarbeiter, Lehrer und Pfarrer. Nur so kann die Intervention zur Rehabilitation und Resozialisierung fortgesetzt werden. Diese Forderung nach Erfassung und Untersuchung der Resozialisierungsdienste vermisse ich in dem Katalog der CDU über die nichtstationären offenen Dienste.Meine Damen und Herren, in Punkt 4 des vorliegenden Antrags vermisse ich unter den Problembereichen, die im besonderen einer Untersuchung zu unterziehen hier gefordert wird, zwei Bereiche, die eigentlich in steigendem Maße Beachtung finden müßten, nämlich einmal die Gruppe der jugendlichen psychisch Kranken und zum zweiten die Suchtkranken. Herr Kollege Martin hat dankenswerterweise auf den einen Bereich hier aufmerksam gemacht, nur vermisse ich ihn im Antrag. Ich glaube, daß wir in der Ausschußberatung diesem Problem die nötige Aufmerksamkeit werden zuwenden können.
In unserem sich komplizierenden Gesellschaftssystem müssen wir, meine Damen und Herren, wie hier festgestellt wurde, mit einer steigenden Zahl von psychisch Auffälligen rechnen. Die sensiblen Naturen und hier vor allem die Jugendlichen sind diesen Belastungen im besonderen Maße ausgesetzt,
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Koenigdie immer häufiger zu echten psychischen Erkrankungen führen können. Diese Erkrankungen sind mehr und mehr auf soziale Einflüsse zurückzuführen und somit ein soziales Phänomen. Aus diesem Grunde muß die Jugendpsychiatrie in den anzustellenden Untersuchungen besonders berücksichtigt werden.
Zu den Suchtkranken! Zum Beispiel hat sich die Zahl der Alkoholkranken in den Rheinischen Landeskrankenhäusern von 1962 bis 1965 — also in vier Jahren — fast verdoppelt, nämlich von 302 auf 571. Auch die zu beobachtende steigende Einnahme von Rauschmitteln in den Industriestaaten, vor allen Dingen bei den Jugendlichen, bedarf einer genauen Untersuchung. Mit Verdammungsurteilen allein ist hier überhaupt nichts zu erreichen. Ebenso nützt es wenig, nun nach rigoroseren polizeilichen Maßnahmen zu rufen. Die Untersuchung sollte sich vor allem auch mit der Erarbeitung einer sinnvollen und sachgerechten Aufklärung der Öffentlichkeit befassen. Der steigende Konsum des im Anfangsstadium relativ ungefährlichen Haschischs stellt uns vor die Frage, inwieweit Haschischgenuß nur eine Übergangsstufe zu weit gefährlicheren Rauschmitteln darstellt.Meine Damen und Herren, in einer Welt, die für den einzelnen immer schwieriger zu überschauen ist, in der die technischen, automatisierten und programmierten Abläufe unserer Zeit mehr und mehr das Geschehen bestimmen, wird es für den einzelnen ständig schwerer, sich in seiner Umwelt und in der Gesellschaft insgesamt zu behaupten. Die Psychiatrie wird in besonderem Maße die Aufgabe haben, auf diese Herausforderungen unserer Zeit an die menschliche Gesundheit mit eine Antwort zu geben. Wir müssen ihr dabei helfen, damit die psychisch Kranken aus ihrer schrecklichen Isolation gelöst werden.
Meine Damen und Herren, ich darf in Ihrem Namen Herrn Kollegen Koenig die herzlichen Glückwünsche zu seiner ersten Rede in diesem Hohen Hause sagen.
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege von Thadden.von Thadden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist eine gute Stunde, auch wenn wir nur noch wenige sind, die hier zusammen ausharren, denn sie macht nach zwei Tagen, in denen wir miteinander oft sehr hart gerungen haben, deutlich, daß es Augenblicke gibt, in denen Demokraten zusammengehören, weil sie von einer gemeinsamen Sorge umgetrieben werden.In den wenigen Minuten möchte ich Ihnen als Vater eines Kindes, das geistig behindert ist, ein paar Gedanken nahebringen, von denen ich hoffe, daß sie in die Öffentlichkeit ausstrahlen. Das ist zunächst einmal die Sorge, die Christliche Demokraten, Sozialdemokraten und Freie Demokraten verbindet, daß wir am Ausgang eines Jahrhunderts so wenig über die Aufgaben wissen, die wir gegenüber dem geistig Behinderten zu bewältigen haben.Muß es uns nicht alle umtreiben — nicht nur uns, die wir jetzt noch hier sind —, daß wir beispielsweise immer noch nicht wissen, wie hoch die Zahl der Kinder ist, die mit frühkindlichen Hirnschäden geboren werden? Wir hören eine Ziffer etwa von 5000. Andere Fachleute sagen uns: nein, 12 000. Wieder andere sagen: 15 000 sind es. Muß uns das nicht umtreiben?Muß es uns nicht zu denken geben, ob wir aus christlichen Motiven heraus sprechen oder ob wir einer anderen Weltanschauung anhängen, wenn beispielsweise das Zweite Deutsche Fernsehen sich so viel Mühe gibt, während eigentlich hier doch zunächst wir selbst, wir, die wir uns so gern draußen im Lande als Volksvertreter titulieren lassen, gefragt und gefordert sind? Müßte nicht doch mancher, der hier jetzt nicht dabei ist, sich fragen, was von seinen Versprechungen draußen im Lande zu halten ist, mit denen er sagt, er wolle sich der Ärmsten annehmen? Sind nicht gerade diejenigen, die geistig behindert sind, in erster Linie zu denen zu rechnen, die im Schatten unserer modernen Gesellschaft leben? Und muß es uns nicht beunruhigen, ob wir Ärzte sind oder ob wir Laien sind, wenn eine Untersuchung in Baden-Württemberg ergeben hat, daß ein Fünftel aller Untersuchten sanatoriumsreif ist, darunter doch ohne Zweifel eine Anzahl von Menschen, die auch für psychische Behandlung reif geworden sind?Können wir daran in unserem Bundestag vorübergehen, wo wir andererseits sehr viel Zeit für die Forderungen großer und mächtiger Interessenverbände aufwenden? Ich bin sicher, ohne den Verbänden zu nahe treten zu wollen, wenn die verschiedenen Fronten hier auftreten, wenn die Gewerkschaften oder was immer Sie nennen wollen, mit ihren z. T. sicher wichtigen Forderungen auf uns zukommen, sagt mancher: Jetzt gehöre ich hierher, hier muß meine Stimme gehört werden! Aber daneben gibt es .die Stimme derer, die sich nur sehr schwach vernehmbar machen können.Darum möchte ich dem Bundestag einen Vorschlag unterbreiten, einen Vorschlag, der offen ist für jede Korrektur und Verbesserung und der weiß Gott nicht darauf abzielt, daß hier parteipolitisch Propaganda gemacht wird. Denn bei psychisch Kranken ist ja wenig mit Werben um Wählergunst gewonnen; da müßte man sich ja doch wohl andere Themen aussuchen. Der Vorschlag, den ich Ihnen machen möchte, ist, daß wir uns einmal im Jahr dazu aufraffen und über solche Gruppen der Bevölkerung — und dazu gehören in erster Linie unsere psychisch Kranken und manche andere der Gruppen der Schwerbehinderten — in diesem Bundestag konkret sprechen, beispielsweise in der Form, daß zunächst einmal am Vormittag Sachinformationen gegeben werden und daß wir dann im Bundestag Gedankengänge vorlegen, was wir tun können, um einen Schritt weiterzukommen. Und dann kommen all die verehrten Fachleute, deren Wissen ich als Laie be-
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von Thaddenwundere und die wir eben gehört haben, auf uns zu, und sie werden uns manches anzubieten haben, Änderungen etwa der Reichsversicherungsordnung oder den Appell, mitzumachen bei einer Aktion, die jetzt starten soll, die Aktion für psychisch Kranke, die die Öffentlichkeit aufrütteln soll, oder andere Dinge, auf die ich jetzt wegen der vorgeschrittenen Zeit nicht eingehen möchte. Dann könnten wir an diesem Tage hinausgehen aus diesem Saal in dem Bewußtsein, wirklich Volksvertreter gewesen zu sein und von uns den Verdacht weggestoßen zu haben, als würden wir nur immer dort hinschielen, wo uns der größte Beifall entgegenschallen kann.Lassen Sie mich damit enden, daß ich einmal denen danke, die tagaus tagein den schweren Dienst an unseren psychisch Kranken leisten, und daß ich Ihnen für Ihre Geduld danke, mit der Sie mir noch zugehört haben. Das ist eine Tugend, die Geduld, der wir gerade im Zusammenhang mit diesen Ärmsten besonders bedürfen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Jungmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist deutlich geworden, daß diese Diskussion keine im Grunde genommen nicht hierhergehörige Fachdiskussion über ein Wissenschaftsgebiet der Psychiatrie ist, sondern daß es sich hier tatsächlich um ein eminent politisches Problem handelt.
— Herr Hauck, Sie haben vollkommen recht.
Es ist meine Hoffnung — wenn ich das als amtierender Präsident sagen darf —, daß der Wunsch nach einer fachgerechten Sachaussage in dieser Aussprache den Widerhall in der Öffentlichkeit für dieses doch sehr erregende Thema nicht zurückdrängt. Wir können nur hoffen, daß das nicht geschieht.
Von diesem Gedangang haben sich die Initiatoren leiten lassen. Es hätte auch heißen können „Situation der psychisch Kranken in der Bundesrepublik". Es war eigentlich das Gefühl einer gewissen Zurückhaltung gegenüber diesem Personenkreis und der Tatsache, daß es sich um das Verhältnis der Gesellschaft — im wesentlichen unter dem Begriff „Psychiatrie" zusammengefaßt — zu diesen Menschen handelt und hier nicht etwa eine billige Effekthascherei angestrebt ist.Ich möchte am Schluß dieser Aussprache auf eine Personengruppe aufmerksam machen, die zwar immer erwähnt worden ist, die aber doch auch in dieser politischen Aussage etwas eingehender erwähnt zu werden verdient: das sind die alten Menschen. Das ist übrigens auch einer der Gründe, die abseits aller Zuständigkeitsfragen die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik betreffen und uns nicht nur berechtigen, sondern geradezu verpflichten, uns mit ,diesen Fragen zu beschäftigen. Wir wissen — ich will hier gar keine Zahlen nennen —, daß der Anteil alter Menschen in unserer Gesellschaft immer mehr zunimmt. Leider ist es nicht so, daß auch die Lebenskraft und Jugendlichkeit in gleichem Maße zunehmen, obwohl manche Leute sich das wünschen.Es ist doch so, daß ein sehr großer Teil dieser alten Menschen in einem seelischen und gesellschaftlichen Zustand lebt, der geradezu zu seelischen Störungen Veranlassung gibt. Ich meine die Vereinsamung der alten Menschen mitten in unserer Gesellschaft. Es ist hier nicht der Ort, Vorwürfe zu erheben, ,obwohl das in mancher Hinsicht gerechtfertigt wäre. Es handelt sich um den Vorwurf, daß sich die Familien und die Gesellschaft nicht in der nötigen Weise um die alten Menschen kümmern. Es liegt in der Natur der Entwicklung, z. B. in der Mobilität ,der Industriegesellschaft, daß dies zum Teil gar nicht möglich ist. Ich will trotzdem die Feststellung nicht unterdrücken, daß sich viele in der Familie ihren menschlichen Verpflichtungen nur allzu leicht entziehen oder meinen, sie könnten dieser Aufgabe nicht mehr gerecht werden.Aber darum handelt es sich hier gar nicht. Ich will auch nicht über die Psychiatrie der alten Menschen sprechen, sondern ich will sagen, daß das Altwerden in einer so großen Zahl in unserer Gesellschaft auch ein erhebliches Problem für die Psychiatrie darstellt. Es ist nicht allein ein Problem der Anstaltspsychiatrie — obwohl es da einen besonderen Aspekt gibt —, sondern es ist ein Problem in dem Sinne, daß wir mitten in unserer Gesellschaft für die alten Menschen die richtigen Lebensbedingungen zu schaffen nicht in der Lage waren.Es ist z. B. ein Problem der Altenwohnungen, die nicht den Charakter eines Altenghettos annehmen dürfen, wie es allzu leicht und immer wieder der Fall ist, und der Altenheime, die derselben Tendenz folgen. Es muß das, was unzählige Menschen immerzu fordern, was in der Wirklichkeit aber nicht genügend realisiert wird, erreicht werden, nämlich daß die alten Menschen mitten in der Gesellschaft leben, um nicht weiter zu vereinsamen. Diese Vereinsamung findet in Altenheimen ihre zum Teil trostlose Ausprägung. Diese Altenheime sind in der besten Absicht gestaltet, aber sie können vielfach ihren Aufgaben gar nicht gerecht werden. Sie können ihren Aufgaben auch gar nicht gerecht werden, weil es eben eine nahezu unlösbare Aufgabe ist, eine große Anzahl von alten Leuten — nun benutze ich ausdrücklich einen etwas häßlichen Ausdruck — zu kasernieren. Man sollte nicht glauben, daß man den alten Menschen damit ein ihnen angemessenes Leben verschaffen könnte.Das Allerschlimmste aber ist die Endstation: das Landeskrankenhaus. Wenn ein psychisch Alterierter, also ein nicht im engeren, strengen Sinne Kranker, sondern einfach ein alter Mensch, der in seinen Lebensfunktionen so eingeschränkt ist, daß er sich nicht mehr in jeder Hinsicht selbst helfen kann, erst einmal in einem Landeskrankenhaus, in einer dieser großen Krankenanstalten für psychisch Kranke, ge-
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Dr. Jungmannlandet ist, obendrein noch in einer geschlossenen Abteilung, dann kommt er da praktisch nie wieder heraus. Und das ist eine geradezu entsetzlich ausweglose Situation.Die Öffentlichkeit weiß das ganz genau, aber sie schaut nur allzu gerne weg. Und wie viele Familien, die das auch wissen oder doch wissen müßten, finden sich achselzuckend in dieses trostlose Schicksal! Die alten Leute werden zu psychisch Kranken gemacht, obwohl sie es eigentlich gar nicht sind. Und das sind nicht einige wenige, sondern das sind viele Tausende.
Ich glaube, diese Diskussion wäre unvollständig gewesen, wenn ich nicht auf diesen Personenkreis hingewiesen hätte.
Wir werden uns dann im Ausschuß mehr mit den fachlichen Fragen zu beschäftigen haben. Hier war es wesentlich, auch der Öffentlichkeit zu zeigen, daß der Deutsche Bundestag bereit ist, sich mit solchen Fragen, die nicht im herkömmlichen Sinne als politisch gelten, zu beschäftigen.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. — Ich stelle allseitiges Einverständnis fest.
Wir stehen am Ende der heutigen Plenarsitzung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch, den 22. April 1970, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.