Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat mit Schreiben vom 12. November 1968 mitgeteilt, daß gegen die nachstehende, vom Rat veroffentlichte Verordnung vom Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und von dem mitbeteiligten Haushaltsausschuß Bedenken nicht erhoben werden:
Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rats zur neuen Änderung der Verordnung Nr. 120/67 über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide, insbesondere hinsichtlich der für Italien vorgesehenen besonderen Maßnahmen
V— Drucksache V/3270 —
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen hat mit Schreiben vom 8. November 1968 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Majonica, Dr. Mommer und Genossen betr. Unterstützung der Bundesregierung für das Aktionsprogramm der Europäischen Kommission anläßlich der Verwirklichung der Zollunion am 1. Juli 1968 — Drucksache V/3413 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V/3499 verteilt.
Wir beginnen mit der
Fragestunde
— Drucksachen V/3471, zu V/3471 —
Metadaten/Kopzeile:
10544 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10545
Herr Moersch, Sie müssen sich auch an die Ordnung der Fragestunde halten. — Frau Geisendörfer!
Herr Bundesminister, darf ich unterstellen, daß die von Ihnen erwähnte Klausurtagung so frühzeitig stattfindet, daß bis dahin alle Entscheidungen über die künftigen Entwicklungslinien der Reaktoren noch offen sind und nicht etwa schon in irgendeiner Weise eine De-facto-Vorentscheidung getroffen ist?
Metadaten/Kopzeile:
10546 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Die endgültige Entscheidung des Ministeriums bleibt offen. Wir haben im Augenblick ein Verfahren gewählt, das den Fortgang laufender Arbeiten an der Dampfbrüterentwicklung ermöglicht, aber wesentliche neue Investitionsentscheidungen zurückgestellt. Insoweit kann ich Ihnen diese Zusage geben.
Noch einmal Frau Geisendörfer.
Herr Minister, darf ich ferner unterstellen, daß auf dieser Klausurtagung auch die Vorwürfe, die soeben erhoben worden sind — über falsche Information —, sachlich noch einmal geklärt werden können?
Ich bin gern dazu bereit.
Herr Blumenfeld!
Herr Minister, haben Sie nicht auch den Eindruck gewonnen, daß diese Fragestunde und die Fragen des Herrn Kollegen Moersch konstruktiver hätten gestaltet werden können, wenn er sich umfassender informiert hätte, vor allen Dingen auch bei denjenigen, die er kritisiert?
Es steht mir nicht zu, die Fragen des Kollegen Moersch zu bewerten.
Die Frage wird überhaupt nicht zugelassen.
Damit sind die Fragen des Abg. Moersch erledigt. Ich rufe die Fragen 134 bis 136 der Frau Abgeordneten Dr. Maxsein auf.
Mit Bezug auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage betr. europäische Integration auf dem Gebiete der Raumfahrt — Drucksache V/3004 —, in der sie erklärt, sie sei grundsätzlich gewillt, die Vorschläge für ein europäisches Raumfahrtprogramm nur mit den europäischen Ländern zu realisieren, die dazu bereit seien, frage ich, ob die Bundesregierung Anhaltspunkte dafür hat, daß sich ein Kreis solcher europäischer Staaten zusammenfindet.
Mit Bezug auf die Antwort der Bundesregierung auf die Frage 3 der Kleinen Anfrage — Drucksache V/3004 —, sie sei bereit, unter „annehmbaren Bedingungen" mit außereuropäischen Staaten zusammenzuarbeiten, frage ich, ob schon konkrete Vorstellungen bestehen, welche außereuropäischen Staaten in den Überlegungen der Bundesregierung eine Rolle spielen.
Im Hinblick auf die offizielle Erklärung der britischen Regierung, daß Großbritannien nur bis zum Abschluß des ELDOProgramms an der Entwicklung einer europäischen Trägerrakete teilnehmen wolle, frage ich, wie die Bundesregierung unter diesen Umständen den Vorschlag des britischen Premierministers bewertet, im Hinblick auf den Eintritt in die EWG ein europäisches technologisches Zentrum unter Beteiligung des Vereinigten Königreiches zu errichten, nachdem sie weiß, daß die Briten die Errichtung von ELDO und den Beitritt der übrigen westeuropäischen Staaten hierzu mit ähnlichen Zusagen auf technologischem Gebiet empfahlen und daß Großbritannien eine Fortsetzung eben dieser Trägerraketenentwicklung sowie die Realisierung eines europäischen Nachrichtensatellitensystems bereits abgelehnt hat.
Frau Dr. Maxsein ist mit schriftlicher Beantwortung einverstanden. Die Antwort des Bundesministers Dr. Stoltenberg vom 15. November 1968 lautet:
Die ELDO-Ministerkonferenz vom 11. 11. 1968 in Bonn und die 3. Europäische Weltraumkonferenz haben ergeben, daß sich für jeden der drei wesentlichen Bereiche der Weltraumforschung — Entwicklung von Trägerraketen, von wissenschaftlichen Satelliten und Nutzsatelliten — ein Kreis von Staaten zusammenfindet, die an der Durchführung entsprechender Programme interessiert sind. Die Bundesregierung tritt für ein ausgewogenes europäisches Gesamtprogramm ein, das sowohl Trägerraketen als auch wissenschaftliche Satelliten und Nutzsatelliten umfaßt. Sie ist bereit, mit den jeweils daran interessierten Staaten zusammenzuarbeiten.
In der ELDO-Ministerkonferenz vom 11. 11. 1968 ist die Mehrheit der Mitgliedstaaten übereingekommen, durch Studien und Experimentalarbeiten ein Zukunftsprogramm für Trägerraketen vorzubereiten. Die Frage einer Zusammenarbeit mit außereuropäischen Staaten — in Betracht kämen die USA — wird in diesem Rahmen zu prüfen sein.
Während Großbritannien auf dem Weltraumgebiet, insbesondere in der ELDO, aber z. B. auch auf dem Kerngebiet bei CERN, der weiteren Zusammenarbeit zurückhaltend gegenübersteht, werden von britischer Seite den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften verschiedene Vorschläge für eine umfassende Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung, darunter auch die Errichtung eines technologischen Zentrums unterbreitet Die Fortsetzung der Zusammenarbeit auf bestimmten Gebieten der Forschung und Entwicklung wird mit Wirtschaftlichkeitserwägungen abgelehnt; insoweit ist es konsequent, ein Technologiezentrum vorzuschlagen, das mit Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen beginnen soll, um auf Grund von wirtschaftlichen Analysen die erforderlichen Projekte und Maßnahmen vorzuschlagen. Trotz dieser konsequenten wirtschaftlichen Begründung für die Ablehnung bestehender Zusammenarbeit und dem Beginn einer neuen Zusammenarbeit deutet das politisch widersprüchliche Verhalten darauf hin, daß neben der wirtschaftlichen Begründung außenpolitsche Gesichtspunkte das Verhalten Großbritanniens wesentlich mitbestimmen.
Der britische Vorschlag, ein Technologiezentrum zu errichten,
- wird von deutscher Seite aus politischen und sachlichen Gründen mit Zurückhaltung betrachtet. Die politischen Gründe beziehen sich insbesondere auf die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften geführten Erörterungen, die durch Verhandlungen über den britischen Vorschlag nicht gestört werden sollten. Ob der britische Vorschlag inhaltlich geeignet ist, über die gegenwärtige Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung wesentlich hinauszuführen, bedarf nach Konkretisierung von britischer Seite sorgfältiger und eingehender Prüfung; die deutsche Industrie steht dem Vorschlag zurückhaltend gegenüber. Diese Zurückhaltung, die auch von den Industrien anderer Staaten geteilt zu werden scheint, hat die britische Regierung veranlaßt, die Conföderation der britischen Industrie zu beauftragen, mit ihren europäischen Partnern den Vorschlag eingehend zu erörtern.
Frage 137 des Abgeordneten Unertl:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß im Hinblick auf die technologische Entwicklung der Raumfahrt in den europäischen Ländern ein koordiniertes Entwicklungsprogramm für Trägerraketen und Nachrichtensatelliten dringend erforderlich ist?
Die Bundesregierung tritt nach wie vor für die Verwirklichung eines kombinierten und ausgewogenen europäischen Weltraumprogramms nicht nur im Bereich der Trägerraketen-und Nutzsatellitenentwicklung, sondern in allen wesentlichen Bereichen der Weltraumforschung unter Einschluß auch eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms ein. Die Bundesregierung setzt sich deshalb neben der Fortführung eines wissenschaftlichen Satellitenprogramms für die Inangriffnahme eines koordinierten Entwicklungsprogramms für Trägerraketen und Nachrichtensatelliten ein.
Keine Zusatzfrage mehr. Frage 138 des Abgeordneten Unertl:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussichten dafür, daß ein solches Programm auf der europäischen Raumfahrtkonferenz vom 12. bis 14. November 1968 in Bonn beschlossen wird?
Ich darf, da die Weltraumkonferenz gestern beendet wurde, kurz etwas über
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10547
Bundesminister Dr. Stoltenbergihr Ergebnis sagen. In der ELDO-Ministerkonferenz vom 11. November 1968, die der 3. Europäischen Weltraumkonferenz vorausging, haben Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Italien, das seine Zustimmung ad referendum gegeben hat, beschlossen, das derzeitige ELDO-Programm für die Europa I und II bis zum erfolgreichen Abschluß fortzusetzen und ein künftiges Entwicklungsprogramm durch Studium und Experimentalarbeiten vorzubereiten. In der 3. Europäischen Weltraumkonferenz hat die Bundesregierung sich zusammen mit anderen Regierungen für die Durchführung eines Programms für einen experimentellen Fernsehversuchssatelliten der CETS ausgesprochen. Da einige weitere Regierungen jedoch noch keine definitive Stellungnahme über ihre Beteiligung an diesem Projekt abgeben konnten, forderte die Konferenz alle an dem Projekt interessierten Staaten auf, bis zum 1. März 1969 eine endgültige Entscheidung über ihre Beteiligung zu treffen. Eine Regierungskonferenz soll anschließend über die Verwirklichung des Projektes entscheiden.
Frau Geisendörfer!
Herr Minister, könnten Sie uns etwas Näheres über die Ansichten Englands bei der ELDO-Konferenz sagen?
Großbritannien hat seinen uns seit langem bekannten Standpunkt wiederholt, daß es seine gegenwärtigen finanziellen und sachlichen Verpflichtungen für den Abschluß des Programms bejaht, sich jedoch an keinem neuen Programm der Raketenentwicklung zu beteiligen wünscht. Es hat in den übrigen Fragen konstruktiv mitgearbeitet.
Frau Geisendörfer!
Darf ich weiterhin fragen: In Ihrer letzten Antwort, bei der es um die CETS ging. sprachen Sie von „einigen anderen Staaten". Welches sind die anderen Staaten, die da mitgearbeitet haben?
Wir haben alle 13 Delegationen gebeten, ihre Stellungnahme zu diesem Projekt zu sagen. Es haben sieben oder acht Länder ihr grundsätzliches Interesse an diesem Projekt betont, aber einige von ihnen haben gebeten, sich bis zum 1. März endgültig äußern zu können.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann komme ich zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Zur Beantwortung ist Herr Staatssekretär Jahn anwesend. Frage 7 des Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Wir kommen zur Frage 8 des Abgeordneten Peiter:
Welche Gründe veranlaßten die Bundesregierung, der Warschauer National-Philharmonie die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu verwehren?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn Sie die Zustimmung der Herren Kollegen im Hause einholen könnten, die ebenfalls Fragen zu diesem Thema gestellt haben; ich würde gern zu dem gesamten Fragenkomplex im Zusammenhang Stellung nehmen.
Welche Fragen sind das nach Ihrer Meinung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das sind die Fragen der Kollegen Dorn und Dr. Bucher.
Sind die Kollegen einverstanden, daß die Fragen zusammen beantwortet werden? — Ich rufe dann noch die Frage 9 des Abgeordneten Dorn sowie die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Dr. Bucher auf:
Wie ist es möglich, daß das Budapester Rundfunk-Sinfonieorchester am 11. November 1968 in Bad Godesberg konzertieren
kann, während die Konzerte der Warschauer National-Philharmonie am 12. und 14. November 1968 in Bonn und Köln abgesagt werden mußten mit der Begründung, die Bundesregierung habe es zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt, die polnischen Künstler einreisen zu lassen, weil nach einer Empfehlung der NATO alle größeren kulturellen Veranstaltungen mit den Staaten suspendiert werden, die an der Besetzung der CSSR beteiligt waren?
Trifft es zu, daß die Bundesregierung bzw. das Bundesaußenministerium es abgelehnt hat, der Warschauer Philharmonie die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten?
Falls die Frage 10 mit ja beantwortet wird: Welche Gründe waren hierfür maßgebend?
Über die Zusatzfragen werden wir dann genau Buch führen müssen. — Bitte, Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kulturpolitik ist ein Teil unserer Gesamtpolitik. Nach dem Einmarsch der fünf Interventen in die Tschechoslowakei hat die Bundesregierung erklärt, daß sie ihre Politik des Angebots zur Verbesserung der Beziehungen mit Osteuropa aufrechterhalten werde. Sie hat dazu die erklärte Zustimmung des Deutschen Bundestages erhalten. Diese Haltung hat die Bundesregierung nicht daran gehindert, zu überprüfen, welche militärischen Konsequenzen sich aus der Besetzung der CSSR für die Bundesrepublik und das Bündnis ergeben. Ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen dieser Politik des Angebots und etwa dem anderen Beschluß der Bundesregierung, beispielsweise die Entscheidung über ein Zusammentreffen der Minister Schiller und Sölle aufzuschieben. Dieser Beschluß des Aufschubs bedeutet eben gerade nicht eine Änderung unserer Politik, sondern eine angemessene Reaktion auf eine aktuelle Lage.Dies gilt entsprechend für die Kulturpolitik. Auch hier handelt es sich nicht um eine Änderung unserer
Metadaten/Kopzeile:
10548 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Parlamentarischer Staatssekretär JahnPolitik, den kulturellen Austausch mit allen Völkern zu verstärken. Es ist auch hier kein Widerspruch, wenn die Bundesregierung die Gastspielreise der Warschauer Nationalphilharmonie als derzeit für nicht opportun erklärt und daher Einreisevisa nicht erteilt hat.Ich füge ein Wort des Bedauerns hinzu. Wir haben dies nicht gern getan. Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen. Sie ist auch nicht leichtfertig getroffen worden. Aber schließlich ist auch die Besetzung der Tschechoslowakei kein Kavaliersdelikt.Die Mitglieder des nordatlantischen Bündnisses haben sich auch über nichtmilitärische Reaktionen auf die Besetzung konsultiert. Dabei kam es zu der Empfehlung, Kulturvorhaben mit Interventionsstaaten zu suspendieren. So hat, um nur einige Beispiele zu nennen, Italien die in Rom und Mailand geplanten Gastspiele des Bolschoi-Balletts sowie ein in Budapest vorgesehenes Auftreten der Oper Bologna abgesagt. Die USA haben nicht nur die Tourneen zweier größerer Orchester in die Sowjetunion abgesagt, sondern auch einer Reihe polnischer Ensembles die Einreisevisa verweigert. Norwegen hat sogar seinen Wissenschaftler- und Künstleraustausch mit den Okkupantenstaaten bis auf weiteres unterbrochen.Selbstverständlich ist nicht der gesamte Kulturaustausch mit den Okkupantenstaaten eingestellt worden. In Übereinstimmung mit dem Sinn der NATO-Empfehlung ging es nicht um einen generellen Boykott, wohl aber um gezielte Reaktionen auf die Ereignisse des 21. August. Die Bundesregierung hat demgemäß außer der derzeitigen Visaverweigerung für die Warschauer Philharmonie die Bamberger Symphoniker gebeten, ein vorgesehenes Gastspiel in Ungarn zu verschieben.Bei den Entscheidungen wurde nicht außer acht gelassen, daß sich die polnische Presse nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei in besonders gehässiger und unqualifizierter Weise bemüht hat, die Ostpolitik der Bundesregierung zu mißdeuten, und daß man von polnischer Seite einem kleineren polnischen Orchester die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert hat. Der Bundesregierung kam es darauf an, gezielt zu antworten und übersteigerte Reaktionen zu vermeiden. Sie hat daher nach Abstimmung. mit ihren Verbündeten dem Budapester Radio-Symphonieorchester, dessen Tournee auch durch die Schweiz, Frankreich und Belgien führte, die Einreise gestattet.Die getroffenen Entscheidungen spiegeln das Bemühen nach einer ausgewogenen Reaktion wider. Wir wollten der NATO-Empfehlung nicht die Solidarität versagen. Andererseits wünschen wir eine Fortsetzung der Entspannungspolitik, in deren Rahmen dem kulturellen Austausch eine wichtige Funktion zukommt. Was wir aber nicht — und ich sage das mit Nachdruck — wollen, ist, der NATO die Solidarität verweigern und in Osteuropa den Eindruck erwecken, als habe uns die Besetzung der Tschechoslowakei nicht berührt. Wir sind daher gegen zwei spektakuläre kulturelle Ereignisse eingeschritten. Dies ist in diesen Ländern im Sinne einer Reaktion auf die tschechoslowakischen Ereignisse verstanden worden.Ich hoffe, daß wir uns in diesem Hause über zwei Grundsätze einig sind, zwischen denen unsere praktischen Entscheidungen abgewogen werden müssen:Erstens. Kulturpolitik ist nicht der Lückenbüßer, wenn die Maßnahmen auf anderen Gebieten begrenzt sind.Zweitens. Auch die Kulturpolitik ist von dieser Welt und kann in diesem Falle nicht so tun, als ob es die Besetzung der Tschechoslowakei überhaupt nicht gegeben hätte.Die Bundesregierung wünscht jedenfalls, daß die kulturellen Beziehungen in beiden Richtungen weiterentwickelt und gepflegt werden können.
Das war beinahe eine Regierungserklärung.
Erste Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peiter.
Ich bitte die Fragesteller, sich an den Mikrophonen einzufinden, damit ich in der Lage bin, rechtzeitig das Wort zu erteilen.
Bitte, Herr Peiter!
Herr Staatssekretär, falls die Behauptung der Konzertagentur zutrifft, daß das Auswärtige Amt vorher befragt wurde und keine Bedenken gegen dieses Gastspiel geäußert hat: Wer tritt für die finanziellen Ausfälle, die der Agentur entstanden sind, ein?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Peiter, zunächst einmal muß etwas klargestellt werden. Es ist nicht Sache des Auswärtigen Amtes, Bedenken anzumelden oder nicht anzumelden. Wir üben da keine Kontrolle aus, wie es nach dieser Frage erscheinen mag. Das Auswärtige Amt ist gefragt worden, ob es Einreisevisa erteilen werde. Es hat dazu erklärt, daß das nicht verbindlich gesagt werden könne, da die weitere Entwicklung eine endgültige Beurteilung noch nicht zulasse. Ob auf dieser Grundlage Ansprüche mit Aussicht auf Erfolg geltend gemacht werden können, ist dann zu prüfen, wenn solche Ansprüche spezifiziert vorgetragen werden.
Herr Peiter!
Herr Staatssekretär, sind in der Vergangenheit deutschen Orchestern seitens der Ostblockstaaten ähnliche Auflagen gemacht worden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist nicht ganz deutlich, was Sie mit „Auflagen" meinen. Sie meinen, die Einreise ist verweigert worden?
Eben. Ist bundesrepublikanischen Orchestern von seiten der Ostblockstaaten die Einreise verweigert worden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10549
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Leider hat es im Rahmen des Kulturaustausches immer wieder Schwierigkeiten gegeben.
Herr Dorn, bitte!
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß die Bundesregierung bei einer solchen Entscheidung — denken Sie z. B. an die Auswirkungen des Röhrenembargos im Ostblock — schlecht beraten war?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihre Auffassung nicht teilen, Herr Kollege Dorn. Die Bundesregierung hat versucht, in einer schwierigen Situation und auf einem Gebiet, auf dem sie — ich darf das noch einmal betonen — Wert darauf legt, daß der Austausch weitergeht, eine angemessene und abgewogene Entscheidung zu treffen — das heißt nicht: zu generalisieren —, aber auf der anderen Seite auch zu erkennen gegeben, daß sie in diesen Fragen keineswegs bereit sein kann, so zu tun, als sei gar nichts geschehen, und das in Übereinstimmung mit einer ausdrücklichen und klaren Empfehlung der NATO getan hat.
Herr Dorn!
Herr Staatssekretär, teilen Sie nicht meine große Sorge, daß die Entspannungs- oder neue Ostpolitik, wie sie von dem jetzigen Bundesaußenminister immer wieder vorgetragen worden ist, durch die Berufung auf eine NATO-Empfehlung in einer solchen Sache bei der anderen Seite ganz entscheidend an Glaubwürdigkeit verlieren muß?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Form der Sorge teile ich nicht, Herr Kollege Dorn. Ich habe vorhin gesagt, daß die Bundesregierung diese Entscheidung nicht leichten Herzens getroffen hat, und dabei bleibt ,es. Aber wir können uns auf der anderen Seite auch nicht der Einsicht verschließen, daß wir schließlich nicht allein dastehen, sondern daß res hier auch ein Mindestmaß an natürlicher und, wie ich finde, selbstverständlicher Solidarität mit unseren Verbündeten gibt und wir keinen Anlaß haben, uns davon zu distanzieren.
Daß das gelegentlich dazu führt, daß bestimmte grundsätzliche Überlegungen unserer Politik, die ja auch in Übereinstimmung mit den Erwägungen im Rahmen des Bündnisses stehen, in der Praxis nicht ganz frei von Widersprüchen sind, sehen wir auch. Aber an dieser Situation, Herr Kollege Dorn — das möchte ich doch noch einmal in die Erinnerung rufen dürfen —, tragen weder die Bundesrepublik noch ihre Verbündeten irgendeine Schuld.
Herr Bucher!
Herr Staatssekretär, Sie sprachen von der Solidarität. Darf ich Sie nun auf folgende Meldung hinweisen, die am selben Tag wie die Meldung über die Warschauer Philharmonie — hier z. B. in der „Stuttgarter Zeitung" sieben Zeilen darunter — erschien:
Das Preßburger Pantomimentheater ist vor kurzem aufgelöst worden, da mehrere Hauptdarsteller wegen der sowjetischen Invasion in die CSSR nicht mehr in ihr Heimatland zurückgekehrt waren.
Sind Sie bereit, daraus zu entnehmen, daß bei Künstlern die Solidarität mit ihrer Obrigkeit keineswegs immer gegeben ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Bucher, ich habe hier nicht von Solidarität unter Künstlern gesprochen, sondern von der Solidarität der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Partnern im Bündnis. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Herr Bucher!
Wenn ich nun feststelle, daß in diesen Tagen das Warschauer Klavierquintett in Stuttgart auftreten konnte, muß ich doch fragen: Richtet sich die abgewogene Reaktion, wie Sie es ausdrückten, der Bundesregierung eventuell nach der Phonstärke — wobei ich mir zu bemerken erlaube, daß ein Klavierquintett nicht aus fünf Klavierspielern, sondern aus vier Streichern und einem Pianisten besteht —?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Erwägungen dieser Art, Herr Kollege Bucher, haben den Entscheidungen der Bundesregierung nicht zugrunde gelegen.
Herr Raffert!
Herr Staatssekretär, wenn ich davon ausgehen darf, daß das von Ihnen erwähnte kleinere polnische Orchester, das von sich aus seine Tournee abgesagt hat, das Ensemble ist, das die Musikalische Jugend Deutschlands verpflichtet hatte, darf ich Sie dann fragen: Ist dieses Orchester mit seiner Absage nicht dem Erfolg von Versuchen untergeordneter Organe Ihres Hauses zuvorgekommen, die Musikalische Jugend Deutschlands zu veranlassen, von sich aus die Tournee für das Orchester abzusagen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist von solchen Bemühungen nichts bekannt, Herr Kollege Raffert. Dazu hat es mit Sicherheit auch keinen entsprechenden Auftrag gegeben. Wenn Sie konkreten Anlaß zu dieser Frage haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie das gegebenenfalls mir gegenüber persönlich in so deutlicher Form klarstellen könnten, daß ich in der Lage bin, der Frage nachzugehen.
Metadaten/Kopzeile:
10550 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Raffert.
Sie wären also bereit, Herr Staatssekretär, von mir vorgelegte schriftliche Unterlagen für die Begründung meiner Frage in Ihrem Hause zu überprüfen und der Sache weiter nachzugehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Dr. Czaja!
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß die abgewogene Reaktion der Bundesregierung in erster Linie auch Ausdruck einer Solidarität mit den Tschechen und den Slowaken, den Völkern der Tschechoslowakei, ist, denen gegenüber die Menschenrechte verletzt worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist durchaus der Meinung, daß es auch darum geht, gegenüber den Opfern der völkerrechtswidrigen Invasion ein erkennbares Maß an Unterstützung und an Verständnis und Zustimmung zu zeigen.
Herr Dr. Czaja!
Teilen Sie dann die Meinung, daß das im Jahr der Menschenrechte gerade die richtige Reaktion der deutschen Außenpolitik ist, die ja durch die Europäische Menschenrechtskonvention gehalten ist, zur Grundlage ihrer politischen Schritte auch die Wahrung, die Verteidigung und die Achtung der Menschenrechte zu machen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich ist das Gegenstand der Politik der Bundesregierung, Herr Dr. Czaja. Diese Frage gibt aber sicher noch keine hinreichende Auskunft über die Möglichkeiten, wie man in einem konkreten Einzelfall wie etwa demjenigen, um den es hier geht, zu entscheiden hat.
Herr Dr. SchulzeVorberg!
Herr Staatssekretär, wie könnten Sie den Verdacht zerstreuen, daß etwa mangelnde Solidarität der NATO-Staaten in ihren eigentlichen politischen Bereichen hier auf dem Gebiet der Kulturpolitik ersetzt worden ist und daß die Kulturpolitik insoweit eben doch zum Lükkenbüßer gemacht wurde, um andere Reaktionen zu ersetzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt nicht nur
keinen Anlaß, diese Frage so aufzuwerfen, sondern ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, daß es keinen uns bekannten Vorgang gibt, der eine derartige Wertung erforderlich macht.
Herr Dr. SchulzeVorberg!
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Meinung, daß gerade nach dem Einmarsch in die CSSR der kulturelle Austausch zwischen Ost und West helfen könnte, zum menschlichen Verständnis zwischen den Völkern beizutragen? Sind Sie nicht auch der Meinung, daß z. B. der Besuch der Warschauer Philharmonie bei uns dazu beigetragen hätte, daß die öffentliche Meinung Polens ein anderes Urteil über die Bundesrepublik gewinnt, als das leider über propagandistisch gesteuerte Maßnahmen in Polen zur Zeit der Fall ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In der Regel geht die Bundesregierung im Rahmen des Kulturaustausches von Erwartungen in dieser Richtung aus. Man muß aber berücksichtigen — und das gilt gerade in dem von Ihnen zitierten Fall —, daß im Augenblick bei den Partnern des Kulturaustausches, insbesondere bei einem so schwierigen Partner wie Polen, durchaus die Neigung vorhanden ist, umgekehrt eine solche Besuchsreise als eine Bestätigung, als einen Verzicht auf Kritik an der Politik der polnischen Regierung anzusehen und dies nachdrücklich propagandistisch auszuschlachten. Mit dieser Betrachtung kommt man — wie ich glaube — der Problematik auch im einzelnen Falle nicht sehr nahe, sondern man muß sehen, daß beide Möglichkeiten gegeben sind. Die Bundesregierung versucht in der Regel, ohne Rücksicht auf dieses „schmückende Beiwerk" ihren Beitrag zu und ihren Anteil an der möglichen Verstärkung der auswärtigen Kulturbeziehungen gerade mit den osteuropäischen Nachbarn zu sichern. Aber hier ging es um eine besondere Situation, in der auch eine besondere Entscheidung erforderlich war.
Herr Sänger!
Herr Staatssekretär, können Sie die Auffassung vertreten, daß es die Haltung der Bundesregierung ist, politische Demonstrationen auf dem Gebiet der Kulturpolitik nur in einem solchen äußersten Notfall zu betreiben, wie ihn der 21. August 1968 leider darstellt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe versucht, das in meiner ersten zusammenfassenden Antwort, Herr Kollege Sanger, deutlich zu machen. Ich benutze die Gelegenheit gern, das noch einmal zu unterstreichen.
Herr Dorn!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10551
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht die große Gefahr, daß, nachdem die Bundesregierung einmal auf Vorschlag der NATO im wirtschaftlichen Bereich zu Sanktionen schritt, sie sich nunmehr, wenn sie — ebenfalls auf Empfehlung der NATO — zu kulturellen Sanktionen schreitet, in eine äußerst gefährliche Situation begibt, wenn wir daran denken, daß z. B. auf einem sportlichen Sektor eines Tages ähnliche Sanktionen folgen könnten, daß, wenn die Bundesregierung konsequenterweise NATO-Empfehlungen so interpretiert, zum Schluß sogar noch die Olympischen Spiele in München gefährdet werden könnten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst würde ich, Herr Kollege Dorn, nicht jede Gefahr gleich als große Gefahr bezeichnen wollen. Im ü9rigen ist ja gerade in dieser Frage die Bundesregierung darum bemüht gewesen und wird das auch in Zukunft bleiben, eine abgewogene Entscheidung aus ihrer. eigenen Verantwortung zu treffen. Eine abgewogene Entscheidung heißt, auf der einen Seite sowohl den politischen und außenpolitischen Notwendigkeiten und ihren Zielen gerecht zu werden — ihren eigenen Zielen meine ich damit — und auf der anderen Seite auch das Mindestmaß an Solidarität innerhalb des Bündnisses zu wahren. Ich muß sagen: dieses Maß an Solidarität, das wir innerhalb des Bündnisses üben wollen und, wie ich finde, auch üben sollten, sollte nicht zum Vorwand genommen werden, der Bundesregierung zu unterstellen, daß sie bereit sei, kritiklos und ohne eigene Verantwortung in schwierigen Fragen zu entscheiden. Dieses behält sich diese Regierung ausdrücklich vor.
Herr Dorn!
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung — da Sie das Wort „Solidarität der Bündnispartner" immer so in -den Vordergrund stellen —, daß die Solidarität des Bündnisses gefährdet worden wäre, wenn die Bundesrepublik durch die Warschauer Symphoniker musikalisch betreut worden wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann nicht anerkennen, Herr Kollege Dorn — bei allem Respekt —, daß die Frage so richtig gestellt ist. Sie können das Problem nur im Gesamtzusammenhang sehen. Ich habe versucht, das deutlich zu machen. Ich habe mich insofern nicht zu berichtigen.
Vizepräsident Schoettle: Herr Peiter!
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß in Ihrem Hause Überlegungen angestellt worden waren, auch dem Budapester Orchester die Einreise zu verweigern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Peiter, in jedem einzelnen Falle mußte sorgfältig geprüft werden, wie wir uns entscheiden.
Herr Peiter!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wenn ich mir überlege, daß Sie vorhin sagten, der Einzelfall müsse abgewogen werden, oder, Sie müßten gezielt antworten: Welche Gründe waren maßgebend, dem Budapester Orchester die Einreise zu gestatten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe vorhin in meiner ersten Antwort darauf hingewiesen, daß wir versucht haben, in beiden Fällen auf Grund der tatsächlichen Lage zu entscheiden. Dazu gehörte insbesondere bei der Erteilung von Visen für das ungarische Orchester die Tatsache, daß es sich in diesem Falle nicht um eine einzelne Reise nur in die Bundesrepublik handelte, sondern um eine Reise, die eine Tournee durch mehrere europäische Länder sein soll. Deshalb sind wir eben in Abstimmung mit den übrigen beteiligten Verbündeten zu einer übereinstimmenden Entscheidung gekommen. Der Fall lag also auch von daher anders als die geplante Reise des Warschauer Symphonieorchesters.
Damit sind diese Fragen, glaube ich, ausreichend beantwortet.
Wir kommen zu der Frage 12 des Abgeordneten Schlager:
Trifft es zu, daß der deutsche Generalkonsul in San Franzisko und der deutsche Wirtschaftsattaché an der Deutschen Botschaft in Washington einem bedeutenden amerikanischen Elektrounternehmen mit dem angeblichen Hinweis, „in ganz Bayern gebe es keine Arbeitslosen mehr", abgeraten haben, in Bayern ein Zweigwerk zu errichten, obwohl die betreffende Firma auch bereit sein soll, sich im Zonenrandgebiet oder im östlichen bayerischen Grenzraum niederzulassen?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Das gleiche gilt für die Fragen 13, 14 und 15 des Abgeordneten Dr. Müller-Emmert:
Wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß der polnischen Boxstaffel von „Legia Warschau" die für die Austragung von Wettkämpfen gegen den mittelrheinischen Amateurboxverband am 6. Dezember 1968 in Köln und am 8. Dezember 1968 in Bonn erforderlichen Einreisevisa erteilt werden?
Nach welchen Gesichtspunkten beurteilt die Bundesregierung die Visaerteilung für Sportler aus Ostblockstaaten, die zu sportlichen Veranstaltungen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen?
In welchem Umfang ist die Bundesregierung künftig bereit, die Sportbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Ostblockstaaten zu fördern?
Auch hier liegt eine Antwort noch nicht vor. Sie wird nach Eingang ebenfalls im Sitzungsbericht abgedruckt.
Wir kommen damit zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung ist der Herr Bundesminister Benda anwesend.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte um Ent-
Metadaten/Kopzeile:
10552 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Parlamentarischer Staatssekretär Jahnschuldigung, Herr Präsident; ich habe noch die Frage von Herrn Schlager zu beantworten.
Alle Fragen, die ich genannt habe, werden schriftlich beantwortet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Uns ist das nicht mitgeteilt worden.
Aber mir ist es mitgeteilt worden; deshalb verfahre ich so.
Ich rufe die Fragen 16 und 17 des Herrn Abgeordneten Porsch auf:
Wie viele Soziologen wurden in den Jahren 1965/66 und 196? innerhalb der Aufgabenbereiche der Bundesministerien und der ihnen unterstellten Bundesdienststellen eingestellt?
Wie verteilen sich dieselben auf die Dienstbereiche der verschiedenen Ministerien?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister des Innern.
Wenn der Herr Kollege Porsch einverstanden ist, würde ich gern beide Fragen zusammen beantworten, Herr Präsident.
Der Fragesteller ist einverstanden.
In der Bundesverwaltung wird keine Statistik darüber geführt, wie viele Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe in einem bestimmten Zeitabschnitt bei den einzelnen Bundesdienststellen eingestellt wurden, weil die dafür erforderlichen Erhebungen einen beträchtlichen Arbeitsmehraufwand notwendig machen und nicht unbedeutende Kosten verursachen würden. Ich muß daher leider sagen, daß mir keine Unterlagen über die Zahl der in den Jahren 1965 bis 1967 in den Bundesdienst eingestellten Soziologen zur Verfügung stehen, auch nicht Unterlagen über die Frage, wie sich die Angehörigen dieser Berufsgruppe auf die einzelnen Geschäftsbereiche verteilen. Das entsprechende Zahlenmaterial müßte erst durch eine detaillierte, daher auch längere Zeit in Anspruch nehmende Umfrage bei den Bundesministerien und den ihnen nachgeordneten oder ihrer Aufsicht unterstehenden Behörden beschafft werden. Ich bedaure, eine andere Antwort nicht geben zu können, Herr Kollege.
Herr Porsch!
Herr Minister, sind Sie vielleicht bereit, mir in einem notwendigen Zeitraum von einigen Wochen persönlich eine Antwort zu geben, damit man sich einen Überblick machen kann, wieviel ungefähr verwendet werden?
Herr Kollege Porsch, offen gesagt würde ich darum bitten, daß wir vielleicht gemeinsam noch einmal überlegen, ob der wirklich erhebliche Zeit- und Kostenaufwand für eine solche Feststellung in einem angemessenen Verhältnis zu dem sachlichen Ergebnis einer solchen Erhebung steht.
Sollten Sie trotz der Bedenken, die ich hiermit angedeutet haben wollte, auf Ihrem Wunsch bestehen, werde ich das veranlassen. Aber ich bitte Sie -ich bin gern bereit, darüber einmal mit Ihnen zu sprechen —, selbst mit zu prüfen, ob wir hier nicht in ein Mißverhältnis von Aufwand und Ertrag geraten.
Herr Minister, Sie sind doch sicher mit mir der Meinung, daß es unter diesen Studenten — es sind ja einige Tausende in der Bundesrepublik — eine berechtigte Unruhe gibt, wenn sie plötzlich feststellen, daß für sie nirgends berufliche Verwendung ist.
Dies, Herr Kollege Porsch, ist eine allgemeinere Frage, die über die mit dem Dienst in der Bundesverwaltung zusammenhängenden Probleme natürlich weit hinausgeht. Es ist eine Frage, die im Bereich der Bildungsplanung natürlich mit zu erörtern und zu prüfen ist, und dies geschieht auch. Ich hoffe, daß man in diesem weiteren Rahmen die Sie interessierende Frage in absehbarer Zeit auch wird beantworten können.
Keine weiteren Fragen mehr.
Ich rufe die Fragen 18, 19 und 20 auf, die der Abgeordnete Miessner stellt. Können die Fragen zusammen beantwortet werden?
— Dann rufe ich die Fragen 18 und 19 auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die bisherige Sonderzuwendung von 1/3-Monatsgehalt ins Dezember an die Beamten des Bundes noch in diesem Jahr zu erhöhen?
Ist — im Falle der Bejahung der Frage 18 — sichergestellt, daß die Auszahlung der Erhöhung noch mit den Dezemberbezügen dieses Jahres erfolgt?
Herr Minister, bitte!
Die Bundesregierung hat sorgfältig die Möglichkeit geprüft, ob auch für die Beamten, Richter und Soldaten und für die Versorgungsempfänger des Bundes im Jahre 1968 die Zuwendung von 331/3 auf 40% erhöht werden kann. Zum Bedauern der Bundesregierung hat diese Prüfung ergeben, daß die hierfür erforderlichen Mittel, etwa 73 Millionen DM, nicht zur Verfügung stehen. Unter Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Ansätze des Haushalts 1968 kann für eine Erhöhung der Zuwendung nur über einen Betrag von 35 bis 40 Millionen DM verfügt werden. Die Bundesregierung hat daher am 13. November 1968 beschlossen, diesen Betrag — 35 bis 40 Millio-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10553
Bundesminister Bendanen DM — für eine Erhöhung der Zuwendung zugunsten der Angehörigen der unteren Besoldungsgruppen einschließlich der entsprechenden Versorgungsempfänger unter Berücksichtigung der sozialen Gesichtspunkte zu verwenden. So wird verfahren werden.Es wird aber leider nicht mehr möglich sein, in allen Bereichen des Bundes die erhöhte Zuwendung an den in Betracht kommenden Personenkreis noch vor Weihnachten dieses Jahres auszuzahlen.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Miessner.
Ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß die von ihr vorgesehene Regelung zu erheblicher Verstimmung derjenigen Bundesbeamten führen muß, die sich hierdurch völlig unterschiedlich behandelt sehen, sowohl untereinander wie im Verhältnis zu den verschiedenen Länderbeamten, bei denen ja schon die Erhöhung auf 40 % für alle beschlossen ist?
Mir sind natürlich entsprechende Reaktionen der Beamtenverbände und der Beamten selbst bekannt, Herr Kollege Miessner. Das Problem war schwierig und kompliziert. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Bundesregierung sich sehr lange und intensiv mit dem Thema beschäftigt hat.
Ich glaube aber, daß auch die Beamten dafür um Verständnis gebeten werden müssen, daß auf Grund der finanziellen Gegebenheiten — so, wie ich sie dargestellt habe — schließlich keine andere Alternative offenstand.
Herr Dr. Miessner!
Sieht die Bundesregierung nicht Gefahren heraufziehen, wenn etwa nun auch Beamte der Bahn oder der Post oder der Zollverwaltung versuchen sollten, gegen diese ungleiche Behandlung in der Form des Bummelstreiks zu protestieren, wie das jetzt beim Flugsicherungsdienst gewesen ist?
Ich habe schon gesagt, mir sind Reaktionen und Proteste bekannt, für die ich auch ein gewisses Verständnis habe. Ich muß aber meinerseits die Beamten um Verständnis für die Motive bitten, die die Bundesregierung zu ihrer Entscheidung veranlaßt haben. Ich hoffe, daß es nicht zu solchen Reaktionen kommt, wie Sie sie andeuten, die in der Tat sehr ernste Fragen aufwerfen würden.
Herr Schmitt-Vockenhausen!
Herr Minister, sind Ihnen die kritischen Bemerkungen verständlich, die gestern im Innenausschuß gemacht wurden
im Hinblick auf Ablauf und Situation der hier zur Rede stehenden Angelegenheit?
Sie sind mir bekannt und voll verständlich, Herr Kollege SchmittVockenhausen.
Noch eine Frage, Herr Schmitt-Vockenhausen.
Haben Sie auch Verständnis dafür, daß wir sehr bedauern, daß wir diesen Fragenkomplex nicht rechtzeitig in die Ordnung des Zweiten bzw. Dritten Neuordnungsgesetzes mit der Regierung einbeziehen und abstimmen konnten?
Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, ich habe nicht nur Verständnis dafür, sondern ich teile die Gefühle, die Sie dabei bewegt haben. Sie kennen den Vorgang im einzelnen, ich brauche es nicht näher auszuführen.
Herr Rutschke!
Herr Bundesminister, sind Sie nicht der Meinung, daß dieser Anlaß der Behandlung der Beamten jetzt in dieser Form zu Schwierigkeiten führen wird hinsichtlich der Harmonisierung auch gegenüber den Ländern, die sich ja anders verhalten als der Bund?
Ich hoffe, daß dies nicht der Fall sein wird, Herr Kollege Dr. Rutschke. Ich benutze gern die Gelegenheit, alle besonders mit dieser Materie befaßten Kollegen in diesem Hause zu bitten, mit um so stärkerer Intensität unsere notwendigen und gerechtfertigten Bemühungen um eine Harmonisierung der Beamtenbesoldung zu unterstützen.
Herr Brück!
Herr Bundesminister, darf ich Sie einmal fragen, ob vielleicht die Möglichkeit besteht, daß Sie in einem größeren Rahmen als heute hier in der Öffentlichkeit darzulegen versuchen, warum es zu diesem Beschluß der Bundesregierung gekommen ist, und — nachdem es nun heute schon losgeht mit Balkenüberschriften in den Zeitungen „Dienst nach Vorschrift" — in der Offentlichkeit a) der Bevölkerung, b) aber auch den Betroffenen klarzulegen, warum dieser Beschluß gefaßt worden ist. Ich denke an andere Publikationsmöglichkeiten als hier.
Herr Kollege Brück, dazu werden sich vielfältige Gelegenheiten ergeben. Ich habe gestern mit dem Vorsitzenden des Deutschen Beamtenbundes auf seine Bitte ein Gespräch geführt. Ich werde in der allernächsten Zeit an dem Beamtentag des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bremen teilnehmen. Diese und ähnliche
Metadaten/Kopzeile:
10554 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Bundesminister BendaGelegenheiten werde ich sicherlich dazu benutzen, um um Verständnis für die Auffassung der Bundesregierung in dieser Frage zu werben.
Frage 20 des Abgeordneten Dr. Miessner:
Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung hinsichtlich der Weiterentwicklung der derzeitigen Sonderzuwendung von 1/3-Monatsgehalt auf ein volles 13. Monatsgehalt für den gesamten öffentlichen Dienst?
Die Bundesregierung hat bei der gleichen Gelegenheit, nämlich am 13. November 1968, beschlossen, für 1969 und die folgenden Jahre die Zuwendung an alle Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger des Bundes in. Anlehnung an das Ergebnis der Tarifverhandlungen vom 17. Oktober 1968 zu erhöhen. Dies bedeutet erstens, daß ab 1969 alle Bundesbediensteten hinsichtlich der Gewährung der Zuwendung wieder gleichbehandelt werden und daß zweitens stufenweise nach dem Ihnen im Detail ja sicherlich bekannten, mit den Tarifpartnern vereinbarten Stufenplan eine Verstärkung der Weihnachtszuwendung vorgesehen ist.
Herr Dr. Miessner!
Herr Minister, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Regierung grundsätzlich der Meinung ist, im Laufe der Zeit in Form eines Stufenplans, wie Sie sagten, ein volles 13. Monatsgehalt für den öffentlichen Dienst, also für Angestellte, Arbeiter und Beamte, anstreben zu sollen?
In der Tat geht die Entwicklung dahin, und es ist auch erstrebenswert, allerdings nur in dem Rahmen und mit den Schritten, die uns durch die mittelfristige Finanzplanung vorgezeichnet sind.
Keine weitere Frage. — Ich rufe die Frage 21 des Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Trifft es zu, daß Dienstzeiten als Luftwaffen- oder Marine-heifer, die vor 1945 nach Vollendung des 17. Lebensjahres geleistet worden sind, auf das Pensionsdienstalter von Richtern, Beamten und Soldaten nicht anrechenbar sind?
Auch hier wäre ich dankbar, wenn ich beide Fragen im Zusammenhang beantworten könnte.
Sie sind einverstanden? — Dann rufe ich noch die Frage 22 des Abgeordneten Dr. Arndt auf:
Wird die Frage 21 bejaht: welchen Sinn hat eine derartige Regelung?
Es trifft zu, Herr Kollege Dr. Arndt, daß der Dienst als Luftwaffen- oder Marinehelfer für den angesprochenen Personenkreis nach dem Bundesrecht nicht als ruhegehaltfähige Dienstzeit berücksichtigt werden kann. Die Rechtfertigung dafür ergibt sich aus dem Grundsatz, daß das Ruhegehalt der Beamten, Richter und
Soldaten in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erdient sein muß. Zeiten, die vor Beginn dieses Dienstverhältnisses liegen, werden nur ausnahmsweise als ruhegehaltfähig berücksichtigt. Umfang und Wesen der Tätigkeit als Luftwaffen- oder Marinehelfer rechtfertigen aber nach Auffassung meines Hauses eine solche Ausnahmeregelung nicht.
Herr Dr. Arndt!
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß der Dienst als Luftwaffen- oder Marinehelfer nach den damals geltenden Vorschriften sogar im Wehrpaß als Fronteinsatz eingetragen wurde und dem Dienst in der Wehrmacht insoweit völlig gleichgestellt war?
Das ist mir durchaus bekannt, Herr Kollege Dr. Arndt. Die Problematik — ich will nicht sehr ins Detail gehen, weil es sehr lange aufhalten würde — liegt aber im wesentlichen darin, daß die Berufsausbildung, nämlich normalerweise der Schulunterricht, neben dieser, wenn Sie so wollen, militärähnlichen Tätigkeit im Regelfall fortgesetzt werden konnte, so daß nicht ganz die gleiche Interessenlage wie bei jemandem vorliegt, der auf Grund eines Wehrdienstes oder eines vergleichbaren Verhältnisses seiner eigentlichen Berufsausbildung für die fragliche Zeit entzogen worden ist.
Zunächst Herr Josten!
Herr Minister, besteht im Hinblick auf den sicher nicht großen Personenkreis die Möglichkeit, eine zufriedenstellende Regelung für die betroffenen ehemaligen Luftwaffen- bzw. Marinehelfer zu finden?
Ich fürchte, man kann die Frage dann nicht, auf die Marineoder Luftwaffenhelfer beschränken. Es gibt vielmehr noch eine ganze Reihe vergleichbarer Gruppen, bei denen sich gleiche oder ähnliche Fragen ergeben, die dann auch mit dem Ziel einer eventuellen Einbeziehung überprüft werden müßten, und das macht die Sache leider sehr kompliziert und schwierig.
Herr Minister, wären Sie dann bereit, diese besondere Gelegenheit zu benutzen, um das ganze Problem, das besonders diejenigen betrifft, die bei Kriegsende Dienst in einem Alter von ungefähr 17 Jahren leisteten, in Ihrem Hause prüfen zu lassen?
Ich bin gern bereit, den ganzen Fragenkomplex noch einmal überprüfen zu lassen und darüber vielleicht, wenn ich das gleich dem nächsten Herrn Fragesteller ankündigen darf, im Bundestagsinnenausschuß einmal zu sprechen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10555
Herr Schmitt-Vokkenhausen!
Herr Minister, wären Sie bereit, das Ergebnis der sehr eingehenden Erörterungen im Innenausschuß und auch der Ausführungen Ihres Hauses auf Grund unserer Interpellation im Innenausschuß den Kollegen zuzuleiten, weil diese Unterlagen die Schwierigkeiten sehr deutlich machen? Eine eingehende Prüfung ist erfolgt.
Ja, ich bin dazu gern bereit.
Dazu keine weiteren Fragen. — Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen auf:
Zu welchen Ergebnissen haben die Prüfungen geführt, wie innerhalb der Laufbahnvorschriften im Interesse einer stärkeren Betonung des Leistungsprinzips von den Voraussetzungen einer bestimmten Mindestdienstzeit und eines bestimmten Mindestdienstalters abgewichen werden könnte?
Herr Minister, bitte!
Die Ihnen, Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, seinerzeit zugesagte Prüfung hat ergeben, daß die meisten der in der Bundeslaufbahnverordnung enthaltenen Bestimmungen über das Mindestlebensalter und die Mindestdienstzeiten für Beförderungen und für den Aufstieg entweder fortfallen oder gelockert werden sollen. Ich beabsichtige, im Rahmen der von mir vorgesehenen Reform des öffentlichen Dienstrechts eine grundsätzliche Neuordnung des Laufbahnrechts der Beamten. Hierbei sollen auch die Bestimmungen über das Mindestlebensalter und die Mindestdienstzeiten geändert werden. Die erforderlichen Erörterungen mit den beteiligten Stellen werden in aller Kürze beginnen.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Tamblé auf:
Wie hoch sind die Minderausgaben, die sich aus der Änderung der Trennungsgeldverordnung im Haushaltsjahr 1968 und 1969 ergeben?
Bitte, Herr Minister!
Mit dem Erlaß der Änderungsverordnung zur Trennungsgeldverordnung vom 30. Mai 1968 hat die Bundesregierung einem diesbezüglichen Ersuchen des Deutschen Bundestages vom 8. Dezember 1967 Rechnung getragen. Da dieses Ersuchen auf einen Beschluß des Haushaltsausschusses vom 1. Dezember 1967 zurückgeht, dem Herr Kollege Dr. Tamblé als Ausschußmitglied angehört, brauche ich vielleicht auf die Entstehungsgeschichte und die vom Ausschuß mit den Einsparungsvorschlägen verfolgten Ziele nicht näher einzugehen.
Welche Einsparungen tatsächlich durch die Wiedereinführung des Einzugsgebietes und durch die Erhöhung der Stundengrenze für die Gewährung eines Verpflegungszuschusses auf eine Abwesenheitsdauer von mindestens elf Stunden erzielt worden sind oder erzielt werden, läßt sich zur Zeit noch nicht genau sagen.
Wenn der Herr Fragesteller aber darauf Wert legt, bin ich bereit, bei den in erster Linie betroffenen großen Bundesressorts, insbesondere beim Bundesverteidigungs-, Bundesverkehrs- und Bundespostministerium, Schätzungen über die im Jahre 1968 eingetretenen und im Jahre 1969 zu erwartenden Minderausgaben einzuholen und Ihnen das Ergebnis mitzuteilen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wäre für diese Auskunft sehr dankbar, Herr Minister.
Ich rufe die Frage 25 des Herrn Abgeordneten Dr. Tamblé auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß durch die Änderung der Trennungsgeldverordnung den Bediensteten monatliche Mindereinnahmen zwischen 90 DM und 200 DM entstanden sind und noch entstehen?
Die Antwort lautet: Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Änderung der Trennungsgeldverordnung in bestimmten Fällen zu einer erheblichen Einbuße für die Bediensteten geführt hat.
Ich darf in diesem Zusammenhang auch auf Punkt 5 der Drucksache V/3345 vom 11. Oktober 1968 hinweisen, in der der Bundesminister der Verteidigung im Benehmen mit dem Bundesminister der Finanzen und mir bereits zu der gleichen Angelegenheit Stellung genommen hat.
Herr Tamblé!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, glaubei Sie, daß die Mitglieder des Haushaltsausschusses und die Mitglieder des Hohen. Hauses dieser Änderung der Trennungsgeldverordnung zugestimmt hätten, wenn ihnen damals klar gewesen wäre, daß bei den einzelnen Bediensteten ein monatlicher Ausfall von 200 DM entstehen würde?
Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, weil es mir natürlich nicht zusteht, zu den Überlegungen der Herren Abgeordneten im Haushaltsausschuß Stellung zu nehmen oder ihre Motive zu untersuchen. Herr Kollege Dr. Tamblé, ich würde vorschlagen, diese Frage unmittelbar den beteiligten Kollegen im Haushaltsausschuß zu stellen.
Haben Sie noch eine Frage, Herr Abgeordneter Tamblé?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Minister, die Frage betraf ja nicht nur die Mitglieder des Haushaltsausschusses, sondern auch die Mitglieder des Hohen Hauses.
Das war keine Frage.
Metadaten/Kopzeile:
10556 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Wenn ich das Fragezeichen unterstellen darf, Herr Präsident, würde ich gern antworten.
Unterstellen Sie es bitte!
Auch meine vorige Antwort bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf die von mir besonders geschätzten Mitglieder des Haushaltsausschusses, sondern auch auf jedes Mitglied dieses Hohen Hauses.
Keine weiteren Fragen.
Ich rufe die Fragen 26, 27 und 28 des Abgeordneten Zebisch auf:
Welche Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung aus dem Untersuchungsergebnis des gerichtsmedizinischen Instituts in Köln zum „Dopingfall" des verstorbenen Kölner Berufsboxers Jupp Elze zu ziehen?
Hält die Bundesregierung die Schutzvorschriften gegen Doping im Sport für ausreichend?
Gibt es zwischen den zuständigen Stellen des Bundesgesundheitsministeriums und dem Deutschen Sportärztebund eine Zusammenarbeit zur Verhinderung möglicher künftiger Dopingfälle?
Können die Fragen zusammen beantwortet werden?
Jawohl.
Bitte, Herr Minister!
Ich möchte die Fragen zusammen- aber dennoch Punkt für Punkt in der Reihenfolge, wie sie gestellt worden sind, beantworten.
Erstens. Der Bundesregierung ist das Untersuchungsergebnis des gerichtsmedizinischen Instituts in Köln, das im Auftrage des Leitenden Oberstaatsanwaltes in Köln im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens erstellt worden ist, nicht im einzelnen bekannt. Der Leitende Oberstaatsanwalt hat auf Grund des ihm seit dem 14. Oktober 1968 vorliegenden Gutachtens weitere Ermittlungen veranlaßt, die voraussichtlich in Kürze abgeschlossen sein werden, aber noch nicht abgeschlossen sind. Die Bundesregierung hält es daher nicht für zweckmäßig, Folgerungen zu ziehen, bevor das vollständige Ermittlungsergebnis in diesem Einzelfall vorliegt.
Zur zweiten Frage. Die Bundesregierung hat bereits 1966, und zwar im Zusammenhang mit Erörterungen im Europarat, eingehend geprüft, ob besondere strafrechtliche Bestimmungen über das Doping von Sportlern notwendig sind. Sie ist hierbei zu der Auffassung gelangt, daß die bestehenden strafrechtlichen Bestimmungen über die fahrlässige und vorsätzliche Körperverletzung und Tötung bereits einen weitgehenden Schutz gegen das Doping bieten und weitere Maßnahmen von den Sportfachverbänden in deren Statuten geregelt werden sollten. Diese Auffassung entspricht der Haltung des Ministerkomitees des Europarates, das in der Entschließung vom 29. Juni 1967 zunächst Schutzmaßnahmen der Sportvereinigungen und -verbände empfohlen hat.
Im Zusammenhang mit diesen Erörterungen hatte der Deutsche Sportbund seinen angeschlossenen Sportfachverbänden 1966 und 1967 die Einführung von Bestimmungen gegen das Doping dringend empfohlen. Der Deutsche Sportbund prüft zur Zeit, ob die Wettkampfbestimmungen der Fachverbände nunmehr ausreichenden Schutz gegen das Doping bieten, und wird die Bundesregierung über das Ergebnis unterrichten. Danach beabsichtigt die Bundesregierung, erneut zu prüfen, ob ihrerseits Maßnahmen gegen das Doping notwendig sind.
Schließlich zur dritten Frage. Das Bundesinnenministerium steht mit dem Deutschen Sportbund wegen der Verhinderung künftiger Dopingfälle in Verbindung. Ich selbst habe mit Herrn Präsident Daume hierüber eingehend gesprochen. Auf Veranlassung des Deutschen Sportbundes führen gegenwärtig Mediziner des Deutschen Sportärztebundes eine Untersuchung über wichtige medizinische Fragen des Doping durch. Dabei geht es vor allem um den Begriff des Dopingmittels und die Durchführung der Dopingkontrollen. Das Untersuchungsergebnis wird dem Bundesinnenministerium mitgeteilt und Grundlage einer Prüfung aller mit dem Doping zusammenhängenden Fragen sein. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen wird hierbei beteiligt.
Herr Zebisch!
Herr Minister, haben Sie Unterlagen darüber oder wissen Sie, ob weitere Todesfälle bei Sportlern, die gedopt wurden, eingetreten sind, oder haben Sie in Ihrem Hause Unterlagen über Gesundheitsschäden, die bei gedopten Sportlern eingetreten sind?
Wir sind im wesentlichen auf die Einzelmeldungen angewiesen, die selbstverständlich gesammelt und registriert werden. Eine Zusammenstellung, die ich Ihnen im Augenblick zahlenmäßig kurz vortragen könnte, liegt mir zur Zeit nicht vor. Ich nehme aber an, daß sie in meinem Hause vorhanden ist. Ich bin gegebenenfalls gern bereit, Ihnen diese Zahlen zur Verfügung zu stellen.
Herr Zebisch!
Habe ich Sie richtig verstanden, daß ich diese Unterlagen in absehbarer Zeit von Ihnen bekommen werde, Herr Minister?
Nein, ich bin nicht ganz sicher. Ich vermute, daß ,es hinreichendes Material in meinem Hause gibt, das uns bereits jetzt in die Lage versetzt, Ihre soeben gestellte Frage wenigstens ungefähr zu beantworten. Nur kann ich es, da ich es nicht präsent habe, im Augenblick nicht mit Sicherheit sagen. Ich werde es aber gern nachprüfen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10557
Meine Damen und Herren, die restlichen Fragen aus diesem Geschäftsbereich werden schriftlich beantwortet, da wir dem Ende der Fragestunde nahe sind.
Ich gebe noch bekannt, daß die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Wirtschaftsministeriums und dem des Verteidigungsministeriums, die heute hier nicht vertreten waren, in der nächsten Fragestunde, und zwar am 27. November zu Beginn der Fragestunde, beantwortet werden. Die Fragen brauchen also nicht zurückgezogen zu werden.
- Sie werden selbstverständlich wieder auf der Drucksache erscheinen. Es braucht also nichts unternommen zu werden. Ich sage das auch deshalb, weil Mitglieder des Hauses, die Fragen aus diesen Geschäftsbereichen gestellt haben, ihre Fragen zurückziehen wollten. Das ist nicht notwendig. Die Fragen 81 und 82 des Herrn Abgeordneten Wächter und 129 und 130 des Herrn Abgeordneten Baier wurden zurückgezogen.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Wir fahren nun in der Tagesordnung fort. Ich rufe den Punkt 6 auf:
a) Große Anfrage der Fraktion der FDP betr. politische Bildung
— Drucksachen V/2356, V/3297 —
b) Große Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU, SPD
betr. politische Bildung
— Drucksachen V/2380, V/3297 —
Die Antwort der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen liegt vor. Wir treten in die Diskussion ein.
Das Wort hat zunächst der Herr Abgeordnete Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem Jahr hat die Fraktion der FDP eine Große Anfrage zur politischen Bildung eingebracht. Kurz darauf haben die beiden Fraktionen der Regierungskoalition zu diesem Thema ebenfalls eine Große Anfrage gestellt. Neun Monate später, am 23. September dieses Jahres, hat die Bundesregierung darauf geantwortet. Es spricht für die Haltbarkeit des Themas, daß sich bei der Fragestellung inzwischen keine Inaktualität ergeben hat, ja, im Gegenteil, daß die hier von allen Fraktionen des Hauses gestellten Fragen eher noch an Aktualität gewonnen haben.Wir sollten aber, wenn wir die Antwort der Bundesregierung auf ihren Gehalt untersuchen, zunächst einmal den Ausgangspunkt unserer Fragen sehen. Dieser Ausgangspunkt war die Leitung des Bundesinnenministeriums unter Herrn Minister Lücke und Herrn Staatssekretär Professor Ernst. Diese beiden Ausgangspunkte fehlen uns heute in dieser Debatte. Herr Staatssekretär Ernst hatte bei seinem Amtsantritt in diesem Ministerium zweifellos den unbändigen Willen zu Reformen in der politischen Bildung. Nur hatten wir, die wir uns im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung mit dieser Frage befassen, den Eindruck, daß dieser Wille in die falsche Richtung galoppieren könnte. Wir hätten deshalb gewünscht, daß die Bundesregierung sich selber einmal darüber klar wird, was eigentlich nach ihrer Ansicht politische Bildung ist.Wir waren alle zusammen in diesem Hause, glaube ich sagen zu können, alarmiert, als wir z. B. hörten, daß die politische Bildung bisher am ganz falschen Objekt und mit falschen Methoden vorgenommen worden sei, daß man die Massenmedien vor allem in den Dienst der politischen Bildung stellen müsse, daß man mit einer Art unterschwelliger Werbung den Leuten endlich einmal die Demokratie einbläuen müsse, möglichst per Fernsehen abends zwischen acht und neun. Darüber gab es heftige Diskussionen, und es entstand der Verdacht, daß innerhalb der Bundesregierung nicht alle Verantwortlichen ganz klar unterscheiden können zwischen politischer Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und schlichtweg politischer Werbung oder auch, wenn Sie wollen, Propaganda.Deshalb war es ganz nützlich, daß die Bundesregierung hier nun auf Fragen eine ausführliche Antwort gegeben hat. Aber auch bei dieser ausführlichen Antwort, die Herr Bundesinnenminister Benda im Namen der Bundesregierung unterzeichnet hat, ist nicht ganz deutlich geworden, welches Verständnis von Bildung im allgemeinen und von Demokratie im besonderen diese Bundesregierung oder dieser verantwortliche Minister hat. Diese Antwort der Bundesregierung ist ein Gemisch von viel gutem Willen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, einem erheblichen Maß von Ratlosigkeit, ist der Versuch einerseits rationaler Betrachtung, aber doch nicht ohne den Verzicht auf die offensichtlich für notwendig gehaltene Gefühlswürze und ist in einigen Passagen durchaus einem Eiertanz vergleichbar.
— Wenn Sie gestatten, Herr Könen, trage ich hier ein paar Zitate aus dieser Antwort vor, die das ein wenig untermauern sollen.Um beurteilen zu können, was die Bundesregierung sich vorstellt und welchen Rang sie der politischen Bildung beimißt, müßten wir vor allem wissen, wie sich die Bundesregierung die Einordnung der Bundeszentrale für politische Bildung in ihr Konzept vorstellt. Darüber gab es mit Recht, wie ich meine, im Kuratorium erhebliche Gegensätze beispielsweise zwischen den Vertretern der sozialdemokratischen Fraktion — ich teile deren Einwände in allen wesentlichen Punkten — und den Mitgliedern der Bundesregierung. In diesem Kuratorium gibt es auch CDU-Mitglieder, die sich in diesem Punkte durchaus mit den Sozialdemokraten und den Liberalen finden, und zwar mit Recht. Wenn man sich ernsthaft um politische Bildung bemüht, kann man beispielsweise den Direktor der Bundeszentrale für politische Bildung nicht unter dem Rang eines Ministerialdirektors einstufen. Wenn
Metadaten/Kopzeile:
10558 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Moerschman aber so verfährt, wie es jetzt geschieht, demonstriert man in Wahrheit, welchen niedrigen Rang diese Arbeit einnehmen sollte. Ich hätte mir an Stelle dieser langen Antwort gewünscht, daß die Bundesregierung den Mut zu einer wirklichen Neuorganisation, zu einer stärkeren Unabhängigkeit der Bundeszentrale gefunden hätte und daß sie auch die Stellen dort so dotiert hätte, wie sie dotiert werden müssen, wenn man überragende Kräfte für diese Arbeit gewinnen will. Mit zweitrangiger Bezahlung sollte man es wirklich nicht versuchen, dann sollte man es lieber lassen.Ich sehe auch gar keinen Gewinn darin, daß man drei oder fünf Professoren als Beirat gewinnt, wenn diese Professoren möglicherweise das Doppelte dessen an Gehalt bekommen, was der Leiter der Bundeszentrale bekommen wird, wenn sie jedenfalls sehr viel mehr bekommen, als dieser Leiter bekommen kann; dann ist von vornherein ein Mißverhältnis zwischen Beratung und Direktion vorhanden, das der Sache nicht angemessen ist. Falls der Bundesinnenminister sich nicht zutraut, diese Forderungen beim Finanzministerium und im Kabinett durchzusetzen, dann zeigt das nur, daß er nicht über das Arsenal von guten Argumenten verfügt, das in dieser Sache vorhanden ist und das man durchaus nutzen könnte.Ich glaube auch nicht, daß man mit irgendwelchen hierarchischen Vorstellungen in bezug auf diese Bundeszentrale weiterkommen kann. Hier handelt es sich im Grunde genommen um angewandte Wissenschaft und nicht um Verwaltung. Man sollte deshalb ein für allemal von der Zwangsvorstellung Abschied nehmen, daß man diese Bundeszentrale auf jeden Fall in das Verwaltungssystem passend einordnen müsse. Schon wegen vieler verfassungsrechtlicher Schwierigkeiten paßt sie nicht ins System und sie paßt vor allem nicht hinein, weil hier die Lebendigkeit dadurch entsteht, daß auch Mobilität zwischen den in dieser politischen Bildungsarbeit Verantwortlichen hergestellt wird, dergestalt, daß man nicht immer am gleichen Platz sitzt, sondern daß beispielsweise für einige Zeit einmal ein Ordinarius für Politologie, für eine solche Tätigkeit gewonnen wird, der dann wieder in seinen Beruf als Lehrer und als Forscher zurückgehen kann, der eben hier seine theoretischen Erkenntnisse einmal eine Zeitlang in der Praxis verwirklicht. Das nur als Anregung! Da kommen Sie mit der jetzigen Konstruktion meiner Ansicht nach nicht aus.Aber ich will ein paar andere Anmerkungen zu dem machen, was in der Antwort nicht drinsteht. Die Schwierigkeiten der Abfassung in einem so großen und so heterogenen Hause wie dem Bundesinnenministerium will ich dabei gewiß nicht verkennen.Es steht in dieser Antwort zu wenig von der praktizierten Demokratie, von dem demokratischen Erfahrungsschatz, den man gewinnen muß, um politisch gebildet sein zu können. Mit Schriften und Worten ist es nicht getan. Es fehlt die Schlußfolgerung, was eigentlich getan werden müßte, nämlich wie man Demokratie wirklich einüben kann, eine Untersuchung darüber, und es wird selbstverständlich übergangen — obwohl sie bei der Zuständigkeit des Ministeriums durchaus nahegelegen hätte —, ob nicht ganz falsche Vorstellungen über die Präktizierung unserer Verfassung in weiten Kreisen unserer Bevölkerung, aber auch in der Bundesregierung bestehen; ob nicht z. B. gerade gegen das Demokratieverständnis operiert worden ist und immer noch operiert wird, indem man lange Wahlperioden — ich denke hier an die lange Amtszeit der Oberbürgermeister in unserem Südwesten, die direkt gewählt werden — für besonders nützlich hält und gar nicht merkt, daß die Länge der Wahlperiode demokratischem Verständnis zuwiderläuft, daß das Austragen des Konflikts auch in einer Gemeinde nach einigen Jahren eine nützliche demokratische Erfahrung und nichts Schlechtes ist, und daß etwa ein Oberbürgermeister, der bei uns auf zwölf Jahre wiedergewählt werden kann, nach dieser Wiederwahl ohne weiteres beschließen kann, sich geistig zur Ruhe zu setzen, und dann nicht mehr beispielsweise durch die Kontrolle der Wähler beunruhigt wird. Alle diese Fragen, die gerade junge Menschen sehr berühren und die zur praktischen Demokratie gehören, sind in dieser Antwort nicht behandelt worden.Es ist auch nichts über die Möglichkeiten einer direkten Demokratie gesagt worden. Das hätte ich sehr gewünscht. Ich meine die Möglichkeit, durch das Referendum mit sachlichen Fragestellungen bestimmte Bevölkerungsteile zu klaren Ansichten zu bringen, die sie vorher nicht haben müssen, weil sie ja über Sachfragen gar nicht entscheiden können und nicht entscheiden wollen, falls wir es bei der jetzigen Verfassung belassen.Es wird nichts über die notwendigen Spielregeln für das Austragen bestimmter Konflikte gesagt; ja, ich fürchte, aus einigen Passagen liest man wieder die Zwangsvorstellung von der „formierten Gesellschaft" heraus, die falsch verstandene Gemeinsamkeit — auch wenn ihr hier und dort widersprochen wird —, die eben gerade nicht unserem Demokratieverständnis entsprechen sollte.Ich glaube, das Verständnis an der Spitze dieser Regierung und auch dieses Ministeriums für solche Fragen ist nicht ausgeprägt genug, sonst hätte die Antwort sehr viel präziser ausfallen können und ausfallen müssen.Ich möchte eine kurze Anmerkung zum Wesen der Kritik machen, das ja in der Antwort auch erwähnt wird. Da wird zwar einerseits kritisches Denkvermögen gefordert, aber dann erfolgt gleich der Kassandra-Ruf, die Kritik dürfe nicht zum Selbstzweck werden. Es wird hinzugefügt, daß man auch ein gewisses Maß von Gefühl in der Demokratie brauche. Nun, ich glaube, in Deutschland leiden wir nie darunter, daß wir zuviel kritischen Verstand an die politischen Geschäfte anlegten und zuwenig Gefühl, sondern immer haben wir unter dem Gegenteil gelitten. Ich habe eigentlich nur vermißt, daß auch noch das Wort von der zersetzenden Kritik erschie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10559
Moerschnen wäre. Sinngemäß ist es in einer Passage durchaus enthalten.
— Es ist nicht wörtlich, aber dem Sinne nach, Herr Dr. Martin, in einer Passage enthalten.Ich möchte nur vorsichtshalber gleich zu bedenken geben — Sie können ja nachher darauf eingehen —, daß es u. a. Thomas Mann gewesen ist, der sich mit diesem Begriff auseinandergesetzt und gesagt hat, er sehe in Kant und Goethe einen starken Anteil zersetzenden und kritischen Geistes. Thomas Mann sagte weiter: „Was man zersetzend nennt, ist sehr oft nichts gegen das Leben Gerichtetes, sondern viel mehr eine Erfrischung und Erneuerung des Lebens." Das möchte ich hier ausdrücklich anmerken, damit sich die Bundesregierung nicht weiterhin verpflichtet fühlt, wenn sie schon den Mut zur politischen Betätigung postuliert, gleich wieder zu relativieren und .einzuschränken und zu glauben, es geschehe in Deutschland denn doch zuviel. Ich glaube, ein Zitat von Thomas Mann mit Hinweis auf Goethe und Kant sollte auch die Bundesregierung überzeugen können.
— Herr Könen, ich bin gerne bereit, Ihren Düsseldorfer Landsmann hier auch zu zitieren, wenn Sie das für nützlich halten. Wir wollen hier aber keine landsmannschaftlichen Fehden austragen. Ich stimme Ihnen voll zu; er ist sicherlich derjenige, der am meisten erlitten hat, wie wenig man in Deutschland mit dieser Geisteshaltung ausrichten kann.Ein weiterer Begriff, auf den ich mich hier nur kurz einlassen will, ist der Staatsbegriff in dieser Antwort. Er ist in sehr vielfältiger Form verwandt worden. Es heißt da z. B. sinngemäß, man müsse berücksichtigen, was allen gesellschaftlichen Kräften und auch dem Staat und für den Staat, geboten sei. Ich fürchte, hier wollte man einfach vermeiden, das Wort „Demokratie" an die Stelle des Wortes „Staat" zu setzen. Sehr oft, wenn in dieser Antwort „Staat" und „Staatsbewußtsein" steht, sollte man „Demokratie" und „Demokratiebewußtsein" lesen. Dann würde nämlich der gedankliche Ausgangspunkt klarer. Ich hatte das Gefühl, daß hier einige Leute zwar auf der Reise vom Irrtum zur Wahrheit sind, aber das Ziel noch nicht ganz erreicht haben.
— Entschuldigen Sie, Herr Dr. Schober: wenn man das meint, muß man das sagen, und zwar sehr deutlich. Aber ich bin dagegen, daß man irgendeinen nebulosen Staatsbegriff einführt, wenn es sich schlichtweg um Demokratie handelt. Darum handelt es sich nämlich im wesentlichen hier in der politischen Bildung, und das ist an anderer Stelle auch gesagt.Nun, wir wollten ja heute morgen keine sehr lange Debatte führen. Ich glaube deshalb, daß man mit diesen Anmerkungen zunächst die Runde eröffnen kann. Aber einen Satz möchte ich hier doch noch einmal herausheben. Da steht z. B.: In der Demokratie — oder „in dieser Staatsform", wie es wörtlich heißt — müssen auch Begriffe wie „Nation" und „Vaterland" ihren Platz haben. Was heißt hier „auch", kann ich da nur fragen. Wer eigentlich hat den Begriff des Vaterlandes überhaupt eingeführt?
Doch nicht die absolutistischen Staaten, im Grunde genommen auch nicht die totalitären, auch wenn sie diesen Begriff heute mißbrauchen, sondern es war doch in Wahrheit der Begriff, mit dem gerade die demokratische Erneuerung in Deutschland beginnen wollte.
Und der Begriff der Nation ist doch entstanden aus dem Freiheitsbedürfnis derer, die unter ganz anderen Staaten, nämlich unter den Obrigkeitsstaaten, gelitten haben. Daß wir uns heute hier mit einem „auch" verteidigen müssen gegen diejenigen, die sich anmaßen und die mit diesem Begriff Schindluder treiben, das halte ich für falsch. Man sollte nämlich über Selbstverständlichkeiten hier nicht sprechen müssen. Ich glaube, allein aus diesem Satz herauslesen zu können, daß die historischen Voraussetzungen bei denen, die die Antwort entworfen haben, nicht in allen Teilen wohlüberlegt waren.Weiterhin wird hier gewarnt vor dem kritischen Intellektualismus. Wenn hier die Bundesregierung vor kritischem Intellektualismus warnt, entsteht selbstverständlich der Verdacht, daß sie daran Mangel leidet; jedenfalls fühlt sie sich offensichtlich davon nicht berührt.
Ich hätte geglaubt, kritischer Intellektualismus sei selbstverständlich ein Teil oder Gegenstand der Regierungstätigkeit selbst, nämlich das kritische Überprüfen der eigenen Position. Daß der Begriff hier in abwertender Weise gebraucht wird, ist für mich ganz und gar unverständlich. Ich glaube, an diesem Intellektualismus haben wir einen Mangel, jedenfalls haben wir nicht zuviel. Ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck, daß wir damit besonders belastet seien.Dann wird auch gesagt, die politische Erziehung in der Schule müsse glaubwürdiger werden. Das ist sicherlich wahr, aber die Schule ist ja auch nicht irgendwo hergekommen, sondern sie untersteht politischer Verantwortlichkeit. Man muß dann eben aussprechen, daß diejenigen, die politisch für die Schule, die heute übrigens nur in Teilen nicht unseren Ansprüchen entspricht, verantwortlich sind, Parteifreunde der Mitglieder der Bundesregierung sind, die heute hier diese Antwort gegeben haben.
- Entschuldigen Sie, Herr Raffert, es ist ohne Zweifel richtig, daß die Kultusminister auf ihre Erfolge sehr stolz sind, wenn sie in der Schulreform etwas erreichen. Sie müssen dann auch diese Antwort der
Metadaten/Kopzeile:
10560 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
MoerschBundesregierung als Kritik an sich empfinden und sollten entsprechende Folgerungen ziehen.
— Ja, leider, Herr Raffert.
Es sind noch einige andere Bemerkungen in dieser Antwort, die doch wohl zu Gegenfragen herausfordern, etwa die Feststellung, man möchte fast sagen: die Sammlung von goldenen Worten: „Der Bürger vermag nur noch schwer zu rationalen Einsichten und klaren Urteilen zu gelangen." Weil er nämlich zu viele Informationen bekomme. Ich frage mich erstens, ob das jemals anders gewesen ist -
— Herr Dr. Huys, nur langsam; Sie kommen gleich dran.Ich frage mich erstens, ob das jemals anders gewesen ist. Ich glaube das nicht. Ich glaube, daß das, was hier vom Bürger festgestellt wird, selbstverständlich auch für die Bundesregierung gilt. Leider muß ich das sagen, denn auch sie leidet — —
— Herr Schober, ich war früher nicht dabei, Sie auch nicht; ich habe mir das nur sagen lassen. Ich bin nicht so ganz sicher, ob das früher so gewesen ist. Wenn ich etwa die Auflagen der Zeitungen früher und heute betrachte, habe ich den Eindruck, daß früher viel weniger Menschen für die politischen Entscheidungen zuständig waren als heute. Ich glaube, Sie sollten den Männern und Frauen in unserem Volke, die sich um ein eigenes Urteil bemühen, ein wenig mehr zutrauen. Jedenfalls ist uns mit solchen Sätzen nicht sehr viel gedient. Dann steht hier drin — offensichtlich sehr bedenklich formuliert —: „Der Bürger glaubt, zu wenig Möglichkeiten zu haben, außerhalb der Wahl auf das politische Geschehen Einfluß zu nehmen." Ich bin der Meinung, der Bürger glaubt das nicht nur, das ist eben so. Natürlich kann er zuwenig Einfluß darauf nehmen.
Gestatten Sie eine Frage, Herr Abgeordneter?
Bitte schön!
Bitte, Herr Lohmar!
Herr Kollege Moersch, darf ich Sie fragen, ob Sie mit Ihrem letzten Satz die Bereitschaft verbinden, auch der Mitbestimmung Geschmack abzugewinnen.
Herr Dr. Lohmar, ich bin für jede Reform, die zu einer klaren Verantwortlichkeit und Durchsichtigkeit führt. Ich möchte aber Ihre Patentrezepte nicht ungeprüft übernehmen, weil sie in der Vergangenheit nicht immer auf einen guten Weg geführt haben, z. B. jedenfalls nicht in derMontan-Industrie. Ich möchte mich nicht falschen Propheten anschließen, weil sie ihre Prophetie auf diesem Gebiet heute mit größerer Lautstärke vortragen.
Es steht hier außerdem drin — das ist auch ein bemerkenswerter Satz —: „Gerade die Intellektuellen empfinden es als bedrohlich, daß die praktische Demokratie von den Vorstellungen abweicht, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden." Ich muß Ihnen offen gestehen, ich habe nicht verstanden, was hiermit eigentlich gemeint sein soll. Denn ich glaube, wenn irgend jemand sich Gedanken über Demokratie im 20. Jahrhundert gemacht hat, dann waren es doch wohl die Intellektuellen. Ausgerechnet von denen wird gesagt, daß sie mehr oder weniger dem 19. Jahrhundert anhängen.Die gesamte Antwort gipfelt im Grunde darin, daß die Bundesregierung zugeben muß — was ja auch nicht neu ist —, daß sie über die Möglichkeiten der politischen Bildung relativ wenig weiß und daß sie jetzt Untersuchungsergebnisse anfordert und daß Untersuchungen im Gange sind, damit sie selbst besser über diese Frage informiert ist. Es ist sicherlich ein sehr später Zeitpunkt, zu dem man diese Überlegungen anstellt. Frühere Überlegungen wären da sicher besser am Platze gewesen. Aber das können wir nun nicht mehr ändern.
— Herr Dr. Schulze-Vorberg, unter anderem ist das ein Versäumnis von uns, daß wir nicht genug darauf gedrängt haben, weil wir uns zu sehr auf Ihren Sachverstand und den Ihrer Freunde verlassen haben. Das ist ein Fehler, den wir hier gemacht haben.
— Herr Dr. Martin, das muß ich selbstverständlich Ihren Untersuchungsergebnissen überlassen. Ich kann mich selbst nicht einstufen. Sie sind von Berufs wegen dazu verpflichtet, Ihre Kollegen unter diesem Aspekt zu betrachten.
Hier ist gesagt worden, daß man die Untersuchungsergebnisse abwarten müsse und wolle. Ich möchte hier gleich warnend darauf hinweisen, daß das nicht so verstanden sein sollte, daß man bis dahin weiter nichts unternimmt oder das weiter betreibt, was als falsch erkannt worden ist. Ich möchte die Bundesregierung vielmehr auffordern, diese Zeit, bis die Untersuchungsergebnisse der Wissenschaft vorliegen — wobei ich die Fragestellungen auch noch einmal gern ganz genau gesehen hätte —, zur selbstkritischen Überprüfung ihrer eigenen Position zu nutzen. Das ist keine wissenschaftliche Aufgabe, sondern eine politische Aufgabe. Spätestens im Wahlkampf werden wir sehen, was von den guten Vorsätzen, die hier für die politische Bildung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10561
Moerschin der Antwort der Bundesregierung niedergeschrieben worden sind, noch vorhanden ist.Ich habe nicht allzuviel Hoffnung, daß wir nächstes Jahr von diesen guten Vorsätzen genügend wiederfinden werden. Aber ich gebe mit Ihnen die Hoffnung vorläufig nicht auf.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Huys.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns in diesem Hohen Hause in den vergangenen Jahren schon mehrmals mit der politischen Bildungsarbeit befaßt. Alle drei Fraktionen haben Große Anfragen zur Wirksamkeit der politischen Bildungsarbeit gestellt. Die Bundesregierung hat diese Anfragen in der Ihnen vorliegenden Drucksache V/3297 beantwortet, und sie hat darin, Herr Moersch, die Frage in den Mittelpunkt gestellt, ob die bisher geleistete und geplante Bildungsarbeit in Inhalt, Methode und Betätigungsfeld ausreicht und in den breiten Schichten der Bevölkerung anerkannt und genutzt wird.Sie haben, Herr Moersch, vorhin gesagt, die Bundesregierung habe darin wenig Erfahrung. Das glaube ich gar nicht. Wenn ich die Punkte I, II und III der Antwort, Herr Moersch, als Ganzes betrachte, so meine ich zunächst einmal feststellen zu können, daß die Analyse der Ursachen des Unbehagens an Politik und Staat sehr eingehend, sehr zutreffend und auch überzeugend dargestellt ist.Die unter II genannten Ziele politischer Bildungsarbeit sind aber, wie mir scheint, zum Teil zu hoch gegriffen. Schließlich sind die unter III aufgeführten Elemente der künftigen politischen Bildungsarbeit in einigen Punkten so allgemein und idealistisch formuliert, daß ihre praktische Durchführung — das glaube ich mit Ihnen allerdings — auf sehr große Schwierigkeiten stoßen muß. Wenn es auf Seite 3 der genannten Drucksache heißt, daß die politische Bildungsarbeit „das politische Problembewußtsein, die politische Urteilsfähigkeit und Urteilsbereitschaft auszubilden" hat, und etwas später, daß die politische Bildungsarbeit „die Fähigkeit zum politischen Handeln zu entwickeln" hat, dann wird zwar jedermann diesen Zielen zustimmen, aber wie sie in der Praxis zu erreichen sind, bleibt weithin offen.Um dieses Wie wird seit Jahren von Parlamenten, von Professoren, von Verbänden und vor allem von der Bundeszentrale für politische Bildung gerungen. Es ist jedoch unendlich schwer, diese Ziele zu erreichen, wie die derzeitige Situation zeigt. Politisches Engagement haben wir seit eh und je als das höchste Ziel der politischen Bildung gefordert. Es ist nicht zu leugnen, daß in all den Ereignissen, die uns so sehr beschäftigen, das politische Engagement vom Schüler über den Studenten, Jungakademiker bis zum Professor deutlich geworden ist. Allerdings haben sich die meisten von uns das politische Engagement in anderen Formen und Zielrichtungen vorgestellt.Genau an dieser Stelle trennen sich Theorie und Praxis. Hier liegt der neuralgische Punkt der politischen Bildungsarbeit. Das theoretische Ziel, den Bürger für eine Identifizierung mit den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie zu gewinnen, d. h. in ihm ein Staatsbewußtsein in unserem Sinne zu entwickeln, erkennen wir alle an. Den Weg zu seiner Verwirklichung haben wir noch nicht gefunden, und alle Patentrezepte, die wir vom hohen Katheder und in Diskussionen gehört haben, haben weitgehend — ganz besonders in der Erwachsenenbildung — versagt.Diese Feststellung bringt mich zu einem weiteren Punkt der Antwort auf Drucksache V/3297. Auf Seite 5 Ziffer 7 geht es um die politische Bildungsarbeit in der Schule. Die Feststellung, daß die politische Bildung im Schulunterricht Sache der Länder ist, ist zwar richtig, aber nach einem Verfassungsgerichtsurteil vom 18. Juli 1967 ist auch eine Zuständigkeit des Bundes für die politische Bildung der Natur der Sache nach gegeben. Zwischen den Zeilen scheint mir in Ziffer 7 die Meinung vorzuherrschen, man könnte jedem Schüler bei seiner Schulentlassung einen so großen Fundus an politischer Bildung mit ins Leben geben, daß er sich sozusagen in vorgegebenen Bahnen weiterentwickelt. Das ist ein fundamentaler Irrtum. Die Schulen jeder Art können dem jungen Menschen nur ein seinem Alter oder oder seiner Reife und auch seiner Intelligenz gemäßes Wissen vermitteln, von dem sie nur hoffen können, daß es sich in politische Bildung umsetzt. Ein .Rezeptbuch für richtiges politisches Verhalten in den verschiedenen Situationen seines Lebens können die Schulen ihren Absolventen nicht geben. Es genügt auch wirklich nicht, zu behaupten — wie einer der Prominenten dieses Hauses während einer Diskussion sagte —, daß der trockene Vortrag der Lehrer vielfach Ursache der sogenannten Fehlleistung der politischen Bildungsarbeit der Schule sei. Die höhere Schule z. B. stellt seit Jahren das Gespräch mit dem Schüler und nicht den Vortrag des Lehrers in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen.Eng verbunden mit dieser Feststellung ist der Vorwurf, der in Punkt III Ziffer 2 der politischen Bildungsarbeit generell und der der Schule insbesondere gemacht wird. Es heißt da, in der politischen Bildungsarbeit würde eine zu harmonisierende, verklärende Darstellung der Demokratie gegeben. Ich möchte behaupten: Es wird heute eher eine zu negativ kritische Darstellung der Demokratie und ihrer Institutionen gegeben. Die Massenmedien z. B.,
Herr Raffert, zeigen gern die negativen Seiten unserer Demokratie und versäumen es, die richtige Relation der positiven Seiten der Demokratie herzustellen.
— Ja eben, Herr Raffert, genau, weil Sie einer sind. — Gerade hier scheinen mir eben das Harmoniemodell der Demokratie überbetont und der Hinweis auf Ihren Konfliktcharakter vernachlässigt zu
Metadaten/Kopzeile:
10562 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Dr. Huyswerden. Daher empfindet der einfache Bürger Unbehagen und vermutet überall Manipulation und Korruption. Auch das Verhalten vieler Parlamentarier — schlagen wir uns ruhig an unsere eigene Brust — in Bund, Ländern und Gemeinden, die sich allzusehr den Gruppeninteressen und den Verbänden verschrieben haben, hat dazu beigetragen, das Unbehagen an der Politik und der Demokratie zu vertiefen.
— Ja, Sie haben völlig recht.Aus alledem geht hervor, wie wichtig die Fortführung der politischen Bildung für den Erwachsenen ist, der die Schule hinter sich hat. Und um die politische Bildung der Erwachsenen geht es insbesondere in dieser Debatte.Wenn ich nun den Abschnitt III „Elemente der künftigen politischen Bildungsarbeit" näher betrachte, glaube ich feststellen zu müssen, daß in einigen seiner Punkte zu hohe idealistische und unrealisierbare Zielvorstellungen formuliert sind. Es heißt da z. B., die politische Bildung solle ein „selbstverständliches Staatsbewußtsein" entwickeln oder sie müsse „ein unvoreingenommenes Verhältnis zur eigenen Geschichte" herstellen. Das sind fromme Wünsche, die man auch in den Richtlinien zur Gemeinschaftskunde findet. Aber der im pädagogischen Bereich Erfahrene und Wirkende weiß, daß unter den Voraussetzungen, unter denen politische Bildung in einer freiheitlichen Demokratie nur möglich ist, diese Ziele weithin nicht oder nur von einer kleinen Elite erreicht werden können. Wir können und wollen ja keine Schulung und keine Propaganda betreiben. Darum müssen wir es dem einzelnen überlassen, was er aus der Fülle des Angebots an Informationen und Empfehlungen für sich macht, ob er es insbesondere versteht, dieses Wissen in Bildungswerte umzusetzen. Gebrauchsanweisungen können wir ihm nicht mitgeben. Das ist der Preis, den wir für die Freiheit der Meinung zahlen und den eben auch die politische Bildungsarbeit zahlen muß.Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich seit ihrem Bestehen in unermüdlicher Kleinarbeit gezielt und auch bereits differenziert an alle Bevölkerungsschichten gewandt, wenn auch primär an die sogenannten Multiplikatoren; übrigens ließ der Etat nichts anderes zu. Die Wirkung dieser Arbeit ist sehr nachhaltig und von der Effizienz, Herr Moersch, die wir uns wünschen, die die große Nachfrage besonders von seiten der Schulen nach den Informationen der Bundeszentrale beweist. Man kann sagen: die Schulen reißen sich gerade um diese Informationen, so daß die Bundeszentrale gar nicht alle Wünsche in dieser Beziehung erfüllen konnte. Mein Vorschlag lautet daher, die Auflage der Informationen wesentlich zu vergrößern, so daß auch die Schüler der Oberstufe und nicht nur die Lehrer sie als Arbeitsmaterial in die Hände bekommen können. So könnte hier eine größere Breitenwirkung als bisher erreicht werden.Wenn nun die Bundesregierung von der Bundeszentrale fordert, sie solle sich an die breiten Schichten der Bevölkerung wenden, so bitte ich doch zu bedenken, daß solche Versuche von anderer Seite in letzter Zeit des öfteren und sehr intensiv gemacht worden sind. Ich erinnere nur an den Appell, den die Massenmedien Rundfunk, Fernsehen und Presse und fast sämtliche Parteien an die breiten Schichten der Bevölkerung gerichtet haben, dem Radikalismus jeder Richtung eine Absage zu erteilen. Wie man an den Wahlen sieht, haben diese Appelle, gemessen an dem Umfang und dem Aufwand dieser gezielten Aufklärungs- und politischen Richtungsarbeit, keinen durchschlagenden Erfolg gehabt, meiner Meinung nach deshalb, weil ein großer Teil dieser Schichten emotional und nicht oder kaum rational reagiert und weil unsere politische Bildungsarbeit weithin rational ausgerichtet ist. Sie, Herr Moersch, haben vorhin von dem „kritischen Intellektualismus" gesprochen. Das ist sicherlich richtig so, denn so ist diese Bildungsarbeit weithin ausgerichtet.Dieses Beispiel zeigt auch, meine ich, die Grenzen politischer Bildungsarbeit durch die Massenmedien. Selbstverständlich soll man sich in der politischen Bildungsarbeit weiterhin dieser Mittel bedienen. Sicherlich ist es auch wünschenswert, daß ein engerer Kontakt zwischen den Massenmedien und der Bundeszentrale hergestellt wird. Ich fürchte allerdings, daß die Massenmedien diesen Kontakt mit der überparteilichen Bundeszentrale nur unverbindlich pflegen werden, weil ihnen vielmehr daran liegt — so scheint es mir wenigstens bisher zu sein —, ihre Bildungsarbeit von Menschen bestimmter politischer Richtung durchführen zu lassen.Ich glaube auch nicht, Herr Lohmar, daß durch eine Organisationsänderung — z. B. durch eine Umgestaltung der Bundeszentrale zu einer Bundesoberbehörde — eine größere Effizienz der politischen Bildungsarbeit erreicht werden kann. Vorhin hat Herr Moersch davon gesprochen, es würde eine größere Unabhängigkeit geschaffen. Wovon?
Eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Huys, darf ich Sie darauf hinweisen, daß niemand — jedenfalls keiner aus meiner Fraktion — die Umwandlung der Bundeszentrale in eine Bundesoberbehörde verlangt hat.
Sie haben recht, Wir haben uns das auch überlegt. Aber inzwischen, Herr Lohmar, sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß das nicht gut ist. Das habe ich hier ganz deutlich ausgesprochen. Sie werden ja nachher sicherlich dazu Stellung nehmen.Die bisherige Arbeit der Bundeszentrale verdient mit Recht, wie auch die Antwort der Bundesregierung feststellt, hohe Anerkennung. Die Bundeszentrale hat im Laufe der Jahre immer wieder ihre Zielsetzungen überprüft und wird es weiterhin tun. Sie wird auch Experimente wagen, z. B. auf dem Gebiet der Bildungswerbung und der Untersuchung der Maßnahmen zur politischen Bildung. Es ist auch zu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10563
Dr. Huysbegrüßen, daß die Bundesregierung dem Direktor der Bundeszentrale einen Beirat geben will, der ein Bindeglied zu den wissenschaftlichen Hochschulen sein soll. Herr Moersch, Sie nennen das: zur angewandten Wissenschaft; ich meine das auch. Warum soll es eigentlich nicht auch ein Bindeglied zur wissenschaftlichen Hochschule geben? Auch das müssen wir hier haben.Abschließend möchte ich mich bekennen zu den Empfehlungen der Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung zur Verbesserung der Wirksamkeit der politisch bildenden Tagungsarbeit, wie sie sie in den Punkten 3 bis 8 gibt. Hier wird im Grunde genommen nichts anderes vorgeschlagen, als die bisherige Arbeit der Bundeszentrale fortzuführen und zu intensivieren.Von der in Punkt 2 empfohlenen Herausgabe eines Handbuches der politischen Bildung halte ich nicht viel, weil ein solches Werk in unserer sich schnell wandelnden Zeit zu schnell veraltet und die bereits vorliegenden Staatslexika meiner Meinung nach durchaus genügen.Die in Punkt 1 formulierten Ziele der politischen Bildung halte ich für theoretisch richtig, aber nicht alle für praktisch erreichbar. Das habe ich vorhin schon an anderer Stelle ausgeführt. Es ist gut, daß wir uns am heutigen Tage in diesem Hohen Hause mit der Wirksamkeit der politischen Bildung befassen, wie sie insbesondere von der Bundeszentrale und der Bundesregierung betrieben wird. Ich hoffe auch, daß die zuständigen Stellen Folgerungen aus dieser Debatte ziehen werden.Ich möchte aber noch einmal betonen, daß keine spektakulären Erfolge in der politischen Bildungsarbeit zu erwarten sind; denn sie ist nun einmal zum großen Teil pädagogische Arbeit, und in ihr wächst, ob uns das paßt oder nicht, alles langsam. Trotzdem sollten wir nicht aufhören, uns in unermüdlicher Kleinarbeit um größere Breiten- und Tiefenwirkung zu bemühen.Aber auch in anderen Ländern ist die Breitenwirkung der politischen Bildungsarbeit nicht sehr groß. In den USA z. B. liegt der Anteil der zum politischen Engagement bereiten Menschen auch nur bei zirka 10 % der Bevölkerung. Darum, meine Damen und Herren, bleiben wir bescheiden in der Vorstellung von der Breitenwirkung der politischen Bildung! Die erste Forderung für uns alle muß bleiben, selbst ein gutes Vorbild für politisches Verhalten zu geben.Noch ein letztes Wort zum Antrag der Fraktion der FDP. Gegen Punkt 1 haben wir keine Bedenken. Das ist ohne weiteres zu machen. Aber unter Punkt 2 fordern Sie die Bundesregierung auf,bei ihren Maßnahmen und Entscheidungen die Vielfalt der außerschulischen politischen Bildungsarbeit und ihrer Trägerschaft besonders zu berücksichtigen und dabei den Vorrang privater unabhängiger Institutionen und Organisationen zu sichern.Das wird nun wirklich getan, Herr Moersch, und nach dem Bundesjugendplan auch bereits besonders beachtet.In Ziffer 3 fordern Sie die Unabhängigkeit. Herr Moersch, von wem wollen Sie eigentlich die Unabhängigkeit? Wollen . Sie die Unabhängigkeit der Friedrich-Naumann-Stiftung vom Staat, oder von wem wollen Sie eigentlich Unabhängigkeit haben? Das hätte ich ganz gern von Ihnen gewußt. Irgendwo sind wir nämlich alle abhängig.
Das Wort hat der Abgeordnete Raffert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher würde es mir und vielleicht auch dem Hause Vergnügen bereiten, den Ausführungen des Kollegen Huys in bestimmten einzelnen Punkten noch genauer nachzuspüren. Aber angesichts der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, will ich mich gleich der Antwort der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen zuwenden. Diese Antwort erfordert eine kritische Würdigung, aber sie verdient sie auch; denn sie erweckt keinesfalls den Eindruck — der aus den Darstellungen von Herrn Huys entstehen könnte —, daß hier alles in Ordnung sei. Ich meine, das ist gut. Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, das wissen wir ja, der trägt sie an der falschen Stelle.
Das hat die Bundesregierung in dieser Antwort nicht zu erkennen gegeben. Aber nicht nur insofern, Herr Dr. Schober, ist die Antwort der Bundesregierung das beste, was wir bisher von einer Bundesregierung zu diesem Thema vorgelegt bekommen haben.
Wer übrigens in diesem Zusammenhang einmal die Debatten des Reichstages über die Wirkung der Reichszentrale für Heimatdienst aus den zwanziger Jahren nachgelesen hat, der hat festgestellt, daß auch den Reichsregierungen früher dazu tatsächlich nichts Besseres eingefallen ist.
— Herr Moersch, wir kommen darauf, keine Angst, ich fange gerade an.Positiv an der Antwort der Bundesregierung ist auf jeden Fall zu werten, daß sie nicht von einem vorhandenen oder auch nur anzustrebenden Harmoniemodell unseres Staates und unserer Gesellschaft spricht, sondern daß sie auszugehen scheint von einem sehr viel moderneren - -
Metadaten/Kopzeile:
10564 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Raffert— Auch nicht anzustrebenden Harmoniemodell, Herr Kollege Schulze-Vorberg, nein, nein. Die Bundesregierung geht offensichtlich von einem sehr viel moderneren Staats- und Gesellschaftsbewußtsein aus, das einschließt, daß in unserer Gesellschaft auch Konflikte vorhanden sind und weiter ausgetragen werden müssen. Das also ist lobenswert anzumerken.Zweitens ist zu begrüßen, daß auch nicht behauptet wird, es gebe ein generelles Rezept dafür, wie man politische Bildung und womöglich durch sie und mit ihr auch die Politik irgendeinem Idealzustand annähern oder mit ihm deckungsgleich machen könnte. Die Antwort zeigt vielmehr — in manchen Details, ja sogar im Ansatz —, daß das der Bundesregierung klar ist und daß sie inzwischen den zwar schwer zu ertragenden, aber doch gegebenen Tatbestand erkennt und daß sie anzuerkennen bereit ist, daß zahlreiche Verbesserungen und Bemühungen darum in vielen Einzelpunkten notwendig sind, um hier voranzukommen.Hier wird uns nicht der so trügerische Glanz eines großen Wurfs vorgeführt, sondern die Bereitschaft bekundet, sich einem mühseligen, nichtsdestoweniger notwendigen Geschäft zu unterziehen und nicht zu entziehen.Schließlich noch dies: Aus der Antwort ist auch zu lesen — ich möchte das ganz deutlich feststellen —, daß die Bundesregierung jetzt klargestellt hat, daß politische Bildung nicht Öffentlichkeitsarbeit zum Lobe der Regierungsarbeit sein kann. Niemals darf sie — das lese ich aus dieser Antwort heraus und möchte das hier protokollnotorisch machen — auch nur in Verdachtsnähe zu Propaganda geraten. Das muß künftig auch bei möglicherweise zu ziehenden organisatorischen Konsequenzen bedacht werden.Nun aber zur eigentlichen Kritik: Bei ihrem Versuch, ihr Recht auf differenziertes Denken auszuüben und sich gleichwohl eindeutig auszudrücken — das wäre ja ein Modellfall für die Umsetzung politischer Bildung in die Praxis —, sind die Autoren der Regierungsantwort im Bundesinnenministerium der Gefahr unzulässiger Verkürzung und Einengung nicht überall entgangen. Es ist vorgekommen — darauf muß kritisch hingewiesen werden —, daß Problemstellungen von zentralem Gehalt der Neigung zum Opfer gefallen sind, dasjenige auszuklammern, was schwer zu fassen und noch schwerer zu lösen ist.Beispielsweise glaube ich nicht, daß die wirklichen „Ursachen des Unbehagens an Politik und Staat" zureichend beschrieben worden sind. Ich glaube einfach nicht, daß die Hinweise darauf, daß „das große Ziel der Wiedervereinigung noch nicht in greifbare Nähe gerückt" ist, oder auf die Klage über die Anziehungskraft „politischer Alltagsarbeit" oder auf die „mangelnde Durchsichtigkeit politischer und wirtschaftlicher Prozesse" ausreichen, um das zu erklären. Ich glaube auch nicht, daß die Bemerkung über das offenbar unzulängliche Verständnis über die Aufgaben von Parteien „in hochentwickelten und differenzierten Gemeinwesen" dazu als ausreichende . Unterlage angesehen werden kann.Wir dürfen uns, wenn wir über politische Bildung sprechen, auch nicht zu sehr auf die Spannung zwischen den Generationen kaprizieren. Dadurch könnte zu leicht die Illusion aufkommen: wenn diese Jugend von heute erst einmal in unsere Jahre gekommen ist, dann erledigen sich diese Probleme und Konflikte auf eine besondere Art der Verjährung. Das wäre eine gefährliche Illusion, vor der gewarnt werden muß. — Bitte, Herr Schulze-Vorberg?
— Nicht nur eine neue Jugend, sondern es gibt auch Probleme, die die Jugend besonders erkannt hat und die auf Jahre, über ein Leben hinaus bestehenbleiben, wenn man nicht rechtzeitig genug an ihre Lösung geht. Das wollte ich hiermit sagen. Ich wollte nicht auf Gefahren durch eine neue Jugend, sondern durch überalterte Probleme hinweisen.Der Abstand zwischen dem, was man hoffen und wünschen und erwarten muß, und dem, was erreicht worden ist und erreicht werden konnte, kann, wenn man über die Aufgaben der politischen Bildung bei uns spricht, nicht an dem gemessen werden, was etwa in der Wiedervereinigungspolitik oder hier und da bei den anderen Themen, die angesprochen worden sind, erreicht worden ist.Ich meine vielmehr: Zu viele Reformen — und jetzt komme ich auf den Kern dessen, was ich in der Antwort der Bundesregierung vermisse —, die zum Nutzen des einzelnen zu seiner Entfaltung in und mit der Gesellschaft hätten führen können, sind ausgeblieben. Zu selten konnte der bundesdeutsche Staatsbürger — ich benutze diesen Begriff ein bißchen ironisch — den Eindruck haben, es geschehe tatsächlich etwas für ihn zur Erfüllung seiner eigentlichen Bedürfnisse, um ihm gegen seine Angst vor der Zukunft zu helfen.Solche Themen aber müssen von denen, die politische Bildung betreiben, sie fördern, für sie verantwortlich sind, nicht nur informativ behandelt werden; daran fehlt es auch. Sie müssen vielmehr bewußt dem oft sehr scharfen Wind einer breiten öffentlichen Diskussion ausgesetzt werden. Reformen, wie sie z. B. in den Schulen, in den Hochschulen, in der Eigentumsstruktur, in der Betriebs- und Wirtschaftsverfassung überfällig sind, gehören als Beispiele hierher. Da zeigt sich auch — und das muß deutlich gesagt werden —, wie abhängig die Effektivität politischer Bildung von der Konsequenz politischen Handelns ist. Politische Bildung steht ja in einer ganzen Reihe solcher Abhängigkeiten von Schwierigkeiten, von Schwierigkeiten, in denen sich die Politik in dieser Zeit des Wandels befindet, von Schwierigkeiten der geistigen Neuorientierung, von Schwierigkeiten aber auch des Findens und Absicherns ihrer eigenen Methoden. Das ist auch eine wichtige Sache. Das bisher dazu zur Verfügung stehende Instrumentarium reicht offensichtlich nicht aus. Auch die personelle und materielle Ausstattung — das gilt insbesondere für die Bundeszentrale — ist nicht ausreichend, um wirklich nachhaltige Hilfe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10565
Raffertbei den Orientierungsproblemen geben zu können, vor denen die Menschen heute stehen. Zu leicht beschränkt man sich dann eben auf Rückblicke und vermittelt daraus abgeleitete sogenannte Erfahrungswerte, läßt dabei aber doch den Mangel erkennen, der eigentlich der wichtigste ist, den ich an der politischen Bildung bemerke: Sie ist zu wenig zukunftsorientiert. Auch die Antwort der Regierung gibt uns kaum Hoffnung, daß sich das ändern werde. Restbestände seit langem bekannter, verhärteter, in der Verhärtung nicht erträglicher gewordener Voreingenommenheiten sind zwar hoffentlich nicht in der Praxis der Bundeszentrale konserviert worden, wohl aber in Einzelformulierungen der Antwort stehengeblieben. Herr Moersch hat mir manche Zitate freundlicherweise abgenommen. Ich möchte klar sagen: Eine aufgepäppelte Vaterlandssymbolik — darin sind wir uns wohl einig, Herr Moersch — hilft uns ebensowenig weiter wie der mindestens auf einem Auge blinde Antiintellektualismus. Es ist nicht so, daß der von allen Bindungen gelöste Intellektualismus — das Wort „wurzellos" hat man in der Antwort offensichtlich gerade noch vermeiden können — eine wirklich gefährliche Tendenz ist. Vielmehr hat die Verbindung scheinbarer intellektueller Schärfe mit unkontrollierter Emotionalität dazu geführt, daß die Formen des politischen Kampfes bei uns heute oft so denaturiert, so brutal und unsinnig geworden sind.Ich will davor warnen, rationalen Ansätzen zur Kritik abzuschwören, bloß weil man hinter ihnen nicht die Bindung an erwünschte, aber deswegen doch nicht weniger überprüfenswerte Ideale gleich erkennt. So überprüfenswert diese Ideale sind — und sie werden im Verlauf einer solchen Prüfung möglicherweise nur dadurch eine Bestätigung finden, daß auch sie sich wandeln; das ist ja nichts Negatives —, so müssen auch wir bereit sein, und zwar bewußter und exakter, als das aus dem Regierungspapier hervorgeht, mit den Inhalten auch die Methoden, die Art und Weise der politischen Bildung zu überprüfen. Das ist besonders wichtig, weil autoritäre Formen der Informationsvermittlung gerade auf diesem Feld unsinnig sind. Wir können nur dann die aktive Teilnahme möglichst Vieler am Prozeß der politischen Willensbildung erreichen, wenn sie sich als Partner empfinden und als solche fungieren können und wenn sie sich nicht als Empfänger irgendwelcher von anderen gewonnener höherer Erkenntnisse, an denen sie sich zu orientieren haben, verstehen müssen. Ich will es einmal so sagen: Es -ist sehr bequem, unmündig zu sein. Viele sind eben so bequem und erkennen das deswegen nicht. Aber das ist für uns keine Ausrede, sie nicht aufzuwecken und sie nicht in der Weise anzusprechen, wie es nötig ist, um ihre Bereitschaft zum Mündigsein zu erwecken. Wer zeigen will, daß in dem raschen Wandel, in dem wir uns heute befinden, mehr Chancen — das meine ich nämlich — als Gefahren liegen, muß natürlich auch selber bereit sein, seine eigene Position, sich selbst in Frage zu stellen und überprüfen zu lassen. Wenn er das nicht tut, wird es bei der Orientierungslosigkeit, in der sich viele befinden, doch einen größeren Hang zur Aggression oder Resignation geben, als wir es geschehen lassen dürfen.Zum Schluß: Ich glaube, daß uns bei all dieser Kritik in den Einzelheiten der Ansatz in der Antwort, die auf die Große Anfrage gegeben worden ist, gleichwohl hoffen läßt, die Bundesregierung sei im Grunde bereit, den Auftrag politischer Bildung in unserer Zeit und in unserem Lande richtig zu sehen und entsprechend zu handeln. So komme ich zu dem positiven Ansatzpunkt meiner Ausführungen zurück.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bitte um Ihr Verständnis, daß ich mich doch schon in diesem Stadium der Diskussion einschalte, eigentlich gegen meine Absicht. Ich glaube, es gehört zu unserem Thema, der Frage der politischen Bildung, daß wir uns einen Augenblick überlegen, wie wir unsere eigenen Erörterungen hier in diesem Hause gestalten. Ich möchte mir natürlich keine Kritik an der Art, in das Haus eine Debatte führt, erlauben, möchte als Mitglied dieses Hauses bei dieser Gelegenheit aber doch noch einmal ein, wie ich glaube, grundsätzlich wichtiges methodisches Problem ansprechen.
Wir haben uns vor einiger Zeit aus sehr einleuchtenden Gründen darauf verständigt, daß die Begründungen für Große Anfragen und die Antworten darauf schriftlich gegeben werden. Es besteht dann nur die Gefahr — ich glaube, heute gewisse Anzeichen für eine solche Gefahr zu sehen —, daß wir hier über Dinge reden, die derjenige, der uns zuhört — und wir hoffen ja, daß uns möglichst viele zuhören —, im einzelnen gar nicht verfolgen kann, weil er die Stellen, mit denen sich etwa Herr Moersch kritisch auseinandergesetzt hat — wir sprechen uns später noch, Herr Moersch; ich komme darauf zurück —, gar nicht vor sich hat oder nicht gehört hat. Er wird das also nicht so schnell finden, auch wenn er den Text hat. Es liegt ein gewisses Problem darin, daß die Debatte dann sozusagen in der zweiten Hälfte anfängt, deren Beurteilung die Kenntnis der ersten Hälfte, die hier nicht vorhanden ist, voraussetzt. Ich wollte, weil mir diese Debatte ein Beispiel dafür zu sein scheint, diese Gelegenheit nur benutzen, einmal auf dieses Problem — und nicht mehr — hinzuweisen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Frage?
Ja, bitte sehr! Vizepräsident Schoettle: Herr Moersch!
Herr Minister, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir Ihre kritische Ansicht
Metadaten/Kopzeile:
10566 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Moerschhierzu durchaus teilen und daß wir glauben, daß auf Grund eben dieser Erfahrung doch zu überprüfen ist, ob das bisherige Verfahren das richtige ist.
Ich nehme das gern zur Kenntnis. Ich glaube dennoch nicht, daß wir uns in der Sache einig sind. Aber darauf komme ich später ohnehin zurück.
Gestatten Sie noch eine Frage von Herrn Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Ja.
Herr Bundesminister, würden Sie eine Lösungsmöglichkeit etwa darin sehen, daß man ausführliche Beantwortungen Großer Anfragen schriftlich gibt und diese ausführlichen Beantwortungen hier dann doch zu Beginn der Debatte kurz in ihren wesentlichen politischen Strukturen erläutert?
Dies könnte sicher ein möglicher Weg sein. Aber ich wollte nicht mehr tun, als einmal auf diesen Punkt hinweisen. Das ist ja nicht im eigentlichen Sinne unser Thema, und wir sollten uns vielleicht bei anderer Gelegenheit weiter darüber Gedanken machen. Herr Moersch, es besteht natürlich die Gefahr — und dieser Gefahr sind Sie für mein Empfinden in vollem Umfang erlegen; deswegen glaube ich, daß wir dennoch nicht miteinander übereinstimmen —, daß Sie über einzelne Formulierungen diskutieren, die in der schriftlich vorliegenden Antwort — der Vorteil der schriftlichen Antwort ist ja, daß man alles nachprüfen kann — übrigens gar nicht enthalten sind. Gegen Formulierungen, die es gar nicht gibt, die aber im Sinne Ihrer Kritik, wenn es sie gäbe, schön wären, läßt sich besonders trefflich fechten.
Insofern bin ich nun in der glücklichen Lage, Sie im einzelnen auf die Stellen hinweisen zu können, auf die Sie sich bezogen haben oder bezogen zu haben meinten, und mich damit auseinandersetzen zu können. Ich will das nicht in allen Details machen, weil ich nicht meinerseits in eine Anti-Textkritik verfallen möchte. Wir sollten über politische Bildung in diesem Hause nicht in der Weise diskutieren, wie man über Schulaufsätze in der Schule vermutlich auch heute noch diskutiert, indem man Einzelformulierungen mit entsprechenden Kommentaren versieht.
Ich glaube nicht, daß dies die Aufgabe einer solchen Diskussion ist. Ich möchte jedenfalls versuchen, dieser Versuchung nicht zu erliegen.Es gibt eine grundsätzliche Frage, die durch die Bemerkungen von Herrn Moersch und auch von Herrn Kollegen Raffert aufgeworfen worden ist. Herr Moersch hat das, wie es seine Art ist, etwas pointierter, etwas polemischer getan und Herr Raffert in einer — wie soll ich sagen? — sehr verständnisvollen Weise. Aber der Kern des Arguments ist derselbe, und deswegen darf ich Sie in einem Zusammenhang nennen. Von Herrn Moersch habe ich als Empfehlung, um die Probleme der politischen Bildung zu lösen, den Vorschlag gehört, die Wahlperiode für die Bürgermeister in den süddeutschen Gemeinden zu verkürzen
— Herr Kollege, das war der wesentliche Ratschlag, den ich aus Ihren Fragen herausdestilliert habe — und die direkte Demokratie — oder was Sie darunter verstehen — einzuführen.Hier ergibt sich natürlich die ganz grundsätzliche Frage, ob eigentlich politische Bildung ein Ersatz für Politik ist.
Die Antwort darauf kann natürlich nur sein — und das gilt auch für die Punkte, die Sie erwähnt haben, Herr Kollege Raffert —: Selbstverständlich kann und soll politische Bildung kein Ersatz für Politik sein. Ich stehe da zu dem, was wir in unserer Antwort zu sagen versucht haben. Ich glaube jedenfalls, diese Formulierung ist ganz gut gelungen: daß es die Aufgabe der politischen Bildung ist, die Bürger zu befähigen, sich auf Grund eigener Einsichten zu politischen Fragen ein kritisches und selbständiges Urteil zu bilden und sich für die Durchsetzung dessen, was sie als richtig erkannt haben, in demokratischer Weise einzusetzen. Das heißt, daß wir ihnen nicht etwa vorschreiben wollen, welcher politischen Auffassung sie zu sein haben. Das setzt politische Bildung von public relations der Bundesregierung und von politischer Werbung im weitesten Sinne deutlich ab. Ich nehme an, daß wir uns darüber einig sind, Herr Kollege Moersch, daß dieser Unterschied besteht oder jedenfalls bestehen sollte; so würden Sie möglicherweise sagen. Das weist weiter darauf hin, daß der Bürger in die Lage gesetzt werden soll, das zu tun, wozu er in einer Demokratie aufgerufen ist, nämlich selber die Politik mitzugestalten.Dabei muß man natürlich — und da folge ich Ihnen übrigens in einem guten Teil der Einzelpunkte, Herr Kollege Raffert, die Sie angeschnitten haben —, wenn man merkt, daß dieses Ziel auf dem Gebiet der politischen Bildung bisher nicht oder nicht vollständig erreicht worden ist, fragen, wo die Ursachen liegen mögen. Da hat es einige Punkte gegeben, die in der Antwort angesprochen worden sind. Auch hier will ich davon absehen, auf die Frage einzugehen: Ist das nun richtig oder verkürzt gesagt? Das mag dem Urteil des Lesers überlassen bleiben. Ich würde dennoch meinen, die wesentlichen Punkte sind getroffen. Man kann natürlich darüber streiten, ob der eine oder andere Punkt vielleicht zusätzlich hätte ausgeführt werden sollen.Ich sage bei dieser Gelegenheit, auch wieder an die Adresse von Herrn Moersch, noch eines. Sie haben, wofür ich sehr großes Verständnis habe, von der langen Zeit bis zum Eintreffen der Antwort gesprochen. Das hat auch mir zu lange gedauert. Ich möchte Ihnen nur sagen, woran es liegt. Dazu veranlassen mich auch die sehr schmeichelhaften Berner-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10567
Bundesminister Bendakungen von Herrn Kollegen Raffert, der im ganzen Stil und Inhalt die Antwort doch wohl für gut hielt, wenn ich ihn richtig verstanden habe, jedenfalls für relativ gut, nämlich das Beste, was bisher zu dem Thema gesagt worden sei. Das mag noch nicht gut sein, aber es ist immerhin schon etwas.Es hat, solange ich die Ehre habe, der Bundesregierung anzugehören, noch nie ein Thema; das der Bundesregierung zur Beschlußfassung vorgelegt worden ist, gegeben, an dessen Formulierung im einzelnen sich die einzelnen Damen und Herren Mitglieder des Bundeskabinetts persönlich so beteiligt haben wie bei diesem Thema. Ich berichte das nur einmal, Herr Moersch. Ich finde das durchaus positiv. Im Kabinett und auch zwischen den Kabinettssitzungen und zwischen den Ressorts hat es eine Fülle von Anregungen von Ressorts gegeben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Frage?
Sobald ich den Satz beendet habe, — von Ressorts, die zuständigkeitshalber eher mit anderen Materien zu tun haben als mit diesem Thema. Da hat es Anregungen gegeben, die uns geholfen haben. Im ganzen hat das jedenfalls die Breitenbasis innerhalb der Bundesregierung über die formale Zustimmung zum Gesamtinhalt hinaus, die ohnehin notwendig ist, erleichtert. — Bitte schön, Herr Kollege Lohmar!
Herr Bundesminister, wie erklären Sie sich das zeitliche Zusammentreffen dieses sprunghaften Anstiegs der Kabinettsleidenschaft für die politische Bildung mit Ihrem Amtsantritt?
Ich bin versucht, darauf eine Antwort zu geben, die mir selber gefallen würde. Aber darauf kommt es nicht an, Herr Lohmar. Ich lege Ihnen die Antwort einmal selber nahe und möchte darauf nicht eingehen. Ich werde vielleicht im weiteren Verlauf meiner Ausführungen noch Gelegenheit haben, in anderem Zusammenhang Ihre Frage indirekt zu beantworten.
Herr Minister, da ist noch eine Frage an Sie. Gestatten Sie sie? — Herr Moersch!
Herr Minister, darf ich aus Ihrer Antwort entnehmen, daß auch der Bundeskanzler selbst sich um die politische Bildung bemüht hat?
Das hat er in der Tat, Herr Kollege Moersch.Nun möchte ich Gelegenheit nehmen — ich will versuchen das so kurz wie möglich zu tun —, noch zu einigen Zitaten Stellung zu nehmen, die nach Auffassung von Herrn Moersch in der Antwort stehen, nicht deswegen, weil ich jetzt Textkritik üben und eine Erwiderung darauf geben möchte, sondernweil ich glaube, daß es sich um wichtige Sachfragen handelt. Ich finde es ganz ungerecht — um das so deutlich wie möglich zu sagen —, daß Herr Kollege Moersch in einer pauschalen Weise den Vorwurf erhoben hat, wir redeten dort, wo man von Demokratie sprechen müßte, statt dessen vom Staate. Wäre dies richtig, wäre es natürlich ein inhaltlich wichtiges Problem. Nach dem, was hier gesagt worden ist, beschränke ich mich jetzt darauf, vorzulesen, was zu diesem Punkt in der Drucksache steht:Die politische Bildung muß sich mehr als bisher um die Entwicklung eines selbstverständlichen Staatsbewußtseins bemühen. Dieses Staatsbewußtsein wird verstanden als Bekenntnis zum Grundgesetz, seinen Ansprüchen und Forderungen, seinen Einrichtungen und Verfahren, und zwar nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der politischen Werte und Freiheiten, die es bestimmt und sichert. Staatsbewußtsein bedeutet also für die politische Bildungsarbeit die Bejahung unserer demokratischen Staatsform, ...Ich frage mich, wie man, wenn man den Text wirklich gelesen hat, dann zu den Unterstellungen kommen kann, die Herr Kollege Moersch hier vorgenommen hat. Ich glaube, damit ist zu diesem Punkt das Notwendige gesagt.
Verschiedentlich ist über die „konfliktfreie Gesellschaft" gesprochen worden. Das ist eine wichtige Sachfrage. Das, was Herr Kollege Moersch insoweit unterstellt hat, kann ich in der Antwort schlechthin nicht finden. Ich weiß nicht, auf welche Stelle er sich bezieht. Es gibt eine Stelle — aber ich will nicht dauernd vorlesen —, in der das genaue Gegenteil dessen steht, was Herr Kollege Moersch unterstellt. Ich meine Seite 3 Ziffer 2.Ich benutze die Gelegenheit, mit meinen eigenen Worten auch auf Ihre Zwischenbemerkung, Herr Kollege Schulze-Vorberg, einzugehen. Ich bin in der Tat der Meinung, daß die bisherige politische Bildungsarbeit oft — so steht es hierin — dem Fehler verfallen ist, eine verklärende Darstellung . der Wirklichkeit zu geben. Ich bin der Meinung, daß man das nicht tun sollte.
— Nein, Herr Genscher, jetzt hören wir mit diesemBegriff, den ich übrigens auch nicht so furchtbar
Metadaten/Kopzeile:
10568 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Bundesminister Bendagern gebrauche, einmal auf. Die Diskussion darüber liegt ja eine Weile zurück. Das aber, was Sie da hineinstecken wollen, ist für mein Empfinden doch eine Fälschung dessen, was damit gemeint war, ist beinahe schon eine Geschichtsfälschung. Aber lenken Sie mich im Augenblick bitte nicht von meinem Hauptpunkt ab.Ich meine, eine parlamentarische Demokratie lebt von der ständigen Spannung, wie einmal in anderem Zusammenhang gesagt worden ist, zwischen Skepsis und Zuversicht, das heißt, zwischen dem Anstreben eines Zieles, nämlich des Institutionalisierens und des Ausgleichs von Konflikten, und zugleich der realen Erkenntnis, daß dies eben nicht vollständig, sondern nur in einem gewissen Umfange gelingen wird. Dies ist die Situation, in der wir sind. Wir werden es zweifellos nicht schaffen, alle diese Konflikte zu beseitigen. Dennoch sollen wir uns natürlich bemühen, das — nicht im Sinne einer romantischen harmonisierenden Verklärung der Wirklichkeit, sondern eines ganz real und ganz nüchtern zu sehenden Interessenausgleichs — immer wieder zu versuchen. Darauf hin ist die Demokratie und ist der soziale Rechtsstaat angelegt; sie sollten es jedenfalls sein.
Ich meine, das ist das Bild, das uns auch bei der Methodik der politischen Bildungsarbeit vorschwebt. So ist es hier gesagt, wie ich meine, und gar nicht anders. Wenn wir uns auf diese Vorstellung verständigen könnten, würde ich darüber sehr froh sein.Und nun zu dem, was angeblich über — ich zitiere wieder Herrn Moersch — „zersetzende Kritik" gesagt wird, und zu dem, von dem Herr Raffert sagt, beinahe stünde es darin, womit zugegeben ist, es steht im Grunde nicht darin,
nämlich über „wurzellosen Intellektualismus" und was mit diesen Begriffen verbunden wird: Meine Damen und Herren, lesen Sie doch bitte — ich kann Sie ja jetzt nicht mit seitenlangen Zitaten aufhalten — den Zusammenhang. Ich habe vorhin in anderem Zusammenhang bereits darauf hingewiesen, daß es unsere Aufgabe in der politischen Bildung sein muß, den Bürger zur Kritik, zu einem selbständigen, mündigen, kritischen Bewußtsein zu erwecken.Herr Kollege Raffert, zu dem Problem des — dieses Wort gebrauche ich auch nicht gern, aber nachdem es gekommen ist, wiederhole ich es — „Intellektualismus" lesen Sie einmal nach, was Ihr und unser Kollege, Ihr Fraktionskollege, unser Parlamentskollege, Helmut Schmidt im Anschluß an Studentenunruhen hier in diesem Hause gesagt hat.
Setzen Sie — ich gebrauche jetzt aus dem Gedächtnis seine Worte — an die Stelle des in der Tat problematischen Begriffs „Intellektualismus" die klare Aussage, daß wir uns absetzen sollten von jener intellektuellen Arroganz eines Menschen, der meint, nur weil er zwei oder drei Jahre auf einer Universität gesessen hat und möglicherweise halbwegs zu einem Examen gekommen ist, wüßte er wirklich alles besser als jeder andere Mensch sonst.
Das ist doch das Probleme, um das es geht. — Bitte schön!
Herr Minister, ich darf doch wohl sicher sein, daß Sie mir nicht unterstellen wollen, ich hätte wirklich so argumentiert. Darf ich Sie nicht bitten, bereit zu sein, ein bißchen genauer wirklich das zu behandeln, was ich vorgetragen habe, und sich damit auseinanderzusetzen?
Ich bin, Herr Raffert, sehr gern bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was Sie sagen. Ich habe mich nur, ehrlich gesagt, etwas an Ihrer Formulierung gestoßen, es stünde zwar nicht ganz, aber beinahe eine Polemik gegen den angeblichen wurzellosen Intellektualismus darin. Da das nun einmal nicht drinsteht, darf ich mir den Hinweis erlauben, daß dem so ist, daß es nicht darinsteht. Ich glaube, das sollte gestattet sein und kein Anlaß zur Verstimmung sein. — Bitte!
Herr Minister, finden Sie den Begriff „intellektuelle Arroganz" nicht sehr mißverständlich? Ist es nicht viel klarer, von Arroganz zu sprechen? Was hat Arroganz mit Intellekt zu tun?
Wenn ich mich nicht täusche, habe ich nicht von intellektueller Arroganz, sondern von Arroganz schlechthin gesprochen. Oft steckt dahinter auch gar keine Intelligenz, sondern nur die Behauptung einer solchen.
Jedenfalls ist das also das, was ich meine. — Aber ich schlage vor, daß wir dieses Thema verlassen; ich möchte versuchen, jetzt zum Schluß zu kommen und Ihre Geduld nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen.Nur noch ein wirklicher Sachpunkt. Herr Kollege Moersch, die Einstufung des Direktors der Bundeszentrale für politische Bildung interessiert mich in der Tat lebhaft. Dies ist allerdings, wie Sie natürlich wissen, nicht nur eine Frage an die Bundesregierung. Da bemühe ich mich schon darum, und zwar sehr intensiv, darauf bitte ich Sie sich zu verlassen. Ich werde mir sehr gern erlauben, auf Ihre Bemerkung dann zurückzukommen, wenn die zuständigen Gremien dieses Hohen Hauses, insbesondere der Haushaltsausschuß, über diese Fragen zu sprechen haben. Ich hoffe sehr, daß wir dann eine Übereinstimmung der Meinungen feststellen; so wie Sie es gesagt haben. Ich hoffe überhaupt, Herr Kollege Moersch, in der Zukunft sehr viel mehr als bisher auf Ihre intensive Mitarbeit in den Fragen der politischen Bildung. Wenn ich also sehe, daß im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung zwei Kollegen der FDP sitzen, von denen der eine noch nie dagewesen ist,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10569
Bundesminister Bendaund der zweite, nämlich Herr Kollege Moersch, von sechs Sitzungen nur an zweien teilgenommen hat,
das letzte Mal im Oktober 1967, dann darf ich mich der schmeichelhaften Hoffnung hingeben, daß wir in Zukunft von Herrn Kollegen Moersch, nachdem er sich an der praktischen Arbeit noch intensiver beteiligt hat, desto intensivere Sachbeiträge hier in diesem Hohen Hause erhalten werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Bitte sehr!
Herr Minister, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich erstens Protokolle lesen kann und daß ich es zweitens außerordentlich bedauere, wenn diese Sitzungen ständig mit anderen Ausschußsitzungen in diesem Hause zusammenfallen, an denen ich als Vertreter meiner Fraktion teilnehmen muß? Das ist Ihnen doch sehr wohl bekannt. Ich sehe sogar eine Absicht darin, daß diese Kuratoriumssitzungen immer dann angesetzt werden, wenn wir eine andere wichtige Ausschußsitzung haben. Ich verbitte mir diese Kritik.
Herr Kollege Moersch, ich habe nur ein Faktum festgestellt. Ich habe mir das schon angesehen; es steht mir ja gar nicht zu, das hier zu kommentieren, aber das Faktum meine ich wohl mitteilen zu können.
— Ja, da waren Sie leider nicht dabei; die Kollegen der anderen Fraktionen haben die Sitzungen wahrgenommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lohmar?
Ja, bitte sehr!
Herr Bundesminister, halten Sie es wirklich für zweckmäßig, diese Debatte mit Anmerkungen zu belasten, die Ihnen als Mitglied der Regierung nicht zustehen, sondern nur dem Kuratorium selber?
Ich glaube, die Feststellung hier zu treffen, sollte mir nicht untersagt sein. Es ist ein Faktum, wie mir scheint, und Folgerungen habe ich daran nicht geknüpft.
Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mühlhan.
Bitte sehr!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß das FDP-Mitglied des Kuratoriums zur CDU übergetreten ist?
Diese Frage zu diskutieren, übersteigt allerdings mit Sicherheit meine Zuständigkeiten von diesem Platze aus.
Ich bin allerdings darüber informiert, daß die FDP aus diesem Vorgang in der Zwischenzeit auch ihrerseits eine personelle Konsequenz gezogen hat,
so daß es insoweit also wieder eine andere Situation gibt.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend meinen, daß wir uns hüten sollten, auf dem Gebiet der politischen Bildung das Allheilmittel für alle unsere Probleme zu sehen. Politische Bildung ist sicher kein Ersatz für Politik. Sicher stoßen wir auf Grenzen, auf die Herr Kollege Dr. Huys vorhin aufmerksam gemacht hat, und sicher werden wir uns für die Zukunft noch eine Reihe von Gedanken einfallen lassen müssen. Die Bemerkungen in der Antwort, die sich darauf beziehen — das muß ich Herrn Moersch noch sagen —, sind ja kein Zeichen von Ratlosigkeit, wie Sie es unterstellt haben, sondern wir haben darauf hingewiesen, daß wir bestimmte methodische Erhebungen in der Zukunft noch anstellen müssen und daß wir auf diesem Gebiete sicherlich weiterhin noch ständig neue Erkenntnisse gewinnen müssen.
Meine Damen und Herren! Ich glaube, wenn wir die Arbeit in der Linie, wie sie in der Antwort auf die Große Anfrage vorgezeichnet ist, in ganz alltäglicher, nüchterner Arbeit fortzusetzen versuchen, werden wir einen guten Schritt weiter tun können, und wir werden dem gemeinsamen Anliegen zusammen dienen können. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Heuser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst ein paar Worte an den Kollegen Huys richten. Herr Huys, Sie haben gesagt, daß von der politischen Bildung keine spektakulären Erfolge zu erwarten seien. Sie haben das damit begründet, daß es sich dabei ja um ein Erziehungsproblem handele und Erziehung eben Zeit brauche. Aber wenn Sie dann noch dazusagen, daß auch in anderen Ländern, z. B. in den
Metadaten/Kopzeile:
10570 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Frau Dr. HeuserUSA, in Sachen politischer Bildung gar nicht so große Anstrengungen gemacht würden
— das hat er gesagt, in der Tat; Sie werden es sicher im Protokoll finden, Herr Schulze-Vorberg —, dann muß ich dazu doch ein paar Bemerkungen machen.Sicher, Erziehung braucht Zeit. Das weiß man. Aber wieviel Zeit wird dann verloren und vertan, wenn man solche Arbeit mit unsicheren Ansätzen tut? Daß man Sie zur Zeit noch mit unsicheren Ansätzen tut, hat sogar die Antwort der Bundesregierung gezeigt.Wenn Herr Huys meint, daß auch die anderen Länder gar nicht so sehr viel tun, dann meine ich: vielleicht haben sie es nicht nötig, wie wir das hier nötig haben. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß wir uns ganz besonders um diese politische Erziehung bemühen müssen.
Wie die Antwort der Bundesregierung und die Debatte heute zeigt, sind wir immer noch in einem Stadium, wo wir analysieren, was ist. Ich glaube, eins ist hier noch nicht zum Ausdruck gekommen: unter welch besonderen Spannungen die politische Bildung bei uns in der Bundesrepublik steht. Lassen Sie mich ein erstes Beispiel nennen: Ich sehe ein ganz besonderes Spannungsverhältnis schon da, wo es sich um die Vermittlung von politischer Bildung gerade der Jugend gegenüber handelt. Ich habe das Gefühl, als ob hier noch Spannungen zwischen den Historikern auf der einen Seite und den Politologen auf der anderen Seite bestünden. Ich glaube, das ist ein Punkt, an dem man ansetzen muß. Ich kann Ihnen heute auch kein Rezept sagen, wie das schneller zu bewerkstelligen wäre. Daß da aber ein Spannungsfeld besteht, ist sicher, und es ist auch sicher, daß das die Vermittlung der politischen Bildung an unsere Jugend besonders schwierig macht. Das sollte gesehen werden. Ich habe das in dem Bericht der Bundesregierung in der Tat vermißt.Lassen Sie mich ein Zweites sagen: Bei uns in der Bundesrepublik besteht in sehr vielen Fällen ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen dem, was die Schüler in der Schule erfahren, und dem, was ihre Eltern zu Hause dazu meinen. Das ist insbesondere da der Fall, wo es sich um unsere jüngste Vergangenheit handelt. Meine Damen und Herren, es ist schlimm, wenn man versucht, den Schülern in der Schule aus einem objektiven Abstand heraus diese Vergangenheit verständlich zu machen und sie dazu zu Kritik und Einsicht zu bringen, und wenn dann zu Hause über diese Art der „Vergangenheitsbewältigung" Urteile in der Art laut werden: „Die sollen in der Schule etwas anderes mit Euch tun, als unsere eigene Vergangenheit zu beschmutzen!" Meine Damen und Herren, man soll das ganz deutlich sagen: Es ist leichter, Jugend zu erziehen als Erwachsene. An die Jugend kommen wir auch besser heran. Wenn aber bei uns die Verhältnisse in vielen Bereichen noch so sind, ist es um so notwendiger, die Jugend auch zu solchen Auseinandersetzungen fähig, bereit und kenntnisreich genug zu machen.Meine Damen und Herren, ein dritter Punkt der besonderen Spannungsverhältnisse. Hier wende ich mich an den Herrn Bundesinnenminister. Herr Minister, Sie haben gesagt, man solle nicht zu dem Fehlschluß kommen, daß politische Bildung Politik ersetzen könne. Ganz sicher sollte man zu diesem Fehlschluß nicht kommen. Ich gehe sogar weiter, ich sage: noch viel schlimmer ist es, wenn man in die Situation gelangt, daß sich Brüche auftun zwischen dem Inhalt der politischen Bildung, dem angeblichen Ziel politischer Bildung und dem, was in der praktischen Politik geschieht.
Das ist eigentlich genau das, was insbesondere unsere Jugend gegenüber der Politik so sehr mißtrauisch macht.Ich darf Ihnen nur einen Punkt dazu anführen. Eben habe ich von den speziellen Schwierigkeiten in der Vermittlung politischer Bildung zur Jugend hin gesprochen. Jetzt hole ich Ihnen einen Punkt heraus, der sich auf die politische Bildung der Mädchen und Frauen bezieht. Wenn Sie sich an die Ausarbeitung des ersten Berichts zur Frauen-Enquete erinnern, dann wissen Sie, daß dort über das mangelnde politische Interesse der Frauen im allgemeinen geklagt wird. Und Sie wissen, wie sich alle Parteien um die Intensivierung der politischen Bildungsarbeit bei den Frauen bemühen, weil man sie für notwendig erachtet.Nun, Herr Minister, Sie sind mit einer der heftigsten Verfechter eines Mehrheitswahlrechts. In allen Ländern, in denen es dieses Mehrheitswahlrecht und modifizierte Formen davon gibt, finden wir nur 2 bis höchstens 4 % Frauen in den Parlamenten. Ich brauche nicht mehr dazu zu sagen. Ihr Einsichtsvermögen reicht mit Sicherheit dazu aus, diesen besonderen Bruch zwischen Intensivierung einer politischen Bildung von Frauen und der politischen Praxis hier zu erkennen. Einerseits wollen Sie die Frauen politisch bilden und sie an die politische Arbeit heranführen, andererseits reden Sie einem Wahlrecht das Wort, das mit Sicherheit die Frauen in noch sehr viel größerem Maße von der politischen Arbeit fernhalten würde.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schober.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und meine Herren! Wir haben nun schon eine beträchtliche Zeit über politische Bildung gesprochen. Wenn ich gut zugehört habe, dann haben wir der Bundesregierung bzw. der Bundeszentrale einige gute Ratschläge erteilt. Vielleicht ist das richtig. Aber ich meine, wir sollten die Problematik doch noch etwas tiefer angehen, als das bisher von einigen der Herren Vorredner und auch von Frau Heuser versucht worden ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10571
Dr. SchoberMan kann das Problem der politischen Bildung, wenn ich mich nicht irre, unter drei Aspekten sehen. Man kann, Herr Moersch, zunächst einmal fragen: Was ist politische Bildung überhaupt? Sie haben gesagt, die Bundesregierung habe kein richtiges Konzept des Begriffs „Bildung". Vielleicht können wir uns gleich noch darüber unterhalten. Man könnte dann — das ist auch geschehen — über die Methoden der politischen Bildung sprechen. Dann könnte man etwas über die Inhalte sagen. Erlauben Sie mir, daß ich diesen dritten Aspekt hier etwas näher betrachte.Aber bevor ich das tue, Herr Kollege Lohmar, möchte ich etwas zu einer Zwischenfrage bemerken, die Sie hier gestellt haben. Wenn ich mich nicht sehr irre, Herr Kollege Lohmar, haben Sie gemeint sagen zu sollen, daß die Förderung der politischen Bildung bei uns noch gar nicht so sehr alt sei, sondern daß das erst die Frucht der letzten Jahre sei, jedenfalls war die Bundeszentrale und die Bundesregierung anlangt. Ich möchte hier doch sagen dürfen, daß es eine Bemühung um die Förderung politischer Bildung schon seit recht langer Zeit gibt. Auch der Herr Vorgänger des jetzigen Bundesinnenministers, Herr Bundesminister Paul Lücke, hat sich sehr gut und, ich meine, auch sehr wirkungsvoll um diese Dinge bemüht. Dafür sollte man ihm an dieser Stelle einmal herzlichen Dank sagen.
Meine Damen und Herren, wenn wir etwas über die politische Bildung und zunächst über die Methodik sagen, dann müssen wir feststellen, daß wir wohl alle einer Meinung sind, daß es hier nicht in erster Linie auf Lehre ankommen kann, sondern auf Anleitung zum Handeln ankommen muß. Ich glaube, Herr Kollege Moersch, auch da befinden wir uns miteinander in Übereinstimmung. Das bloße Vermitteln von Wissen kann nicht Ziel der politischen Bildung allein sein; denn der Mensch, der am meisten weiß, ist noch nicht der Gebildete.
Der gebildete Mensch ist der, der auf Grund der Bemühung um die großen Zusammenhänge von Natur und Menschenwelt in der Lage ist, seinen eigenen Standort zu bestimmen und besonnen zu handeln. Zum Begriff der Bildung gehört nach meinem Dafürhalten das Vermögen, sich von sich selbst zu distanzieren, d. h. seinen eigenen Standort zu relativieren, Abstand von seinen eigenen unmittelbaren Antrieben zu bekommen. Das Einordnen in einen großen Zusammenhang, das ist, wie ich meine, das Ergebnis von Bildung und das ist das Kennzeichen eines gebildeten Menschen. Aber darüber nichts mehr!Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich stimme — da möchte ich nun an das anknüpfen, was Herr Kollege Raffert gesagt hat — in einem Punkt mit einigen der Herren Vorredner vollständig überein: wir müssen die politische Bildung von nun an sehr viel stärker, als uns das bisher möglich war, auf die Zukunft orientieren. Ich bin der Auffassung, daß es zwar richtig ist, sich Gedanken darüber zumachen, wie unsere Gesellschaft geworden ist. Aber ich meine, das Entscheidende wäre, daß wir auf diesem Gebiete dazu kommen, klare Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie diese Gesellschaft in der Zukunft einmal aussehen darf, aussehen muß und aussehen soll. Ich möchte mich nicht als einen Anhänger von Ernst Bloch bezeichnen, aber in einem Punkt stimme ich mit Ernst Bloch überein: Es gibt kein politisches Leben, es gibt keine politische Erziehung ohne das Prinzip Hoffnung. Es gibt keine politische Bildung, ohne daß man den Menschen klarzumachen versucht, daß es ein gesellschaftliches Leben gibt, das zwar Gefahren hat, das aber durchaus positiv gestaltet werden kann. Was sollte man aber nun, wenn man diese Problematik so sieht, den Menschen, die politisch gebildet werden, zu vermitteln versuchen? Ich beziehe mich auf Abschnitt III, Ziffer 1 der Antwort der Bundesregierung — ich halte sie übrigens in allen Punkten für nicht ganz ausreichend, aber ich halte sie für gut —, in dem es heißt:Da die moderne Gesellschaft weithin eine Arbeits- und Wirtschaftsgesellschaft ist, erhalten Fragen aus diesem Bereich besonderes Gewicht.Das möchte ich sehr stark unterstreichen.Meine Damen und Herren! Welche sind nun die großen Fragen, die wir in diesem Zusammenhang in den Schulen, in der politischen Bildung, auf der außerschulischen Ebene und so fort zu vermitteln versuchen sollten? — Ich meine, die Probleme wären folgende. Wir sollten versuchen, uns klarzumachen, daß das Zusammenleben der Menschen auf dieser Erde nicht etwa leichter, sondern daß es schwieriger wird — allein schon wegen der wachsenden Menschenzahl. Wir sollten die Probleme der Bevölkerungsexplosion auch in ihren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft ganz klar und deutlich machen. Wir sollten uns weiterhin — meine ich — mit der Frage beschäftigen: Was hat es eigentlich mit der merkwürdigen Erscheinung auf sich, daß wir einem Prozeß der zunehmenden Konzentration in Gesellschaft und Wirtschaft weiterhin unterliegen? Ich bin kein Marxist, aber ich bin — —
— Ich würde mich über das Problem des Marxismus gern mit Ihnen, Herr Moersch, unterhalten.
Ich komme gleich darauf zurück. — Wir müssen aber doch — wie ich glaube — zugestehen, daß das Problem der Konzentration in unserer Gesellschaft, das heißt des Zusammenwachsens zu immer größeren Einheiten, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Gesellschaft in unserer Zukunft eine erhebliche Rolle spielen wird. Daraus ergibt sich eine für uns alle recht betrübliche Folgerung für den, seelischen Zustand vieler unserer Mitbürger.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine der Schwierigkeiten unserer politischen Bildung — die Schwierigkeit für den Menschen, sich überhaupt mit politischen Fragen zu beschäftigen — liegt
Metadaten/Kopzeile:
10572 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Dr. Schoberdarin, daß man sagt: Es ist alles so unübersichtlich geworden; ich überschaue diesen großen Prozeß gar nicht mehr; wie kann ich als politisch handelnder Mensch auf die politische Entwicklung überhaupt noch Einfluß nehmen? — Das Gefühl der Ohnmacht diesem großen, anonymen Gesellschaftsprozeß gegenüber scheint mir doch ein wesentliches Faktum unserer Zeit zu sein, und es scheint mir auch ein Grund dafür zu sein, daß wir weithin mit politischer Apathie und Lethargie zu tun haben. Wir müssen uns dieser Problematik stellen und müssen die Frage aufwerfen: Wie kann es gelingen, diesen Prozeß der zunehmenden Konzentration, ich möchte nicht sagen, unter Kontrolle zu bekommen, aber zu versuchen, ihn so zu gestalten oder so zu beeinflussen, daß ein hohes Maß menschlicher Spontaneität gleichwohl gesichert erscheint? Es erhebt sich natürlich in diesem Zusammenhang noch die Frage nach der Zukunft der parlamentarischen Demokratie. Wir müssen da einmal ganz offen sagen, daß sich in diesem Zusammenhang die Frage nach unserer Position innerhalb der Gesellschaft erhebt. Das ist auch eine Frage der politischen Bildung: Wie kann es das Parlament in dieser hochkonzentrierten Gesellschaft überhaupt noch fertigbringen, neben den Fachleuten der Bürokratie zu bestehen? Das Problem der Bürokratie im Verhältnis zum Parlament würde ich als einen ganz wesentlichen Punkt der politischen Bildungsvermittlung ansehen.Wir müssen uns weiter mit der noch gar nicht abzusehenden rasanten technischen Entwicklung dieser Zeit beschäftigen. Hier haben wir, glaube ich, auch noch nicht den richtigen Standpunkt gefunden. Vor kurzer Zeit ist ein sehr interessantes Buch von Karl Steinbuch „Falsch programmiert" erschienen. In diesem Buch behauptet Karl Steinbuch folgendes und versucht es auch zu belegen. Er sagt: Wir haben ein falsches Bewußtsein in dieser Gesellschaft, jedenfallsin der Bundesrepublik Deutschland. Die Technik ist uns weit davongeeilt; wir haben noch nicht das richtige Verhältnis zu ihr gewonnen. Wir beherrschen sie noch nicht. Ja, es ist im Grunde so — sagt Steinbuch —, daß viele von uns das gar nicht wollen. Er spricht von der politischen Hinterwelt, die es in Deutschland geben soll. Ich möchte das in dieser Form zurückweisen.
Meine Damen und Herren, seien wir uns doch klar darüber, daß es eine gewisse deutsche Tradition gibt, die es uns schwer macht, zum technischen Fortschritt ein unbefangenes Verhältnis zu gewinnen. Ich denke etwa daran, daß Oswald Spengler kurz nach dem ersten Weltkrieg den nach meinem Dafürhalten verhängnisvollen Gegensatz von Kultur und Zivilisation zu etablieren versucht hat.
— Ich möchte das bezweifeln, Herr Huys, ob er da recht hatte.Wir müssen uns frei machen von dem nach meinem Dafürhalten doch recht primitiven Pessimismus in der Kulturkritik. Es ist richtig, daß wir die Gefahren sehen, denen wir alle in dieser hochkonzentrierten Gesellschaft begegnen müssen. Aber ich meine, es wäre nicht damit getan — und da muß ich Karl Steinbuch in gewissem Umfange recht geben —, daß wir uns in ein modernes Biedermeier retten und sagen: Diese Gesellschaft ist so kompliziert, daß wir ihre Probleme sowieso nicht lösen können; also nehmen wir Abstand davon. Wir müssen zur Technik ein unbefangenes Verhältnis gewinnen, wie das in den Vereinigten Staaten und wie das in der Sowjetunion der Fall ist. — Herr Raffert!
Zwischenfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schober, wie beurteilen Sie denn in diesem Zusammenhang, auf den Sie gerade hinweisen, den — ich will mal sagen — Amoklauf, den zur Zeit Ihr Kollege Dr. Schmidt gegen das Heraufkommen der Computer und der datenverarbeitenden Apparaturen zu veranstalten scheint?
Herr Kollege Raffert, ich habe nicht genau gelesen, was Herr Kollege Schmidt dazu gesagt hat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß der Herr Kollege Schmidt nicht ein richtiges Verhältnis zur Technik hätte. Das kann ich mir, soweit ich ihn kenne, einfach gar nicht vorstellen. Ich glaube, daß er das durchaus hat.
Meine Damen und Herren, ein Letztes, was mir bei den Inhalten der politischen Bildung eine wichtige Sache zu sein scheint, und das betrifft auch die deutsche Frage: Spielt nicht in unserer politischen Bildung die Auseinandersetzung mit dem Marxismus immer noch eine zu geringe Rolle? Wir haben uns zwar mit dem Marxismus viel beschäftigt. Aber ich weiß nicht, ob wir, wenn ein deutsches Gespräch einmal in Gang kommen sollte, darauf gerüstet sind, mit Menschen umzugehen, die in der Dialektik des Marxismus-Leninismus großgeworden sind. Ich würde deswegen sagen, daß wir uns mit den Problemen des Marxismus-Leninismus viel stärker als bisher auseiandersetzen müßten, auch mit den Entwicklungen, die in letzter Zeit in der Tschechoslowakei bemerkbar geworden sind.
Herr Kollege Dr. Schober, sind Sie mit mir der Meinung, daß ein gründliches Studium des Marxismus insbesondere auf Ihrer politischen Seite vielleicht auch zu einem besseren Verhältnis zur technischen Entwicklung führen könnte?
Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie sich mehr mit dem Marxismus beschäftigt haben als wir. Ich glaube, daß unsere Gesellschaft noch nicht aufgeschlossen genug den Fragen gegenübersteht, die mit diesem Problem im Zusammenhang stehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10573
Dr. SchoberWir sollten uns doch darüber klar sein, daß im anderen Teil Deutschlands eine Generation, die jetzt schon zwei Jahrzehnte hindurch mit dem MarxismusLeninismus befaßt worden ist, nicht ganz unbeeinflußt davon aus diesem Prozeß hervorgeht. Ich meine, wir sollten uns besser darauf einstellen und besser darauf gerüstet sein.Ein Wort zum Schluß. Das, was an politischer Bildung in den letzten Jahren und Jahrzehnten bei uns in der Bundesrepublik Deutschland vermittelt worden ist, kann sich sehen lassen. Wir sollten aber noch mehr als bisher das Schwergewicht vom Wissen auf das Handeln legen, und wir sollten in unserer Gesellschaft auch Zuversicht erzeugen. Das von mir soeben schon zitierte Prinzip „Hoffnung" scheint mir ein wesentliches Element jeder politischen Bildungsarbeit in Zukunft zu sein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Matthöfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung fordert in ihrer Antwort auf die Großen Anfragen inhaltliche und methodische Verbesserungen der politischen Bildungsarbeit. Sie sagt, man solle sich mit politischen Aufgaben anhand konkreter aktueller Beispiele und nicht nur abstrakt beschäftigen. Die Ausklammerung von Begriffen wie Interesse, Konflikt und Macht sei gefährlich. Demokratie sei als eine Ordnung darzustellen, die den Menschen zwar nicht ein konfliktfreies Zusammenleben ermögliche, jedoch den Freiheitsraum des einzelnen am besten schütze und zugleich erlaube, Interessengegensätze gesellschaftlicher Gruppen in menschenwürdiger Form auszutragen. Man müsse neues Lehr- und Lernmaterial entwickeln usw., usw. Das alles ist natürlich gut und richtig. Diese Hinweise verharren jedoch immer noch auf dem Niveau einer überholten Postulatspädagogik.
— Postulatspädagogik ist eine Pädagogik, die nicht von der Erforschung der Wirklichkeit, sondern von A-priori-Postulaten ausgeht.
— Ich werde Ihnen gleich erklären, Herr Dr. Martin, was gemeint ist.
Wir benötigen sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Analyse der Konfliktbereiche — Konflikte können Bildungsprozesse sowohl motivieren als auch blockieren —, der Lernmotivationen, der formalen Strukturen des Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses von Erwachsenen, ihrer Erfahrungen, Vorstellungsinhalte und Sprachbarrieren. Ich wäre dankbar, Herr Minister, wenn bei den angekündigten methodischen Forschungen die vorzügliche Arbeit Oskar Negts über „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen" berücksichtigt werden könnte.Neben dieser „realistischen Wendung" ist eine Umkehrung der Einstellung zu den Teilnehmern an politischen Bildungsprozessen erforderlich. Bis jetzt wurden methodische Überlegungen meist in mehr manipulativer Absicht angestellt; ein vorgegebener Stoff oder eine vorgegebene Werthaltung sollte den Objekten von Bildungsbemühungen möglichst effektiv vermittelt werden. Diese Einstellung prägt leider auch die Antwort der Bundesregierung. In einer Demokratie müßte aber politische Bildungsarbeit vom konkreten Menschen ausgehen, ihm erst einmal helfen, seine eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Vorstellungen zu analysieren und zu verarbeiten, seine individuelle Existenz als Ausdrucksform gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, ihm aus dem emanzipativen Gehalt demokratischer Ideale Maßstäbe vermitteln, mit deren Hilfe er die Flut der auf ihn einströmenden zerfaserten und zerhackten Informationen verarbeiten, demokratische Ideale mit der von ihm erlebten Wirklichkeit vergleichen und handlungsmotivierende Ansprüche an die politische Praxis stellen kann.Eine solche Bildungsarbeit stellt hohe Ansprüche an die Ausbildung der Lehrer. Sie ist nur in wissenschaftlich vorbereiteten, mindestens zweiwöchigen Internatskursen zu leisten. Auch von daher ergibt sich also die Notwendigkeit, einen gesetzlichen Anspruch auf Bildungsurlaub für staatsbürgerliche und politische Zwecke zu begründen.
Die Bundesregierung spricht von der Unruhe aktiver Minderheiten, die sich mit der offenbar auch von ihr als Tatsache akzeptierten „Erstarrung und Bürokratisierung demokratischer Ideale" nicht abfinden wollen. Sie spricht vom Entfremdungsprozeß in breiten Schichten, die sich durch komplizierte und differenzierte Einflüsse und Spannungen des politischen Geschehens überfordert fühlen. Die Durchsichtigkeit politischer und wirtschaftlicher Prozesse sei verlorengegangen. Der Bürger könne diese komplizierten Zusammenhänge nur noch schwer überschauen und schwer zu rationalen Einsichten und klaren Urteilen gelangen usw. Damit sind die in der Wirklichkeit zu beobachtenden Erscheinungen durchaus richtig beschrieben.Auch die Sozialdemokraten haben deshalb in ihren „Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren" eine politische Bildungsarbeit gefordert, die dem Bürger helfen soll, komplizierte Zusammenhänge zu durchschauen und — ich zitiere — „das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, das ihn hemmt, am politischen Leben teilzunehmen". Es wird hier also gefordert, politische Bildungsarbeit solle Selbstbewußtsein als Vorbedingung politischen Handelns erzeugen. Daraus ergibt sich doch wohl die Aufgabe, zu untersuchen, welche Methoden am besten den klassen- und milieuspezifischen Mangel an Selbstbewußtsein insbesondere in der Arbeiterschaft durch Bildungsprozesse überwinden können.
Metadaten/Kopzeile:
10574 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Matthöfer— Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Schulze-Vorberg, ob das die Schuld des Arbeiters oder die Schuld klassenbestimmter, subkultureller Milieubedingungen ist, unter denen er aufwachsen muß und für die andere die Verantwortung tragen, das ist doch hier sehr die Frage. Sie können doch von mir nicht verlangen, daß ich eine differenzierte Argumentation nur in dem reduzierten Wortschatz und in den einfachen Satzstrukturen vortrage, die unseren Arbeitern auf Grund der ihnen gewährten unzureichenden Volksschulbildung leider n ur zur Verfügung stehen.
— Ich bin mir jetzt fast sicher, daß Sie es auch nicht ganz verstehen.
— Vielleicht lesen Sie es zum besseren Verständnis später noch einmal nach.Es genügt allerdings nicht, nur den Umfang von Informationen zu erhöhen und sie nun in größerem Maße anzubieten. Diese Informationen müssen vielmehr auch so aufbereitet werden, daß entscheidungsreife politische Alternativen entstehen. Negt sagt richtig, daß von der Reduktion komplexer Zusammenhänge militärischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Art auf alternativ formulierte politische Positionen letzten Endes die Möglichkeit einer demokratischen Kontrolle bürokratischer und administrativer Entscheidungen abhängt.Wie sich aus der Antwort der Bundesregierung ergibt, stellt sich neben dem Anspruch auf mehr und zweckmäßigere Informationen auch die Forderung nach Vereinfachung der gesetzlichen Vorschriften und auf größere politische Beteiligungsrechte in allen Lebensbereichen. Der Staatsbürger steht heute auf vielen Gebieten vor einem undurchdringlichen Dschungel gesetzlicher Vorschriften, in dem er sich selbst mit Hilfe eines Fachmanns nur noch sehr schwer vorwärtsbewegen kann. Wer kann schon heute seine Rente selbst ausrechnen, oder wer kann, wenn er selber seine Steuererklärung ausgefüllt hat, sicher sein, daß er alle Vorteile in Anspruch genommen hat, die ihm eigentlich zustehen?Information und politische Bildungsarbeit allein helfen hier nicht. Radikale Vereinfachung, die Klarheit schafft und Übersicht erlaubt, ist das Gebot der Stunde. Eine parlamentarische Demokratie — —
— Herr Dr. Schulze-Vorberg, ich gebe mir Mühe, jeweils die richtige Sprache für das betreffende Gremium zu finden, in dem ich spreche. Ich hatte gehofft, die meisten Kollegen hier wären in der Lage, meinen Ausführungen zu folgen.
Eine parlamentarische — —
Ihre Behauptung, man müsse in einer Volksvertretung auf den Vortrag differenzierter Zusammenhänge, die vielleicht nur in einer differenzierten Sprache ausgedrückt werden können, verzichten, wäre ja wirklich ein interessantes Thema für die politische Bildungsarbeit und auch für die Forschung.
Eine parlamentarische Demokratie kann auf die Dauer nur bestehen, wenn der einfache Bürger seine Rechte kennt,
sich ihrer sicher ist und sie wahrzunehmen weiß.
Wenn die Bundesregierung meint, der demokratische Weg von unten nach oben werde immer unübersichtlicher, der Bürger glaube, zu wenig Möglichkeiten zu haben, außerhalb der Wahlen auf die Politik Einfluß zu nehmen, so ist dem zuzustimmen. Es kommt deshalb darauf an, Bedingungen zu schaffen, damit der Strom von Entscheidungen und Informationen, der in einer Demokratie von der Basis zur Spitze fließt, möglichst stark wird. Es kommt darauf an, die Politik an den konkreten Interessen der breiten Massen auszurichten, und es kommt darauf an, die politischen Entscheidungsprozesse so zu organisieren, daß sie die Initiative großer Menschengruppen anregen und bei diesen Erfolgserlebnisse schaffen, die als Verstärkereffekte für eine politische Bildungsarbeit nahezu unerläßlich sind.Soll unsere repräsentative parlamentarische Demokratie trotz Konzentration und Bürokratisierung lebensfähig bleiben, so ist es erforderlich, überall dort, wo dies wegen der Überschaubarkeit der zu regelnden Probleme oder wegen des besonderen Sachverstands der Gruppe, die von diesen Entscheidungen betroffen ist, möglich ist — da möchte ich Herrn Moersch zustimmen —, Formen direkter Demokratie einzuführen, die es der betreffenden Gruppe erlauben, Entscheidungen, die sie selbst treffen kann, tatsächlich auch selbst zu treffen. Das ist ganz im Sinne unseres Grundgesetzes, das jedem die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit sichert, und es ist auch im Sinne der Enzyklika „Quadragesimo anno", aus der ich mit Erlaubnis des Präsidenten folgendes zitiere:Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und aus seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10575
Matthöferdie kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.
— Aber gerade hier — bei einigen Formulierungen kommt es dann ja sehr darauf an, was gesagt worden ist — ist es natürlich von Nachteil, wenn man beim Lesen zwar einiges festgestellt hat, es aber dann, wenn man hinterher von diesem Podium aus darüber spricht, doch nicht mehr so konkret im Gedächtnis hat.Eine zweite kleine Vorbemerkung. Herr Kollege Matthöfer, glaube ich — hoffentlich habe ich mich nicht verhört —, sprach eben von dem manipulativen Charakter, der der politischen Bildungsarbeit doch weitgehend angehaftet habe oder anhafte. Ich möchte hoffen, daß er damit nicht die Bundeszentrale für politische Bildung meint, Natürlich gibt es neben Institutionen, die tatsächlich politische Bildung betreiben, auch solche, die vorgeben, es zu tun, und die dabei die Absicht, zu manipulieren, haben mögen. Das mag sein.
— Ob wir da von politischer Bildung zu redenhaben, Herr Kollege Dr. Lohmar, ist doch die Frage.
Das ist eine andere Frage. Das ist auch gar nicht die eigentliche Aufgabe dieser Organisation gewesen; auch jetzt nicht. Übrigens ist das ja eine Einrichtung, Herr Kollege Dr. Lohmar, an der, glaube ich, alle beteiligt sind und nicht bloß einer.
Wir wollen nicht über ADK reden, sondern über politische Bildung.Ich meine also, daß die Bundeszentrale für politische Bildung, ich gehe sogar so weit, zu sagen: und mindestens eine ganze Reihe von Institutionen der Parteien davon frei sind, politische Bildung zu manipulieren. Die Bundeszentrale bemüht sich — und das ist ihre Aufgabe —, politische Bildung zwar nicht wertfrei und nicht wertneutral, aber doch nicht auf den Standpunkt einer Partei bezogen zu betreiben. Politische Bildung bedarf aber hin und wieder, glaube ich, ganz deutlich auch der politischen Bezogenheit, d. h. des Bekenntnisses zu einer politischen Überzeugung. Insofern meine ich, daß die politischen Parteien zur politischen Bildung eigentlich mehr beizutragen hätten, als sie das bisher getan haben,
Metadaten/Kopzeile:
10576 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Picardund zwar insbesondere deshalb — meine Damen und Herren, erlauben Sie mir den Hinweis —, weil wir in dem Gesetz über die politischen Parteien vom 27. Juli 1967 in § 1 festgestellt haben, daß die Parteien an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mitwirken, indem sie insbesondere die politische Bildung anregen und vertiefen.Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, wie man das bei einer so relativ kleinen Zahl von Mitgliedern der Parteien und bei der relativen Finanzschwäche der Parteien machen kann. Nur eines: Politische Bildung — so steht es in diesem Gesetz, und das war der Wille dieses Hohen Hauses — vollzieht sich nicht nur in der Bundeszentrale und in den Schulen, sondern auch insbesondere in den und durch die politischen Parteien.
Wenn wir also heute über politische Bildung sprechen — und das Thema heißt ja nicht „Bundeszentrale", sondern „politische Bildung" —, haben wir den Gesamtkomplex zu sehen. Ich meine aber, wir sollten die Arbeit des Parlaments, die Funktion des Parlaments nicht allzusehr unter dem Aspekt der politischen Bildung betrachten, obwohl hier ein enger Zusammenhang besteht. Ich werde nachher noch darauf zu sprechen kommen.Politische Bildung vollzieht sich in einer demokratischen Gesellschaft also in allen Bereichen von Gesellschaft und Staat. Daraus ist bei der Diskussion die Konsequenz zu ziehen: Wenn wir mit dem erreichten Stand unzufrieden sind, dürfen wir nicht nur mit dem einen oder anderen, was wir in der einen oder anderen Institution beklagen, unzufrieden sein, sondern wir haben auch die Frage zu stellen: Wie steht es denn eigentlich mit uns selbst?Nun besteht eine weitgehende Übereinstimmung über die Ziele oder das Ziel der politischen Bildung, weniger über den Inhalt — das hat die Debatte bisher ergeben —, am wenigsten über die Methoden; auch das hat die Debatte ergeben. Warum ist das so? Ich glaube, ganz einfach deshalb, weil es schwierig ist — vielleicht überhaupt nicht lösbar, mindestens sehr schwierig —, einen Weg zu finden, auf dem der politisch zu Bildende über die Vermittlung von Wissen zum Erlebnis der politischen Wirklichkeit und, von da angeregt, zum verantwortlichen politischen Handeln nicht nur kommen kann, sondern eigentlich kommen muß.Erlauben Sie mir einige wenige Bemerkungen, zunächst eine zum Thema: Schule und politische Bildung. Dabei meine ich, man sollte hier die Zuständigkeit nicht allzusehr betonen, wie es in der Beantwortung der Großen Anfrage auch angesprochen ist. Das ist ein Zentralthema unserer Gesellschaft. Ich glaube, Frau Kollegin Dr. Heuser sprach vorhin von dem Spannungsverhältnis zwischen der Jugend und den Eltern, bezogen auf die Bewältigung der jüngeren Vergangenheit. Meine Damen und Herren, ich habe volles Verständnis für meine eigenen Kinder, die mir mehr als einmal sagen: Laßt uns endlich damit in Ruhe, bewältigt eure Vergangenheit selbst! Das scheint mir ein Thema der politischen Bildung zu sein, wie wir es fertigbringen, die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs" einzuordnen in eine Geschichte unseres Volkes. Insoweit bin ich durchaus der Meinung, daß politische Bildung es nicht nur mit der Zukunft, sondern auch mit der historischen Entwicklung zu tun hat.
Ich glaube, daß wir hier in den vergangenen Jahren tatsächlich mehr oder weniger alle einen Fehler begangen haben, indem wir so getan haben, als bestünde die deutsche Geschichte so gut wie ausschließlich aus einer Zeit, die nur zwölf Jahre gedauert hat. Lassen Sie mich das einmal so deutlich sagen. Das hat natürlich Folgen, die sich fortsetzen werden. Ich habe eben schon auf die Parteimitgliederzahlen hingewiesen. Hier liegt ein erheblicher Grund dafür, daß wir nämlich einen hohen Prozentsatz von Jugendlichen haben, die heute eigentlich keine Jugendlichen mehr sind, die aber zu denen gehören, die aus einer bitteren persönlichen Erfahrung in der eigenen Familie sagen müssen: gebranntes Kind scheut das Feuer. — Bei der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung steht, muß man vielleicht etwas überpointieren; sehen Sie mir das bitte nach.Ein zweites, da wir bei der Schule sind. Wir haben hier oben in diesem Hause immer wieder ein Lehrerseminar. Der eine oder andere von uns nimmt als Referent daran teil und freut sich über das hohe Interesse meiner Berufskollegen, wundert sich aber wahrscheinlich ebenso wie ich, daß in der Regel die erste Frage die nach der Leere des Plenarsaals — wie heute — ist. Meine Damen und Herren, diese Frage haben wir selber bei uns schon oft gestellt. Ich glaube, das ist eine ganz einfache, nüchterne Tatsache, die beweist, daß das stimmt, was in der Antwort auf die Große Anfrage steht, daß wir nämlich weitgehend da, wo wir politische Bildung betreiben, ein viel zu idealistisches, verabsolutiertes Bild der Demokratie darstellen und die Wirklichkeit einfach nicht sehen. Die Wirklichkeit gefüllter Parlamente sehen wir nur da, wo die Unfreiheit herrscht. Das ist eine ganz einfache Feststellung, mit der ich nichts entschuldigen will. Aber wer weiß, daß sich ein Parlament aus Menschen zusammensetzt, die vielerlei notwendige Tätigkeiten zur gleichen Zeit zu verrichten haben, und wer weiß, daß ein Parlament nur dann gefüllt sein kann, wenn es um höchst wichtige Entscheidungen geht, die hier getroffen werden, etwa um Gesetze wie vorgestern, der muß eigentlich hier ansetzen und, wenn er über die Wirksamkeit des Parlamentarismus zu sprechen hat, dartun, wie die Realität nur aussehen kann.Eine weitere Bemerkung, die zum selben Themenkreis, allzu sehr idealisierte Vorstellungen von der Demokratie, gehört. Sie betrifft die Frage der Macht. Ich glaube tatsächlich, daß wir es bisher unterlassen haben — und ich meine, auch hin und wieder in diesem Hohen Hause —, dazutun, daß die Demokratie von der Diskussion lebt, daß sich Diskussion nur entfalten kann, wenn gegensätzliche Standpunkte, manchmal sogar etwas überpointiert, herausgear-Deutscher Bundestag 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10577Picardbeitet werden, damit ein Dialog entsteht und dann letztlich der Kompromiß gefunden werden kann;
in Klammern: Frage nach der Großen Koalition. Ich glaube also, wesentlicher Inhalt der politischen Bildung muß sein, eine zutreffende Darstellung der Demokratie, ein Bekenntnis dazu, daß ein Politiker Macht anstreben muß und Macht gebrauchen muß; Machtgebrauch, meine Damen und Herren, ist nichts Verwerfliches.Einige Bemerkungen zur Erziehung zur Kritik. Herr Kollege Moersch hat es sich ein bißchen leicht gemacht. Ich bin kein Textkritiker. Ich habe Sie verstanden, Herr Kollege Moersch; wir haben uns dieser Tage ja schon einmal unterhalten. Erziehung zur Kritik ist zu bejahen. Ich muß mich aber fragen, von welchem Ausgangspunkt her die Kritik zu erfolgen hat. Der Ausgangspunkt kann im Grunde nur eine Bejahung der Demokratie und dieses Staates, so wie er ist, sein. Ich bedaure, daß vielenorts diese Grundvoraussetzung nicht erfüllt wird, sondern bei der Erziehung zur Kritik damit begonnen wird, daß man aufzeigt, was alles an diesem Staate nicht in Ordnung ist, was alles auch im persönlichen Bereich der Politiker, die diesen Staat in erster Linie zu gestalten und zu tragen haben, nicht in Ordnung ist. Wir sollten uns also darüber einig sein, daß wir dieser Grundvoraussetzung positiver Kritik, möchte ich einmal sagen, zustimmen und dann mit dem ansetzen, was der Kritik und der Verbesserung wert und bedürftig ist.Politische Bildung, wurde heute morgen gesagt, bedarf der ständigen Konfrontation mit der politischen Praxis. Ich glaube, wir haben im Bereich der politischen Bildung da und dort den Erlebnischarakter der politischen Bildungsarbeit noch nicht genügend erkannt, mindestens nicht genügend in der Auseinandersetzung gewürdigt. Jeder von uns hat erfahren, in welch hohem Maße der Anstoß, politisch tätig zu werden, von dem Erlebnis der konkreten Wirklichkeit ausgeht. Das können Sie in hervorragender Weise bei internationalen Begegnungen erfahren. Das können Sie auch erfahren, wenn Sie jungen Menschen die Chance eröffnen, im politischen Willensbildungsprozeß der eigenen Partei in entsprechender Weise mitzuwirken. Ich bin sehr dankbar, daß wir heute morgen noch Gelegenheit haben, auch dieses Problem zu diskutieren.Nicht ersparen möchte ich mir eine Bemerkung über das Verhältnis zwischen Parlament und Exekutive, das auch heute morgen schon Gegenstand der Debatte gewesen ist. Jeder, auch wenn er kein Parlamentarier ist wie wir, die wir heute hier debattieren, muß es bedauern, daß in der deutschen Offentlichkeit das Parlament, und zwar jedes Parlament, im Vergleich zu der ihm gegenüberstehenden Exekutive stark unterbewertet wird. Auch hier haben wir die Frage zu stellen, ob wir nicht selbst einiges dazu beigetragen haben oder dazu beitragen. Aber dieses Bild entsteht auch durch Institutionen, von denen wir heute morgen kaum gesprochen haben, nämlich durch die Massenmedien Presse, Rundfunk und Fernsehen, die ja der Transmissionsriemen sind, der das, was hier geschieht, in die Öffentlichkeit übersetzt. Wenn Sie einmal die Bundestagsprotokolle und den Niederschlag in der Presse verfolgen, dann stellen Sie fest, daß von der Einbringung und Begründung Großer Anfragen die Rede ist, und wenn Sie Glück haben, steht noch dabei, von welcher Fraktion. Welche Parlamentarier hier gesprochen haben, finden Sie in der Presse kaum. Sie finden aber den Minister und die Regierung. Und was die Fragestunde angeht — das konnten Sie dieser Tage wieder gut verfolgen —, so kommen die Antworten auf die Fragen in der Presse, im Funk und im Fernsehen. Aber derjenige, der sich die Mühe gemacht hat, die Frage hierher zu bringen, wird totgeschwiegen. Daß dann in der deutschen Öffentlichkeit der Parlamentarier natürlich unterbewertet wird, daß man dann in der Öffentlichkeit natürlich allzu leicht in der vielleicht angestammten Autoritätsgläubigkeit verharrt, ist wohl verständlich. Das war nur ein Beispiel. So scheint mir ein unzutreffendes Bild vom Parlamentarismus in der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere in der deutschen Jugend entstanden zu sein. Dem entgegenzuwirken ist wohl auch unsere Aufgabe.Meine Damen und Herren, politische Bildung vollzieht sich am besten und am erfolgreichsten am persönlichen Beispiel. Auch wir haben dazu unseren Beitrag zu leisten. Heute morgen, meine ich, haben wir ihn in einer bis jetzt sehr ansprechenden, und — auch wenn Kollege Matthöfer in einer besonderen Diktion hier gesprochen hat — auch verständlichen Weise geleistet.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kübler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man an diesem Punkt der Debatte noch einen neuen Gedanken hineinbringen will, muß man natürlich zunächst in ganz wenigen Strichen zusammenfassen, was man heute morgen gehört hat.Wir sind uns hier einigermaßen einig gewesen, daß die Notwendigkeit der politischen Bildungsarbeit nach der Zerstörung unserer Politik vor 30 Jahren dann vor 20 Jahren trotz Hunger und Not breit im Bewußtsein unseres Volkes verankert war, jetzt allmählich aber die gutwilligen Multiplikatoren vor einer neuen Gegebenheit stehen, mit der wir nicht recht fertigwerden; wir sprechen alle von dem sogenannten Unbehagen.Wir haben weiter in dieser Diskussion feststellen können, daß wir zwei Gruppen innerhalb der Bevölkerung sehen. Das sind auf der einen Seite diejenigen, die sich als Staatsbürger in der Geborgenheit - das Wort „Bürger" kommt ja von „Burg" — irgendwie wohlfühlen wollen. Herr Schulze-Vorberg sprach vom harmonisierenden Element der Politik, Herr Schober hat — karikierend natürlich, es war nicht Ihre Meinung, Herr Kollege — vom „modernen Biedermeier" gesprochen. Das ist die eine Seite; das
Metadaten/Kopzeile:
10578 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Dr. Küblerist eine Menschengruppe, für die Politik eigentlich nur Reagieren auf Ereignisse, die von außen an uns herangetragen sind, bedeutet, und derjenige gilt als ein großer Politiker, der elegant reagiert und das Ganze wieder harmonisiert. — Herr Schulze-Vorberg, ich habe nicht Sie gemeint, sondern allgemein gesprochen.
Auf der anderen Seite ist eine Menschengruppe, die sagt: dieses dauernde Harmonisieren ist doch das Manipulieren des Establishment.Die beiden Gruppen sprechen ja regelrecht verschiedene Sprachen. Das merken wir auch hier im Parlament, da gebe ich Ihnen recht. Wir reden dann in verschiedenen Sprachen, „Das Manipulieren des Establishment" ! Da muß man entweder sich frustriert fühlen, oder man muß alle sonstigen Funktionen des Establishment bis hin zur Ehe,, nun, sagen wir: umfunktionieren. Das ist die andere Gruppe, für die heute unser Herr Bundesinnenminister das neue Wort von der „intellektuellen Arroganz" erfunden hat.
— Ich vermute, worauf sich Ihre Zwischenfrage beziehen soll. Sie vermuten wahrscheinlich das gleiche wie ich bei Herrn Benda: daß ihm das so unterlaufen ist. Er hat nämlich vorhin so eine Geschichtsklitterung gemacht, „intellektuelle Arroganz" sei ein Wort von Helmut Schmidt. Ein Sozialdemokrat spricht nie von „intellektueller Arroganz". Bei unserem Respekt vor der Intelligenz ist so ein Wort unmöglich.
Das Wort von Helmut Schmidt hieß „elitäre Arroganz".
Ich will, Herr Bundesminister, Ihnen keine Steine dort in den Weg werfen, wo es nicht nötig ist. Sie waren vorhin bei Herrn Genscher sehr empfindlich für Geschichtsfälschung.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Lohmar; das geht von meinen drei Minuten ab. — Sie waren, Herr Minister, sehr empfindlich für Geschichtsfälschung beim Kollegen Genscher. Wenn Sie es zurücknehmen und „intellektuelle Arroganz" nicht als ein Wort von Helmut Schmidt bezeichnen, dann ist mir das recht, ich will nicht darüber streiten.Nun, ich will mein Thema fortsetzen. Wir haben zwei Gruppen, und beide versuchen, mit „politischer Bildung" ihren Standpunkt in der Bevölkerung zu vertreten. Es wäre Unfug, wenn wir hier im Parlament uns für die eine oder für die andere entscheiden wollten. Denn beide hängen ja an einem Fehler. Für beide ist Politik eigentlich nur ein Reflektieren, ein Reagieren. Beide machen politische Bildung zu einer Art Buchhaltung, die abhakt, was in der Welt verändert wurde, wo man sich anpassen muß, oder die auf der anderen Seite abhakt, in welchem Stadium einer unabänderlichen Entwicklung wir nun bereits durch die oder die Ereignisse stehen. Politik soll also nicht „reagieren" heißen, sondern „agieren". Wir müssen es in der politischen Bildung fertigbringen, daß die Menschen durch politische Bildung das Wissen nicht nachlernen, sondern selbst produzieren, das sie für den politischen Alltag brauchen.Wenn ich so konkret sage: nicht kontemplative Betrachtung in der politischen Bildung, sondern aktives und aktivierendes Wissen und Verhalten, dann muß ich mir die Frage gefallen lassen — ich stelle sie mir deshalb selber —, ob wir die Menschen dazu haben. Ich gebe die Antwort gleich doppelt. Erstens haben wir dafür in unserem Volk die Menschen, aber zweitens haben diese Menschen für diesen notwendigen Anspruch nicht die genügende Zeit.Wir, die im Bundestag vertretenen Parteien, haben zusammen mehr als 1 Million Parteimitglieder in diesem Volk. Die Menschen sind da. Wir haben mehr als 250 000 Gemeinderatsmitglieder, die sich an irgendeiner Stelle politisch verantwortlich fühlen. Wir haben 140 000 Betriebsrats-, wir haben 35 000 Personalratsmitglieder. Wir haben über 4000 Sozialrichter, die in der Verantwortung stehen. Wir haben über 5000 Geschworene und Schöffen, die sich zur Verfügung stellen. Aber zum Erarbeiten der harten Notwendigkeiten, des harten Wissens in der modernen Politik, um aktiv, nicht bloß reagierend und nicht bloß buchhaltermäßig registrierend mitzumachen, haben sie nicht die genügende Zeit.Wenn aus dieser Diskussion herauskommt, daß wir uns einig sind, diesem aktiven Element der Bevölkerung die Zeit zur Verfügung zu stellen in einem Bildungsurlaub von etwa zehn Tagen für alle anerkannten politischen Bildungsveranstaltungen, dann haben wir etwas Neues mit dieser Diskussion erreicht. Es geht aber nicht an, politische Bildung zu proklamieren und dann zu sagen: schaut selber, wie ihr fertig werdet! Wir haben uns doch alle eingestanden — Herr Kollege Schober hat ja Prof. Steinbuch zitiert —, wie schwierig das geworden ist, und Herr Picard hat angeführt, wie schwierig das Verständnis geworden ist. Die Notwendigkeit, diesen Bildungsurlaub für die politische Bildungsarbeit zur Verfügung zu stellen, muß meines Erachtens heute nach dieser Debatte im Bewußtsein dieses Plenums verankert sein.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur eine ganz kurze Bemerkung zu dem nun gefallenen Stichwort der Geschichtsklitterung. Ich würde etwas unter diesem Begriff bleiben; denn bei allem Respekt vor Ausführungen in diesem Hause: so olympisch, glaube ich, ist das, was hier von uns allen gesagt wird, meine eigenen Bemerkungen eingeschlossen, auch nicht, daß dann, wenn etwas in einer Nuance
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10579
Bundesminister Bendavielleicht nicht ganz zutreffend zitiert sein sollte, gleich eine „Geschichtsklitterung" vorliegt.Nun zur Sache selber! Herr Kollege Kübler, ich habe vorhin frei gesprochen, und ich habe dabei selbst auch gesagt, daß ich die Ausführungen des Kollegen Schmidt nicht vor mir habe, ich habe sie aus der Erinnerung zitiert; ob übrigens mit den Worten, die Sie nun wieder von mir zitieren, weiß ich nicht mehr. Das Protokoll wird es ergeben. Es ist mir gar nicht wichtig. Denn der entscheidende Sachpunkt ist doch der, daß ich in der Auseinandersetzung mit einem Thema, das für die Debatte schon von Bedeutung ist, glaubte, mich auf eine Auffassung von Herrn Helmut Schmidt beziehen zu sollen, der ich in der Sache ganz zustimme. Diese habe ich mit meinen Worten dann interpretiert. Und ich nehme an — ohne daß ich es jetzt nachprüfen kann, weil Herr Schmidt nicht da ist —, daß er, wenn ich ihn. richtig verstanden habe, dem zustimmen würde, was ich hier gesagt habe. Das ist die Situation. Ich glaube, in dieser Situation bedarf es nun auch insoweit der Textkritik nicht, und ich glaube also, daß Ihr Vorwurf, der doch immerhin, glaube ich, ein stärkeres Wort enthalten hat — ohne daß ich übermäßig empfindlich bin —, bei entsprechender Überprüfung vielleicht auch nicht unbedingt bestehen bleiben sollte. Das ist alles, was ich sagen wollte.
Herr Minister, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in dem Vorwurf lediglich Ihr Wort an Herrn Genscher von Geschichtsfälschung zitiert habe. Ich bin mit dieser Antwort durchaus zufrieden.
Na gut, dann bin ich auch zufrieden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lohmar.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Gelegenheit dieser Aussprache über die politische Bildung dazu benutzen, einige klärende Anmerkungen zu der einzigen Institution zu machen, die der Bundesregierung und dem Bundestag zur Förderung dieser unserer Anliegen zur Verfügung steht, nämlich zur Bundeszentrale für politische Bildung.
Der Kollege Moersch war so liebenswürdig, an die entsprechenden Vorschläge der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung zu erinnern, die wir vor gut einem Jahr dort zur Debatte gestellt haben, zu unserem Bedauern bislang ohne die Zustimmung des größeren Koalitionsbruders. Der SPD ging und geht es bei ihren Vorschlägen darum, eine sachliche Unabhängigkeit der Bundeszentrale für politische Bildung zu erreichen. Wir haben aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre die Folgerung gezogen, daß die Unabhängigkeit im Rahmen einermeistens von der mittleren Etage des Innenministeriums ausgeübten Aufsicht nicht zu erreichen und nicht zu verankern ist. Auf Grund dieser Erfahrung haben wir vorgeschlagen, die Bundeszentrale in einen anderen Rechtsstatus zu kleiden und sie entweder zu einer Stiftung oder zu einer Anstalt des öffentlichen Rechts zu machen. In beiden Formen wäre die kritische begleitende Mitarbeit von Mitgliedern des Hauses im Kuratorium genauso möglich wie bei der heutigen Form. Die Bundesregierung hat auch in der — —
— Herr Huys, das wisesn Sie doch genau, was ich mir davon verspreche. Ich habe das eben noch einmal im Telegrammstil wiederholt. Ich bin der Meinung, daß man einer Institution nur dann eine sachliche Unabhängigkeit als Anspruch zumuten kann und von ihr erwarten kann, daß sie diesen Anspruch erfüllt, wenn man sie von jeder Form der bürokratischen Bevormundung frei hält. Ich hoffe, das ist Klartext.
Die Bundesregierung hat unter dem Patronat des damaligen Innenministers Lücke diesem Gedanken natürlich überhaupt keinen Geschmack abgewinnen können. Der neue Innnenminister Benda hat wenigstens präzise nachempfinden können, worum es der sozialdemokratischen Fraktion mit ihrer Anregung gegangen ist und geht. Aber auch er hat in seiner Amtszeit bisher, soweit er uns im Kuratorium darüber Auskunft geben konnte, noch keinen Anlaß gesehen, über den Schatten seiner Vorgänger zu springen und der Bundeszentrale die erforderliche institutionelle Unabhängigkeit zu geben. Wir bedauern das, wir möchten aber dann in dem gesteckten und — soweit man das übersehen kann — einstweilen auch bleibenden rechtlichen Rahmen für die Tätigkeit der Bundeszentrale von der Bundesregierung gerne drei Fragen beantwortet haben. Vielleicht kann sie der Bundesminister des Innern liebenswürdigerweise im Laufe dieser Debatte noch aufgreifen und beantworten.Die Frage 1: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um im Rahmen der bestehenden Rechtsbeziehungen zwischen der Bundeszentrale und der Bundesregierung die sachliche Unabhängigkeit der Bundeszentrale zu gewährleisten.Zweite Frage: Ist die Bundesregierung bereit, den ominösen 30 000-DM-Erlaß aufzuheben und dadurch zu dokumentieren, daß sie ein größeres Maß und im Ergebnis ein volles Maß an sachlicher Unabhängigkeit der Bundeszentrale will?
Schließlich: Ist die Bundesregierung bereit, das parlamentarische Kuratorium der Bundeszentrale in Zukuntf rechtzeitig in die Planüberlegungen für die weitere Entwicklung der Arbeit der Bundeszentrale einzuschalten und auf diese Weise die Folgerung aus unserer gemeinsamen Erfahrung zu ziehen, daß
Metadaten/Kopzeile:
10580 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Dr. LohmarKontrolle nur insoweit effektiv sein kann, als sie eine Plankontrolle ist und sich nicht darauf beschränkt, im nachhinein das eine oder andere festzustellen und zu bemerken, dies sei gut und etwas anderes vielleicht weniger gut gewesen?Ich darf mich auf diese drei präzisen Fragen an die Bundesregierung beschränken und hoffe, darauf auch klare Antworten zu bekommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Weil ich harmonisierend in die Zukunft denke, Herr Kollege Matthöfer, darf ich mich vielleicht zunächst an Sie wenden und Ihnen ausdrücklich zustimmen, z. B. in dem Punkte, daß der geringe Anteil von Arbeiterkindern und Kindern kleiner Bauern an unserer Studentenschaft bis heute — aber vor allen Dingen auch in der Vergangenheit, das betrifft z. B. auch die Weimarer Zeit — ein schlimmes Versäumnis ist, um nicht ein härteres Wort zu gebrauchen, und das es zur politischen Bildung gehört, für die Zukunft den Anteil der Kinder gerade aus Arbeiter- und Familien kleiner Bauern am Studium deutlich zu erhöhen. Hier liegen Bildungsreserven, die nicht ausgeschöpft sind, auch politische Bildungsreserven; das ist meine Überzeugung.
Herr Matthöfer hat dann aus der Antwort der Bundesregierung zitiert und von der Unruhe aktiver Minderheiten gesprochen, die sich mit der Erstarrung und Bürokratisierung demokratischer Ideale nicht abfinden wollen. Auch da möchte ich Sie dem Sinne nach so zitieren, wie Sie es hier gesagt haben: Ich hoffe, daß es solche Minderheiten gibt und daß ihre Unruhe heilsam ist.
Wenn ich mir den Saal hier heute ansehe, möchte ich ausrufen: Verzage nicht, du Häuflein klein, trotz der Bemerkungen des Kollegen Picard von den vollen Parlamentssälen in der Diktatur und den notwendigerweise nicht so gefüllten Parlamentsveranstaltungen, Plenarsitzungen in einer Demokratie. Ich glaube, das hier ist heute morgen ein Bild, bei dem man sich doch fragen muß, ob wir uns nicht aus der Erstarrung alter parlamentarischer Formen endlich lösen müßten. Ich hoffe, daß sich eine aktive Minderheit in diesem Hause nicht nur formiert, sondern auch durchsetzt und diese Formen verändert.
Eine Sekunde, Herr Abgeordneter! Heute möchte ich ausnahmsweise einmal ein Wort der Entschuldigung für diejenigen sagen, die jetzt nicht da sind. Ich bin davon unterrichtet, daß — das geschah ohne meine Zustimmung; aber einer solchen Zustimmung bedarf es bei besonders wichtigen Fraktionsveranstaltungen auch nicht — heute zur gleichen Zeit völlig unvermeidliche Fraktionsbesprechungen geführt werden müssen. Heute habe ich also ausnahmsweise eine gute Begründung für den ganz gewiß unbefriedigend besetzten Saal.
Vielen Dank, Herr Präsident, für diese Klarstellung, die für heute gilt, die aber, glaube ich, an den grundsätzlichen Feststellungen von vorhin nichts ändert.Konflikte gibt es und Konflikte wird es auch in der Zukunft geben. Dennoch, meine Damen und Herren, glaube ich, es war berechtigt, nach neuen harmonisierenden Formen für das Zusammenleben der Völker zu suchen und die Kriege in unserem Atomzeitalter nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir müssen für die Zukunft versuchen, in dem Bewußtsein zu harmonisieren, daß Konflikte selbstverständlich bleiben werden. Wenn man von einem KrisenManagement — um jetzt auch einmal ein neues Wort zu benutzen — auf dem militärischen Sektor spricht, so bin ich überzeugt: Wir sollten nach einer Möglichkeit suchen, Konflikte in Zukunft auf eine vernünftigere Weise auszutragen, als das bis heute geschieht. Da wäre ich bei der Möglichkeit der Computer, die vorhin auch angesprochen worden sind.Eines steht für mich fest: daß es Formeln in der Politik, die etwa derjenigen der Mathematik entsprechen, daß zweimal zwei vier ist, nur ganz wenige geben wird. Ich sehe eine Gefahr. Vielleicht denkt der Kollege Schmidt daran, mit dessen Gedanken ich mich im einzelnen noch nicht auseinandergesetzt habe. Ich habe es noch nicht getan, ich möchte es trotzdem tun. Ich nehme den Kollegen Schmidt (Wuppertal) sehr ernst. Er war einmal in Presseangelegenheiten anderer Ansicht als ich —
— auch wiederholt, aber hier in einer ganz entscheidenden Frage —, und ich muß sagen, daß ich ihm nachträglich recht gebe. Ich nehme seine Auffassungen sehr ernst.Jedenfalls möchte ich auch vor der Gefahr warnen, daß man das Wissen der Computer oder den Einsatz der Computer dazu benutzt, um hier sozusagen objektive politische Tatsachen für die politische Bildung in der Zukunft vorzutäuschen.
— Die Gefahr ist da, und ich wollte auf sie aufmerksam gemacht haben.
— Das ist eine Frage, die Sie gleich im einzelnen erörtern können, Herr Raffert. — Ich bin der Meinung, wir sollten die Computertechnik benutzen, um möglichst viele, möglichst objektive Tatsachen klarzustellen, uns dann aber davor hüten, die Feststellungen, die da getroffen worden sind, zu verabsolutieren. Ich würde darin eine Gefahr sehen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß der Bereich, der in der Politik wirklich mathematisch klar zu erfassen ist, ein kleiner Bereich ist und bleiben wird. Da aber menschliche Gefühlsregungen und menschliche Verstandeswindungen sehr, sehr auseinanderlaufen, ist die Gefahr ganz groß, daß wir mit wissenschaftlichen Formulierungen so tun, als ob wir hier die Weisheit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10581
Dr. Schulze-Vorberggefunden hätten. Davor muß man, glaube ich, warnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Herr Kollege Dr. Schulze-Vorberg, darf ich Sie fragen, damit hier im Raum kein Mißverständnis bleibt, ob Ihnen bekannt ist, daß sich der Herr Kollege Schmidt entgegen dem hier zitierten Inhalt seines Beitrages nicht gegen die Computer gewandt hat, sondern dagegen, daß die Regierung sich unter Vernachlässigung des Parlaments neue Machtinstrumente schaffen will. Das liegt doch in unserem Sinn.
Ich bin für diese Aufklärung sehr dankbar und möchte noch etwas bei der modernen Technik bleiben.
Ich möchte bei der modernen Technik bleiben; mein letztes Kapitel ist die Frage „Funk und Fernsehen". Das ist — wie ich glaube — heute morgen wirklich insgesamt vernachlässigt worden. Wenn ich mir die Möglichkeiten etwa einer Bundeszentrale für politische Bildung im Verhältnis zu den Massenmedien vorstelle, dann sind Funk und Fernsehen und auch die Presse heute morgen einfach zu kurz gekommen.
Das Fernsehen wiederum hat eine Gefahr, die ich aufzeigen möchte. Bei all der Fülle von Information, oft oberflächlicher Information, die wir von dort bekommen, erzieht es die Menschen zum Passiven. Vorhin ist gesagt worden, daß wir langsam zu einem Volk von passiven Sportlern werden. Die Olympiade und die Fußballspiele werden von Millionen miterlebt. Wir werden in ähnlicher Weise zu einem Volk von passiven Politikern, die eine Fülle von Informationen — manchmal leider auch Fehlinformationen — kaum noch verdauen können und dadurch das Gefühl haben, alles zu wissen, womöglich sogar alles besser zu wissen. Das sind dann die Menschen, die doch nicht geneigt sind, in die Politik aktiv einzusteigen und sich mit ihr wirklich einmal zu konfrontieren. Ich habe einmal von einem journalistischen Kollegen das Beispiel gelesen: „Wie wäre es, wenn man im Fernsehen einen Kursus für das Autofahren durchführte. Der Mann, der sich dann nach glücklich bestandener Prüfung zum erstenmal an das Steuerrad setzt, würde sich wundern, was das Fahrzeug mit ihm macht."
Wir brauchen Leute, die nicht nur Informationen mehr oder weniger verdauen, wo immer sie herkommen — vor allen Dingen von Funk und Fernsehen —, sondern die auch geneigt und in der Lage sind, aus diesen Informationen Konsequenzen zu ziehen. Insofern sollte es — darüber sind wir uns ja einig — die Aufgabe der politischen Bildung und gerade einer solchen Bundeszentrale sein, die Menschen, die millionenweise als passive Politiker
heranwachsen, zu erfassen und dahin zu bringen, daß sie wirklich Politik verstehen und womöglich auch selbst beherrschen und treiben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kubitza.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich fast am Schluß der Debatte diese mit einem neuen Gedanken anreichern, vielleicht auch bereichern. In der Empfehlung der Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung heißt es an einer Stelle, zur politischen Bildung gehöre das Bewußtmachen des Wesens und die Einübung der Spielregeln demokratischer Verfahrensweisen in dem unmittelbaren Erlebnisbereich des Menschen. Für mich ist in der Tat das formale Wissen über unsere Staatsform nicht so entscheidend wie die Erziehung zu bestimmten Verhaltensweisen und öffentlichen Tugenden. Entscheidend ist nicht, ob jemand politische Bildung hat, sondern ob er sich seinen Mitmenschen gegenüber wie ein politisch Gebildeter verhält. Der heranwachsenden Generation mangelt es nicht so sehr an Wissen, wohl aber an Übungsmöglichkeiten und Herausforderungen zu verantwortlichem Handeln sowie daran, Wagnisse und Risiken auf sich zu nehmen. Diese Übungsmöglichkeiten zu schaffen, hier Wege zu finden, ist Staat und Gesellschaft gleichermaßen aufgegeben. Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen hat 1955 in seinem Gutachten zur politischen Bildung gesagt: Der politischen Bildung fehlt das eigentliche Übungsfeld.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, daß ich auf ein solches mögliches Übungsfeld zu sprechen komme, das sich für mich im Sport bietet. Ich will versuchen, Ihnen wegen der Kürze der Zeit das in sehr groben Strichen darzustellen. Es handelt sich um Überlegungen, die auf Untersuchungen in Deutschland wie in England zurückgehen. Es geht mir darum, das sportliche Geschehen nach Möglichkeiten für einen Beitrag zu unserer Thematik abzutasten, die nicht erst in den Sport hineingelegt werden müssen, sondern ihm immanent sind.Mannigfache Züge des Sports erweisen sich als politisch relevante Qualitäten, die die Chance eines Beitrags zur politischen Bildung bieten. Im Sport, insbesondere bei allen Kampfspielen, bei allen Partnerschaftsspielen können die für die politische Bildung so eminent wichtigen . Phänomene der Macht, des Kampfes, des Rechts und der Verschränkung des einzelnen mit anderen und dem Staate primärrangig erfahren und erlebt werden.
Es kommt nicht von ungefähr, daß die parlamentarische Demokratie wie der moderne Sport aus England stammen. In England ist es offensichtlich gelungen, Grundsätze sportlicher Gesinnung in das
Metadaten/Kopzeile:
10582 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Kubitzaallgemeine öffentliche Leben und auch in die Politik zu transportieren.
— Ich glaube, daß das in keinem Zusammenhang steht, sondern daß das geschichtliche Entwicklungen sind, die man nicht vergleichen kann, Herr Kollege Schulze-Vorberg.„Play the game" und „Be a sport" sind Appelle an den einzelnen, daß er den natürlichen Spielanstand bei allen Angelegenheiten des Lebens beibehalten soll. Dabei muß ich einschränkend feststellen, daß der sportliche Kampf nicht immer fair und regelgerecht und maßvoll im Verhalten zum Gegner geführt wird. Es besteht hier eine Kluft zwischen dem Anspruch und dem Erfolg, die aber bei allen pädagogischen Bemühungen gegeben ist.Vom Altbundespräsidenten Heuss sagte Sepp Herberger einmal: „Ja, der Heuss, das ist ein Sportsmann!" Nun, wir alle kennen den Heuss nur mit einer dicken Zigarre im Mund und nicht als Sportausübenden. Was Herberger damit ausdrücken wollte, ist, daß Heuss sich fair, tolerant, regelrecht verhielt.Die Fairneß tritt immer dort in Erscheinung, wo sich Menschen auf der Ebene des Kampfes oder des Wettkampfes gegeneinander bewegen, wo Rivalität herrscht. Das trifft zu für den Kampf der Völker, der Parteien wie auch der Sportler. Gerade die Politik bietet hinreichend Gelegenheit, die ihr innewohnende Auseinandersetzung nach den Prinzipien der Fairneß zu führen. Letzthin las ich in einem Nachrichtenblatt einer bekannten politischen Bildungsstätte, daß ein wirklicher Wandel nicht allein von alten oder neuen Ideologien zu erwarten sei als vielmehr durch neue Verhaltensweisen in der politischen Auseinandersetzung, und dazu gehört sicher die Fairneß.Lassen Sie mich aus dem Gesagten eine ganz praktische Konsequenz ziehen. Ich bedaure, daß bei diesem Thema, das ja auch weitestgehend die Länder und die Schulen anspricht, hier kein Vertreter der Länderregierungen anwesend ist. Gerade in Richtung Kultusminister der Länder möchte ich sagen: wenn schon die schulische Leibeserziehung auf Ziffernzeugnisse nicht verzichten kann, sollte sie der Beurteilung der Gesittung und des fairen Verhaltens des einzelnen Schülers durch den Sportlehrer in einer entsprechenden schriftlichen Formulierung entscheidenden Wert beimessen und so zu einer Förderung dieser politisch bedeutsamen Qualität beitragen.Eine zweite Konsequenz wäre — sie ist an die politischen Bildungsstätten gerichtet —, daß es keine längerdauernde Tagung, kein Seminar, keinen Lehrgang der politischen Bildungsstätten geben sollte, in denen nicht auch ein sportliches Angebot eingebunden ist. Das setzt allerdings voraus, daß allen Bildungsstätten entsprechende Sportanlagen zur Verfügung stehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen, daß Sie soviel Geduld hatten; denn ich bin sicher, daß manchem von Ihnen diese Beziehungen, die ich hier aufgezeigt habe und die durch viele Untersuchungen untermauert sind, sehr fern liegen.Zum Schluß habe ich aber noch zwei Fragen an den Herrn Minister. Herr Minister, Sie schreiben in der Antwort auf die Großen Anfragen an einer Stelle, daß es die Bundesregierung für besonders wichtig halte, die fortlaufende politische Bildung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Rahmen ihrer Aus- und Fortbildung zu fördern. Wie wollen Sie das finanziell verkraften, wenn Sie insgesamt für die Weiterbildung der Beamten nur 100 000 DM zur Verfügung stellen?Die zweite Frage richtet sich eigentlich an das Ministerium für Familie und Jugend. In dem Bericht heißt es, daß die politischen. Bildungsträger auch in Zukunft mit entsprechenden Mitteln versehen werden sollen. Hier frage ich auch Sie, Herr Minister, der Sie vielleicht eine Antwort geben können: Wie reimt sich das mit der Tatsache zusammen, daß im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung diese Mittel im Bundesjugendplan bis 1971 um 1 Million DM gekürzt werden sollen?
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Becher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Erfolg einer politischen Bildung erweist sich am Engagement, das sie in den breiten Schichten der Bevölkerung, vor allem aber in der Jugend, hervorruft. Wenn ich mich, angeregt durch diese Debatte, nunmehr zu Wort gemeldet habe, dann deshalb, weil ich meine, daß wir uns im Bundestag ganz nüchtern die Frage nach dem Warum eines Phänomens vorlegen sollten, das zweifelsohne der Wirklichkeit entspricht. Nachdem wir zwanzig Jahre und mehr, wie schon gesagt wurde, unseren demokratischen Staat aufgebaut haben, nachdem breiteste Schichten der Bevölkerung mitgewirkt haben, von der Pike her, von der Gemeinde, vom Kreistag, von den Landtagen her, in der Wirtschaft, da und dort und überall, müssen wir uns sagen: das eigentliche Engagement am politischen Leben in der Jugend ist nicht aus dem Bereich unserer Bildungsinstitutionen und unserer Demokratie hervorgerufen worden, sondern — wenn wir ehrlich sind, müssen wir das zugeben — in den letzten Jahren vielfach aus den Bereichen, die eigentlich gegen die Grundformen unserer Demokratie aufgetreten sind.Vielen von Ihnen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wird es sicherlich so ergangen sein und ergehen: wenn Sie heute aufgerufen werden, in einer Oberschule, in einer Gymnasialklasse zu irgendwelchen strittigen Themen zu sprechen, dann meldet sich eine Minderheit der Schüler. Sie kommt oftmals von ganz links, ist nicht nur leninistisch, sondern maoistisch indoktriniert, während die große Masse, die Mitte der Klasse und die andere Seite, schweigt, nicht reägiert, sich nicht an der Diskussion beteiligt, ja praktisch keine Antwort auf die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10583
Dr. Becher
Herausforderung der Gruppe findet, die heute die Politisierung erzwungen hat.Da müssen wir uns ernsthaft fragen: welchen Fehler haben wir gemacht? Was nützen uns alle politischen Akademien und alle Begegnungsstätten der politischen Erziehung, wenn uns das nicht gelungen ist, was offenbar Minderheiten gelungen ist, die gegendemokratische Akzente gesetzt haben?Natürlich bin ich der Meinung, daß etwas Wahres daran ist an der allgemeinen Passivität überhaupt in der Erlebnisentwicklung. Ich würde sagen, es gibt nicht nur einen Zuschauersport, es gibt auch eine Zuschauerpolitik. Erinnern wir uns etwa daran, welche Rolle das Element der politischen Versammlung noch vor zwanzig Jahren gespielt hat, und vergleichen wir, welche Rolle es heute im Zeichen der Mattscheibe, des Rundfunks und des Fernsehens spielt! Dann wissen wir, daß hier ein geringer Grund dafür liegt, warum das politische Engagement nicht so aktiv ist, wie es sein sollte.Ich meine die vielfach genannten Spannungen, die es zu bewältigen gibt, die technischen Wandlungen in der kurzen Zeit einer einzigen Generation, die Spannung zwischen dem Wohlstand von heute und der Not, die die Väter der heutigen Jungen erlebt haben, aber auch die Spannugen, die sich daraus ergeben, daß wir vielfach selbst etwa die Präambel unserer Verfassung nicht mehr ernst nehmen und sie in Frage stellen.Was können wir an Effektivität einer politischen Bildung erwarten, wenn wir selbst die Verfassungspräambel da und dort in Frage stellen?Das alles sind Gegebenheiten, die wir heute selbstkritisch anführen sollten. Ich bin auch der Meinung, daß das, was man unter dem Gesamtitel „reeducation" in den ersten Jahren der politischen Bildung bezeichnet hat, nicht gerade zu dem Erfolg des Selbstverständnisses unserer Jugend geführt hat, den wir uns vorstellten.
Ich meine aber, daß vielleicht überhaupt die Schicht der Institutionen unserer politischen Bildung, um die es bei der jetzigen Diskussion im wesentlichen geht, überfordert ist bei der Frage, warum eigentilch diese politische Bildung nicht das Engagement hervorgerufen hat, das sie hätte hervorrufen sollen.Warum? Weil die vermittelnden Institutionen, ein Bundesinstitut oder die Akademien oder die entsprechenden Einrichtungen an unseren Schulen, praktisch nur von dem leben, was von der geistigen Forschung über die Politik her weitergegeben wird. Da sind wir doch heute bei einer solchen Diskussion aufgefordert, zu prüfen, ob die Distanz zwischen politischer Bildung und Politologie und Soziologie nicht etwas zu bedeuten hat, ob nicht ein Großteil der Politologen und der Soziologen dazu beigetragen haben, daß das politische Engagement von einer Seite hervorgerufen wird, die antidemokratisch und antiparlamentarisch - oder wie ich das nennen soll — ist. Wir können nicht an der Problematik vorbeireden: wir haben es heute in dem Staat, in dem wir leben, auch mit Politologen und Soziologen zu tun, die den Klassenkampf schlechthin predigen. An unseren Universitäten haben in den letzten 15 Jahren Persönlichkeiten gewirkt, die die These von der Verfremdung der Arbeiterschaft entwickelt haben, die angeblich, statt den Klassenkampf durchzuführen, nur für den Konsum lebt. Sie haben dem eigentlichen Objekt der politischen Bildung, der studentischen Jugend, geradezu den Auftrag gegeben, stellvertretend für die angeblich versagenden Arbeiter diesen Klassenkampf als Avantgarde der Zerstörung der Demokratie unseres Staates zu führen.Das ist doch die Wirklichkeit der geistigen Situation, die an der Hochschule, an der Universität herrscht und die, wie wir es täglich und stündlich erleben, nach der Methode des Herrn Marcuse, der die reine Toleranz überhaupt in Frage stellt, an unseren Universitäten bereits in Terror und in eine Verfahrensweise umgeschlagen ist, durch die praktisch die Freiheit der Rede, die Freiheit des Ausdrucks in Frage gestellt wird und die kriminelle Aktionen hervorgerufen hat.Das ist doch die Wahrheit, daß wir es mit einer Kette zu tun haben, die von der geistigen Indoktrination bereits zu dem Auftrag an einen Teil der politisch studierenden Jugend jedenfalls hinführt, Avantgarde eines zerstörenden Elements in unserem Staate zu sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Wex?
Herr Kollege Becher, Sie sind doch sicher nicht der Ansicht, daß das, was es in den letzten Jahren an den Universitäten an Diskussionen gegeben hat, nur darauf zurückzuführen ist, daß die jungen Menschen nichts anderes zu tun hatten, als die Vorstellungen ihrer Professoren zu verwirklichen? Dahinter stand doch vielmehr ein zu ernstes Anliegen, als daß wir es so abtun dürften?
Das habe ich damit auch nicht gesagt, Frau Kollegin. Aber ich bin der Überzeugung, daß wir von uns aus etwas dazu beitragen müssen, um eben zum Selbstverständnis der Spannungen, von denen heute gesprochen wurde, eine andere Antwort zu geben als ein Teil der zumindest am lautstärksten wirkenden Professoren eines Teils der Politologie.Ich bin der Meinung, daß wir es jedenfalls mit der reinen Politologie der Beschreibung, der rein positivistischen Politologie, sofern sie sich mit der Politologie des Klassenkampfes auseinandersetzt, nicht verstanden haben, eine geistige Antwort auf die Herausforderungen zu geben, die sich in der letzten Zeit an unseren Hochschulen entwickelten.Ich meine, das sollte man sehen, wenn man von der Wirksamkeit der politischen Bildung spricht, weil das, was als eigentlicher Grundgehalt der politischen Bildung erscheint, zunächst in den geistigen Zentren, an de'r hohen Schule und an der Universität, erarbeitet werden muß und weil es dann eben
Metadaten/Kopzeile:
10584 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Dr. Becher
notwendig ist, daß wir uns überlegen, was wir besser machen müssen, um zu einer positiven Aussage über das Gesellschaftsbild der Demokratie zu kommen, in der wir leben und die wir aufgebaut haben.Ich bin immer sehr betroffen darüber, daß ein Teil gerade der aktiv engagierten Jugend in Parallele zu der Jugend gesetzt wird, die wir drüben in den Ostblockstaaten kennengelernt haben, vor allem wenn man sich daran erinnert, daß sich gerade diese Jugend oft zu dem Zweck erhoben hat, die Ideale der klassenkämpferischen Zukunftsgestaltung auf Grund eigener, zwanzigjähriger Erfahrung in Frage zu stellen, Ideale, die heute oftmals im Raum unserer Hochschule als das einzig Vorbildliche, als die einzige Ideologie von morgen, herausgestellt werden.Ich würde also meinen, daß der föderalistische, der partnerschaftliche Gedanke und das europäische Zukunftsbild, das wir uns erarbeitet haben, auch in der Auseinandersetzung mit dem klassenkämpferischen Gedanken viel klarer herausgearbeitet werden müßten, mit dem wir uns heute im politischen Raum konfrontiert sehen. Insofern stimme ich dem Kollegen Schober zu, daß es eben auch notwendig wäre, in der Auseinandersetzung mit der leninistischen Philosophie, soweit sie heute die aktuelle Diskussion bestimmt, aktiver und entschiedener zu sein, als es bisher der Fall war.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Wex?
Herr Kollege Becher, meinen Sie nicht, daß diese Art von Verallgemeinerung dann, wenn wir Politiker hinnehmen, daß sie ungestraft so ausgesprochen wird, vieles von den guten Ansätzen, die die politische Bildung bei den jungen Menschen hervorgerufen hat, sehr schnell zunichte machen kann?
Frau Kollegin, es geht hier nicht um Verallgemeinerungen, sondern es geht darum, daß man die wirkliche Auseinandersetzung auf dem Gebiete der politischen Bildung und der Politologie nicht ausklammern kann. Wir diskutieren ansonsten ins Blaue hinein. Wir unterhalten uns ansonsten, wie eben geschehen, über die Parallelitäten zwischen Sport und Politik und sehen dabei die Wirklichkeit der Auseinandersetzung nicht, die eine Herausforderung an den demokratischen Staat bedeutet und die einer demokratischen Antwort bedarf:
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Josten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur noch zwei wichtige Anregungen in bezug auf die Bundeswehr an die Bundesregierung geben. Meine Damen und Herren, Sie wissen alle, wir haben heute rund 440 000 Soldaten. Diese große Zahl im Bereich von Heer, Luftwaffe und Marine muß besser mit politischem Informationsmaterial versorgt werden. Heute ist die Situation so, daß z. B. die Bundeszentrale für politische Bildung ein Verzeichnis von Büchern, Schriften und Broschüren herausgibt, das wir erhalten und das wir sehr schätzen; aber wir müssen feststellen, daß diese Schriften nicht oder in zu geringem Umfang in die Kasernen kommen. Mein Anliegen ist also, daß nicht nur das Informationsmaterial vom Presse- und Informationsamt, sondern auch die guten Schriften und Broschüren von der Bundeszentrale für politische Bildung in die Kasernen kommen. Denken Sie an unsere Soldaten! Sie sind Staatsbürger in Uniform und werden unsere Zukunft mitbestimmen.
Das zweite Anliegen betrifft die Frage des Sonderurlaubs für Wehrpflichtige. Wir wissen, es gibt Sonderurlaub für Sport und andere, sicherlich auch sehr wichtige Anliegen. Aber ich weiß von Schwierigkeiten, die ehrenamtliche Mitarbeiter von Jugendverbänden hatten. Jugendliche, die ihren Wehrdienst ableisten und vorher bei Jugendverbänden ehrenamtliche Mitarbeiter waren, konnten z. B. keinen Sonderurlaub für drei oder vier Tage bekommen. Daher ist es mein Wunsch an die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß gerade auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter von Jugendverbänden im Rahmen der Aus- und Weiterbildung Gelegenheit bekommen, an Kurzlehrgängen für politische Bildung teilzunehmen, auch während der Zeit, in der sie als Staatsbürger in Uniform ihren Dienst leisten.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.'Benda, Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir bleibt die Aufgabe, einige an mich gerichtete Fragen zu beantworten. Herr Kollege Kubitza hat nach zwei Dingen gefragt. Seine erste Frage war, ob die finanzielle Ausstattung der Maßnahmen für die Fortbildung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes insbesondere auf dem Gebiet der politischen Bildung nicht zu schmal sei. Ich glaube in der Tat, daß die finanziellen Ansätze, die gegenwärtig im Haushalt stehen, keinesfalls als übertrieben aufwendig oder als besonders üppig bezeichnet werden können. Sie reichen dennoch aus, um eine Reihe von, wie ich glaube, ganz nützlichen und wirksamen Maßnahmen in diesem Bereich zu tun. Wir führen in unserem Bereich laufend eine Vortragsreihe durch, die der ständigen Fortbildung auf dem Gebiet der politischen Bildung der Angehörigen sowohl des höheren als auch des gehobenen Dienstes zu helfen bestrebt ist. Das ist finanziell nicht sehr aufwendig und erreicht dennoch eine ganze Menge.Der Schwerpunkt — auch finanziell, nehme ich an — wird in der Zukunft auf der nunmehr auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10585
Bundesminister BendaGrund eines Beschlusses des Kabinettsausschusses zu errichtenden Akademie für die Fortbildung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes liegen. Das wird sicherlich nicht nur intensive Bemühungen, sondern neben anderen Dingen auch mehr Geld kosten. Ich hoffe, daß es möglich sein wird, in den Haushaltsplänen dann die entsprechenden Mittel unterzubringen.Die zweite Frage geht an sich an das Bundesministerium für Familie und Jugend. Ich kann also nur sehr kursorisch über den Sachstand berichten, auch unter dem Vorbehalt, daß ich insoweit eigentlich nicht zuständig bin, aber das, was ich sage, stimmt mit den Auskünften überein, die mir von den Beamten des Ministeriums gegeben worden sind.Das Bundesministerium für Familie und Jugend ist bestrebt, die Mittel im Bundesjugendplan in der bisherigen Höhe zu erhalten. Es ist keinesfalls beabsichtigt, jedenfalls soweit es aus der Sicht der Ressorts unter Berücksichtigung der haushaltsmäßigen Gegebenheiten möglich sein wird, die Mittel zu verringern. Eine Notwendigkeit, neu zu gruppieren, ergibt sich aber aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Jugendwohlfahrts- und Sozialhilfegesetz. Dieses Urteil hat ausgesprochen, daß dem Bund nur die Förderung überregionaler Veranstaltungen, nicht der regionalen zusteht. Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Grundsätze muß nun eine gewisse Umgruppierung vorgenommen werden, die hoffentlich der weiterhin wichtigen Sache nicht schaden wird.Nun komme ich noch zu den Fragen, die Herr Kollege Dr. Lohmar gestellt hat, und darf dazu folgendes sagen. Die Punkte, die Sie heute angesprochen haben, Herr Kollege Dr. Lohmar, beschäftigen sowohl das Kuratorium, wie Sie wissen, als auch mein Haus immerhin schon seit mehr als zwei Jahren. Insofern, glaube ich, ist es nicht ganz berechtigt, anzunehmen, daß sich mein Amtsvorgänger mit dieser Problematik nicht beschäftigt habe.
— Ich möchte jetzt nicht in eine Auseinandersetzung darüber eintreten. Aber ich glaube, Herr Kollege Dr. Lohmar, einmal ganz ernsthaft gesprochen, daß Sie Herrn Kollegen Lücke da etwas Unrecht tun. Sie mögen nicht mit allem einverstanden sein, was er an Vorstellungen hat. Das ist eine Frage, über die man die Meinungen austauschen kann. Aber er hat sich, wie ich aus meiner Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär selbst bestätigen kann, durchaus intensiv mit den Fragen beschäftigt. Dabei hat es eine Fülle von Modellen gegeben, die ich jetzt alle nicht mehr ausbreiten, geschweige denn diskutieren will, auch die Vorstellungen, die Sie hier entwickelt haben. Aber ich glaube, daß wir mit denen in der Sache gar nicht weiterkommen. Sie haben auch heute nicht im einzelnen erläutert, was Sie sich davon versprechen.Ich will mich aber nicht so sehr mit Ihren Vorstellungen auseinandersetzen, sondern mehr aus unserer Sicht etwas sagen. Wir meinen — und ichglaube, daß wir darin mit Ihrer Auffassung übereinstimmen —, daß die erweiterte Zielsetzung der Bundeszentrale eine breitere Arbeitsgrundlage, eine größere Beweglichkeit und auch eine größere Unabhängigkeit erfordert. Darüber besteht, wie Sie aus den Beratungen im Kuratorium wissen, auch kein Streit. Das heißt, praktisch gesprochen, die Bundeszentrale soll im Rahmen von Richtlinien arbeiten. Richtlinien beziehen sich auf das Grundsätzliche. Das hat nichts mit einem Hineinregieren von Beamten, gleichgültig welcher Ebene, in die tägliche Arbeit zu tun. Es gibt vielmehr grundsätzliche Richtlinien, die die Linie setzen. Innerhalb der so gesetzten Linien muß die Bundeszentrale die Möglichkeit haben, selbständig und in eigener Verantwortung nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu entscheiden. Soweit werden wir uns einig sein, wie ich annehme.Das bedeutet keine rechtliche Verselbständigung, die wir nicht für notwendig halten und von der wir auch nicht meinen, daß das Ziel der Unabhängigkeit durch sie notwendigerweise gefördert würde. Die Verantwortlichkeit des zuständigen Ministers gegenüber dem Parlament muß ohnehin erhalten bleiben. Ich möchte da auch vielleicht nicht so sehr Sie, sondern manche, die auf diesem Gebiet arbeiten und mit denen ich auch darüber vor gar nicht langer Zeit Gespräche geführt habe, vor der Illusion warnen, daß man politische Bildung nun völlig den gesellschaftlichen Gruppen überlassen könnte, die ohnehin und aus guten Gründen, gegen die ich mich nicht wende, einen sehr erheblichen Einfluß auf die Tätigkeit im Rahmen der politischen Bildung haben. Irgendwo muß der Staat wenigstens eine Möglich- keit haben, auf dieses Thema mit Einfluß zu nehmen. Eine Lösung, die darauf hinausliefe, daß Regierung und Parlament zwar das Geld geben, aber über die Frage, was mit dem Geld geschieht, nur von außerhalb von Parlament und Regierung stehenden Kräften entschieden werden kann, würde ich nicht für tragbar halten. Ich nehme auch nicht an, daß Sie sie anstreben. Aber ich glaube, daß dies einmal gesagt werden mußte, weil außerhalb dieses Hauses darüber vielleicht gewisse Illusionen bestehen.
Nun zu dem, was Sie konkret gefragt haben. Die Bundesregierung, oder ich muß zunächst sagen: der Bundesminister des Innern — aber es wird der Bundesregierung soweit erforderlich unterbreitet werden, und ich hoffe, daß sie dem zustimmen wird — beabsichtigt, der Bundeszentrale zur Gewährleistung ihrer sachlichen Unabhängigkeit und zur Unterstützung ihrer sachlichen Arbeit einen Beirat beizugeben. Dieser Beirat soll von wahrscheinlich fünf Persönlichkeiten gebildet werden, die auf die Dauer von vier Jahren berufen werden. Es sollen sachverständige Persönlichkeiten sein, also nicht etwa Beamte oder sonstige Angehörige des Bundesinnenministeriums, sondern unabhängige, aber zugleich sachverständige Persönlichkeiten.Die praktische Bedeutung dieses Beirats ist, daß er Empfehlungen für die Arbeit der Bundeszentrale geben kann. Der Leiter der Bundeszentrale soll gehalten sein, dann, wenn er von einstimmig gefaßten Empfehlungen dieses Beirats abweichen will, die
Metadaten/Kopzeile:
10586 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Bundesminister BendaEntscheidung des Bundesministers des Innern einzuholen. Es wird auch eine institutionelle Möglichkeit gefunden werden — auch danach haben Sie gefragt —, das Kuratorium über die Auffassungen des Beirats. zu unterrichten.Wenn diese Voraussetzung, die ich, wie Sie wissen, in dem Kuratorium in den Grundzügen schon einmal etwas eingehender, als ich es jetzt tun kann, vorgetragen habe, erfüllt wird, wenn man sich darüber verständigen kann, würde auch eine Möglichkeit bestehen — und ich würde dazu bereit sein —, den berühmten 30 000-DM-Erlaß aufzuheben. Das ist zugleich die Antwort auf Ihre zweite Frage.Die Antwort auf die dritte Frage ist: Die Aufgabe des Kuratoriums soll in dem bisherigen Umfang erhalten bleiben: Sicherung und Wahrung der Überparteilichkeit der Arbeit der Bundeszentrale und ihrer politischen Wirksamkeit. Ich gebe Ihnen zu, daß dazu selbstverständlich nicht nur eine nachträgliche Entgegennahme von Informationen und mögliche Kritik dessen, was geschehen ist, gehört, sondern auch die Vorausschau über die Vorhaben, die von der Bundeszentrale durchgeführt werden sollen. Ich bin bereit, im Rahmen dessen, was zur Erfüllung der Aufgabe des Kuratoriums erforderlich ist — Wahrung der Überparteilichkeit und Kontrolle der politischen Wirksamkeit —, ihm diese Einsicht in die Vorausschau und die Mitwirkung an ihr zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, zu diesem Punkt liegen keine Wortmeldungen mehr vor.
Wir haben über den Antrag der Fraktion der FDP auf Umdruck 534 *) zu entscheiden.
— Es wird also vorgeschlagen, diesen Antrag dem Ausschuß für Wissenschaft, Kulturpolitik und Publizistik als federführendem Ausschuß und dem Innenausschuß zur Mitberatung zu überweisen. — Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen.
Damit kommen wir zu Punkt 7 der Tagesordnung:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herabsetzung des Wahlalters
— Drucksache V/3009 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion der FDP betr. Herabsetzung des Wahlalters
— Drucksache V/3010 —
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Zur Begründung hat das Wort Herr Abgeordneter Genscher.
*) Siehe Anlage 35
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Hause ist es Übung geworden, dem Ältestenrat gelegentlich Vorwürfe zu machen und am Ältestenrat Kritik zu üben. Ich glaube, die Folge der heutigen Tagesordnung — politische Bildung und die Frage der Herabsetzung des Wahlalters — ist das Ergebnis einer glücklichen Entscheidung des Ältestenrates.Mir scheint allerdings eine solche Einsicht in die Bedeutung und den Zusammenhang dieser Themen bei der Bundesregierung nicht vorhanden zu sein. Vor mir liegt das Vorwort zum Einzelplan 29, das ist der Haushalt des Bundesministers für Familie und Jugend. Dort heißt es:Das Bundesministerium für Familie und Jugend hat die Aufgabe, den Lebensnotwendigkeiten der Familie und Jugend in der modernen Gesellschafts- und Staatsordnung Geltung zu verschaffen.Ich möchte ausdrücklich das Befremden meiner Fraktion darüber zum Ausdruck bringen, daß die Ministerin dieses Ressorts weder bei dem Thema „politische Bildung" noch bei dem Thema „Herabsetzung des Wahlalters" dem Parlament die Ehre ihrer Anwesenheit erweist.
Es wäre vielleicht auch nützlich gewesen, wenn das Verteidigungsministerium bei dem vorangegangenen Thema hier vertreten gewesen wäre. Denn die Bildungsarbeit in der Bundeswehr ist ein wesentliches Problem, und der zweite Jugendbericht der Bundesregierung hat gerade diesen Fragen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ich betone ausdrücklich, daß diese Feststellung und diese Kritik an der Abwesenheit des Bundesministeriums der Verteidigung sich nicht auf den Minister beziehen können, sondern auf die anderen Herren. Denn daß der Minister im Augenblick in anderen Angelegenheiten beschäftigt ist, ist allen in diesem Hause bekannt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist kein Zufall, daß in der Bundesrepublik Deutschland in dieser Zeit über die Herabsetzung des Wahlalters diskutiert wird. Auch in anderen Ländern steht dieses Problem zur Diskussion. Osterreich hat soeben das Wahlalter auf 19 Jahre herabgesetzt, der amerikanische Präsident Johnson hat Erklärungen in dieser Richtung abgegeben, und auch die englische Regierung prüft die Frage der Herabsetzung des Wahlalters. Es ist selbstverständlich, daß auch die Bundesrepublik Deutschland an dieser Problematik nicht vorbeigehen kann.Die Bundestagsfraktion der FDP hat sich bei der Einbringung ihres Antrags von der Erwägung leiten lassen, daß es an der Zeit ist, unter dem Gesichtspunkt der Bürgerrechte in diesem Staat auch die Herabsetzung des Wahlalters zu überprüfen. Wir sind für eine positive Beantwortung dieser Frage. Für uns, meine Damen und Herren, ist Wahlrecht Bürgerrecht. Wir haben bei dieser Debatte darüber zu entscheiden, ob wir den Kreis der Wahlberech-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10587
Genschertigten erheblich ausdehnen wollen, ob wir, auf die Bundestagswahl 1969 abgestellt, nahezu 2,5 Millionen jungen Menschen zusätzlich die Chance der Mitwirkung in unserer Demokratie eröffnen wollen. Wir sagen zu dieser Forderung ja.Wir kennen eine Fülle von Einwendungen, die gegen unseren Antrag vorgebracht werden. Sie sind zum Teil materieller Art, sie sind zum Teil formaler Art.Der Abgeordnete Dr. Jaeger, unser verehrter Kollege, der leider heute dieser Sitzung fernbleibt, hat unter der Überschrift „Die Stimme der Christlich Sozialen Union" in einer bekannten Tageszeitung die Meinung seiner politischen Gruppierung vorweggenommen, und ich darf Herrn Kollegen Dr. Jaeger deshalb zitieren, meine Damen und Herren, weil der Beitrag, den ich Ihnen jetzt verlesen werde, in besonderem Maße das Mißverständnis der Problematik des Wahlalters und des Zusammenhangs des Wahlalters mit anderen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten deutlich macht. Herr Kollege Dr. Jaeger schreibt:Es besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und Wahlrecht, denn der Wehrdienst erfordert keineswegs jene besondere Reife des politischen Urteils, die für die Ausübung des Wahlrechts unerläßlich ist.Meine Damen und Herren! Wer so schreibt und spricht, erteilt dem „Staatsbürger in Uniform" eine Absage.
Steht vor seinen Augen ein Soldat mit Kadavergehorsam, der sich keine Gedanken über die politische Ordnung macht, der er zu dienen hat?Unser Ziel — verehrter Herr Kollege Dr. Jaeger, ich darf Sie hier herzlich begrüßen — ist es gerade, zu erreichen, daß wir bewußte Staatsbürger haben. Das ist doch der Grund gewesen, aus dem wir heute so ausgiebig über die Probleme der politischen Bildung diskutiert haben. Wir wollen nicht nur Soldaten haben, die einer gesetzlichen Wehrpflicht genügen, die einem gesetzlichen Zwang nachkommen, sondern wir wünschen Soldaten, die die demokratische Ordnung, die sie mit ihrem Wehrdienst verteidigen sollen, auch innerlich bejahen und die die Möglichkeit haben, über den Inhalt dieser Ordnung auch mit dem Stimmzettel mitzuentscheiden.
Wir glauben, daß es in einer Demokratie von besonderer Bedeutung ist, zu erkennen, daß die Übernahme des Wehrdienstes in dieser Form, die Bereitschaft, den Wehrdienst auf sich zu nehmen, in der Tat die Anerkennung auch der politischen Reife des jungen Mannes voraussetzt.Wenn Sie einmal mit Soldaten diskutieren, wenn Sie mit jungen Menschen überhaupt diskutieren, so werden Sie wie ich festgestellt haben, welch hohes Maß an politischem Interesse und welch hohes Maß an politischem Wissen bei jungen Menschen vorhanden ist.Ich kann es mir nicht so leicht machen wie der Herr Kollege Dr. Becher, der die Demonstrationen der letzten Monate so ein wenig als Verführungsergebnisse von Professoren bestimmter Disziplinen, wie etwa Politische Wissenschaften und Soziologie, abzuwerten versucht. Meine Damen und Herren, das ist eine unzulässige Verniedlichung eines sehr ernsten Problems, dem wir alle gegenüberstehen.
Wer so wenige Einsicht in die Probleme hat, um die wir heute ringen, wenn es uns darum geht, die jungen Menschen an den Staat heranzuführen, der darf sich am Ende nicht über die entstandene Glaubwürdigkeitslücke zwischen Politik auf der einen Seite und Bürgern, insbesondere jungen Bürgern, auf der anderen Seite wundern.Uns geht es darum, den jungen Menschen die Chance der Mitwirkung in diesem Staat zu eröffnen. Wenn Sie sehen, welches ehrliche politische Engagement hinter vielen jungen Menschen steht, die uns in ihrer Art ihre Auffassungen nahebringen, sollten wir uns freimachen von der Verallgemeinerung, daß hier radikalisierte Jugendliche mit einem Mißverständnis der Demokratie, von links kommend, diesen Staat unterlaufen wollen. Meine Damen und Herren, manchmal haben wir diese jungen Leute ja auch dazu provoziert, den Weg der Demonstration zu gehen. Haben wir schon vergessen, wie viele Denkschriften zum Beispiel die Studenten. sehr artig bei den Rektorenkonferenzen vorgelegt haben, ohne daß sie beachtet wurden, und wie ernst diese Denkschriften genommen wurden, als sie nicht mehr artig, sondern an der Spitze eines Demonstrationszuges an die hohen Herren herangetragen wurden?Wir sollten also einmal prüfen, ob wir nicht in der Tat einer Jugend gegenüberstehen, die in einem Maße zu einem politischen Informationsgrad gekommen ist, wie wir das früher nicht gehabt haben.Der erste Jugendbericht der Bundesregierung hat Lesenswertes hierzu ausgeführt. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten daraus zitieren. Es heißt dort:Ganz allgemein aber wächst das Interesse — gemeint ist das politische Interesse —sprunghaft an, sobald die Jugendlichen 18 Jahre alt werden. Das politische Interesse entspringt verschiedenen Motiven: Wißbegier über die eigene Lebenswirklichkeit, Kritik an den vorgefundenen Verhältnissen, Beunruhigung durch die allgemeine Weltlage, Verständnis für die Verflochtenheit des persönlichen mit dem öffentlichen Leben, Anteilnahme an Not und Glück auf der Welt in Vergangenheit und Gegenwart, Engagement für politische Aufgaben.Meine Damen und Herren, ich finde, dies sind alles ehrenwerte und beachtliche Motive, sich mit politischen Fragen zu befassen, und das ist hier festgestellt worden für eine große Zahl von Jugendlichen, die eben das 18. Lebensjahr vollendet haben.Niemand wird behaupten können, daß die im Grundgesetz gefundene Grenze von 21 Jahren eine
Metadaten/Kopzeile:
10588 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Genschergeradezu mathematisch feststellbare, absolute und optimale Grenze für das Wahlrecht sei. Sie hätten auch 20 Jahre sagen können, wie es in der Weimarer Verfassung war. Da sind fließende Entwicklungen, denen wir Rechnung tragen müssen, und wir wollen das mit unseren Vorstellungen.Meine Damen und Herren, ich warne auch vor der Argumentation, junge Menschen seien unreif, sie würden am Ende nicht richtig wählen, sie würden falsch wählen. Nun, was ist richtig wählen und falsch wählen?
— Ich bin der Meinung, daß Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen eine völlig andere Meinung darüber hat, was die richtige Wahlentscheidung sei, als ich. Das ist gut so, denn davon lebt die parlamentarische Demokratie. Und wenn ein junger Mensch feststellt, daß seine erste Wahlentscheidung in seiner späteren Betrachtung eine falsche war, dann hat er die Möglichkeit, bei der nächsten Wahl diese Entscheidung zu korrigieren. Meine Damen und Herren, diese kritischen Wähler, die ihre Entscheidung vor jeder Wahl neu überprüfen, sind bewußtere Staatsbürger als diejenigen, die von der Wiege bis zur Bahre derselben politischen Gruppierung ohne Rücksicht auf politische Veränderungen ihre Stimme geben. Ich glaube also, wir sollten uns auch diese Argumentation nicht zu leicht machen.Ein häufig gehörtes Argument ist die Anfälligkeit junger Menschen für radikale Gruppierungen. Meine Damen und Herren, wir haben bei Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland getrennte Auszählungen für die verschiedenen Altersgruppen gehabt. Wir haben eine Möglichkeit, zu überprüfen, wie Jungwähler sich entschieden haben. Wenn man feststellt, wie diese Wahlentscheidungen der Jungwähler für die demokratischen Parteien und für radikale Gruppierungen waren, so deckt sich das etwa mit den Umfragen bei jungen Menschen unter 21 Jahren, bei denen wir uns in unseren Erkenntnismöglichkeiten auf Umfrageergebnisse beschränken müssen. Da zeigt sich, daß die Anfälligkeit für radikale Gruppierungen von links und rechts gerade bei den jungen Menschen wesentlich geringer ist als bei anderen Altersgruppen. Das würde die Frage aufwerfen, ob man sich in ganz anderen Altersgruppen über die Frage des Wahlrechts unterhalten müßte, was ich hier nur rhetorisch tue. Nein, meine Damen und Herren, auch von daher ist gegen die Herabsetzung des Wahlalters nichts einzuwenden.Es wird davon gesprochen, es müsse noch ein höherer Informationsgrad vorhanden sein. Die jungen Menschen hätten diesen Informationsgrad, sie seien aber nicht in der Lage, diese Informationen zu verwerten. Meine Damen und Herren, wenn ich bedenke, welche Informationen ein Bundestagsabgeordneter über die Ursachen der Unruhe in der Jugend bekommen kann, und wenn ich mir dann das Umsetzungsergebnis bei Herrn Dr. Becher ansehe, könnte das beinahe Fragen des passiven Wahlrechts aufwerfen.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit unserem Antrag die Herabsetzung des aktiven Wahlalters auf 18 Jahre, des passiven auf 23 Jahre erreichen. Wir wollen — ich betone es noch einmal — dem jungen Menschen sehr frühzeitig die Chance der Mitwirkung In unserer Demokratie ermöglichen. Nun wird eingewandt — das sind die formalen Argumente —, es müsse immer die Auswirkung einer solchen Herabsetzung des Wahlalters auf andere Rechtsgebiete geprüft werden. Wir wollen uns dieser Erwägung nicht verschließen und haben deshalb zusätzlich zu unserem Gesetzentwurf einen Antrag folgenden Inhalts eingebracht:Die Bundesregierung wird aufgefordert zu prüfen, ob die Herabsetzung des Wahlalters zwingend eine Änderung der Altersgrenzen auch in anderen Rechtsgebieten zur Folge haben muß.Damit soll zum -Ausdruck gebracht werden, daß man diese Probleme ernsthaft untersuchen muß, daß eine solche Untersuchung aber zeitlich der Entscheidung über die Herabsetzung des Wahlalters zu folgen hat. Es darf nicht so werden, daß wir im Hinblick auf solche Untersuchungen die Entscheidung in dieser Legislaturperiode nicht mehr treffen.Wir haben mit Freude festgestellt, daß sich der Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union für die Herabsetzung des Wahlalters ausgesprochen hat. Wir haben ähnliche Stimmen aus der Sozialdemokratischen Partei gehört. Es kann also, wenn es sich dabei nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt, an den Mehrheiten in diesem Hohen Hause nicht fehlen In der Tat besteht auch kein zwingender Zusammenhang mit den Rechtsvorschriften in anderen Bereichen. Wir hatten in der Zeit der Weimarer Verfassung das aktive Wahlalter mit der Vollendung des 20. Lebensjahrs, obwohl auch damals die Volljährigkeit bei 21 Jahren lag, was schon deutlich macht, daß beide Rechtsgebiete durchaus unterschiedlich voneinander geregelt werden können. Wir haben eine Reihe von Rechtsvorschriften, die dem jungen Menschen in den verschiedensten Altersstufen zunehmend Rechte geben; dabei sind Rechte, die ich für besonders erheblich halte. Wenn Sie etwa bedenken, daß es das Gesetz über die religiöse Kindererziehung dem jungen Menschen ermöglicht, schon mit 14 Jahren allein über sein Bekenntnis zu entscheiden, so muß man das auch in ein Verhältnis zu der Reife für die Wahlentscheidung setzten. Denken Sie bitte auch daran, daß durch das Betriebsverfassungsgesetz das aktive Wahlalter auf 18 Jahre festgelegt ist, das passive auf 21 Jahre, daß dort also höchstverantwortungsvolle Funktionen in einem Betrieb von jungen Menschen in diesem Alter auch als Vertreter ihrer Kollegen ausgeübt werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage von Herrn Kollegen Könen?
Herr Kollege Genscher, wären Sie nicht doch bereit, zuzugeben, daß Sie mit dem Begriff „formale Argumente" nicht alles das treffen, was an Argumenten vorgebracht wird? Ich frage Sie das, um auch zu verhindern, daß Leute,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10589
Könen
die schon lange in der Jugendarbeit stehen, Argumente mit den Jahresbegriffen und ähnlichen Dingen in anderen Rechtsgebieten aus Sorge darum vorbringen, daß dabei bestimmte Schutzmaßnahmen für junge Menschen mit in die Geschichte hineinkommen.
Ich darf noch einmal sagen: Ich habe unterschieden zwischen den materiellen und den formalen Argumenten. Mit den formalen Argumenten meine ich diejenigen, die sich auf Vergleiche mit anderen Rechtsgebieten beziehen. Diese Vergleiche sind deshalb ein wenig willkürlich, weil wir viel einschneidendere Grenzen in einem anderen Lebensalter haben als gerade bei 21, Herr Kollege Könen. Sehen Sie, die Ehemündigkeit der Frau liegt bei 16 Jahren. Ich habe schon auf die Festlegung der Altersgrenze auf 14 Jahre für die Entscheidung über das religiöse Bekenntnis verwiesen. Für Wichtige Vermögensverfügungen, wie sie etwa die beschränkte Testierfähigkeit bewirken kann, liegt die Grenze bei 16 Jahren. Das sind Bestimmungen, die Sie ebenso heranziehen können, um eine Parallele zu anderen Rechtsvorschriften herzustellen.
Meine Damen und Herren, die strafrechtliche Verantwortlichkeit müssen Sie völlig von der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte trennen. Sonst kämen Sie zu ganz problematischen Auswirkungen auf die Wahlgesetze, die wir hier besser beiseite lassen wollen. Ich glaube, das ist eine Problematik, die Sie nicht miteinander vermengen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kann also nicht darum gehen, zwangsläufig einen Zusammenhang zwischen Volljährigkeit und aktivem Wahlalter herzustellen. Dabei möchte ich nicht verschweigen — hier komme ich auf ein anderes Argument des Herrn Kollegen Jaeger —, daß es durchaus auch an der Zeit ist, einmal zu prüfen, ob die Volljährigkeitsgrenze mit 21 Jahren noch richtig festgelegt ist. Sie haben, Herr Kollege Jaeger, in dem von mir zitierten Artikel geschrieben, diese jungen Leute seien nicht einmal in der Lage, ein Moped — ich glaube, das haben Sie genannt — zu kaufen, aber sie sollten nun wählen können. Sie wissen aber, daß sie dieses Moped kaufen. Sie wissen, daß viele junge Menschen im Alter von 18 bis 21 Jahren schon in erheblichem Maße über ihr eigenes Einkommen verfügen, daß sie dabei eine Fülle von Rechtsgeschäften abschließen, die sie eigentlich gar nicht abschließen könnten. Das ist eine sehr unsichere Rechtslage, die meist nur deshalb nicht vor Gericht geklärt werden muß, weil die beiderseitigen Verpflichtungen erfüllt werden. Ich persönlich hätte keine Bedenken, in diesem Zusammenhang auch die Frage der Volljährigkeit zu stellen und sie im Sinne einer Herabsetzung auf 18 Jahre zu beantworten.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion der FDP ist — das möchte ich noch einmal feststellen — das Ergebnis einer sehr langen und gründlichen Diskussion in unserer
Fraktion. Wir haben uns in unseren Erwägungen durch die Vorschläge bestätigt gesehen, die jetzt auch in anderen Ländern in dieser Richtung gemacht werden. Wir stehen hier nicht allein. Wir sehen uns auch in den Meinungen bestätigt, die von anderen Parteien zu diesem Problem vorgetragen werden.
Ich möchte allen Kritikern unseres Antrags noch eines zu bedenken geben. Bei den Demonstrationen der letzten Monate — hier wissen wir sehr wohl zwischen denjenigen, die aus ehrlicher Besorgnis von ihren Rechten als Staatsbürger Gebrauch gemacht haben, und anderen zu unterscheiden, die sehr radikale Vorstellungen hatten — ist die Frage des Wahlalters von den Radikalen, die eine Menge von Forderungen für den jungen Menschen erhoben haben, nicht angeschnitten worden, weil diese Gruppierungen nicht das Interesse haben, den jungen Menschen an den Staat heranzuführen. Unser Ziel ist dagegen, den jungen Menschen, die sich aus ehrlicher Besorgnis um unsere Demokratie an den Demonstrationen dieses Jahres beteiligt haben, zu zeigen, daß dieser demokratische Staat für sie offen ist, daß sie nicht über eine Zeit hinaus mit der Ausübung ihrer Rechte warten müssen, in der sie längst staatsbürgerliche Pflichten, z. B. in der Form des Wehrdienstes, übernommen haben. Nein, sie müssen schon im Alter von 18 Jahren, in dem sie in ihrem Beruf häufig schon verantwortliche Funktionen wahrnehmen, die Chance der Mitwirkung in der Demokratie durch Ausübung des Wahlrechts haben.
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Picard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Genscher hat heute hier so gesprochen, als ob es außer den Freien Demokraten keine Befürworter der Herabsetzung des Wahlalters gäbe.
— So hat sich das jedenfalls für den unbefangenen Zuhörer angehört.
— Ich weiß nicht, ob der, der einen Standpunkt in dieser Frage hat, von Ihnen noch als unbefangen bezeichnet wird. Ich möchte jedenfalls meinen, daß ich es bin. — Herr Kollege Genscher hat einige von den Argumenten, die für die Herabsetzung des Wahlalters sprechen, natürlich zur Begründung vorgetragen und hat einiges von dem, was zum Nachdenken anregt, ob die Frage nicht doch etwas komplizierter sei, natürlich verschwiegen. Es wird also mir überlassen bleiben, die Akzente vielleicht etwas anders zu setzen, obwohl ich sagen möchte, daß wir in Ausübung des Beschlusses des Parteitages der CDU in Berlin eine Herabsetzung des aktiven Wahlalters auf 18 Jahre und des passiven Wahlalters auf 23 Jahre durchaus für erwägenswert hal-
Metadaten/Kopzeile:
10590 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Picardten. Wenn ich „wir" sage, dann meine ich die Fraktion; ,es besteht ja wohl ein kleiner Unterschied zwischen dem, was ein Parteitag an Beratungen und Ergebnissen zeitigt und dem, was die Fraktion beschließt. Das soll auch bei den Freien Demokraten so sein. Ich glaube, die Fraktion muß überlegen, ob ein solcher Beschluß so einfach Hals über Kopf in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann.Herr Kollege Genscher hat davon gesprochen, daß die Tendenz zur Ausweitung des Wahlalters nach unten, wenn wir die Altersgrenze sehen, weltweit sei, soweit wir einmal von weltweit sprechen können und die kommunistischen Länder herauslassen, die interessanterweise alle ein Wahlalter von 18 Jahren haben. Das ist schon eine Frage, bei der man vielleicht anfangen sollte zu überlegen, warum gerade totalitäre Staaten dieser Prägung dieses Wahlalter haben. Auch andere totalitäre Staaten — nicht alle - haben ein aktives Wahlalter von 18 Jahren.
— Herr Kollege Könen, ich weiß nicht, ob sie die Jugend im Griff haben. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei belehren uns eigentlich eines anderen. Das könnte man natürlich als Gegenargument dafür nehmen, die Jugendlichen mitwählen zu lassen.
Woher kommt diese Tendenz zur Ausweitung? Ich glaube, sie kommt ganz einfach daher, daß politische Institutionen wohl darauf angewiesen sind — und auf die Dauer gar nicht anders können —, im Einklang mit den Interessen und Bedürfnissen der Regierten zu handeln. Das ist dann der Fall, wenn Verfahren vorhanden sind, die allen relevanten gesellschaftlichen Kräften einen möglichst weitgehenden Einfluß auf die Politik gewähren, und eines dieser Verfahren scheint mir die Wahl zu sein. Und wer wollte eigentlich leugnen, daß die Altersgruppe von 18 bis 21 Jahren eine gesellschaftliche relevante Gruppe sei? Das hat Herr Kollege Genscher ja eben schon ausgeführt.Ein weiterer Grundsatz unserer und jeder freien Gesellschaft ist — ich glaube, auch darin sind wir uns einig —, daß die Verfügung von Menschen über Menschen auf ein — wenn auch vielleicht nicht ganz vermeidbares — Minimum zu reduzieren sei. Von daher ergibt sich dann die Frage: Warum überhaupt ein Ausschluß vom Wahlrecht? Hier gibt es nach meiner Meinung eine wesentliche Begründung zur Ausweitung des Wahlrechts. Wir alle setzen dafür eigentlich bestimmte Bedingungen an Wissen, an Urteilsfähigkeit, an Erfahrung, aber doch nicht an Alter voraus; wir unterstellen nur, daß bei einer ganz bestimmten Altersgruppe diese Minimalvoraussetzungen erfüllt seien. Sicher ist es so, daß heute bei der Altersgruppe von 18 bis 21 Jahren der Informationsgrad, das politische Interesse, die Bereitschaft zum politischen Engagement im wohlverstandenen Sinne größer ist als bei den dann folgenden Altersgruppen. Das hat natürlich seine Begründung auch darin, daß die dann folgenden Altersgruppen durch familiäre und berufliche Verpflichtungen stärker in Anspruch genommen sind, stärkere Pflichten in diesem Bereich zu tragen haben. Ganz objektiv gesehen, ist das nun einmal so. Von daher gibt es — glaube ich — einfach kein glaubhaftes Argument gegen die Herabsetzung des Wahlalters.Zur Frage der Radikalisierung: Die radikalisierte Jugend ist — das haben wir in diesem Hohen Hause des öfteren festgestellt — eine ganz kleine Minderheit, und es wäre völlig falsch, wenn wir von dort aus unsere politische Entscheidung begründen wollten.Die Diskussion in der Bundesrepublik läuft seit einiger Zeit. Sie wurde — soweit ich sehe — in der Verknüpfung mit dem Wehrpflichtalter begonnen. Diese Verknüpfung halte ich allerdings von der Sache her für falsch. Ich halte das von der Sache her nicht für zwingend, sowenig ich es von der Sache her für zwingend halte, daß eine Herabsetzung des Wahlalters eine Herabsetzung der Volljährigkeit zur Folge haben muß, die übrigens unser Parteitag auch für notwendig erachtet; aber das ist eine andere Frage. Ich halte nichts davon, wenn wir andere Rechtsbereiche, andere rechtliche Fixierungen zu Hilfe nehmen, um entweder eine rechtliche Fixierung aufrechtzuerhalten oder sie abzubauen.Auf andere Länder wurde schon hingewiesen. In allen demokratischen, freien Ländern liegt das aktive Wahlalter über 18 Jahre und das passive über 23 Jahre. Es gibt sogar Länder, in denen die Grenze für das aktive Wahlrecht bis zu 23 Jahren hinaufgeht. Dassind gar keine undemokratischen Länder. Das ist also unterschiedlich, und wir wissen hier keine Grenze und haben keinen Anhaltspunkt, um zu sagen: das kann man tun, das muß man tun oder das kann man nicht tun. Wir wären allerdings, wenn wir diesem Gesetzentwurf heute in einer sehr raschen Behandlung zustimmen würden und ihn schon für die Bundestagswahl 1969 verwirklichen wollten, wahrscheinlich das erste Land, das die praktischen Folgerungen daraus zieht.Die Herabsetzung des Wahlalters ist sicher kein verfassungspolitischer Schritt. Ich meine aber doch sagen zu müssen, daß es ein Zeichen dafür wäre, das unsere Gesellschaft der Reform nicht nur bedürftig, sondern auch fähig ist. Das wäre eine Demonstration der Reformfähigkeit unserer Gesellschaft auch hier in diesem Hohen Hause.Meine Damen und Herren, ich will die Diskussion nicht sehr verlängern, obwohl es nicht nur reizvoll, sondern vielleicht auch einmal notwendig wäre, etwas tiefer zu graben, als das in kurzer Zeit möglich ist. Ich glaube, daß als Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechtes eine gewisse individuelle Mündigkeit gegeben sein muß. Diese individuelle Mündigkeit kann man bei 18- bis 21jährigen durchaus unterstellen. Aber diese individuelle Mündigkeit reicht nicht aus, sondern sie muß ergänzt werden. Sie muß sogar nicht nur ergänzt werden, sondern viel bedeutender noch ist die Frage der sozialen Mündigkeit, der sozialen Inte-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10591
PicardBration. Diese soziale Integration muß wohl das erste Kriterium für politische Mitbestimmung abgeben. Von meinen Vorrednern ist z. B. auf das Betriebsverfassungsgesetz abgehoben worden. Im Betrieb ist es sicher leichter möglich, in einem niedrigeren Alter eine weitreichende Mitbestimmungsmöglichkeit zu gewähren, weil der Bereich viel überschaubarer ist als der gesamtpolitische Bereich, wie er bei der Wahl doch wohl zur Entscheidung ansteht.Nun läßt sich hier allerdings nicht leugnen, daß die 18- bis 21jährigen bei der sozialen Integration bei weitem nicht den als notwendige Voraussetzung anzusehenden klaren Standort in der Gesellschaft haben. Die Gruppe der 18- bis 21jährigen ist vielmehr nach allen soziologischen Untersuchungen dadurch gekennzeichnet, daß sie zwar als Gruppe ein gewisses Eigenleben entfaltet, daß aber die personale soziale Integration in einem viel geringeren Maße gelingt, als wir das eigentlich wünschen. Hier möchte ich an das anknüpfen, was der Herr Kollege Könen eben mit dem Hinweis auf die Heranwachsenden im Strafrecht gesagt hat. Wenn man die Kriminalität der Jugendlichen, der Heranwachsenden betrachtet, dann zeigt sich nach Meinung vieler Kriminologen gerade in der starken Anfälligkeit dieser Altersgruppe die Tatsache, daß die soziale Integration eben nicht genügend gelingt. Von da her ist dann zu fragen, ob nicht zum Schutze der Heranwachsenden das Jugendstrafrecht, wie es in der Regel ist, angewandt werden sollte. Ich bin trotzdem der Meinung, daß man bei Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte das; was ich eben als zu erwägen vorgetragen habe, nämlich die mangelnde soziale Integrationsfähigkeit, nicht überbewerten sollte und auch nicht überbewerten darf. Wir haben vorhin in der Debatte über die politische Bildung auch über die Frage der Standortfindung durch Jugendliche im Bereich der Politik gesprochen. Lassen Sie mich daran etwas anknüpfen. Wir sehen, daß bei der zunehmenden Altersverlagerung in unserer Gesellschaft natürlich auch von daher eine Tendenz besteht, eine Korrektur nach unten anzubringen. Ob das notwendig oder richtig ist, mögen weitere Erörterungen ergeben. Jedenfalls würden wir, wenn wir das Wahlalter herabsetzten, etwa zu 25 % Wähler unter 30 Jahren haben, d. h. ein Viertel unserer Wähler wäre unter 30 Jahre alt.Bei der Frage der Herabsetzung des Wahlalters spielt natürlich auch das Verhalten in den Wahlen eine Rolle. Ob ein Wähler dieser Altersgruppe richtig wählt, kann man, glaube ich, Herr Kollege Genscher, nicht nur daran messen, ob er die eine oder andere Partei wählt. Trotzdem scheint mir interessant zu sein, daß nach der von Ihnen angeführten Auszählung nach Wahllokalen und bestimmten Altersgruppen sowie auf Grund von soziologischen Untersuchungen und Befragungen feststeht, daß die Stimmergebnisse bei den 18- bis 21jährigen bis auf eine Stelle hinter dem Komma genau die gleichen wären wie bei den übrigen Bevölkerungsgruppen. Mir ist nur eine einzige Untersuchung bekannt, die eine andere Verteilung zeigt. Alle anderen sagen ganz klar, daß das so wäre.
— Das ist richtig. Ich komme jetzt darauf. Bei den 18- bis 21jährigen haben wir eine stärkere Affinität zur NPD z. B.
— Doch.
— Moment, ich will Ihnen gleich sagen, daß mir Untersuchungen vorliegen — —
— Nicht bei Wahlen — die 18- bis 21jährigen haben ja noch nicht gewählt, Herr Kollege Genscher —,
sondern die wurden in mehreren Untersuchungen gefragt: Wem würden Sie, wenn Sie zu wählen hätten, Ihre Stimme geben?
— Doch. Ich habe hier eine Untersuchung; ich kann sie Ihnen zeigen.
— Na gut. Ich will Ihnen nur sagen, mit welcher Begründung in dieser Altersgruppe ein höherer Prozentsatz von Bürgern gesagt hat: Ich würde NPD wählen. Die Begründung in dieser Altersgruppe war nämlich, daß man eine stärkere, durchschlagendere, sichtbarere Führung im politischen Bereich verlange. Das ist für uns ein sehr interessantes Ergebnis; denn das zeigt durchaus nicht, daß hier eine Anfälligkeit bestünde. Ich habe nicht von Anfälligkeit, sondern von einer Affinität gesprochen. Ich glaube, es ist sehr wohl begründet, daß Menschen in diesem Alter — wie ich vorhin gesagt habe: mit einem sehr viel stärkeren Informationsbedürfnis und mit einer stärkeren Bereitschaft, sich um politische Dinge zu kümmern — genau an diesem Punkt mit ihrer Kritik ansetzen.Zur Frage Wahlrecht und Zusammenhänge mit anderen Rechtsgebieten habe ich schon einiges gesagt. Ich bleibe dabei, daß kein direkter Zusammenhang besteht. Dennoch muß man das ernsthaft prüfen, weil Auswirkungen einfach automatisch kommen werden. Wenn aber gefordert worden ist, das Wahlalter noch für die Bundestagswahl 1969 auf 18 Jahre herabzusetzen — also eine Änderung sowohl des Grundgesetzes als auch des Bundeswahlgesetzes —, so muß man ganz einfach darauf verweisen, daß das in dieser Zeit ein bißchen schwierig ist. Argumente, die gegen eine Änderung des Wahlrechts überhaupt sprechen, sprechen auch gegen eine Einführung noch vor der Bundestagswahl 1969. Das gilt insbesondere für das Argument, daß alle diejenigen Wahlkreisversammlungen, die bis jetzt stattgefunden haben, zu wiederholen wären,
Metadaten/Kopzeile:
10592 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Picardweil doch nach § 22 des Bundeswahlgesetzes nur die Parteimitglieder mitwirken können, die das 21. Lebensjahr erreicht haben, also jetzt wahlberechtigt sind. Gerade die antragstellende Fraktion hat sich bemüht, sehr frühzeitig in möglichst vielen Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen. Die Auswirkung des eigenen Antrages wäre also auch für die FDP-Fraktion nicht ganz angenehm.Im übrigen: spielen Sie einmal durch, wie lange eine Grundgesetzänderung dauert! Wir befinden uns ja immer noch in Beratungen einiger Grundgesetzänderungen. Da müssen wir doch schon aus zeitlichen Gründen sehr ernste Bedenken gegen den Versuch vortragen, das, was hier beantragt ist, noch für die Bundestagswahl 1969 zu verwirklichen.Meine Fraktion hält eine intensive, aber wohlwollende Prüfung der beiden Vorlagen — sowohl des Gesetzentwurfs wie des Antrags — für notwendig.
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Westphal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat Vorteile, es hat aber auch Nachteile — noch dazu, wenn wir so unter uns sind, im kleinen Kreis, muß man leider sagen , hier als einer der letzten zu sprechen. Man kann auf das, was vorher gesagt worden ist, eingehen, man hat aber andererseits auch die Tatsache vor sich, daß alle darauf warten: „Nun, wann ist er endlich fertig?"
Die verantwortungsbewußte politische Behandlung des Themas „Herabsetzung des aktiven und des passiven Wahlalters" muß, so meine ich, folgende wesentliche Vorgänge mit im Blick haben. Erstens. Es gibt ein immer stärker werdendes Drängen junger Menschen — und auch deren Organisationen — auf eine Herabsetzung des Wahlalters.
Zweitens kann man aber doch wohl feststellen, daß beachtliche Teile der Alteren in unserem Volk, quer sozusagen auch durch viele Auffassungsgruppen, einer Herabsetzung des Wahlalters noch nicht sehr positiv, im Gegenteil sogar sehr abweisend gegenüberstehen.
Die letztlich politisch zu entscheidende Frage — das ist der dritte Punkt, den man in den Voraussetzungen mit fassen muß —, nämlich die politisch zu entscheidende Frage, ob man die Herabsetzung will, steht notwendigerweise in Verbindung mit den doch sehr, sehr schwierig zu entscheidenden Sachfragen in bezug auf die Veränderung anderer Altersgrenzen. Das ist auch von den beiden Kollegen, die vorher gesprochen haben, schon erwähnt worden. Es sind die anderen Altersgrenzen in unserer Rechtsordnung, die dem jungen Menschen in seinem Entwicklungsgang stufenweise mehr Pflichten auferlegen, mehr Rechte gewähren, in jedem Falle aber mehr Verantwortung übertragen. Gemeint sind dabei insbesondere natürlich die Fragen des Volljährigkeitsalters und des Alters der Ehemündigkeit.
Ausklammern möchte ich aus der Betrachtung — auch das ist aus den vorhergegangenen Reden schon deutlich geworden — das Problem des Strafmündigkeitsalters. Ich füge hier nur den Gedanken an, daß es bis jetzt tatsächlich so ist, daß man hier mit 18 Jahren vor den Strafgerichten in einer anderen Situation ist. Wir haben die Möglichkeit, daß der Gutachter sagt, der junge Mensch über 18 Jahre sei anders zu behandeln, sei wie ein Jugendlicher zu behandeln. Allerdings gibt es — wie richtig hinzugefügt werden muß — selbstverständlich dann auch andere Strafrahmen und die Tatsache, daß der als 18- bis 21jähriger doch vor einem Jugendgericht steht. Aber alles das möchte ich ausklammern, weil es, wie wir es uns gewünscht haben, im Zusammenhang mit dem Jugendgerichtsgesetz geregelt werden kann, selbst dann, wenn wir, wie es hier empfohlen wird, das Wahlalter herabsetzen.
Angesichts dieser dreifachen Problematik mit ihren teils auch gegenläufigen Argumentationen in unserer Öffentlichkeit hat sich meine Fraktion die Vorbereitung dieser Debatte nicht leicht gemacht. Wir wollten keine opportunistische Entscheidung, weder in dem Sinne, daß wir einfach diesem doch sehr statischen Gesamtverhalten größerer Teile der Alteren in unserer Gesellschaft nachgeben, noch aber opportunistisch in dem Sinne, daß wir aus propagandistischen oder parteitaktischen Gründen oder aber auch weil es eben so en vogue ist, einer immerhin hier anstehenden Grundgesetzänderung zustimmen. Das gibt es ja auch.
Gucken wir doch mal einen ganz kleinen Moment auf die parteitaktischen Überlegungen bei dieser Sache, Herr Genscher. Das ist ja sicher nicht so ganz außerhalb des Feldes gewesen, als Ihre Fraktion so rasch bei der Hand war, fertige Anträge vorzulegen.
— Ihr „Sehr richtig" muß ich dann nachher noch widerlegen, Herr Dr. Jaeger, an anderer Stelle. Aber nehmen wir mal die Parteitaktik. Ich verstehe ja - -
— Herr Dr. Jaeger, Ihre Sorgen verstehe ich gar nicht; denn Sie haben sich doch sicher von Soziologen mindestens in der CSU, vielleicht auch in der CDU, erzählen lassen — das hat wahrscheinlich nicht bei allen zu denselben Wirkungen geführt —, daß der Achtzehn-, Neunzehnjährige noch sehr im Rahmen der Familie steht und von den Meinungen abhängig ist, die in der Familie gebildet werden. Da alles, was patriarchalisch ist, bei Ihnen in der CSU auf die „Butterseite" schlägt, könnte ich mir auch wahltaktische Überlegungen bei Ihnen vorstellen, indem Sie eben nicht so, wie Sie in Ihrem Zeitungsartikel argumentiert haben, sondern andersherum zu der Gedankenführung kommen, es wäre gar nicht so schlecht.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Westphal?
Bitte, Herr Dr. Jaeger!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10593
Herr Kollege Westphal, könnten Sie in Ihre Überlegungen einbeziehen, daß meine Begründung nicht taktisch, sondern staatspolitisch motiviert ist?
Ich bin gern bereit, das einzubeziehen, Herr Dr. Jaeger. Nur mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie trotzdem nicht verstehe, wenn ich mir diese taktische Seite überlege. Mir ist dieses Argument auch nicht bei der Lektüre Ihres Artikels eingefallen, sondern als ich daran dachte: Wie mag wohl Herr Dr. Heck, der Generalsekretär der CDU, auf die Idee gekommen sein, diesen Gedanken der Herabsetzung des Wahlalters zu befürworten, als er vorschlug, ihn in das Aktionsprogramm der CDU aufzunehmen? Ich jedenfalls kenne ihn nur als einen sehr konservativen Mann. Er muß doch wohl auch solche Überlegungen dabei angestellt haben.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Lenz?
Bitte, Herr Dr. Lenz!
Herr Kollege Westphal, ist Ihnen bekannt, daß der Beschluß des Parteitags in Berlin nicht vom Generalsekretär, sondern von den Delegierten gefaßt worden ist?
Ja. Es ging mir nur darum, festzustellen, woher der Gedanke zuerst hereingetragen worden ist,
und da habe ich wohl mit meiner Vermutung neben der Jungen Union sicher auch Herrn Dr. Heck richtig getroffen; denn er war es ja, der das Aktionsprogramm — —
- Herr Genscher, zu Ihnen noch eine Überlegung zu der Frage des taktischen Vorgehens. Ich bin sehr damit einverstanden, daß wir die Sache gründlich behandeln, so wie es auch hier in den Beiträgen vorher geschehen ist. Aber den Schlenker muß ich mir erlauben, Herr Genscher, Ihnen wenigstens zu sagen: Die FDP macht sich doch eigentlich auch Hoffnungen auf mehr Zustimmung von jungen Leuten.
— Berechtigte Hoffnungen! Sie sind in der Verlegenheit, Herr Genscher — eigentlich möchte ich sagen, in der für Sie etwas entmutigenden Situation —, acht oder neun Prozent schon für viel halten zu müssen.
- Nein, das ist schon keine Zwischenfrage mehr,Herr Genscher. Ich bin gern bereit, auch diese Dis-kussion mit Ihnen zu führen; aber sie hängt dannsicher nicht mehr nur mit der heute anstehenden Frage zusammen.Meine Fraktion hat 1966 — Herr Genscher, das müssen Sie doch noch hören —, als Ihre Freunde noch mit in der Regierung saßen, die Bundesregierung aufgefordert, ein Gutachten zu diesem Thema einzuholen. Wir wollten die damals zum Teil doch mit Propagandaschlagworten geführte Diskussion versachlichen und geprüfte Unterlagen heranholen. Die Bundesregierung hat das damals abgelehnt, weil sie nicht die Absicht hatte, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Da die Regierung es damals ablehnte und solche Unterlagen von sich aus nicht zur Verfügung stellte, haben wir von der SPD uns selbst darum gekümmert. Bei uns hat es eine Menge Kommissionsarbeit an verschiedenen Stellen gegeben. Wir haben sozusagen alles, was wir an Materialien, an Aussagen von Wissenschaftlern und an Dingen finden konnten, die zu diesem Thema gesagt und gedacht worden sind, zusammengestellt und untersucht, insbesondere auch im Zusammenhang mit den verschiedenen Altersgrenzen im bürgerlichen Recht, im Strafrecht, auch die Schutzaltersgrenzen in den verschiedenen Gesetzen. Wir bieten an, das, was in unserer Fraktion als Material, als eine Art Denkschrift zu diesem Thema mit den Pro- und Kontraargumentationen erarbeitet worden ist, für die Ausschußarbeit dadurch nutzbar zu machen, daß wir es den Ausschüssen übergeben.Am Ende dieser unserer Arbeiten stand schließlich, daß der Parteirat der SPD Anfang November in Berlin einen abschließenden Beschluß gefaßt und die Herabsetzung des Wahlalters empfohlen hat. Das geschah mit einer guten Mehrheit, nicht einstimmig. Es gibt also auch abweichende Bewertungen bei der Entscheidung dieser Frage, einer Frage, die, wie viele politische Entscheidungen, nur nach einem Abwägen des Pro der Argumente und der kontra vorhandenen Argumente geschaffen werden kann.Da die Auffassung, die ich Ihnen hier mit der Zustimmung meiner Fraktion vortrage, im Sinne der Herabsetzung des Wahlalters liegt und wir einen der Reformvorschläge verwirklichen wollen, auf den jüngere Kräfte in unserem Lande doch recht stark drängen, kommt es in einer solchen Rede eigentlich mehr darauf an, sozusagen, die Ablehnenden, die Abgeneigten, die Ängstlichen anzusprechen, diejenigen, die z. B. als Altere in ihrer Familie die 16-, 17-, 18- oder 19jährigen Söhne oder Töchter als Gegenstand der Betrachtung vor sich haben, die, wenn sie sich selbst ihre Meinung bilden, dabei Alter, Reifegrad und Belastung mit Verantwortung mit überdenken und von daher von uns noch gewonnen werden müssen, ihr Herz über die Hürde zu werfen und einer Herabsetzung des Wahlalters zuzustimmen.Gehen wir also davon aus, daß es Argumente pro und kontra gibt. Ich meine, die Argumente, die für die Herabsetzung sprechen, überwiegen eindeutig. Ich nenne folgende Argumente, und ich fasse mich dabei mit Rücksicht auf unsere jetzige Gesprächssituation kurz.
Metadaten/Kopzeile:
10594 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
WestphalEs geht um möglichst frühzeitige politische Mitwirkung der jungen Menschen. Sie ist wünschenswert. Wenn wir mit dem aktiven Wahlalter auf 18 Jahre heruntergehen, würde sich das Wahlrecht unmittelbar an die Zeit anschließen, in der der junge Mensch noch pflichtgemäß in den Institutionen von Bildung und Erziehung ist, in denen er mit politischer Bildung in direkte Berührung kommt. In den Zeiten danach kann er aus freier Entscheidung — und hoffentlich wird er es auch tun — an Bemühungen um politische Bildung mitwirken. Wir sollten alles tun, diese Bemühungen zu verstärken und den Teil derjenigen, die daran teilnehmen, zu vergrößern. Aber der Kreis der freiwillig Teilnehmenden ist kleiner als der Kreis derjenigen, die bis zum 18. Lebensjahr in den Institutionen der Erziehung und Bildung sind. Deshalb müssen wir direkt an diese Zeit anschließen, zumal wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen, daß genau hier der Punkt ist, wo eine große Aufgeschlossenheit erreicht werden kann, die wieder geringer wird, wenn wir drei Jahre Pause einlegen, wie es auf Grund des jetzigen Wahlrechts der Fall ist.Es geht um den politischen Status des jungen Erwachsenen. Diese jungen Menschen bereiten sich nicht mehr nur auf ihre Rolle als Erwachsener vor; sie sind auch schon in dieser Rolle des Erwachsenen. Es gilt, dieser eigenen Rolle mehr Beachtung zu zollen, als das bisher der Fall war. Dies kann und muß Ausdruck einer mündigen Gesellschaft sein, in der ja doch die Mitbestimmungsrechte mehr und mehr erweitert werden.Ein zweites Argument. Die jungen Menschen tragen vom 18. Lebensjahr an im Berufsleben volle Verantwortung. Ihnen sind in unserer Rechts- und Lebensordnung bereits weitgehende Rechte und auch Pflichten übertragen. Denken Sie an den jungen Facharbeiter in der Industrie, an das Betriebsratsmitglied, an den Jugendleiter mit Erziehungsaufgaben. Denken Sie auch daran — ich deutete es vorhin an —, wie dieser junge Mensch vor dem Richter steht, wenn er straffällig geworden ist. Die jungen Menschen — ich möchte dieses Argument nicht weggeschoben sehen — treten schon mit 18 Jahren in die Pflicht, Soldat zu werden. Ich komme auf diese Überlegung noch an einer anderen Stelle kurz zurück.Ein weiteres Argument, das hier noch einmal hervorgeholt werden muß, obwohl es voneinem der Kollegen angesprochen worden ist; ich glaube, es war Herr Picard: Eine gleichmäßige Beteiligung der verschiedenen Altersgruppen an den politischen Entscheidungen ist wünschenswert. Die Zahl der Älteren in unserer Gesellschaft wächst immer mehr an. Es ist ein menschlicher Lauf der Dinge, daß der ältere Mensch mehr am Bestehenden festhält, einer mehr statischen Betrachtung unserer Ordnung zuneigt. Hier geht es darum, sozusagen einen Ausgleich dadurch zu schaffen, daß wir für das, was wir brauchen und was wir machen, wenn wir Gesellschaft im politischen Bereich gestalten, die reformwilligen Potentiale heranholen, daß wir das heranholen, was sozusagen an Mutationspotential beiden Jüngeren in der Gesellschaft stärker vorhanden ist.Das nächste Argument: Die Politik wird die Probleme der jungen Leute, die jugendpolitischen Fragen mehr beachten, wenn die Jungen selbst anzusprechende und zu gewinnende Wähler sind. Vielleicht wird es dann nicht mehr so sein — bis jetzt ist das, vielfach begründet, aber in bestimmten Situationen trotzdem zu kritisieren, hier in diesem Hause so gewesen —, daß sich bestimmte Vorhaben lange hinschleppen. Denken Sie z. B. daran, daß wir für ein Jugendarbeitsschutzgesetz von dem Gedanken bis zur Verwirklichung über 11 Jahre gebraucht haben. Ausbildungsförderungsgesetz und Berufsausbildungsgesetz sind andere Beispiele, bei denen das Dutzend der Jahre, seitdem sie im Gespräch sind, leider längst überschritten ist.Ich möchte mich hier noch mit einigen Gegenargumenten auseinandersetzen.Oft muß man sich mit dem Argument auseinandersetzen, den jungen Menschen würde zu früh eine hohe Verantwortungslast aufgebürdet, wenn wir ihnen mit 18 Jahren das Wahlrecht gäben. Es ist richtig, daß wir das Wahlrecht als eine Sache ansehen, die hohes Verantwortungsbewußtsein verlangt. Aber wir können dabei nicht länger mit unterschiedlichen Maßstäben messen. Es gilt, Rechte und Pflichten auszutarieren. Insbesondere die Ausübung der Wehrpflicht — hier komme ich auf dieses Thema zurück — verlangt ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein. Ich kann mich in dieser Frage sehr eindeutig Herrn Genscher anschließen. Es geht nämlich nicht allein darum, daß der junge Mensch in eine neue Ausbildungsphase eintritt, in der er sozusagen keine oder nicht viel eigene, neue Verantwortung zu tragen braucht. Nein, es handelt sich nach unserer Auffassung darum, daß dem jungen Menschen durch unser Grundgesetz die Pflicht auferlegt ist, in einem militärischen Konflikt, also in dem, was man Krieg nennt, ihr Leben einzusetzen. Ich muß schon sagen, daß dies ein entscheidendes Argument ist. Wenn wir dem 18jährigen die Übernahme dieser Pflicht zumuten, müssen wir ihn auch an der Entscheidung über die Grundlinien der Politik beteiligen, in deren Rahmen er seine Pflicht erfüllt.Junge Leute — so sagt man auch — sind noch nicht reif genug für die Teilnahme an Entscheidungen in diesem Staat. Das ist die Frage nach dem Bildungsstand, der Ausprägung des Charakters und dem Grad der Erfahrungen. Ich darf es hier knapp und kurz machen. Wie es um die Bildung der über 18jährigen steht, habe ich vorhin angesprochen. Was die Charaktere betrifft, — die prägen sich tatsächlich erst allmählich aus. Es ist sicher richtig, zu sagen, daß ein Achtzehnjähriger noch kein ausgeprägter, fertiger Charakter ist. Aber ist dann bei 21 Jahren die Grenze richtig gesetzt? Das geht doch wohl ein wenig länger und dauert das ganze Leben hindurch. Vielleicht darf man hier auch einmal ein etwas deutliches Wort eines sich wissenschaftlich mit dieser Frage beschäftigenden Mannes zitieren, der gesagt hat, es könne in dieser Verallgemeinerung einfach nicht zutreffend sein, daß die Erwachsenen ins-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10595
Westphalgesamt klüger seien als die Jugendlichen. Professor Jaide sagt zu dieser Überlegung, sie sei anmaßend, sie sei unpädagogisch, und sie sei vor allem un-erwiesen.Die Frage der mehr emotional bestimmten Entscheidungen und die Anfälligkeit gegenüber den Verführungskünsten von Demagogen gilt es noch kurz zu behandeln. Erstens muß man natürlich antworten: Verführer sind immer Altere. Das sind nie diese 18- bis 21jährigen. Zu der Zeit, als der schlimmste Demagoge am Werk war, um die Jugend und nicht nur die Jugend zu verführen, als in den Jahren 1930, 1932 und 1933 die Wahlstimmen der NSDAP anstiegen, da waren die 18-, 19jährigen an den Wahlentscheidungen, die so negativ für die Demokratie ausgingen, nicht beteiligt.
Über die NPD ist hier bereits gesprochen worden. Das Ansteigen der NPD-Stimmen auf 8 oder 9 % geschah ohne diese Gruppe der Jungwähler, und nichts spricht dafür, daß diese rechtsradikale Partei überproportional von Jungwählern gestützt wurde. Das haben die Zahlen inzwischen sehr deutlich bewiesen.Noch ein Argument, mit dem man sich auseinandersetzten muß: Junge Menschen neigen zu prinzipiellen Entscheidungen. Sie möchten Ja- oder NeinEntscheidungen fällen. Sie möchten nicht Zwischentöne hören. Sie haben kein Verständnis für den Kompromiß, die oft einzige, friedliche Zwischenlösung. Es ist eine Art moralischer Rigorismus, den wir bei ihnen vorfinden. — Werden deshalb die jungen Menschen nicht so leicht fertig mit der Demokratie? Sie sind noch nicht eingeschworen auf die Schwierigkeiten des parlamentarischen Systems, das mit dem Kompromiß rechnen muß und ihn als einen Teil in sich hat. Das ist durchaus ein zutreffender Gedanke. Das Erinnern an Grundsätze aber und das Hinweisen, daß Parteien auch Konzeptionen zu folgen haben, kann doch wohl für diese Parteien nicht schlecht sein. Der Politik dieser Parteien würde es nicht schaden, wenn sie immer wieder auch gerade von den Jungen an Grundsatztreue, an Konzeptionsinhalte erinnert werden. Die Befähigung zum „Ertragen" der Demokratie, die Einsicht in deren Schwierigkeiten, in die realen Kräfteverhältnisse, in das Ringen um Mehrheiten, die Bereitschaft zum Kompromiß, die Vermittlung der Erkenntnis, daß der Weg mit dem Kopf durch die Wand eben nicht beim Fortschrittsziel anlangt, ist die gestellte Aufgabe der politischen Bildung in dieser Gesellschaft.Eine Konsequenz der Herabsetzung des Wahlalters ist die entschiedene Verstärkung der Bemühungen um politische Bildung. Darüber ist heute morgen hier ausführlich gesprochen worden. Man bekommt nun einmal die politische Bildung und die Fähigkeit des Mitwirkens nicht als Erbteil oder gar mit der Muttermilch mit. Man muß dafür mehr tun.Es ist nun die Frage zu stellen, in welchem Zusammenhang das Wahlalter mit dem Alter der Volljährigkeit und der Ehemündigkeit steht. Es gibt dort eine Art Wechselspiel der Argumentation, ein Wechselspiel der Bedingungen, der Pflichten undRechte. Es wird etwa die Frage gestellt: Ist es denkbar, daß man zwar über die Angelegenheiten des Staates mitentscheiden darf, aber nicht voll geschäftsfähig als Person ist und als Mann noch nicht ohne besondere Zustimmung heiraten darf? Ich habe lange Zeit gemeint, daß an dieser Stelle der Grund dafür liegen könnte, irgendeine Mittellösung gemeinsam zu finden, etwa bei 19 oder 20 Jahren. Inzwischen ist mir klar, daß es hier keine zwingenden Zusammenhänge gibt, Zusammenhänge schon, aber keine zwingenden. In der Weimarer Republik z. B. lag das Wahlalter etwas niedriger als das Volljährigkeitsalter. Unsere Rechtsordnung kennt auch für andere Bereiche ein stufenweises Hineinwachsen in die Mündigkeit. Wir müssen dabei auch die besonderen Schutzfunktionen — darauf ist hingewiesen worden — des Volljährigkeits- und des Ehemündigkeitsalters für junge Menschen sehen und dürfen sie nicht einfach Wegspielen. Diese Funktionen dürfen nicht entfallen, sie müssen aber neu geordnet werden und auch in ein Verhältnis zu dem neu festzulegenden Wahlalter gebracht werden, auch zu dem passiven Wahlalter, dessen Herabsetzung auf 21 oder 23 Jahre, also etwa auf die jetzige Mündigkeitsgrenze vorgeschlagen wird. Damit stellen wir einen neuen Denkzusammenhang mit dem Diskussionsthema der Reife im staatsbürgerlichen Sinne her. All diese Fragen bedürfen jedenfalls noch einer weiteren Überlegung.Dabei erinnern wir daran; daß es eine europäische Komponente dieser Fragen gibt. Wir müssen die Rechtsordnungen in Europa gerade auch in diesen Fragen mit im Blick haben und in Richtung auf eine Harmonisierung sehen. Hier ist das Anhören von Fachleuten und die dringende, gründliche Beschäftigung damit unseren Ausschüssen als Aufgabe gestellt. Wir halten eine Anhörung für angebracht. Das soll aber keine Begründung für irgendwelche Verzögerungen der Behandlung dieser Materie sein. Wir empfehlen der Bundesregierung dringend, die Fragen des Volljährigkeits- und Ehemündigkeitsalters mit dem Ziel einer europäischen Lösung anzugehen. Die Beratungen im Europarat haben begonnen, und auch von unseren englischen Freunden, die sich in einer Royal Commission mit diesen Fragen beschäftigt haben, gibt es interessante Unterlagen.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Die Parteigremien der SPD empfehlen die Herabsetzung des aktiven Wahlalters auf 18 Jahre, die Herabsetzung des passiven Wahlalters auf 21 Jahre. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion empfiehlt die gründliche und schnelle Beratung dieser Fragen in den Ausschüssen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Frage einer Herabsetzung des Alters für Volljährigkeit und Ehemündigkeit im europäischen Rahmen weiter zu behandeln.Ich schließe mit dem dringenden Rat: Lassen Sie uns als eine Antwort auf die Unruhe der Jungen gegenüber den Erstarrungen in unserer politischen Welt den Schritt tun, der auf diese Jugend zugeht, und ihr mehr Mitwirkungsmöglichkeit, aber gleichzeitig auch mehr Mitverantwortung anbieten!
Metadaten/Kopzeile:
10596 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine politischen Freunde haben mich wie viele andere der Kollegen hier als Wahlmann für jenes Gremium bestimmt, das heute nachmittag den Kandidaten für das höchste Amt im Staate aus den Reihen meiner Fraktion benennen soll. Die Vorbesprechungen, die das nun einmal mit sich bringt — das läßt sich ja nicht ändern —, haben es auch mit sich gebracht, daß ich den Beratungen des Vormittags trotz des interessanten Themas der politischen Bildung nicht im sonst üblichen und angebrachten Umfang beiwohnen konnte.
— Es sind doch etwa 70 aus unserer Fraktion, wenn ich mich nicht täusche. Das ist immerhin eine ganz erkleckliche Zahl. Wenn wir sie uns hier im Saal denken, dann wäre unsere Fraktion jedenfalls besser besetzt als die Ihre. Herr Kollege Genscher hat es für notwendig gehalten, mich in dieser Hinsicht zu apostrophieren. Ich werde ihm die Antwort nicht schuldig bleiben — dessen ist er sowieso gewiß —, aber ich werde Ihrem Wunsch entsprechen — den Sie mir nicht ausdrücklich gesagt haben — und mich einigermaßen an die fortgeschrittene Zeit zu halten versuchen.
Die Meinung meiner Fraktion hat mein Freund Picard dargelegt. Ich möchte nicht für die Fraktion sprechen, ich möchte nicht mehr auf meine Haltung verpflichten als diejenigen, die sowieso dem zustimmen, und ich glaube, solche gibt es in mehr als einer Fraktion dieses Hauses. Ich würde mich auch nicht scheuen, gegen den Strom des Bundestages und sogar der veröffentlichten Meinung zu schwimmen; denn ich habe tatsächlich den Eindruck, als ob man hier, auf seiten der Antragsteller jedenfalls, durchaus daran denkt, Stimmen aus drei Jahrgängen zu sammeln, für die man die staatsbürgerlichen Rechte initiativ in Anspruch nehmen möchte.
— Nur einmal, auch das; ja, der Zwischenruf ist richtig. Aber, Herr Kollege Genscher, das eine Mal wäre Ihnen sicherlich sehr wichtig. Ich möchte nur bemerken: eine Verfassungsänderung in diesem Hohen Hause erfordert eine Zweidrittelmehrheit. Ohne die beiden großen Parteien geht es nicht. Ergo wird sich jeder das Verdienst an den Hut stecken, und Sie werden vielleicht nicht viel dabei gewinnen. Im übrigen bitte ich Sie, sich an das Frauenwahlrecht zu erinnern. Die politische Linke hat es erkämpft, der Mitte und der politischen Rechten ist es zugute gekommen.
Es könnte auch hier anders gehen, als die Antragsteller es sich vorstellen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Jaeger, der Frau Abgeordneten Heuser?
Bitte sehr!
Herr Kollege Jaeger, es ist zwar nicht meine Aufgabe, die Motive der Linken darzustellen. Aber glauben Sie im Ernst, daß lediglich solche Motive damals dafür maßgebend waren, das Frauenwahlrecht zu beantragen?
Nein, das habe ich nicht gemeint! Ich halte prinzipiell das Frauenwahlrecht für richtig. In einer Demokratie würde ich es für, ich möchte beinahe sagen, naturrechtswidrig halten, den Frauen das Wahlrecht vorzuenthalten, wie es in der Schweiz leider noch geschieht. Ich bin also überzeugt, daß die Sozialdemokratie, und wer sie noch unterstützt hat, das damals aus Prinzip getan hat. Aber eine Enttäuschung muß es für die SPD doch gewesen sein, daß sie sich in die Bresche geworfen hat und andere den Nutzen davon gehabt haben.
— Herr Kollege Könen, ich sehe es Ihnen an!
Im übrigen darf ich der FDP noch eines sagen. Ich habe in der Zeitung gelesen, daß die Demoskopen — die ja ihr Ohr am Herzen des Volkes haben, mehr noch als wir Abgeordneten — festgestellt haben, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht für Ihren Antrag ist. Aber vielleicht können Sie darüber noch Erhebungen pflegen.Jedenfalls, meine Damen und Herren, wie dem auch sei: die Frage ist ernst und sollte sachlich entschieden werden. Das Wahlrecht ist im Selbstverständnis der Demokratie eines der höchsten Rechte, die ein Mann und eine Frau ausüben können. Es ist zweifellos vom Inhalt her an eine gewisse Reife gebunden, und es ist schwierig, festzustellen, wann diese Reife eintritt. Im Zeichen des allgemeinen Wahlrechts können Sie das Wahlrecht nicht an irgendeine Vorbildung, an den Familienstand — etwa des Familienvaters — oder sonst etwas binden, wie es anderswo gemacht wird; Sie können es nur schematisch festlegen, und ob Sie es nun bei 22, 21 oder 20 Jahren richtig festlegen, ist sicherlich eine Frage, über die man, wie über jeden Stichtag, diskutieren kann. Eines aber ist sicher: daß ein Mensch mit 15 Jahren nicht so reif ist wie mit 18, mit 18 nicht so reif wie mit 21 und mit 21 nicht so reif wie mit 24 Jahren. In unserem Alter zählen die Jahre auf diesem Gebiet nur noch wenig, im jugendlichen Alter zählen sie viel. Wer selber, wie ich, sechs Kinder hat, der weiß, wie Kinder sich in ihrem Selbstverständnis gegenseitig einschätzen und wie dasjenige, das drei Jahre älter ist, sich sehr erhaben vorkommt über das, das drei Jahre jünger ist. Das gibt sich eigentlich erst, wenn man die 25 überschritten hat, vor allem bei Damen, die dann wieder den Wunsch haben, möglichst jung zu sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10597
Dr. JaegerUnter diesen Umständen, meine Damen und Herren, halte ich es für bedenklich, das Wahlalter gleich um drei Jahre herunterzusetzen.Ich bin der Meinung, daß man dies auch nicht mit dem Argument tun kann, das am meisten gebraucht wird und das auch Herr Kollege Genscher hier überdeutlich ausgesprochen hat: mit der Wehrpflicht. Einmal würde das ja wohl nur diejenigen berechtigen, die selber Soldaten sind; das ist nur die Hälfte der männlichen und ein Viertel der ganzen Jugend. Aber ihnen allein das Wahlrecht zu geben, würde möglicher- oder wahrscheinlicherweise gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verstoßen. Ich meine also, dies kann es nicht sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, im Augenblick nicht; ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen. Danach gern!Was nun die Gefahr des Fallens für das Vaterland im Felde angeht: das, Herr Kollege Westphal, ist leider eine etwas überholte Auffassung. Im modernen Atomkrieg wird die Totenzahl der Zivilbevölkerung prozentual die der Soldaten mindestens erreichen, vielleicht sogar übertreffen. Von da aus kann eigentlich eine Sonderstellung nicht hergeleitet werden. Im übrigen aber meine ich: So, .wie man im Militär zuerst zu gehorchen lernt, bevor man befehlen kann, so muß man auch im Staatsleben überhaupt zuerst einmal dienen, ehe man mit führt; der Wehrdienst ist ein Dienst und das Wahlrecht ein Führungsamt des Bürgers.Aber was man noch alles sagen mag: eines habe ich Ihnen, Herr Kollege Genscher, sachlich übelgenommen. Das ist, daß Sie hier den Gedanken des Kadavergehorsams hineinbringen und sich gar nicht mehr erinnern, daß ich gemeinsam mit dem verstorbenen Kollegen Erler und vielen anderen Herren auch aus Ihrer Fraktion einer derjenigen war, die versucht haben, den Gedanken des Staatsbürgers in Uniform nicht nur in der Öffentlichkeit zu propagieren, sondern auch in unserer Gesetzgebung festzulegen.Ich habe gemerkt, daß mein Artikel in der „Abendzeitung" Mißverständnissen ausgesetzt war.. Ich habe in einem anderen Artikel. in der „Welt" dieses Problem noch eingehender erörtert. Vielleicht können Sie es noch einmal nachlesen.Jetzt möchte ich nur eines sagen: Daß man den jungen Menschen als einen Bürger betrachtet, heißt, daß man ihn ernst nimmt, heißt, daß man von ihm eben nicht den Kadavergehorsam fordert, sondern versucht, ihn zum sinnvollen Gehorsam zu erziehen. Aber es heißt noch nicht, daß er alle Rechte hat; denn es gibt Jungbürger, und es gibt Vollbürger. Der Soldat wird auch nach Ihrer Auffassung in Zukunft noch nicht die vollen bürgerlichen Rechte haben, er wird nämlich noch nicht passiv wählbar sein.Für den jungen Soldaten, der neu in die Bundeswehr eintritt, ist sein Verhältnis zur Bundeswehr doch weitgehend zuerst einmal nicht nur ein Ausbildungs-, sondern auch ein Erziehungsverhältnis. Kommt er in das Alter, wo er Dienstgrade ausüben kann als Unteroffizier oder als Leutnant — aktiv oder der Reserve —, dann ist er ja dem Wahlalter von heute, den 21 Jahren, schon sehr nahe.Im übrigen wäre ich durchaus bereit, mit Ihnen über einen Kompromiß, etwa auf der Basis der Weimarer Lösung, zu diskutieren, also über ein Wahlrecht von 20 Jahren, wenn man es dann mit der Volljährigkeit gleichzieht. Denn das ist mein entscheidender, wichtigster Einwand: daß es nicht möglich ist, daß jemand über die politischen Schicksalsfragen unserer Nation, vielleicht letzthin sogar einmal über Krieg und Frieden, mitentscheidet, der nicht sein eigenes Schicksal entscheiden darf, sondern dazu die Zustimmung seiner Eltern braucht. Die politische Entscheidung ist nun einmal bedeutsamer. Wer kein Motorrad kaufen und kein Zimmer mieten darf, der kann auch nicht über das Schicksal des Staates mitbestimmen. Wenn Sie das Wahlalter herabsetzen, müssen Sie deshalb auch über die Herabsetzung der Volljährigkeit mit sich sprechen lassen. Ich glaube aber, daß 18 Jahre zuwenig sind für die Volljährigkeit.Ich meine auch, und zwar im Unterschied zu meinem Vorredner, daß die Strafmündigkeit hier eine Bedeutung hat. Früher lag die Strafmündigkeit eindeutig fest bei 18 Jahren. Sie ist jetzt variabel gestaltet, und zwar in der Praxis so, daß die Gerichte im allgemeinen denjenigen, der noch nicht 21 Jahre alt ist, noch als Jugendlichen nach dem Jugendstrafrecht behandeln, was übrigens zu seinem Nutzen ist, weil er dann nämlich nachher nicht vorbestraft durch das Leben läuft. Wenn es aber die Regel ist, daß man den noch nicht 21jährigen als nicht strafmündig betrachtet — von Gerichts wegen —, dann muß ich sagen: Wer strafrechtlich nicht voll verantwortlich ist für sein eigenes Verhalten, kann auch nicht verantwortlich sein für das Schicksal des Staates.Und dann bitte ich Sie, eines zu überlegen. Als wir — es wird vor etwa acht Jahren gewesen sein — in diesem Hause die Strafmündigkeitsgrenze neu festgesetzt haben, hat, wenn ich mich recht erinnere, der Kollege Kemmer, der jetzt verstorben ist, der Vorsitzende des Jugendausschusses, selbst oder sonst einer der Herren gesagt, die Sachverständigen des Jugendausschusses, dem ich nicht angehöre, hätten erklärt, daß in unserem Zeitalter die körperliche Reife der Jugend früher komme als früher, die sittliche Reife aber später als früher. Das möchte ich doch zuerst einmal bei dieser Anlegenheit nachprüfen lassen. Wenn es auch heute, acht Jahre später, noch so sein sollte, dann spricht das ja nicht gerade für die Herabsetzung des Wahlalters.Im übrigen, wenn Sie das Wahlalter, die Volljährigkeit und die Strafmündigkeit gemeinsam auf 18 Jahre herabsetzen, was ja logisch wäre, dann weiß ich nicht, ob Sie damit der Jugend einen Dienst tun.
Metadaten/Kopzeile:
10598 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Dr. JaegerDer Hinweis, meine Damen und Herren, auf die Verhältnisse in der Sowjetzone überzeugt mich schon gar nicht, denn dort — wie im „Dritten Reich" — ist die Wahl nichts anderes als eine Akklamation; da könnten Sie das Wahlalter ruhig auch auf 12 Jahre herabsetzen.Schließlich darf ich noch eines sagen: Ich weiß gar nicht, ob das Interesse in der jungen Generation so groß ist, wie man es hier behauptet. Ich bin ganz mit Ihnen der Meinung, daß man die Minderheit, die terrorisiert, statt zu demonstrieren, nicht zum Maßstab machen darf. Ich weiß auch, daß die, die diesen Terror anführen, nicht zu denen gehören, die jünger als 21 Jahre sind. Festgestellt ist aber folgendes: Bei der letzten Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung bei 85,9%, also fast 86%, während sie bei den 21- bis 25jährigen nur bei 76,8 % lag. Ich nehme an, daß sie bei den noch jüngeren, zumindest bei der zweiten und dritten Wahl, durchaus weiter absinken würde. Ich bin mir also gar nicht sicher, ob das Interesse hieran so groß ist, obwohl ich weiß, daß es junge Menschen gibt, die schon mit 18 wählen möchten.Als ich, meine Damen und Herren, 18 Jahre alt war, schrieb man 1931. Die Jugend war viel mehr politisiert als heute, und der Wunsch, schon wählen zu dürfen, war dringlicher. Auch ich hatte den Wunsch, und ich glaube, auch vom heutigen Standpunkt aus hätte ich ganz vernünftig gewählt. Damals war ich allerdings der Meinung, daß die Mehrheit meiner Klassenkameraden und die Mehrheit der Jugendlichen, die ich kannte, durchaus nicht vernünftig gewählt hätten; denn damals im Unterschied zu heute war der größere Teil der jungen Generation Anhänger jener Partei, die Deutschland ins Verderben geführt hat. Ich selbst, meine Damen und Herren, habe mich damals damit getröstet, daß es ja nicht lange dauert, bis man zum Wahlrecht kommt. Ich glaube, das ist auch heute noch so maßgebend. wie damals: Jugend ist der einzige Mangel in diesem Leben, der von selber und sehr schnell heilt.
Das Wort hat der Kollege Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Jaeger hat das Verdienst, hier die Stimme derjenigen erhoben zu haben, die gegen die Herabsetzung des Wahlalters Bedenken haben. Ich glaube, auch das gehört zu dieser Debatte, denn es ist bekannt, daß die Frage der Herabsetzung des Wahlalters nicht unumstritten ist, weder außerhalb dieses Hauses noch in diesem Hause und in den Fraktionen. Ich glaube, es war gut, daß er das Wort ergriffen hat.Es war dagegen weniger gut, daß er im ersten Teil seiner Ausführungen einen so engen Zusammenhang zwischen den demoskopischen Erhebungen über die Haltung .junger Menschen und diesem Antrag hergestellt hat. Wir stellen diesen Antrag ohne Rücksicht auf die Wahlergebnisse der letzten Zeit, wiewohl ich weiß, Herr Kollege Jaeger, daß z. B. inder Sozialdemokratischen Partei durchaus Wahlrechtsfragen auch nach Wahlergebnissen entschieden werden, wie der Übergang vom Vierer- zum Dreierwahlrecht nach der Wahl in Baden-Württemberg erwiesen hat.Wir sollten uns aber bei diesen Grundsatzfragen der Demokratie wirklich davon freimachen, wem das bei der nächsten Wahl nützen könnte. Das kann bei der übernächsten Wahl gänzlich anders sein.
Hier geht es darum, festzustellen, ob es nicht an der Zeit ist, den Kreis der Mitentscheidenden in unserem Staat auszudehnen. Ich kann selbst nicht beurteilen, ob der Grad der Politisierung in den frühen dreißiger Jahren höher war. Ob aber auch der Grad der Informiertheit so hoch war wie heute als Folge der neuen Kommunikationsmittel, das möchte ich mit einem Fragezeichen versehen.Mir scheint auch der Hinweis auf die Wahlentscheidungen der Jahre 1932 und 1933 allenfalls ein Argument für unsere Auffassung zu sein; denn eins steht doch fest: Hitler ist an die Macht gekommen ohne das Wahlrecht der 18- und 19jährigen. Damals lag das bei 20 Jahren. Man kann also nicht sagen, daß gerade diese jungen Leute seinen Sirenentönen erlegen seien.Ich schließe mich völlig Ihrer Argumentation an, was den Hinweis auf das geltende Wahlrecht in der DDR oder in anderen Teilen des kommunistischen Lagers angeht. Das kann für uns deshalb kein Vorbild sein, weil wir das Wahlrecht als die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte und nicht als eine zwangsweise Akklamation für eine bestimmte politische Linie verstehen.Ich möchte noch einmal auf den Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und Wahlrecht kommen. Es ist nicht so, daß die unmittelbare Ausübung des Wehrdienstes sozusagen rechtsbegründend für das Wahlrecht sein soll. Das würde in der Tat zu einer Differenzierung innerhalb der 18- bis 21jährigen führen müssen. Das ist nicht unser Argument. Wir meinen nur, daß derjenige, der vom Leitbild des bewußten Staatsbürgers auch in Uniform ausgeht, der davon ausgeht, daß der junge Soldat auch diese Staatsordnung innerlich bejahen soll, der er dient und für die er einen schweren Dienst auf sich nimmt, diesen jungen Menschen eben auch für reif erachten sollte, über die innere Ordnung dieser Demokratie mit zu entscheiden.Hier lagen meine Bedenken, die ich gegen Ihre Veröffentlichung in dieser Zeitung angemeldet habe, ohne daß ich Sie damit etwa zum Propheten des Kadavergehorsams stempeln wollte. Nur meine ich, daß bei einer näheren Untersuchung des Satzes, den ich hier zitiert habe, doch ein wenig der Verdacht entstehen kann, es spiele keine so große Rolle, ob diese staatsbürgerliche Einsicht bei dem jungen Menschen schon da ist. Ich glaube, Ihre Richtigstellung oder Ihre Erläuterung hier ist ein wertvoller Beitrag gewesen. Die Tatsache, daß auch andere Sie mißverstanden hatten, was Sie zu einer Korrektur in einem Artikel in der „Welt" veran-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968 10599
Genscherlaßte, zeigt, daß ich nicht der einzige war, der Ihre Auslassung so ausgelegt hat.Insgesamt hat diese Debatte gezeigt, daß der Deutsche Bundestag bereit und in der Lage ist, ein so ernsthaftes Problem in Ruhe zu diskutieren, daß er es tut ohne taktische Erwägungen. Herr Kollege Westphal, dazu muß man auch in der Lage sein.Wenn ich Ihnen sage, daß ich vor meinem Eintritt in den Deutschen Bundestag erklärt habe, ich wolle mich hier für die Herabsetzung des Wahlalters einsetzen, wenn wir schließlich in diesem Jahr in unserer Fraktion dazu gekommen sind, diesen Antrag zu beraten, so sehen Sie, daß wir es uns mit dieser Frage nicht leicht gemacht haben.Sie haben, wenn ich so sagen darf, auf eine Europäisierung der Wahlrechtsfrage hingewiesen. Ich will nicht hoffen, daß Sie es in dem Sinne taten, daß Sie das Wahlalter bei uns erst herabsetzen werden, wenn solche Regelungen in ganz Europa bestehen. Das wäre ganz falsch. Dann würden wir die Beratungen wirklich in unzulässiger Weise aufhalten. Natürlich gibt es durchaus Rechtsgebiete, wo es nützlich ist, sich die Regelungen in anderen europäischen Ländern anzusehen. Ich empfehle Ihnen, das z. B. bei Ihren Beratungen über die Mitbestimmung mit zu beachten, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion.Ich darf hier als Redner der Antragsteller noch einmal die Bitte an die anderen Fraktionen des Hohen Hauses richten, mit uns für eine gründliche, aber auch zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages einzutreten. Wir haben die Absicht, in diesem Hause in der jetzigen Legislaturperiode eine Entscheidung über das Wahlalter, das schon für die nächste Bundestagswahl gültig sein soll, herbeizuführen.
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu der eigentlichen Frage sind so viele Argumente im Für und Wider gesagt worden, daß ich ihnen nichts hinzufügen möchte.
Sie haben sicher Anspruch darauf, meine persönliche Meinung zu dieser Frage zu hören. Ich kann im Augenblick nur meine persönliche Meinung sagen, weil die Bundesregierung ihre Meinung zu diesem Thema noch nicht abschließend gebildet hat. Meine persönliche Meinung. — ich habe es auch früher schon öffentlich gesagt — ist, daß ich es für einen erwägenswerten Vorschlag halte und ihn begrüße, das Wahlalter auf 18 Jahre herabzusetzen. Man wird allerdings die Konsequenzen, insbesondere in der Frage der Volljährigkeit, ernsthaft prüfen müssen.
Ich habe mich hauptsächlich deswegen gemeldet, weil Herr Kollege Picard im Zusammenhang mit
unserer Frage über das mutmaßliche Wählerverhalten — bisher können die 18- bis 21jährigen ja nicht wählen — etwas zu der Frage der NPD gesagt hat. Der Punkt ist mir aus Gründen, die nicht mit unserem eigentlichen Tagesordnungspunkt unmittelbar zusammenhängen, doch so wichtig, daß ich Sie bitte, mir zu gestatten, dazu etwas zu sagen.
Herr Kollege Picard, ich habe mich noch einmal vergewissert, was mein spontaner Eindruck war: daß sich Ihre Auffassung oder das, was Sie zitiert haben, daß es bei den 18- bis 21jährigen eine überdurchschnittliche Affinität zur NPD gebe, mit dem Ergebnis der Analysen in unserem eigenen Hause, die wir auch mit Unterstützung einschlägiger wissenschaftlicher Institute seit längerer Zeit durchgeführt haben, nicht deckt. Es gibt speziell in bezug auf das Verhalten der 18- bis 21jährigen ein Ergebnis - ich vermute, es ist das, was Sie mir eben freundlicherweise gezeigt haben —, das in der Tat dafür spricht. Es gibt aber eine große Anzahl, die zu dem genau gegenteiligen Ergebnis hinsichtlich einer größeren Altersgruppe führen, nämlich der 21- bis 30jährigen, die bereits gewählt haben, deren Verhalten daher zuverlässiger ist. Es steht fest, daß sie unterdurchschnittlich Anhänger bzw. Wähler der NPD sind.
All diese Angaben sind allerdings wohl mit dem notwendigen Vorbehalt zu versehen, daß das Verhalten jemandes, der nur gefragt wird, wie er wählt, keineswegs einen sicheren Rückschluß darauf zuläßt, wie er wirklich wählen wird. Das ist ein allgemeiner Vorbehalt gegenüber der Bewertung solcher Meinungsumfragen.
Ein letzter Punkt. Ich würde die Frage hinsichtlich des Wahlalters nicht so stellen, ob wir denn erwarten können, daß sie auch vernünftig wählen. Ich knüpfe an eine Formulierung von Ihnen, Herr Dr. Jaeger, an. Ich nehme Ihnen sehr gern ab, wenn Sie sagen: Ich hätte damals vernünftig gewählt. Das ist für das Thema nicht die richtige Fragestellung; die Frage ist nur, ob sie nach dem Stand ihrer geistigen und, wenn Sie wollen, auch sittlichen Reife in der Lage sind und reif sind zu wählen. Wenn wir diese Frage bejahen, können wir nicht fragen, ob sie dann auch vernünftig wählen werden. Das führt allzu leicht zu dem, was niemand von uns — schon gar nicht Herr Kollege Jaeger — sagen will: Na, wollen wir mal nachrechnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Jaeger? — Bitte, Herr Kollege!
Herr Bundesminister, würden Sie entgegennehmen, daß ich „vernünftig wählen" nicht im Sinne von „CDU/CSU, SPD oder FDP wählen", sondern vom damaligen Zeitpunkt gemeint habe? Vernünftig wählen hieß: nicht nationalsozialistisch oder kommunistisch, also demokratisch wählen.
Ja, ich nehme das sehr gern zur Kenntnis. Aber für die heutige Situation würde ich sagen, daß man nicht fragen
Metadaten/Kopzeile:
10600 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1968
Bundesminister Bendakann, wie sie zur NPD oder ähnlichen Gruppierungen stehen, über die ich jetzt keine Wertung von mir geben will. Das Kriterium kann einzig und allein die Frage sein: Sind sie nach dem Stand ihrer Entwicklung in der Lage zu wählen? Dann ist die andere Frage genauso zu werten wie das Verhältnis jedes älteren Staatsbürgers, der vor der Frage steht, wie er sich entscheidet.Herrn Kollegen Genscher kann ich in der Tat bestätigen, daß die Fraktion der FDP sich bei ihrem Antrag ganz zweifellos von uneigennützigen Motiven leiten ließ. Nach einer letzten Meinungsumfrage, die den Stand im September wiedergibt, ist die Affinität der 18- bis 21jährigen — ich bedaure, das sagen zu müssen — zur CDU überproportional und zur FDP unterproportional. Ich sage das dazu, um Ihnen zu bestätigen, daß Sie den Antrag zweifellos aus uneigennützigen Motiven vorgelegt haben, und ich möchte das gern honorieren.
Meine Damen und Herren! Es liegen Ihnen für den Gesetzentwurf und für den Antrag der FDP Überweisungsvorschläge des Ältestenrates vor. Ich nehme an, daß Sie mit den Überweisungsvorschlägen des Ältestenrates einverstanden sind. — Ich sehe, das ist der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf an den Innenausschuß — federführend —, an den Rechtsausschuß zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen; der Antrag der Fraktion der FDP ist an den Rechtsausschuß — federführend — sowie an den Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen.
Wir kommen zu Punkt 8 unserer Tagesordnung:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Lenz , Dr. Mommer und Genossen und den Fraktionen der CDU/CSU, SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache V/3036 —
Das Wort zur Begründung wird gewünscht. Bitte sehr, Herr Dr. Lenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nicht den Unmut des Hauses auf meinen Gesetzesantrag ziehen und werde deshalb sehr kurz sein. Es handelt sich hier nicht um eine zahlenmäßig bedeutende Gruppe von Wählern, sondern um eine -relativ kleine Gruppe, um deren Wahlrecht es hier geht. Ich empfehle das Wahlrecht dieser Gruppe trotzdem der Aufmerksamkeit des Hohen Hauses und der Aufmerksamkeit insbesondere des Innenausschusses, der das behandeln soll. Mir ist die Zusage gemacht worden, daß der Innenausschuß dieses Thema sehr schnell behandeln wird, damit wir diese unverständliche Schlechterstellung der deutschen Beamten, die im deutschen Interesse im Ausland arbeiten, so schnell wie möglich überwinden und damit diese
Gruppe bei der nächsten Bundestagswahl mitwählen kann.
Wird das Wort zur Beratung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Es liegt Ihnen ein Überweisungsvorschlag des Ältestenrates vor. Ich nehme an, daß Sie mit dem Vorschlag einverstanden sind. — Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung an den Innenausschuß beschlossen.
Dann kommen wir zu Punkt 26 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 18. März 1965 zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten
— Drucksache V/3246 —
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Mittelstandsfragen
- Drucksache V/3457 —
Berichterstatter: Abgeordneter Lenders
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, wer den Art. 1, 2, 3, 4, 5, der Einleitung und der Überschrift zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Wird das Wort zur dritten Beratung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Schlußabstimmung über dieses Gesetz. Wer dem Gesetz als Ganzem seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen damit zu Punkt 28 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kaffeesteuergesetzes
— Drucksache V/2782 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache V/3501 — Berichterstatter: Abgeordneter Windelen
b) Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache V/3428 —
Berichterstatter: Abgeordneter Ott
Wird das Wort zur Beratung in der zweiten Lesung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann darf ich die Artikel 1, 2, 3 und 4, Einleitung und Überschrift aufrufen. Wer diesen Artikeln, der Einleitung und der Überschrift zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wird das Wort in der dritten Beratung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Damit kommen wir zur Schlußabstimmung über dieses Gesetz. Wer dem Gesetz als Ganzem zustimmen will, den bitte, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist das Gesetz angenommen worden.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß unserer Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch, den 27. November, 14.30 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.