Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Die folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister für Verkehr hat am 24. Februar 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Katzer, Dr. Burgbacher, Mick, Dr. Pinger, Vogt und Genossen betr. Schließung des Bundesbahn-Ausbesserungswerkes Köln-Nippes — Drucksache VI/367 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/449 verteilt.
Meine Damen und Herren, nach 'einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um die
Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft 'über die von der Bundesregierung beschlossene Verordnung zur Änderung des Deutschen TeilZolltarifs (Nr. 3/70 — Zollkontingent für Sulfat- oder Natronzellstoff)
— Drucksachen VI/278, VI/450 — Berichterstatter: Abgeordneter Lenders
Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Erweiterung der Tagesordnung beschlossen. Ich schlage Ihnen vor, daß wir den Punkt sofort erledigen. — Ich höre auch hier keinen Widerspruch.
Ich danke dem Abgeordneten Lenders als Berichterstatter für seinen Schriftlichen Bericht. Wird das Wort gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wer dem Ausschußantrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Punkt XXII der gemeinsamen Tagesordnung auf:
1. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
— Drucksache VI/279 —
a) Bericht ,des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache VI/452 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Jenninger
b) Schriftlicher Bericht .des Innenausschusses
— Drucksachen VI/420 —, zu VI/420 — Berichterstatter: Abgeordneter Berger
2. Zweite Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes über die Erhöhung von Dienst- und Versorgungsbezügen
C
— Drucksache VI/131 —
Schriftlicher Bericht des Innenausschusses
— Drucksachen VI/420 —, zu VI/420 — Berichterstatter: Abgeordneter Berger
3. Beratung des Schriftlichen Berichts des Innenausschusses über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU
betr. Beamtenbesoldung
— Drucksachen VI/130, VI/420 —, zu VI/420 —Berichterstatter: Abgeordneter Berger
Ich danke den Berichterstattern, den Abgeordneten Dr. Jenninger und Berger, für ihre Berichte. — Das Wort hat als Berichterstatter der Abgeordnete Berger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur um eine Druckfehlerberichtigung bitten. In der Drucksache VI/420 sind auf Seite 5 im Art. 3 § 1 Abs. 3 in der vierten Zeile ,die Worte „§ 1 Abs. 6" durch die Worte „§ 2 Abs. 6" zu ersetzen.
Ich danke für die Berichtigung. Die berichtigte Fassung wird der Beratung zugrunde gelegt.
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1686 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Vizepräsident Dr. JaegerEs ist interfraktionell vereinbart, daß in diesem Falle ausnahmsweise bereits in der zweiten Beratung die allgemeine Aussprache stattfindet. Ich eröffne sie hiermit. — Das Wort hat der Abgeordnete Wagner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der dem Hause heute vorliegende Ausschußantrag beruht auf der Regierungsvorlage eines Gesetzes zur Erhöhung der Besoldung und auf den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwürfen eines 6. Besoldungserhöhungsgesetzes und eines Ersuchens an die Bundesregierung, betimmte weitere Maßnahmen zu ergreifen. Um das Schicksal dieser drei miteinander verknüpften Vorlagen deutlich zu machen, sind einige Bemerkungen angebracht.Erstens. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Regierungsentwurf zu, weil die darin vorgesehene lineare Anpassung von 80/o auch nach ihrer Auffassung der voraussehbaren wirtschaftlichen Entwicklung im Jahr 1970 hinreichend Rechnung trägt. Die von der CDU/CSU beantragte lineare Erhöhung — wir haben ja bekanntlich eine Erhöhung um 12 % beantragt — sollte, wie wir mehrfach ausdrücklich erklärt haben, zur Beseitigung eines Teils des anerkannten Besoldungsrückstandes dienen. Bei der Begründung unseres Antrags haben wir seinerzeit ausdrücklich eingeräumt, daß der Abbau des Rückstandes auch durch Gewährung vermögenswirksamer Leistungen erfolgen könne. Im Hinblick auf die konjunkturelle Lage erscheint uns dies geboten.Die Regierung hat in der Zwischenzeit über den Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung vermögenswirksamer Leistungen Beschluß gefaßt. Wir hoffen, daß dieser Gesetzentwurf dem Parlament schon sehr bald vorliegen wird. Wir werden dann in diesem Zusammenhang unsere Forderungen auf Abbau des Besoldungsrückstandes wiederholen. Schon heute möchte ich unsere Meinung nicht verhehlen, daß die in diesem Entwurf angebotenen materiellen Leistungen kräftig angehoben werden müssen, damit wirklich ein spürbarer Abbau des Besoldungsrückstandes erfolgt.Zweitens. Der heute zur Abstimmung gestellte Entwurf enthält die Stellenplananpassungszulage. Wir sind damit natürlich voll. einverstanden, denn die gefundene Regelung entspricht der in unserem Antrag auf Drucksache VI/130 unter Nr. 2 b erhobenen Forderung. Wir begrüßen ferner, daß gleichzeitig die dienstrechtlichen Vorschriften über die Gewährung von Leistungen für nichteheliche Kinder an die Grundgedanken des neuen Nichtehelichenrechtes herangeführt werden.Drittens. Die CDU/CSU ist davon ausgegangen, daß weitere strukturelle Verbesserungen für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben werden sollten, um die schnelle Verabschiedung des heute vorliegenden Gesetzes nicht zu gefährden. Wir bedauern es aber außerordentlich, daß sich die Mehrheit im Innenausschuß gegen eine familiengerechtere Gestaltung der Besoldungserhöhungen gesperrt und unsere diesbezüglichen Anträge abgelehnt hat. Auf Grund der herrschenden Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause müssen wir nun leider das paradoxe Ergebnis hinnehmen, daß sich der effektive Besoldungsgewinn parallel zur größer werdenden Familie vermindert. Ein Beispiel dafür: Während der ledige Beamte der Besoldungsgruppe A 2, sechste Dienstaltersstufe, um 13,49 % höhere Dienstbezüge erhält, sind es bei einem Beamten mit sechs Kindern nur noch 8,28 %. Dieses Ergebnis widerspricht nach unserer Meinung den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, wo von der Abstimmung der materiellen Hilfen für die Familien die Rede war.Viertens. Die CDU/CSU-Fraktion erkennt an, daß mit dem zur Entscheidung gestellten Entwurf eine Annäherung der Ortsklassensätze S und A erreicht worden ist. Auch insoweit ist unserer in Nr. 2 a auf Drucksache VI/130 erhobenen Forderung teilweise Rechnung getragen worden. Allerdings vermag ich nicht einzusehen, warum, wie es die Regierung vorschlägt, für den Abbau der verbleibenden Differenz zwei weitere Schritte nötig sein sollen, da der Abstand in den für die überwiegende Zahl der Beamten zur Anwendung kommenden Tarifklassen I c und II, Stufe 1, heute nur noch 13 DM beträgt. Wir schlagen deshalb vor, die volle Beseitigung der Unterschiede in den Ortsklassen bei nächster Gelegenheit mit einem Schritt zu vollziehen.Meine Damen und Herren, ich sehe mich veranlaßt, zum Schluß eine Bemerkung zu den Außerungen des Kollegen Wilhelm — nachzulesen in den Informationen der sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag vom 23. Februar 1970 — zu machen. Herr Wilhelm wirft der CDU/CSU-Fraktion vor, daß sie ihren Besoldungsgesetzentwurf aus rein propagandistischen Gründen eingebracht habe. Dieser Anwurf ist aufs schärfste zurückzuweisen; er findet keine Deckung, weder in den Verhandlungen des Ausschusses noch in anderen Tatbeständen.Meine Damen und Herren, unser Entwurf ist rechtzeitig und vor dem der Regierung eingebracht worden. Ich glaube, er hat sicherlich in beachtlichem Maße zur beschleunigten Entscheidungsfindung beigetragen. Was wir mehr als die Regierung gefordert haben, bezieht sich außer den von mir erwähnten Punkten ausdrücklich auf den Abbau des Besoldungsrückstands durch vermögenswirksame Leistungen. Diese Forderung halten wir heute noch voll aufrecht. Ich wiederhole: wir werden sie im Zusammenhang mit dem Regierungsentwurf über vermögenswirksame Leistungen erneut einbringen.
Meine Damen und Herren, bei der Entscheidung über diese vermögenswirksamen Zuwendungen für die Beamten wird sich zeigen, wer es mit dem Abbau des Besoldungsrückstands ernst meint. Dabei wird sich auch zeigen, wie glaubwürdig die bisherige Kritik daran war, daß dieser Rückstand bis zur Stunde nicht angemessen beseitigt werden konnte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns liegt daran, das Besoldungserhöhungsgesetz so rasch wie möglich wirksam werden zu lassen. Wir stimmen deshalb diesem Gesetzentwurf in der Fassung
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1687
Wagner
des Innenausschusses zu. Wir stimmen weiter dem Änderungsantrag der Kollegen Dr. Schäfer, Berger und Dr. Rutschke und dem Antrag des Innenausschusses zu. Ich bitte Sie, dieser Empfehlung zu folgen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf für die Fraktion der SPD und FDP folgendes vortragen. Mit der Verabschiedung des Gesetzes werden Ausgaben in Höhe von 1,22 Milliarden DM beschlossen. Wir tun dies in einem Zeitpunkt, in dem über die Auswirkungen konsumwirksamer Maßnahmen berechtigte Überlegungen angestellt werden. Wir tun dies aber in der Überzeugung — so wie es die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung ausgedrückt hat —, „daß die Angehörigen des öffentlichen Dienstes Anspruch haben auf Teilnahme an dem allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritt".
Das Gesetz, das heute zur Verabschiedung steht, erhöht die Beamtenbesoldung nicht nur linear um 8 %, sondern durch einige Strukturmaßnahmen soll insbesondere den Beamten des einfachen und mittleren Dienstes eine wesentliche Hilfe gegeben werden. Dies erfolgt dadurch, daß beim Ortszuschlag die Tarifklasse III wegfällt. Das wirkt sich dahin gehend aus, daß ein dreißigjähriger verheirateter Beamter im einfachen Dienst durch diese Bestimmung des Gesetzes 98,90 DM im Monat mehr bekommt, wir also die angestrebte 100-Mark-Grenze im Monat ziemlich genau erreichen. Auch bei den Beamten des mittleren Dienstes beträgt die Steigerung durch diese Strukturverbesserung in der Regel mindestens 100 DM. Bei den Beamten des gehobenen Dienstes sind es entsprechend mehr, z. B. sind es bei einem dreißigjährigen Oberleutnant mit einem Kind 123 DM Verbesserung, so daß er statt 1278 DM in Zukunft 1401 DM haben wird. Mit dieser Strukturänderung des Orstklassenzuschlags haben wir einen Weg beschritten, den wir in Zukunft konsequent weitergehen werden.
Als zweite Strukturmaßnahme sieht das Gesetz den Ausgleich für die Versorgungsempfänger vor, die bislang an den Strukturverbesserungen der aktiven Beamten nicht teilgenommen haben, und zwar durch eine über die 8 % hinausgehende Verbesserung um nochmals 8 %, bei einigen Gruppen um 5 %. Dieser Nachholbedarf ist entstanden, weil die seitherigen Mehrheiten die Einbeziehung der Versorgungsempfänger in die Strukturmaßnahmen nur unvollkommen durchgeführt haben.
Es war die Frage zu entscheiden, auf die auch Herr Kollege Wagner einging, ob das Kindergeld gleichzeitig erhöht werden soll. Wir sind der Auffassung, daß die Frage des Kindergeldes nur einheitlich im Rahmen des Familienlastenausgleichs geregelt werden kann, und das war auch die Grundlage der Entscheidung im Innenausschuß.
Nun darf ich noch ein Wort zum Verhalten der Opposition sagen. Die Opposition hatte einen
Gesetzentwurf eingebracht, der 12% Erhöhung vorsah; das ist eine Erhöhung von über 500 Millionen DM, das ist rund eine halbe Milliarde DM mehr. Dieser Vorschlag ist vielleicht ganz charakteristisch für das Verhalten der Opposition in den letzten drei Monaten. Man stellt diesen Antrag; im Ausschuß gibt man sich keinerlei Mühe, diesen Antrag zu begründen; heute trägt Herr Wagner dazu vor, daß es um den Nachholbedarf gehe, wozu man sagen muß, daß dieser Nachholbedarf durch die früheren CDU-Regierungen entstanden ist.
— Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? — Bitte, gern!
Herr Abgeordneter Wagner zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Dr. Schäfer, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Aussage, daß nur ein Teil der Besoldungserhöhung für die laufende Anpassung und der 'darüber hinausgehende Teil für vermögenswirksame Leistungen zur Abtragung des Besoldungsrückstandes verwendet werden soll, bereits in der schriftlichen Begründung zu unserem Antrag enthalten war, also nicht erst heute vorgebracht wurde, und daß dies so auch in der Ausschußsitzung bereits dargestellt worden ist?
Ich nehme das nicht nur zur Kenntnis, Herr Kollege Wagner, sondern es gibt mir, da ich Ihren Antrag kenne, gerade Anlaß, zu sagen: es war offensichtlich von Ihnen nicht durchdacht,
daß dies eine Ausgabe von 1,7 Milliarden bedeuten würde.
Und wenn es von Ihnen bedacht ist, wie Sie jetzt sagen, muß ich zurückfragen: Warum haben Sie dann den Antrag hier im Plenum nicht gestellt? Warum haben Sie ihn dann im Ausschuß nicht begründet? Warum haben Sie dann nicht um Ihre Auffassung gekämpft?
Sie haben das so wenig getan, wie Sie um Ihre Anträge hier im Plenum kämpfen, die Sie im Ausschuß gestellt haben, um Ihre Anträge auf eine Änderung des Kindergeldes, die weitere 130 Millionen Mark ausgemacht hätte, so daß sich die Kosten Ihrer Anträge auf 630 Millionen Mark belaufen, nämlich auf 50% mehr, als nach Ihrer eigenen Auffassung, die Sie heute vertreten, derzeit sinnvoll beschlossen werden kann.Ich sage, das ist charakteristisch für das Verhalten der Opposition auf dem Gebiet der Finanzpolitik, und ich meine, daß wir, die Regierungsfrak-
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1688 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Dr. Schäfer
tionen, hier eindeutig klarmachen müssen, daß wir uns nicht durch solche Anträge in einer sachlichen, gerechten und nüchternen Entscheidung irgendwie beeinflussen lassen.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Berger?
Bitte schön, Herr Berger!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Würden Sie, Herr Kollege Dr. Schäfer, nicht bestätigen können, daß im Ausschuß um die restlichen 4% von uns nicht mehr gekämpft zu werden brauchte, nachdem Herr Wagner erklärt hatte, die restlichen Prozente würden bei dem Gesetz über vermögenswirksame Leistungen von der CDU/CSU gefordert werden? Und dieses Gesetz liegt ja bisher noch nicht auf dem Tisch.
Herr Berger, Sie bestätigen nur einmal mehr, daß Sie einen Gesetzentwurf eingebracht haben, der hinsichtlich dessen, was derzeit durchführbar ist, nicht durchdacht war. Das ist meine Auffassung. Sie mögen anderer Auffassung sein; ich halte es für charakteristisch für das Verhalten der Opposition.
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt etwas sagen. Wir sind der Meinung, daß man politische Entscheidungen auf dem Gebiet des öffentlichen Dienstes langfristig vorbereiten muß. Daraus erklärt sich die Form unseres Entschließungsantrages, der sich auf vier Punkte bezieht. Er bezieht sich erstens .auf die vermögenswirksamen Maßnahmen. Da greifen wir einen Antrag der CDU/CSU mit auf — Punkt 4 —, und wir erwarten, daß die Vorlage möglichst bald erfolgen wird. Die Regierung hat das ja auch zugesagt. Wir wollen darüber hinaus, daß die Regierung möglichst bald, nämlich bis zum 31. August 1970, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes vorlegt, und wir wollen, daß bis Ende des Jahres Klarheit darüber geschaffen wird, in wieweit ein Besoldungsrückstand besteht und wie dieser Besoldungsrückstand abgebaut werden kann. Es besteht daher Übereinstimmung über die Notwendigkeit der Klärung dieser Frage.
Wir von den Regierungsfraktionen meinen aber, daß es notwendig ist, sich darüber hinaus um die Entwicklung des öffentlichen Dienstes intensiv zu bemühen, und wollen deshalb die Regierung veranlassen, bis zum 31. Dezember nächsten Jahres durch eine Studienkommission die Fragen der Stellung und der Aufgaben des öffentlichen Dienstes in Staat und Gesellschaft zu untersuchen und dementsprechend Modellvorschläge zu machen. Wir wollen nicht in die gleiche Situation kommen, wie sie bei der CDU/CSU in den letzten Jahren bestanden hat, daß man eine Besoldungserhöhung und Besoldungsangleichung nur nachvollziehend hier beschließt, sondern wir wollen ,eine aktive politische Entscheidung und Entwicklung veranlassen, die den öffentlichen Dienst funktionsfähig macht und der Stellung der Beamten gerecht wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rutschke.
— Wir sind jetzt in der allgemeinen Aussprache. Die ist in die zweite Lesung vorverlegt worden. Vielleicht haben Sie das nicht gehört; ich hatte das am Anfang gesagt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der FDP-Fraktion gebe ich folgende Erklärung ab. Mit der heutigen Verabschiedung eines Besoldungserhöhungsgesetzes durch den Bundestag stimmt dieser der Gesetzesvorlage der Bundesregierung zu einer notwendigen Verbesserung der Besoldungsverhältnsise zu. Die Bundestagsfraktion der FDP begrüßt die konsequente Haltung der Bundesregierung, die mit diesem Gesetzentwurf ein weiteres Ansteigen des ohnehin bestehenden erheblichen Besoldungsrückstandes verhindert und sich trotz der derzeitigen Konjunkturlage nicht gescheut hat, einem weiteren Absinken der Beamtengehälter im Hinblick auf die Gesamtwirtschaftsentwicklung entgegenzutreten.
Dies war ein mutiger Entschluß, den selbst die Opposition durch ihre Zustimmung anerkennen muß. Die FDP-Fraktion dankt aber auch den berufsständischen Vertretungen der Beamtenschaft, die sich angesichts der derzeitigen Konjunkturschwierigkeiten in ihren Forderungen maßvoll verhalten haben. Sie haben damit bewiesen, daß sie sich gegenüber der Allgemeinheit verantwortungsvoll verhalten. Sie haben damit in der Öffentlichkeit dem Ansehen des deutschen Beamtentums gedient.
Die Bundestagsfraktion der FDP erwartet von der Bundesregierung bei zukünftigen Änderungen der Besoldungsregelung und bei normaler Konjunkturlage, daß sie diese Haltung der Beamtenschaft honoriert und den seit langen Jahren angestauten Besoldungsrückstand dann so bald wie möglich ganz abbaut.
Das Wort hat der Abgeordnete Rollmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So begrüßenswert diese allgemeine Besoldungserhöhung für unsere Beamten ist, eine bittere Pille enthält sie für die Beamten in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, die infolge der Aufzehrklausel des Art. 1 § 4 Abs. 4 des Zweiten Besoldungsneuregelungsgesetzes nicht in den vollen Genuß der Besoldungserhöhung von 8 % kommen. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hatte bereits im Bundesrat ohne Erfolg
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1689
Rollmanneinen Antrag auf Milderung der Aufzehrklausel eingebracht. Die Vertreter unserer Fraktion haben diesen Antrag im Innenausschuß des Deutschen Bundestages erneut gestellt. Er ist dort mit der knappen Mehrheit von 15 gegen 13 Stimmen durch die Regierungskoalition abgelehnt worden. Ich bedauere dies im Interesse der dadurch betroffenen hamburgischen und nordrhein-westfälischen Beamten außerordentlich.Wir haben heute davon abgesehen, diesen Antrag erneut im Plenum des Deutschen Bundestages zu stellen; denn wir würden hier durch die Regierungskoalition wieder genauso niedergestimmt werden, wie es im Innenausschuß des Bundestages bereits der Fall war. Aber wir beklagen es außerordentlich, daß der hamburgische Senat es offensichtlich mit seinem Einfluß auf die Bundesregierung und auf die Regierungskoalition nicht soweit gebracht hat,
verehrter Herr Kollege Apel, die berechtigten Anliegen der hamburgischen Beamten durchzusetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Angleichung der Beamtenbesoldung wurde vor einem Jahr in diesem Haus einstimmig beschlossen.
— Mit Herrn Rollmann. Vielen Dank für den Zuruf. — Die Frage ist erstens, ob wir unsere eigene Gesetzgebung ernst nehmen, und zweitens, in welchem Umfang die Angleichung die einzelnen Beamtengruppen berührt. Wir haben das sehr sorgfältig geprüft. Das Innenministerium hat uns für Hamburg und für Nordrhein-Westfalen — diese beiden Länder sind betroffen — die genauen Zahlen auf den Tisch gelegt. Dabei ergibt sich, daß in Anwendung der Vorschriften des Zweiten Besoldungsänderungsgesetzes, das vor nicht einmal einem Jahr verabschiedet wurde und am 1. April 1969 in Kraft trat, alle Beamten mindestens 5,3 % Erhöhung bekommen, die meisten rund 7 % Erhöhung, wenn dieses Gesetz einwandfrei durchgeführt wird.
Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat nicht nur im Bundesrat diesen Antrag gestellt — und die anderen Länder haben diesen Antrag überstimmt —, sondern hat auch im Innenausschuß auf diese Umstände hingewiesen. Für den Ausschuß war aber entscheidend, daß es sich nicht nur um Hamburg, sondern auch um Nordrhein-Westfalen handelt und daß bei den meisten Besoldungsgruppen eine Restposition von 0,2 bis 0,4% übriggeblieben wäre; die Verwaltungsarbeit, die damit zusammenhängt, ist also unzumutbar. Man muß doch füglich bedenken, daß diejenigen, denen jetzt Kürzungen zugemutet werden müssen — Kürzungen bezüglich des Prozentsatzes der Erhöhungen —, schon bisher mehr bezogen haben als die anderen.
Herr Kollege Rollmann, ich halte es für einen merkwürdigen Versuch von Ihnen, nun hier den Wahlkampf Hamburgs in den Bundestag zu verlegen.
Ich glaube, daß die sachliche Entscheidung des Innenausschusses auch von diesem Haus getragen wird. Anderenfalls hätten Sie hier von Ihrer Fraktion aus einen Antrag stellen müssen. Dann hätten wir hier darüber ausführlich debattiert. Daß das nicht der Fall ist, ist ein Zeichen dafür, daß auch Ihre Fraktion die Meinung teilt, die im Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. —
Aber bitte schön, eine Zwischenfrage.
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Rollmann.
Herr Kollege Schäfer, haben Sie vielleicht zur Kenntnis genommen, daß wir nur aus dem Grunde auf die Stellung eines Antrags verzichtet haben, wie ich ausgeführt habe, weil Sie uns hier unten genauso überstimmen würden, wie Sie es im Innenausschuß getan haben?
Herr Kollege Rollmann, das sagt mir nur, daß Sie von der Überzeugungskraft Ihrer Argumente selbst nicht viel halten;
denn die Frage, ob man überstimmt wird, hat uns in der Opposition nie davon abgehalten, hier in aller Öffentlichkeit für etwas einzutreten, was wir für richtig halten.
Das Wort hat der Abgeordnete Wagner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorherigen Ausführungen des Kollegen Dr. Schäfer zum Besoldungsrückstand veranlassen mich, noch einmal das Wort zu nehmen. Herr Kollege Dr. Schäfer stellt dar, daß unser Antrag einen Mehraufwand von rund einer halben Milliarde DM beinhalte. Das ist richtig. Ich wiederhole aber noch einmal: Wir sind zu diesem Antrag aus der Überzeugung gekommen, daß dieser Bundestag eben verpflichtet ist, die Einkommen im öffentlichen Dienst an die wirtschaftliche Entwicklung anzupassen.
Ich wiederhole: wenn in der Vergangenheit ein Rückstand eingetreten ist, sollten wir in Zeiten, in denen dies finanziell möglich ist, natürlich einen wesentlichen Schritt tun, ihn abzutragen.Herr Kollege Dr. Schäfer, Sie haben vorher erwähnt, die Bundesregierung habe in den letzten Jah-
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1690 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Wagner
ren dazu nichts getan. Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie über drei Jahre hinweg Mitglied dieser Bundesregierung waren und wahrscheinlich sahen, daß unter den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen ein solcher Beitrag nicht möglich war. Ich persönlich bin der Meinung, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse heute einen Schritt in dieser Richtung zuließen, und ich bin auch der Auffassung, daß es für den Bundeswirtschaftsminister Professor Schiller ein Geschenk sein könnte, wenn ein solch wesentlicher Betrag, vermögenswirksam festgelegt, einer weiteren Konjunkturanheizung im Augenblick das Feld entziehen würde.
Herr Abgeordneter Dr. Schäfer!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das bedarf einer Erwiderung; denn gerade in dem letzten liegt von Anfang an der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Sie haben eine lineare Besoldungserhöhung von 12 % verlangt.
— So steht es in Ihrem Gesetzentwurf: 12 % lineare Erhöhung! Wir nehmen gerne zur Kenntnis, daß Sie sich nun zu unserer Auffassung gefunden haben, daß 8% plus vermögenswirksame Maßnahmen angemessen sind. —
— Ihre Begründung hat doch mit der Formulierung des Paragraphen nichts zu tun. Sie verlangen doch 12 % Erhöhung.
12 % Erhöhung ist doch etwas anderes als 8% plus vermögenswirksame Maßnahmen, Herr Rösing.
Ich nehme gerne zur Kenntnis, daß wir mit Ihrer Unterstützung rechnen dürfen, wenn wir darangehen, das Kapitel „vermögenswirksame Maßnahmen für Bedienstete des öffentlichen Dienstes" zu behandeln.
— Ja, daß wir mit Ihrer Unterstützung rechnen dürfen! Ich nehme das gern zur Kenntnis.
Meine Damen und Herren, wird in der allgemeinen Aussprache weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Ich komme nunmehr in zweiter Beratung zur Einzellesung und rufe den Art. 1 und zugleich damit den Umdruck 11 *) mit den Ziffern 1 und 2 auf. Ich nehme an, daß wir über beide Ziffern gemeinsam abstimmen können. Es handelt sich jeweils um eine
*) Siehe Anlage 1 a
Änderung. Wer diesen Änderungsanträgen der Abgeordneten Dr. Schäfer, Berger und Dr. Rutschke zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig beschlossen.
Wir stimmen nunmehr ab über Art. 1 mit der soeben beschlossenen Änderung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ist so beschlossen.
Ich rufe die Art. 2 bis 15, Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.
Ich komme zur
dritten Beratung.
Ich nehme an, eine allgemeine Aussprache wird nicht mehr gewünscht. — Eine Einzelberatung steht nicht an. Dann erteile ich zur Abstimmung das Wort dem Abgeordneten Dichgans.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich stimme der Vorlage zu, weil sie den Beamten eine Verbesserung bringt, die ich für dringend erforderlich halte. Ich frage mich nur, ob unser Verfahren der Gesetzgebung, das sich mit den Personalzahlungen aus öffentlichen Kassen befaßt, wirklich rationell ist.
Wir haben drei Methoden nebeneinander. Die erste Methode wird bei der Kriegsopferversorgung angewandt, wo in einer einzigen Ausschußsitzung in eine Vorlage eine allgemeine Dynamisierung hineingebracht wurde, obwohl diese Vorlage davon überhaupt nichts enthielt. Ich sage gar nichts dagegen; ich stelle das nur fest. Bei den Beamten sind wir verpflichtet, die Beamtengehälter der wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen; von Besoldungsrückstand ist die Rede. Das ist in der Welt der Tatsachen ebenfalls eine Dynamisierung, die wir aber jedes Jahr durch Einzelgesetze bewirken. Die dritte Gruppe ist der Familienlastenausgleich, den wir überhaupt nicht dynamisieren. Es erhebt sich die Frage, ob es einen Sinn hat, solche Unterscheidungen zu machen. Ich hege Zweifel.
Wie gesagt, ich stimme der Vorlage zu, behalte mir aber vor, bei nächster Gelegenheit die Notwendigkeit, diese Personalausgaben in einer Gesamtschau zu betrachten — etwa nach englischem Muster, wo sie alljährlich sehr viel stärker mit dem Haushalt verknüpft werden —, hier erneut zur Sprache zu bringen.
Weitere Erklärungen zur Abstimmung werden nicht abgegeben.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die. Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltun-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1691
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Vizepräsident Dr. Jaegergen? — Auch keine Enthaltungen; einstimmig angenommen.Wir kommen nun zu den weiteren Ausschufianträgen. Da ist zuerst einmal der Antrag, die Drucksache VI/131 für erledigt zu erklären. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Angenommen.Wir kommen jetzt zu den Anträgen II, III und IV. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich kann darüber gemeinsam abstimmen lassen. Wer diesen Ausschußanträgen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt XXIV der gemeinsamen Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Straffreiheit
— Drucksache VI/392 —Wer begründet den Gesetzentwurf? — Herr Abg. Krockert!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Beratung in erster Lesung legen wir Ihnen heute einen Entwurf für die Amnestie 1970 vor, auf die man in der Öffentlichkeit wartet und die der Gesetzgeber schuldig ist. Diese Amnestie soll einen Schlußstrich unter ein Kapitel unserer jüngsten Geschichte ziehen. Sie soll zugleich den Weg öffnen zu einem entspannteren Verhältnis zwischen der kritischen Jugend und ihrem Staat.Das Straffreiheitsgesetz 1970 ist natürlich im engen Zusammenhang mit unseren Bemühungen um eine Reform derjenigen Strafvorschriften zu sehen, deren Fragwürdigkeit sich anläßlich der Demonstrationen der vergangenen Jahre immer deutlicher gezeigt hat. Das Hohe Haus hat damit den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform — federführend — beauftragt. Dieser Ausschuß hat gestern in erster Runde einen Abschluß der Beratungen gefunden.Das ist der Grund, weshalb ich namens meiner Fraktion die Überweisung auch dieser Vorlage an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform beantrage. Infolge des engen sachlichen Zusammenhangs ist dort eine zügige parlamentarische Behandlung gewährleistet, und sie ist notwendig. Wenn diese Amnestie gut werden soll, wenn sie ihre Funktion erfüllen soll, muß sie bald erfolgen.Das Dritte Gesetz zur Reform des Strafrechts wird eine Reihe von Vorschriften ändern oder beseitigen, die 100 oder 120 Jahre alt .sind. Diese Vorschriften waren geprägt vom Rechtsverständnis des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates. Sie belasten Massen, 'die sich versammeln, im voraus mit dem Ruch der Unbotmäßigkeit, des Ungehörigen. Die Anwendung dieser politisch überholten Vorschriften im Rahmen einer freiheitlichen Verfassung, ihre Anwendung auf Demonstrationen, in denen jungeBürger versuchen, sich gegen die natürliche Schwerhörigkeit der Gesellschaft Gehör zu verschaffen, mußte dazu beitragen, daß eine wachsende Verschärfung in den Konfrontationen eintrat, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben.
Das betraf nicht nur Demonstranten, sondern auch die Ordnungskräfte, die Polizei. Diese mußte 'auf der Basis der veralteten Vorschriften aktiv werden. Sie mußte quasi einen Obrigkeitsstaat gegen seine Bürger schützen, den es nach unserer Verfassung gar nicht mehr gibt.Beide, Demonstranten und Beamte, wurden darum einer zusätzlichen Eskalation ausgesetzt, und beide waren ihr häufig nicht gewachsen. Die Versuchung zum Äußersten ergibt sich in solchen Situationen mit einer gewissen Automatik. Wenn ein Zusammenprall erfolgt und Leute dabei sind, denen er Lust bereitet, egal, auf welcher Seite, dann haben sie es verhältnismäßig leicht, unter solchen Umständen andere Menschenschuldig werden zu lassen; das ist häufig. passiert.Aus diesem Grunde wird eine Amnestie zwei Aufgaben zu erfüllen haben. Einmal hat sie die Rechtskorrektur zu berücksichtigen, also die Abschaffung oder die Veränderung jener wilhelminischen Vorschriften. Wer nach diesen Paragraphen schuldig wurde, muß entlastet werden. Zum zweiten müssen aber auch diejenigen Entlastung erfahren, die nicht auf Grund dieser Vorschriften, wohl aber auf Grund der Situation darüber hinaus schuldig wurden, nämlich im Gefolge von Ablaufmechanismen, die dieses veraltete Recht ausgelöst hat. In dieser Hinsicht 'bezieht sich die Amnestie auf Delikte, die nach künftigem Recht strafbar bleiben werden und sollen. Hier ist ganz einfach etwas zu bereinigen, damit wir die Freiheit gewinnen, auf Grund eines besseren Rechts künftig zwischen der Wahrnehmung der Demonstrationsfreiheit und ihrer gewalttätigen Ausbeutung um so klarer scheiden zu können.Selbstverständlich mußte 'diese Seite der Amnestie deutliche Grenzen haben. Besonders schwere oder besonders gemeine Ausschreitungen, die auch durch die Reibungshitze der Konfrontation nicht zu rechtfertigen sind, haben keinen Anspruch und keine Aussicht auf Straffreiheit. Deshalb bietet der Entwurf einen Ausnahmekatalog nach Tatbeständen und nach Strafmaß an.Meine Damen und Herren, über Einzelheiten dieses Entwurfs wird in der Ausschußberatung gewiß noch intensiv zu arbeiten sein. In dieser ersten Lesung geht es darum, daß wir vor der Öffentlichkeit die Notwendigkeit dieser Amnestie und den Willen zur schnellen Verabschiedung dieses Gesetzes gemeinsam bezeugen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, es gibt in unserem Lande eine demonstrations- und amnestiefeindliche Propaganda. Sie nötigt mich zu ein paar abschließenden Bemerkungen.„Bild am Sonntag" brachte am 15. Februar eine Sonntagsbetrachtung von Peter Boenisch. Erbringt
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1692 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Krockertes fertig, die verbrecherische Verbrennung jüdischer Mitbürger lin einem Altersheim in direkte Verbindung mit 'den demonstrativen Aktionen gegen das Haus Springer. zu bringen. „Vorgestern", so schreibt er, „brannte in Zeitungswagen, und heute verbrennen Juden in einem Altersheim."
Und Boenisch fragt: „Soll das so weitergehen?Meine Damen und Herren, wer so argumentiert, versimpelt das Problem auf eine nicht bloß unzulässige, sondern infame Art und Weise.
Es ist kein Wunder, daß in diesem Artikel in diesem Zusammenhang auch wieder einmal Konrad Ahlers genannt wird. Je mehr man da hineinpacken kann — Mörder und Demonstranten, brennende Häuser und Konrad Ahlers, Schlägerbanden und jugendlichen Protest —, desto leichter kann man dem Bürger weismachen, im Grunde gehe es ja nur um die Auseinandersetzung zwischen Ordnung und Chaos, und da dürfte doch die Wahl nicht schwerfallen.Aber diese durchsichtige Propaganda geht noch weiter. Boenisch beschwert sich nämlich in diesem Artikel darüber, daß es immer wieder Professoren oder gar Politiker gebe, die diese „gewalttätigen Kinder" — so schreibt er; damit faßt er wieder den ganzen Cocktail der Gewalt zusammen — entschuldigten. Er mahnt uns — ich zitiere —:Auch wenn wir unsere Babys dauernd küssen, werden dadurch noch keine Engel aus ihnen. Es geht nicht ohne väterliche Strenge.Dieser Schluß beginnt mit dem Hinweis auf die verbrennenden Juden im Altersheim!Meine Damen und Herren, ich habe die Hoffnung, daß in der Diskussion über unsere Amnestie niemand in diesem Hause auf die Leimrute kriecht, die hier ausgelegt wurde.
Ich meine, wir sollten sehr sorgfältig zu unterscheiden wissen, mit welchem Problem wir es zu tun haben. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir es bloß auf die Ebene schieben, als ginge es um Gewalt oder Nichtgewalt. Das Problem der Demonstrationen — —
— Ach, Herr Kollege, vielleicht können Sie wenigstens in Ihre Zwischenrufe ein bißchen mehr Qualität investieren; dann macht es auch hier vorne mehr Spaß.
Amnestieren heißt nicht, Gnade vor Recht ergehen lassen. Amnestieren heißt auch, daß von dem Gesetzgeber eine gewisse Mitverantwortung bekannt wird an dem, was geschehen ist. Das fällt schwer; aber wir sollten uns davor hüten, einen selbstgerechten Staat vorführen zu wollen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Thadden?
Herr Präsident, es tut mir leid, wir sind in der Begründung.
Jawohl, bitte sehr.
Amnestieren heißt, daß ein Staat in der Lage ist, sich selber durch ein solches Straffreiheitsgesetz dazu zu bekennen, daß er an der Entwicklung, die wir hinter uns haben, nicht ganz ohne Mitverantwortung ist. Das sollte uns nicht zu schwerfallen. Die Amnestie soll nicht nur etwas abschließen; sie soll auch den Weg öffnen zu einem neuen Recht und zu einem entspannten Verhältnis zwischen der kritischen Jugend und ihrem Staat.
Meine Damen und Herren, wir treten nun in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lenz. Die Fraktion der CDU/CSU hat für ihn eine Redezeit von 45 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde mir Mühe geben, die für mich beantragte Redezeit nicht auszuschöpfen.
— Danke für den Beifall.
Im übrigen, Herr Präsident, befinden wir uns heute hier in einer außerordentlich schwierigen Lage. Vor uns liegt ein Fraktionsantrag, der von der Bundesregierung im Bundesrat eingebracht worden ist. Gestatten Sie mir deshalb, meine Damen und Herren, daß ich einige meiner Bemerkungen auch an die Bundesregierung richte; denn sie ist ja wohl der eigentliche Geschäftsherr dieses Vorgangs.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt, die strikte Beachtung ,der Formen parlamentarischer Demokratie sei selbstverständlich für politische Gemeinschaften, die für die deutsche Demokratie gekämpft, sie unter schweren Opfern verteidigt und unter großen Mühen wiederaufgebaut hätten. Dieser Erklärung des Herrn Bundeskanzlers können wir nur zustimmen.Auf dem Hintergrund dieser Erklärung mutet es allerdings sonderbar an, daß eine der ersten rechtspolitischen Aktionen dieser Bundesregierung eine Amnestie für solche Personen ist, die diese Formen der parlamentarischen Demokratie in eklatanter Weise mißachtet haben.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1693
Dr. Lenz
Die Bundesregierung wandte dazu ein Verfahren an, das ebenfalls nicht von Respekt für die parlamentarischen Formen dieses Staates zeugt.
Herr Abgeordneter Dr. Lenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Carlo Schmid?
Herr Präsident, wenn 'das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, selbstverständlich.
Nein, es wird nicht angerechnet.
Herr Abgeordneter Dr. Lenz, ist Ihnen bekannt, daß auch andere Regierungen zu diesem Mittel gegriffen haben, wenn ihnen ein Gesetz zeitlich dringlich schien, z. B. die Regierung, der unser Kollege Dr. Kiesinger vorstand?
Herr Professor Schmid, ich werden auf diesen Punkt im weiteren Verlauf meiner Ausführungen noch eingehen.
Der Entwurf unseres Gesetzes sieht Straffreiheit vor für Straftaten nach Strafvorschriften, die vom Gesetzgeber erneuert werden, sowie für solche, die als politische Demonstration zur politischen Meinungsäußerung oder zur Einwirkung auf die politische Meinungsbildung oder im Zusammenhang mit einer solchen Demonstration begangen worden sind. Allerdings sind Straftaten von besonders schwerem Unrechtsgehalt ausgenommen. Dem Deckblatt entnehme ich, daß die Regelungen weitgehend an die des Straffreiheitsgesetzes 1968 angelehnt sind. Das mag sein, aber damit wird das Außerordentliche des Vorgangs mehr verdeckt als dargestellt.Wir hatten nach dem Krieg neun Strafrechtsänderungsgesetze aber nur eine Amnestie im Zusammenhang mit einem Strafrechtsänderungsgesetz, und das war unter Justizminister Dr. Heinemann. Damals handelte es sich um eine reine Rechtskorrekturamnestie, d. h. um die rückwirkende Amnestierung solcher Taten, die in Zukunft nicht mehr bestraft werden konnten. Hier ist jedoch eine sehr viel weitergehende Amnestie geplant. Bei dem vorliegenden Gesetz wird aber auch keine allgemeine Amnestie für alle erlassen, die eine Strafe von einem bestimmten Zeitraum erhalten oder zu erwarten haben, sondern es wird einseitig eine bestimmte Gruppe von Tätern begünstigt.
Dies ist an und für sich ein schwerwiegender Vorgang. Er wird noch schwerwiegender durch den Hintergrund, auf dem er steht. Es tut mir leid, verehrter Herr Vorredner, daß ich noch einmal Herrn Ahlers nennen muß, der als erster die gewalttätigenstudentischen Proteste gegen den Springerkonzern gerechtfertigt hat.
— Doch, doch, ist schon wahr. Damals wurde das erklärt, und heute wird es amnestiert. Herr Professor Schmid, Sie haben zu diesem Vorgang gesagt:Die tätlichen Angriffe auf die Betriebe des Springerkonzerns waren damals rechtswidrig, und die Behörden hatten dagegen nach Recht und Gesetz einzuschreiten.In Frankfurt soll aber ein Mann von seinem Posten als Polizeipräsident entfernt werden, der genau das getan hat, was Sie, sehr verehrter Herr Professor Schmid, für die Pflicht der Behörden gehalten haben.
Auch dieser Vorgang gehört in die Rubrik „Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie", und vielleicht sind es in beiden Fällen die gleichen Kreise, die dahinterstehen. Sicherlich gehört das nicht in den unmittelbaren Verantwortungsbereich der Bundesregierung, wohl aber in den des Bundesvorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei, und auf diese Partei bezog sich ja die eingangs zitierte Äußerung des Herrn Bundeskanzlers.Meine Damen und Herren, die Koalitionsparteien behaupten, es habe ungerechtfertigte Unklarheit über die Grenzen des Demonstrationsrechts bestanden. Diese angebliche Unsicherheit wird zur Begründung für den Gesetzentwurf auch ausdrücklich herangezogen. Nach unserer Auffassung hat .es niemals eine Unklarheit darüber gegeben, daß Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Sachbeschädigung und anderes mehr als Mittel der politischen Auseinandersetzung verboten sind.
Schon in der Aussprache zur Regierungserklärung hat mein Kollege Vogel mit Recht davon gesprochen, es habe Versuche gegeben, illegalen Aktionen einen Anflug von Rechtmäßigkeit zu geben. Er sagte damals : Unser Rechtsstaat wird unglaubwürdig, wenn er in einzelnen Fällen davor zurückschreckt, seine eigenen Gesetze anzuwenden. — Das ist aber der Zweck des vorliegenden Gesetzentwurfs.Auf 'diesem Hintergrund stellt sich mit aller Schärfe die Frage nach der politischen Zielsetzung. Was wollen Sie denn eigentlich erreichen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, von den Koalitionsfraktionen? Wenn ich die Regierung und auch die Begründung eben richtig verstanden habe, möchte sie damit in ein besseres Verhältnis zu den jungen Leuten kommen. Das ist gewiß ein lobenswertes und auch von uns bejahtes Ziel. Aber kann es mit diesem Mittel erreicht werden? Glauben Sie wirklich, daß dieser aus taktischen Rücksichten geborene und überhastet durch 'das Parlament gejagte .Gesetzentwurf dazu beiträgt, das große Angebot der Mitgestaltung und Mitverantwortung, das unsere Jugend von allen politischen Kräften mit Recht erwartet, glaubwürdig zu machen?
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1694 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Dr. Lenz
Diesen Gesetzentwurf, Herr Bundeskanzler, werden die einen als Ausdruck repressiver Toleranz und die anderen als schwächliches Nachgeben vor der ,Gewalt ablehnen.
Nur ein klares Bekenntnis zu den Formen der parlamentarischen Demokratie — nicht nur im Wort, sondern auch in der Tat — kann hier die notwendige Achtung als Grundlage für ein besseres Verhältnis zwischen Jugend und Staat schaffen.Aber gerade der tatsächliche Respekt, Herr Bundeskanzler, vor den Formen unserer parlamentarischen Demokratie 'bereitet der Bundesregierung Schwierigkeiten. Der Verfahrensweg dieses Gesetzes ist ein lebendiges Bespiel. Diesen Amnestieentwurf gibt es ja in zweifacher Ausfertigung. Beide Entwürfe sind deckungsgleich. Der eine ist dem Bundesrat von der Regierung zugeleitet worden, und ohne das Ergebnis des ersten Durchganges dort abzuwarten, wird heute hier der zweite im Bundestag präsentiert.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", Herr Kollege Schulte, schrieb hierzu am 19. Februar:In so drastischer Form hat man die mißbräuchliche Nutzung des Initiativrechtes des Parlaments durch die Regierung und das Einverständnis der Parlamentsmehrheit damit selten gesehen.
Herr Bundeskanzler, es geht uns hier nicht um kleinliche Verfahrensmäkeleien. Es geht uns auch nicht darum, den Bundesrat zu bevormunden; der kann sich selber helfen. Es geht hier um zwei' Dinge: einmal um die Wahrung des Rechts. Dieses Haus hat einen Anspruch darauf, in Kenntnis der Stellungnahme des Bundesratsplenums beraten zu können. Zum anderen geht es um die Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung. Sie haben selbst, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Rede vor dem Bundesrat am 24. Oktober gesagt, daß die Offenheit gegenüber den Anliegen der Länder schon bei der letzten Regierung ein wesentlicher Punkt der Übereinstimmung zwischen den damaligen Partnern gewesen ist. Sie haben in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß das leidige Problem der Fristenregelung in einer Weise geregelt werden konnte, die dem berechtigten Anliegen der Länder Rechnung trägt. Sie haben ferner zugesagt, daß Sie sich der Beziehungen mit den Ländern selbst mit Nachdruck annehmen werden.Als erstes Ergebnis Ihrer Bemühungen, Herr Bundeskanzler, vermag ich nur festzustellen, daß es in dem Bereich, von dem wir hier sprechen, das zweite Mal ist, daß die verfassungsmäßigen Rechte von Bundestag und Bundesrat beeinträchtigt worden sind. Die strikte Beachtung der Formen parlamentarischer Demokratie, ist sie wirklich so selbstverständlich, Herr Bundeskanzler?Übrigens: Bei der damaligen Bundesratssitzung hat der Präsident des Bundesrates, Herr Professor Weichmann, einige bemerkenswerte Äußerungen zu dem Thema gemacht, das hier zur Diskussion steht. Ich darf sie in unser aller Gedächtnis zurückrufen.
— Nein, Herr Kollege Schulte, ich möchte es nur so gebraucht wissen, daß nicht Dinge, die drüben eingebracht sind, hier eingebracht werden, bevor sie drüben beraten sind. Das scheint mir doch selbstverständlich zu sein.
Aber zurück zu Herrn Professor Weichmann. Herr Weichmann hat gesagt:Engagiert sich der Staat in seinen verfassungsmäßigen Organen aber ernsthaft und glaubwürdig in der Richtung der Reformen, dann, so meine ich, muß es auch ein Ende nehmen mit dem Mißbrauch der grundgesetzlichen Freiheiten und, ich sage es ausdrücklich, ihrer Tolerierung.
Aktionen aller Spielarten, die im Wege aktiver oder passiver Gewalt gesetzte Rechtsnormen verletzen, tragen einen anarchosyndikalistischen Charakter, der mit der mißbrauchten Freiheit des Protestes die Freiheit überhaupt gefähret.
Es heißt etwas weiter:
Unsere Gesellschaft muß auf der Respektierung des gesetzlichen Rechtes wie auch des Vertragsrechts bestehen, solange es eben geltendes Recht ist.Meine Damen und Herren, das sagt der sozialdemokratische Regierungschef unserer größten Stadt in der Bundesrepublik, einer Industrie- und Universitätsstadt.
— Ja, ich glaube, daß das auch der Grund ist, weshalb er hier ganz klar und deutlich seine- Meinung so ausdrückt.Herr Bundeskanzler, glauben Sie wirklich, daß Sie mit diesem Gesetz, das heute hier vorliegt, auf dem richtigen Wege sind?Lassen Sie mich nun zu einigen Einzelheiten kommen.Das Gesetz sieht zunächst einmal Straffreiheit für diejenigen vor, die gegen Vorschriften verstoßen haben, die im Rahmen des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes neu gefaßt werden sollen. Dieses Anliegen findet unsere Sympathie. In der Tat ist es schwer einzusehen, weshalb jemand, der wegen einer im vorgesehenen Zeitraum begangenen Straftat bereits rechtskräftig verurteilt worden ist, nun seine Strafe verbüßen soll, während sein Mittäter, der noch nicht abgeurteilt ist, frei ausgehen soll. Diese Frage mag z. B. bei der Anwendung der Straf-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1695
Dr. Lenz
bestimmung für Landfriedensbruch eine besondere Rolle spielen. Ob hier eine gesetzliche Regelung zweckmäßig ist oder ob nicht der Gnadenweg durch die Landesjustizminister vorzusehen ist, mag im Ausschuß erörtert werden.Aber in diesem Gesetz tritt ja das Problem der Anpassungsamnestie zurück gegenüber dem Problem der Ausdehnung der Straffreiheit auf Personen, deren Tat eben nicht durch die zu reformierenden Vorschriften unter Strafe gestellt wird. Die Ausdehnung der Amnestie auf Täter, die nicht durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz erfaßt werden, ist problematisch. Das hat die Bundesregierung auch rechtzeitig erkannt. Der Bundesjustizminister hat eine Amnestie selber in den Zusammenhang der Strafgesetzänderung gestellt, und der Bundeskanzler hat dem ,damals in der ersten Aussprache über seine Regierungserklärung zugestimmt. Herr Jahn hat auch an anderer Stelle ausdrücklich davor gewarnt, „mit einer auf bestimmte Personengruppen gezielten Amnestie eine neue Art von Unrecht zu schaffen". Er hat selber darauf hingewiesen, daß „eine parlamentarische Demokratie keine Entscheidung ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz treffen kann, sondern .auch in solchen Fällen sorgfältig abwägen und darauf achten muß, daß alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind" .Unser Kollege Dr. Müller-Emmert hat mit aller Deutlichkeit ausgeführt, was hier unter dem Begriff „Gleichheit" problematisch werden kann. Er sagt:Soll z. B. unter eine Amnestie auch der Fall eines Einzeltäters aus politischen Motiven fallen? Ist unter Umständen auch das Verhalten der Frankfurter NPD-Schläger genauso amnestiewürdig wie dasjenige eines gewalttätigen „Demonstranten" eines bayerischen Dorfes, dessen Widerstand gegen die Errichtung eines Heimes für behinderte Kinder bis zur Brandstiftung reichte?"Und, meine Damen und Herren, wie steht es denn mit denjenigen, die gegen die Errichtung eines Flughafens gewaltsam vorgehen? Oder mit Obstbauern, die mit ihren Traktoren die Autobahn blockieren, um gegen das Sonntags-Fahrverbot des Bundesverkehrsministers zu protestieren? Sind das politische Demonstranten — oder sollen sie etwa deshalb bestraft werden, weil sie ihre Tat aus Eigennutz begingen?Die Probleme richtiger Abgrenzung einer Amnestie sind immer schwierig. Sie werden um so größer, je mehr die Amnestie von der Reform der Straftatbestände gelöst und überhastet verwirklicht wird. Hier, meine Damen und Herren, ist sie mißlungen.Straffreiheit soll hier gewährt werden für Freiheitsstrafen und Geldstrafen wegen Straftaten, „die als politische Demonstration zur politischen Meinungsäußerung oder zur Einwirkung auf die politische Meinungsbildung oder die im Zusammenhang mit einer solchen Demonstration begangen worden sind".Worum handelt es sich? Ich kann wiederum nur Herrn Müller-Emmert zitieren, der das sehr drastisch geschildert hat. Der größte Teil der Strafverfahren — so hat er gesagt —, die jetzt noch nicht erledigt sind, betrifft nämlich Sachbeschädigung, Körperverletzung, Diebstahl von Akten und Zeitungen und ähnlichem. — Warum soll hier denn eigentlich eine Tätergruppe privilegiert werden, die in derartig drastischer Weise die Formen der demokratischen Auseinandersetzung verletzt hat? Warum soll sie anderen vorgezogen werden, die ähnliche Delikte aus anderen Motiven begangen haben? Warum, Herr Müller-Emmert, ist ein Aktendiebstahl weniger strafwürdig, wenn er zur Einwirkung auf die politische Meinungsbildung und nicht etwa zur Begünstigung eines Studienfreundes begangen wird? Ist dies nicht ein eklatanter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, von dem Sie, Herr Bundesjustizminister, gesprochen haben? Warum soll denn eigentlich der Ladenbesitzer, der seinen Wagen in der verbotenen Zone entlädt und dadurch den Verkehr behindert, mit einer Geldbuße belegt werden, während diejenigen, die tagelang Demonstrationen organisieren und den Straßenverkehr einer großen Stadt lahmlegen, straffrei ausgehen? Wie vereinbart sich das mit dem Grundsatz der Gerechtigkeit?Und schließlich: Was heißt eigentlich „Einwirkung auf die politische Meinungsbildung"? Fällt darunter nicht auch die Parlamentsnötigung? Ist sie wirklich amnestiewürdig; wenn ja, warum dann nicht auch Wahlbehinderung oder Wahlfälschung? Der Effekt ist doch in allen drei Fällen mehr oder minder der gleiche. Der Volkswille wird gehindert, sich auszudrücken, oder verfälscht.Oder nehmen wir den Tatbestand der Sachbeschädigung. Warum ist denn eigentlich die Zerstörung eines abgestellten Kraftfahrzeuges durch Demonstranten straffrei, aber dann strafbar, wenn sie aus reinem Mutwillen begangen wird? Sie haben ja alle den Fall von dem Fabrikbesitzer gehört, der sein eigenes Auto mit Benzin übergossen und angezündet hat. Als sein Sohn fragte: Papa, was fällt dir ein?, hat er gesagt: Ich mache genau dasselbe, was auch ihr macht! Nach dem Amnestiegesetz, das wir jetzt verabschieden, würde der Sohn bei einem solchen Tatbestand — es ist schließlich eine Demonstration gewesen — selbstverständlich straffrei bleiben, während der Papa bestenfalls deshalb straffrei bleibt, weil es sich um sein eigenes Auto gehandelt hat.
Dies ist kein gutes Gesetz, meine Damen und Herren! Hier wird doch in unerträglicher Weise mit zweierlei Maß gemessen.
Wie kann man denn ernsthaft vom Steuerzahler verlangen, daß er sein Geld für teure Bildungsstätten ausgibt, wenn der Staat nicht einmal den Mut hat, die Gesetze anzuwenden, die zum Schutz dieser Bildungsstätten da sind?
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1696 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Dr. Lenz
Meine Damen und Herren, wenn von der sogenannten Amnestie für Polizeibeamte gesprochen wird, wird auch ein falscher Eindruck erweckt. Hier wird doch ein Buhmann aufgebaut. Es wird der Eindruck erweckt, als habe es eine größere Zahl von Polizeibeamten gegeben, die sich gegen die Gesetze vergangen hätten, und man müsse jetzt den Mantel der Amnestie über diese Dinge ziehen, damit die Polizei nicht durch eine Serie von Verurteilungen in Mißkredit gebracht würde. So ist es doch gar nicht!
— Sollte sich in dem einem oder anderen Fall herausstellen, Herr Kollege Schäfer, daß Anschuldigungen zu Recht erhoben worden sind, dann halte ich 'es im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und der Polizei für besser, daß diese wenigen Einzelfälle geklärt und nach den Gesetzen abgeurteilt werden, als daß die Polizei mit dem Makel belastet wird, sie habe sich mit einer Amnestie vor einem Rattenschwanz von Verurteilungen schützen müssen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
— Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, daß Sie mir mit so viel Geduld zugehört haben.Wir können in dieser ersten Lesung nur die schwersten Bedenken gegen den Gesetzentwurf anmelden, weil er erstens nach unserer Auffassung im Widerspruch steht zu dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit politischer Auseinandersetzungen, der jede parlamentarische Demokratie beherrscht, ja ihre Grundlage ist, und weil er zweitens in eklatanter Weise gegen die im Grundgestz festgelegten Grundsätze der Gleichheit und der Gerechtigkeit verstößt.
Meine Damen und Herren, anläßlich der Beratungen des Straffreiheitsgesetzes von 1954 hat derBundestagsabgeordnete Dr. Stammberger, der sozusagen die derzeitige Koalition in Personalunion verkörpert,
gesagt: „Amnestien sind Meilensteine auf dem Leichenweg ,des Rechts". Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diesen Meilenstein nicht setzen!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus. Für die Rednerin sind 30 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Mit großem Interesse habe ich die Rede des Herrn Kollegen Lenz angehört. Ich hatte damit gerechnet, daß die Opposition mit diesem Amnestiegesetz nicht einverstanden ist. Ich hatte auch damit gerechnet, Herr Kollege Lenz, daß Sie Bedenken erheben, daß zwei gleiche Vorlagen vorliegen, einmal die der Bundesregierung und zum andern die der SPD- und der FDP-Praktion. Die Folgerung, die Sie daraus gezogen haben — „undemokratisches Verhalten" — trifft natürlich in keiner Weise zu. Ich darf dazu in aller Deutlichkeit sagen: Wir sind doch im Augenblick in eine Zwangslage gekommen, und zwar durch Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, durch Ihr Verhalten in der letzten Legislaturperiode.
Daß eine Reform des Rechts der Demonstrationsdelikte dringend notwendig war, wußten wir schon im letzten Jahr. Sie haben sich im Sonderausschuß im Juni des vergangenen Jahres geweigert, die Beratung zu Ende zu führen, und dadurch verhindert, daß noch in der letzten Legislaturperiode die notwendige materielle Reform vorgenommen und eine entsprechende Rechtsangleichung erfolgen konnte.Und jetzt? Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß wir den Wünschen des Bundesrats auf Verlängerung der Frist Rechnung getragen haben. Aber es hat sich gezeigt: wenn man in Zeitnot ist, wie bei diesem Gesetz, sind sechs Wochen zu lang.
— Nein, Herr Kollege Lenz! Ich möchte jetzt meine Ausführungen in Ruhe zu Ende führen. Ich habe Sie auch nicht mit Zwischenfragen unterbrochen. Ich möchte das jetzt einmal für mich in Anspruch nehmen.
— Herr Kollege Lenz, es lag daran, daß im Zusammenhang mit der Reform des materiellen Rechts auch gleich die Amnestiefrage erledigt werden soll.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1697
Frau Dr. Diemer-NicolausWeiterhin ist in diesem Sonderfall zu beachten, daß .die Länder und der Bundesrat seit rüber einem Jahr mit dieser Materie sehr vertraut sind, so daß sie auch jetzt schon Gelegenheit hatten, das Amnestiegesetz zu beraten. Das ist Ihnen ja auch bekannt. Es ist ganz selbstverständlich für uns als Abgeordnete, daß bei den Beratungen im Ausschuß Kritik oder Änderungsvorschläge des Bundesrates von uns entsprechend mitberaten werden. Das ist ein Gebot der Fairneß, so ist es hier im Hause auch immer gehandhabt worden. Soweit zu den Fragen „Ausschaltung des Bundesrates" und „undemokratisches Verhalten".Ich habe mich aber weiter gewundert über diese strikte Ablehnung, über eine Rechtsangleichungsamnestie auch zu einer weiteren Amnestie zu kommen. Sehen Sie, Sie haben bezüglich der Rechtsangleichung an die Reformbestimmungen des materiellen Rechts gesagt, das sei ja nur ein Gebot der Gerechtigkeit. Es sei eine selbstverständliche Folge, daß man es dann nicht dabei belassen kann, noch nicht abgeurteilte Personen nach dem milderen Gesetz zu beurteilen, sondern daß man diese Wohltat der Reform auch den schon rechtskräftig Verurteilten zugute kommen lassen muß. Insofern sind wir uns natürlich einig; das ist eine Frage der Gerechtigkeit.Aber bei den anderen, bei dem zweiten Kreis ist es nicht eine Rechtsfrage, sondern da geht es um den Sinn einer Amnestie überhaupt. Herr Kollege Lenz, Sie hatten gemeint, wir hätten nur eine Amnestie gehabt, nämlich 1968. Das trifft nicht zu. Wir hatten schon einmal — im Jahre 1954 — eine Amnestie. Habe ich Sie da mißverstanden?
— Das war die Amnestie 1968. Das war aber eine reine Rechtsangleichungsamnestie, also nicht eine wirkliche Amnestie im Sinne dessen, was ich darunter verstehe, daß nämlich über eine. politische Frage entschieden wird.Wir hatten eine entsprechende Amnestie im Jahre 1954. Außerdem wollte ja die CDU — war das zu einer Zeit, als sie die absolute Majorität hatte? — noch eine Amnestie haben; vielleicht erinnert sich der eine oder der andere noch an diese PlatowAffäre. Da hatte sich aber der damalige Justizminister Dehler — das war also nicht in der Zeit, in der Sie die absolute Majorität hatten — geweigert, eine derartige Einzelfallamnestie zu unterschreiben,
und mit Recht.
Aber hier geht es jetzt um die politische Frage. Ist jetzt nicht ein Zeitpunkt, wo wir — mit Verständnis auch für die Jugend — doch einmal sagen sollten: Wir sind bereit, nicht nur eine Rechtsangleichung vorzunehmen, sondern auch darüber hinauszugehen und der Rechtsunsicherheit — und die hat bestanden! — Rechnung zu tragen und ein weitergehendes Absehen von Strafe und von Durchführung von Verfahren zuzulassen.Sehen Sie, diese Rechtsunsicherheit hat entgegen dem, was Herr Lenz gesagt hat, auf drei Seiten bestanden. Sie hat einmal bestanden auf seiten derer, die demonstriert hatten, also bei den Demonstranten. Denn wir haben nun einmal das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und der Demonstrationsfreiheit, ein Grundrecht, das allerdings — das hatten wir als Freie Demokraten immer ganz klar zum Ausdruck gebracht — kein Recht zu Gewalttätigkeiten gibt, weder gegen Personen noch gegen Sachen. Das kommt auch bei der Reform des materiellen Rechts entsprechend zum Ausdruck.Daß insofern Rechtsunsicherheit besteht, hat auch das Hearing bei uns im Sonderausschuß gezeigt, in dem von einem der jüngeren Vertreter — es war sogar ein Jurist — von berechtigten Regelverletzungen, d. h. also vom berechtigten Nichteinhalten von gesetzlichen Bestimmungen, gesprochen wurde.Rechtsunsicherheit bestand aber auch bei der Polizei, nämlich darüber, wie sie in einem derartigen Falle bei Demonstrationen und in welchem Umfange sie gegen Demonstrierende vorgehen sollte und durfte.Eine Rechtsunsicherheit bestand schließlich auch bei den Richtern, weil sie nämlich vom Gesetzgeber bei der Frage im Stich gelassen worden waren, wie das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit abzugrenzen sei, von wann ab ein Handeln kriminell werde — eine Grenzziehung, mit der wir uns ja jetzt im Bundestag befassen.Diese Rechtsunsicherheit spricht für eine Amnestie.Ich möchte noch auf folgendes hinweisen. Der Ruf nach einer Amnestie ist von den verschiedensten Seiten laut geworden. Er wurde schon im Zusammenhang mit der politischen Amnestie 1968 erhoben. Ich erinnere an die so ausgezeichnete Rede, die seinerzeit unser Kollege Arndt hier an dieser Stelle gehalten hat. Er sprach sich damals dafür aus, es nicht bei der Rechtsangleichungsamnestie für das politische Strafrecht zu belassen, sondern einen Schlußstrich auch bei den jugendlichen Demonstranten zu ziehen, wie das auch in anderen Ländern geschehen ist. Ich verweise insofern besonders auf Frankreich, wo diese Demonstrationen, gerade auch von Studenten, einen wesentlich gewalttätigeren Charakter hatten als bei uns —
und wo selbst de Gaulle großzügig einen Schlußstrich gezogen hat. Vergessen Sie das bitte nicht.Ich darf daran erinnern, daß schon Ende des vergangenen Jahres, nach der Regierungsbildung die Frage der Amnestie von den verschiedensten Seiten erneut aufgerollt wurde. Damals hatte unser früherer Kollege Arndt zusammen mit Persönlichkeiten wie Bälle, Golo Mann, Alexander Mitscherlich und Kurt Scharf einen öffentlichen Brief an den Bundeskanzler
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1698 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Frau Dr. Diemer-Nicolausgerichtet, in dem gesagt wurde — ich möchte das hier doch einmal zitieren —:Mit Sorge sehen wir die Bestrebungen, die fällige Amnestie, die helfen könnte, das Verhältnis zur jungen Generation neu zu gründen, ins nächste Jahr zu verschieben, weil zuvor das Demonstrationsrecht neu gestaltet werden muß.Dann die Anerkennung der Gründe, die zu den Demonstrationen geführt haben:Wer als Demonstrant ein Delikt beging, tat das in der Regel nicht, weil er das Delikt für erlaubt schlechthin hielt, sondern weil er sich in einer Ausnahmesituation zu Ausnahmehandlungen für berechtigt hielt. Es scheint uns an der Zeit, den mit der Strafjustiz in Konflikt geratenen jungen Leuten, meist Studierenden, durch einen gesetzgeberischen Akt einzuräumen, daß ihrem Vorgehen nicht eine kriminelle, sondern in aller Regel eine achtenswerte Gesinnung zugrunde lag, obzwar die Grenzen demonstrativen Protestierens oft, und in einigen Fällen sogar drastisch, überschritten worden sind.Ich darf weiter darauf hinweisen, daß sich auch ein so angesehenes Gremium wie die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland für eine sehr schnelle Amnestie eingesetzt hatte. Sie weist in der Begründung darauf hin, die Demonstrationen beruhten darauf, daß die Jugend ungeduldig nach zukunftsgerichteten Reformen drängte, um weltweit Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Demokratie zu verwirklichen: ein im Moralischen gegründetes Engagement.Das gilt für die weitaus überwiegende Zahl wirklich. Man sollte doch nicht einen kleinen Teil der Demonstranten, die in einer Gegnerschaft auch zu unserer parlamentarischen Demokratie steht, als „die Jugend" und als typisch bezeichnen.
Bei dem weitaus überwiegenden Teil der Demonstranten ist das Motiv doch die Sorge darum, daß der Geist des Grundgesetzes in vollem Umfang mit der Verfassungswirklichkeit übereinstimmt. Seien wir doch einmal ehrlich: Es gibt bei uns doch tatsächlich eine ganze Reihe von Umständen, wo der Geist unserer Verfassung mit unserer Verfassungswirklichkeit eben nicht übereinstimmt.
Deshalb erachten wir hier auch Reformen für notwendig.
— Herr Kollege Lenz, Sie sind doch noch gar nicht so alt. Sollten Sie nicht auch Verständnis dafür haben, daß sich die Jugend mit ihrem Temperament nicht immer an die gebotenen Grenzen hält?! Sollten Sie nicht auch Verständnis dafür haben, daß eine Jugend natürlich auch irren kann; wir Älteren übrigens auch?! Wir als Ältere sollten Verständnis für dieJugend und gegebenenfalls auch für ihr Überschäumen haben.
— Ich habe vorhin gebeten, daß ich diesmal meine Ausführungen in Ruhe zu Ende führen kann — ohne Zwischenfragen. Andernfalls müßte ich vielleicht die Zeit überschreiten; und das möchte ich unter keinen Umständen.
Meine Damen und Herren, es ist das Recht eines jeden Redners, Zwischenfragen abzulehnen. Die Sorge wegen der Redezeit ist allerdings nicht berechtigt, denn die Zeit, während der Fragen gestellt und Antworten gegeben werden, wird hier gestoppt, so daß sich die Redezeit entsprechend verlängert.
Herr Präsident, das ist richtig. Aber man wird bei der Antwort zu Äußerungen auf Gebieten veranlaßt, die man vielleicht nicht so ausführlich behandeln wollte.
Deswegen möchte ich meine Ausführungen im Zusammenhang machen. Ich bin der Meinung, daß das politische Ziel, eine Befriedung unserer Jugend, durch eine Amnestie erreicht werden kann. Im Gegensatz zu Ihren Ausführungen, Herr Kollege Lenz, möchte ich meine persönliche Erfahrung hier mitteilen, nämlich daß ich von den verschiedensten Universitätsprofessoren gerade auf die Frage einer Amnestie angesprochen worden bin, Professoren, die nicht links eingestellt sind,
sondern die ein sehr vernünftiges Verhältnis zu ihrer studentischen Jugend wünschen, Professoren von den verschiedensten Universitäten, die den Wunsch haben: Jetzt macht mal Schluß, damit wir hier neu anfangen können.
— Herr Kollege Vogel, diese Amnestie wird nicht das Alleinige sein. Aber sie wird ganz wesentlich dazu beitragen, daß wir tatsächlich die Gutwilligen und die Idealisten unter den Studenten für unsere parlamentarische Demokratie noch stärker gewinnen, als das schon heute — bei über 98 °/o — der Fall ist.
Es wurde weiterhin 'eingewendet, daß durch die Amnestie auch Handlungen erfaßt würden, die auch sonst strafbar seien.Im Ausschuß wird noch über den Kreis der zu amnestierenden Taten gesprochen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1699
Frau Dr. Diemer-Nicolauswerden müssen. Ich möchte Ihnen aber in aller Deutlichkeit sagen, daß wir Freien Demokraten wegen des politischen Gehalts nicht für eine engherzige Amnestie sind. Ob nun 9 oder 6 Monate die richtige Grenze sein werden, dafür wird man noch einmal die Rechtsprechung heranziehen, die so außerordentlich unterschiedlich ist.Aber was immer wieder verkannt wird — nicht von Ihnen diesmal, Herr Lenz —, ist, daß die schweren Gewaltverbrechen natürlich nicht von der Amnestie erfaßt werden. Derartige Dinge wie Brandstiftung, gemeingefährliche Taten, schwere Körperverletzung usw. werden durch diese Amnestie nicht erfaßt.
Die können unter keinen Umständen von uns geduldet werden. Insofern sind die Ausnahmen ganz klar, auch die Bestimmung, daß Taten, die aus Eigennutz begangen worden sind, nicht amnestiert werden.
Es wird auch noch über die Bedenken des Bundesrats zu sprechen sein, ob die Möglichkeit gegeben werden soll, daß auf Grundeines Antrags gegebenenfalls ein Strafverfahren doch durchgeführt werden muß. Hier ist eine Einschränkung gegenüber dem ersten Amnestiegesetz aus dem Jahre 1954. Es soll nämlich nur dann möglich sein, wenn sonst schwere Benachteiligungen eintreten würden. Ein Beispiel: in erster Instanz Freispruch, aber noch nicht rechtskräftig; jetzt Amnestie. Da kann wegen eventueller Folgen im Disziplinarverfahren bei Beamten ein berechtigter Wunsch bestehen, daß das Verfahren durchgeführt wird. Darüber wird noch zu sprechen sein.Auf der anderen Seite möchte ich natürlich nicht — das möchte ich hier mit aller Deutlichkeit sagen —, daß von solchen, die der parlamentarischen Demokratie feindlich gegenüberstehen — die gibt es, das habe ich gesagt; das ist ein ganz kleiner Kreis —, derartige Gerichtsverfahren mißbraucht werden und den Richtern in derartigen Verfahren ihre Aufgabe sehr schwer gemacht wird. Ich halte die Amnestie auch für geboten, damit wir die Richter und die Rechtsprechung von diesen Tausenden von Verfahren, die sonst noch durchzuführen wären, 'entlasten.Ich habe mit Freuden gehört, daß die CDU/CSU jetzt doch damit einverstanden ist, daß eine Überweisung dieses Antrages an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform erfolgt. Der Zusammenhang mit ,der materiellen Änderung der Straftaten gegen den Gemeinschaftsfrieden ist ja ganz offenkundig. Daß der Innenausschuß mitbeteiligt wird, ist durchaus sachgemäß, schon weil auch die Polizei mit davon betroffen ist.Zum Abschluß meiner Ausführungen darf ich — und da bitte 'ich die Damen und Herren von der CDU/CSU, genau zuzuhören — Ihren Fraktionskollegen Professor Mikat anführen. Er hat kürzlich geäußert — zitiert in den „Stuttgarter Nachrichten" vom 20. Februar 1970 —:Für Christen ist der politische Kampf schwieriger als für Nichtchristen, weil der Gläubige das Wohl des anderen, auch des Gegners, wollen muß.Wenn ich das mit Ihren Ausführungen, Herr Kollege Lenz, vergleiche, ist für mich zunächst ein unüberbrückbarer Widerspruch da.
Vielleicht überlegen Sie sich aber .das noch, was Herr Kollege Mikat gesagt hat, und beurteilen danach das Amnestiegesetz.
Das Wort hat der Abgeordnete Benda.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Dr. Lenz hat in gründlicher und, wie ich meine, vorzüglicher Weise die Auffassung meiner Fraktion vorgetragen. Ich brauche nichts von dem zu wiederholen, was er hier gesagt hat. Ich möchte mich darauf beschränken, mich in aller Kürze mit einigen Gesichtspunkten zu beschäftigen, die meine Damen und Herren Vorredner, insbesondere also Sie, Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, und Herr Kollege Krockert, zur Begründung der Amnestie vorgebracht haben.Herr Kollege Krockert hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe — und ich habe mir jedenfalls Mühe gegeben —, zur Begründung einer Amnestie lediglich angeführt, daß die Öffentlichkeit auf sie warte. Dies ist erstens nicht zutreffend, wenn mein Eindruck von der öffentlichen Meinung mich nicht täuscht.
Ich glaube, daß die Öffentlichkeit zu allerletzt auf die Durchführung dieses großartigen Vorhabens wartet. Im übrigen wäre es, selbst wenn es so wäre, bei weitem kein ausreichendes Argument, dieses Vorhaben zu unternehmen.
Ich komme sicher auf Einzelargumente, die Herr Kollege Krockert hier vorgebracht hat, noch zurück, möchte aber einen Punkt gleich herausgreifen. Sie haben, Herr Kollege Krockert, sich in einem anderen Sachzusammenhang mit „Bild" oder „Bild am Sonntag" beschäftigt — das will ich jetzt hier im einzelnen nicht untersuchen, das halte ich auch nicht für so wichtig — und haben einen Beitrag dort als die unzulässige, ja infame Vereinfachung oder Versimpelung eines Problems bezeichnet. Ich lasse offen, wieweit diese Bewertung eines Problems richtig ist oder nicht.Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen, daß ich den Satz, den Sie zum Verhalten der Polizei zu sagen für notwendig hielten, daß es nämlich die schwierige Aufgabe der Polizei in diesen Vorgängen
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Bendagewesen sei, daß sie, wie Sie sich ausdrückten, „den Obrigkeitsstaat gegen seine Bürger schützen mußte", auch für eine jedenfalls unzulässige Versimpelung des Problems halte.
Ich meine, daß dies schon gar nicht in einer richtigen und gehörigen Weise von der Aufgabe der Polizei in einer solchen Situation und — was vielleicht noch schwerwiegender ist — von der Einschätzung der Bürger dieses Staates ausgeht.Ich bin überhaupt gegen diese Versimpelungen. Ich muß auch der Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus sagen, daß es mir verdächtig erscheint, wenn man in einer sehr allgemeinen Art und Weise von „der Jugend" spricht, zu der es ein neues Verhalten zu finden gelte,
so als ob diejenigen, die jetzt unter diese Amnestie fallen sollen, „die Jugend" seien, für die man Liebe und Verständnis aufbringen müsse. Ich komme im übrigen auf dieses Argument gleich noch zurück. Ich glaube, daß es ein ganzer Teil — ich schätze, 96 oder 97 % — der jungen Generation ist, der mit gewalttätigen Veranstaltungen auf der Straße oder sonstwo weder etwas zu tun hatte noch etwas zu tun haben will
und der überhaupt kein Verständnis dafür hat, daß man ihn mit Schlägern, Rockern oder SDS-Leuten identifiziert.
Herr Abgeordneter Benda, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Krockert?
Sehr gern.
Herr Kollege Benda, ist Ihnen entgangen, daß ich den Bezug auf die Polizei und den Obrigkeitsstaat so formuliert habe, daß die Polizei durch die veraltete, 100 bis 120 Jahre alte Gesetzgebung gezwungen war, einen Obrigkeitsstaat zu schützen, den es nach unserer Verfassung nicht gibt?
Herr Kollege Krockert, ich bin gern bereit, mich mit diesem Thema im einzelnen auseinanderzusetzen, wenngleich ich an sich über das materielle Strafrecht in dem Bereich heute nicht reden wollte. Darüber laufen ja die Beratungen im Strafrechtssonderausschuß. Wir werden, wie ich annehme, in naher Zukunft Gelegenheit haben, hier in diesem Hohen Hause über das Ergebnis zu sprechen. Ich möchte in Kürze nur folgendes sagen.
Sie wissen — ich habe das für meine Fraktion bei dieser und jener Gelegenheit hier im Hause und auch anderswo sagen können —, daß das materielle Strafrecht in diesem Bereich in der Tat in einzelnen Bestimmungen den Erfordernissen der gegenwärtigen Zeit angepaßt werden muß. In welcher Weise das geschehen soll, darüber gibt es, wie Sie wissen, zwischen den Fraktionen nach wie vor erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Wir werden sehen, wie wir abkommen; darüber reden wir bei nächster Gelegenheit. Solange aber dieses Recht gilt, halte ich es — und das sage ich jetzt auf Ihre Frage — für eine legitime Aufgabe der Polizei genauso wie für eine legitime Aufgabe der Gerichte, in einer verfassungskonformen, d. h. mit dem Grundrecht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit übereinstimmenden Weise dafür zu sorgen, daß — wie es Aufgabe der Polizei ist — Sicherheit und Ordnung auf den Straßen und der Schutz von Leben und Gesundheit unserer Mitbürger gewährleistet bleiben.
Wenn die Polizei dies tut, hat sie Anspruch darauf, nicht als Büttel des Obrigkeitsstaates — zumal in diesem Hause — beschimpft zu werden, sondern sie hat Anspruch auf Schutz und Vertrauen von uns allen.
Ich finde, .daß wir Demokratie und Rechtsstaat einen schlechten Gefallen erweisen, wenn wir in dieser Weise die ohnehin sehr schwierige Aufgabe unserer Polizei durch solche Bemerkungen hier noch weiter erschweren. Da darf man sich allerdings nicht wundern, wenn eine zunehmende Unsicherheit einsetzt. Ich will jetzt zum Fall Littmann, den Herr Lenz hier erwähnt hat, noch gar' nichts weiteres sagen. Aber nehmen Sie einmal das alles zusammen. Da darf man sich doch nicht darüber wundern, wenn in der Tat der einzelne kleine Polizeibeamte, bei dem dann die Aufgabe konkret hängenbleibt, sich in einem Zustand der Unsicherheit befindet und möglicherweise im einzelnen Falle auch einmal falsch reagiert. Das ist dann die Folge derartiger Reden, zumal wenn sie vor diesem Hohen Hause gehalten werden.
Herr Abgeordneter Benda, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dürr?
Mit einer gewissen Sorge im Hinblick auf meine zeitliche Disposition will ich es dennoch gern gestatten, Herr Kollege.
Herr Kollege Benda, wollen Sie, insbesondere nach der Zusatzfrage des Kollegen Krokkert, Ihre Bemerkung, hier sei die Polizei als Büttel des Obrigkeitsstaates bezeichnet worden, wirklich noch voll aufrechterhalten?
Ich will mich nicht wiederholen. Ich halte sie in der Tat aufrecht; denn ich glaube den Herrn Kollegen Krockert, auch und gerade mit seiner Zusatzfrage, so verstanden zu haben, wie er es nach meinem Eindruck gemeint hat. Wenn ich mich täuschen sollte, bin ich natürlich sehr gern bereit, eine entsprechende Äußerung des
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BendaHerrn Kollegen Krockert — am besten von hier vorn — entgegenzunehmen.
Ich würde mich freuen, wenn wir uns auf der Linie, die ich für richtig halte und die ich soeben ausgeführt habe, verständigen könnten. Wenn Herr Kollege Krockert mir sagt, daß er mit dieser Auffassung einverstanden ist, bin ich sofort bereit, ihm zuzugeben, daß wir uns völlig einig sind.
Herr Abgeordneter Benda, gestatten Sie jetzt eine Frage des Herrn Abgeordneten Dichgans?
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Benda, trifft es zu, daß diejenigen Kollegen dieses Hohen Hauses, die unser Strafrecht in diesem Bereich für reformbedürftig halten, bei den Vorbesprechungen immer wieder erklärt haben, es sei selbstverständlich die Aufgabe der Polizei, auch in Zukunft mit den Mitteln des Polizeirechts für Ordnung zu sorgen?
Ja, das ist in der Tat immer wieder gesagt worden, und ich hoffe, daß es bei dieser übereinstimmenden Meinung über die Notwendigkeit, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, auch bleibt.Lassen Sie mich jetzt von diesem Thema weggehen, weil ich meine ohnehin sehr knappe Zeit dazu benützen möchte, mich mit einigen Argumenten auseinanderzusetzen. Ich frage unentwegt — und ich muß diese Frage an die Kollegen beider Fraktionen wiederholen —: Welches sind denn nun die Gründe, die nach Ihrer Auffassung für eine Amnestie zum gegenwärtigen Zeitpunkt sprechen sollen?
Ich rede dabei, um also Mißverständnisse auszuschalten, nicht von der auch von uns für notwendig gehaltenensogenannten Anpassungsamnestie, die an sich keine Amnestie ist, sondern die nur den Inhalt hat, daß es, wenn man einmal das materielle Strafrecht ändert — unabhängig davon, wie man es ändert —, ein Gebot der Gerechtigkeit ist, denjenigen gleichzubehandeln, dessen Tat aus Gründen, die 'meistens gar nicht in seiner Dispositionsbefugnis liegen, bereits früher Gegenstand eines Gerichtsverfahrens geworden ist und der verurteilt worden ist. Diesen kann man natürlich nicht anders behandeln als denjenigen, der später ,auf Grund einer Änderung des Strafrechts in eine günstigere Situation kommt. Das ist also insoweit eine Regelung, die 'dem allgemeinen Rechtsgedanken, wie er in § 2 des Strafgesetzbuchs 'bereits geltendes Recht ist, im Grundsatz und dem Sinne nach entspricht. Dagegen ist nichts einzuwenden.Aber welches sind die Gründe für eine Amnestie im Sinne der Befriedung — das ist der Umstand, um den es sich handelt —, bei der man also sogar denjenigen den Auswirkungen der Amnestie teilhaftig werden läßt, der auch nach den Vorstellungen der Kollegen der Koalition im Hinblick auf die Änderung .des materiellen Strafrechts in der Zukunft nach wie vor istrafbar bleiben soll? Das ist der Personenkreis, um den es sich handelt. Herr Kollege Dr. Lenz hat sich bereits mit dem möglichen Argument einer Jubelamnestie beschäftigt. Ich nehme an, wir können nach den Äußerungen der Kollegen der Koalition davon ausgehen, daß niese Jubelamnestie nicht beabsichtigt ist.Herr Bundeskanzler, Sie sehen mich erstaunt an. Ich darf den Ausdruck Jubelamnestie kurz erläutern. Es handelt sich um die mögliche Betrachtungsweise, daß wir davon ausgehen, daß alle Bürger unseres Landes ein solcher Andacht und in einem solchen Zustand geistiger Euphorie über die Großartigkeit der neuen Regierung, die wir nun haben, versunken sind, daß sie ihre Gedanken nur noch hierauf konzentrieren und gar nicht mehr dazu kommen, sich etwa auf die Straße zu begeben 'und dort in Zukunft Autos anzuzünden, Steine an Fensterscheiben zu werfen oder etwas Derartiges zu tun.
Ich sage, Herr Bundeskanzler, dies ist eine mögliche Begründung, von der sich die Kollegen der Koalition offenbar distanzieren wollten, ich nehme an, damit auch von der Mitteilung des „Spiegel", daß Herr Kollege Genscher, der Bundesinnenminister, zwar nicht unbedingt mit diesen Worten, aber doch mit der Tendenz dieser Überlegung im Kabinett oder, ich weiß nicht, bei einem Koalitionsgespräch gesagt haben soll — ich kann jetzt nur den „Spiegel" zitieren — —
— Herr Kollege Wehner, sich bin auf 'solche Quellen angewiesen und muß meine Informationen eben daher nehmen, woher 'ich sie kriege.
— Herr Kollege Wehner, Sie wissen, das ist eine unangenehme Situation. Ich bin ja sofort still, wenn man mir sagt, daß das alles nicht stimmt. Aber laut „Spiegel" soll Herr Kollege Genscher gesagt haben, man müsse 'eben den großartigen, tiefen innenpolitischen Einschnitt, der nun stattfinde, dadurch kennzeichnen: „Frei für alle", nicht „Freibier", sondern „Frei-Strafrecht".
— Herr Kollege Schäfer, sich bin daran interessiert, zu erfahren, ob eine solche Überlegung im Kreise der Bundesregierung etwa eine Rolle gespielt haben sollte. Wir werden darüber vielleicht noch etwas hören.Das wichtigere Argument, das Argument, mit dem ich mich hauptsächlich beschäftigen möchte, ist
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Bendadas der Kollegin Frau Dr. Diemer-Nicolaus, es gehe um eine Befriedung. Ich glaube, daß man, wenn ich Sie richtig verstehe, Ihre Argumente so zusammenfassen kann. Frau Kollegin, da 'stellen sich zwei Unterfragen; ich will sie aufwerfen.Erstens: Ist die Situation bereits befriedet? Ich sage Ihnen für meine Person — ich nehme ,an, daß mir darin mindestens 'sehr viele, wenn nicht alle Kollegen meiner Fraktion zustimmen würden, obwohl wir ,darüber bei uns eigentlich gar nicht gesprochen haben — folgendes. Wenn es eine Sicherheit 'geben würde, daß ein Zustand ,der Unruhe im Innern unseres Landes erledigt ist, wenn wir Gewißheit hätten, daß hier aus eigener Einsicht und auf Grund der notwendigen Tätigkeit der staatlichen Organe dieser Abschnitt abgeschlossen ist, dann würde ich es für denkbar halten, daß man sagt: Gut, dann laßt uns darunter einen Strich ziehen! In dieser Situation, Frau Kollegin, sind wir, so fürchte ich, nicht. Wir haben hier ja in einem von uns gemeinsam verabschiedeten Antrag, der auf eine Initiative unserer Fraktion zurückgeht, die Bundesregierung ersucht, uns bestimmte Berichte vorzulegen, zahlenmäßige Angaben und eine Beurteilung der Situation zu geben! Diese Berichte stehen noch aus. Wir werden sie hier behandeln, wenn wir sie bekommen haben. Ich persönlich habe nicht den Eindruck — auch auf Grund von Ereignissen der letzten Wochen und der letzten Tage —, daß dieser Abschnitt der Unruhe in unserem Lande sehr bald beendet sein wird, geschweige denn im gegenwärtigen Zeitpunkt beendet ist.Ein zweites mögliches Unterargument — ich glaube, das haben Sie speziell gemeint — ist, daß man sagt, man wolle diese Befriedung eben durch die Amnestie erreichen. Ich fürchte, Frau Kollegin, Sie werden das genaue Gegenteil erreichen. Sie werden zweierlei tun: Sie werden zum einen bei dem Staatsbürger, der nicht zu dem Personenkreis gehört, um den wir reden, genau die Fragen aufwerfen, die Herr Kollege Dr. Lenz hier aufgeworfen hat.Das Argument der Rechtsunsicherheit, der unterschiedlichen Rechtsprechung, der unterschiedlichen Strafen gibt es nicht nur im Bereich des sogenannten Demonstrationsstrafrechts. Jeder, der einmal wegen bestimmter Sachverhalte in Verkehrsstrafsachen vor Gericht Betanden hat oder die Rechtsprechung in dieser Hinsicht kennt, weiß, daß es in diesen Dingen eine weite Divergenz der Rechtsprechung gibt. Auch dort gibt es eine Rechtsunsicherheit. Meinen Sie, daß der Bürger, der nicht mit dem Strafrecht, um das wir heute diskutieren, sondern mit anderem Strafrecht in Konflikt geraten ist, auch nur die Spur eines Verständnisses dafür aufbringt, daß die Straftäter in jenem Bereich pauschal amnestiert werden und in seinem Bereich eine solche Erwägung nicht angestellt wird? Meinen Sie, daß das mit dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zu vereinbaren ist? Meinen Sie nicht, daß es der Grundsatz der Gerechtigkeit erforderlich macht, entweder innerhalb einer bestimmten Strafhöhe für alle oder aber eben für keinen, der sich gegen das Gesetz vergangen hat, eine Regelung zu treffen?
— Frau Kollegin, wenn Sie gestatten, darf ich den Gedanken zu Ende bringen. Ich gebe Ihnen dann sehr gern Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.Meinen Sie zum andern, daß Sie in dem Kreis, um den es sich handelt und den Sie ansprechen wollen, eine Befriedung erreichen werden? Ich habe mir vorgestellt, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn in Frankfurt, Berlin oder sonstwo eine der Gruppen der Herren vom SDS oder ähnlicher Organisationen am Rundfunk gesessen und dem zugehört hätte, was Sie hier in einer uns allen so nahegehenden Weise darüber gesagt haben, daß nämlich diese lieben jungen Menschen mit dem, was sie getan haben, nur dem Geist des Grundgesetzes hätten Geltung verschaffen wollen. Das Gelächter in diesem Kreis, das bei denen ausgebrochen wäre, die es uns seit zwei Jahren Tag für Tag offen sagen und schriftlich geben — wir haben doch das Papier auf dem Tisch —, was sie wollen, nämlich dieses Grundgesetz nicht wahren, sondern abschaffen,
kann ich mir vorstellen.
Ich fürchte — das ist eigentlich das Wichtigste, worauf ich noch einmal zurückkommen möchte —, daß dieses Vorhaben, das hier begonnen hat, nicht als ein Zeichen der Stärke unseres Rechtsstaates, sondern als ein Zeichen der Schwäche des Staates und der Demokratie verstanden, ich hoffe: mißverstanden, werden wird.
— Ich bitte um Entschuldigung, mein gelbes Licht leuchtet schon; ich habe keine Zeit mehr. Frau Kollegin, Sie werden sicher verstehen, daß ich nun zum Schluß kommen muß.Ich würde eine Amnestie, die auch nur als ein Zeichen der Schwäche dieses Staates mißverstanden werden könnte, für gefährlicher, für verhängnisvoll halten.Mein letzter Satz ist, wenn Sie gestatten, Herr Präsident, eine Erinnerung an die Zeit der Weimarer Republik, die regelmäßig ungefähr alle zwei Jahre eine Amnestie durchgeführt hat: am 12. November 1918, am 3. Dezember 1918, am 7. Dezember 1918, am 6. Juni 1920, am 4. August 1920, am 21. Juli 1922, am 17. August 1925, am 14. Juli 1928, am 24. Oktober 1930 und am '20. Dezember 1932. Das letzte Gesetz über Straffreiheit wurde damals kurz vor Toresschluß von KPD und NSDAP gemeinsam eingebracht.
Die Sozialdemokratische Partei, die am Anfang der Weimarer Zeit diese Gesetze über Straffreiheit regelmäßig mitmachte, bekam in den letzten Jahren, wenn ich die Geschichte der Weimarer Zeit richtig sehe, immer größere Bedenken. Ich darf nur noch zwei Zitate bringen. Der Abgeordnete Dr. Lands-
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Bendaberg von der Sozialdemokratischen Partei meinte am 21. Juni 1930, daß diejenigen, die, weil sie unfähig sind, ihren Gegner sachlich zu widerlegen, an Stelle des Arguments den Kampf mit den gefährlichen Waffen führen, dies in der angenehmen Aussicht auf eine sehr bald kommende Amnestie tun können, die sie von jeder Strafe ledig spricht. Der Abgeordnete Dr. Marum sagt am 9. Dezember 1932, unmittelbar vor Toresschluß, zur Amnestie, daß das Gefühl der Täter für ihr Unrecht verschwindet, daß sie angereizt werden, neue Taten zu- begehen, dies ließe sich überhaupt nicht von der Hand weisen. Er schließt mit dem Satz — und auch ich schließe mit ihm —: Jede Amnestie muß die Autorität des Rechts und das Rechtsgefühl auf das schwerste beeinträchtigen.
Meine Damen und Herren, ich darf bekanntgeben, daß die Fragestunde unmittelbar im Anschluß an diese Sitzung stattfindet.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier einige Bemerkungen zu Feststellungen in dieser Debatte treffen, die mir zunächst der Richtigstellung bedürftig erscheinen.
Sicher, Herr Kollege Lenz, das Verfahren beim Amnestiegesetz ist in einer parlamentarischen Demokratie immer etwas schwierig, weil — das wissen Sie so gut wie wir — ein solches Gesetz verhältnismäßig schnell behandelt werden muß und deswegen auch in der parlamentarischen Beratung eilbedürftig ist. Ich muß Sie nur im Hinblick auf einen Zwischenruf berichtigen, den Sie vorhin gemacht haben. Die Bundesregierung hat dem Bundesrat am 5. Februar den Entwurf eines Gesetzes über Straffreiheit mit dem ausdrücklichen Bemerken zugeleitet, diese Vorlage sei besonders eilbedürftig. Das, was von seiten der Bundesregierung geschehen konnte, um erstens die Eilbedürftigkeit deutlich zu machen und zweitens auch eine angemessene Beteiligung des Bundesrats herbeizuführen, ist sicher geschehen. Jede Kritik in dieser Richtung 'erscheint mir nicht gerechtfertigt.
Es ist nicht meine Sache, hier die Haltung der Fraktionen der Regierungskoalition zu rechtfertigen. Nur scheint mir aus meiner Sicht eine Feststellung unumgänglich notwendig. Wenn die Fraktionen, die Koalitionsfraktionen zumal, der Meinung sind, unter Berücksichtigung ihrer Überlegungen zum weiteren Fortgang der parlamentarischen Arbeiten an dem Gesamtvorgang sei es nützlich, ,das Verfahren mit einem eigenen Entwurf zusätzlich zu beschleunigen und zu erleichtern, dann ist das ihre Sache, und sie machen damit rechtens Gebrauch von der Initiative, die ihnen ohnehin zusteht.
Sie sind jedenfalls nicht — und da mögen Sie vielleicht aus der Erinnerung noch die eine oder andere
falsche Vorstellung mit sich herumtragen —, wie
Sie das hier gerne dartun möchten, bloße Erfüllungsgehilfen der Regierung. — Bitte schön.
Eine Zwischenfrage ,des Abgeordneten Dr. Lenz.
Herr Bundesjustizminister, ich habe zwei Fragen. Die erste ist; Würden Sie mir darin recht geben, daß ich eben nicht von „Erfüllungsgehilfen", sondern von „Geschäftsherren" gesprochen habe? Und die zweite: Sehe ich das nicht richtig, daß wir in die Zeitnot, in der wir jetzt sind, nicht hineingekommen wären, wenn der Entwurf zu diesem Gesetz gleichzeitig mit dem Reformentwurf zum materiellen Recht eingebracht wäre, der schon seit vier Wochen in unseren Beratungen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu Ihrer ersten Frage. Im Gesetzgebungsverfahren gibt es bekanntlich viele Geschäftsherren. Darüber sollten wir uns nicht miteinander streiten.Zweitens. Die Frage der Einbringung eines solchen Gesetzentwurfs ist in der Tat schwierig zu bestimmen. Ich muß noch einmal darauf hinweisen: ein Amnestiegesetz ist eine Sache, die, wenn sie ihren rechtspolitischen Sinn erfüllen soll, nicht Gegenstand zeitlich sehr langer Diskussionen sein sollte. Deswegen erschien es uns richtig, es im jetzigen Zeitpunkt und nicht früher — für eine längere Diskussion — einzubringen.
— Nein, ich würde doch sehr darum bitten, hier nicht mit dem Begriff der Zeitnot zu operieren. Das, was eigentlich Zeit in Anspruch nimmt und in Anspruch nehmen muß, ist die Frage der Reform der Delikte gegen den Gemeinschaftsfrieden. Die Amnestie selber wirft keine so schwierigen rechtlichen Fragen auf, daß ihre Beratung übermäßige Zeit in Anspruch nehmen muß, sondern sie ist im Gesetzgebungsverfahren — von einigen umstrittenen Fragen war die Rede hier — verhältnismäßig leichter, einfacher und damit auch schneller zu bewältigen. Deswegen kann man hier nicht von Zeitnot oder gar bewußter Zeitnot sprechen.Aber ich möchte mich noch mit zwei Fragen beschäftigen, die in der Debatte teils von Ihnen, teils von Herrn Benda aufgeworfen worden sind. Sie haben gesagt, eine Amnestie — und auch diese — bringe zwangsläufig Ungerechtigkeiten. Ich bestreite nicht, daß das so ist. Aber jede Sonderregelung auf dem Gebiete des Strafrechts führt dazu und läßt das nicht vermeiden. Dies war auch bei solchen Amnestiegesetzen, zu denen sich die CDU einmal vorbehaltlos bekannt hat, immer der Fall und nicht zu vermeiden. Dieser grundsätzliche Einwand kann insofern nur wenig überzeugend geltend gemacht werden. Denn es ist eben auch zu früheren Zeiten von Amnestien nicht nur die Rede gewesen. Man hat sie eingebracht und hat das dabei in Kauf genommen.Hier geht es um die einfache Abwägung: wollen Sie unter allen Umständen, daß alle diejenigen,
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Bundesminister Jahngegen die im Zusammenhang mit diesen Straftaten Verfahren anhängig sind, bestraft werden, oder wollen Sie, daß wir versuchen, auch — nicht nur — im Bereich der Strafjustiz unter diesen gesellschaftlichen Vorgang einen Schlußstrich zu ziehen, soweit es um unsere Verantwortung und unsere Möglichkeiten geht?Da scheint mir Ihre Argumentation etwas widersprüchlich zu sein. Sie sagen: soweit es sich um eine reine Rechtskorrekturamnestie handelt, seien Sie ja auch der Meinung, daß sie erfolgen müsse. Nur: sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß Sie, wenn Sie eine reine Rechtskorrekturamnestie vornehmen, im Grunde zum Ausdruck bringen, daß Sie eine nur für Demonstranten bestimmte und gültige Amnestie haben wollen?
Danach würde nämlich nur amnestiert, wer sich selbst wegen Auflaufs, Aufruhrs oder Landfriedensbruchs oder Widerstands strafbar gemacht hat. Von der Straffreiheit ausgeschlossen wären aber alle Demonstrantengegner und insbesondere auch alle Polizeibeamten, die im Zusammenhang mit den Vorgängen bei den Demonstrationen selber die Grenzen überschritten haben, die das Strafrecht zieht. Ich muß dies eine besondere, zusätzliche, in diesem Zusammenhang nicht nur überflüssige, sondern vermeidbare Ungerechtigkeit nennen.Wir sind uns also darüber einig, daß bei einer Amnestie ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit nicht zu vermeiden ist. In diesem Bereich sollte man aber diejenigen, die an dem Vorgang überhaupt beteiligt waren, wenigstens gleichbehandeln und nicht zweierlei Maß für sie gelten lassen. — Bitte schön!
Herr Bundesjustizminister, könnten Sie 'sich vorstellen, ,daß das vielleicht der Grund dafür ist, daß man bei neun materiellen Strafrechtsänderungsgesetzen nur ein einziges Mal, und zwar unter einem sozialdemokratischen Justizminister, eine Rechtskorrekturamnestie gemacht hat? Genau das Argument, das Sie jetzt vortragen: daß das notwendigerweise Ungerechtigkeiten mit sich bringt, die wir genauso sehen wie Sie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich kann das nicht bestätigen. Wir haben hier eine Auseinandersetzung zu führen über eine Frage, bei der ich jetzt gern einmal herausbekommen möchte, wohin die Logik Ihrer Argumentation eigentlich führt. Sie sagen auf der einen Seite, Sie wollen eine reine Rechtskorrekturamnestie. Sie sagen auf der anderen Seite: „Jede weitergehende Amnestie wird von uns abgelehnt." Ich weise Sie in diesem Zusammenhang darauf hin, daß, wenn Sie Ihre Vorstellungen tatsächlich verwirklichten, Sie damit eine neue Ungerechtigkeit schaffen und eine bestimmte Gruppe der in diesem Zusammenhang möglicherweise strafbar Gewordenen von der Amnestie ausschließen würden. Aus diesem Grunde, Herr Kollege Lenz, können wir das, was Sie an dieser Amnestie bejahen, nicht für sich ,allein zur Regelung bringen; wir müssen diese Amnestie umfassender 'anlegen. Dies versuche ich Ihnen im Augenblick gerade deutlich zu machen. — Bitte!
Herr Bundesjustizminister, sind Sie bereit, davon Kenntnis zu nehmen — ich frage ganz ohne polemischen Unterton —, daß ich vor Ihnen gesagt habe, wie man das Ziel der Rechtskorrektur hier erreichen könne, ob durch eine Amnestie oder durch Begnadigungen, sei eine Frage, die man im Ausschuß erörtern müsse? Ich sehe das Problem genauso wie Sie, wenn ich das sagen darf, aber ich fürchte, Ihre Antwort und meine Antwort auf die von uns beiden gesehene Frage fallen eben verschieden aus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann den Zusammenhang dieser Ihrer Frage mit dem, was ich Sie gefragt habe, nicht gut erkennen. Dennoch will ich gern darauf eingehen, Herr Kollege Lenz, und zunächst einmal feststellen:Die Zahl der in diesem Zusammenhang anhängigen Strafverfahren ist so groß, daß Sie vernünftigerweise und aus allen rechtspolitisch sinnvollen Erwägungen heraus dies nicht ersetzen können durch ein paar tausend Gnadenerweise durch die Landes j ustizminister.
Dies wäre rechtspolitisch nicht zu verantworten, ganz abgesehen davon, daß Sie damit ja das Maß der Ungleichheit und Ungerechtigkeit noch entschieden vergrößern würden; denn Sie würden eine große Zahl — Tausende von Fällen — von Einzelentscheidungen haben, bei denen Sie gar nicht vermeiden könnten, daß unterschiedliche Maßstäbe — zumindest unterschiedlich von Land zu Land — angelegt würden und damit nicht einmal der Gedanke einer generellen Gleichbehandlung wenigstens dieses Kreises verwirklicht werden könnte. Dies kann kein Ausweg sein.Aber. Sie haben gefragt: Ist das überhaupt der richtige Weg? Und der Kollege Benda hat gefragt: Was sind eigentlich die Gründe? Ich will versuchen, Ihnen darauf eine sehr knappe Antwort zu geben. Sie finden die Antwort auf diese Frage nicht dadurch, daß Sie hier einzelne Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf herausgreifen und diskutieren. Sie müssen sich den politischen Vorgang deutlichmachen, um den es geht, und darauf eine politische Antwort finden.Die große Zahl 'der Demonstra1iionen, überwiegend getragen von jungen, zu dieser Demokratie selber jasagenden Menschen hat doch dazu geführt, daß im Bewußtsein des gesamten Volkes ,einiges in Bewegung geraten ist. Weit über den 'Kreis der Demonstranten hinaus haben weite Teile — ich sage nicht „alle"; wer könnte das! — der jungen Generation ihre Sympathie mit diesem Aufbegehren gegen Vorstellungen und Zustände bekundet, die sie für nicht mehr zeitgemäß angesehen haben.
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Bundesminister JahnEs hat in diesem Zusammenhang zwei Dinge gegeben, auf die wir jetzt eine Antwort finden wollen. Zu einem Teil haben diejenigen, die diese politischen Aktionen vorgenommen haben, damit gegen, wie auch von Ihnen zugestandien wird, veraltete Strafgesetze verstoßen, zum Teil haben sie darüber hinausgehende, den Rahmen des Demonstrationsrechtes normalerweise sprengende Straftaten begangen. Aber ,all das ist ein politischer Vorgang, und Sie . müssen darauf eine politische Antwort finden. Die politische Antwort, die wir darauf finden wollen, ist nicht nur die der Amnestie. Die politische Antwort, die wir finden können und müssen, schließt die Beantwortung folgender Fragen sein: Was von dem, was hier kritisiert wird, wird mit Recht kritisiert? Was bedarf ,der Erneuerung? In welcher Richtung müssen ,die Bemühungen der staatlichen Ordnung gehen, um der Kritik gerecht zu werden?Ein Baitrag zu dem Vorgang insgesamt ist auch, daß man unter ,das gesamte Kapitel der Demonstrationen im strafrechtllichen Bereich einen Schlußstrich zieht und sagt: Von uns aus ,soll nicht nachträglich noch mit den Mitteln des staatlichen Strafrechts eine Auseinandersetzung überetwas geführt werden, wo wir 'im politischen Raum schon sehr viel weiter sund. Wir können das hinter uns lassen, und wenn wir 'das können. wollen wir es auch hinter uns lassen und einen Beitrag dazu leisten, daß diejenigen 'in der jungen Generation, die zur politischen Weiterentwicklung in unserem Lande sicher ihren Beitrag geleistet halben, für das gewonnen werden, was sie im Grunde ohnehin wollen,
nämlich für 'die Mitarbeit in und an diesem Staat. Wir sollten dann alles unterlassen, was dazu führen könnte, sie zurückzustoßen oder dieses unser Bemühen ein Zweifel zu ziehen. Dies ist im Grunde die politische Entscheidung.
— Verehrter Herr Kollege Benda, ich möchte jetzt gern zum Schluß kommen und keine Zwischenfrage mehr zulassen. Sie können sich der politischen Entscheidung, ob Sie an dieser Haltung unseres Gemeinwesens, dieses demokratischen Staates aktiv mitwirken wollen, nicht entziehen. Sie müssen Farbe bekennen, Sie müssen ja oder nein sagen. Wir sagen ja zur !inneren Aussöhnung in diesem Lande.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Nach dein Ausführungen des Herrn Bundesministers der Justiz kann ich mich kurzfassen. Ich möchte lediglich zu vier Punkten Stellung nehmen.
Zunächst möchte ich noch einmal auf den Verfahrensgang zu sprechen komimen. Es gibt einen alten Rechtsgrundsatz, der lautet: Spätes Recht ist halbes Recht, frühes Recht ist ganzes Recht. Das gilt auch für 'diese Amnestie, weil es ,eine Gerechtigkeitsamnestie ist.
Wenneinige nun sagen, wir hätten gegen Gewohnheitsformen im Parlament verstoßen, so kann ich nur entgegnen: Hier 'ist, um eine Amnestie rasch durchbringen zu können,
die Sache über die Form zu stellen. Ich gebe die Hoffnung nicht rauf, daß die Damen und Herren des Bundesrates das im Hinblick auf diesen alten Rechtsgrundsatz verstehen.
Zweitens. Wenn ich ,es richtig sehe, ist von Ihnen, Herr Lenz und Herr Benda, 'anerkannt worden, daß eine Rechtskorrektur — cum grano salis — notwendig ist. Sie verwiesen lauf die Möglichkeit der Gnadenakte. Der Bundesminister der Justiz hat mit Recht gesagt, eine Gnadenakt-Regelung in Massenform berge immer Ungerechtigkeit in sich. Ich glaube, bei der Menge derer, die einer Rechtskorrektur unterliegen sollten, würde eine Regelung im Wege von Gnadenakten die Rechtsunsicherheit und Rechtsunfriedlichkeit nur noch vergrößern. Aber genau das wollen wir nicht.
Es ist weiter gesagt worden, die Öffentlichkeit warte ja gar nicht auf eine Amnestie. Ich will nicht darüber rechten, was eine Abstimmung darüber zur Zeit ergäbe.
Aber versteht sich das Parlament nicht auch als Vorreiter der öffentlichen Meinung?
— Bitte, Herr Benda!
Herr Kollege ,de With, ist Ihnen entgangen, daß Ihr Fraktionskollege Krockert bei der Begründung Ihres Antrags als Kernargument für die Notwendigkeit einer Amnestie angeführt hat, dies sei eine Amnestie, auf die die Öffentlichkeit warte, daß er also genau das Argument, gegen das Sie sich hier eben — übrigens mit Recht — gewandt haben, benutzt hat?
Herr Benda, wenn ich meine Ausführungen recht in Erinnerung habe, habe ich gesagt: ich möchte nicht darüber rechten, was eine Abstimmung ergäbe. Ich verstehe das Parlament jedenfalls als Vorreiter der öffentlichen Meinung.Weiter ist gefragt worden, was denn eigentlich der Grund für die Amnestie sei. Ich denke, Herr
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1706 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Dr. de With
daß wir eine Jubelamnestie, etwa wie zu Kaisers Geburtstag, nicht wollen. Das dürfte doch hinreichend klar sein. Was wir wollen, ist eine Gerechtigkeitsamnestie, weil sich unsere Amtsrichter, unsere Polizeibeamten und die Demonstranten mit Gesetzen herumplagen mußten, die aus des Kaisers Zeit stammen. Das ist doch der Grund.
Es ist schon ausgeführt worden: Wir können es nicht hinnehmen, daß die einen nach dem alten Recht mit hohen Strafen belegt wurden und daß nach Inkraftsetzen der Reform dieselbe Handlung nicht mehr verfolgt werden würde.
Meine Herren von den Unionsparteien, hier ist die Frage angeklungen, was denn das für Demonstranten seien. In Ihren Reihen befindet sich ein sehr prominenter Demonstrant, nämlich Herr Laepple, der ein Jahr Gefängnis — das Urteil ist noch nicht rechtskräftig — bekommen hat; er kandidiert jetzt in Ihren Reihen für den Landtag, ein sehr ehrenswerter und ordentlicher Mann. Gerade dieses Beispiel widerlegt doch eine negative Pauschalierung derer, die aus gutem Willen demonstriert haben, und ich möchte meinen, die Mehrheit derer, die auf die Straße gegangen sind, protestierte bona fide aus Unbehagen an Zuständen, die berechtigt kritisiert werden müssen. Und vielleicht sehen wir, wenn wir an unser Herz klopfen — das müssen wir doch hier einmal sagen, und das sage ich jetzt ganz ernst , doch schon gewisse Erfolge der Demonstrationsbewegung. Ich glaube, unsere Toleranzgrenzen sind weiter geworden, schon allein in den Fragen der Etikette. Manch einer ist jetzt eher geneigt, darauf zu schauen, was einer im Kopf hat, und weniger darauf, was einer auf dem Kopf hat.
Ich frage, ob wir die Abschaffung der Titelsucht und die Abschaffung der Titelage so schnell bekommen hätten, hätte es diese Bewegung in der Jugend nicht gegeben. Sogar Bayern hat sich bereit erklärt, das Barett abzuschaffen. Das ist auch ein Punkt, den ich hier ansprechen wollte.
— Wenn Sie dazwischenreden, dauert es noch länger.
Und noch ein letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Amnestie betrifft — das sagt der Abs. 1 von § 2 unseres Gesetzentwurfs — diejenigen, die mit reformierten Bestimmungen kollidiert sind. Es ist etwas polemisiert worden gegen den Abs. 2, unter den auch Tatbestände fallen, die nicht reformiert werden. Aber gerade der Fall Laepple beweist doch, daß es einen Abs. 2 geben muß. Denn manche Gerichte sind geneigt, von den reinen Demonstrationsdelikten, die reformiert werden, wie z. B. Landfriedensbruch, umzuschalten auf Nötigung. Deswegen — und das ist genau der Fall Laepple, meine ich — ist die Amnestie notwendig. Daß es bei der Unsicherheit natürlich sehr leicht zu Wiederstandshandlungen und auch zu Körperverletzungen kommen konnte, ist doch klar. Ich warne davor, polemisierende Vergleiche zu ziehen zwischen dem, der da oder dort etwas anzündet, und dem, der etwas anzündet in der Demonstration. Hier sollte nicht polemisiert werden, weil diese ernste Sache zu leicht auf die schiefe Ebene gerät.
Was wollen wir mit der Amnestie? Wir wollen die Glaubwürdigkeit des Rechts wiederherstellen. Wir meinen, dieser Staat ist stark genug, daß er sich Großzügigkeit leisten kann und nicht kleinlich herummäkeln muß.
Das Amnestiegesetz will einen Schlußstrich ziehen und den Weg für einen Neubeginn bauen helfen. Das muß im Verein mit der Reform des Demonstrationsrechts durchgeführt werden.
Ich darf deswegen beantragen, die Vorlage an den Strafrechtssonderausschuß — federführend — zu überweisen. Daß der Innenausschuß mitberatend tätig wird, ergibt sich schon auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung. Der Strafrechtssonderausschuß sollte als zuständig angenommen werden, weil erstens der Sachzusammenhang dafür spricht, weil zweitens der Strafrechtssonderausschuß wohl die größte Sachkunde aufweist — dort spielten sich die Hearings ab — und letztlich weil die Regelung genau in den Zeitplan des Strafrechtssonderausschusses paßt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht meine Absicht, diese Diskussion in die Länge zu ziehen, aber ich glaube, hier sind eine ganze Reihe von so fundamentalen Fragen angesprochen worden und stehen zur Diskussion, daß wir hier noch einiges zusätzlich sagen müssen.Nach dem bisherigen Verlauf dieser Diskussion möchte ich den Ausspruch eines Mannes zitieren, den ich persönlich sehr hoch verehre und den ich als junger Referendar im Rechtsausschuß dieses Bundestages bei der Beratung des Amnestiegesetzes 1954 erlebt habe. Dieser Ausspruch lautete „Darum rate ich: macht Amnestien nicht". Es stammt von Adolf Arndt, den ich persönlich sehr hoch verehre.Meine Damen und Herren, was wir heute erleben, ist genau das Gegenteil der tiefen Überzeugung, die damals Adolf Arndt zum Ausdruck gebracht hat. Hier wird diese Amnestie hochgejubelt, Herr Kollege de With, zu einer Gerechtigkeitsamnestie, und ich glaube, genau das ist in dieser Diskussion der falsche Zungenschlag.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1707
VogelIch will mich zur Begründung der Amnestie nicht näher auslassen. Sie ist immer die gleiche: 100 Jahre alte Gesetze und Unterschiedlichkeit in der Rechtsprechung. Ich will dazu jetzt nichts sagen, weil das die Diskussion verlängern würde.Hier ist auch gesagt worden:- Selbst wenn die Bereitschaft der Öffentlichkeit, eine über die reine Rechtskorrekturamnestie hinausgehende — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Diemer-Nicolaus?
Darf ich den einen Gedanken zu Ende führen, Frau Kollegin. Ich bin dann gern dazu bereit und freue mich auf Ihre Frage.
Hier ist also weiter gesagt worden, selbst wenn die Bereitschaft zu einer über die reine Rechtskorrekturamnestie hinausgehenden Amnestie in der Öffentlichkeit nicht vorhanden sei, müsse sich eben dieses Parlament zum Vorreiter der öffentlichen Meinung machen. Ich würde ganz allgemein sagen, daß das ein sehr bedenklicher Ausspruch ist, weil man damit hier im Parlament sehr vieles begründen könnte. Ich halte dies gerade in diesem Zusammenhang für eine sehr unzulässige Begründung, weil ich der Auffassung bin, daß eine Amnestie auch von einem breiten Konsens in der Öffentlichkeit getragen sein muß, um wirklich die Wirkung zu erzielen, die in der Öffentlichkeit gefordert wird.
Bitte sehr, Frau Kollegin!
Herr Kollege, Sie haben auf Herrn Kollegen Arndt als Gegner der Amnestie 1954 hingewiesen. Darf ich Sie bitten — ich habe entsprechend zitiert —, doch einmal die Rede des Kollegen Arndt vom Sommer 1968 nachzulesen, in der er sich absolut f ü r die Amnestie und gerade für diese jetzige Amnestie für unsere irrende Jugend ausgesprochen hat.
Frau Kollegin Diemer-Nicolaus, mir ist das bekannt. Ich möchte hierzu einfach ,sagen, daß ich diese Ihre Frage aus Respekt, den ich vor Adolf Arndt habe, nicht näher beantworten möchte.
— Herr Kollege Schäfer, ich habe noch ein schönesZitat von Herrn Arndt zur Verfügung, über das wirhier noch sprechen werden; ich kann Sie also beruhigen.Meine Damen und Herren! Eines der Argumente für die Ausdehnung über den Rahmen einer reinen Rechtskorrekturamnestie hinaus, das immer wieder gebracht wird, ist das, daß man dann die andere Seite sozusagen, den Bereich der Gegendemonstranten, den Bereich der Polizeibeamten, aus einer solchen Amnestie herausnähme. Zunächst einmal wehre ich mich dagegen, daß hier gesagt wird: Wenn ihr nur eine Rechtskorrekturamnestie wollt, dann seid ihr doch im Grunde genommen einseitig für eine Amnestie nur für Demonstranten. — Hier liegt doch gar nicht die Ursache für die Amnestie, sondern sie hat einzig und allein ihre Begründung in der Rechtskorrektur und gehört deshalb in den Rahmen dieser Rechtskorrektur hinein und sollte nicht über sie hinausgehen. Ich sage ganz offen — auch für meine Fraktion —: Wenn sich Polizeibeamte im Zusammenhang mit Demonstrationen durch Delikte strafbar gemacht haben, die auch künftig strafbar sind, dann sind wir der Auffassung, daß sie auch in Zukunft verfolgt werden müssen. Ich glaube, das sollte kein Strait sein. Im übrigen sind die Fälle, wie wir ja alle wissen, nicht so sehr praktisch. Ich habe mehr das Gefühl, daß der Hinweis auf die Polizeibeamten und die Gegendemonstranten hier doch eher eine gewisse Alibifunktion für die erweiterte Amnestie einnimmt.Meine Damen und Herren, ein Wort zum Schluß, das iich ohne jede Polemik hier sagen möchte: Ich habe mit einiger innerer Bedrückung das Drängen innerhalb der Koalitionsfraktionen seit Bildung dieser Bundesregierung auf eine Amnestie erlebt. Was mich noch mehr bedrückt, ist die Tatsache, daß man offenbar im neugewonnenen Gefühl der Mehrheit wild entschlossen ist, auch gegen die Opposition diese Amnestie im Bundestag zu verabschieden. Nun, meine Damen und Herren, formal sind Sie im Recht, formal können Sie mit Ihrer knappen Mehrheit dm Deutschen Bundestag eine solche Amnestie verabschieden.
— Sie wissen doch, wie knapp die ist; das brauche ich Ihnen doch sicher nicht zu sagen. Meine Damen und Herren, hier taucht eben die Frage auf, wieweit das für die Entwicklung des Rechtsgefühls, für die Entwicklung des Rechtsstaats bei uns erträglich ist, eine solche Amnestie, derartig weite Eingriffe, mit knappen Mehrheiten im Parlament zu verabschieden.Eben hierzu — und damit möchte ich auch schließen — möchte ich noch einmal Adolf Arndt zitieren, der im Jahre 1954 hier im Hause 'ausgeführt hat, daß eine Amnestie, um ihren Sinn zu erfüllen, wie kaum ein anderes 'Gesetz der Einhelligkeit bedarf.
Wörtlich hat er erklärt:
Eine das Gefüge des Rechts unvermeidliche erschütternde Amnestie muß von möglichst allen demokratischen Kräften getragen werden, wenn sie als Ausnahme von der Regel einmal erträg-
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1708 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Vogellich sein soll und nicht parteiliche Willkür werden will.
Das Wort hat der Abgeordnete Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil mir in den Ausführungen des Kollegen Vogel ein Mißverständnis über die Aufgabe des Parlaments enthalten zu sein scheint, das wir in diesem Hause doch wohl klären müssen, wenn wir eine solch wichtige Frage behandeln.
Es ist hier vom Kollegen de With gesagt. worden, das Parlament müsse gegebenefalls der Vorreiter der öffentlichen Meinung sein. Das ist völlig zutreffend. Herr Kollege Vogel hat den Eindruck erweckt, das Parlament müsse sozusagen das vollziehen, was die öffentliche Meinung sei oder was die Öffentlichkeit fühlt. Das halte ich für eine falsche Auffassung von der Demokratie.
— Herr Vogel, Sie haben dem widersprochen.
Sie haben auch noch etwas anderes gesagt. Sie haben gesagt, man könne eine solche Sache nur mit einer breiten Mehrheit machen und nicht mit einer knappen Mehrheit.
— Entschuldigen Sie, es wird entscheidend sein, daß die Argumente, die die Mehrheit dieses Hauses hat — ob sie groß oder klein ist, spielt dabei keine Rolle —, von allen Seiten gewürdigt werden. Sie sind eingeladen, in einer solchen Frage, die zur inneren Aussöhnung unseres Volkes beiträgt, mit zu handeln.
Die Mehrheit hat die Aufgabe, hier zu sagen, was
sie will. Sie können nein oder ja dazu sagen. Ich
möchte Sie jedenfalls bitten, hier mit zu handeln.
— Ich darf den Gedanken zu Ende führen. Entschuldigen Sie, Sie können sich nachher zu Wort melden. Ich habe auch keine Zwischenfrage gestellt, obwohl das nahegelegen hätte.
Die Frage, um die es geht, ist, wie dieses Parlament handeln soll. Soll es auf Grund von Allensbach-Umfragen einen imaginären Willen einer imaginären Mehrheit vollziehen, oder soll es überhaupt Fragen von allgemeiner Bedeutung erst einmal ins Bewußtsein rücken? Es ist doch so, daß .in unserem Volk etwa über das Für und Wider einer Amnestie ein Wille überhaupt erst entstehen kann, wenn im Parlament die Argumente ausgetauscht worden sind. Das kann nicht vorher geschehen. Es ist vielmehr geradezu die Aufgabe des Parlaments, durch Austausch von Argumenten zu einer Willensbildung in unserem Volk über eine so fundamentale Frage beizutragen. Wenn Sie vorher Umfragen veranstalten, werden Sie Gefühle mobilisieren oder Gefühlswerte registrieren können, aber keine fundierte Meinung über ein ganz bestimmtes Problem unserer Demokratie. Deshalb ist es die Aufgabe des Parlaments, durch Austausch von Argumenten überhaupt zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen.
Der Begriff der öffentlichen Meinung taugt im Grunde gar nicht viel für diese Diskussion. Das muß man wissen.
— Sie haben ein bißchen falsch zitiert, und auf das Bißchen kommt es immer an. Es ist hier nämlich von der Öffentlichkeit gesprochen worden. Es sind hier von meiner Kollegin Diemer-Nicolaus z. B. Herr 'Bischof Scharf und andere zitiert worden. Das ist sicher ein Vertreter der Öffentlichkeit; das ist doch gar keine Frage.
Es wird doch überhaupt erst durch die Initiative der Bundesregierung 'und der Parlamentsmehrheit ins Bewußtsein gerückt, daß hier gehandelt werden muß. Es ist gerade nicht die Aufgabe der Mehrheit, abzuwarten, bis sich irgendwelche Meinungen gebildet haben. Wie sollen sie sich denn bilden? Hier in diesem Hause muß vielmehr eine politische Zielansprache stattfinden, auf Grund derer sich die Öffentlichkeit überhaupt erst ein Bild von den Problemen machen kann. Das ist die Aufgabe des Bundestages.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Herr Kollege Moersch, damit Sie hier keinen Türken aufbauen: Ist Ihnen entgangen, daß ich ausdrücklich unter Beschränkung auf eine Amnestie gesagt daß ich im Falle einer Amnestie ,der Auffassung bin, daß sie von einem breiten Konsens in der Öffentlichkeit getragen sein müsse, um die Funktion zu erfüllen, die man. mit ihr 'erfüllt haben will?
Herr Kollege Vogel, ich habe das gehört. Hier ist :doch die Frage, ob ,es dann richtig war, so zu handeln, wie .die Mehrheit gehandelt hat. Ich sage Ihnen, daß ich die Hoffnung habe, daß nach der ausgezeichneten Begründung, ,die hier von seiten ,der Koalition und des Bundesjustizministers gegeben worden ist, sogar bis in 'ihre Reihen hinein diese breite Mehrheit in der Öffentlichkeit entsteht, die bisher 'sicherlich nicht vorhanden ist, weil die Gefühle zunächst einmal dagegenstehen. Das heißt, wir machen den Versuch, in dieser Demokratie mit dem Verstand das zu überwinden, was gefühlsmäßig
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1709
Moerschoft gegen solche Dinge spricht, weil wir Repräsentanten sind. Wir sind ja in einer repräsentativen Demokratie. Sie haben die Aufgabe, auf Grund Ihres Mehr ,an Einsicht auch die öffentliche Meinung zu verändern,wenn die öffentliche Meinung nicht auf rationalen Argumenten beruht, sondern auf Gefühlen, auf Stimmungen, die in 'diesem Land auch gemacht worden sind. Um dieses Zeitalter der Gefühle und der Stimmungen zu überwinden, muß das Parlament seine führende Rolle hierfür in Anspruch nehmen. Dannwird auch eine breite Mehrheit für vernünftige Entscheidungen in diesem Volk vorhanden sein,
Die Herren, .die Zwischenfragen stellen wollten, sind um dieses ihr Recht gekommen, weil der Redner am Ende war.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ringer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu dem Thema der Amnestie nur noch einige wenige Sätze sagen.
Es ist von der Frau Kollegin Diemer-Nricolaus eben betont worden, daß die Frage der Amnestie eine wesentlich politische Frage sei. Gerade da, bei solchen Formulierungen, müssen uns Bedenken kommen. Die Frage der Amnestie ist für uns nicht eine Frage der Politik, sondern eine Frage ,der Gerechtigkeit.
Gerade weil die Amnestie in unserer historischen Entwicklung für die Politik der jeweiligen Regierung so oft mißbraucht worden ist, müssen wir in dieser Frage so vorsichtig sein.
Die Amnestie ist in der historischen Entwicklung vor 1918 vorwiegend als ein Mittel höherer Politik benutzt worden. Daraus kamen dann die sogenannten Jubelamnestien. Nach 1918 ist die Amnestie vorwiegend zur angeblichen Befriedung benutzt worden. Herr Kollege Benda hat schon darauf hingewiesen, wie sehr die Amnestie in der Weimarer Republik zu einer Rechtsunsicherheit geführt hat und den Eindruck erweckt hat, daß der Staat sich nicht mehr wehren könne. Insbesondere nach 1933 wurde dann die Amnestie als ein Mittel der Politik behandelt, indem man nämlich die politischen Anhänger amnestierte und die politischen Gegner nicht. Nachdem wir diese Entwicklung in unserem Staat hinter uns haben, muß gerade davor gewarnt werden, die Amnestie auch heute noch als ein Mittel der Politik anzusehen. Die Amnestie darf allenfalls als ein Mittel im Rahmen der Änderung von Rechtsvorschriften benutzt werden, eben als Rechtskorrekturamnestie, es sei denn, eine völlige Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse wäre gegeben, wie wir es in der Zeit von 1945 bis 1949 hatten, und aus diesem Grunde kamen ja dann auch die beiden Amnestien 1949 und 1954. Das heißt also: Beschränkung der Amnestie jetzt auf die Vorschriften, die reformiert werden sollen.
Herr Kollege de With hat gesagt, dieser Staat sollte Großzügigkeit zeigen und nicht kleinlich herummäkeln. So ähnlich haben Sie es formuliert. Nun, wenn es um Körperverletzung, um Sachbeschädigung, wenn es um den Schutz der Bevölkerung und auch der Polizei geht, kann man nicht darauf hinweisen, daß Körperverletzung und Sachbeschädigung Kleinlichkeiten seien, an denen man nicht herummäkeln könne; da müsse die große Geste kommen.
Ferner wird immer wieder gesagt, es handle sich um Vorschriften aus des Kaisers Zeit. Jawohl, Sachbeschädigung, Körperverletzung — wie die Vorschriften, die reformiert werden sollen —, das sind Vorschriften aus des Kaisers Zeit, aber Vorschriften, die wir zum Schutz der Bürger und der Polizei brauchen. Es geht uns doch darum, daß jetzt nicht bei einer Amnestie eine Großzügigkeit gezeigt wird, die allzusehr auf Kosten des Bürgers und der den Bürger schützenden Polizei geht.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Es ist der Antrag gestellt, die Vorlage an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform als federführenden Ausschuß und an den Innenausschuß zu überweisen. Besteht Widerspruch? — Enthaltungen? — Dann ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir kommen dann zum nächsten Punkt der Tagesordnung:Fragestunde— Drucksache VI/415 —Zunächst die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts, beginnend mit der Frage 126 des Abgeordneten Dr. Hauff. Ist der Abgeordnete Dr. Hauff im Saal? — Er ist offenbar nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 127 des Abgeordneten Dr. Marx , auf. —Inwieweit kann Radio Moskau, ein offiziöses, monopolisiertes Instrument der Sowjetregierung, am 17. Februar 1970 in seinem russischsprachigen Dienst behaupten: „Es ist allgemein bekannt, daß die Bundesrepublik Deutschland an der Herstellung von Kernwaffen in der Republik Südafrika teilnimmt."?Die Frage wird auf Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahrendorf vom 27. Februar 1970 lautet:Die zitierte Behauptung ist nicht zutreffend. Die Behauptung, die Bundesrepublik Deutschland beteilige sich an der Herstellung von Kernwaffen in irgendeinem Lande, ist eine absurde Erfindung, die schon früher verbreitet worden ist. Solche falschen Behauptungen gewinnen durch mehr oder minder regelmäßige Wiederholung nicht an Wahrheitsgehalt. Die Bundesrepublik Deutschland hat im November 1969 den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet. Dies entspricht der Haltung der Bundesregierung zur Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen.Ich rufe die Frage 128 des Abgeordneten Reddemann auf:Mit welchem Ergebnis hat der Parlamentarische Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Herr Dahrendorf, wie er im Deutschen Bundestag zusagte, die vom Abgeordneten Wienand in der Fragestunde vom 12. Dezember 1969 gestellte Frage untersucht, der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard habe möglicherweise in den 50er Jahren einen Vertrag mit der CSSR unterzeichnet, der nicht die korrekte Bezeichnung Bundesrepublik Deutschland trug?Der Abgeordnete ist im Saal. — Bitte, Herr Staatssekretär!
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1710 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Das Ergebnis der von mir in der Fragestunde vom 12. Dezember 1969 angebotenen Prüfung lautet folgendermaßen:
Es gibt zwei Verträge aus den Jahren 1947 und 1948, die seinerzeit für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet von den Hohen Kommissaren unterschrieben worden sind und die sich auf Vereinbarungen im Bereich des Waren- und Zahlungsverkehrs zwischen Deutschland und oder CSSR beziehen. Zu diesen Verträgen hat es in den '50er Jahren nahezu jedes Jahr ein Zusatzprotokoll gegeben, das jeweils vom Vertreter ,des Wirtschaftsministeriums unterzeichnet worden ist. In den Verträgen wie insbesondere dann in den Zusatzprotokollen nach der Gründung der Bundesrepublik ist idie Rede von Nemeckâ Spolkavâ Republika von der deutschen Bundesrepublik, so wie das in der Fragestunde vom 12. Dezember in Frage stand. Erst im Jahre 1967 ist diese Tatsache zum erstenmal Diskussionsgegenstand geworden, nämlich durch den damaligen Verhandlungsführer Bahr in der CSSR. Zu diesem Zeitpunkt hat die tschechoslowakische Seite erklärt, daßdies aus sprachlichen Gründen die offizielle Bezeichnung sein müsse.
Zwischenfrage!
Herr Staatssekretär, ist es damit richtig, idaß der frühere Bundeskanzler Ludwig Erhard keinen Vertrag in dieser Richtung unterzeichnet hat, sondern daß allenfalls Zusatzprotokolle im Namen des Wirtschaftsministeriums mit dieser Bezeichnung unterzeichnet worden sind?
In der damaligen Fragestunde war die Rede vom späteren Bundeskanzler Erhard. Es handelte sich um die Zeit, in der er Bundeswirtschaftsminister war. Es ist richtig, daß es sich hier um Zusatzprotokolle handelt, die von Herren des Wirtschaftsministeriums unterzeichnet worden sind.
Aber nicht von ihm selbst, wie behauptet worden ist?
Ich bin nicht sicher, daß Idas mit der Behauptung gemeint war. Selbstverständlich hatte er die politische Verantwortung dafür. Es gibt keine persönliche Unterschrift des damaligen Bundeswirtschaftsministers unter ein solches Protokoll.
Wir kommen zur Frage 42 des Herrn Abgeordneten Roser. Ist der Fragesteller anwesend? — Nein. Dann wird die Frage schriftlich beantwortet. Ich bedanke mich, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Baier auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Gemeinden in zunehmendem Maße dazu übergehen, bei Baulanderschließungen neben den nach dem Bundesbaugesetz zulässigen Erschließungskosten sogenannte Folgekosten für den Bau von Schulen, Friedhöfen usw. von den Bauträgern zu fordern, und welche Rechtsgrundlage gibt es hierfür?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß Gemeinden zunehmend bei Baulanderschließungen neben den nach dem Bundesbaugesetz zulässigen Erschließungsbeiträgen von den Bauträgern auch Beiträge u. a. für den Bau von Schulen und Friedhöfen fordern. Die Forderung solcher Folgekosten durch die Gemeinden wird durch die bundesgesetzliche Regelung der Erhebung von Erschließungsbeiträgen nicht ausgeschlossen. Eine bundesgesetzliche Ermächtigung zur Erhebung besteht jedoch nicht. Soweit in den Bundesländern Beiträge zu Folgekosten gefordert werden, beruht das in der Regel auf freier vertraglicher Vereinbarung und gelegentlich, wie in Schleswig-Holstein, auf landesgesetzlichen Vorschriften. Die Zulässigkeit freier vertraglicher Vereinbarungen wird in der Praxis, in der Rechtsprechung und im Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Es kommt dabei sehr auf den Inhalt der Verträge an. Wenn Sie mir die Ihnen bekanntgewordenen Fälle nennen, Herr Kollege, in denen die Gemeinden die genannten Folgekosten gefordert haben, bin ich gern bereit, das Problem im zuständigen Arbeitskreis der Innenminister der Länder erörtern zu lassen. Diese Erörterung erscheint mir deshalb angebracht, weil es Aufgabe der -Länder ist, Fälle der genannten Art im Wege der Aufsicht zu prüfen.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, sich einmal beim bayerischen Gemeindeverband zu informieren, der eine solche Empfehlung an die Gemeinden gegeben hat?
Dazu bin ich gern bereit, Herr Kollege.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Scheu auf:
Ist es der Bundesregierung bekannt, daß rumänische Geschäftspartner von bundesdeutschen Firmen, welche zu dringenden Wirtschaftsgesprächen in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen wünschen, mehrere Wochen brauchen, bis über das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft in Frankfurt Visaanträge genehmigt werden?
Ist der Fragesteller im Saal? — Ja. Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, die Bundesregierung hat bisher keinen Anlaß, anzunehmen,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1711
Parlamentarischer Staatssekretär Dorndaß sich bei der Einreise rumänischer Geschäftspartner deutscher Firmen in die Bundesrepublik tatsächlich solche Schwierigkeiten ergeben können, von denen Sie in Ihrer Frage ausgehen. Die Bundesregierung hat in diesem Hause wiederholt, zuletzt durch meine schriftliche Antwort vom 16. Januar 1970 auf eine Frage des Kollegen Lampersbach, dargelegt, daß die Auslandsvertretungen Angehörigen der osteuropäischen Staaten Aufenthaltserlaubnisse in der Form des Sichtvermerks für Besuchs- und Geschäftsreisen in die Bundesrepublik bis zu einer Dauer von drei Monaten spätestens 15 Tage nach Absendung des Antrags an die innerdeutschen Behörden erteilen können, wenn nicht im Einzelfall gewichtige Bedenken entgegenstehen. Dieses Verfahren wird auch in all den Fällen angewandt, in denen das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft eingeschaltet wird. In meiner damaligen Antwort habe ich ferner darauf hingewiesen, daß die zur Erteilung von Sichtvermerken befugten deutschen Auslandsvertretungen in den osteuropäischen Staaten — auch die Botschaft in Bukarest — in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit bereits seit langem Sichtvermerke sofort bei Antragstellung erteilen, ohne irgendwelche Rückfragen zu halten. Diese Sonderregelung gilt namentlich auch für dringende Geschäftsreisen.
Zwischenfrage!
Ich möchte trotzdem nochmals fragen, Herr Staatssekretär, ob sich nicht eine Vereinfachung bewerkstelligen läßt. Der Generaldirektor einer großen Firma aus Sofia — ich habe gerade wieder einen neuen solchen Fall — braucht drei Wochen, um mit seinen Herren in der Bundesrepublik ein technisches Gespräch über eine eilbedürftige Sache zu führen. Das läuft über den normalen Weg: Frankfurt, zweiseitiger Fragebogen an die zu empfangende Firma. Bis der Mann in Sofia erfährt, daß er in die Bundesrepublik einreisen darf, vergehen vom Zeitpunkt der Antragstellung in Sofia runde drei Wochen. Ist das im Sinne der erwünschten Beziehungen?
Es ist, Herr Kollege, sicher nicht im Sinne der gewünschten Beziehungen, wenn es so lange dauert. Nur, da es sich in diesem konkreten Fall, ,den Sie vortragen, um Bulgarien handelt, ist es für uns insofern etwas schwieriger, als wir dort diplomatisch nicht direkt vertreten sind, sondern es noch eines zusätzlichen Weges über die Botschaft bedarf, die dort unsere Interessen vertritt.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Scheu auf:
Liegt es nicht im Interesse der Verbesserung der Handelsbeziehungen zu Rumänien und anderen Ostblockstaaten, daß führende Kräfte der rumänischen Wirtschaft rascher ein solches Visum bekommen, zumal deutsche Wirtschaftler und Techniker zur Einreise in die betreffenden Länder des Ostblocks keinerlei Formalitäten nötig haben und von einem Tag zum andern etwa nach Rumänien reisen können?
Die Bundesregierung teilt Ihre Auffassung, Herr Kollege, daß die Erleichterung der Einreise von Wirtschaftsfunktionären aus den osteuropäischen Staaten im Interesse der Verbesserung unserer Handelsbeziehungen zu diesen Staaten liegt. Gerade deshalb ist dieser Personenkreis ausdrücklich in die erwähnte Sonderregelung für Dringlichkeitsfälle einbezogen worden. Damit dürfte den berechtigten Anliegen der deutschen Wirtschaft in ausreichendem Maße Rechnung getragen worden sein.
Zusatzfrage!
Ich möchte Ihnen, Herr Staatssekretär, doch noch die Frage stellen, ob Ihnen bekannt ist, daß Angehörige dieser Ostblockstaaten, die ja, wenn sie wegen wirtschaftlicher oder technischer Fragen in die Bundesrepublik einreisen wollen, nicht Politiker sind, der Meinung sind, es sei ganz leicht, von uns aus in ihre Staaten einzureisen, es sei aber maßlos erschwert und daure, wie gesagt, zwei, drei und mehr Wochen, von den Ostblockstaaten in die Bundesrepublik einzureisen. Das ist politisch für uns nicht gut.
Ich teile Ihre Meinung. Aber ich bin der Auffassung, daß nach den bisher vorliegenden Unterlagen in der Vergangenheit, wenn überhaupt, wahrscheinlich nur ganz wenige Fälle zu Klagen Anlaß gegeben haben.
Auch diese Frage ist beantwortet.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Brand auf:
Ist die Bundesregierung bereit, selbst Initiativen zu ergreifen oder Initiativen anderer zu unterstützen, um das Grundgesetz um ein Grundrecht zu ergänzen, das dem Bürger ein Recht auf Naturgenuß sichert?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, Ihre Frage entspringt einer Sorge, die sich in weiten Kreisen unserer Bevölkerung ausbreitet, der Sorge, die moderne Zivilisation und die ständig zunehmende Technisierung unseres Lebens könnten eine unmittelbare Beziehung des einzelnen Menschen zur Natur immer mehr zum Erliegen bringen. Die Bundesregierung kennt diese Sorge. Sie ist bereit, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um einer Entwicklung entgegenzusteuern, die nach ihrer Auffassung das menschliche Leben in unserem Lande bedroht.Ich bitte Sie, die Bemühungen zur Schaffung einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf den Gebieten der Wasser- und Luftreinhaltung und der Lärmbekämpfung, die von der Bundesregierung eingeleitet worden sind, auch in diesem Sinne zu würdigen. Ich habe aber Zweifel, ob die Einfügung eines neuen Rechts auf Naturgenuß in den Grundrechtsteil unserer Verfassung ein guter Beitrag zur Lösung der Probleme wäre. Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes Gesetzge-
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1712 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Dornbung, vollziehende Gewalt und rechtsprechende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht. Sie können also nicht als bloße Programmsätze mit mehr oder minder unbestimmtem Inhalt ausgestaltet werden.Als unmittelbar geltendes Recht aber bedürfte das von Ihnen gewünschte Grundrecht auf Naturgenua einer eingehenden Regelung der voraussehbaren Kollisionen in vielen Rechtsbereichen. Dabei wäre nicht nur an staatliche Eingriffe zu denken, wie das bei den klassischen Grundrechten die Regel ist, sondern auch an eine umfangreiche Drittwirkung im privaten Rechtsleben. Die Auswirkungen vor allem auf das zivile Nachbarschaftsrecht, das Baurecht, das Gewerberecht oder das Verkehrsrecht wären zunächst kaum zu ermessen. Darüber hinaus wären auch Ansprüche auf positive staatliche Leistungen denkbar. Daß die Bundesregierung bestrebt ist, bei der Ausgestaltung des einschlägigen objektiven Rechts den Naturgenuß nach Möglichkeit zu schützen, habe ich in meinen Anfangsworten schon hervorgehoben.
Eine Zwischenfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß die jetzige Rechtslage in der Bundesrepublik auf diesem Gebiet unbefriedigend ist und daß man, wenn man diese Rechtslage verändern wollte, Art. 141 der bayerischen Verfassung als Mustervorlage verwenden könnte, in dem es heißt:
Der Genuß der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wildwachsender Waldfrüchte in ortsüblichem Umfang, ist jedermann gestattet.
Herr Kollege, sosehr ich die bayerische Verfassung achte, bin ich doch der Meinung, daß Art. 141 Abs. 3 der bayerischen Verfassung, der das zum sachlichen Inhalt hat, was Sie gerade vorgetragen haben, uns in dieser Frage nicht weiterbringt. Denn in der Praxis hat diese Vorschrift auch im Lande Bayern leider keine große Bedeutung erlangt. Sie ist im wesentlichen Programmsatz geblieben, teils, weil die geltende, namentlich auch gewohnheitsrechtlich geltende Rechtsordnung ihr ohnehin noch entspricht, teils, weil sie von vorgängigem Bundesrecht überlagert ist, teils auch, weil sie die realen Möglichkeiten der Staatsgewalt übersteigt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß dann, wenn man zu dem Ergebnis kommt, daß die Rechtslage unbefriedigend ist, der Bund Verhandlungen mit den Ländern aufnehmen sollte, um eine bessere Rechtslage zu erreichen?
Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß das notwendig ist, wenn solch ein Tatbestand besteht. Aber es muß natürlich auch vom Bund und von den Ländern sehr sorgfältig geprüft werden, inwieweit sich das angestrebte Ziel in der Praxis realisieren läßt, bevor man es in eine Verfassungsbestimmung ummünzt.
Sie haben Ihre Zusatzfragen ausgenützt.
Herr Abgeordneter Dichgans!
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, die umfangreichen Arbeiten der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft, die Abgeordnete des Bundestages und der Landtage in sich vereinigt, zu diesem Punkt in Ihre Überlegungen mit einzubeziehen?
Herr Kollege Dichgans, die Arbeiten der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft, die ja schon eine Reihe konkreter und hervorragender Ergebnisse gebracht haben, sind gerade auch bei diesen Beratungen von der Abteilung „Umwelt" in meinem Hause mit in die Überlegungen einbezogen worden. Allerdings hat das nicht dazu geführt, daß wir zu der Auffassung gelangt sind, daß eine Grundgesetzänderung deshalb notwendig sei.
Keine Zusatzfrage mehr.
Ich rufe dann Frage 32 des Abgeordneten Benda auf:
Welche landesrechtlichen Besoldungsregelungen stehen mit den Rahmenvorschriften des Bundesbesoldungsrechts nicht im Einklang?
Herr Präsident; ich wäre dankbar, wenn der Kollege Benda damit einverstanden wäre, daß ich seine beiden Fragen im Zusammenhang beantworte.
Sind Sie einverstanden? Ich rufe dann auch die Frage 33 des Abgeordneten Benda auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, zur Wahrung der Besoldungseinheit im öffentlichen Dienst Normenkontrollklagen gegen die in Frage kommenden Länder zu erheben, wenn Verstöße gegen die rahmenrechtlichen Bindungen des Bundesbesoldungsrechts vorliegen?
Die landesrechtlichen Besoldungsregelungen müssen unter Berücksichtigung des geänderten Art. 75 des Grundgesetzes geprüft werden. Die Änderung ist im Zweiundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969 enthalten, das am 15. Mai 1969 in Kraft getreten ist.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1713
Parlamentarischer Staatssekretär DornDie noch nicht abgeschlossene Prüfung der Landesbesoldungsgesetzgebung hat bisher bei einigen Ländern eine deutlich zunehmende Tendenz ergeben, die gemeinsame Besoldungsstruktur bei Bund und Ländern trotz rahmenrechtlicher Absicherungen durch eine Vielfalt von besoldungsgesetzlichen Zulageregelungen zu variieren.Ob dieser Entwicklung nur durch Einleitung von Normenkontrollverfahren mit Erfolg Einhalt geboten werden kann, ist im Augenblick nicht mit Sicherheit vorauszusehen. Es ist vielmehr im Interesse einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Ländern eine Untersuchung eingeleitet, ob dieses Koordinierungsproblem nicht besser durch Begründung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes gelöst werden kann. In ersten Vorgesprächen, die der Innenminister dieserhalb geführt hat, ist ein solches Vorhaben positiv beurteilt worden. Sollte diese positive Lösung fehlschlagen, muß der Weg des Normenkontrollverfahrens erneut ernsthaft geprüft werden. An nachdrücklichen Warnungen der Bundesregierung, die bestehende Rahmengesetzgebung zu beachten, hat es nicht gefehlt. Ich darf Sie daran erinnern, daß der Bundesinnenminister vorgestern noch einmal in einem Fernschreiben an den Präsidenten des Landtags von Hessen davor gewarnt hat, in der Frage der Richterbesoldung erneut derartige Initiativen durch das Parlament beschließen zu lassen.Vizepräsident Dr. Schmid; Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Benda.
Herr Staatssekretär, gerade im Hinblick auf das von Ihnen soeben erwähnte Fernschreiben des Herrn Bundesinnenministers möchte ich, nachdem ich Ihre Antwort gehört habe, fragen, ob die Bundesregierung oder der Bundesinnenminister von seiner auch der Öffentlichkeit durch Zeitungsberichte wiederholt bekanntgewordene Absicht noch zurücktreten kann, ein Normenkontrollverfahren jedenfalls im Falle des hessischen Gesetzes einzuleiten, ohne daß er durch ein solches, von Ihnen zunächst offengelassenes, aber nach Ihrer Antwort nicht auszuschließendes, Zurücktreten von dieser Absicht dann weiteren schweren Schaden anrichten müßte.
Der Bundesinnenminister wird in der nächsten Kabinettssitzung dieses Problem noch einmal aus seiner Sicht vortragen und darauf hinweisen, daß es nach seiner Auffassung unerläßlich ist, hier sehr schnell zu Entscheidungen zu kommen.
Noch eine Zusatzfrage.
Darf ich mich vergewissern, Herr Staatssekretär, daß der Herr Bundesminister des Innern, ohne daß er natürlich einer noch nicht getroffenen Kabinettsentscheidung vorgreifen kann, nach wie vor der Auffassung ist, daß der Konflikt im Fall des hessischen Gesetzes, ,das ja nun gegen seine Warnung verabschiedet worden ist, ohne ein Normenkontrollverfahren nicht gelöst werden kann, oder habe ich Sie da mißverstanden?
Der Bundesinnenminister hat seine Meinung in dieser Frage nicht geändert, Herr Kollege Benda.
Ich habe zwei weitere Zusatzfragen, Herr Präsident. Ich würde sie gern ausschöpfen, wenn ich darf.
Bitte, sie stehen Ihnen zu.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie zunächst fragen, ob Sie sich im Augenblick in der Lage sehen, nach der verfassungsrechtlichen und der verfassungspolitischen Seite hin zu kommentieren, was Herr Professor Ridder nach Zeitungsberichten in einem auf Anforderung des hessischen Landtags diesem erstatteten verfassungsrechtlichen Gutachten zu der hier behandelten Streitfrage geäußert hat, insbesondere die — ich zitiere nach Pressemeldungen — in seiner Untersuchung ausgesprochene Warnung vor Tendenzen, die Länder zu Vollzugsanstalten eines umgeformten politischen Bundeszentrums zu machen.
Herr Abgeordneter, habe ich Sie recht verstanden, daß Sie hier nach der Bedeutung der Aussage des Professor Ridder fragen?
Herr Präsident, die Frage war, ob sich der Herr Staatssekretär in der Lage sieht, unter rechtlichen oder verfassungspolitischen Gesichtspunkten kommentierend zu dieser Äußerung von Herrn Professor Ridder Stellung zu nehmen.
Das sollte Ihnen nach meiner Meinung nach Prüfung der Gesamtvorlage von Herrn Professor Ridder von unserem Hause lieber schriftlich beantwortet werden; denn ich möchte nicht auf Grund eines einzigen Auszugs aus einem Gutachten, dessen Inhalt mir nicht bekannt ist, hier eine verfassungrechtliche Äußerung von mir geben.
Die letzte Zusatzfrage, Herr Benda.
Herr Staatssekretär, würde Ihr Haus oder eventuell die Bundesregierung in Erwägung ziehen, die im Lande Hessen vorgesehene Regelung der Richterbesoldung als eine rahmenrechtliche Regelung des Bundes zu übernehmen?
Nach .dem, was unser
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1714 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Parlamentarischer Staatssekretär DornHaus bisher dazu gesagt hat — auch durch den Bundesinnenminister im Bundesrat —, können wir beide, glaube ich, zu der Auffassung kommen, daß die Bundesregierung das nicht beabsichtigt.
Eine Zusatzfrage von Herrn Vogel.
Herr Staatssekretär, wenn ich einmal an eine Aussage in der Regierungserklärung zu dieser Frage und dann an Äußerungen anschließe, die sowohl der derzeitig amtierende Innenminister als auch sein derzeit amtierender Parlamentarischer Staatssekretär in der Vergangenheit zu diesem Thema gemacht haben, halten Sie es dann nicht doch für denkbar, hier in absehbarer Zeit eine Regierungsvorlage zum Thema Richterbesoldung auf der Grundlage einer eigenständigen Richterbesoldung einzubringen?
Herr Kollege Vogel, da Sie mich persönlich ansprechen, muß ich Ihnen sagen: in dieser Frage habe ich in der vorigen Legislaturperiode hier im Parlament nicht von einer eigenständigen Richterbesoldung gesprochen, sondern von einer Verbesserung der Richterbesoldung im Rahmen der allgemeinen Besoldungsordnung.
Ich habe diese Frage zugelassen, obwohl es keine zulässige Frage war. — Sie können niemanden fragen, ob er etwas für denkbar hält. Das geht nicht.
Aber da wir hier in freundlicher Atmosphäre verhandeln, habe ich Gnade vor Recht ergehen lassen.
— Ja, man ist sich das manchmal schuldig. Frage 34, Herr Abgeordneter Weber .
— Er ist nicht da. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Frage 35, Abgeordneter Ollesch — —
Ich bitte um Erlaubnis, Herr Präsident, die beiden Fragen im Zusammenhang zu beantworten.
Sind Sie einverstanden, Herr Ollesch? — Dann rufe ich die Fragen 35 und 36 gemeinsam auf :
Kann der Bundesminister des Innern als Vizepräsident des Präsidiums des Olympischen Komitees für die Spiele 1972 die Ausführungen des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Köppler vom 5. Dezember 1968 in der Fragestunde bestätigen, nach denen eine Abstimmung zwischen der Gesellschaft zur Förderung der Olympischen Spiele „Der Flammenpfennig" mit dem Olympischen Komitee in der Frage der finanziellen Hilfe stattgefunden hat?
Ist dem Bundesminister des Innern bekannt, wie hoch die finanzielle Hilfe ist?
Herr Staatssekretär, bitte!
Herr Kollege Ollesch, ich kann nur bestätigen, daß noch im Dezember 1968 Gespräche im Gang waren, die zwischen dem Organisationskomitee der Deutschen Olympischen Gesellschaft und dem Verein „Der Flammenpfennig" geführt wurden und deren Ziel es war, die Aktionen des „Flammenpfennig" mit der Werbetätigkeit und der Öffentlichkeitsarbeit der beiden anderen Institute zu koordinieren.
Erfolg hatten diese Gespräche allerdings nicht. Sie führten weder zu einer Abstimmung noch gar zu Zuwendungen der Aktion „Flammenpfennig" oder zu finanziellen Hilfeleistungen anderer Art. Im Gegenteil bestätigten sie den Eindruck, daß die Aktion „Flammenpfennig" zu einer sinnvollen, an den Belangen der Olympischen Spiele 1972 orientierten Zusammenarbeit nicht bereit war.
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, nachdem ich in der Frage 36 gefragt habe, wie hoch die finanzielle Hilfe ist, die der „Flammenpfennig" dem Olympischen Komitee gewähren wollte, frage ich Sie: ist dem Bundesinnenministerium irgendeine Information über die Höhe der eingegangenen Mittel der Aktion „Flammenpfennig" bekannt?
Bisher ist nach unseren Informationen von dieser Aktion keine finanzielle Hilfe für das Olympische Komitee oder die Olympische Gesellschaft zustande gekommen.
Noch eine Zusatzfrage?
Ich frage Sie, Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, wie das Olympische Komitee die Aktion „Flammenpfennig" bezüglich ihrer Wirksamkeit und der Möglichkeit, dem Komitee finanzielle Hilfe zu gewähren, beurteilt?
Mir ist bekannt, daß der Vorstand des Organisationskomitees für die Spiele der XX. Olympiade in München am 21. und 22. November 1969 einstimmig den folgenden Beschluß gefaßt hat:1. Der Vorstand des Organisationskomitees distanziert sich förmlich von der Tätigkeit des Vereins „Der Flammenpfennig", insbesondere weil dieser in der Öffentlichkeit behauptet, die ihm zufließenden Mittel aus der Zündholzwerbung und Olympia-Schallplatte dienten der Förderung der Olympischen Spiele in München 1972, während weder dem Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland noch dem Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade in München noch dem Verein zur Förderung der Olympischen Spiele in München noch der
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1715
Parlamentarischer Staatssekretär DornStiftung Deutsche Sporthilfe bisher Erträge zugeführt bzw. irgendwelche konkreten Zusagen in dieser Richtung gemacht worden sind.2. Das Generalsekretariat wird gebeten, den Verein „Der Flammenpfennig" unter Fristsetzung zur Unterlassung der vorgenannten Behauptung aufzufordern. Notfalls sind rechtliche Schritte in Erwägung zu ziehen.Nach diesem einstimmigen Beschluß des für die Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele zuständigen Gremiums sehe ich keine Möglichkeit, die Aktion „Der Flammenpfennig" zu den im Sinne der Frage begrüßenswerten privaten Initiative zur Unterstützung der Olympiade zu rechnen.
Herr Abgeordneter Wagner, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der „Flammenpfennig" im Dezember 1968 der Deutschen Olympischen Gesellschaft ein konkretes Angebot über Zusammenarbeit gemacht und davon auch das Organisationskomitee in München unterrichtet hat, aber beide Briefe ohne Antwort geblieben sind?
Da ich den Schriftwechsel zwischen der Aktion „Flammenpfennig" und dem Olympischen Komitee von damals nicht kenne, kann ich das nicht beurteilen, Herr Kollege Wagner.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hätten Sie es nicht für einen Akt der Gerechtigkeit gehalten, nach einer so weitgehenden Aussage in Ihrer Antwort auch dem Verein „Flammenpfennig" die Gelegenheit zu geben, sich zu äußern?
Der Verein „Flammenpfennig" ist jederzeit in der Lage, sich zu äußern. Ich mußte mich nach den gestellten Fragen bei den Informationen des Hauses an die Gremien halten, die angesprochen sind, und ich meine, daß das Nationale Olympische Komitee und der Vorstand des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele, die ja eine solche Entscheidung getroffen haben, für mich dann primär die Gesprächspartner sein müssen.
Ich muß Ihnen gestehen, daß ich nicht weiß, was das ist — der „Flammenpfennig". Herr Kollege, erleuchten Sie bitte meinen Geist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich im Zusammenhang mit diesem Frage- und Antwortespiel, das ich jetzt mit angehört habe, als Unbeteiligter fragen: Ist es in den Bundesministerien üblich, vor der Beantwortung solcher Fragen die Beteiligten zu hören, oder nicht?
Ich kann diese Frage nicht beantworten, da ich die Unterlagen von den zuständigen Herren unseres Hauses für die Beantwortung so vorgelegt bekomme, wie das in den früheren Zeiten ebenfalls der Fall gewesen ist. Da aber, wie ich ja in einem Gespräch mit dem Kollegen Wagner vor dieser Fragestunde besprochen habe, über die Hintergründe dieser Aktion hier nicht diskutiert werden sollte, waren wir davon ausgegangen, daß es sinnvoll sei, die Betroffenen, nämlich das Olympische Komitee, hier zu befragen und ihre Stellungnahme einzuholen.
Noch eine Frage.
Herr Staatssekretär, aus Ihrer Antwort ergibt sich für mich, daß bei mehreren Beteiligten womöglich nur ein Teil der Beteiligten bei Ihnen gehört wird. Ist das nicht eine etwas sonderbare Praxis?
Ich habe mich vor dieser Fragestunde mit dem Kollegen Wagner, der ja ein nicht ganz Unbeteiligter bei der Aktion ist, ausführlich über seine Absichten informiert, und ich habe mich bei einem Herrn, der dem Vorstand einer anderen Organisation angehört, mit der der Kollege Wagner oder die Aktion „Flammenpfennig" Verhandlungen führt, vorgestern abend noch einmal zusätzlich informiert.
Sie haben keine Frage mehr, Herr Schulze-Vorberg.Frage 37 des Abgeordneten Dr. Rutschke. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage — auch da geht es um den „Flammenpfennig" — wird schriftlich beantwortet.Dasselbe gilt für die Frage 38.Frage 39 des Abgeordneten Wurbs. — Auch nicht da; schriftliche Beantwortung.Frage 40. — Ebenfalls schriftliche Beantwortung.Frage 41 des Abgeordneten Gewandt. — Nicht anwesend; schriftliche Beantwortung.Frage 42 des Abgeordneten Roser ist schon erledigt.Frage 43 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen:Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auch durch entsprechende Einrichtungen den Austausch von Informationen über Maßnahmen der Verwaltungsvereinfachung auf den verschiedenen Verwaltungsebenen von Bund, Ländern und Gemeinden zu verstärken?
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1716 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Vizepräsident Dr. SchmidEs ist schriftliche Beantwortung gewünscht.Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dorn vom 27. Februar 1970 lautet:In Teilbereichen gibt es schon jetzt einen laufenden Informationsaustausch zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Zu nennen ist hier zunächst die Arbeitsgemeinschaft von Verwaltungen des Bundes und der Länder über Vordruck- und Bürowesen, an der die Gemeinden durch einen Vertreter beteiligt sind. Weiter wirken der Bund und mehrere Länder im Ausschuß für Wirtschaftliche Verwaltung — einer Unterorganisation des Rationalisierungskuratoriums der deutschen Wirtschaft — mit, in dessen „Fachausschuß Organisationsprobleme der Verwaltung" Bundes- und Landesbeamte und Vertreter der Gemeinden mit Organisatoren der Wirtschaft Organisationsprobleme, auch Vereinfachungsfragen, erörtern. Daneben gibt es Ausschüsse fur Einzelfragen, von denen wegen der allgemeineren Bedeutung die Zusammenarbeit von Bund und Ländern zur Verbesserung des Meldewesens zu nennen ist.Für den Bereich der elektronischen Datenverarbeitung, der bei der Verwaltungsvereinfachung besondere Bedeutung zukommt, gibt es seit längerem einen institutionalisierten Erfahrungsaustausch zwischen Bund und Ländern. Eine Intensivierung dieses Erfahrungsaustausches wird gerade gegenwärtig zwischen Bund und Ländern erörtert.Für den Bundesbereich ist vor kurzem die Bundesstelle für Büroorganisation und Bürotechnik beim Posttechnischen Zentralamt eingerichtet worden. Sie hat die Aufgabe, Rationalisierungsmaßnahmen für die gesamte Bundesverwaltung anzuregen. Es ist vorgesehen, die Arbeit dieser Stelle später auch den Ländern zugänglich zu machen und den Landesstellen volle Zusammenarbeit anzubieten. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, deren Tätigkeit ich für sehr bedeutsam halte, ist der wesentliche Informationsmittler zu den Gemeinden auf diesem Gebiet. Ich habe bereits angekündigt, daß die Zusammenarbeit mit dieser Stelle verstärkt werden soll.Schließlich wäre ein stärkerer allgemeiner Informationsaustausch zwischen den für die Verwaltungsorganisation in Bund und Ländern zuständigen Stellen wünschenswert. Dazu haben die Vertreter einzelner Länder bereits entsprechende Anregungen an mein Haus gegeben. Ich beabsichtige, in absehbarer Zeit den Ländern einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.Frage 44 des Abgeordneten Strohmayr. Er hat ebenfalls um schriftliche Antwort gebeten.Die Frage lautet:Hält es die Bundesregierung für angemessen, bei der Repräsentativbefragung in der Volkszählung 1970 mit Fragen über Ehestand und persönliche Verhältnisse in die Intimsphäre der Befragten einzudringen und bei Nichtbeantwortung ein Bußgeld bis zu 10 000 DM anzudrohen?Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dorn vom 27. Februar 1970 lautet:Die Bundesregierung hat bei der Vorbereitung des Volkszählungsgesetzes vom 14. April 1969 sorgfältig geprüft, ob das in Abstimmung mit den Bundesressorts und den Ländern entwickelte Zählungsprogramm Fragen enthält, die die Intimsphäre berühren. Sie ist mit den genannten Stellen der Ansicht, daß die nach dem genannten Gesetz an die Bevölkerung zu richtenden Fragen die Intimsphäre nicht verletzen, weil es sich um offenkundige, wenn auch nicht in jedem Falle öffentlich gesammelte Tatsachen handelt.Gefragt wird nach dem Familienstand und bei verheirateten, verwitweten und geschiedenen Personen zusätzlich, wann die jetzige oder letzte Ehe geschlossen wurde, ob vorher schon eine Ehe bestand und nach den Geburtsjahren der lebend geborenen ehelichen Kinder. Die Feststellungen aus diesen Fragen sind Grundlagen der für Planungsmaßnahmen notwendigen Bevölkerungsvorausschätzungen. Die laufenden Feststellungen der Geburtenzahl über die Standesämter reichen dazu nicht aus.Die genannten Fragen gehören zum international empfohlenen Volkszählungsprogramm der Vereinten Nationen, der ECE und des Europarates. In Großbritannien wurden sie bereits im Jahre 1911 gestellt.Die Bevölkerung bringt, wie sie bei der durchgeführten Probezählung für die Volkszählung gezeigt hat, auch diesen Fragen großes Verständnis entgegen. Bei Befragung von rd. 120 000 Haushalten ist kein einziger Fall der Beanstandung bekanntgeworden. Es bestehen daher keine Befürchtungen, daß es zur Nichtbeantwortung dieser Fragen kommt und daß deshalb Bußgelder verhängt werden müßten.Frage 45 des Abgeordneten Josten. — Nicht anwesend.Frage 46 des Abgeordneten Kleinert. — Ebenfalls nicht anwesend.Diese Fragen werden ebenfalls schriftlich beantwortet.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft.Frage 4 des Abgeordneten Mertes. — Ist nicht da. Die Frage wird schriftlich beantwortet.Frage 5 des Abgeordneten Dr. Warnke. — Nicht da; schriftliche Beantwortung.Frage 6 des Abgeordneten Weigl. — Nicht da. Die Frage wird schriftlich beantwortet.Frage 7 des Abgeordneten Brück:Kann die Bundesregierung die Differenzen bekanntgeben, die sie zu der Tabelle der Saarbrücker Zeitung über Preisunterschiede zwischen in Frankreich und in Deutschland verkauften Autos ermittelt hat, da sie in der schriftlichen Antwort auf die Frage Nummer 98 der Drucksache VI/381 die Tabelle der Saarbrücker Zeitung nur in der Größenordnung, jedoch nicht bis zu dieser Exaktheit bestätigen konnte?Der Fragesteller bittet um schriftliche Bantwortung.Frage 8 des Abgeordneten Gewandt. — Nicht da.Frage 9 des Abgeordneten Kleinert. — Nicht da.Auch diese Fragen werden schriftlich beantwortet.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Ich rufe zunächst die Frage 64 des Abgeordneten Löffler auf:Wie will die Bundesregierung nach Verabschiedung des Vorschlages der Europäischen Kommission über die „Vereinheitlichung der von den einzelnen Mitgliedstaaten gegenüber Drittländern angewandten Einfuhrregelungen bei Verarbeitungserzeugnissen aus Obst und Gemüse" bei den dort festgelegten Mindestpreisen unser Außenhandelsinteresse gegenüber den osteuropäischen Staaten und den Entwicklungsländern im vollen Umfang wahren?Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage wie folgt. Die Beratungen über den Verordnungsvorschlag ,der Kommission haben in Brüssel erst begonnen, und der Verhandlungsstand ist zur Zeit vollkommen offen. Weitere Beratungen sind daher erforderlich. Die Bundesregierung wird bei den Verhandlungen eine Regelung anstreben, die auch den Erfordernissen des Drittlandhandels in angemessener Weise Rechnung trägt. Gegen den Vorschlag der Kommission hat die deutsche Delegation Bedenken angemeldet. Das engültige Ergebnis kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht bekanntgeben.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 65 ,des Abgeordneten Dr. Brand auf:
Ist die Bundesregierung bereit, aus gesundheitspolitischen Aspekten anerkannte Institutionen zu unterstützen, die sich der Forschung und dem Ausbau des biologischen Anbaus von Obst und Gemüse widmen?
Herr Kollege Brand, ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Antwort auf eine Zusatzfrage der Frage 124 in der Sitzung vom 28. Januar 1970. Dort wurde unter anderem ausgeführt,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1717
Bundesminister Ertldaß die Bundesregierung bereits mehrfach Forschungsmittel für spezielle Untersuchungen auf dem Gebiete 'des biologischen Landbaus bereitgestellt hat. So wurden beispielsweise Arbeiten des Forschungsringes für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise in Darmstadt gefördert, deren Ergebnisse den angeschlossenen Betrieben der betreffenden Organisation zur Verfügung gestellt wurden.Anerkannte Institutionen, die sich der Forschung und dem Ausbau des biologischen Anbaus von Obst und Gemüse widmen, können grundsätzlich im Rahmen der bereitstehenden Haushaltsmittel unter Berücksichtigung der Art ihrer Vorhaben gefördert werden.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, ist Ihnen aufgefallen, daß ich mich in Frage 65 — im Gegensatz zu der Frage eines Kollegen in einer der letzten Fragestunden — auf die gesundheitspolitischen Aspekte beziehe? Ich möchte Sie ergänzend fragen: Ist es neuerdings so, daß das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten stellvertretend für das Gesundheitsministerium antwortet?
Herr Kollege, es ist Ihnen sicherlich bekannt, daß es bei diesem Komplex um den Weg von der Produktion zum Konsum geht. Die Produktion fällt in mein Ressort. Insoweit muß der Bereich „Gesundheit" warten, bis er die Produkte aus den von mir betreuten Bereichen bekommt. Ich hoffe und wünsche allerdings, daß alles, was in der deutschen Landwirtschaft produziert wird, der Gesundheit förderlich ist.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, habe ich Sie recht verstanden, wenn ich Ihren Ausführungen jetzt entnehme, daß Sie wünschen, daß das Gesundheitsministerium Ihrem Ministerium angegliedert wird?
Herr Kollege, diese Frage müssen Sie dem Chef der Bundesregierung, dem Bundeskanzler, stellen.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, Sie halten es doch für richtig, daß die Zuständigkeit des Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten so wie bisher abgegrenzt bleibt?
Ich habe keinen Grund, das zu verneinen.
ich rufe die Frage 66 des Abgeordneten Dr. Wagner auf:
Was hat die Bundesregierung veranlaßt, bei den EWG-Verhandlungen in Brüssel über die europäische Weinmarktordnung einer weinrechtlichen Entschließung zuzustimmen, die von den Bestimmungen des international modernsten Weingesetzes, nämlich des deutschen Weingesetzes, in wichtigen Punkten zum Nachteil des deutschen Weinbaus abweicht?
Herr Präsident, darf ich die zu diesem Komplex vorliegenden weiteren Fragen — es handelt sich um die Fragen der Abgeordneten Dr. Wagner, Bremm und Dr. Klepsch — zusammen mit dieser Frage behandeln? Ich würde es für sinnvoll halten, wenn ich auf alle diese Fragen eine zusammenfassende Antwort geben könnte.
Es handelt sich um die Fragen 66, 67 und 68. Sind die Herren einverstanden? — Dann rufe ich noch die Frage 67 des Abgeordneten Bremm und die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Klepsch auf:
Ist die Bundesregierung bereit, bei der endgültigen Verabschiedung der europäischen Weinmarktordnung eine Notstandsklausel durchzusetzen, die es ermöglichen würde, in witterungsungünstigen Jahren die Grenzwerte des neuen deutschen Weingesetzes anzuwenden?
Ist die Bundesregierung sich bewußt, daß die in der EWG-Entschließung über eine europäische Weinmarktordnung vorgesehenen Grenzwerte für den natürlichen Mindestalkoholgehalt und für die Alkoholanreicherung in witterungsungünstigen Jahren einen großen Teil der deutschen Winzerbetriebe in ihrer Existenz gefährden?
Der Rat hat in der Vergangenheit mehrfach, zuletzt 1967, beschlossen, eine gemeinsame Marktorganisation für Wein zu schaffen. Diese setzt die Harmonisierung gewisser weinrechtlicher Vorschriften voraus. Die vom Rat nach langwierigen und harten Verhandlungen verabschiedete Entschließung stellt einen Kompromiß zwischen den stark abweichenden Auffassungen der Mitgliedstaaten dar. Die nunmehr festgesetzten Verfahren und Grenzwerte für die Anreicherung tragen den unterscheidlichen regionalen Verhältnissen in der EWG Rechnung, sind fachlich vertretbar und unterstützen die Bemühungen ,des neuen deutschen Weingesetzes um Qualitätssteigerung.Ich möchte darauf hinweisen, daß die deutsche Delegation, bevor sie ihre endgültige Zustimmung zu der dann verabschiedeten Entschließung gegeben hat, ein Hearing mit den Abgeordneten des Gesundheits- und Ernährungsausschusses veranstaltet hat, welches gut besucht war. In diesem Hearing wurde eine Entschließung verfaßt. Die sachlichen Argumente dieser Entschließung haben ihren Niederschlag lin der verabschiedeten Entschließung zur Weinmarktordnung gefunden.Für Jahre mit außergewöhnlich schlechten Witterungsverhältnissen, wie sie nach den statistischen Angaben des Landes Rheinland-Pfalz nur in großen Zeitabständen, z. B. 1956, 1965 und teilweise 1968, für einzelne Rebsorten und Gebietsteile vorkommen, bemüht sich die Bundesregierung um eine sogenannte Katastrophenklausel. Diese Klausel soll es ermöglichen, die Existenz der Betroffenen zu erhalten. Diesbezüglich habe ich persönlich mit Herrn
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1718 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Bundesminister ErtlVizepräsident Mansholt verhandelt. Daher möchte ich die Gelegenheit nutzen, hier zu sagen, daß Herr Vizepräsident Mansholt im Prinzip mit einer solchen Katastrophenklausel einverstanden ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Wagner!
Herr Bundesminister! Wäre es der Bundesregierung nicht möglich gewesen, bei den Verhandlungen in Brüssel darauf zu bestehen, daß die Bestimmungen des neuen deutschen Weingesetzes, das international als das wohl modernste und fortschrittlichste Weingesetz anerkannt ist, in größerem Umfang oder möglichst ganz in die europäische Weinrechtsharmonisierung aufgenommen worden wäre, zumindest in dem Sinne, daß es Deutschland unbenommen gewiesen wäre, an diesen Bestimmungen festzuhalten?
Kollege Dr. Wagner, ich bin Ihnen für diese Frage außerordentlich dankbar; denn sie gibt mir Anlaß, einige in der Öffentlichkeit sicherlich nicht unbeabsichtigt hervorgerufene Reaktionen klarzustellen.
Erstens darf ich noch einmal feststellen: Die Bundesregierung hat ein Hearing veranstaltet, an dem Abgeordnete dies Ernährungs- und des Gesundheitsausschusses, die Vertreter des Deutschen Weinbauverbandes und die Vertreter des deutschen Weinhandels teilgenommen haben. Das Ergebnis der Vierhandlungen hat seinen Niederschlag in der verabschiedeten Entschließung gefunden. Ich mußte darauf als zuständiger Minister annehmen, daß die Experten mit dieser Verhaltensweise einverstanden sind. Es könnte allerdings sein, daß sich inzwischen Veränderungenergeben haben. — Das ist das erste.
Zweitens. Es liegt mir sehr daran, hier festzustellen, daß ich wiederholt beantragt habe, möglicherweise die nationalen Weinrechte gesondert bestehen zu lassen. Ich halbe 'keinen Grund, für eine sehr starke einheitliche Marktordnung einzutreten. Ich bin allerdings idurch frühere Zustimmungen der Bundesregierung im Ministerrat gebunden. Das ist meine Schwierigkeit, die ich zu bedenken bitte.
Herr Minister, da Sie erklärt haben, daß Sie an frühere Zustimmungen der Bundesregierung gebunden sind, möchte ich die Frage stellen, ob es zutrifft, daß diese Einzelheiten der Weinmarktordnung und der Weinrechtsharmonisierung, wie sie jetzt in der Entschließung des Ministerrats der EWG zum Ausdruck gekommen sind, bereits von früheren Bundesregierungen festgelegt worden sind?
Nein, Herr Dr. Wagner, das habe ich nicht behauptet. Ich habe nur behauptet, daß ich beispielsweise vorgeschlagen habe, möglicherweise zunächst nur zu bestehen auf der Basis von Art. 40 Abs. 2 b des EWG-Vertrages, nämlich koordinierte Wettbewerbsregeln, was ich für diesen
Sektor als durchaus tragbare Übergangslösung empfinden würde, daß dem aber die Zustimmung zu einer einheitlichen Weinmarktordnung entgegensteht. Sie werden mir zustimmen: Wenn man eine einheitliche Weinmarktordnung macht, wird man neben dem reinen Anbaukomplex den weinrechtlichen Komplex nicht ausnehmen können, weil es sonst keine komplette Weinmarktordnung ist. Das ist die Frage, in der ich präjudiziert bin.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bremm!
Herr Minister, ich habe an dem Hearing teilgenommen. Mir ist die Niederschrift nicht bekannt. Aber ich kann Ihnen sagen, daß wir einstimmig mit den Kollegen der SPD und der FDP gefordert haben, daß die Bestimmungen des neuen deutschen Weingesetzes in dieser Weinmarktordnung voll und ganz zu berücksichtigen sind. Ich frage Sie, nachdem Sie eben gesagt haben, daß bei den Grenzwerten und bei der Aufbesserung nach der Weinmarktordnung nur die Möglichkeit besteht, bis 79 oder 80 Grad Öchsle zu verbessern, und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir nach dem deutschen Weingesetz bis 88 Gramm im Liter verbessern können, ob da nicht auch nach Ihrer Meinung ein sehr großer Unterschied vorliegt, so daß in diesem Punkte die Werte des neuen deutschen Weingesetzes nicht voll berücksichtigt worden sind?
Herr Kollege Bremm, ich glaube, es ist immer besser, man nimmt die Dinge so, wie sie schriftlich niedergelegt sind, denn das klärt sehr vieles. Und dazu sage ich: von vollkommener Übernahme steht nichts drin. Ich lese es Ihnen vor:Der Ausschuß stimmte der Drucksache VI/11 zu und ist sich klar darüber, daß bei schwierigen Verhandlungen in Brüssel gerade bei diesem Weinkomplex der Bundesregierung ein gewisser Spielraum gelassen werden müßte.Und dann:Abgeordneter Klinker weist unter Zustimmung des Ausschusses noch darauf hin, daß man bei eventuellen Konzessionen auf dem Weingebiet auf anderen Sektoren Bedingungen stellen sollte.Ich kann Ihnen das alles ja noch einmal zuleiten, weil es vielleicht sehr nützlich ist.Ich möchte Sie aber daran erinnern, daß z. B. —ich war ja selbst drei Stunden im Hearing und kann mich daran sehr gut erinnern, weil ich mir wirklich große Mühe gemacht habe, in Zusammenarbeit mit dem Parlament zu einer Lösung zu kommen — die Frage eine große Rolle spielte: bei Weißwein 3,5 Grad oder 3,7? 3,7 sind im deutschen Weingesetz, 3,5 in der Entschließung bestimmt. Alle waren sich nach der Erklärung des Vertreters des Gesundheitsministeriums einig, daß diese zwei Zehntel im Bereich der normalen Fehlergrenze liegen und deshalb kein Essential sind, um das man unbedingt kämpfen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1719
Bundesminister Ertlsollte. Das darf ich nur in Erinnerung rufen, damit Sie sehen, wie genau ich mich an diese Verhandlungen erinnern kann.Es gab dann starke Bedenken bezüglich des Rotweins. Dort war nämlich ursprünglich von vier Grad die Rede, im deutschen Weingesetz sind 4,5 festgelegt; in der Entschließung sind inzwischen 5 Grad verankert. Insoweit geht die Entschließung, die in Brüssel am Schluß verabschiedet werden konnte, über das deutsche Weingesetz hinaus. Wir haben also auch Bestimmungen, die über das Weingesetz hinausgehen.Ich wollte das hier nur einmal sagen, weil mir sehr daran liegt, daß diese Dinge in sachlicher Form betrieben werden. In der Öffentlichkeit wird zur Zeit in einer polemischen Form dieses Problem aufgebauscht. Ich glaube nicht, daß man damit dem deutschen Weinbau einen großen Dienst erweist. Insbesondere ist es, glaube ich, nicht sehr günstig, wenn sich Winzer für Zwecke, die mit dem Problem nichts zu tun haben, einspannen lassen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, ich stimme Ihnen in bezug auf die Rotweine zu. Das gilt aber nicht für die Weißweine. Ist Ihnen bekannt, daß es — es geht jetzt um die Grenzwerte der Anreicherung bei Weißwein — in verschiedenen Jahren — ich meine jetzt nicht das Katastrophenjahr 1965, sondern die Jahre 1960 und 1968 — nicht möglich gewesen wäre — so Unterlagen des Ministeriums für Weinbau und Forsten von Rheinland-Pfalz —, ca. ein Viertel der Moste zu Wein zu verarbeiten? Ist Ihnen zweitens bekannt, daß nach der Lösung in Brüssel Moste, die unter 43 Grad Ausgangsmostgewicht liegen, nicht zu irgendwelchen Weinen verarbeitet werden können, auch nicht zu Sektgrund-weinen, und sind Sie bereit, dafür einzutreten, daß diese Moste auch für Sektgrundweine verarbeitet werden können?
Herr Kollege Bremm, ich glaube, Sie sprechen jetzt bereits über einen vorliegenden Verordnungsentwurf, nicht über die Entschließung. Ich kann Ihnen dazu folgendes sagen. Den Verordnungsentwurf habe ich selbst noch nicht einmal gelesen. Für mich ist maßgebend — und dafür stehe ich auch —, was in der verabschiedeten Entschließung gesagt worden ist. Über die Details der Verordnung wird sich die Bundesregierung sicherlich ihre eigenen Gedanken machen und dabei berücksichtigen, daß lebenswichtige Interessen des deutschen Weinbaus vertieft werden müssen. Ich bitte deshalb wirklich, deutlich zu trennen zwischen dem, was in der Entschließung .steht, und dem, was möglicherweise in den Verordnungsentwurf neu hineingeschrieben wurde.
Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, daß all diese Fragen sehr viel besser schriftlich beantwortet werden könnten?
Die Antworten können dann noch genauer im Blatt
abgedruckt werden. — Bitte, Herr Kollege Dröscher!
Herr Bundesminister, unter der Voraussetzung, daß Sie sich vorhin beim Verlesen des Protokolls geirrt haben, daß Sie nämlich wahrscheinlich aus dem Protokoll des Landwirtschaftsausschusses und nicht aus dem Protokoll über das Hearing zitiert haben, möchte ich Sie fragen, ob — —
Jawohl, ich habe mich geirrt; ich habe ,aus dem des Landwirtschaftsausschusses zitiert.
Im Hearing ist nämlich etwas ganz anderes gesagt worden. Es ist dort auf die Bedeutung dieser unerhört wichtigen Frage für weite Teile unserer Weinbaugebiete hingewiesen worden. Ich frage Sie deshalb, Herr Bundesminister, ob Ihnen klar ist, daß mit der angenommenen Entschließung — ich rede nicht von der Verordnung, die ja auch im Parlament diskutiert worden ist und die wahrscheinlich besser laufen wird — zunächst die Gefahr besteht, daß etwa bei Anwendung der in der Entschließung festgelegten Grundwerte in schlechten Jahren im Lande Rheinland-Pfalz an der Obermosel für 6,1 Millionen DM, an der Mittelmosel für 8 Millionen DM, an der oberen Haardt in der Pfalz für 26,8 Millionen DM und an der Nahe für 9,8 Millionen DM, insgesamt also für über 40, fast 50 Millionen DM Wein nicht angebaut werden kann, wenn diese für Europa zwar verständlichen, aber für die speziellen Riesling-Gebiete unmöglichen Werte in der Entschließung des Ministerrates stehen?
Herr Kollege, erstens gibt es die Übergangsfristen; die sind auch in dieser Entschließung verankert. Während dieser Übergangsfristen sollen besondere Beihilfen für mögliche Umpflanzungen in adäquater Form gewährt werden. Das ist ein Punkt, der mir in dieser Frage sehr wesentlich erscheint.Zweitens muß ich sagen: Bezüglich der Menge der Betroffenen gibt es offensichtlich zwischen den Fachleuten meines Hauses und den Fachleuten im zuständigen Ministerium in Rheinland-Pfalz, also in Mainz, unterschiedliche Auffassungen. Ich bin im Augenblick nicht in der Lage, zu sagen, welche Auffassung sachlich berechtigter ist. Ich werde diese Frage aber sehr ernsthaft prüfen.Ich betone noch einmal, daß bereits in der Entschließung die Übergangszeit vorgesehen ist und daß ich mich dafür einsetzen will, daß die Übergangszeit so gestaltet wird, daß sie ohne Schwierigkeiten durchführbar ist. Ich betone ferner, daß darin eine Beihilferegelung vorgesehen ist und daß ich die Zusage von Herrn Vizepräsident Mansholt für den sogenannten Katastrophenplan habe; denn soweit ich im Bilde bin — ich bin kein Winzer —, geht es auch darum, daß dieser Wein möglicherweise für Sektzwecke verwendet wird. Ich bin überzeugt, da wird man eine Lösung finden, die das zumindest für einen Großteil ermöglichen wird.
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1720 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970
Herr Bundesminister, ich stimme völlig mit Ihnen überein, daß das Reden über die Verbesserungsgrenzen und diese ganzen Geschichten für den Qualitätsweinbau sicher nicht günstig ist, auch was den Verkauf der Moselweine usw. angeht, aber darf ich mit Ihnen darin übereinstimmen, daß die Entschließung, die ja in Brüssel unter Zeitdruck zustande kam, zunächst eine Grundlage ist, die von Ihnen in neuen Verhandlungen — Sie haben ja schon eine Zusage von Herrn Mansholt, wie ich weiß — in Richtung auf eine Schutzklausel, eine besondere Ausnahmeklausel für diesen besonders bedrohten Weinbau in den nördlichen Weinbaugebieten ausgestaltet werden sollte? Werden Sie sich dafür einsetzen?
Ich kann diese Frage vollauf bejahen, Kollege Dröscher. Ich betone noch einmal: Ich hätte der Entschließung nicht endgültig zugestimmt, wenn ich nicht zuvor — ich habe einen Vorschlag für die Katastrophenklausel gemacht — die Katastrophenklausel Herrn Mansholt übergeben hätte und wenn mir nicht Herr Mansholt gesagt hätte, er stimme mit mir darin überein, wie er überhaupt prinzipiell der Auffassung sei, man sollte die traditionellen Weinbaugebräuche und Anbauregelungen durch eine EWG-Marktordnung nicht unterbinden. Das war die Grundlage, auf der ich zugestimmt habe. Ich bin überzeugt, daß wir in dieser Frage zu Lösungen kommen werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schulze-Vorberg.
Herr Bundesminister, .da Sie soeben dem Einwurf bezüglich des Zeitdrucks nicht widersprochen haben, ich also unterstellen darf, daß diese Weinmarktordnung unter Zeitdruck verabschiedet worden ist, frage ich Sie: Ist es eigentlich vernünftig, Herr Bundesminister -
nach den traurigen Erfahrungen mit früheren europäischen Agrarordnungen und Spezialordnungen für einzelne Agrargebiete —, nun wiederum unter Zeitdruck eine Ordnung zu verabschieden, die für einen wichtigen Teil unserer Bevölkerung unter Umständen existenzbedrohend sein kann?
Ich stimme Ihnen vollauf zu. Ich bin gerne bereit, diesem Hohen Hause die Tonbänder mit meinen Bemerkungen zu diesem Thema vorspielen zu lassen. Sie würden dann sehen, daß ich nicht nur einmal, sondern unendlich viele Male immer wieder betont habe, .daß ich es einfach von der Sache her für nicht gerechtfertigt halte, permanent Sitzungen mit einer Dauer von 16, 18, 20 Stunden durchzuführen, weil das die physischen und psychischen Kräfte auch des Gesundesten und Robusteten einfach überfordert. Ich halte von dieser Methode gar nichts.
Ich muß Ihnen allerdings sagen, verehrter Herr Kollege: Bis jetzt habe ich nicht sehr viel Beifall gefunden zu meinem Vorschlag, dann lieber mehr
Sitzungen zu machen. Ich betone allerdings, daß es manchmal auch sehr schwierig ist. Ich glaube, ich sollte hier wirklich einmal darauf hinweisen, daß ich in meiner Amtstätigkeit die Hälfte der Zeit in Brüssel verbringe, und auch das halte ich auf die Dauer nicht für vertretbar.
Herr Bundesminister, da Sie sich vorhin auf eine Zustimmung der früheren Bundesregierung zu dieser Weinmarktordnung bezogen haben — ob eine tatsächliche oder angebliche Zustimmung, das kann ich im Moment nicht prüfen; aber ich unterstelle, es hat eine solche gegeben —: Ist diese Zustimmung nicht in engem zeitlichem und tatsächlichem Zusammenhang mit der Erarbeitung des 'deutschen Weingesetzes gegeben worden und insofern eindeutig an das deutsche Weingesetz gebunden gewesen? Der zeitliche Zusammenhang ist doch überhaupt nicht zu bestreiten.
Nein. Herr Kollege, ich bin gern bereit, diese Frage in aller Deutlichkeit zu eruieren; im Gegenteil. Ich bin bereits in der Zwangslage, meine eigene Position in Brüssel zu schwächen. Bei der Behandlung des deutschen Weingesetzes sind wir sogar davon ausgegangen, daß wir nicht alles in der EWG durchsetzen können. Das ist protokollmäßig fest verankert. Ich kann nur sagen: ich kann diese Forderung vertreten. Dann vertreten allerdings auch Italien und Frankreich 'denselben Grundsatz und sagen: auch unsere Weingesetze werden beibehalten. Dann sehe ich keine Möglichkeit, zu zu einer Weinmarktordnung zu kommen. Das ist das große Problem.
Ich möchte die Gelegenheit benutzen, noch einmal auf ein sehr spezifisches Problem zu kommen, nämlich auf die Anreicherung, die für unsere Winzer lebensentscheidend ist. Es gibt sehr wohl Leute, die sagen: auf das kann man verzichten. Selbst in der Bundesrepublik gibt es unter den Winzern unterschiedliche Meinungen. Sie wissen, es gibt kein Problem, das so differenziert ist wie das Weinproblem. Es gab sehr starke Befürworter, die sagten, eine Anreicherung sei nicht notwendig, die Weine müßten den Vorzug haben, die den günstigeren Standort und auch die bessere Sonne haben. Ich brauche nicht zu betonen, welche Schwierigkeiten dabei für die deutschen Winzer entstehen würden.
Eine Zusatzfrage.
Sind Sie nicht der Ansicht, daß es im Bewußtsein des deutschen Weintrinkers viel mehr auf die natürliche Fruchtsäure, auf Bukettstoffe, .auf all diese Werte beim deutschen Wein ankommt und weniger auf die Alkoholgrade und daß deshalb diese Diskussion hier den Absatz deutscher Weine eigentlich nicht gefährden kann, sondern lediglich dafür sorgt, daß deutscher Wein auch wächst?
Herr Kollege, Sie unterstellen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Februar 1970 1721
Bundesminister Ertletwas, das ich nicht gesagt habe. Ich habe nur gesagt, ich würde mir wünschen, daß in der Öffentlichkeit eine gewisse Diskussion geführt wird, aber nicht in dieser Form, weil ich glaube, daß das dem Absatz ,des deutschen Weins nicht nützlich ist. Ich sprach nicht von 'der Diskussion hier in diesem Hause.
Meine Damen und Herren, wir können jetzt diesen Dialog beenden.
Ich rufe 'die Frage 69 des Abgeordneten Strohmayr auf:
Trifft es zu, daß der Vorschlag des niederländischen Landwirtschaftsministers, der Apfelschwemme durch einen täglichen unentgeltlichen „Schulapfel" Herr zu werden, von Mitgliedern der deutschen Delegation bei den Brüsseler Agrargesprächen am 17. Februar als „gefährlich" bezeichnet wurde, weil Äpfel als Wurfgeschosse gegen Sachen und Personen verwendet werden könnten?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Bundesministers Ertl vom 27. Februar 1970 lautet:
Eine derartige Bemerkung wurde aus Anlaß bekannter Einzelfälle scherzhaft geäußert und wurde auch als Scherz aufgefaßt. Die deutsche Delegation hat sich am 17. Februar 1970 für eine derartige Aktion ausgesprochen. Die Bundesregierung hat Schulapfelaktionen schon früher — zuletzt im Jahre 1969 — finanziell gefördert.
Die Fragen 70 und 71 des Abgeordneten Lensing sowie die Frage 72 des Abgeordneten Susset werden schriftlich beantwortet, da die Fragesteller nicht anwesend sind.
Ist die Bundesregierung bereit, den von der vorherigen Bundesregierung in Aussicht gestellten Beitritt des Bundes in eine Niedersächsische Küstenland GmbH zu vollziehen, die nicht nur die uneingeschränkte Fortsetzung der Agrarstrukturmaßnahmen gewährleistet, sondern zusätzlich auch die gesamtwirtschaftliche Erschließung dieses Raumes zur Aufgabe haben sollte?
Wenn nein — wie gedenkt dann die Bundesregierung die dringend erforderliche gesamtwirtschaftliche Erschließung dieses ländlichen Raumes sicherzustellen?
Eine Beteiligung des Bundes an einer Küstenland GmbH wäre im jetzigen Zeitpunkt grundsätzlich möglich. Die frühere Bundesregierung hat sich schon dazu bereit erklärt. Nach dem inzwischen verabschiedeten Gesetz über die Gemeinschaftsaufgaben — Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes — ist die Durchführung des Rahmenplans Aufgabe der Länder, wobei räumliche und sachliche Schwerpunkte gebildet werden sollen. Ob nach Inkraftreten des ersten Rahmenplans der Bund noch als Gesellschafter in einer GmbH verbleiben könnte, wäre alsdann zu überprüfen. Inwieweit das Land Niedersachsen an einer Küstenland GmbH heute noch interessiert ist, kann von hier aus nicht gesagt werden. In den letzten Monaten waren Anzeichen hierfür nicht mehr zu erkennen. Da jedoch in erster Linie das Land Niedersachsen für die Bildung einer GmbH zuständig ist, müßte von Niedersachsen zunächst eine solche Absicht klar herausgestellt werden.
Frage 112 des Abgeordneten Dichgans:
Wieviel Haushaltungen in der Bundesrepublik Deutschland hätten schätzungsweise bei den geltenden Einkommensgrenzen einen Anspruch auf eine „Sozialwohnung", deren Miete mit Hilfe öffentlicher Mittel verbilligt ist, und wieviel solcher Sozialwohnungen gibt es schätzungsweise in der Bundesrepublik Deutschland?
Der Abgeordnete hat um schriftliche Beantwortung gebeten.
Die Fragen 113 und 114 des Abgeordneten Dr. Hammans sowie die Fragen 115 und 116 des Abgeordneten Kater werden schriftlich beantwortet, da die Abgeordneten nicht im Saale sind.
Meine Damen und Herren, damit ist dieser Geschäftsbereich erledigt. Die 60 Minuten der Fragestunde sind um, und wir sind auch am Ende dieser Sitzung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 11. März 1970, 9 Uhr, und schließe diese Sitzung.