Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um die
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Volksentscheid im Gebietsteil Baden des Landes Baden-Württemberg gemäß Artikel 29 Abs. 3 des Grundgesetzes — Drucksachen VI/211, VI/303 —.
Das Haus ist damit einverstanden? — Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen. Ich schlage vor, den Punkt nach der Beratung des Punktes 19 der Tagesordnung aufzurufen, weil er im Zusammenhang mit Angelegenheiten des Innenressorts steht. — Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen dann zu Punkt 1 der Tagesordnung: Fragestunde — Drucksachen VI/273, VI/302.—
Für den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts ist Herr Staatssekretär Professor Dahrendorf anwesend. Wir rufen zunächst die normal eingebrachten Fragen auf und im Anschluß daran die Dringlichkeitsfragen gemäß Drucksache VI/302.
Ich rufe die Frage 98 des Herrn Abgeordneten Breidbach auf. Ist Herr Abgeordneter Breidbach im Saal? — Das ist nicht der Fall. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 99 des Abgeordneten Kiep auf:
Ist es möglich, daß die Bundesregierung, wenn schon nicht für den Normalfall, mindestens für kurzfristige humanitäre Hilfsmaßnahmen ihre prinzipiellen Schwierigkeiten in den Abgrenzungen der Kompetenzen zeitweilig überbrückt?
Herr Kiep ist im Saal. Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Frau Präsident, es liegen insgesamt, wenn ich es recht sehe, sieben Fragen zum gleichen Themenbereich vor. Ich habe nicht die Absicht, zu bitten, daß ich eine zusammenfassende Beantwortung geben darf, möchte Sie aber bitten, Nachsicht zu üben, wenn ich im Zusammenhang mit der ersten Frage etwas ausführlicher antworte, um nachher die anderen Fragen um so kürzer beantworten zu können.
Bitte schön!
Frau Präsident, mit dem Eintreffen der ersten sicheren Nachrichten von dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen in Nigeria wurde der deutsche Botschafter in Lagos unverzüglich, nämlich am 12. Januar 1970, fernschriftlich angewiesen, der nigerianischen Regierung die deutsche Bereitschaft zur humanitären Hilfe sowie unsere Bitte zu übermitteln, daß die nigerianische Regierung den humanitären Hilfsorganisationen eine möglichst bruchlose Weiterführung der Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung ermöglichen möge. Am 14. Januar wurde der nigerianische Botschafter in Bonn vom Bundesminister des Auswärtigen und vom Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit empfangen, um Hilfsmaßnahmen für die notleidende Bevölkerung in Ostnigeria zu besprechen. Am 15. und 16. Januar führte das Bundesministerium des Innern die erforderlichen Besprechungen über Soforthilfe mit den deutschen Hilfsorganisationen. Am 20. Januar wurde ein Sonderbeauftragter der Bundesregierung nach Lagos entsandt, am 22. Januar reiste eine Expertengruppe des Bundesministeriums für Wirtschaft, des Bundesministeriums für Verkehr und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit nach Lagos, um zusammen mit der nigerianischen Regierung die Möglichkeiten für eine rasche Wiederaufbauhilfe zu prüfen. Die ersten Feststellungen der Bundesregierung über die Hilfsbedürfnisse ergaben, daß in Depots in der Nähe der Notgebiete Lebensmittel und andere Hilfsgüter noch für einige Wochen vorhanden waren, daß aber ein dringender Bedarf an Transportmitteln bestand.Obwohl die nigerianische Regierung bis dahin alle Anträge ausländischer Regierungen zum Einsatz von Militärflugzeugen zum Transport von Hilfsgütern nach Lagos oder in die Notgebiete abgelehnt hatte, wurde die deutsche Botschaft gemäß einer Bereitschaft des Bundesverteidigungsministeriums dennoch am 21. Januar fernschriftlich angewiesen, die Voraussetzungen für den Transport von Hilfsgütern und Transportmitteln mit Flugzeugen der Bundesluftwaffe nach Lagos zu klären und zugleich vorsorglich sicherzustellen, daß die deutschen Hilfssendungen aus dem Nachbarland Dahomé nach
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. DahrendorfNigeria hineingelassen werden, falls die Landegenehmigung für Lagos nicht erteilt werden würde. Entsprechende fernschriftliche Anweisungen erhielt auch die deutsche Botschaft in Cotonou.In den Besprechungen mit der nigerianischen Regierung gelang es nach anfänglichen Schwierigkeiten, die erforderliche Genehmigung zum Lufttransport nach Lagos zu erhalten unter der Bedingung, daß jeder Anschein eines militärischen Einsatzes der deutschen Flugzeuge vermieden werde. Daraufhin wurden am 27., 28. und 29. Januar 10 Lastkraftwagen auf dem Luftwege nach Nigeria gebracht. Ferner wurden 11,5 t Medikamente, 1 Hubschrauber mit Gerätewagen, 2 Gabelstapler, Kraftfahrzeugersatzteile und Werkzeuge sowie 175 Ballen Decken nach Lagos geflogen.Zur weiteren Bereitstellung von Transportraum hat die Bundesregierung zu dem bereits vor einem halben Jahr in Dienst gestellten Frachter „Pluto" ein zweites deutsches Schiff, die „Priamos", gechartert, die .am 24. Januar mit einer Ladung von 6 Lastkraftwagen, 500 t hochwertigen Lebensmitteln und einer fahrbaren Kfz-Werkstatt Cuxhaven verlassen hat. Die „Priamos" wird voraussichtlich am 11. Februar in Lagos eintreffen und soll von dort sofort nach Port Harcourt in unmittelbare Nähe des Notgebietes weiterfahren.Ich habe diese Antwort gegeben, um zugleich zu dokumentieren, was die Bundesregierung getan hat und daß es ,an Koordination nicht gemangelt hat.Ich komme präzise zu der Frage 99. Herr Kollege I Kiep, die Bundesregierung hat mit großem Verständnis für die Nuancen und die Ironie Ihrer Frage diese geprüft und wäre Ihnen angesichts der vorzüglichen Formulierung gern wenigstens einen Schritt entgegengekommen. Ich muß ,aber feststellen, daß weder für den Normalfall noch für kurzfristige humanitäre Hilfsmaßnahmen die Notwendigkeit besteht, prinzipielle Schwierigkeiten zwischen den Ressorts zu überbrücken.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiep.
Ohne daß ich hier die Behauptung aufstellen möchte, Herr Staatssekretär, daß die Schwierigkeiten prinzipieller Natur sind, darf ich Sie doch an die Sitzung des Ausschusses in der vorigen Woche erinnern und Sie fragen, ob Sie nicht doch der Meinung sind, daß die Diskussion im Ausschuß, und zwar die Beiträge aller Fraktionen, dazu beigetragen hat, das gewisse Zögern zwischen den Ressorts zu überwinden und zu einem gemeinsamen Handeln zu führen.
Das gemeinsame Handeln der Ressorts hat von Anfang an stattgefunden. Die verschiedenen Ressorts tragen in unterschiedlicher Weise zu derselben Aufgabe bei, d. h. einzelne Ressorts tragen im wesentlichen in technischer Weise dazu bei, andere dadurch, daß sie — wie das Auswärtige Amt zu den Fragen der auswärtigen Politik — in diesem Zusammenhang ihren Rat geben.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiep.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß die Intervention des Kollegen Wischnewski aus dem Ausschuß heraus beim Bundeskanzler dazu beigetragen hat, daß sich Auswärtiges Amt und Innenministerium in der Frage des Flugtransports sehr schnell einig geworden sind?
Auswärtiges Amt und Innenministerium werden sich in allen Fragen sehr schnell einig. Ich bin allerdings der Meinung, daß die Interventionen vieler Kollegen aus dem Hause in der Sachfrage dazu beigetragen haben, daß auch nach außen sichtbar wurde, daß die Bundesregierung ihre Hilfe in Nigeria entschieden und rasch leisten will.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, nachdem in vielen Zeitungen und Zeitschriften und auch im Rahmen eines Sonderberichts am letzten Sonntagabend vom Ersten Deutschen Fernsehen Bilder gezeigt wurden, welche die trostlose Lage besonders der Kinder im ehemaligen Kampfgebiet von Biafra darstellten, warum das Auswärtige Amt und das Innenministerium die humanitäre Hilfe in so schleppender Form in die Wege geleitet haben, wie die Mitglieder des Ausschusses Für wirtschaftliche Zusammenarbeit bei einer Sitzung feststellen konnten, auf die vorhin der Kollege Kiep hingewiesen hat.
Herr Kollege, ich glaube nicht, daß es richtig ist, von einer schleppenden Hilfeleistung zu sprechen. Ich habe soeben ,einleitend noch einmal die ganze Abfolge der Daten dargestellt. Am 14. Januar ist die Kapitulation der Ostregion deutlich ,geworden. Heute haben wir den 30. Januar. In der Zwischenzeit ist vieles geschehen. Sie können mich darauf aufmerksam machen, ,daß an jedem Tag — leider — viele Menschen und auch viele Kinder in dem Kampfgebiet sterben. Aber wir konnten unsere Hilfe nur leisten, wenn ,sichergestellt war, daß diese Hilfe in Nigeria auch ankommt. Das, was Sie als schleppend empfinden, ist tatsächlich der Versuch, konkret ,die Landegenehmigungen für deutsche Flugzeuge in Lagos zu bekommen. Dieser Versuch mußte unternommen werden; er war nicht ganz einfach. Wir konnten unsere Hilfe also erst leisten, als diese Landegenehmigungen da waren. Wir hätten vom Technischen her unsere Hilfe einige Tage früher leisten können. Aber dem standen notwendige Verhandlungen im Wege, die zu Ende ge-
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorfführt werden mußten; denn es konnte niemandem von uns daran gelegen sein, Flugzeuge nach Nigeria zu schicken, die dann nicht landen dürfen und wieder umkehren müssen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist Ihnen nicht bekannt, daß im Ausschuß darüber Auskunft gegeben wurde, daß z. B. das Innenministerium nicht davon unterrichtet war, daß eine Delegation des Außenministeriums nach Nigeria fliegen würde bzw., daß die Vertreter des Innenministeriums im zuständigen Ausschuß selber ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht haben, daß sie als die Durchführenden der technischen Hilfe an einer solchen Delegation nicht beteiligt sind?
Nein, das ist mir nicht bekannt, da ich insbesondere weiß, daß das, was Sie jetzt darstellen, für den Herrn Innenminister nicht gilt, da dieser nicht nur die Vorgänge hier im Parlament aufmerksam verfolgt, sondern wir auch ständig direkte Gespräche indieser Frage geführt haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß diese Delegation die Aufgabe hat, zu überprüfen, welche Projekte der Entwicklungshilfe infolge des Krieges in Angriff genommen werden sollen?
Sie meinen die Delegation, die jetzt nach Nigeria gefahren ist, um technische Fragen längerfristiger Art zu prüfen. Das ist mir bekannt. Ich kann im übrigen sagen, daß, wenn der Herr Bundesinnenminister jemanden nach Nigeria schicken möchte, der dort die technische Abwicklung der Hilfsmaßnahmen überprüfen soll, das selbstverständlich heute geschehen kann. Da gibt es keinerlei Schwierigkeiten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, da Sie mitgeteilt haben, es seien eine Reihe von Lastkraftwagen unterwegs, und da das Zweite Deutsche Fernsehen gestern abend eine recht traurige Miteilung gemacht hat, daß nämlich z. B. 50 amerikanische Jeeps seit Tagen dort stehen und nicht befördert werden, weil sie grün gestrichen sind und die nigerianische Regierung verlangt, sie müßten weiß gestrichen sein, frage ich, ob Sie die Möglichkeit haben, darauf hinzuwirken, daß solche
Formen bürokratischer Hemmnisse unsere Hilfe nicht zurückhalten.
— Herr Wehner, ich denke, das ist doch eine hilfreiche Frage gewesen, oder nicht?
Wir haben sehr wenige Möglichkeiten, darauf hinzuwirken, Herr Kollege. Ich habe mich bemüht, in einer Reihe von Fragestunden in diesem Hause deutlich zu machen, daß die Bundesregierung vor allem an der Wirksamkeit ihrer Hilfe interessiert ist. Wir sind daher bereit, die Lastwagen weiß zu streichen, wenn sie auf diese Weise schneller hinkommen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wienand.
Ist die Bundesregierung bereit, einmal in absehbarer Zeit, um Legendenbildungen vorzubeugen, einen Überblick über das zu geben, was sie wirklich getan und veranlaßt hat, damit nicht der Eindruck vertieft wird, als hätte die Bundesregierung hier primitivste Vorsorgegrundsätze gegenüber anderen vernachlässigt?
Ja, Herr Kollege.
Sie haben bereits eine Zusatzfrage gestellt. Sie haben Gelegenheit, bei den nächsten Fragen, die sich ja alle auf die gleiche Materie beziehen, noch einmal zu fragen. — Bitte schön, eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Mattick.
Herr Staatssekretär, wäre die Bundesregierung bereit, in dieser Darstellung auch einmal die Grenzen der Möglichkeiten der Regierung aufzuzeigen, darzustellen, wo ihre Macht aufhört?
Ja, Herr Kollege, obwohl ich meine, daß aus den Antworten, die ich hier zu geben versucht habe, sowohl deutlich geworden ist, daß die Bundesregierung vom ersten Tag an tätig war, als auch, daß sich die Bundesregierung dabei der Tatsache wohl bewußt war, daß sie die Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorfland und nicht die Regierung des souveränen Staates Nigeria ist.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 100 des Herrn Abgeordneten Kiep auf:
Wann ist damit zu rechnen, daß sich das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt über den vom Bundesverteidigungsministerium angebotenen Lufttransport dringend benötigter Kraftfahrzeuge einigen?
Zur Frage 100 ist zu sagen, daß sie zumindest zum Teil dadurch überholt ist, daß der Lufttransport der benötigten Kraftfahrzeuge bereits durchgeführt ist. Zum anderen Teil habe ich diese Frage in meinen einleitenden Bemerkungen beantwortet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiep.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Anregungen, die in den letzten Tagen in der Presse gegeben worden sind und in denen vorgeschlagen wird, an die Bevölkerung der Kriegsgebiete eine Geldauszahlung irgendeiner Art in einer gewissen Höhe vorzunehmen, um dort ein primitives wirtschaftliches Leben wieder in Gang zu bringen, und würden Sie eine Beteiligung der Bundesregierung an einer solchen Aktion für denkbar oder für wünschenswert halten?
Ich bin im Augenblick überfragt, wenn Sie von mir eine definitive Antwort darauf haben wollen, ob es sinnvoll ist, durch eine Auszahlung von Geld an die Bewohner der betroffenen Gebiete die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen. Sicher besteht unser längerfristiges Interesse daran, dem Staat Nigeria zu helfen, um die wirtschaftliche Entwicklung auch in den betroffenen Gebieten zu fördern. Im ganzen aber scheint sich immer stärker abzuzeichnen, daß Hilfsmaßnahmen in Form von Geld, das zur Verfügung steht, wahrscheinlich besonders wirksam sind.
Herr Kollege Kiep, Ihre letzte Frage stand nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kraftfahrzeugen. Ich bitte, das bei der weiteren Zusatzfrage zu beachten.
Darf ich nur eine Schlußfrage stellen. Herr Staatssekretär, darf ich mich der Hoffnung hingeben, daß Sie meine jeztigen und früheren Fragen zu diesem Bereich nicht als Beitrag zum Aufbau einer Legendenbildung betrachtet haben, sondern als einen Versuch, in der Sache etwas beizutragen?
Ich habe aus den Fragen, die von Ihnen und vielen anderen Kollegen gestellt worden sind, die Besorgnis darüber gehört, daß in einem Teil der Welt Menschen in Not sind und sterben. Ich hoffe, ich habe zugleich deutlich gemacht, daß die Bundesregierung diese Sorge in vollem Umfang teilt und dementsprechend vom ersten Tage an gehandelt hat.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 101 des Herrn Abgeordneten Josten auf:
Zu welchem Zeitpunkt hat die Bundesregierung begonnen, Hilfsmaßnahmen für Biafra zu koordinieren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Frau Präsidentin, die Bundesregierung hat seit Bekanntwerden der Not in der Ostregion Nigerias im Sommer 1968 die nach dortigen Verhältnissen mögliche Hilfe geleistet. Seit diesem Zeitpunkt werden auch die deutschen Hilfsmaßnahmen koordiniert, und zwar sowohl zwischen den in Frage kommenden Bundesministerien als auch mit den nichtstaatlichen Hilfsorganisationen. Diese Koordinierung ist auch jetzt laufend fortgesetzt worden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Frau Präsidentin, darf ich darauf hinweisen, daß der Herr Staatssekretär jetzt die Frage 101 von Herrn Dr. Wulff beantwortet hat, zu der ich natürlich keine Zusatzfrage stellen darf.
Ich bin gebeten worden, die Frage 101 zu beantworten.
Ich bitte um Entschuldigung; das war eine Verwechslung. Frage 101 war von Herrn Dr. Wulff gestellt. Ist er im Saale? — Das ist nicht der Fall. Dann wird die Frage schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zu der Frage 102 des Herrn Abgeordneten Josten:
Wird die Bundesregierung für die Planung von zukünftigen Hilfeleistungen in Biafra und, falls solche unverzüglich notwendig sind, auch in anderen Krisengebieten eine Planungsgruppe einrichten?
Frau Präsidentin! die Bundesregierung hatte eine besondere Planungsgruppe für humanitäre Hilfe und Katastrophenhilfe im Ausland weder eingerichtet noch vorgesehen, weil diese Aufgaben von den beteiligten Ressorts im Rahmen ihrer fachlichen Aufgaben wahrgenommen werden. Diese Hilfen werden durch eine enge Abstimmung zwischen den verschie-
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorfdenen Bundesministerien und mit den nichtstaatlichen Hilfsorganisationen koordiniert. Dieses Verfahren hat sich bei zahlreichen Krisen und Katastrophenfällen im Ausland, wie sie bedauerlicherweise immer wieder eintreten, bewährt. Darüber hinaus glaubt die Bundesregierung nicht, daß die Einrichtung einer besonderen Planungsgruppe hier eine sinnvolle Erweiterung des Verwaltungsapparats wäre.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, werden die Erfahrungen aus bisherigen Hilfsmaßnahmen bei besonderen Katastrophen in Ihrem Hause oder in welchem anderen Ministerium ausgewertet, damit es künftig noch schneller als bisher möglich ist, in Krisengebieten zu helfen?
Diese Erfahrungen werden im Auswärtigen Amt und in anderen Häusern ausgewertet. Sie werden, wie ich weiß, auch in Ausschüssen dieses Hohen Hauses erörtert. Die Ausschußsitzung, auf die vorhin Bezug genommen worden ist, war ja eine Sitzung, in der als Tagesordnungspunkt genau eine solche Frage beraten werden sollte, nämlich die deutschen Hilfsmaßnahmen in Tunesien. Hier sollte durch eine solche Auswertung geprüft werden, in welcher Form die Koordination sinnvollerweise geschieht. Das ist ein Beispiel für Erfolgskontrolle, wenn sie so wollen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie das Beispiel Tunesien nannten, frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, daß z. B. die Hilfe der Bundesrepublik in Tunesien deshalb besonders wirkungsvoll war, weil die Luftwaffe Einsätze in den betroffenen Gebieten Tunesiens flog und sich hierzu einen eigenen Lufttransportstütztpunkt in der Nähe von Tunis angelegt hatte, und halten Sie es daher nicht für zweckmäßig, daß alle diese Erfahrungen bei einer Planungsgruppe oder gegebenenfalls in einer Abteilung Ihres Ministeriums gesammelt werden?
All diese Erfahrungen werden gesammelt. Aber das Beispiel, das Sie geben, zeigt im Vergleich mit der jetzt aktuellen Frage in Nigeria, daß sich die Erfahrungen des einen Landes nicht ohne weiteres auf das andere übertragen lassen; denn in Nigeria bestand eines der Probleme gerade darin, daß die Luftwaffe als solche hier nicht tätig werden konnte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, nachdem Sie erklärt haben, daß eine
Planungsgruppe nach Ihrer Auffassung nicht notwendig sei, bitte ich Sie, hier einmal darzulegen, wie eigentlich die Kompetenzregelung ist, um dann unter Umständen erneut überprüfen zu können, ob Sie bei Ihrer Aussage bleiben, dies insbesondere im Hinblick auf die vielen Kompetenzschwierigkeiten, die es offensichtlich nach den Aussagen, die wir im Ausschuß erleben mußten, doch gibt.
Herr Kollege, ich habe darzulegen versucht, daß diese Kompetenzschwierigkeiten nicht bestehen. Es gibt unterschiedliche Aufgaben der verschiedenen Ressorts. Die Koordination mit ,den nichtstaatlichen Hilfsorganisationen liegt beim Innenministerium. Bestimmte technische Aufgaben im Zusammenhang mit der Hilfeleistung liegen beim Innenministerium; sie können auch, wie in dem soeben geschilderten Fall, beim Verteidigungsministerium liegen. Die Frage, unter welchen besonderen Bedingungen Hilfeleistungen in einzelnen Ländern möglich sind, kann nur im Auswärtigen Amt geprüft werden. Aber da die Ministerien miteinander reden, und zwar ständig miteinander reden, und da sich die Beteiligten kennen, ist die Koordination in der Tat kein Problem. Das einzige, was ich im Hinblick auf Ihre Fragen sagen würde, ist, daß ,es sicher in manchen Fällen sinnvoll ist, auch öffentlich sichtbar zu machen, wo möglicherweise ein einzelner als Anlaufstelle für Hilfsmaßnahmen nach draußen wie in der Koordination namhaft gemacht werden kann. Das ist aber etwas anderes als eine Planungsgruppe, die mir in diesem Fall eine unnötige Aufblähung des Verwaltungsapparats zu sein schiene.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Dr. Wolf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, Ihnen ist wahrscheinlich schon aus Ihrer Tätigkeit bekannt, daß Koordinierung zu den Schwierigkeiten der deutschen Verwaltung gehört. Ich möchte gern wissen, ob Sie daran denken, eines dieser von Ihnen genannten Ministerien für ,den Einzelfall oder für die Dauer als federführend zu bezeichnen.
Es gibt Regelungen, wann und wie solche Hilfsmaßnahmen geleistet werden. Nach diesen Regelungen, die gegenwärtig gelten, ist die Zuteilung der Fragen für die heutige Fragestunde erfolgt.
Keine weiteren Zusatzfragen. Wir kommen zu der Frage 138 des Herrn Abgeordneten Werner:
Ist es richtig, daß die nigerianische Regierung durch eine Anzahl oft sehr hinderlicher und in dieser Situation schwer verständlicher formaler Einwände den Fluß unserer Hilfsmaßnahmen verzögert und Menschenleben dadurch gefährdet werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Der
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorf nigerianischen Regierung sind für die schnelle Versorgung der Bevölkerung Ostnigerias von vielen Seiten Hilfsangebote unterbreitet woren. Nach den der Bundesregierung vorliegenden Nachrichten 'ist die nigerianische Regierung intensiv bemüht, die Verhältnisse in der Ostregion möglichst rasch zu normalisieren, die notleidende Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen dringenden Bedarfsgütern zu versorgen und auch das Vertrauen in .der Bevölkerung zurückzugewinnen. Es scheint allerdings zuzutreffen, daß die Durchführung der Hilfsmaßnahmen hin und wieder auf organisatorische Schwierigkeiten stößt, die sich nicht immer sofort beheben lassen. Nach den der Bundesregierung vorliegenden Berichten kann aber nicht davon .gesprochen werden, daß die nigerianische Regierung den Fluß der Hilfsmaßnahmen durch formale, bürokratische Hindernisse erschweren würde.
Keine Zusatzfrage.
Wir schieben jetzt ,die Dringlichkeitsfragen auf Drucksache VI/302 ein, weil ,sie mit den soeben gestellten Fragen in einem Sachzusammenhang stehen. Ich rufe die Frage 1 ,des Abgeordneten Ernesti auf:
Sind humanitäre Transportflüge der Bundesluftwaffe von Lagos aus in Katastrophengebiete im Innern des Landes Nigeria zugesagt worden?
Zur Frage 1 ist die Antwort nein. Der deutsche Verbindungsoffizier in Lagos, der der Botschaft zugeteilt ist, wurde vom Bundesminister der Verteidigung jedoch ermächtigt, zwei Transall-Maschinen in Lagos zurückzuhalten, um sie für Flüge ins Innere des Landes einzusetzen, wenn die Genehmigung erteilt ist und die Situation es erlaubt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ernesti.
Gegenwärtig, Herr Staatssekretär, liegen Ihnen noch keine Nachrichten vor, daß solche Flüge in das Innere des Landes vorgesehen sind?
Nein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob der Afrika-Referent des Auswärtigen Amts, Herr Graf von Posadowsky-Wehner, sich um die Erlaubnis für humanitäre Transportflüge von Lagos in die Ostregion bemüht?
Ja, das ist mir bekannt; er bemüht sich um diese Erlaubnis.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, nachdem hier wiederholt die Aktivitäten der Bundesregierung aufgezählt worden sind, möchte ich Sie fragen, ob Sie bzw. Ihr Ministerium die Anregung der Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Ausschuß für Entwicklungshilfe berücksichtigen wird, jetzt endlich einen umfassenden Überblick über die Tätigkeiten der Bundesregierung bzw. über das, was zukünftig noch geplant ist, zu geben, damit es nicht zu der Legendenbildung kommt, von der Herr Wienand hier vorhin gesprochen hat.
In der Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Wienand habe ich dazu ja gesagt. Ich würde dem allerdings hinzufügen wollen, Herr Kollege, daß wir uns im Augenblick intensiver mit den Hilfeleistungen selbst als mit der Herstellung umfassender Berichte beschäftigen werden.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die zweite Dringlichkeitsfrage des Herrn Abgeordneten Ernesti auf:
Welche Vorsorge hat die Bundesregierung getroffen, um den Soldaten der Luftwaffe, die ihren Dienst in Nigeria in Zivil ausüben, ausreichenden Schutz durch nigerianische Stellen bei eventuellen Übergriffen zu gewährleisten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Soldaten der Bundesluftwaffe, die in Zivil und mit Reisepässen nach Lagos geflogen sind, genießen den Schutz, den jeder deutsche Staatsangehörige im Auslang genießt. Darüber hinaus hat die deutsche Botschaft in Besprechungen mit der nigerianischen Regierung noch ausdrücklich um den Schutz der Soldaten, welche mit ihren Flugzeugen nach Lagos geflogen sind, gebeten. Die Botschaft hat berichtet, daß darüber hinausgehende Sonderausweise oder ein gesonderter Rechtsstatus für ausländisches Hilfsperonal von der nigerianischen Regierung üblicherweise nicht gewährt wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ernesti.
Sollten solche Flüge in das Innere des Landes gewünscht werden, Herr Staatssekretär, welcher völkerrechtliche Schutz wird dann diesen deutschen Soldaten dort gewährt?
Meine Antwort trifft auch auf solche Flüge ins Innere des
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970 1197
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. DahrendorfLandes zu, Deshalb habe ich vorhin bei der Beantwortung Ihrer ersten Dringlichkeitsfrage darauf hingewiesen, daß nicht nur die Landegenehmigungen, sondern auch die Situation es erlauben müssen, daß solche Flüge stattfinden. Das heißt, wir müssen natürlich sicher sein, daß diese Mannschaften unserer Flugzeuge nicht einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück.
Herr Staatssekretär, ist es nicht so, daß die deutschen Soldaten dann, wenn sie fliegen, praktisch im Auftrage des nigerianischen Roten Kreuzes fliegen?
Ja.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 132 auf.
Weiß die Bundesregierung, wann der vom koreanischen Geheimdienst aus Frankfurt entführte Physiker Chung Kyu Myung wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren wird?
Sie wird auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahrendorf vom 29. Januar 1970 lautet:
Die zwischen Sonderbotschafter Dr. Frank und der koreanischen Regierung im Januar 1969 getroffenen Absprachen sind vertraulicher Natur und können nicht öffentlich bekanntgegeben werden. Die gegen Herrn Chung Kyu Myung rechtskräftig verhängte Todesstrafe wurde am 15. August 1969 im Rahmen einer Amnestie in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt. Damit ist der Tag, an dem Herr Chung nach Deutschland zurückkehren kann, ein großes Stück nähergerückt.
Die Fragen 133 und 134 sind von dem Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 135 des Herrn Abgeordneten Wohlrabe auf:
Treffen Pressemeldungen zu, daß der Leiter des Protokoll- und Auslandsamtes des Senats von Berlin Generalkonsul von Kalkutta werden soll, um Streitigkeiten in der Berliner Regierungskoalition auszuräumen?
Herr Staatssekretär, bitte!
Frau Präsident, die Antwort ist: nein. Der Leiter des Protokoll- und Auslandsamts des Senats von Berlin, der Leitende Senatsrat Dr. Rauch, ist Laufbahnbeamter des höheren Auswärtigen Dienstes. Er trat am 15. Februar 1954 als Attaché in den Auswärtigen Dienst ein. Er war in der Folgezeit auf Auslandsposten in Tripolis und Bagdad. Im Jahr 1963 verließ Herr Dr. Rauch vorübergehend den Auswärtigen Dienst, um Protokollchef des Senats von Berlin zu werden, Es ist seit langem sein Wunsch, wieder in den Auswärtigen Dienst übernommen zu werden. Schon vor längerer Zeit hat das Auswärtige Amt seine grundsätzliche Bereitschaft gezeigt, Herrn Dr. Rauch in seinen Geschäftsbereich einzuberufen. Es trifft nicht zu, daß die geplante Einberufung von
Herrn Dr. Rauch in irgendeinem Zusammenhang mit angeblichen Schwierigkeiten in der Berliner Regierungskoalition steht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann erklären, wie es dazu kommt, daß der Minister des Auswärtigen — laut Aussage in der Berliner Presse — dem Vorsitzenden der FDP in Berlin zugesagt hat, gerade auf Grund der hier genannten Schwierigkeiten Herrn Dr. Rauch jetzt in den Auswärtigen Dienst zurückzuberufen?
Herr Kollege, ich bin ganz sicher, daß die Bemerkung „auf Grund irgendwelcher Schwierigkeiten" —wenn es eine Zusage gegeben hat — nicht aufgetaucht ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir darin zu, daß der verstorbene Bundeskanzler Adenauer in einer Reihe von Fällen Besetzungen im Diplomatischen Dienst der Bundesrepublik vorgenommen hat, die mit Sacherwägungen des Diplomatischen Dienstes nichts zu tun hatten und daß in diesen Fällen die Antragsteller nicht Karrierebeamte des Diplomatischen Dienstes waren und daß die gestellten Fragen deshalb insofern in einem etwas seltsamen Licht erscheinen?
Auch wenn ich Ihnen zustimme, muß ich für diese Frage darauf bestehen, ,daß es sich hier um einen Karrierebeamten des höheren Auswärtigen Dienstes handelt.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 136 des Abgeordneten Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein auf:
Treffen Meldungen zu, daß der Leiter des Protokollamtes des Senats von Berlin Generalkonsul in Kalkutta werden soll, obwohl der jetzige Stelleninhaber die übliche Amtszeit in dieser Stelle noch nicht abgeleistet hat?
Bitte, Herr Staatsekretar!
Frau Präsident, die Abberufung des derzeitigen Generalkonsuls in Kalkutta wird erwogen, da sich herausgestellt hat, daß er gesundheitlich nicht in der Lage ist, den Posten für die Dauer der üblichen Amtsperiode auszufüllen.
Keine Zusatzfrage.
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1198 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Vizepräsident Frau FunckeIch rufe die Frage 137 des Abgeordneten Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein auf:Gedenkt die Bundesregierung, bei der Besetzung wichtiger Auslandsposten personelle Entscheidungen mit der Ausräumung koalitionspolitischer Schwierigkeiten in Landesregierungen zu verbinden?
Frau Präsident, die mangelnde Tropentauglichkeit des Generalkonsuls in Kalkutta hat sich erst nach seinem Dienstantritt in Kalkutta herausgestellt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wohlrabe.
Ist dem Auswärtigen Amt bekannt — ich hatte vor drei Wochen Gelegenheit, den Generalkonsul in Kalkutta zu treffen —, daß er sich bei bester Gesundheit befindet?
Dem Auswärtigen Amt ist genau bekannt, daß er sich leider nicht bei bester Gesundheit befindet.
Ich rufe die Frage 139 des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg auf:
Welche Bestimmungen im Atomsperrvertrag schützen die Nichtkernwaffenstaaten nach Meinung der Bundesregierung vor jeder Form von atomarer Bedrohung und Erpressung?
Frau Präsident, Gegenstand des NV-Vertrages ist nicht der Schutz vor Androhung oder Anwendung von Gewalt — das ist im allgemeinen die Funktion von Nichtangriffsverträgen oder auch Gewaltverzichtserklärungen -, sondern die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Der Vertrag enthält daher keine operativen Bestimmungen der genannten Art.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Herr Abgeordnete Scheel in der 126. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Oktober 1967 mit einer deutlichen Kritik gegenüber dem damaligen Bundesaußenminister Brandt u. a. folgendes sagte:
Es fehlte mir eine Bemerkung, die den Willen und die Entschlossenheit der Bundesregierung ausdrückt, auf die Partner beim Abschluß eines solchen Vertrages — und zwar auf die, die ihn konzipiert haben — einzuwirken, daß der Ver-
trag Bestimmungen enthält, die die Nichtatommächte gegenüber jeder Form von atomarer Bedrohung und Erpressung schützen. Solche Bestimmungen müssen im Vertrag sein.
Herr Scheel fuhr dann unter dem Beifall der CDU/ CSU und der FDP fort:
Ja, ich gehe noch darüber hinaus: man müßte sogar den Versuch unternehmen, mit den einzelnen Partnern, und zwar mit den atomar gerüsteten Partnern, zu zusätzlichen Vereinbarungen zu kommen, die eine Anwendung von Atomwaffen gegen Nichtatommächte vollkommen ausschließen.
Ja, Herr Kollege, diese Bemerkungen sind mir bekannt. Diese Frage ist in der ausführlichen Diskussion in diesem Hause über den NV-Vertrag wieder aufgetaucht. Dabei hat sich herausgestellt, wie es auch die vorige Bundesregierung in ihren Vorverhandlungen schon feststellen mußte, daß eine Veränderung des Vertragstextes selbst nach dem Zeitpunkt, zu dem einzelne Länder bereits ratifiziert hatten, nicht mehr möglich war. So konnten wir nur mit unserer eigenen Unterschrift unter den Vertrag die dringende Hoffnung verbinden, daß genau das von Herrn Scheel in der von Ihnen zitierten Rede Gesagte, nämlich die Zusicherung, daß die Nuklearmächte ihrerseits auf die Drohung mit Gewalt verzichten, im Zusammenhang mit dem Vertrag erneuert wird. Wir dringen weiter darauf, und wir sind unverändert der Meinung, daß die eigentlich politische Aufgabe erst nach der Unterschrift unter den Vertrag beginnt und daß sie darin liegt, weltweit zu einem Gewaltverzicht zu kommen, der insbesondere auch die nichtnuklearen Mächte vor Bedrohung durch die nuklearen schützt.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, da aus Ihrer Antwort hervorgeht, daß im Auswärtigen Amt die Auffassung des Abgeordneten Scheel von damals sehr genau bekannt war, darf ich Sie fragen: wie erklärt sich die Sinneswandlung des Herrn Außenministers, der damals als Abgeordneter eindeutig gefordert hat, daß solche Bestimmungen im Vertrag stehen müssen?
Herr Kollege, ich glaube, es hat sehr viele in diesem Haus gegeben — Sie haben soeben den Beifall Ihrer eigenen Fraktion zitiert —, die eine gewisse Zeitlang meinten, es sei in unserer Kraft, Veränderungen des Vertragstextes in bestimmter Hinsicht vorzunehmen, und die seither feststellen mußten, daß das nicht möglich ist und wir daher zusätzlich zu dem NV-Vertrag andersgeartete Abmachungen, insbesondere auch die Supermächte bindende Ab-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970 1199
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorf machungen, brauchen. Eine solche Erfahrung, wie man sie im Gange der Verhandlungen macht, stellt keinen Sinneswandel dar, sondern allenfalls einen Wandel in den Mitteln, die man wählt, um die gleichbleibenden Ziele zu erreichen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott.
Herr Staatssekretär, kann ich diesen Ihren Ausführungen entnehmen, daß der Abgeordnete Scheel nicht in der Lage war, die Situation zu überblicken?
Herr Kollege, das dürfen Sie daraus nicht entnehmen, es sei denn, Sie haben die Absicht, daraus zu entnehmen, daß auch die Bundesregierung und das gesamte Hohe Haus dazu nicht in der Lage waren. Das wäre eine Unterstellung, zu der ich mich nicht hinreißen lassen würde.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 140 des Abgeordneten Schulze-Vorberg auf:
Kann die Bundesregierung die Übersetzung — und schriftlich auch den Originaltext — der vom Bundesminister des Auswärtigen in der 14. Sitzung am 27. November 1969 erwähnten Rechtsmeinung des Herrn Prof. Schostow in der Zeitschrift „Meshdunarudnaja Schisn" vorlegen, aus der u. a. sich angeblich für die Bundesregierung die Sicherheit ergibt, daß der Atomsperrvertrag eine europäische Option nicht verbietet?
Frau Präsident, sowohl der Originaltext als auch eine vom Sprachendienst des Auswärtigen Amtes hergestellte deutsche Übersetzung des zitierten Aufsatzes können vorgelegt werden. Im übrigen verweise ich Sie darauf, daß die fragliche Zeitschrift auch auf englisch in einer gleichsam offiziösen Ausgabe erscheint.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, der Herr Bundesaußenmister hat damals auf Fragen des Abgeordneten von Guttenberg erklärt, daß aus diesem Aufsatz von Professor Schostow hervorgehe, daß der Atomsperrvertrag eine europäische Option nicht verbiete. Der Herr Außenminister hat die Ausführungen des Herrn Professor Schostow sozusagen als sowjetamtlich dargestellt und sogar erklärt, weitere Nachforschungen bei der sowjetischen Regierung seien nicht nötig. Welche Stelle aus dem Ihnen vorliegenden Aufsatz gibt zu dieser Rechtsmeinung Anlaß? Ich habe sie nicht gefunden.
Frau Präsident, Herr Kollege, ich bitte Sie zunächst, mir eine Vorbemerkung zu dieser Frage nicht zu verübeln. Wir haben über diese Fragen sehr gründlich nachgedacht. Es handelt sich hier um Fragen, bei denen es unter Umständen nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt, im einzelnen eine ausführliche öffentliche Diskussion zu führen.
Ich sage das nicht leichten Herzens, weil mein Respekt vor diesem Hohen Hause es für mich selbstverständlich macht, möglichst gründlich Auskunft zu geben. Ich bitte Sie daher, die verkürzte Antwort, die ich Ihnen gebe, hinzunehmen.
Es gibt in diesem Artikel wie auch in anderen Erklärungen eine Stelle, an der von der Weitergabe von Kernwaffen die Rede ist. Es Ist nicht die Rede davon, was geschieht, wenn Kernwaffen gleichsam geerbt werden, wenn ich es einmal so ausdrücken darf. Auf diesen gedanklichen Zusammenhang bezogen sich die Bemerkungen des Herrn Bundesaußenministers.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, bei voller Würdigung Ihrer Bemerkung, daß in bezug auf diesen Vertrag manches nicht in aller Öffentlichkeit diskutiert werden kann, möchte ich doch feststellen, daß der Herr Außenminister hier — —
Sie dürfen nicht feststellen, Sie müssen fragen!
Der Herr Außenminister hat hier zitiert. Meine Frage zielte darauf ab, das wörtliche Zitat zu bekommen, das der Herr Außenminister vorgetragen hat. Ich bitte noch einmal darum. Es handelt sich hier, wie Sie sagen, um eine Zeitschrift, die sogar in aller Öffentlichkeit erschienen ist. Welche Schwierigkeit könnte es geben, diesen Text dem Hohen Hause vorzutragen?
Herr Kollege, ich will Ihnen gern einen Hinweis geben. Es handelt sich um einen Absatz in diesem Artikel — ich will ihn aus Gründen der Ausführlichkeit nicht ganz verlesen —, der mit den Worten beginnt: „Der Sinn des Art. 1 ist klar. Die Staaten, die dem Vertrag beigetreten sind und Kernwaffen besitzen, werden verpflichtet sein, die Weitergabe dieser Waffen an Nichtkernwaffenstaaten zu unterlassen". Ich möchte Sie auf diese Stelle verweisen.
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1200 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorf— Nein, das ist nicht das Gegenteil dessen. Ich habe ja eben auf die Tatsachen hingewiesen, die dem Hause in der Diskussion über den NV-Vertrag sehr wohl bewußt war,
daß zwischen Weitergabe und Übernahme in anderem Zusammenhang ein sehr erheblicher Unterschied besteht. Ich möchte hier nur ungern näher darauf eingehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wienand.
Herr Staatssekretär, sieht sich die Bundesregierung, da hier offensichtlich ein Informationsdefizit vorhanden ist, in der Lage, noch einmal darauf hinzuweisen, daß der Verteidigungsausschuß und der Auswärtige Ausschuß eigens einberufen worden sind, um das, was nicht geeignet erscheint, in aller Öffentlichkeit diskutiert zu werden, auch den Abgeordneten der Opposition klarzumachen?
Ich danke Ihnen für den Hinweis, Herr Kollege. Ja, ich weise darauf ausdrücklich noch einmal hin.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatssekretär, ist es nicht so, daß es sich hierbei eigentlich nicht um den Artikel von Schostow und seinen Wortlaut handelt, sondern um eine Interpretation, die bisher durch nichts gedeckt ist?
Herr Kollege, auch hier könnte ich Ihnen eine ausführlichere Antwort geben, als ich es jetzt im Grunde vertreten kann. Es handelt sich ganz gewiß um ein Verständnis von Äußerungen, wobei übrigens, wie Sie feststellen können, wenn Sie das Protokoll nachlesen, der fragliche Artikel keineswegs als Hauptstütze dieses Verständnisses genommen wurde,
sondern Äußerungen des sowjetischen Außenministers wurden als Hauptstütze genommen und scheinen in diesem Zusammenhang auch die zentrale Bedeutung zu haben.
Es ist nun einmal so, daß, wenn darauf verzichtet wird, bestimmte andere Interpretationen vorzulegen, auch darin eine politische Tatsache zu sehen ist, selbst wenn man nicht unterstellt, daß der andere mit diesem Verzicht alles das verbindet, das wir damit verbinden. — Entschuldigen Sie die etwas kritische Antwort.
Keine Zusatzfrage. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts beantwortet. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Professor Dahrendorf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Anwesend ist der Parlamentarische Staatssekretär Börner.
Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen der von ihr wieder für dieses Jahr vorgesehenen Verordnung zur Erleichterung des Ferienreiseverkehrs auf der Straße den Ländern die Möglichkeit einzuräumen, für engbegrenzte Transporte, wie Kirschen und Erdbeeren, die leicht verderblich sind und als Erntegut mengenmäßig wegen der unbestimmten Witterung nicht auf die einzelnen Werktage verteilt werden können, Ausnahmegenehmigungen für die Beförderung auf der Bundesautobahn zu erteilen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Frau Präsidentin, die Antwort lautet: Nein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es sich hier lediglich um 15 oder 20 Lastkraftwagen handelt, die die Autobahn im wesentlichen in der Süd-Nord-Richtung benutzen, wo sowieso kein Ferienreiseverkehr stattfindet, und daß es sich um Produkte handelt, die so leicht verderblich sind, daß dann der Erzeuger auf seiner Ware sitzenbleibt?
Herr Kollege, in Übereinstimmung mit der bisherigen Auffassung des Bundesrates sieht sich der Bundesminister für Verkehr außerstande, in die Verordnung zur Erleichterung des Ferienreiseverkehrs auf der Straße im Jahre 1970 Vorschriften über die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für Obsttransporte auf Bundesautobahnen aufzunehmen. Diese Bestimmung würde zu zahllosen Berufungen führen und damit den Zweck der Verordnung in Frage stellen. Im Vorjahr ist kein einziger Fall bekanntgeworden, daß Obst wegen des Lkw-Verbots verdorben wäre. Die Versorgung der Großmärkte war völlig normal.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß im vergangenen Jahr a) die Erntemenge ,sehr gering und b) die Erntewitterung ausgewogen war und es möglich ist, daß bei schlechtem Wetter die Ernte am Wochenende zusammentrifft und dann die ganze Versorgung nicht mehr gewährleistet ist?
Herr Kollege, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß die Deutsche Bundesbahn
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970 1201
Parlamentarischer Staatssekretär Börnerim letzten Jahr zur Bewältigung dieser Probleme, von denen Sie sprachen, ein besonderes Angebot an die Obsterzeuger gemacht hatte, das eine völlige Beförderungsgarantie und eine Haftung für eventuelle Verderbnis einschloß. Von diesem Angebot ist nicht Gebrauch gemacht worden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß es möglich sein müßte, die berechtigten Wünsche der Ferienreisenden mit den unabweisbaren Bedürfnissen unserer Wirtschaft in Einklang zu bringen?
Der Bundesminister für Verkehr hat sich darum sehr bemüht. Ich kann mich an eine Diskussion erinnern, Herr Kollege, bei der Sie zu diesem Lkw-Fahrverbot sehr positiv Stellung genommen haben. Wir werden auch in diesem Jahr wieder diese Überlegung anstellen. Die entsprechenden Gespräche sind angelaufen. Aber ich muß darauf hinweisen, daß die berechtigten Interessen der Wirtschaft am Wochenendverkehr hinter dem Bedürfnis vieler Millionen Ferienreisender, ohne Unfälle und möglichst schnell in ihren Ferienort zu kommen, zurücktreten sollten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dasch.
Herr Staatssekretär, haben die anderen EWG-Partner ähnliche Beschränkungen gehabt, und wenn nicht, befürchtet nicht die Bundesregierung, daß damit für einen Teil der Erzeuger eine Wettbewerbsverzerrung eintritt?
Herr Kollege, andere EWG-Partner haben nicht die gleiche verkehrspolitische Situation wie die Bundesrepublik Deutschland, die wegen einer besonders starken Bevölkerungszunahme in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg und des Wohnens vieler Millionen Menschen in Ballungsgebieten besondere Verkehrsprobleme hat. Andere EWG-Partner haben auch nicht in dem Maße wie wir die Situation, daß sie in dieser Zeit als Transitland einen zusätzlichen Ferienverkehr von Nachbarländern zu bewältigen haben. Ich denke nur daran, daß z. B. die Urlaubstermine von Nordrhein-Westfalen und der Niederlande hier im Zusammenhang gesehen werden müssen, was die Straßenbelastung an bestimmten Wochenenden betrifft.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hauser.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Bundesbahn im letzten Jahr zugeben mußte, daß sie keineswegs alle Orte in der notwendigen Zeit, um die Frischobsternte zeitgerecht unterzubringen, zu erreichen in der Lage ist?
Mir ist bekannt, daß die Bundesbahn ihren Betrieb in den letzten Jahren erheblich modernisiert hat und daß sie mit allen Problemen, sowohl mit dem Ernteverkehr im Herbst als auch insbesondere in den letzten Monaten mit den Schwierigkeiten einer sehr problematischen Verkehrssituation durch den frühen Wintereinbruch fertig geworden ist. Ich habe keinen Zweifel daran, daß sie auch die Dinge bewältigt, die jetzt hier in Rede stehen.
Keine weitere Zusatzfrage. — Herr Abgeordneter Müller-Hermann, im Interesse Ihrer selbst, der Sie die nächste Frage haben, kann ich nur eine Zusatzfrage von jedem zulassen. — Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Meister.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung oder sind Sie bereit, darauf hinzuwirken, daß in diesem Falle die Kraftfahrzeugsteuer für die Ausfalltage eine Ermäßigung erfährt?
Ich kann den Zusammenhang mit dem Problem, das hier angesprochen ist, nicht sehen. Ich darf darauf hinweisen, daß die Kraftfahrzeugsteuer den Ländern zugute kommt und mit Obsttransporten sehr wenig zu tun hat.
Keine weitere Zusatzfrage? — Jeder nur eine, bitte! Sonst kommt Herr Müller-Hermann mit seiner Frage 63 nicht mehr dran.
Ich rufe dann die Frage 63 des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann auf:
Welche Vorstellung hat die Bundesregierung bezüglich Standort und Ausbau eines Tiefwasserhafens an der Nordseeküste und der dafür benötigten Investitionen, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Seehäfen angesichts der strukturellen Veränderungen in der Seeschiffahrt zu erhalten?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Da der Bundesminister für Verkehr die Aufgabenstellung durchaus im Sinne der gestellten Frage sieht, hat er gemeinsam mit den Verkehrsministern der Küstenländer vor einigen Monaten eine Tiefwasserhafenkommission gebildet, die alle in Betracht kommenden Fragen behandelt. Es wäre für die Zusammenarbeit in dieser Kommission nicht hilfreich, ihrem Arbeitsergebnis durch eine vorzeitige Stellungnahme zu Einzelfragen vorzugreifen.
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Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, wann meinen Sie statt einer sibyllinischen Auskunft einmal eine konkretere Auskunft in dieser Frage geben zu können?
Herr Kollege Müller-Hermann, ich nehme an, daß Ihnen als einem Abgeordneten aus dem Bereich, um den es hier geht, bekannt ist, daß Investitionsentscheidungen dieser Größenordnung natürlich einer sehr sorgsamen Prüfung durch alle Beteiligten bedürfen, daß aber umgekehrt die technische Entwicklung im Schiffsbau und die inter- nationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik im Welthandel es erfordern, daß wir möglichst bald zu konkreten Ergebnissen kommen. Ich habe keinen Anlaß zu der Vermutung, daß diese Kommisison nicht in absehbarer Zeit zu einem vernünftigen Ergebnis käme.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Darf ich dann meine Frage in drei Monaten wiederholen?
Herr Kollege, Sie können sie jederzeit wiederholen. Dieses Recht haben Sie nach der Geschäftsordnung.
Ich rufe dann die Frage 64 des Abgeordneten Pieroth auf:
Wird die Bundesregierung dafür sorgen, daß die Rationalisierungseinsparungen durch die Zusammenlegung der Omnibusdienste von Bundesbahn und Bundespost auch an die Reisenden weitergegeben werden in Gestalt niedrigerer Tarife?
Ist der Herr Abgeordnete Pieroth im Saal? — Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Die nach Errichtung einer Verkehrsgemeinschaft der Omnibusdienste von Bahn und Post durchzuführenden Rationalisierungsmaßnahmen und dadurch mögliche Einsparungen sind noch nicht überschaubar. Mit Sicherheit werden eventuelle Einsparungen dazu beitragen, angesichts der gestiegenen und steigenden Personal- und Sachkosten eine ungünstige Entwicklung der Kosten-
Ertrags-Situation aufzufangen. Sollten dennoch langfristig Überschüsse erzielt werden, würden die beteiligten Verkehrsverwaltungen prüfen, inwieweit diese den Kunden zugute kommen könnten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Pieroth.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Ansicht, daß gerade in der jetzigen konjunkturellen Situation niedrigere Tarife ein wirksamer Beitrag gegen die Preissteigerungen wären und daß gerade staatliche und halbstaatliche Stellen hier forciert beispielgebend vorgehen sollten?
Herr Kollege, dieses Problem wird in einer späteren Fragestellung noch eine Rolle spielen. Ich darf insoweit auch auf die gestern gegebene Antwort meines Kollegen Staatssekretär Dr. Arndt vom Wirtschaftsministerium zu dem Gesamtkomplex verweisen. Ich muß aber auch darauf hinweisen, daß in dem Nahverkehr, von dem hier die Rede ist, keine hohen Gewinne zu machen sind. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß der Omnibusverkehr durch Bahn und Post praktisch ein Zuschußunternehmen ist bzw. daß hier jede Kostensteigerung, z. B. der Personal- und Sachkosten, in eine Kostenunterdeckung führen wird. Von daher muß man sehen, daß gestiegene Löhne und Gehälter auch hier zu bestimmten Schlußfolgerungen bei diesem gesamten Komplex führen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Pieroth.
Wenn aber die Situation in diesem Nahverkehrsbereich bisher schon so war und wenn Rationalisierungen Einsparungen bedeuten, sollte man dann nicht in diesem Zusammenhang sehr rasch handeln und nicht irgendwann? Denn die jetzige konjunkturelle Situation erfordert hier doch Maßnahmen.
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Herr Kollege, meine bisherigen Erklärungen geben für eine solche Interpretation nicht den geringsten Anlaß. Ich muß ausdrücklich darauf hinweisen — ich nehme an, daß Sie das aus Ihrem verkehrspolitischen Sachverstand wissen —, daß ich nicht gesagt habe, daß eine Größenordnung, wie sie hier in Rede steht, durch Rationalisierung aufgefangen werden kann. Die Bundesregierung hat auch nirgends erklärt, daß sie keine Tariferhöhungen zulassen wird, sondern sie hat nur mit der Prüfung dieser Dinge z. B. die Frage verknüpft, ob nicht ein mehr marktwirtschaftliches Verhalten bestimmter Verkehrsträger hier angemessen wäre. Ich darf daran erinnern, daß Sie in vielen Erklärungen vor dem Hohen Hause als Abgeordneter und auch in vielen Fachzeitschriften eine ähnliche Meinung vertreten haben.
Keine weitere Zusatzfrage. Die Fragen 107 und 108 sind zurückgezogen.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Börner.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Vogel, Benda, Erhard , Dr. Eyrich, Dr. Lenz (Bergstraße), Dr. Pinger und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (3. StrRG)
— Drucksache VI/261 —
b) Beratung des Schriftlichen Berichts des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Beeinträchtigung von Grundrechten durch gewalttätige Aktionen
— Drucksachen VI/157, VI/270 —
Das Wort zur Begründung des Antrags der CDU/ CSU hat Herr Dr. Eyrich. Er hat um 30 Minuten Redezeit gebeten. Bitte schön, Herr Dr. Eyrich!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihnen liegt die Drucksache VI/261 der CDU/CSU-Fraktion vor, ein Antrag auf Änderung des Strafgesetzbuches hinsichtlich der Verbrechen und Vergehen gegen den Gemeinschaftsfrieden. Wir wollten mit diesem Entwurf, den wir Ihnen vorlegen, unsere eigene Meinung darstellen, weil wir glauben, daß das, was der Entwurf der Koalitionsfraktionen enthält, nicht befriedigende Lösungen auf diesem Gebiete zeigt.Lassen Sie mich aber zuvor einige Vorbemerkungen machen, weil ich glaube, daß es erforderlich ist, aus der einseitigen Betrachtung dieser Dinge allein im Hinblick auf die Demonstrationsdelikte herauszukommen. Wir haben es nicht nur mit Demonstrationsdelikten zu tun, sondern wir haben es mit Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung zu tun, eine Erscheinung, die sich nicht nur darin äußert, daß diese öffentliche Ordnung durch Demonstrationen gestört wird, sondern auch in mannigfaltiger Beziehung durch einzelne Bürger.Ich glaube, wir sollten auch sagen, daß sich die Gültigkeit dessen, was wir hier gemeinsam entwerfen, nicht allein an den bekannten Erscheinungsformen, die wir haben, orientieren kann, sondern für die Zukunft an allen nicht voraussehbaren Formen und vor allen Dingen an von allen extremen politischen Richtungen möglichen Aktionen. Eine solche Regelung darf nicht kurzfristig sein, sondern sie hat das zu beachten, was wir in den nächsten Jahrzehnten auf diesem Gebiet brauchen. Gleichwohl — und darüber sind wir uns im klaren, wenn
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Dr. Eyrichauch oft emotionell - ist diese Frage in der Vergangenheit allein unter dem Gesichtspunkt der Demonstrationsdelikte gesehen worden. Dazu darf ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion folgendes deutlich machen.Art. 5 und Art. 8 des Grundgesetzes und die in diesen Artikeln zum Ausdruck kommenden Freiheitsrechte, nämlich, die eigene Meinung in Schrift, Wort und Bild zu äußern, und schließlich die Möglichkeit, Versammlungen unter freiem Himmel abzuhalten, werden von unserer Fraktion nicht nur bejaht; das Ziel unseres Entwurfs ist nicht nur die Bejahung, sondern auch der Schutz dieser Meinungsfreiheit im Rahmen des Art. 5 und des Art. 8. Ich hin der Auffassung, daß wir das nicht klar genug sagen können. Wir müssen aber dazu sagen, daß Art. 5 und Art. 8 des Grundgesetzes von friedlichen Demonstrationen sprechen, d. h. von Demonstrationen, die nicht die Rechte anderer beeinträchtigen können.Wir haben in dieser Frage in dem durchgeführten Hearing eine nahezu völlige Übereinstimmung der angehörten Personen feststellen können. Wir haben dort eindeutig gesehen, daß sich alle, die gehört worden sind, dahin gehend geäußert haben. Es kann keine Frage sein, daß eine Demonstration lediglich unter Beachtung der Rechte anderer durchgeführt werden darf. Allerdings — und auch das muß man hinzufügen — sind andere Stimmen laut geworden, die Wertungen vornehmen, die wir nicht billigen können und die auch nicht verfassungskonform sind und die wir ablehnen. Ich meine etwa folgende Wertung, die anläßlich dieses Hearings aufgetreten ist. Studentenvertreter und auch Hochschullehrer haben dort erklärt, ihre Wertung der Dinge sei die, daß zwar die körperliche Integrität geschützt werden müsse — allerdings bleibt eben die Frage, ob die körperliche Integrität auch dann noch geschützt wird, wenn statt der Argumente die Pflastersteine fallen —, daß dann aber die politischen Aktivrechte kämen und daß dann vielleicht und möglicherweise das Eigentum und dann vielleicht und möglicherweise auch wirtschaftliche Güter kämen.Die Frage, die wir an diese angehörten Personen gestellt haben, lautete immer wieder so: Sind Sie eigentlich bereit, den Katalog, den das Grundgesetz aufstellt — auch in Art. 14 —, zu achten? Und die Antwort, die wir darauf erhalten haben, meine Damen und Herren, war in manchen Fällen allerdings eindeutig ein Vielleicht und manchmal auch eindeutig ein Nein. Ich meine, das muß man sagen, wenn man an diese Frage herangeht.Der Kernpunkt aller Überlegungen, die wir anstellen, ist doch letztlich der: Wie ist das Verhältnis zwischen der Demonstrationsfreiheit auf der einen und der Garantie der Grundrechte auf der anderen Seite? Und wenn so sehr viel von Konfliktsituation und von Verfassungskonformität gesprochen wird, dann würde ich allerdings sagen, das Grundgesetz löst diese Konfliktsituation ganz eindeutig in Art. 5 und Art. 8, und zwar eindeutig unter dem Gesetzesvorbehalt.Wir sollten und können sagen, daß unser Bemühen in zwei Richtungen geht, nämlich einmal dahin, die Demonstration nicht nur zu bejahen, sondern auch zu schützen, solange und soweit sie friedlich ist. Wir sollten auch den Mut haben, zu sagen, daß wir diese Demonstration auch als Spontan-demonstration anerkennen, und auch ich persönlich bin hier durchaus der Meinung, daß der Bürger im Hinblick auf diese Dinge die eine oder andere Unbequemlichkeit wird auf sich nehmen müssen. Aber das darf man nicht damit verwechseln, daß man dem Bürger zumutet, Gewalt gegen sich selbst, Gewalt gegen sein Eigentum und Gewalt gegen seine freie Meinungsäußerung hinzunehmen. Dort sind mit Sicherheit die Grenzen, die wir setzen müssen. Andernfalls werden wir die Klarheit, die erforderlich ist, in diesem Gesetz niemals erreichen.Zum anderen geht unser Bemühen dahin, Klarheit und Durchschaubarkeit der gesetzlichen Regelungen zu schaffen, die die friedliche Demonstration von der scheiden, bei der Gewalt gegen Personen und Sachen angewandt wird und Handlungen vorgenommen werden, die die öffentliche Sicherheit gefährden.Wir glauben, daß wir dem mit dem vorliegenden Entwurf Rechnung tragen, der — und das sei ausdrücklich festgestellt -- nicht die Aufgabe und nicht den Sinn haben soll, zu verschärfen, sondern den allein das Bemühen kennzeichnet, nach dem Maß der persönlichen Schuld zu differenzieren und den Gerichten eine klare Handhabe für ihre Entscheidung zu bieten.Meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, ich glaube, wir sollten sachlich eines feststellen. Das Bemühen hinsichtlich dieser Klarheit ist in jeder Fraktion dasselbe.
Wenn wir uns in Einzelheiten unterscheiden, sollten wir das ohne Emotionen tun; wir sollten es tun in dem Bemühen, ein Gesetz zu schaffen, von dem wir sagen können, daß es liberal genug ist, die Meinungsfreiheit zu gewährleisten, daß es aber auch wirksam genug ist, um Exzesse zu unterbinden.
Meine Damen und Herren! Es wird allerorten gesagt — und damit komme ich zu einzelnen Punkten unserer Vorlage —, daß sehr viele Bestimmungen des Strafgesetzbuches in dieser Richtung überholt seien. Ich glaube, „überholt" oder „überaltert" wird man nicht sagen können. Man wird aber sagen können, daß sie dem nicht in jeder Form entsprechen, was wir an Klarheit fordern und für erforderlich halten. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß es unsere Aufgabe sein wird, diese Bestimmungen daraufhin zu überprüfen, ob sie verfassungskonform sind, und das heißt nichts anderes, als zu prüfen, ob diese Bestimmungen mit unserem Grundgesetz vereinbar sind.Unter diesem Gesichtspunkt lassen Sie mich Stellung nehmen zu den §§ 110, 111 und 112 unseres Antrages auf Drucksache VI/261. Ich kann nicht völlig übereinstimmen mit den Sprechern der Koalition, die bei der ersten Lesung ihres Entwurfes zum Ausdruck gebracht haben, daß die Aufforderung, ein Gesetz, eine Verordnung oder eine Verwaltungs-
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1208 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Dr. Eyrichanordnung nicht zu befolgen, nicht strafbar sein soll und daß die entsprechende Bestimmung obrigkeitsstaatlichen Charakter habe und deshalb aus dem Strafgesetzbuch verschwinden könne. Meine Damen und Herren, wenn damit gemeint ist — ich möchte es nicht unterstellen, aber ich möchte es klarstellen —, daß eine Gemeinschaft leben könne, ohne die Bereitschaft der Bürger zu haben und auch zu sichern, die öffentliche Ordnung und das friedliche Zusammenleben zu garantieren, würde ich dem energisch widersprechen. Darum kann es nämlich nicht gehen. Keine Staatsordnung und schon gar nicht die Demokratie wird darauf verzichten können, den Gehorsam der Bürger auf Grund von Gesetzen zu fordern, die dieses Parlament selber in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz beschlossen hat. Wenn damit allerdings — und darüber, meine ich, sollten wir uns auch unterhalten — gesagt sein soll, daß wir zu prüfen haben, ob wir, statt diese Vorschrift zu ändern, eine andere Vorschrift ergänzen sollten, die uns einen wirksamen Schutz bietet, würde ich sagen: auch darüber wird man reden müssen.In dem Hearing, das wir durchgeführt haben, sind alle Vertreter der Polizei für die Beibehaltung des § 110 mit dem Argument eingetreten, daß dadurch die „Aasheizer" und das Vorfeld der Demonstrationen erfaßt werden würden. Fast alle aber meinten — auch jene, die den § 110 für entbehrlich hielten —, daß diese Bestimmung nicht völlig ersatzlos gestrichen werden könne.Meine Damen und Herren, man kann über § 110 durchaus unterschiedlicher Auffassung sein . Aber eines muß man auch ,sagen: Was die Koalitionsfraktionen in § 111 haben, genügt nicht; das ist kein genügender Schutz, solange nur die Aufforderung zu Verbrechen und Vergehen unter Strafe gestellt wird. Wir glauben, daß — das ist die Mindestforderung, die gestellt werden muß — auch die Aufforderung zu Ordnungswidrigkeiten in dieses Gesetz hineingehört. Andernfalls ist der Schutz nicht ausreichend. Ich glaube, wir sollten diese Erörterung in jedem Falle fortsetzen, ohne die Position des § 110 völlig aufgeben zu wollen.Die Frage, ob die Aufforderung zu Ordnungswidrigkeiten letztlich als ein Vergehen oder 'als eine Ordnungswidrigkeit qualifiziert werden sollte, sollten wir zugunsten des Vergehens lösen, nicht etwa, weil sehr viele Polizeibeamte das Bedürfnis haben, hier schon im Vorfeld eingreifen zu können, sondern weil 'die Aufforderung zur Nichtbefolgung derartiger Vorschriften, wie ich meine, ein hohes Maß an Gefährlichkeit beinhaltet. Derjenige, der diese Aufforderung ausspricht, hat nämlich den unbestimmten Teil der Bevölkerung, den er auffordert, dann nicht mehr in 'der Hand. Ich glaube, daß dies es doch rechtfertigt, diesen Tatbestand in das Vergehensstrafrecht 'hineinzunehmen. Ich kenne durchaus die Schwierigkeiten, die sich hier auftun. Ich glaube aber, sie lassen sich lösen.Ein Wort — es ist erforderlich — zu der Vorschrift des § 113 des Strafgesetzbuches. Im Gegensatz zu den Koalitionsparteien ,gehen wir in unserem Entwurf davon aus, daß die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung objektive Bedingung der Strafbarkeit bleiben sollte. Wir sind uns bewußt, daß dieses Festhalten an der objektiven Bedingung der Strafbarkeit auf harte Kritik gestoßen ist. Man hält uns immer wieder entgegen: Ihr berücksichtigt nicht die Tatsache, daß ,sich die 'Rechtsprechung seit langem auf dem Wega zum Schuldstrafrecht hin bewegt; und solange ihr dieser Tendenz nicht Rechnung tragt, werdet ihr ein modernes und dein Anforderungen dieser Zeit gerecht werdendes Strafrecht nicht schaffen können.Es ist sicher wirkungsvoll, wenn in der Debatte etwa gesagt wird, daß jeder Bürger das Recht habe, sich zu irren. Ich meine auch, daß er dieses Recht haben muß und daß jeder dieses Recht für sich in Anspruch nehmen kann. Neben diesem etwas plakativ wirkenden Satz muß man doch auch fragen: Wo liegen idle Gefahren der Regelung des Irrtums in § 113 beim Widerstandleisten gegen die Staatsgewalt? Herr Kollege Dr. Müller-Emmert hat in der Begründung des Antrages der Koalitiosfraktionen das berühmte Beispiel der irrigen Festnahme des vom Polizisten als „Täter" erkannten Nichttäters gebracht. Dieses Beispiel kann nicht befriedigen. Selbst wenn wir in § 113 die Irrtumsregelung hätten, würde dieser Mann mit .zur Wache gehen müssen. Er würde allerdings riskieren, daß sein Widerstand gebrochen werden würde. Aber letztlich muß eben dieser Mann doch mit zur Wache genommen werden. Darauf können wir nicht verzichten. Die Gefahr, die dieser § 113 in sich birgt, liegt doch u. a. darin, daß wir letztlich zu 'einem Faustrecht auf der Straße kämen, wollten wir hier jedwedem Irrtum, mindestens aber manchen Irrtümern, die wir heute schon angekündigt bekommen, in jedem Fall nachgehen.Zum anderen haben uns alle Vertreter der Polizeibeamten im Hearing gesagt: Verunsichert uns nicht die Polizisten dadurch, daß ihr hier durch die Irrtumsregelung eine plakative Wirkung und praktisch eine Einladung, sich zu irren, schafft! Dieses Argument sollte man so würdigen, daß man ihm gerecht wird. Rechtlich wird durch eine Irrtumsregelung auch die Polizei nicht schlechter gestellt. Sie handelt nach wie vor objektiv rechtmäßig. Psychologisch allerdings — und das muß man hinzusetzen — wird eine Unsicherheit in die Reihen dieser Beamten getragen. Es fragt sich aber, welchen Argumenten wir eigentlich die Türe öffnen, wenn wir die Irrtumsregelung hineinnehmen. Soll etwa das Argument gelten, die Interessen der Demonstranten — das Bewußtseinsbilden — gehen anderen Rechten vor? Was ist, wenn der Widerstandsleistende sagt: ich habe mich für berechtigt gehalten, Widerstand zu leisten, weil mein Anliegen ungleich wichtiger ist als etwa der Durchsetzungsanspruch der Polizeibeamten? Die Gefahr ist sichtbar. Wir bürden nicht etwa nur den Gerichten, sondern auch den Polizisten die Entscheidung darüber auf, inwieweit eine Güterabwägung vorgenommen werden muß, und kommen damit genau dorthin, wo wir eigentlich nicht hinkommen wollten: zu einer allgemein eintretenden Unsicherheit.Auch Herr Professor Bockelmann, der die Irrtumsregelung, wie sie im Entwurf der Koalitionsparteien
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970 1209
Dr. Eyrichzum Ausdruck gekommen ist, begrüßt hat, hat immerhin darauf hingewiesen, daß dann eben das Dilemma des Überzeugungstäters nicht gelöst werden kann. Professor Klug hat es uns anläßlich des Hearings nicht leichter gemacht. Er meint — und er hat einen entsprechenden Entwurf vorgelegt —, man müsse beim Überzeugungstäter von Strafe absehen, wenn für den Täter der Beweggrund ausschlaggebend gewesen sei, daß er sich aus sittlicher, religiöser oder politischer Überzeugung für verpflichtet gehalten habe, die Tat zu begehen. Daraus ersehen wir doch, welche Gefahren auf uns zukommen. Wir würden eine Irrtumsregelung übernehmen, die wir nicht mehr in der Hand hätten. Der Einwand ist bekannt. Es wird auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs verwiesen. Ich darf mit freundlicher Genehmigung der Frau Präsidentin daraus zitieren. Der Bundesgerichtshof sagt:Eine Schuld ist nur ausgeschlossen, wenn das Wagnis der Widerstandsleistung ebensowenig vorgeworfen werden kann wie die Art und Weise dieses Widerstandes. Dies wird etwa gelten können, wenn bei Verzicht auf Widerstand ein nicht wiedergutzumachender unzumutbarer Schaden zu besorgen ist. Dann— so fährt er fort —könnte es in der Tat fraglich sein, ob eine strenge Anwendung der Rechtsauffassung, daß die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung nur eine Bedingung der Strafbarkeit sei. noch mit dem Schuldstrafrecht vereinbar ist.Darauf wird immer wieder hingewiesen, wenn gesagt wird: wir brauchen in diesem § 113 auch das Prinzip der Schuld und die Irrtumsregelung.Der Bundesgerichtshof sagt in derselben Entscheidung — und ich bitte, auch das noch vorlesen zu dürfen —:Sind die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Beamten gegeben, ist er also örtlich und sachlich zuständig, wahrt er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten und handelt er nach seinem pflichtgemäßen Ermessen, so übt er sein Amt rechtmäßig aus. Auf die sachliche Rechtmäßigkeit der Vollzugshandlung und auf einen Irrtum des Widerstand Leistenden darüber kommt er nicht an. Diese Auslegung des § 113 entspricht seiner Entstehungsgeschichte und dem berechtigten rechtsstaatlichen Ordnungsbedürfnis, das auch ein Bedürfnis der Allgemeinheit ist.Auf dieser Linie bewegt sich der Entwurf der CDU/CSU. Der Begründung des Bundesgerichtshofs ist wohl nichts hinzuzufügen. Einer Irrtumsregelung, die beiden berechtigten Interessen, die hier in dem Urteil zum Ausdruck kommen, gerecht werden könnte und den Grundsätzen auch dieser Entscheidung entspricht, wird eine Zustimmung nicht versagt bleiben, wenn sie diesem Erfordernis des Urteils entspricht. Ich glaube, daß darauf die Bemühungen gerichtet werden müßten. Inwieweit sie erforderlich sind, scheint mir eine Frage der Beratung im Sonderausschuß zu sein.Lassen Sie mich abschließend noch kurz zu der Frage des § 125 des Strafgesetzbuchs, des sogenannten Landfriedensbruchs, Stellung nehmen. Die Koalition hat in ihrer Vorlage das Ziel, nur noch denjenigen, der Täter und Teilnehmer an der Demonstration und an den Gewalttätigkeiten ist, nach dem Maß seiner persönlichen Schuld zu bestrafen. Dieser Grundsatz ist durchaus richtig, aber wir müssen doch auch fragen: wie ist es eigentlich mit jenen, die neugierig dabeistehen, wie ist es mit jenen, die sympathisieren, und wie ist es schließlich mit jenen, die diese Gewalttätigkeiten nicht nur ansehen, sondern auch fördern? Wir sollten diesen Tatbestand nicht verharmlosen; davor warne ich. Wir können den Charakter des Massendelikts ohne Not nicht aufgeben. Die Frage der Abgrenzung bleibt.Eines ist sicher: der aktiv Fördernde wird auch möglicherweise nach dem Entwurf der Koalition bestraft werden können. Er muß mit Sicherheit vom Straftatbestand des § 125 erfaßt werden. Wir haben doch immer wieder von allen Beteiligten, die jemals Demonstrationen beobachtet oder auch bekämpft haben oder auch nur mit dabeigewesen sind, gehört, daß es nicht allein um die Täter und Teilnehmer im engeren Sinne geht, sondern daß auch die Schutzfunktion der Masse und ebenso ein gewisses Aggressivelement berücksichtigt werden muß, das in der Masse begründet liegt. Die Sympathisanten und die Neugierigen sind entgegen vielen Meinungen und Meldungen in der Presse nach unserem Entwurf nicht von vornherein unter Strafe gestellt. Das Problem liegt aber darin, wie es damit aussieht, wenn eine Demonstration unter friedlichen Gesichtspunkten beginnt und dann erst Gewalttätigkeiten vorkommen. Solange ein Sympathisant, ein Neugieriger oder ein anderer von diesen Gewalttätigkeiten keine Kenntnis hat und auch nicht haben kann, wird man ihn auch nicht bestrafen können. Wenn er aber noch stehenbleibt, wenn er sieht, daß Gewalttätigkeiten verübt werden, wird man doch fragen müssen, ob er sich nicht bewußt ist — er ist sich dann doch dessen bewußt —, daß er die Gewalttätigkeiten in der Anonymität der von ihm mit gebildeten Masse zum großen Teil ermöglicht. Er hat doch die Möglichkeit, dort wegzugehen. Wenn der Neugierige und der Sympathisant nur dabeisein wollen, um ihrer Meinung friedlich Ausdruck zu verleihen, wie uns immer wieder gesagt wird, dann ist es doch kein unbilliges Verlangen, ihm zu sagen: Wenn du aber erkennst, daß hier Gewalttätigkeiten vorkommen, wird das Ziel, daß du ursprünglich angestrebt hast, mit anderen Mitteln verfolgt. Dann wird man ihm zumuten können, sich von diesem Platz zu entkasten überlegen. Die Solidarität bei der Gewalttätigkeiten nicht erkennen können, habe ich bereits gesagt. Verschließen wir doch, meine Damen und Herren, die Augen nicht vor der Wirklichkeit! Sie ist oftmals anders, als wir das vielleicht am Sandkasten überlegen. Die Soladirität bei der Gewaltanwendung, die Solidarität, die dazu führt, diese Gewalttätigkeiten zu ermöglichen, muß in gleichem Maße von diesem Massendelikt ergriffen werden. Anderenfalls werden wir einen wirksamen Schutz nicht haben.
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1210 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Dr. EyrichEs gäbe noch sehr viele Punkte im Zusammenhang mit unserem Entwurf. Ich möchte mich auf die bereits angeführten Punkte beschränken, auch weil sonst die mir zur Verfügung stehende Zeit überschritten würde. Es ist also nicht möglich, die Dinge erschöpfend darzustellen. Meine Ausführungen sollten das Bemühen sichtbar machen, die Gemeinschaft zu schützen und die Freiheit zur friedlichen Demonstration zu gewährleisten. Lösungen zugänglich zu sein, der Gewalt aber in jeder Form eine Absage zu erteilen, das ist der Sinn dieses Ihnen vorliegenden Entwurfs.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Müller-Emmert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich in der gebotenen Kürze folgende Feststellungen treffen. Es wäre sicher besser gewesen, wenn die Fraktion der CDU/CSU ihren Initiativantrag dem Hohen Hause etwas früher vorgelegt hätte.
Man hätte dann die Vorstellungen der CDU/CSU im Rahmen der öffentlichen Anhörung besser berücksichtigen können, und man wäre sicher auch bei den Einzelberatungen im Ausschuß schneller vorangekommen.
Lassen Sie mich zum zweiten sagen, daß die Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion letztlich keine echte Alternative zu den Vorstellungen der Koalitionsfraktionen darstellen, und zwar deshalb, weil dieser Entwurf keine entscheidenden Neuerungen bringt, in einzelnen Punkten lediglich Verschärfungen im Verhältnis zum geltenden Recht und darüber hinaus lediglich andere Umschreibungen des jetzigen Rechtszustandes. Dies muß klar festgestellt werden.
Zu Einzelfragen ist folgendes zu sagen. Im Bereich der §§ 110, 111 und 112 StGB liegt eine Verschärfung des jetzigen Rechtszustandes vor, weil der Entwurf der CDU/CSU auch die öffentliche Aufforderung zu einer Ordnungswidrigkeit unter Strafe stellen will. Nach dem geltenden Recht ist ein solcher Sachverhalt nicht unter Strafe gestellt.
Insofern stimmt das, was als Schlagzeilen der letzten Tage zu lesen war, also durchaus, daß nämlich der Entwurf der CDU/CSU Verschärfungen im Demonstrationsrecht vorsehe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dichgans?
Bitte sehr, Herr Kollege Dichgans!
Herr Kollege Müller-Emmert, sind Sie wirklich der Auffassung, daß eine Aufforderung — etwa in einer Zeitungsanzeige —, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit alle in einer Stadt vorhandenen Kraftwagen auf sämtlichen Hauptverkehrsstraßen zu parken, was eine Ordnungswidrigkeit sein würde, straflos bleiben sollte?
Eine solche öffentliche Aufforderung dürfte wohl verhältnismäßig wenig Gehör finden,
und zwar deshalb, weil eine solche Aktion in sich selbst kaum durchführbar ist.
Es gibt eine Fülle von Verkehrsteilnehmern, die dieser Aufforderung gar nicht folgen würde, die also so verfahren würden, wie Sie es für richtig hielten. Wenn tatsächlich trotzdem einige Verkehrsteilnehmer dieser Aufforderung Folge leisteten — das ist der zweite entscheidende Punkt —, so hat die Polizei genugsam Möglichkeiten, im Rahmen des Polizeirechtes — sogar mit Gewalt und Zwangsmitteln — gegen diese Personen vorzugehen.
— Herr Lenz, melden Sie sich doch zu Wort. Dann höre ich Sie gerne an. Sie haben wohl eine laute Stimme, aber sie kommt nicht ganz bis zu mir. Melden Sie sich bitte; dann gebe ich Ihnen gerne eine Antwort.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lenz?
Bitte sehr!
Ich danke Ihnen, Herr Kollege Müller-Emmert, für diese Gelegenheit zu einer Zwischenfrage. Meinen Sie wirklich — um bei dem Beispiel zu bleiben, das Herr Dichgans eben gebracht hat —, daß, wenn auf den Straßen Düsseldorfs nachmittags um fünf Uhr Tausende von Fahrzeugen parken und die Kreuzungen versperren, irgendeine Polizei auf dieser Erde in der Lage ist, dieses Chaos mit allen ihr zu Gebote stehenden Zwangsmitteln in mehreren Stunden zu beseitigen?
Das ist u. a. selbstverständlich auch eine Frage der Praktikabilität und der Vorbereitung durch die Polizei, eine Frage der organisatorischen Fähigkeiten der Polizei. Erstens verfügt wohl jeder vernünftige Polizeipräsident über die Möglichkeit, rechtzeitig Informationen darüber zu erhalten, daß solche Aktionen geplant sind. Er kann dann entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen. Zweitens hätte er, wenn solche widersinnigen Aufforderungen überhaupt befolgt würden, genügend Zeit, rechtzeitig entsprechende Einsatz-
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Dr. Müller-Emmertgruppen auch aus anderen Städten heranzuziehen, so daß er mit diesem Problem mit Sicherheit fertig werden könnte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schlee?
Bitte sehr!
Herr Kollege Dr. Müller-Emmert, meinen Sie nicht, daß es bei der strafrechtlichen Beurteilung einer allgemeinen Aufforderung zu einer Ordnungswidrigkeit auf die Gefährdung ankommt, die eintreten würde, wenn diese Aufforderung befolgt würde? Es kommt hier unter strafrechtlichen Gesichtspunkten nicht darauf an, ob es möglich wäre, die tatsächlich eingetretenen Zustände zu beseitigen.
Herr Kollege Schlee, Sie wissen ja, daß wir im Rahmen unserer gemeinsamen Reformbemühungen die Übertretungen immer mehr in Ordnungswidrigkeiten umwandeln, die ja bekanntlich keine Straftaten sind. Es wäre in sich unlogisch und kriminalpolitisch nicht gerechtfertigt, einerseits eine Ordnungswidrigkeit, die nicht in das Kriminalstrafrecht fällt mit einer Geldbuße zu ahnden, andererseits aber denjenigen, der öffentlich zu einer solchen Ordnungswidrigkeit, die keine Straftat ist, auffordert, mit einer Kriminalstrafe zu bedrohen.
Dies wäre ein unlogisches Unterfangen. Man kann allenfalls — Sie wissen, Herr Kollege Schlee, daß wir darüber gesprochen haben — die Überlegung anstellen, ob man denjenigen, der öffentlich zu einer Ordnungswidrigkeit auffordert, so behandeln sollte, als wenn er selbst eine Ordnungswidrigkeit begangen hätte. Dies wäre in sich schlüssig und logisch, während sich Ihre Lösung doch nicht mehr im Rahmen unseres bisher gemeinsam getragenen kriminalpolitischen Konzeptes bewegt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten de With?
Bitte sehr, Herr Kollege de With!
Herr Müller-Emmert, glauben Sie nicht, daß das Beispiel des Herrn Kollegen Dichgans nach unserer Vorlage durch § 111 in Verbindung mit § 315 a oder b abgedeckt wäre, weil das einer Aufforderung gleichkäme, eine Straßenverkehrsgefährdung zu begehen, so daß bei diesem Beispiel die Frage eigentlich ins Leere stieße?
Ich bin zugunsten des Herrn Kollegen Dr. Dichgans davon ausgegangen, daß er die Vorstellung hat, daß es sich bei diesem von ihm geschilderten Verhalten nur um Ordnungswidrigkeiten handle. Ich bin Ihnen also sehr entgegengekommen, Herr Kollege Dichgans. Ich muß, wenn ich die Frage des Herrn Kollegen de With richtig werte, ergänzend von meiner Seite noch sagen, daß, was juristisch eindeutig richtig ist, auch immer noch die §§ 315 ff. des Strafgesetzbuches vorhanden sind, die einen Großteil dessen, was Sie vorgetragen haben, ohnehin abdecken würden.
Ich darf weiter zu dem Problemkreis des Widerstands gegen die Staatsgewalt kommen. Auch hier muß man feststellen, daß die CDU/CSU-Fraktion in gar keiner Weise zu einer fortschrittlichen Lösung neigt. Es ist eine Realität, daß der § 113 und mit ihm auch der § 125, also die Vorschriften über die Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt und des Landfriedensbruchs, die einzigen Vorschriften in unserem Strafgesetzbuch sind, bei denen die Prinzipien des Irrtums bisher noch keinen Niederschlag gefunden haben.
— Herr Kollege Vogel; sie haben etwas lauter gesprochen, deshalb habe ich Sie verstanden.
— Freut mich auch. — Wenn Sie gestatten, Herr Kollege Vogel: Die Sache ist so. Es gibt wohl verschiedene Urteile des BGH. Das heißt, dieser Problemkreis ist bisher auch von seiten des BGH nicht eindeutig behandelt worden. Es gibt verschiedene Urteile, die in die Richtung gehen, daß auch im Rahmen des § 113 des Strafgesetzbuches — Stichwort für uns Juristen: objektive Bedingung der Strafbarkeit — der Verbotsirrtum im Laufe der Zeit zugelassen werden könnte, während die andere Seite des BGH gewissermaßen streng davon ausgeht, daß dann, wenn ein Tatbestand so ausgestaltet ist, daß eine objektive Bedingung der Strafbarkeit in ihm enthalten ist, aus rechtstheoretischen Gründen einmal ein Tatbestandsirrtum ohnehin nicht in Frage kommt und zum zweiten auch ein Verbotsirrtum nicht zugelassen werden soll.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pinger?
Jawohl, sofort. — Ich glaube, Sie müßten dies gerechterweise berücksichtigen, Herr Vogel. Wenn Sie das nämlich getan hätten, hätten Sie diesen Zwischenruf überhaupt nicht gemacht.
Bitte sehr, Herr Kollege Pinger!
Herr Kollege Müller-Emmert, Sie haben eben behauptet, daß eine objektive Bedingung der Strafbarkeit nur in den §§ 110 ff. zu finden sei und daß das ein Widerspruch gegen das Schuldstrafrecht sei. Ist Ihnen bekannt, daß es weitere wesentliche Vorschriften im Strafgesetzbuch gibt, in denen eine objektive Bedingung der Strafbarkeit enthalten ist? Bei Volltrunkenheit, § 330 a, ist, wenn im Vollrausch eine mit Strafe bedrohte
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Dr. PingerHandlung begangen wird, letzteres nach ganz herrschender Meinung eine objektive Bedingung der Strafbarkeit. Weiter — —
Herr Kollege, kommen Sie bitte zur Frage!
Ist Ihnen bekannt, daß abgesehen von § 330 a in § 186 — üble Nachrede —, § 127 — Schlägerei — und anderen Vorschriften eine objektive Bedingung der Strafbarkeit enthalten ist? Würden Sie das als einen Widerspruch gegen das Schuldstrafrecht ansehen, und würden Sie eine sofortige Reform auch dieser Vorschriften für notwendig halten?
Ich räume Ihnen ein, Herr Kollege Pinger, daß man über diese Punkte durchaus reden kann und soll und im Rahmen der Reformarbeiten mit Sicherheit auch reden wird. Aber zur Zeit geht es — das wissen Sie — nicht um die Volltrunkenheit und um Verleumdung oder üble Nachrede, sondern um das Demonstrationsstrafrecht. Da darf ich wohl feststellen, daß hier — das ist wohl auch völlig unbestritten — die objektive Bedingung der Strafbarkeit noch vorhanden ist, die letztlich ein klarer Verstoß gegen das Schuldprinzip ist, das im übrigen in unserem Recht Verfassungsrang genießt.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?
Herr Kollege Müller-Emmert, sind Sie in der Lage, mir einen einzigen Fall aus der Praxis zu nennen, in dem die Anwendung der objektiven Bedingung der Strafbarkeit in § 113 StGB zu ,einem unzuträglichen Ergebnis geführt hat?
Ja, dieser Überzeugung 'bin ich ganz sicher. Ich kann Ihnen selbstverständlich nicht auf Anhieb Fälle zitieren. Es gibt sie zu Hunderten im Laufe unserer Rechtsentwicklung seit 1900 und insbesondere auch 'seit 1945 bis heute. Es gibt noch viele Gerichte, die insofern sehr streng urteilen.
Ich darf also sagen, daß die CDU/CSU-Fraktion in ihren Reformvorstellungen in dieser Frage völlig ausgewichen ist und es offenbar aus mehr psychologisch-politischen Gründen nicht für richtig erachtet hat, einem Anliegen, das allseits von der Rechtswissenschaft getragen wird, nachzukommen und die Möglichkeit des Irrtums zum mindesten in der sehr milden Form des Verbotsirrtums in § 113 StGB vorzusehen. Die CDU/CSU-Fraktion hofft hier anscheinend auf eine positive Entwicklung der Rechtsprechung. Insofern habe ich die gleiche Hoffnung. Aber es ist Aufgabe des Gesetzgebers, dann, wenn er einen Tatbestand gesetzlich genau normieren und formulieren kann, dies auch zu tun, um widersprüchliche Gerichtsentscheidungen zu verhindern.
Der dritte Problemkreis, der kurz angesprochen werden muß, ist der des Landfriedensbruchs. Hier muß die CDU/CSU-Fraktion wohl mit Sicherheit einräumen, daß eine Verbesserung in Richtung auf eine maßvolle Liberalisierung überhaupt nicht gegeben ist. Denn die CDU/CSU-Fraktion stellt unter Umständen auch den nur zufällig vorübergehenden Passanten, sie stellt den Neugierigen, sie stellt den Abwiegler unter Strafe, und sie stellt erst recht denjenigen unter Strafe, der ein echter politischer Demonstrant ist, der die politischen Ziele dieser Demonstration in jeder Weise für richtig erachtet, aber von irgendwelchen Gewalttaten voll abrückt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? —
Herr Kollege Dr. Müller-Emmert, ich glaube, die Frage muß doch so gestellt werden — und ich stelle sie an Sie —: Wie macht er denn deutlich, daß er davon abrückt? Das kann er doch billigerweise nur in der Form tun, daß er sich auch räumlich von den Gewalttätigkeiten entfernt. Sie sind doch sicher mit mir der Meinung — so würde ich Sie fragen —, daß es eine andere Möglichkeit nicht gibt.
Herr Kollege Eyrich, Ihre Formulierung sieht vor, daß derjenige, der sich in einer Menschenmenge befindet oder sich ihr anschließt, dann aber, wenn Gewalttaten begangen werden, weiterhin in dieser Menschenmenge bleibt, ohne überhaupt das geringste zu tun, ohne in irgendeiner Weise diese Gewalttaten zu unterstützen, auch nicht durch Zurufe, gleichwohl unter Strafe gestellt wird, wenn er sich nicht unverzüglich aus dieser Menschenmenge entfernt. Erstens kann es durchaus sein, daß ihm dies überhaupt nicht möglich ist, und zweitens kann es auch sein, daß er dabei bleiben möchte, sagen wir: aus staatsbürgerlicher Neugier, ohne in irgendeiner Weise die Gewalttaten zu billigen. Denken Sie nur an Fälle, wo eine Demonstration in friedlicher Weise angelegt ist, wo auch der Demonstrationszweck durchaus vernünftig und in jeder Weise zu billigen ist, wo dann aber einige Gewalttäter diese Demonstration auffliegen lassen wollen und dadurch, daß sie sich, vielleicht nur in einer Zahl von zehn oder zwanzig, in diese Menge von Hunderten von Demonstranten mischen, diese Demonstration zu einer unfriedlichen machen und sie damit, wie man so schön sagt, kaputt machen. In diesem Falle werden nach Ihren Vorstellungen, Herr Kollege Eyrich, alle diese tausend gutmütigen und gutgläubigen Demonstranten ebenfalls unter den harten Druck des § 125 StGB gestellt. Dies ist eine Konsequenz, die Sie sich bitte überlegen müssen.Ich darf abschließend sagen, daß der Strafrechtsausschuß in seinem sogenannten Hearing, also im Rahmen der öffentlichen Anhörung, auch viele junge Menschen hat zu Wort kommen lassen, die uns sehr deutlich gesagt haben, daß Demokratie mehr bedeu-
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Dr. Müller-Emmerttet, als nur das aktive oder möglicherweise das passive Wahlrecht auszuüben, daß vielmehr zur Demokratie auch das Recht der freien Meinungsäußerung gehört. Dabei beinhaltet freie Meinungsäußerung unter Umständen auch Protest und Kritik; denn — das müssen wir erkennen, meine Damen und Herren — Kritik ist für unsere Demokratie lebensnotwendig. Wenn manche Bürger heute noch Ruhe als erste Bürgerpflicht und Untertanenmentalität als erstrebenswertes Ideal betrachten, muß man gegen solche Vorstellungen in einer lebenden Demokratie vorgehen.Es ist das Anliegen des Reformentwurfs, allen Bürgern zu garantieren, daß sie ihre Meinung ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung vortragen können, ganz gleich, ob sie es als einzelne oder in der Gemeinschaft tun, ob sie es zustimmend oder ablehnend tun. Genauso deutlich stellt nach unseren Vorstellungen aber der Reformentwurf klar, daß das Recht einer Gruppe da endet, wo es unverhältnismäßig stark in die Rechtssphäre anderer eingreift und die Rechte anderer verletzt oder gefährdet. Die Ansicht, die immer wieder vorgetragen wird, daß das neue Demonstrationsrecht zu einer Legalisierung von Gewalttaten in der Öffentlichkeit und zur Verunsicherung der Polizei führe, ist absurd, da der Reformentwurf davon ausgeht, daß jede Form von Gewalt gegen Personen oder Sachen die Grenze überschreitet, die das Strafrecht setzt — ganz gleich, ob eine solche Gewalt von politischen Demonstranten oder unter Umständen von Kriminellen begangen wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schlee?
Verzeihen Sie, Herr Kollege, ich bin am Ende meiner Ausführungen; ich wollte sowieso nur noch zwei, drei Sätze sagen.
Die Koalitionsfraktionen werden' die Einwände und Bedenken, die im Rahmen der öffentlichen Anhörung vorgetragen worden sind, genauso prüfen wie die Vorstellungen der Fraktion der CDU/CSU. Es wird eine eingehende Nachprüfung all dieser Einwände und Bedenken erfolgen.
Aber eines muß festgestellt werden: daß sich die Koalitionsfraktionen nicht darin beirren lassen, eine maßvolle und trotzdem deutlich liberale Reform des Demonstrationsstrafrechts durchzusetzen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Wenn sich die Regierungsparteien in einer Fragehundertprozentig einig sind, so darin, wie die Demonstrationsdelikte zu regeln sind. Ich kann deshalb in vollem Umfang dem zustimmen, was von seiten meines Kollegen Müller-Emmert gesagt worden ist.Zu dem, was der Herr Kollege Eyrich zur Begründung des Gesetzentwurfs der CDU/CSU vorgetragen hat, möchte ich folgendes sagen. Seine Ausführungen am Anfang haben mich an das erinnert, was beim Hearing deutlich gesagt wurde: daß natürlich von allen Seiten, auch von seiten der Polizeipräsidenten, zunächst einmal die Grundrechte der Art. 5 und 8 des Grundgesetzes absolut bejaht werden.In den Grundsätzen ist man sich so leicht einig. Wenn es aber — jetzt kommt natürlich das Aber — darum geht, die tatsächlich notwendigen Regelungen zu treffen, scheiden sich die Geister.Schon bei der ersten Lesung haben wir klar zum Ausdruck gebracht, daß keinerlei Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen, auch nicht im Zusammenhang mit Demonstrationen, irgendwie gedeckt werden sollen. Das Hearing und auch heute die Ausführungen von Herrn Kollegen Eyrich haben gezeigt, daß heute noch eine große Unsicherheit vorhanden ist: eine Unsicherheit auf seiten der Polizei, die nicht weiß, was sie wirklich tun und wie sie sich verhalten darf, und eine Unsicherheit bei den Richtern, die vor der Frage stehen, wie sie die Grundrechte von dem abgrenzen sollen, was kriminell ist und daher zum Schutze der Freiheitsrechte anderer Bürger, die nicht demonstrieren, strafbar sein muß. Hier liegt die Aufgabe des Gesetzgebers.Heute wurde immer nur von den Demonstrationsdelikten und von Änderungen im Strafgesetzbuch gesprochen. Wenn man aber tatsächlich sehen will, wie weit der Schutz heute geht und was auch die Polizei gegebenenfalls tun darf, darf man sich nicht nur auf die Bestimmungen des Strafgesetzbuches beschränken. Von großer Bedeutung für die Polizei ist vor allem die Frage, welche Befugnisse sie auf Grund anderer Gesetze hat. Wie steht es denn mit dem Versammlungsgesetz? Welche Rechte gibt eigentlich das Versammlungsgesetz der Polizei? Wie steht es mit den einzelnen Polizeigesetzen in den Ländern? Ist die Polizei nicht schon auf Grund der geltenden Polizeibestimmungen in der Lage, Demonstrationen, solange sie friedlich sind, entsprechend zu schützen und, wenn sie „umzukippen" drohen, vorbeugend einzugreifen, d. h. daß sie, wenn daraus Gewalttaten erwachsen, gegen einzelne Gewalttäter vorgehen kann. Das alles kann sie.Es kann z. B. sein, daß eine große Demonstration — um es plastisch zu machen, darf ich das Beispiel von Herrn Kollegen Müller-Emmert aufgreifen — durchaus friedlich verläuft. Wenn nun aber einige versuchen, sie umzufunktionieren, und Gewalttätigkeiten begehen, hat die Polizei die Möglichkeit, sie herauszugreifen
und die Demonstration weiter ablaufen zu lassen.
— Sie hat aber auch die Möglichkeit, Herr Kollege Lenz, die Demonstration vollkommen aufzulösen. Sie hat ohne eine besondere kriminelle Strafbestimmung die Möglichkeit, diejenigen, die trotz der Auf-
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1214 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Frau Dr. Diemer-Nicolauslösung verbleiben, festzunehmen, ihre Personalien festzustellen und dafür zu sorgen, daß wieder Ruhe und Ordnung auf der Straße eintreten.
Frau Kollegin Diemer-Nicolaus, gestatten Sie eine Zwischenfrage zunächst von Herrn Abgeordneten Erhard?
Ja.
Frau Kollegin, halten Sie es für richtig, daß die Teilnehmer an einer sogenannten Spontandemonstration, die in der Öffentlichkeit stattfindet und, weil sie eben spontan ist, nicht 48 Stunden vorher angemeldet wurde, sich nach dem Versammlungsgesetz eines Vergehens schuldig machen und mit Strafe bedroht sind, was Sie in Ihrem Entwurf nicht zu ändern gedenken?
Herr Kollege Erhard, ich habe gerade dargelegt, welche Möglichkeiten
die Polizei hat, um ihren Aufgaben nachzukommen, d. h. bei Demonstrationen, ob es nun angemeldete oder Spontandemonstrationen sind, für Ruhe und Ordnung auf den Straßen zu sorgen.
Eine Zusatzfrage von Herrn Abgeordneten Lenz.
Gnädige Frau, meine Frage bezieht sich nicht auf die rechtlichen, sondern auf die tatsächlichen Möglichkeiten. Glauben Sie wirklich, daß die Polizei die tatsächliche Möglichkeit hat, einige Friedensstörer aus einer großen Demonstration heraus zu verhaften, was Sie eben als richtig und notwendig bezeichnet haben, wenn Tausende von Herumstehenden keineswegs daran gehindert sind, stur auf der Stelle stehenzubleiben, wobei sie durch ihre bloße Präsenz den Zugriff der Polizei unmöglich machen können?
Herr Kollege Lenz, das ist eine Tatfrage.
Es kommt ganz darauf an, wo sich die Betreffenden befinden und ob man sie leicht herausgreifen kann. Ist es aber so, Herr Kollege Lenz — das steht dann im Ermessen der Polizei —, daß die Polizei nicht an sie herankommt, wird sie wahrscheinlich die gesamte Demonstration auflösen, um an die Täter heranzukommen. Dann darf eben niemand mehr verbleiben, sondern dann müssen sich alle entfernen. Über alle diese Einzelheiten wird noch gesprochen werden müssen.
Ich möchte hier davor warnen, daß man nur die Strafgesetze und nicht die anderen Gesetze sieht.
Ich komme jetzt zu den Polizeigesetzen der Länder. Gestern hat sich in der gemeinsamen Sitzung von Innenausschuß und Sonderausschuß für die Strafrechtsreform gezeigt, daß es gut wäre, wenn sich die Länder, die die Kompetenz haben, über die materielle Gestaltung des Polizeirechts in den einzelnen Ländern einigten. Ich hoffe, daß jetzt gerade die Frage der Demonstrationsdelikte dazu führt, daß die Länder zu mehr übereinstimmenden Regelungen kommen, als es bisher der Fall ist.Lassen Sie mich ganz kurz die drei wesentlichen Punkte ansprechen, die auch von Herrn Kollegen Eyrich hervorgehoben worden sind.Zunächst die Frage der Aufforderung zum Ungehorsam gegenüber Verordnungen. Soweit es sich um Straftatbestände handelt, sind wir uns ja einig. Es ist ganz sicher so, daß der Staat nicht darauf verzichten kann — auch keine Demokratie, auch nicht die freiheitlichste —, darauf zu bestehen, daß nicht nur seine Gesetze, sondern auch seine Verwaltungsvorschriften beachtet werden. Eine ganz andere Frage ist es, inwieweit ein krimineller Tatbestand erfüllt sein soll, wenn etwa jemand auffordert — auch öffentlich auffordert —, eine Verwaltungsvorschrift nicht einzuhalten. Das bezieht sich gar nicht so sehr auf Demonstrationen. Ich habe im Ausschuß auf folgendes Beispiel hingewiesen: Es werden Mittelpunktschulen geschaffen. Zwischen zwei solchen Mittelpunktschulen liegen verschiedene Dörfer. Nun kann es sein, daß die Eltern nicht damit einverstanden sind, daß von seiten der Obrigkeit, der Regierung, einfach verordnet wird, in welche der beiden Mittelpunktschulen die Kinder gehen sollen. Er wird unter Umständen zu einem Schulstreik aufgefordert. Solche Fälle sind tatsächlich passiert. Wollen Sie diese Eltern deswegen auf Jahrzehnte mit einer kriminellen Vorstrafe belasten? Mit Ihrer Vorschrift tun Sie es.Hier liegt eben der Unterschied: Man kann im Rahmen der Verwaltungsvorschriften selber und des sonstigen Verwaltungsrechts durchaus dazu beitragen, daß auch Verwaltungsvorschriften entsprechend beachtet werden. Nehmen Sie aber doch nicht immer den schweren Hammer der kriminellen Strafen, sondern behalten Sie diese schwerste Sanktion den echten kriminellen Taten vor!Deswegen bin ich nach wie vor der Meinung, daß man die Aufforderung zu Übertretungen oder Ordnungswidrigkeiten nicht als kriminelle Straftat einstufen sollte. Im übrigen ist die öffentliche Aufforderung am ehesten geeignet, die entsprechenden Gegenmaßnahmen von seiten der öffentlichen Hand auszulösen.Soweit es sich um den § 113 handelt, möchte ich jetzt hier im Plenum nicht in eine juristische Auseinandersetzung über die objektive Bedingung der Strafbarkeit und die Irrtumsregelung eintreten. Ich darf nur bemerken: Es ist richtig, wir haben heute noch objektive Bedingungen der Strafbarkeit, nicht nur in § 113. Meine Auffassung ist jedoch die, daß das mit dem Schuldprinzip, wie wir es bei der Reform
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Frau Dr. Diemer-Nicolausdes Allgemeinen Teils, also in unserem Zweiten Strafrechtsreformgesetz, akzeptiert haben, nicht übereinstimmt und daß wir jetzt bei der Fortsetzung der Reform überall, wo noch objektive Bedingungen der Strafbarkeit in den Straftatbeständen enthalten sind, diese beseitigen sollten. Darüber wird noch zu sprechen sein.Herr Kollege, bitte!
Frau Kollegin, Sie lassen die Zwischenfrage zu. — Bitte schön, Herr Kollege!
Frau Kollegin Diemer-Nicolaus, stimmen Sie mir zu, daß sich der § 113, wie er auch in Ihrem Entwurf enthalten ist, insofern nicht voll in das Schuldstrafrecht integriert, als eine Irrtumsregelung als Verbotsirrtum vorgesehen ist, nicht aber die Schuldform als Voraussetzung für die Strafbarkeit vorgesehen ist, und zwar insofern, als im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit erforderlich ist?
Herr Kollege, halten Sie es wirklich für richtig, im Plenum derartig subtile Rechtsfragen zu erörtern? Ich darf Ihnen aber folgendes sagen. Es ist richtig, wenn wir nach den Grundsätzen des Zweiten Strafrechtsreformgesetzes vorgehen wollten, müßten wir sogar von einem Tatsachenirrtum ausgehen, nicht nur von einem Verbotsirrtum. Die Tatsache, daß hier ein Verbotsirrtum vorliegt, hält sich aber nach unserer Auffassung durchaus in den Grenzen unserer Verfassung und noch in den Grenzen unseres Schuldstrafrechtes.
Frau Kollegin, würden Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Pinger zulassen?
Wenn sie nicht zu juristisch ist, bin ich gern dazu bereit, Herr Kollege. Wir werden über diese Fragen im Ausschuß sehr eingehend sprechen, und zwar unter rein juristischen Gesichtspunkten.
Aber ich halte es nicht für richtig, in der ersten Lesung hier subtilste theoretische juristische Fragen zu erörtern.
Darf ich es allgemein formulieren: Würden Sie zugeben, daß sich der § 113 nach Ihrem Entwurf von der Sache her einer vollen Integration ins Schuldstrafrecht entzieht?
Herr Kollege, ich möchte jetzt auf das eingehen, was im Hearing von seiten der Polizei gegen den § 113 vorgebracht wurde. Sie glaubt, daß sie, wenn diese Irrtumsregelung geschaffen würde, nicht mehr entsprechend geschützt wäre. Das ist einfach nicht richtig.
— Herr Kollege Memme], wenn Sie vom Platz aus sprechen, verstehe ich Sie nicht; ich darf das erst einmal zu Ende führen. — Etwas anderes aber hat die Irrtumsregelung zur Folge: Sie bewirkt, daß die Verwaltungsbehörden jedesmal sehr sorgfältig prüfen müssen, ob das, was sie anordnen, tatsächlich rechtmäßig ist. Das dient auch unserem Rechtsstaat und dem Schutz des Bürgers. Um so weniger wird es vorkommen, daß ein derartiger Irrtum entstehen kann, und um so weniger wird es möglich sein, daß ein solcher Täter — es klang so durch: die reden sich nachher alle aus diesem Irrtum heraus — die Irrtumsregelung ungerechtfertigt für sich in Anspruch nehmen kann; das wird ihm dann vom Gericht nicht abgenommen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Erhard?
Ich bitte, daß das die letzte ist; ich möchte zum Schluß kommen.
Frau Kollegin, sollte ich Sie falsch verstanden haben, oder wollten Sie tatsächlich zum Ausdruck bringen, daß sich unsere Verwaltungsbeamten, also unsere Behörden, nicht mit hinreichender Sorgfalt rechtsstaatlich verhalten?
Herr Kollege, was ich haben möchte, ist, daß die Verwaltung gerade dann, wenn sie eine Vollzugsmaßnahme trifft — und das ist ja beim § 113 der Fall —, stets sehr sorgfältig prüft, ob dies auch die richtige Maßnahme ist. Ich möchte nicht behaupten, daß das bisher nicht überall geschieht, aber Sie wissen, daß es auch bei einer Verwaltungsbehörde vorkommen kann, daß man einmal nicht ganz so sorgfältig prüft, wie es im Interesse der Bürger geschehen sollte.Zu dem § 125 möchte ich noch darauf hinweisen, daß hier wieder die echt Kriminellen, nämlich die, die nach unserem Entwurf nach § 125 wegen Landfriedensbruchs bestraft werden sollen, nicht von denen unterschieden werden, die tatsächlich nur dabei gewesen sind. Herr Kollege Müller-Emmert hat hierzu außerordentlich treffende Ausführungen gemacht. Ich kann mich ihnen nur anschließen. Ich wehre mich dagegen, daß solche, die nicht eine echte kriminelle Schuld auf sich geladen haben, in ihrem weiteren Leben als Vorbestrafte belastet sein sollen. Deswegen muß diese Abgrenzung in § 125 sehr sorgfältig überlegt werden.Es ist keineswegs so, daß wir die Augen vor der Wirklichkeit verschließen; wir halten sie gerade für die Wirklichkeit offen, indem wir eine andere Abgrenzung vorsehen, als sie der Entwurf der CDU/ CSU enthält. Wir wünschen, daß beachtet wird, daß das Demonstrationsrecht ausgeübt werden kann.
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1216 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Frau Dr. Diemer-NicolausWir wünschen, daß die Demonstrationen friedlich verlaufen, und wir sind überzeugt, daß die Polizei in der Lage ist, auf Grund der von uns vorgeschlagenen gesetzlichen Bestimmungen, auf Grund der Polizeigesetze, auf Grund des Versammlungsgesetzes, auf Grund der verschiedenen Gesetze zur Anwendung des unmittelbaren Zwangs solche Demonstrationen, die nicht friedlich bleiben, die nicht mehr durch die Grundrechte geschützt sind, aufzulösen, für Ruhe und Ordnung auf den Straßen zu sorgen und dafür Sorge zu tragen, daß Freiheit und Eigentum der anderen Bürger geschützt sind.
Das Wort hat der Herr Kollege de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nur noch kurz einige Anmerkungen machen.
Ich meine, die Vorlage der CDU/CSU-Fraktion ist tatsächlich nicht geeignet, die nach geltendem Recht bestehenden Unklarheiten zu beseitigen. Ich möchte das an Hand einiger Beispiele belegen. Außerdem meine ich, daß Sie sich mit Ihrem Entwurf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, einen Schritt zurück, auch von Ihren eigenen früheren Gedanken zum geltenden Recht, bewegen.
Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus Ihrem Entwurf 1962 eine Passage zum Schuldprinzip zitieren. Dort heißt es:
Es könnte fraglich sein, ob sich ein Strafrecht, das wie das des Entwurfs auf dem Schuldgedanken aufbaut, einer Rechtsfigur wie der Bedingung der Strafbarkeit überhaupt bedienen darf, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten.
Weiter unten heißt es dann:
Derartige Umstände dürfen daher nicht zur bloßen Bedingung der Strafbarkeit gemacht werden, wenn nicht ein Widerspruch zum Schuldgrundsatz entstehen soll.
Damals haben Sie deshalb folgerichtig in den § 419, der dem § 113 entspricht, die Irrtumsregelung eingebaut. Heute tun Sie es nicht mehr.
Zweitens ein Beispiel, zu welchen Absurditäten die Regelung in § 112 Ihrer Vorlage führen kann. Der verstorbene Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und unser Kollege Ostman von der Leye hatten einmal in Schriften geäußert, es sei eine Verbeugung vor Gesslers Hut, wenn ein Fußgänger nächstens am Zebrastreifen die Straße nicht passiere, weil das grüne Männchen nicht auftauche — und das, obwohl weit und breit kein Fahrzeug zu sehen sei. — Formal und streng genommen könnte man daraus schließen, diese Äußerung sei eine Aufforderung, eine bestimmte Ordnungswidrigkeit zu einer bestimmten Zeit zu begehen. Es wird kein Richter auf die Idee kommen,
aber man könnte formal mit Recht sagen: Nach § 112 wird das von Ihrer Vorlage erfaßt. Und vielleicht wird der eine oder andere nach dem Legalitätsprinzip doch ein Verfahren einleiten.
Ein weiteres Beispiel zu § 113. Es kann doch der Umstand eintreten, daß ein Polizist ein Fahndungsfoto erhält, das einen Mann mit schwarzen Haaren, Brille, Schnurrbärtchen und ovalem, schmalen Gesicht zeigt. Er sieht einen solchen Mann, der der Falsche ist und der sagt: Entschuldigen Sie bitte, ich bin der Oberbürgermeister von Köln. Wenn dieser sich dann wehrt, weil er der Falsche ist, dann ist das nach unserer Vorschrift natürlich nicht dergestalt auszulegen, daß das ein Irrtum mit mildernden Folgen wäre. — Wenn aber derselbe Polizist durch einen Anruf darauf aufmerksam gemacht wird, die Haare seien inzwischen gefärbt, die Brille verschwunden und ebenso der Bart, so daß das Gesicht nicht mehr oval, sondern rund aussehe, und er trifft einen Mann, der so aussieht, hält ihn fest und zeigt auf die Frage, wo denn sein Fahndungsbild sei, das alte vor, was zu einer Gegenwehr dieses Mannes führt, dann wird nach unserer Auffassung dieser Person, die sich völlig ungerechtfertigt festgenommen sieht, ein Widerstandsrecht dergestalt zugebilligt werden müssen, daß das strafmildernde Folgen haben kann.
— Jedenfalls ist dies eine Vorschrift, die in unserem Entwurf steht, und wir alle müssen darüber rechten. Es ist doch unzweifelhaft, daß der Entwurf nicht nur auf die fest umrissene Demonstration anzuwenden ist.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen zulassen?
Bitte schön!
Herr Kollege de With, würden Sie dieses Beispiel nicht auf den Fall beschränken, daß bei dem Irrenden oder bei dem, der Widerstand leistet, höhere Gesichtspunkte, d. h. höhere Werte in Frage stehen? Muß dieses Korrektiv in Ihrem Beispiel nicht noch dazukommen?
Ich verstehe nicht ganz, was Sie mit „höheren Werten" meinen.
Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, daß nur dann ein Widerstandsrecht gerechtfertigt sei, wenn für den anderen ein unabwendbarer Schaden entstehe, der so ungleich größer ist, daß es nicht verantwortbar erscheine, ihm ein Widerstandsrecht nicht zuzubilligen. Würden Sie dieses Korrektiv hier einschalten?
Ich meine, daß die Einschaltung unserer Irrtumsvorschrift das bereits vom Bundesgerichtshof anerkannte Recht auf Irrtum des Bür-
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Dr. de Withgers deutlich vergrößert. Das ist auch die Ansicht unseres Entwurfs.Ich darf noch auf zwei Punkte hinweisen, die mir wesentlich erscheinen und die bisher nicht zur Sprache gekommen sind. Dadurch, daß Sie in § 113, den Sie in die Form eines Nötigungstatbestandes bringen, den Richter aufnehmen, kommen Sie wieder zu einem Gruppenstrafrecht, das wir doch alle nicht wollen. Ich glaube, wir kommen nicht weiter, wenn wir bestimmte Kreise über die Maßen privilegieren,
allein durch die plakative Wirkung, die dann vorhanden ist. Ich glaube nicht, daß das Gros der Richter das wünscht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vogel?
Herr Kollege de With, sind Sie nicht der Auffassung, daß der Richter auch schon nach geltendem Recht mit unter den Beamtenbegriff fällt, so daß das hier lediglich zur Verdeutlichung hineingeschrieben ist und im Grunde genommen keine Erweiterung des geschützten Personenkreises bedeutet?
Ich glaubte, Ihre Frage schon vorher beantwortet zu haben, indem ich sagte: durch die plakative Wirkung.
Ein weiterer Hinweis auf Ihre Regelung des § 116 — Auflauf — im Verhältnis zu § 125. Zunächst einmal möchte man meinen, Sie streichen — wie es auch unsere Intention ist — die Vorschrift über den Auflauf und drücken den Tatbestand herab zu einer Ordnungswidrigkeit. Aber dann muß man mit größtem Erstaunen feststellen, daß in § 119 der Auflauf-Paragraph im Grunde genommen wieder im Strafgesetzbuch auftaucht, auch wenn es dort noch den Zusatz gibt: „die die öffentliche Sicherheit bedroht". Jetzt frage ich: Der Polizeibeamte, der schnell entscheiden muß, wird doch oft sehr leicht geneigt sein, zu sagen: Durch einige Gewalttäter wird die öffentliche Sicherheit bedroht. Dann aber wird für jeden Demonstranten, wenn er nicht weggeht, diese Handlung wieder strafbar, und wir sind genau wieder bei dem alten Recht, von dem wir uns entfernen wollen.
Was hat das zur Folge? — Wir 'stehen auf dem Standpunkt, die Polizei muß ein modernes Instrumentariaum erhalten,
um bei Demonstrationen, die aus dem Leim geraten, zugreifen zu können. Das kann sie nach dem heutigen Recht in flexibler Weise nicht. Warum nicht? — Weil .praktisch alle Handlungen nicht mit Ordnungswidrigkeitsbußen bedroht sind, sondern mit Strafe, was zur Folge hat, daß die Polizei nach dem Legalitätsprinzip vorzugehen hat. Die Demon-
stranten aber müssen das Gefühl haben, es werden willkürlich einige gepackt, andere nicht. Das führt wiederum dazu, daß sich einige Polizeibeamte objektiv den Vorwurf der Begünstigung im Amt einhandeln. Natürlich ist es für 'sie unmöglich, alle zu packen. Aber wenn es für die Polizeibeamten unmöglich ist, gemäß dem Legalitätsprinzip alle Täter zu packen, dann frage ich mich: Warum stufen wir diesen Tatbestand nicht gleich zu einer Ordnungswidrigkeit herab, bei der die Polizei nach dem Opportunitätsprinzip vorzugehen in der Lage ist? Das entspräche auch dem Willen der Massenpsychologen. Erwin Scheuch hat klar gesagt, am besten werde eine Demonstration, auch wenn sie umkippe, nach dem Opportunitätsprinzip und nicht nach dem Legalitätsprinzip gepackt.
Dazu noch eines: Nach unseren Intentionen verliert die Polizei an praktischen Zugriffsmöglichkeiten gar nichts; denn die Polizeirechte der Länder gewähren noch immer den Zugriff durch Platzverweis, durch vorläufige Mitnahme auf die Wache zur Feststellung der Personalien und in fast allen Ländern
außer in drei Ländern — auch die Ingewahrsamnahme. Dabei darf ich bemerken, daß es sich hier nicht um eine Verhaftung handelt. — Herr Lenz!
Sie gestatten offenbar eine Zwischenfrage?
Herr Kollege de With, wenn das, was Sie gesagt haben, richtig ist, wie erklären Sie sich dann die Tatsache, daß alle Polizeipräsidenten und -beamten genau das Gegenteil behauptet haben?
Herr Lenz, das ist in dieser verallgemeinernden Formulierung nicht richtig. Auf meine Fragen haben die Polizeibeamten generell gesagt, sie bräuchten das Strafgesetz, weil das psychologisch ein größeres Gewicht zum Eingreifen verleihe. Aber wollen wir nicht alle von dem schweren Knüppel des Strafrechts wegkommen, wenn wir mit Verwaltungsrecht dasselbe erreichen?
Ein weiteres Beispiel, um das zu erhellen.
— Einen kleinen Moment; ich möchte mein Beispiel zu Ende führen.Als das Straßenverkehrsrecht weitgehend zum Ordnungswidrigkeitenrecht abgestuft wurde, kamen zunächst auch Bedenken, ob denn die Polizei noch in der Lage wäre, entsprechend zuzugreifen, weil das psychologische Gewicht zum Eingreifen wegen der Abstufung geringer geworden sei. Wir alle wissen doch — und gestern hat das der Vertreter des Innenministeriums in den Ausschüssen bestätigt —, daß die Polizei ihre Verhaltensweise noch genauso ausrichtet und daß der fließende Verkehr nicht gestört ist, sondern daß im Gegenteil durch die flexiblere Behandlung eine Besserung eingetreten ist. Ich
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1218 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Dr. de Withmeine, dasselbe wird bei den Demonstrationen der Fall sein.
Herr Kollege Vogel, wollen Sie Ihre Zwischenfrage zurückziehen!
— Gut. — Bitte schön!
Ich bin am Ende und darf mit folgenden Worten schließen.
Ich glaube nicht, daß durch Ihre Vorlage im Endeffekt Rechtsfrieden geschaffen werden würde; denn zur Zeit haben wir auf diesem Teilgebiet keinen Rechtsfrieden. Um Rechtsfrieden zu schaffen, muß man auch den Mut haben, Vorstellungen bei bestimmten Personengruppen begegnen zu können. Wenn das das Parlament nicht tut, handelt es sich nach Acton mit Recht den Vorwurf ein, es handle nur politisch, weil es an die nächsten Tage denke, und nicht staatsmännisch, weil es nicht an die nächsten Jahre denke. Ich meine, wir sollten uns dazu aufraffen, etwas mehr in die Zukunft zu schauen und nicht nur auf die nächsten Wochen und Monate.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat sich der Kollege Schlee gemeldet. Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, aus dem Stegreif noch einige Worte zu dieser Debatte zu sagen. Ich möchte das deswegen tun, weil ich die Ehre habe, im Ausschuß der Berichterstatter zu sein.Ich halte es für unglücklich, daß hier immer nur von Demonstrationsdelikten und vom Recht zu Demonstrationen die Rede ist. Es handelt sich um die Reform der Strafvorschriften über den Widerstand gegen die Staatsgewalt und gegen die öffentliche Ordnung. Natürlich rücken die Vorgänge der jüngsten Jahre Erscheinungen der Demonstrationen in den Vordergrund. Aber wir alle sind wohl einig in der Meinung, daß Demonstrationen, Willensbekundungen durch öffentliche Versammlungen und öffentliche Aufzüge, an sich etwas ganz Legales sind, was nicht geduldet, sondern auch geschützt werden muß, und daß es sich bei den Strafvorschriften, die der Ausschuß jetzt ins Auge fassen muß, um Erscheinungen handelt, die auch auf anderen Gebieten, bei anderen Gelegenheiten vorkommen, dann allerdings manchmal auch im Auslauf von Demonstrationen.Nachdem die Regierung keine Vorlage eingebracht hat, wohl aber die Koalitionsparteien, ist es ja verständlich und richtig, daß nun auch die Fraktion der CDU/CSU ihre Vorlage eingebracht und heute ausführlich begründet hat. Ich verspreche mir aber nichts davon, daß wir hier in der Abwägung und Beurteilung der Vorlagen zu sehr ins Detail gehen. Davon hat das Hohe Haus gar nichts. Das sind Ausführungen, die am Platz sind, wenn die Überlegungen und Beschlüsse des Ausschusses zur Entscheidung anstehen. Vor allem haben wir nichts davon, wenn hier mit Beispielen gearbeitet wird, die ganz abseits liegen, wie das öfters der Fall gewesen ist, oder wenn Mißverständnisse auftreten, wie z. B. die Frage des Herrn Kollegen Vogel, die völlig berechtigt war, gezeigt hat. Daß die Richter in den Bestimmungen besonders genannt werden, entspricht der neuen Auffassung unseres Grundgesetzes.Ich möchte nur folgendes sagen. In Art. 83 unseres Grundgesetzes ist die Rede von den Gesetzen, die grundsätzlich von den Ländern ausgeführt werden. Solche Gesetze werden in diesem Hause in großem Maße produziert. Das sind die Gesetze für die Verwaltung. Wir haben hier über ein Strafgesetz zu entscheiden, und das ist ein Gesetz, nach dem Recht gesprochen werden soll. Das bürgerliche Recht und das Strafrecht sind die unmittelbare Grundlage der Rechtsprechung durch unsere Gerichte, ja sie sind eigentlich der Anfang und die Grundlage des Rechtsstaates und der Stellung des Bürgers im Rechtsstaat, wo er nicht der Exekutive, sondern unmittelbar der unabhängigen Gerichtsbarkeit gegenübersteht.Es ist verständlich, daß die beiden Vorlagen in einer Frontstellung einander gegenübergestellt werden. Man kann sagen, beide haben ihre Probleme. Ich räume durchaus ein, daß die Regelung des § 113, die in der Vorlage der CDU/CSU vorgesehen ist, im Hinblick auf die Rechtsprechung und auf die Rechtslehre große Probleme aufwirft. Auf der anderen Seite sind die Vorschläge der Koalitionsparteien zur Regelung des § 125 — Landfriedensbruch — meiner Meinung nach völlig ungenügend und tragen nicht den Bedürfnissen nach Schutz und Sicherheit der Öffentlichkeit und des Bürgers, der mit seinem Eigentum und seiner Person nicht Objekt von Willenskundgebungen und Angriffen werden will, Rechnung.Es ist die Aufgabe des Ausschusses, zunächst einmal zu versuchen, ob er aus beiden Vorlagen eine gemeinsame Lösung erarbeiten kann, die eine große Mehrheit des Hauses findet. Denn um auf das zurückzukommen, was ich eben gesagt habe: Gesetze, die ,die Grundlage der Rechtsprechung sind, kann man nicht heute und morgen, in Monaten oder Jahren immer wieder ändern; es sind Gesetze, die dauern sollen, Gesetze, die in das Rechtsbewußtsein des Volkes eingehen sollen. Daher waren wir uns im Ausschuß einig, daß wir uns bemühen müssen, Regelungen zu treffen und Gesetze zu schaffen, die nicht nur hier im Hause eine große Mehrheit finden; vielmehr sollte die Mehrheit, die hier im Hause zustande kommt, auch zum Ausdruck bringen, daß ,die gefundene Lösung weitgehend dem Rechtsbewußtsein unseres Volkes oder der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung entspricht.
Wenn wir dieses Ziel im Ausschuß nicht erreichen, wird es selbstverständlich in den Abstimmungen hier auch einmal zu Frontstellungen kommen; das ist nicht zu vermeiden. Vorerst aber ist es Aufgabe
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970 1219
Schleedes Ausschusses, Lösungen zu suchen, die die Anerkennung des Hauses insgesamt finden können.
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Reform des Strafrechts, Drucksache VI/261, Antrag der Abgeordneten Vogel, Benda, Erhard , Dr. Eyrich, Dr. Lenz (Bergstraße), Dr. Pinger und der Fraktion der CDU/CSU, an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform — federführend — und zur Mitberatung an den Innenausschuß zu überweisen. — Es ist so beschlossen.
Zu Punkt 19b liegt der Bericht des Ausschusses auf Drucksache VI/270 vor. Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Bericht und der entsprechenden Beschlußfassung zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Ich danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Gemäß einer interfraktionellen Vereinbarung wird jetzt der Zusatzpunkt der heutigen Tagesordnung aufgerufen:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Volksentscheid im Gebietsteil Baden des Landes Baden-Württemberg gemäß Artikel 29 Abs. 3 des Grundgesetzes
— Drucksache VI/211 —
Schriftlicher Bericht des Innenausschusses
— Drucksache VI/303 —
Das Wort hat der Herr Berichterstatter, der Herr Abgeordnete Dr. Gruhl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte den Schriftlichen Bericht, der Ihnen heute morgen auf die Plätze gelegt worden ist, nur um einige Bemerkungen ergänzen.
Der Volksentscheid im Gebietsteil Baden des Landes Baden-Württemberg ist bis zum 30. Juni 1970 durchzuführen. Demnach ist die Verabschiedung des Gesetzes eilbedürftig. Das Grundgesetz regelt diesen Termin, und es schreibt außerdem vor, daß für eine erfolgreiche Abstimmung ein Vietel der Wahlberechtigten des früheren Landes Baden ihre Stimme für die Wiederherstellung abgeben müssen.
Damit sind wir bei dem ersten Problem, das den Innenausschuß zu beschäftigen hatte. Denn im Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid von 1955 ist vorgesehen, daß nicht nur die wahlberechtigten Bürger des Landes, sondern daß auch die in dem Land Geborenen Stimmrecht haben sollen. Dies steht im Widerspruch zu der Regelung im Grundgesetz; denn die Anzahl derer, die im Lande Baden geboren sind und nicht mehr dort wohnen, ist weder ihrer Zahl nach festzustellen noch ist vorauszusehen, eine wie große Anzahl von Wahlberechtigten ihre Stimme bei diesem Volksentscheid abgeben würden. Der Innenausschuß hat darum der Regelung des
Grundgesetzes den Vorrang gegeben, wonach ein Viertel der zum Landtag Wahlberechtigten ihre Stimme in dem Sinne der Wiederherstellung abgeben müssen. Das hatte zur Folge, daß das Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid von 1955 im § 22 Abs. 2 geändert werden mußte. Der Ausschuß hat die Streichung dieses Paragraphen empfohlen.
Ich bitte bei dieser Gelegenheit, einen Druckfehler zu berichtigen, der auf der vorletzten Seite des Schriftlichen Berichts Drucksache VI/303 zu finden ist. Dort heißt es in Art. 2 a in dem unterstrichenen Text „Das Gesetz ... vom 23. Dezember 1966". Das ist ein Fehler. Es muß dort heißen „Das Gesetz ... vom 23. Dezember 1955". Ich bitte das zu berichtigen.
Das zweite Problem, welches den Innenausschuß beschäftigt hat, war die Frage der Wahlkampfkostenerstattung. Der Innenausschuß hält es für angebracht, in diesem Falle, da es sich ja um eine Abstimmung laut Grundgesetz handelt, eine Wahlkampfkostenerstattung zu gewähren. Um aber nicht für andere Abstimmungen etwas zu präjudizieren, ist die Wahlkampfkostenerstattung aus dem Gesetz herausgenommen worden. Sie finden in der beiliegenden Entschließung das Ersuchen an die Bundesregierung, die Frage im Rahmen des Haushalts 1970 zu lösen, indem 1,2 Millionen DM für die Vereinigungen, die sich aktiv am Abstimmungskampf beteiligen, eingesetzt werden. Es heißt also nicht „die Parteien".
Der Innenausschuß hat das Gesetz in drei Sitzungen gründlich beraten und empfiehlt dem Hohen Haus die Annahme.
Zum Schluß möchte ich bemerken, daß es etwas eigenartig erscheint, wenn heute, wo allenthalben von einer Neuregelung des Bundesgebietes gesprochen wird, unter der man meistens die Zusammenfassung zu größeren Einheiten versteht, ein Volksentscheid über die Abtrennung eines Landesteiles durchgeführt wird. Aber unsere demokratische Grundordnung gibt auch den Bürgern dieses Landesteiles das Recht, ihren Willen frei zu äußern. Der Innenausschuß war bemüht, diese Frage so zu regeln, daß eine möglichst unbeeinflußte Durchführung des Volksentscheids möglich ist.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. — Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.Ich rufe in der zweiten Beratung auf Art. 1, Art. 2, Art. 2 a — mit der Änderung, die der Herr Berichterstatter soeben hier vorgetragen hat —, Art. 3, Art. 4 Einleitung und Überschrift. — Es ist so beschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein. Das Wort wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf in dritter Lesung zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! —
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1220 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenKeine Gegenstimmen. — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme des Gesetzentwurfs fest.Meine Damen und Herren, wir müssen dann noch über den Antrag des Ausschusses unter Ziffer II, den Sie auf Seite 5 der Drucksache finden, abstimmen. Wer diesem Entschließungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle auch hier einstimmige Annahme fest.Meine Damen und Herren, damit ist dieser Punkt der Tagesordnung abgeschlossen.Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechtspflegergesetzes— Drucksache VI/289 —Das Wort wird dazu nicht gewünscht. Nach dem Beschluß des Altestenrates soll der Gesetzentwurf dem Rechtsausschuß überwiesen werden. — Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Strafrechtsänderungsgesetzes— Drucksache VI/293 —Der Herr Kollege Memmel hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit großem Interesse habe ich den Bericht über die 347. Sitzung des Bundesrates vom 23. Januar 1970 gelesen. In dieser Sitzung hat Senator Heinsen das Zehnte Strafrechtsänderungsgesetz begründet. Dieser Gesetzentwurf geht ja auch auf einen Antrag des Landes Hamburg zurück. Mit der von Senator Heinsen gegebenen mündlichen Begründung bin ich voll einverstanden. Nicht einverstanden dagegen bin ich mit Teilen der Begründung, die uns in Drucksache VI/293 schriftlich vorliegt.
Die Gründe dafür will ich Ihnen kurz sagen. In der 3. Legislaturperiode hatten die Abgeordneten Memmel, Höcherl und Schlee, alles ehemalige bayerische Strafrichter, diesem Hause einmal einen Antrag vorgelegt. Mit diesem Antrag, der später dann zu dem Fünften Strafrechtsänderungsgesetz geführt hat, sollte nicht nur die Beseitigung gewisser Mißstände erreicht werden; es sollte vor allem eine Rechtsunsicherheit beseitigt werden, die dadurch entstanden ist, daß der Bundesgerichtshof in den in Band 11 veröffentlichten Entscheidungen die örtlichen Polizeiverordnungen für unzulässig erklärt hat.
In der schriftlichen Begründung in Drucksache VI/293 steht nun, daß das Fünfte Strafrechtsänderungsgesetz zu grobschlägig sei, um bei komplexen großstädtischen Verhältnissen untragbare Auswüchse der Gewerbsunzucht zu beseitigen. Weiterhin heißt es, das Fünfte Strafrechtsänderungsgesetz sei zu eng.
Wenn Sie einmal die Güte haben, in Drucksache III/1449 und den Schriftlichen Bericht in Drucksache III/1819 nachzulesen, werden Sie feststellen, daß man sich, wenn man der damaligen Initiative der drei Kollegen gefolgt wäre, das Zehnte Strafrechtsänderungsgesetz, das jetzt hier im Entwurf vorliegt, vielleicht hätte ersparen können. Ich schlage daher vor, daß der Vorsitzende des Rechtsausschusses, der Herr Kollege Lenz, bei den Beratungen des Zehnten Strafrechtsänderungsgesetzes auf die Drucksachen III/1449 und III/1819 — das sind Drucksachen aus der dritten Legislaturperiode — zurückgreift.
Herr Kollege, ich mache Sie auf einen Irrtum aufmerksam. Nach dem Vorschlag des Ältestenrates soll der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform diese Materie beraten.
Vielen Dank, Herr Präsident. Dann muß ich meine Empfehlung an den Vorsitzenden des Sonderausschusses richten. Ich freue mich, daß dieser Einwand, der damals gegenüber dem Antrag in der 3. Legislaturperiode gebracht worden ist, nämlich daß das doch ein unzulässiger Vorgriff auf die kommende Strafrechtsreform sei, weil das in dem Entwurf 1959 II in § 229 geregelt werde, dieser Einwand, der zu einer großen Verzögerung geführt hat, die Leute damals nicht gehindert hat, das doch durchzusetzen. Denn Sie sehen, bis heute haben wir noch keine Große Strafrechtsreform.
Das Wort hat der Herr Kollege Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich als direkt gewählter Abgeordneter im Wahlkreis 12, Hamburg-Mitte, zu dem auch St. Pauli gehört, einige kurze Ausführungen zu dem hier vorliegenden Entwurf eines Zehnten Strafrechtsänderungsgesetzes mache.Herr Kollege Memmel, ich fasse Ihre Rede, die Sie soeben gehalten haben, so auf, daß Sie damit Ihre Verdienste um das Fünfte Strafrechtsänderungsgesetz hier noch einmal gebührend hervorgehoben haben. Ich meine auch, daß wir Ihnen Dank dafür sagen sollten, daß diese Initiative ergriffen worden ist. In der Zwischenzeit hat sich allerdings herausgestellt, daß wir damit allein nicht auskommen. Ich glaube, daß wir bei allen Vorbehalten, die Sie vorgetragen haben, wohl in der Sache einig gehen, daß hier zusätzlich noch etwas geschehen muß, um auch innerhalb eines Bezirks zu einer örtlichen und zeitlichen Beschränkung der Prostitution zu kommen.Der Entwurf eines Zehnten Strafrechtsänderungsgesetzes ist auf einen Antrag des Landes Hamburg im Bundesrat zurückzuführen auf Grund der Erfahrungen, die vor allem in Hamburg gemacht worden sind. Aber es geht hier nicht nur um ein Hamburger Problem, meine Damen und Herren, sondern es geht
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Glombigum ein Problem, das wir auch in anderen Groß- und Mittelstädten haben und das sowohl in Hamburg als auch in diesen Städten einer Losung zugeführt werden muß. Es handelt sich hier vor allem um die Bekämpfung der Auswüchse der Straßenprostitution, nicht zuletzt auch um die Bekämpfung des „Autostrichs". Man sollte das in diesem Hause ruhig auch einmal so zum Ausdruck bringen, weil das ein Problem ist, mit dem sich die Burger, die in diesen Gebieten wohnen, herumzuschlagen haben.Nach geltendem Recht sind die Landesregierungen ermächtigt, den bei der Ausübung des „ältesten Gewerbes der Welt" auftretenden Mißständen durch Rechtsverordnung zu begegnen, welche die Ausübung der Gewerbsunzucht in kleinen Gemeinden ganz und in Gemeinden mit über 50 000 Einwohnern für einzelne Bezirke verbietet. In einer Mittel- oder Großstadt ist es verfassungsrechtlich weder zulässig, noch durchsetzbar, noch zweckmäßig, so meine ich, die Prostitution ganz zu verbieten. Es muß in einer Großstadt wie Hamburg mindestens einen Bezirk geben, in dem die Prostitution erlaubt bleibt, auch nach Erlaß dieses Zehnten Strafrechtsänderungsgesetzes. Das braucht im einzelnen hier nicht weiter begründet zu werden. Die jetzige Ermächtigung sieht jedoch nach dem Willen des Gesetzgebers und nach der Rechtsprechung nur ein Vollverbot für den ganzen Bezirk und für 24 Stunden vor, also ein Verbot rund um die Uhr.Wir wollen gern, daß die Möglichkeit geschaffen wird, dieses Verbot in einem bestimmten Bezirk für bestimmte Straßen und für bestimmte Plätze auszunehmen, z. B. für Eros-Zentren und ähnliche Etablissements. Wir wollen weiter, daß dieses Verbot für bestimmte Zeiten eingeschränkt wird, z. B. für die Nachtzeit. St. Pauli ist ja nicht nur ein weltbekanntes Vergnügungszentrum — ich möchte Sie alle einladen, wenn ich das darf, sich das ruhig einmal anzusehen; es ist sehenswert — —
— Sie waren noch nicht da?
— Ich würde mich sogar anbieten, dann Ihr „Bärenführer" zu sein. Das sollte mir ein besonderes Vergnügen sein, einen Kollegen von der bayerischen CSU auf St. Pauli begrüßen zu können.Meine Damen und Herren, St. Pauli ist darüber hinaus auch ein Wohngebiet, in dem Tausende von Menschen wohnen und ihrer Arbeit nachgehen. Es gibt dort Tausende von Familien mit Kindern, und diese Kinder müssen unter Umständen beim Spielen auf den Straßen, auf dem Schulweg, d. h. auf dem Weg zur Schule und auf dem Weg von der Schule nach Hause, Dinge mit ansehen, die einen Teil der Prostitution darstellen, nämlich z. B. die Anbahnungsgespräche. Es kommt dort zu Belästigungen und Gefährdungen der Kinder. Die Empörung der Eltern ist sehr groß. Wir haben im Sommer des vergangenen Jahres bereits Schulstreiks in diesem Bezirk gehabt, und es gibt die Androhung, daß, wenn hier nicht recht bald gesetzgeberisch eingeschritten wird, mit weiteren Schulstreiks zu rechnen ist.Wir erkennen die Berechtigung der Beschwerden der Bürger in diesen Gebieten an und meinen, daß wir als Gesetzgeber alles tun müssen, um diese Mißstände zu beseitigen. Wir konnten es bisher auf Grund der jetzt gegebenen gesetzlichen Ermächtigung nach dem Fünften Strafrechtsänderungsgesetz nicht tun. Diese Möglichkeit muß so schnell wie möglich geschaffen werden. Deswegen bitte ich Sie alle, meine Damen und Herren, vor allem die Kolleginnen und Kollegen im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, dafür zu sorgen, daß dieses Gesetz so schnell wie möglich verabschiedet wird, damit wir nach Möglichkeit noch bis zum Sommer, d. h. bis zu dem Zeitpunkt, wo die große Welle des Fremdenverkehrs auch auf St. Pauli wieder einsetzt, das Gesetz über die Bühne gebracht haben. Die Menschen, die dort wohnen, werden Ihnen sehr dankbar sein, und ich als Abgeordneter aus einem solchen Gebiet bin Ihnen natürlich auch dankbar, wenn hier möglichst zügig gearbeitet wird.
Das Wort wird nicht mehr begehrt.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Entwurf dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform zu überweisen. — Es ist so beschlossen.
Ich komme nunmehr zu dem letzten Punkt der heutigen Tagesordnung, Punkt 18:
Beratung des Berichts der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik für das Jahr 1967 — Drucksache VI/ 183 —Für die Bundesregierung erläutert den Bericht Herr Staatssekretär Rohde.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den am 10. September 1969 abgeschlossenen Unfallverhütungsbericht für das Jahr 1967 lege ich hiermit dem Hohen Hause vor. Es ist ein verkürzter Bericht. Er entspricht in dieser Form dem Wunsche des Hohen Hauses, in Jahren mit ungerader Zahl die Berichte der Träger der Unfallversicherung und der Gewerbeaufsichtsbehörden in gedrängter Form zusammenzufassen.In diesem Zusammenhang will ich gleich eine kritische Anmerkung machen. Wir werden die Frage prüfen, wie Form und Inhalt künftiger Unfallverhütungsberichte anders gefaßt werden können. Es ist z. B. zu untersuchen, ob nicht eine Akzentverschiebung in der Richtung vorgenommen werden sollte, den Bericht mehr zu einem Arbeitssicherheitsbericht werden zu lassen, um damit die besondere Zielsetzung der Vorsorge im Arbeitsleben in den Vordergrund zu rücken. Durch eine neue Art der Berichte wollen wir für die Zukunft auch dazu beitragen, daß sie eine größere öffentliche Resonanz finden. Dieses unser Bemühen geht davon aus, daß
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1222 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1970
Parlamentarischer Staatssekretär RohdeArbeitsschutz und Unfallverhütung Schwerpunkte zeitgerechter Sozialpolitik darstellen. Die Regierungserklärung hat das deutlich gemacht. Es ist nicht mehr nur ein Thema für Fachleute. Was wir heute im Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik an Konflikten vorfinden, geht die ganze Gesellschaft an. Die Zahlen über das Unfallgeschehen in den Betrieben, auf den Straßen und in anderen Lebensbereichen zeigen das.Im Hinblick auf die Ihnen mit dem heutigen Bericht vorgelegten Zahlen möchte ich einige Anmerkungen machen.Es geht aus den Statistiken hervor, daß die Zahl der Arbeitsunfälle insgesamt und besonders bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften zurückgegangen ist. Bei diesen Zahlen muß allerdings bedacht werden, daß im Jahre 1967 infolge der Rezession die Zahl der Beschäftigten und auch der geleisteten Arbeitsstunden rückläufig war. Insofern muß also, um eine längerfristige Prognose stellen zu können, die Entwicklung der Arbeitsunfälle in den Jahren 1968 und auch 1969 mit berücksichtigt werden. Die Angaben des vorliegenden Berichts sind also kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Es müssen auf diesem Feld auch in Zukunft große Anstrengungen gemacht werden, um das Maß an Arbeitssicherheit zu erhöhen und auf diese Weise das zu leisten, was in der Regierungserklärung als „Humanisierung des Arbeitslebens" angesprochen worden ist.Wir sind uns als Regierung bewußt, daß zur Erfüllung dieser Aufgabe eine enge Kooperation aller Verantwortlichen erforderlich ist. Sozialpolitik, soziale Praxis, wie sie sich insonderheit in den Betrieben darstellt, und Wissenschaft müssen zusammenwirken. Das geht hin bis zur Sicherheitspädagogik, die ihren Ansatzpunkt auch nicht erst im Betriebsleben, sondern schon in den Schulen und anderen Lebensbereichen finden kann.Unser Haus ist sich bewußt, welche Bedeutung die Initiativen haben, die von den Tarifvertragsparteien, den Trägern der Unfallversicherung und anderen Stellen unternommen worden sind. Ich darf hinzufügen, daß in dem von unserem Haus angekündigten Dialog mit den sozialen Gruppen die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes eine besondere Rolle spielen wird.Bei den Beratungen früherer Unfallverhütungsberichte hat der Bundestag eine Reihe von Empfehlungen und Anregungen gegeben. Zu einem Teil sind sie bereits in den Vorlagen für die Jahre 1966 und 1967 berücksichtigt worden. Das betrifft z. B. die Dokumentation der Arbeitsschutzvorschriften und der Richtlinien des Bundes und der Länder sowie Vorschläge zum Ausbau der Statistik. Aber ich will an dieser Stelle offen hinzufügen, daß auch hier noch eine Reihe von Fragen aufgearbeitet werden muß, z. B. was die Ermittlung der indirekten Unfallkosten angeht, die Unfallhäufigkeit nach Betriebsgrößen und die Abstimmung mit der Entwicklung in der EWG.Im einzelnen wird das gründlich in den Ausschußberatungen zu erörtern sein. Dabei wird auch an Hand der Zahlen dieses Berichts jedenfalls nach unserer Auffassung geprüft werden müssen, ob die praktische Handhabung der Zuschläge und Nachlässe bei der Beitragserhebung in einer Weise erfolgt, die den Vorstellungen des Gesetzgebers, die er seinerzeit bei der Beratung des Unfallversicherungsneuregelungsgesetzes fixiert hat, Rechnung trägt.
Darüber hinaus aber wurde bei den Beratungen früherer Unfallverhütungsberichte eine Reihe von grundsätzlichen Fragen der Weiterentwicklung der Arbeitssicherheit aufgeworfen. Die heutige Bundesregierung nimmt die bei jenen Gelegenheiten geäußerten Erwartungen des Parlaments ernst und arbeitet zielstrebig daran, ihnen zu entsprechen.Dabei werden vier Aufgaben im Vordergrund stehen: erstens der Ausbau der betrieblichen Arbeitssicherheitsorganisation; zweitens die Entwicklung des werksärztlichen Dienstes; drittens die Intensivierung der Unfallursachenforschung; viertens der Ausbau sowie die zeitgerechte Aufgabenstellung für das Bundesinstitut für Arbeitsschutz.Bei der Erfüllung dieser Aufgaben geht unsere Absicht dahin ich sage das schon an dieser Stelle, um Sie auf diese Weise auch mit an unseren Überlegungen zu beteiligen —, eine enge Beziehung zwischen technischem und gesundheitlichem Arbeitsschutz herzustellen. Auf Grund der bisherigen Erhebungen und gutachtlichen Stellungnahmen prüfen wir die Frage, ob der Gesamtkomplex ,,innerbetriebliche Sicherheitsdienste" nicht in einem gemeinsamen Gesetz eine feste Grundlage finden kann. Das würde dann gleichzeitig das Problem der hauptamtlichen Sicherheitsingenieure sowie der Werksärzte und sonstigen Institutionen umfassen.Es ist heute vielfach — das will ich auch offen sagen — das Schicksal dieser Sicherheitsdienste, eine zweit- oder gar drittklassige Rolle neben der Produktion einnehmen zu müssen. Das ist für Ingenieure, Ärzte und anderes Fachpersonal kein nachhaltiger Anreiz, auf diesem Feld tätig zu werden. Unsere Erwartung geht dahin, mit der Entwicklung des Arbeitsschutzes gleichzeitig auch bessere Voraussetzungen für die personelle Seite dieses wichtigen Bereichs der Sozialpolitik zu schaffen. Ich weiß, daß damit auch Fragen verbunden sind, die sich auf die noch bessere Integration des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin in die akademische Ausbildung beziehen.Eine vorsorgende und praxisnahe Unfallursachenforschung ist durch moderne Erkenntnisse möglich geworden. An Stelle der bisher sehr fachorientierten Einzelforschung müssen die Unfallursachen in echter Teamarbeit von Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Medizinern, Psychologen und Wirtschaftswissenschaftlern gemeinsam erforscht werden. Das in- und ausländische Forschungsmaterial muß zusammengetragen und aufbereitet werden. Die Ergebnisse sind dann so zu verbreiten, daß sie als Rüstzeug für eine erfolgreiche Unfallverhütung genutzt werden können.Diese Absicht, nämlich Unfallursachenforschung, Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit weiterzu-
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Parlamentarischer Staatssekretär Rohdeentwickeln, soll durch den Ausbau des Bundesinstituts für Arbeitsschutz gefördert werden. Damit wollen wir gleichzeitig einem seit langem bestehenden Auftrag dieses Hohen Hauses Rechnung tragen. Gleichzeitig sollen auch die Arbeiten anderer Institutionen, die sich mit der Arbeitssicherheit beschäftigen, nachhaltig unterstützt und koordiniert werden.Meine Damen und Herren, ich habe hier nur mit groben Strichen die Grundzüge für die Weiterentwicklung der Arbeitssicherheit aufzeigen können. Wir werden darüber das Gespräch mit den Tarifvertragsparteien und den anderen auf dem Feld der Arbeitssicherheit wirkenden Kräfte vertiefen, um diesem Hohen Hause Vorlagen zu unterbreiten, die durch die Erfahrungen der Praxis abgesichert sind.Wir sind uns dabei bewußt, daß dieses Thema auch eine europäische Dimension hat. Bei dem Zusammenwachsen der Märkte in der Europäischen Gemeinschaft und der wachsenden Freizügigkeit der Arbeitnehmer überspringt der Arbeitsschutz die nationalen Grenzen und wird damit zu einem Thema der sozialen Harmonisierung.Arbeitssicherheit und Unfallverhütung haben nach unserer Auffassung einen hohen Stellenwert in der sozialpolitischen Rangordnung. Sicher arbeiten — das zeigen unsere gemeinsamen Erfahrungen — dient sowohl dem Menschen als auch der Wirtschaft im ganzen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Kollege Lampersbach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Der uns vorliegende Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen ist auf Grund eines Beschlusses des 5. Deutschen Bundestages erstmals in Kurzfassung erschienen. Der Deutsche Bundestag hatte seinerzeit nach sehr eingehenden Beratungen im zuständigen Ausschuß für Sozialpolitik festgestellt, daß der Zeitraum für einen umfassenden Bericht länger als ein Jahr sein müsse, wenn er auch in der Form entsprechend behandelt werden soll und die Beratungen darin ihren Niederschlag finden sollen.Heute haben wir, möchte ich sagen, eine Aufmachung vor uns, die eine kurze Statistik mit sparsamer Kommentierung darstellt. Zu bedauern ist hierbei, daß das vorliegende Zahlenmaterial nicht mehr absolut aktuell und neu ist — ich würde sagen: es ist bereits überholt —, da heute auch schon die Zahlen des Jahres 1968 und des ersten Halbjahres 1969 vorliegen. Sie sind bereits von den Versicherungsträgern veröffentlicht worden. Dieser Tatbestand sollte uns aber nicht entmutigen, den vorliegenden Bericht in allen Details sachlich zu prüfen, um im Vergleich zu den vorherigen Berichten festzustellen, inwieweit sich die in der Vergangenheit vorgeschlagenen und ergriffenen Maßnahmen und Anregungen niedergeschlagen haben.Der erste Eindruck ergibt, daß der vorliegende Bericht eine erfreulich positive Tendenz ausweist. Die Arbeitsunfälle sind danach um rund 400 000 zurückgegangen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß trotz dieses Rückgangs nach wie vor eine Gesamtzahl von rund 2,4 Millionen Arbeitsunfällen ausgewiesen wird.Beim Vergleich der statistischen Daten stellen wir fest, daß dieser Rückgang insgesamt 14 % ausmacht, im Bereich der in den gewerblichen Berufsgenossenschaften zusammengefaßten Betriebe sogar fast 17 %. Auch die Wegeunfälle haben erfreulicherweise sehr stark — um 13 % — abgenommen, wohingegen bei den Berufskrankheiten ein leichter Anstieg zu verzeichnen ist.Wir werden im Ausschuß bei den Beratungen in besonderer Weise hierzu Untersuchungen anstellen müssen und dabei insbesondere das, was Herr Staatssekretär Rohde vorhin bereits erwähnt hat, berücksichtigen müssen, inwieweit dieser statistisch ausgewiesene Rückgang wirklich vorhanden ist oder ob er mit einer Abnahme der geleisteten Arbeitsstunden zusammenhängt.Ich will es Ihnen und uns heute, vor allen Dingen bei der „hervorragenden" Besetzung des Hauses, ersparen, große statistische Vergleiche anzustellen. Ich glaube, es wäre auch jetzt bei der Einbringung nicht der richtige Zeitpunkt. Wir werden uns aber bei den Beratungen sehr eingehend damit beschäftigen müssen, welche Schlußfolgerungen wir aus der ersten verkleinerten statistischen Ubersicht ziehen können.Ich möchte auch das noch aufgreifen, was der Herr Parlamentarische Staatssekretär vorhin gesagt hat, als er von den Anregungen, Wünschen und Aufträgen bei der Beratung des letzten Unfallverhütungsberichts sprach. Wir haben seinerzeit im Teil B der Drucksache V/3031 einen ganzen Katalog von Anregungen und Wünschen festgehalten. Im nächsten Unfallverhütungsbericht wird darauf sicherlich in der Kommentierung auch im weiteren Rahmen eingegangen werden. Wir sollten uns aber doch der Mühe unterziehen, jetzt schon bei den Beratungen im Ausschuß Vergleiche anzustellen, Erhebungen durchzuführen, inwieweit diese Wünsche und Anträge in der Vergangenheit Berücksichtigung gefunden haben. Ich hoffe, Herr Staatssekretär Rohde, daß wir für diesen Zweck aus dem Arbeitsministerium die erforderlichen Unterlagen und Materialien in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt bekommen. Ich bin sicher, daß Ihr Haus trotz der Kürze der Zeit bereits sehr eingehende Untersuchungen vorliegen hat.Meine sehr verehrten Damen und Heren, wenn wir — und ich begrüße das — diesen verkürzten Bericht heute der Öffentlichkeit vorstellen, so geschieht es nicht, um ein Zahlenwerk zu präsentieren, sondern sehr viel mehr, um mit großem Nachdruck, mit großem Ernst auf die Gefahren des täglichen Lebens hinzuweisen. Wenn ich sagte, daß wir 2,4 Millionen Arbeits- und Wegeunfälle haben, wenn Sie überlegen, daß diese 2,4 Millionen nicht nur volkswirtschaftlich die enorme Summe von fast 4 Milliarden DM, soweit ausgewiesen und errech-
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Lampersbachnet, ausmachen, sondern daß in sehr vielen Fällen Leiden und sogar der Tod von Menschen dahinterstehen, so mag das Rechtfertigung genug sein, daß wir auch mit diesen statistischen Darstellungen immer wieder und laut und deutlich an die Öffentlichkeit herantreten.Meine Damen und Herren, ich bin mir darüber im klaren, daß bei allem guten Wollen und bei aller Perfektionierung der Einrichtungen und Möglichkeiten — auch die Umbenennung, Herr Kollege Rohde, der „Unfallverhütung" in „Arbeitssicherungsvorgang" wird das sicher nicht beschleunigen können — immer wieder der Mensch primär auf die Gefahren aufmerksam gemacht und hingewiesen werden muß, die ihm durch die Umwelt drohen. Unfallschutz ist insofern sicherlich in allererster Linie eine Aufgabe des einzelnen, ob im Hause, ob auf dem Wege von oder zur Arbeit oder am Arbeitsplatz selbst. Daß wir uns darüber hinaus bemühen sollen und müssen, innerhalb der Betriebe die Einrichtungen zur Steigerung der Arbeitssicherheit zu verstärken, ist eine Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, daß auch die Beratungen und die Beschlußfassung hier in diesem Hause mit dazu beitragen, daß wir in den nächsten Jahren immer wieder feststellen können: Die Tendenz der Unfälle geht erfreulicherweise — wenn auch langsam. so doch stetig — zurück.
Das Wort hat der Herr Kollege Langebeck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist der vierte Bericht, den die Bundesregierung diesem Hohen Hause mit der Drucksache VI/ 183 vorlegt, und es ist die erste Vorlage dieser Bundesregierung, wenngleich der Bericht von der alten Bundesregierung erstellt wurde. Ich bitte deshalb nachzusehen, wenn ich einige kritische Anmerkungen zu diesem Bericht mache.Wenn man den Bericht werten will, muß man davon ausgehen, was eigentlich Sinn und Zweck war, als man der Regierung den Auftrag gab, alljährlich einen Unfallverhütungsbericht vorzulegen. Der zuständige Ausschuß und das Hohe Haus wollen aus diesen immer wiederkehrenden Berichten erkennen, welche Maßnahmen des Gesetzgebers erforderlich sind und wieweit wir die Bundesregierung ermuntern sollten, in dem einen oder anderen Bereich auf dem Wege der Verordnung dazu beizutragen, eine größtmögliche Sicherheit am Arbeitsplatz zu garantieren. Das war der eigentliche Sinn.Wenn es hier um Prämissen geht, dann möchte ich an die Spitze aller Betrachtungen stellen: Uns geht es zunächst — zunächst! — darum, den Menschen gesund zu erhalten und Wunden zu verhüten. Das ist Nummer eins. Selbstverständlich sind auch andere Perspektiven hier in Betracht zu ziehen. Ich denke daran, daß alle Beteiligten in diesem Bereich daran interessiert sind, daß die Kosten und die Belastungen durch die Unfallfolgen möglichst gering gehalten werden.Ich glaube, auch ein verkürzter Bericht — und darüber müssen wir uns im klaren sein — soll einen gewissen Aussagewert haben, damit wir — und das bleibt dem Ausschuß vorbehalten — echt prüfen können, was in der Gegenwart zu tun ist. Ich weise darauf hin, daß wir den vorjährigen Bericht, der größer und umfangreicher war, wegen der Geschäftslage des Ausschusses nicht im einzelnen beraten konnten, und daraus erwächst nun die Verpflichtung, hier etwas mehr zu tun.Ich darf einige kritische Bemerkungen machen. Wenn wir in den Bericht hineinschauen, sehen wir alle recht gut: die Unfallzahlen haben sich wesentlich reduziert, in der gewerblichen Wirtschaft sogar um 17 %, allgemein um 14 %. Aber das, was ich hier kritisiere, ist, daß die Bezugszahlen nicht ganz deutlich werden. Herr Kollege Lampersbach, ich spreche das an, was Sie mit der rückläufigen Entwicklung in diesem Jahr, in dem Berichtsjahr hinsichtlich der Arbeitsstunden meinten. Erst dann, wenn ich die Bezugszahlen kenne, komme ich zu einem Ergebnis. Ich meine, das macht der Bericht nicht hinreichend deutlich. Wenn wir das nicht genau untersuchen, kommen wir unter Umständen zu falschen Erkenntnissen.
— Selbstverständlich, Herr Kollege Lampersbach. Ich bin mit Ihnen vollkommen einig, und darüber werde ich noch einiges sagen.Ich habe in dieser Richtung aus meiner beruflichen Tätigkeit einige Erfahrungen. Ich stelle mir nun vor, was derjenige sagen wird, der unmittelbar in diesem Geschehen steht. Da gibt es schon die Unfallbeauftragten, da gibt es Betriebsräte, die sich mit diesen Fragen beschäftigen. Wenn man nun hinsichtlich der Arbeitssicherheit etwas sagt, dann werden uns die, die für die Sicherheit verantwortlich zeichnen, immer sagen: Ja, unseren Bemühungen stehen aber andere Faktoren entgegen. Und dann heißt es in der Sprache derer, die dort beschäftigt sind: Der „Terminjäger" und diejenigen, die für den erhöhten Produktionsausstoß mitverantwortlich sind, stehen unseren Bemühungen manches Mal sehr entscheidend entgegen. Das wird ja häufig in den Betrieben festzustellen sein; darüber gibt es keinen Zweifel. Ich habe bei der Beratung unseres Unfallneuregelungsgesetzes auch selbst solche Gespräche geführt.Aber was ich deutlich machen wollte, ist, daß sich — der Herr Parlamentarische Staatssekretär hat darauf hingewiesen.— bei diesem Unfallbericht das Jahr 1967, das Jahr der Rezession, deutlich bemerkbar macht. Wer darüber einen Zweifel hat, mag nur einen Einblick in bereits bekanntgewordene Zahlen der Arbeits- und Sozialstatistik 1968/69 nehmen; dann wird die Entwicklung wieder deutlicher. Wir haben Anlaß, diese Zahlen, die uns hier gegeben wurden, sehr vorsichtig zu behandeln.Ich möchte ein weiteres Beispiel geben; dies sind alles nur einige Punkte, wo ich einfach nicht zufrieden bin. Wir haben mit dem Unfallneuregelungsgesetz die Bestellung von Sicherheitsbeauftragten vorgesehen. Wenn wir jetzt die Zahl aus dem
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LangebeckBericht nehmen, stellen wir fest, daß 15 000 Betriebe in der Bundesrepublik noch keinen Sicherheitsbeauftragten bestellt haben. Die Ursache weiß ich nicht; das wird nicht gesagt. Sicher gibt der § 719 eine Möglichkeit, daß die Berufsgenossenschaften die Zahl von 20 Beschäftigten erhöhen können, wenn das Unfallrisiko geringer ist. Aber ich kann nicht sagen, woher es kommt, daß in 15 000 Betrieben Sicherheitsbeauftragte fehlen. Welches sind die Ursachen? Hängt das möglicherweise damit zusammen, daß das Angebot auch von Beauftragten nicht groß genug ist oder daß die Schulungen nicht ausreichen, weil es sich überwiegend um Halbtagsschulen handelt? Auch hier hätte der Bericht nach meinem Dafürhalten mehr aussagen können.Nun zur Frage, wie es mit den Sicherheitsingenieuren ist; wir haben diese Frage bei allen Beratungen behandelt. Ich glaube, hier muß man einige Betrachtungen unter Berücksichtigung dessen, was wir von den Sachverständigen im Juni 1967 gehört haben, anstellen. Welche Vorbildung ist für den Sicherheitsingenieur nötig, gerade hinsichtlich des Unfallgeschehens? Da kann es sicherlich nicht richtig sein, daß Ingenieure, die ihrem eigentlichen Auftrag im Betrieb meinetwegen auf Grund hohen Alters oder sonstiger Umstände nicht mehr nachkommen, nun zu Sicherheitsingenieuren gemacht werden. Das würde der Sache, die wir hier verfolgen, nicht entsprechen.Eine andere Frage: Ist die Tätigkeit dieser Leute — und hier meine ich zunächst die Sicherheitsingenieure — auch lukrativ? In welchem Verhältnis I steht ihr Einkommen zu dem ihres Kollegen am anderen Arbeitsplatz? Das zu hören wäre auch einmal ganz interessant. — Ähnliche Untersuchungen müßten wir über die Werksärzte anstellen, auch hinsichtlich der Ausbildung der Werksärzte als Arbeitsmediziner. Was ist dort geschehen?Meine Damen und Herren, ich glaube, die Details bleiben zur Beratung dem Ausschuß vorbehalten, und dennoch möchte ich auf das Sachverständigengutachten noch einmal kurz hinweisen. In einem Großbetrieb ist es, wenn man den Arbeitsschutz so günstig wie möglich gestalten will, sicherlich sinnvoll, daß die Ingenieure, die Ärzte, die Techniker, die Meister und die Unfallbeauftragten zusammenarbeiten. Hier würde ich empfehlen, daß der Ausschuß einmal erwägt, einen Betrieb aufzusuchen, der das Zusammenwirken dieser dafür bestimmten Gruppen mustergültig gestaltet hat. Daraus ergäben sich dann vielleicht auch einige gute Anregungen für uns in der Gesetzgebung.
Wir würden darum bitten, daß man irgend etwas dieser Art anstellt.Nun ganz kurz zur Unfallforschung, die hier angesprochen ist. Mir ist das Gesagte nach dem Anliegen, das wir wiederholt vorgetragen haben, einfach zu dünn. Das gilt für die Aufträge, die hier erteilt wurden, und das gilt vor allem für das Ergebnis.Ich möchte noch eine Anregung geben, mit der wir uns im Ausschuß noch beschäftigen sollten. Bestünde nicht die Möglichkeit, durch eine für das ganzeBundesgebiet einheitliche Unfallanzeige dieses Gebiet unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeiten der Datenverarbeitung überschaubar zu machen? Kommen wir dann nicht zu einem Ergebnis, das uns in dieser Frage behilflich sein kann?
Das sind Anregungen, die ich machen möchte.Etwas über die Kosten! Kollege Lampersbach, Sie sind darauf eingegangen. Wir haben 3,8 Milliarden DM Ausgaben der Berufsgenossenschaften, und wir haben 77 Millionen DM für die Unfallverhütung. Ich halte diese Darstellung zu diesem Problem nicht für aufschlußreich. Wir haben wiederholt davon gesprodien. Zunächst möchte ich die Bundesregierung ermutigen, mit den Rentenversicherungsträgern, mit den Krankenversicherungsträgern nun die Verhandlungen über die Frage abzuschließen, wieweit ihre Kosten hier mit zuzurechnen sind, soweit sie unfallbedingt sind. Dann erst bekommen wir das richtige Bild und die richtigen Relationen. Dabei gebe ich zu: Wir sollten versuchen, auch jene Kosten mit aufzuführen, die für den Arbeitsschutz nicht von den Berufsgenossenschaften, sondern individuell von den Betrieben gegeben werden. Auch das gehört dazu, damit wir hier das gute Gewicht bekommen.Nun etwas über die Aufsichtsbehörden! Ich weiß, daß die Bundeszuständigkeit fehlt. Hier sind die Länder zuständig. Den Ländern sind die Gewerbeaufsichtsämter unterstellt. Aber schauen wir uns die Statistik an! Sie befriedigt nicht ganz. Wir haben jetzt über einige Jahre 68 Gewerbeärzte. Und womit werden die Gewerbeärzte überwiegend beschäftigt? — Als Gutachter, wenn es um Streitigkeiten in der Unfallversicherung geht. Ich glaube, hier kann einiges getan werden; ich will das nur als Anregung sagen.Nun aus meinen Erfahrungen einige persönliche Anregungen: Wir wissen, daß sich in unserer Zeit die Arbeitswelt völlig verändert hat. Aber auch das Krankheitsbild der Menschen hat sich entscheidend verändert. Früher war es der Verschleiß der Arbeitskraft durch physische Überbelastung, heute sind es Überbelastungen, die psychischer Art sind. Das müssen wir ganz deutlich sehen. Durch diese psychischen Ausfallerscheinungen wird aber auch das Unfallgeschehen beeinflußt. Wir kommen auf die Dauer nicht damit aus, zu sagen: Unfallursache ist menschliches Versagen. Da muß ich wiederum fragen: Was ist denn die Ursache des menschlichen Versagens? Da gibt es sicherlich einige Perspektiven.Wir werden zum 'Beispiel, wenn es sich um psychische Ausfallerscheinungen handelt, nicht aus dem Betrieb herausgehen können, um festzustellen, welche Spannungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen außerhalb des Arbeitsplatzes vorliegen, sondern wir sollten versuchen, die Spannungsfelder festzustellen, die sich innerhalb der Arbeitswelt ergeben, und auch dem Werksarzt, der in dieser Richtung einige Fachkenntnisse besitzen sollte, Ratschläge zu geben. Ich glaube, das wäre das große, weite Feld der Arbeitspsychologie auch im Hinblick auf dieses Unfallgeschehen.
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LangebeckHerr Staatssekretär, Sie haben hier einiges angekündigt. Wir sind Ihnen äußerst dankbar, daß Sie an dieses Problem umfassender herangehen wollen. Ich darf Ihnen versichern: Die sozialdemokratischen Mitglieder des Sozialpolitischen Ausschusses und der ganzen Fraktion werden sich ganz aktiv einschalten, damit wir in dieser Richtung ein Stück weiterkommen.Hinsichtlich des Berichts habe ich einige kritische Anmerkungen gemacht. Ich möchte es nicht versäumen, den Beamten des Bundesarbeitsministeriums für die Erstellung dieses Berichts zu danken, ebenso den Beamten der Berufsgenossenschaften und der Sicherheitsbehörden. Wir werden sicherlich einige gute Anhaltspunkte haben. Für das Arbeitsministerium darf ich einen besonderen Dank Frau Dr. Wendland aussprechen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Kollege Geldner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir begrüßen es, daß im Zusammenhang mit dem Unfallverhütungsbericht Herr Staatssekretär Rohde in seinen Ausführungen kundgetan hat, er wolle die Unfallursachenforschung und damit auch die Unfallverhütung in Zukunft forciert vorantreiben. Wenn wir aber den Bericht etwas analysieren, können wir eine gewisse unterschiedliche Entwicklungstendenz feststellen: einmal einen erfreulichen Rückgang der Arbeitsunfälle einschließlich der Wegeunfälle im gewerblichen Bereich, zum anderen eine etwas unerfreuliche Entwicklung in der Landwirtschaft. Wir müssen alles daransetzen, auch im Bereich der Landwirtschaft die Unfälle weiter zu reduzieren.
Die Entwicklung der Kosten, die insgesamt durch Unfälle verursacht werden, kann bisher leider nur unvollständig erfaßt werden, wie aus dem Bericht auf Seite 20 zu ersehen ist. Der Bericht bezieht sich daher im wesentlichen auf die Ausgaben, die bei der gesetzlichen Unfallversicherung angefallen sind.
Wir . Freien Demokraten begrüßen die Ankündigung der Bundesregierung, daß in Zukunft das Material über die Kosten, die darüber hinaus betrieblich und volkswirtschaftlich entstehen, zusammengestellt und in den Bericht aufgenommen werden soll.
Die Ubersicht im Teil D läßt erkennen, daß die Bemühungen der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und Unfallverhütung weiter forciert werden. Es ist zu hoffen, daß diese Bemühungen zu weiteren positiven Ergebnissen in der Unfallverhütung führen werden.
Besonders auffallend ist die Steigerung der Berufskrankheiten bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und der Eigenunfallversicherung um 40,8 bzw. 22,4 %. In den Ausschußberatungen werden wir uns mit dem Problem der Bekämpfung der Berufskrankheiten sehr intensiv befassen müssen.
Die Zahlen und das Schaubild zu den Unfällen und Erkrankungen, die die Zahlung einer Rente, einer Abfindung oder eines Sterbegeldes zur Folge haben, lassen eine gewisse unklare Tendenz erkennen. Einmal wird nämlich darauf hingewiesen, daß dies nur 4,3 % der erstmals entschädigten Unfälle seien. Gleichzeitig werden wir jedoch mit dem Vorjahresanteil, der bei 3,9 % liegt, darauf aufmerksam gemacht, daß es leider nicht möglich war, die schweren Unfälle im gleichen Maße zu reduzieren wie die leichteren. Betrachtet man das Schaubild 3, so läßt sich zumindest ab 1965 für alle ausgewiesenen Bereiche eine fallende Tendenz der Fallzahl je tausend Vollarbeiter in der graphischen Darstellung beobachten. In den Ausschußberatungen werden wir diesem Sektor unser besonderes Augenmerk widmen müssen, weil gerade hier nicht nur der Kostenanteil der Unfälle der höchste ist, sondern auch für den einzelnen Unfallgeschädigten bzw. seine Angehörigen die schlimmsten Folgen zu registrieren sind.
Ich komme zum Schluß. Der Bericht beschränkt sich bewußt auf eine Zusammenfassung von Einzelberichten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und der Arbeitsschutzbehörden. Die weiteren Ausschußberatungen werden zeigen, in welchen Bereichen weitere Schritte zu unternehmen sein werden — abgesehen von den angekündigten und laufenden Vorhaben —, um das Schadensausmaß bei den Betroffenen in Zukunft weiter zu reduzieren. Das muß unser aller Anliegen sein. Wir müssen in den zukünftigen Ausschußberatungen alles daransetzen, die Unfälle zu reduzieren und das Los der Geschädigten zu verbessern.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Unfallverhütungsbericht 1967 dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. — Keine anderen Anträge. — Es ist so beschlossen.
Wir stehen damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Plenarsitzung auf Dienstag, 17. Februar 1970, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.