Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Wir beginnen mit Punkt 1 der Tagesordnung: Fragestunde
— Drucksache V/2636 —
Es werden Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts beantwortet. Ich rufe zunächst die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Dr. Martin auf:
Ist die Bundesregierung darüber unterrichtet, daß die finnische Regierung Erwägungen darüber anstellt, die Stellung des Deutschunterrichts in den finnischen Schulen zu verändern?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich beide Fragen zusammen beantworten, Herr Präsident?
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe ferner die Frage 35 des Herrn Abgeordneten Dr. Martin auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Stand des Deutschunterrichts in Finnland zu erhalten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Zeit nimmt die deutsche Sprache an den finnischen Schulen den zweiten Platz nach dem Englischen ein. Ob sie ihn beibehalten kann, hängt von der Annahme und dem endgültigen Inhalt des Gesetzentwurfs über die Einführung der Einheitsschule nach schwedischem Muster ab, in deren Oberklassen die Finnen mit schwedischer Muttersprache dem Schwedischen den Platz gleich nach dem Englischen sichern wollen. Das würde bedeuten, daß das Deutsche nicht mehr eine lange, d. h. in sechs aufeinanderfolgenden höheren Klassen gelehrte, sondern nur noch eine kurze, d. h. in den drei obersten Klassen gelehrte Sprache sein würde.
Da die Stellung der deutschen Sprache nur eine Nebenwirkung einer rein innenpolitischen Auseinandersetzung in Finnland ist, erscheint eine Einflußnahme der Bundesregierung nicht ratsam.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Martin.
Herr Staatssekretär, Sie meinen, daß eine Einflußnahme nicht möglich sei. Heißt das, daß die Bundesregierung in der Sache überhaupt nicht tätig geworden ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe bereits darauf hingewiesen, Herr Dr. Martin: der Grund dafür, daß wir damit rechnen müssen, daß es eine Änderung gibt, ist eine innenpolitische Auseinandersetzung um die Umgestaltung des Schulsystems einerseits und der bekannte Sprachenstreit andererseits. In dieser Auseinandersetzung ist es nicht gut möglich und nach unserer Auffassung auch nicht ratsam, nun noch eine besondere Position im Hinblick auf die deutsche Sprache zu beziehen. Das hätte aller Voraussicht nach, weil es ein für diese finnische Diskussion eigentlich sachfremdes Thema ist, auch wenig Aussicht auf Erfolg. Daß die Bundesregierung diese Entwicklung genau und natürlich auch nicht teilnahmslos verfolgt, ist selbstverständlich, und daß wir darüber hinaus jede Möglichkeit prüfen, das, was an Minderung unter Umständen eintreten kann, durch eigene Maßnahmen aufzufangen, ist ebenfalls selbstverständlich — nur nicht am konkreten Gegenstand dieser inneren Auseinandersetzung.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Überlegungen darüber angestellt, wie man den Bestand der deutschen Sprache erhalten kann, wenn der Fall eintritt, den Sie soeben schilderten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Konkrete Überlegungen im Sinne eines vorgefertigten Planes nicht. Das hängt auch etwas davon ab, wie dieser innere Streit ausgehen wird. Aber die Bereitschaft, auf anderen Gebieten außerhalb der innerschulischen Entwicklung mehr zu tun, besteht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
8282 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Ist der Bundesregierung bekannt, ob die jahrzehntelangen Erfahrungen der deutschen Schule in Helsinki vom finnischen Parlament verwandt worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verwandt worden sind wozu? Das ist mir so nicht klar, Frau Kollegin.
Die Erfahrungen, die mit Deutsch als Grundsprache für das Erlernen der weiteren Sprachen dort gemacht worden sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, natürlich sind die berücksichtigt worden, und sie werden dort auch berücksichtigt. Nur darf ich noch einmal darauf hinweisen: was jetzt Anlaß zu der allgemeinen Frage ist, ist durch eine Diskussion um die weitere schulische Entwicklung in Finnland hervorgerufen, und da spielen völlig andere Aspekte eine entscheidende Rolle, nicht die Stellung der deutschen Sprache. Sie ist in dieser Diskussion nur als Folge der möglichen Entwicklung berührt. Es gibt keinen Streit um die deutsche Sprache in dieser inneren Diskussion.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Sind der Bundesregierung diese neuen Aspekte bekannt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die neuen Aspekte dieser innerschulischen Diskussion: ja.
Zusatzfrage, Kollege Strohmayr.
Herr Staatssekretär, es wird Ihnen wahrscheinlich bekannt sein, daß in Finnland wenigstens 50 % der Bevölkerung Deutsch sprechen, und ich möchte Sie nun fragen, ob es nicht wert ist, von seiten der Bundesregierung alles zu unternehmen, daß die deutsche Sprache in Finnland weiterhin so erhalten bleibt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So, Herr Kollege Strohmayr, wollte ich meine zweite Antwort an Herrn Kollegen Dr. Martin verstanden wissen, daß die Bundesregierung alles, was im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt, tun wird, um die Förderung der deutschen Sprache, des deutschen Sprachunterrichts in Finnland zu ermöglichen.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Büttner.
Herr Staatssekretär, könnten Sie bei aller Würdigung und bei allem Dafürsein, daß die deutsche Sprache im Ausland verbreitet wird,
mit mir der Meinung sein, daß wir zur Pflege der deutschen Sprache im eigenen Lande etwas mehr tun müssen, weil der Prozentsatz derer, die in Prüfungen bei Industrie- und Handelskammern in der deutschen Sprache durchfallen, so groß ist, daß sich Ausländer unter Umständen fürchten könnten, die deutsche Sprache zu erlernen, weil sie so schwer ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Büttner, ich könnte Ihnen nicht nur zustimmen, ich stimme Ihnen aus voller Überzeugung zu, nur muß ich leider die Einschränkung machen: dafür ist das Auswärtige Amt nicht zuständig.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Büttner.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, sich mit Ihren Kollegen im Innenministerium in Verbindung zu setzen und ihnen das einmal vorzutragen, weil es von mir aus wirklich eine ernste Sorge ist, daß für die deutsche Sprache im eigenen Lande etwas mehr getan wird? Dafür ist ja das Innenministerium zuständig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will das natürlich gern tun, aber ich glaube, Herr Kollege Büttner, wir sollten darüber hinaus alle gemeinsam diese unsere Besorgnisse auch den Herren Kultusministern der Länder nicht vorenthalten.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Martin.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit — in Finnland gibt es ein ausgedehntes Volkshochschulwesen — zu prüfen, ob es nicht richtig wäre, das große Reservoir an Deutschlehrern zu verwenden, um dann auf diesem Gebiet tätig zu bleiben, und sind Sie nicht vielleicht auch der Meinung, daß wir bei Eintritt des von Ihnen geschilderten Falles gezwungen sind, zusätzlich auf dem Wege über Goethe-Institut und die allgemeine Sprachwerbung tätig zu werden? Wären Sie bereit, diese beiden Gedanken ernstlich zu prüfen und dem Parlament darüber Vorschläge zu machen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich bin ich bereit, nur darf ich folgendes sagen. Was die Möglichkeiten der Nutzung des Deutschunterrichts in den Volkshochschulen anbelangt, so wird dort im Vergleich zu anderen Ländern gerade in Finnland ungewöhnlich viel getan. Diese Möglichkeit wird bereits sehr stark genutzt. Das schließt nicht aus, daß man diese Möglichkeit noch ausbaut. Insofern kann die Prüfung schon von gewissen gesicherten Erkenntnissen ausgehen.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8283
Parlamentarischer Staatssekretär JahnWas die Möglichkeiten des Goethe-Instituts unddessen Zweigniederlassungen anbetrifft, so gehört das natürlich zu den selbstverständlichen Überlegungen, die hier einbezogen werden müssen. Insgesamt wird sich auf diese beiden Fragen wie aber auch überhaupt auf eine sorgfältige Untersuchung des gesamten Problems bei einer neuen Situation die Prüfung der Frage erstrecken müssen, was insgesamt geschehen kann.
Wir kommen damit zur Beantwortung der Frage 36 des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen. Ist Herr Schmitt-Vockenhausen im Saal?
Wird diese Frage übernommen? — Das ist nicht der Fall; sie wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu der Frage 37 des Herrn Abgeordneten Ertl:
Warum sendet die Bundesregierung keine „Freundschaftsdelegation" nach Ägypten?
Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung hat mehrfach ihre Bereitschaft erklärt, ein gutes und freundschaftliches Verhältnis zu allen arabischen Staaten wiederherzustellen. Es wäre jedoch verfrüht, eine Freundschaftsdelegation in die Vereinigte Arabische Republik zu senden, solange normale Beziehungen noch nicht wiederhergestellt sind.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ertl!
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, hier zu sagen, wie die Pressemeldung zustande kam, daß die Bundesregierung ursprünglich beabsichtigte, unter der Führung des Herrn Bundesministers Leber eine solche Delegation zu senden, und daß diese Delegation, wie offensichtlich aus der arabischen Presse zu entnehmen ist, dort auch mit großer Freude begrüßt worden wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ertl, das Auswärtige Amt ist sicher sehr dazu bereit, auch allen Pressemeldungen bis in die letzten Quellen nachzugehen. Aber da sind seine Möglichkeiten wie die der meisten anderen Bürger nicht unbegrenzt. Wir haben jedenfalls bisher nicht herausbekommen können, worauf das zurückzuführen ist. Sie wissen, daß Herr Bundesminister Leber ja auch in aller Form diese Meldung zurückgewiesen und gesagt hat, sie entbehre jeder Grundlage. Ob jemand es mit ihm, mit der Bundesregierung, mit dem deutsch-arabischen Verhältnis in diesem Zusammenhang besonders gut meinen wollte, weiß ich nicht.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ertl.
Herr Staatssekretär, darf -ich Ihre erste Antwort so deuten, daß Sie der Meinung sind: Die Bundesregierung ist bereit, wieder zu normalen Beziehungen zu kommen, aber Sie sehen andere Schwierigkeiten. Welcher Art sind dann diese Schwierigkeiten, die schuld daran sind, daß es noch nicht zu normalen diplomatischen Beziehungen und damit zu dem alten Freundschaftsverhältnis gekommen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nun, die diplomatischen Beziehungen sind ja nicht von uns abgebrochen worden, Herr Kollege Ertl, und wir können in dieser Situation eigentlich nur zwei Dinge tun. Erstens können wir erklären, was ich hier, und zwar nicht zum erstenmal — die Bundesregierung hat mehrere Gelegenheiten dazu benutzt, das zu tun — erklärt habe: Wir sind bereit, die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen. Das zweite, was man tun kann und was ebenfalls geschieht, ist, möglichst ohne dramatischen Nebeneffekt das an Verbindungen herzustellen und zu pflegen, was ohne diplomatische Beziehungen möglich ist. Vielleicht kann das helfen, den Weg zu erleichtern.
Wir kommen damit zu den Fragen 38, 39 und 40 des Herrn Abgeordneten Tallert. Herr Abgeordneter Tallert ist nicht im Saal. Werden die Fragen übernommen? — Das ist nicht der Fall; sie werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu der Frage 41 des Herrn Abgeordneten Dorn:
Trifft der Vorwurf zu, den der offizielle Beobachter des Auswärtigen Amtes bei dem Prozeß gegen die aus der Bundesrepublik Deutschland verschleppten Koreaner in Seoul, der Bonner Professor Gerald Grünwald, gegen die Bundesregierung erhoben hat, sie habe sich nicht genügend für die Revidierung der Urteile und die Rückkehr der Betroffenen eingesetzt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich darf auch diese beiden Fragen zusammen beantworten.
Einverstanden. Ich rufe also noch Frage 42 des Herrn Abgeordneten Dorn auf:
Wenn die Bundesregierung diesen in Frage 41 erwähnten Vorwurf für unzutreffend hält: Was hat sie konkret getan, um die Revidierung der Urteile und die Rückkehr der Südkoreaner zu erreichen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vor der Beantwortung dieser Fragen ist folgendes klarzustellen. Professor Grünwald hat von der Bundesregierung niemals gefordert, daß sie sich intensiv für die Revidierung der Urteile einsetzen solle. Dies konnte die Bundesregierung — wie Professor Grünwald wohlbekannt — auch gar nicht tun, weil eine solche Aktion eine Einmischung in ein schwebendes Gerichtsverfahren und zudem noch in ein Gerichtsverfahren eines fremden Staates gewesen wäre.
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8284 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Parlamentarischer Staatssekretär JahnWas die Forderung auf Rückkehr der Betroffenen angeht, so hat sich Herr Professor Grünwald wohl davon überzeugt, daß wir sie mit Energie erhoben und verfolgt haben. Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Auswärtigen Amt und Professor Grünwald bestehen vornehmlich insoweit, als Professor Grünwald härtere Mittel bis hin zur Drohung mit dem Abbruch der Beziehungen und der Einstellung der Entwicklungshilfe für richtig hält. Das Auswärtige Amt stand dem Einsatz dieser Mittel skeptisch gegenüber und hat im Hinblick auf diese Mittel bisher eine größere Zurückhaltung an den Tag gelegt.Was die Bundesregierung nach dem Bekanntwerden der Aktion des koreanischen Geheimdienstes getan hat, um die Rückkehr der Koreaner zu erreichen, ist diesem Hause wiederholt vorgetragen worden. Eine ausführliche Darstellung aller ihrer Maßnahmen wird die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der SPD, die in diesen Tagen eingebracht worden ist, geben. Die Schritte, die die Bundesregierung bei der Verfolgung ihrer Forderung, den Betroffenen müsse die Möglichkeit zur Rückkehr eröffnet werden, im einzelnen unternommen hat, kann die Bundesregierung jedoch im Interesse der Verurteilten vor dem Plenum dieses Hauses nicht erörtern, zumal ein Teil dieser Maßnahmen auch noch im Augenblick durchgeführt wird.
Zusatzfrage, Herr Kollege Dorn.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß man die bei uns übliche Zurückhaltung während eines schwebenden Verfahrens in diesem Falle deshalb nicht anwenden kann, weil die so vor Gericht Gestellten ja in einem außergewöhnlichen Verfahren aus der Bundesrepublik verbracht worden sind und also ein normales schwebendes Gerichtsverfahren unter unseren rechtspolitischen Vorstellungen mit dem, was sich dort abgespielt hat, nichts zu tun haben kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich denke, Herr Kollege Dorn, man sollte differenzieren. Die eine Frage ist, wie sich die Bundesregierung gegenüber der koreanischen Regierung bemüht, ihre Auffassung und ihr Begehren auf Rückkehr geltend zu mamen. Das andere ist eine Frage, ob man überhaupt selber oder durch Verlangen an Dritte beispielsweise an die koreanische Regierung, mit Aussicht auf Erfolg in ein schwebendes Verfahren eingreifen kann. Hier habe ich mich nur dahingehend geäußert, daß Herr Professor Grünwald insofern keine Erwartungen an die Bundesregierung gerichtet hat.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie denn nicht meine Sorge, die auch in weiten Kreisen der Bevölkerung, vor allen Dingen der Studenten- und
Professorenschaft, permanent geäußert wird, daß die Lage deswegen so skeptisch beurteilt wird, weil man der Meinung ist, daß die besondere Zurückhaltung, die auch Professor Grünwald wegen seiner Meinungsverschiedenheit mit der Bundesregierung an den Tag legt, von weiten Kreisen in unserem Lande geteilt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dorn, die Bundesregierung teilt die Besorgnis über den Vorfall an sich und über die Tatsache, daß es mühsam ist, alle diejenigen, die in diesem Verfahren aus der Bundesrepublik verschleppt worden sind, wieder zurückzubekommen. Ich glaube aber, es wäre gut, wenn gegenüber der — wie Sie sagen — weit verbreiteten öffentlichen Meinung auch einmal klargestellt würde, daß die Bundesregierung mit ihren Bemühungen ja bisher nicht ohne Erfolg gewesen ist und — wie das hier mehrfach gesagt worden ist — mit guten Gründen erwarten kann, auch in der Zukunft weitere Erfolge im Hinblick auf die Möglichkeit zur Rückkehr für die Verschleppten haben zu können. Insofern muß ich sagen, daß nicht alles, was in der Öffentlichkeit über diese Dinge gesagt worden ist — von wem auch immer —, erstens mit dem tatsächlichen Sachverhalt in Einklang zu bringen ist und zweitens bei den Bemühungen hilfreich gewesen ist, mit zugegebenermaßen nicht sehr dramatischen Aktionen nach außen fortzufahren, die aus der Bundesrepublik verschleppten Koreaner wieder hierherzubekommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dorn.
Herr Staatssekretär, sieht denn die Bundesregierung eine Chance, in absehbarer Zeit das Ziel der Rückführung der entführten Koreaner in die Bundesrepublik zu erreichen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Wir kommen damit zur Beantwortung ‘der Frage 43 des Herrn Abgeordneten Fritz :
Inwieweit konnten die diplomatischen Beziehungen zu Südkorea zugunsten der zehn in Deutschland wohnhaften und aus Deutschland entführten Südkoreaner genutzt werden?
Der Abgeordnete Fritz ist im Saal. Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bei allem, was die Bundesregierung zugunsten der zur Abreise nach Korea veranlaßten Südkoreaner getan hat, war sie auf die diplomatischen Beziehungen mit Seoul angewiesen; denn nur dadurch, .daß sie diese Beziehungen genutzt hat, konnte sie der koreanischen Regierung ihre Auffassung unmittelbar klarmachen. Seit dem Augenblick, in dem die Koreaner Deutschland verlassen haben, kommt es wesentlich auf das Entgegenkommen .der koreanischen Regierung an.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8285
Parlamentarischer Staatssekretär JahnDie Bundesregierung hat von diesen diplomatischen Beziehungen einen sehr intensiven Gebrauch gemacht. Nicht nur, ,daß Noten gewechselt wurden, es bestand auch ein laufender persönlicher Kontakt auf allen Ebenen zwischen dem Auswärtigen Amt und .der hiesigen koreanischen Botschaft in Bonn. Auch unser Botschafter in Seoul hat in dieser Angelegenheit viele Unterredungen geführt. Ein Abbruch dieser Beziehungen, der schon zu Anfang der Behandlung .dieser Frage von vielen Seiten gefordert wurde, hätte die Bundesregierung um alle diese Möglichkeiten gebracht. -Auf diplomatischem Weg ist erreicht worden, daß die koreanische Regierung einem Teil der aus Deutschland' verbrachten Koreaner die Rückkehr nach Deutschland ermöglicht hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Matthöfer.
Herr Staatssekretär, in Ihrer Antwort auf ,die Frage des Herrn Abgeordneten Dorn sprachen Sie von „Verschleppten" und in der Antwort ,auf ,die Frage des Herrn Abgeordneten Fritz von „zur Abreise Veranlaßten". Können Sie mir den Unterschied zwischen beiden Interpretationen des Vorgangs erklären?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann ich gerne, Herr Kollege Matthöfer. Das, was ich hier als Antwort auf die Frage des Kollegen Dorn gesagt habe, ist die Formulierung, wie ich sie gerne als normal gebrauchen würde. Das, was ich hier eben als Antwort auf die Frage des, Kollegen Fritz gesagt habe, war die Wiedergabe ,der sorgfältig von Juristen vorformulierten Antwort durch das Amt. Das Amt muß natürlich, wenn es solche Dinge vorbereitet, sich streng an die amtlichen Unterlagen und Bewertungen halten.
Dazu muß ich nun sagen, es hat ja früher über diese Frage schon einmal eine Diskussion hier im Hause gegeben. Nach diem, was die Bundesanwaltschaft bei ihren Ermittlungen in dieser Frage festgestellt hat, kommt sie zu dem Ergebnis — und benutzt dabei den Wortlaut .des Gesetzes —, daß die Tatsache der Verbringung strafrechtliche Momente nicht ergeben hat. Wenn man also demgegenüber dennoch von „Verschleppung" spricht, dann bringt man damit — dem will ich mich persönlich nicht nur nicht ,entziehen, sondern ich lege Wert darauf, das dann auch so auszudrücken — aber natürlich eine ,gewisse Wertung hinein.
Eine Zusatzfrage zu dieser Frage, Herr Abgeordneter Dorn.
Herr Staatssekretär, darf ich also aus dieser Antwort auf die Frage des Kollegien Matthöfer schließen, daß, wenn Sie Fragen aus dem Bereich der Koalitionsabgeordneten beantworten, Sie .auf den juristisch vorformulierten Text Wert legen, während, wenn Sie Fragen von oppositionellen Abgeordneten beantworten, Sie so etwas mehr im freien Sprachgebrauch verfahren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das hängt von zwei ganz anderen Umständen ab, Herr Kollege Dorn, erstens einmal von dem Einfallsreichtum im Hinblick ,auf Zusatzfragen
und zweitens von .dem Einfallsreichtum des Amtes,
ob es alle denkbaren Zusatzfragen voraussagen und
vielleicht auch die Antworten vorformulieren kann.
Wir kommen zur Beantwortung der Fragen 44 und 45 des Herrn Abgeordneten Schultz :
Was müssen — nach Ansicht der Bundesregierung — Großbritannien und die übrigen beitrittswilligen Länder tun, um „tatsächlich in der Lage zu sein", in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen werden zu können?
Gibt es eine gemeinsame Auffassung der deutschen und der französischen Regierung über die Bedingungen, die insbesondere Großbritannien erfüllen muß, um in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen werden zu können?
Ist der Herr Abgeordnete hier? — Die Fragen werden übernommen von Herrn Abgeordneten Ertl.
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Großbritannien hält nach wie vor an seinem Beitrittsgesuch fest, auch wenn es, wie aus zahlreichen Äußerungen seines Regierungschefs und anderer Mitglieder der Regierung hervorgeht, zur Zeit noch nicht in der Lage ist, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten. Die. Bundesregierung ist mit der britischen Regierung der Auffassung, daß dessenungeachtet Beitrittsverhandlungen so bald wie möglich aufgenommen werden sollten. Sie begrüßt die seit dem 18. November 1967 von der britischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen zur wirtschaftlichen, finanziellen und währungspolitischen Konsolidierung der britischen Wirtschaftslage. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften sind der Auffassung, daß der notwendige Gesundungsprozeß der brill-. schen Wirtschaft eine gewisse Zeit braucht, wie es am Ende der Ratssitzung vom 19. Dezember 1967 einvernehmlich festgestellt wurde. Sobald dieser Gesundungsprozeß genügend fortgeschritten ist, kann Großbritannien auch die sich aus einem Beitritt ergebenden Verpflichtungen erfüllen.Die zweite Frage beantworte ich wie folgt. Nach Auffassung aller Mitgliedstaaten müssen Drittstaaten, die den Europäischen Gemeinschaften beitreten wollen, die Verträge von Paris und Rom, die bisher auf der Grundlage der Verträge ergangenen Entscheidungen und die zukünftigen Orientierungen für die gemeinsame Politik auf allen Vertragsgebieten annehmen. Dagegen gibt es keine besonderen Bedingungen, die etwa nur von Großbritannien erfüllt werden müßten.
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8286 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Ertl.
Herr Staatssekretär, bin ich richtig informiert, wenn ich annehme, daß sich die britische Regierung bereit erklärt hat, die vollen Bedingungen der EWG zu akzeptieren, daß aber das deutschfranzösische Gespräch zu einer Sonderregelung geführt hat und zumindest unser Bundesaußenminister beauftragt ist, auf der Basis einer Sonderregelung zu verhandeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da sind Sie nicht richtig orientiert, Herr Kollege Ertl.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich darf daraus schließen, daß auf Grund des deutsch-französischen Gesprächs vereinbart worden ist, daß die beiden Regierungen nach wie vor Wert darauf legen, daß Großbritannien möglichst bald Vollmitglied der EWG wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Volle Übereinstimmung besteht hinsichtlich der grundsätzlichen Forderung. Das ist bei den deutsch-französischen Konsultationen in Paris vor vier Wochen ausdrücklich festgestellt und noch einmal erklärt worden. Über den Zeitpunkt gibt es unterschiedliche Auffassungen.
Wir kommen damit zur Beantwortung der Frage 46 des Herrn Abgeordneten Kahn-Ackermann:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung vorgesehen, um die deutsche Sprache endlich zu einer gleichberechtigten Sprache im Europarat zu machen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ausgangspunkt der Bemühungen der Bundesregierung ist die Entschließung Nr. 188 der Beratenden Versammlung des Europarates vom 29. September 1960. Dementsprechend richten sich unsere Bemühungen darauf, daß Deutsch als ständige Arbeitssprache für die Tagungen der Beratenden Versammlung des Europarates und ihrer Ausschüsse eingeführt wird. Eine volle Gleichberechtigung wäre damit, um dies gleich vorweg zu sagen, noch nicht erzielt.
Amtssprachen des Europarates — official languages — sind Englisch und Französisch. Sie wurden bei der Gründung des Europarates festgelegt, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Bundesrepublik Deutschland noch nicht Mitglied der Organisation war. Der Versuch, zu erreichen, daß die deutsche Sprache ihnen, also diesen Amtssprachen, hinzugefügt wird, hätte nach Ansicht der Bundesregierung keine Aussicht auf Erfolg, weil erstens die Kosten für eine weitere Amtssprache einen Millionenbetrag
ausmachen würden, zweitens die Einführung einer neuen Amtssprache nur im Wege einer Satzungsänderung des Europarates möglich wäre, die eine Zweidrittelmehrheit unter den Mitgliedstaaten erfordern würde.
Die Einführung von Deutsch als Arbeitssprache dagegen erscheint eher möglich, wenn auch hier nicht geringe Widerstände noch zu überwinden sind. Die Bundesregierung hat auf Grund der bereits erwähnten Entschließung Nr. 188 der Beratenden Versammlung, in der die Zulassung der deutschen Sprache in der Beratenden Versammlung und ihren Ausschüssen gefordert wird, Schritte unternommen, um sich die für einen entsprechenden Beschluß des Ministerkomitees benötigte Zweidrittelmehrheit zu sichern. Diese Zweidrittelmehrheit ist aus haushaltstechnischen Gründen wegen der anfallenden Mehrkosten erforderlich. Es zeigte sich bald, daß sie nicht ohne weiteres zu erreichen war.
Um die Aussichten, die sich abzeichnenden Schwierigkeiten zu überwinden, zu verbessern, und um die volle Unterstützung der italienischen Regierung zu sichern, wurde dann mit dieser vereinbart, die eingeleiteten Bemühungen auch auf die Zulassung von Italienisch als Arbeitssprache zu erstrecken. Auf dieser Basis wurden dann weitere Sondierungen in den Hauptstädten der wichtigsten Mitgliedstaaten des Europarates eingeleitet, die aber sehr zähflüssig verliefen, da eine große Zurückhaltung gegen die Zulassung weiterer Sprachen als Arbeitssprachen neben den beiden Amtssprachen Englisch und Französisch und gegen die daraus resultierenden zusätzlichen Haushaltskosten besteht. Immerhin hat sich in zwei Fällen mit zwei der wichtigsten Mitgliedstaaten grundsätzliches Einverständnis erzielen lassen.
Ehe aber die Sprachenfrage erneut im Ausschuß der Ministerbeauftragten des Europarates erörtert werden kann, müssen noch Vorbesprechungen mit weiteren Mitgliedsregierungen des Europarates geführt werden. Ein Ende der Phase der bilateralen Sondierungen ist nach den bisherigen Erfahrungen leider nicht abzusehen. Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung der Frage bewußt und wird um ihre Lösung weiterhin nachhaltig bemüht sein.
Herr Kollege Kahn-Ackermann, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben zutreffend ausgeführt, daß sich die Konsultationen der Bundesregierung zur Beseitigung eines für die deutsche Delegation in Straßburg politisch unerträglichen Zustandes nun seit über acht Jahren hinziehen. Wann meinen Sie, diesem Hause sagen zu können, daß die Runde der Konsultationen voraussichtlich beendet werden kann, damit darüber endlich im Ministerrat eine Vereinbarung getroffen werden kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kahn-Ackermann, da es nicht nur um eine Runde von Konsultationen, sondern auch darum geht, daß diese Konsultationen zu bestimmten Ergebnissen
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8287
Parlamentarischer Staatssekretär Jahnführen, bin ich außerstande, hier eine auch nur annähernd bestimmte Zeit zu nennen. Die Erfahrungen zeigen, daß teilweise schon die Gespräche mit einem Land außerordentlich schwierig, ja, geradezu mühselig sind. Daher belasten sie ein solches Verfahren eigentlich und können es fast ins Stocken bringen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Kahn-Ackermann.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß die Angelegenheit politisch von einer solchen Bedeutung ist, daß die Haushaltsfragen, die Sie erwähnt haben, angesichts ihrer Größenordnung in diesem Zusammenhang in den Überlegungen der Bundesregierung keine Rolle spielen dürften?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nun, ich habe hier von Millionenbeträgen sprechen müssen. Das ist eine notwendige Überlegung, die diese Bundesregierung .nun einmal anstellen muß, wenn es um die Frage der Einführung von Deutsch als Amtssprache geht. Die Bemühungen richten sich ja nun zunächst einmal darauf, daß Deutsch als Arbeitssprache eingeführt wird. Dann sind die Kosten nicht so erheblich. Für diese Überlegungen und Bemühungen spielt die Kostenseite also keine Rolle.
Ich rufe die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Kahn-Ackermann auf:
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um im Zuge ihrer auf eine Erweiterung der Gemeinschaften und deren Aufgaben gerichteten Politik den Rat für kulturelle Zusammenarbeit im Europarat zu einer kompetenteren Institution auszugestalten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Rahmen der Politik der Bundesregierung, die Zusammenarbeit in Europa auf allen Gebieten zu fördern, wird auch der Reorganisation und Intensivierung der Tätigkeit des Rates für kulturelle Zusammenarbeit große Aufmerksamkeit gewidmet. Der Rat für kulturelle Zusammenarbeit ist bewußt mit dem Charakter eines Rates gebildet worden. Im Rahmen dieser begrenzten Kompetenz, die die Bundesregierung wie auch andere Mitgliedstaaten in der jetzigen Form für zweckmäßig erachten, hat der Rat für kulturelle Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren eine beachtliche Tätigkeit entfaltet, die sich vor allem in der vielseitigen und erfolgreichen Arbeit seiner Fachkomitees manifestiert.
Die Bundesrepublik ist an dieser Arbeit wirksam beteiligt. Ihre Mitarbeit erstreckt sich auch auf die in immer neuen Ansätzen betriebenen Bemühungen deis Rates selbst, seine. Arbeitsweise zu verbessern und sein Programm moderner, straffer und konzentrierter zu gestalten.
Die jüngste Ausrichtung des Programms auf die beiden großen Leitsätze „Europa in 20 Jahren" und „lebenslange Erziehung" sowie die Umgestaltung der Ausschüsse werden von der Bundesregierung als wirksames Element einer Aktivierung der Arbeit des Rates für kulturelle Zusammenarbeit angesehen und von ihr unterstützt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Kahn-Ackermann.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß diese Definition der Tätigkeit dieses Rates sehr optimistisch ist angesichts der Tatsache, daß die Bundesregierung mit ihren anderen europäischen Partnern in zahlreichen Konsultationen nach Möglichkeiten und Gebieten gesucht hat, wo man die europäische Zusammenarbeit wirklich fördern kann, und in diesem Rat für kulturelle Zusammenarbeit mit einem Jahresetat von knapp 2,7 Millionen Franken praktisch also nur Geschäfte getätigt werden, die im Vergleich zu dem, was ein solches Instrument leisten könnte, kaum den Aufwand an Verwaltung und sonstigen Kosten lohnen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kahn-Ackermann, wenn ich die Arbeit, wie Sie sagen, so optimistisch beurteilt habe, dann entspricht das dem Eindruck und der Bewertung, die die Bundesregierung dieser Arbeit beimißt, und auch den Erwartungen, die sie in bezug auf den Rat hegt.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Kahn-Ackermann.
Herr Staatssekretär, glauben Sie, daß es zu verantworten ist, daß sich Beamtendelegationen aus 18 Mitgliedstaaten sieben Tage lang in Straßburg zusammensetzen, um einen Etat von sage und schreibe 2,7 Millionen Franken durchzuberaten? Besteht da in der Angelegenheit also nicht ein gewisses Mißverhältnis?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das würde ich nicht nur als ein gewisses Mißverhältnis ansehen, Herr Kollege Kahn-Ackermann.
Damit kommen wir zur Beantwortung der Frage 48 des Herrn Abgeordneten Wagner:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob der Strafverfahrensrechtler Professor Grünwald identisch mit dem Verfasser eines Artikels in der Juristenzeitung 1966 Nr. 19, Seite 633, ist, der sich mit der rechtlichen Problematik der Morde an der Berliner Mauer befaßt?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf diese und die folgende Frage im Zusammenhang beantworten.
Bitte sehr! Ich rufe dann auch die Frage 49 auf:Ist die Bundesregierung der Meinung, daß ein Rechtslehrer, der die Auffassung vertritt, Erschießungen von Deutschen an der Zonengrenze oder an der Mauer in Berlin bei dem Versuch, das Gebiet der Bundesrepublik zu erreichen, seien rechtmäßig, für die Beobachtung und Wertung von Staatsschutzprozessen in der Republik Korea geeignet ist?
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8288 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Bundesregierung ist bekannt, daß Professor Gerald Grünwald, Ordinarius für Strafrecht an der Universität Bonn, den Artikel in der Juristenzeitung 1966 Nr. 19, Seite 633, mit dem Titel „Ist der Schußwaffengebrauch an der Zonengrenze strafbar?" verfaßt hat. Die dort entwickelten strafrechtlichen Auffassungen stehen mit dem Herrn Professor Grünwald von der Bundesregierung erteilten Auftrag, das Strafverfahren gegen die aus Deutschland nach Korea verbrachten Koreaner vor dem Strafgericht der ersten Instanz zu beobachten, in keinem Zusammenhang. Sie werden von der Bundesregierung, soweit sie auf die Erschießung von Flüchtlingen bezogen werden können, nicht geteilt. Im übrigen schreibt Professor Grünwald selbst ausdrücklich, daß seine strafrechtliche Beurteilung — ich zitiere wörtlich — „keine Billigung der Unterbindung des Grenzübertritts oder gar der Anwendung der Schußwaffe gegen Flüchtlinge bedeutet".
Für den Entschluß, Herrn Professor Grünwald nach Korea zu entsenden, war entscheidend, daß er sich von Anbeginn an sehr für diesen Fall und für das Schicksal der betroffenen Menschen interessiert hat. Außerdem schien 'er uns als Ordinarius für Strafrecht zur Beobachtung eines strafrechtlichen Verfahrens — und hierauf war der ihm förmlich erteilte Auftrag beschränkt — fachlich geeignet.
Die Mission Professor Grünwalds hat sich für die Bundesregierung als nützlich 'erwiesen. Vor allem — und dies ist wohl der wichtigste Gesichtspunkt — ist es Herrn Professor Grünwald gelungen, den Intentionen der Bundesregierung entsprechend in Korea deutlich zu machen, daß die Bundesregierung und das gesamte deutsche Volk an dem Prozeß gegen die früher in Deutschland lebenden Koreaner lebendigen Anteil nehmen.
Der Bundesregierung war von Anfang an bekannt, daß Herr Professor Grünwald den von ihr bei dier Behandlung dieses Falles anzuwendenden Methoden kritisch gegenüberstand. Auf dieser Grundlage hatte sich ein offener Meinungaustausch zwischen ihm und Angehörigen des Auswärtigen Amtes ergeben. Diese Diskussionen waren fruchtbar, obwohl das Auswärtige Amt nicht in allen Punkten von der Richtigkeit der von Professor Grünwald vertretenen Auffassung über die Lage und die zu ergreifenden Maßnahmen überzeugt werden konnte.
So ist es zu erklären, daß das Auswärtige Amt eine Reihe von Vorschlägen Professor Grünwalds aufgriff, in anderen, entscheidenden Punkten aber seiner Ansicht nicht folgen konnte.
Zusatzfrage, Herr Kollege Wagner.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung nicht auch der Auffassung, daß es zumindest im innenpolitischen Bereich schädlich sein muß, wenn ein Mann einen offiziellen Auftrag erhält, dessen Ansichten im Gegensatz zu den herr-
schenden staatsrechtlichen und politischen Auffassungen stehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Wagner, wenn irgendwo, dann ist auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Grundsatz der Freiheit besonders ernst zu nehmen. Die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre hat neben der Sicherung der Meinungsfreiheit ihren besonderen Wert. Dem muß man bedingungslos, auch gegenüber jemandem, der für andere Aufgaben geeignet ist, Rechnung tragen. Ich glaube nicht, daß man das relativieren kann.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Wagner.
Herr Staatssekretär, beabsichtigt die Bundesregierung, auch zu den Berufungsverhandlungen einen Beobachter nach Korea zu entsenden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Dann kommen wir zur Beantwortung der Fragen 50 und 51 des Herrn Abgeordneten Ollesch:
Teilt die Bundesregierung die in Regierungskreisen geäußerte Auffassung, der vorliegende Entwurf eines Atomsperrvertrages gebe „hinsichtlich unserer nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen zu Besorgnissen Anlaß" und lasse „gefährliche Auswirkungen im Bereich der deutschen und europäischen Energiepolitik befürchten"?
Falls Frage 50 bejaht wird, welche Gründe rechtfertigen ein derartiges Urteil?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die zitierte Außerung . stammt nicht von der Bundesregierung. Das zum ersten Teil der Frage.
Im übrigen wird die Bundesregierung gemeinsam mit den Verbündeten dafür Sorge tragen, daß der Schutz, den wir durch das atlantische Bündnis genießen und auf den wir angewiesen sind, solange sich die Ost-West-Beziehungen nicht grundlegend geändert haben, durch extreme Auslegung des Vertrages nicht beeinträchtigt werden kann. Dasselbe gilt für Möglichkeiten der weiteren Einigung Europas, um die sich die Bundesregierung beharrlich bemüht. Soweit Besorgnisse sich auf zukünftige, noch nicht vorhersehbare Entwicklungen beziehen könnten, streben wir möglichst anpassungsfähige Verfahrensvorschriften an.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege Ollesch: Zu den möglichen Auswirkungen eines Nichtverbreitungsvertrages im Bereich der deutschen und europäischen Energiepolitik darf ich zunächst bemerken, daß der Vertrag — wenn überhaupt — nur Auswirkungen auf den Kernenergiesektor haben kann. Die anderen Bereiche der Energieproduktion bleiben unberührt. Nun ist anzunehmen, daß dier gegenwärtig geringe Anteil der Kernenergie an der gesamten Energieerzeugung sowohl
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Parlamentarischer Staatssekretär Jahn
in Deutschland als auch in Europa in den nächsten Jahrzehnten stark zunehmen wird. Wir erwarten für .die Bundesrepublik Deutschland, daß im Jahre 2000 mehr als 50% der installierten Gesamtleistung aus Kernkraftwerken bestehen werden.
Es werden gelegentlich Befürchtungen geäußert, daß die Versorgung mit spaltbarem Material für friedliche Zwecke, wie z. B. für die Energieerzeugung, durch .den Nichtverbreitungsvertrag gefährdet werden kann. Dazu stelle ich fest, daß der Nichtverbreitungsvertrag primär militärische und sicherheitspolitische Fragen regelt. Die ,e'inzi'ge Ausnahme betrifft sonstige nukleare Explosionskörper. Verboten sind also für .die nichtnuklearen Unterzeichner des Vertrages Herstellung, Entgegennahme und Verfügungsgewalt über Kernwaffen und- andere nukleare Explosivkörper. Dagegen soll das Recht der Unterzeichnerstaaten zur friedlichen Nutzung der Kernenergie in Forschung, Entwicklung und Industrlie unberührt bleiben. Im Gegenteil, die friedliche Nuklearentwicklung soll in der •ganzen Welt nach Möglichkeit gefördert werden.
Neben diesen generellen Zusicherungen im Vertrag stellt sich die Frage nach möglichen Auswirkungen auf Euratom und dabei im vorliegenden Zusammenhang auf den gemeinsamen Kernenergiemarkt. Wir haben diesen Fragen von Anfang an große Aufmerksamkeit gewidmet. Das Ergebnis unserer Bemühungen konnte der Bundesaußenminister am 27. April 1967 in Beantwortung einer Großen Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD über den Atomwaffensperrvertrag wie folgt zusammenfassen:
Nach schriftlichen Zusicherungen .der amerikanischen Regierung wird der Vertrag zwischen Euratom und den Vereinigten Staaten durch den Sperrvertrag nicht berührt, und es sind zusätzliche Vereinbarungen über ausreichende Versorgung möglich. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß durch die Zusicherungen und Vereinbarungen im Zusammenhang mit dem Nichtverbreitungsvertrag die langfristige ausreichende Versorgung mit Ausgangsmaterial und Kernbrennstoffen sichergestellt werden kann.
In ,den seitdem erfolgten Konsultationen ist die Bundesregierung ein ihrer Auffassung bestärkt worden, daß die Handhabung des Nichtverbreitungsvertrages die Fortsetzung der ausreichenden Spaltstoffversorgung des gemeinsamen, europäischen Kernenergiemarktes nicht in Frage stellen wird.
Schwierigkeiten bei der Belieferung von Nichtnuklearen mit spaltbarem Material nach Inkrafttreten des Nichtverbreitungsvertrages sind nur in folgenden zwei Fällen denkbar.
Der erste ist, daß ein nichtnuklearer Staat dem Nichtverbreitungsvertrag nicht beitritt 'und auch nicht die in Artikel III beschriebenen Kontrollen annimmt.
Der zweite Fall 'ist, daß' im Falle des Beitritts die im Nichtverbreitungsvertrag gesetzten Fristen für den Abschluß von Kontrollabkommen oder des Verifikationsabkommens zwischen Euratom und ,der IAEO-Behörde .ergebnislos verstreichen. Wir haben
aber im Fall von Euratom keinen Grund zu der Annahme, daß es nicht möglich wäre, innerhalb der vorgesehenen Fristen zu ,einem Euratom-gerechten Verifikationsabkommen zu gelangen. Jedenfalls wird die Bundesregierung ihre Anstrengungen darauf richten, daß es im 'gegebenen Fall zu einem solchen Abkommen fristgerecht kommen wird.
Zusatzfrage, Abgeordneter Ollesch.
Herr Staatssekretär, gehe ich recht in der Auffassung, die ich Ihrer Antwort entnehme, daß die ablehnende Kritik, die aus Regierungskreisen und auch von einem Regierungsmitglied geäußert wurde, nicht die Auffassung der Bundesregierung darstellt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So wird das wohl zu werten sein. Die Frage ist leichter zu beantworten, wenn Sie ganz konkret sagen, an wen Sie im einzelnen denken. Nur ist die Situation ja so, Herr Kollege Ollesch: Um diesen Vertrag gibt es eine sehr lange Diskussion mit verschiedenen Entwicklungsstufen, und in jeder dieser Entwicklungsstufen hat sich die Bundesregierung, soweit es um ihre Position ging, darüber Klarheit unter sich verschaffen müssen. Dieser Prozeß ist aber nicht in irgendeiner Form abgeschlossen, sondern er wird fortgeführt, und solange er fortgeführt wird, hat natürlich auch jedes Mitglied der Bundesregierung nicht nur das Recht, sondern auch die Möglichkeit, sich zum jeweiligen Stand der Entwicklung zu äußern und auch in der öffentlichen Diskussion an der Meinungsbildung, auch der Bundesregierung, mitzuwirken.
Ich rufe die Fragen 52, 53 und 54 des Herrn Abgeordneten Saam auf:
Welche von den Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Arbeiten auf technologischem Gebiet sind geeignet, namentlich Großbritannien an ihrer Durchführung zu beteiligen?
Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung über. die Art der Beteiligung Großbritanniens an den in der Frage 52 bezeichneten Vorhaben?
In welchen Punkten decken sich die Vorstellungen der Bundesregierung mit denen der französischen Regierung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Fragen, Herr Präsident, darf ich zusammen beantworten.Der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft hat am 31. Oktober 1967 in Luxemburg die Arbeitsgruppe „Politik der wissenschaftlichen und technischen Forschung" des Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik beauftragt, Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auf den Gebieten der Informationsverarbeitung und -verbreitung sowie Fernmeldewesen, Entwicklung neuer Verkehrsmittel, Ozeanographie, Meteorologie,• Umweltbelästigung und Metallurgie zu untersuchen. Grundsätzlich sind alle diese Gebiete für eine Zusammenarbeit mit Großbritannien als einem hochentwickelten Industrieland, das mehr als jedes andere europäische
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8290 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Parlamentarischer Staatssekretär JahnLand für Forschung und Entwicklung aufwendet, geeignet. Auf vielen dieser Gebiete hat Großbritannien eigene Entwicklungen, die die Technologie der Europäischen Gemeinschaften bereichern könnten, vorweggenommen. Dies gilt insbesondere für das Gebiet der Datenverarbeitung, auf dem Großbritannien zu den führenden europäischen Ländern zählt. Auf dem Gebiet der neuen Verkehrsmittel hat Großbritannien insbesondere die Technologie der Luftkissenfahrzeuge vorangetrieben. Eine Zusammenfassung auf dem Gebiet der Ozeanographie und Meteorologie ist schon wegen der geographischen Lage Großbritanniens und aus der Natur der Sache sinnvoll. An der Bewältigung der immer dringender werdenden Probleme der Umweltsbelästigung ist Großbritannien angesichts seiner Städtezusammenballung genauso interessiert wie die Länder der Gemeinschaften. Auch in der Metallurgie ergeben sich angesichts der Leistungsstärke in der britischen Metallindustrie gute Zusammenarbeitsmöglichkeiten.Die Arbeitsgruppe „Politik der wissenschaftlichen und technischen Forschung" sollte ihren Bericht über die Möglichkeiten einer europäischen Zusammenarbeit auf technologischem Gebiet bis zum 1. März dieses Jahres dem Ministerrat vorgelegt haben. In diesem sollte die Möglichkeit für die Beteiligung anderer europäischer Staaten an den Maßnahmen und der Zusammenarbeit auf den genannten Gebieten untersucht werden. Die deutsche Regierung bedauert, daß dieser Bericht wegen der Einwände zweier Partnerländer nicht rechtzeitig vorgelegt werden konnte. Sie legt großen Wert darauf, daß die Untersuchungen der am 31. Oktober 1967 eingesetzten Arbeitsgruppe sobald wie möglich abgeschlossen werden. Sie ist der Auffassung, daß nach Verabschiedung dieses Berichts durch den Ministerrat unverzüglich mit der Zusammenarbeit mit Großbritannien begonnen werden sollte. Ferner hat die deutsche Regierung auf der am 9. März dieses Jahres abgehaltenen Ratstagung vorgeschlagen, sobald im Rat Einigkeit darüber erzielt ist, in Verhandlungen über ein Arrangement mit den daran interessierten beitrittswilligen Staaten einzutreten, auf einer Konferenz der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaften und der übrigen interessierten Staaten auf Ministerebene auch die technologische Zusammenarbeit zu behandeln.Auch die französische Regierung ist der Auffassung, daß die gemäß der Ratsentscheidung vom 31. Oktober 1967 in den Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Arbeiten fortgesetzt werden sollten, damit schnell konkrete Projekte der Zusammenarbeit beschlossen werden können. Auch die französische Regierung ist grundsätzlich bereit, andere europäische Staaten, namentlich Großbritannien, an geeigneten Vorhaben und an der Ausarbeitung der technischen und finanziellen Einzelheiten teilnehmen zu lassen, hat es jedoch im Brüsseler Ministerrat vom 9. März dieses Jahres abgelehnt, sich hierzu schon des näheren zu äußern.
Zusatzfrage, Herr Kollege Saam.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung alle Möglichkeiten, die sie hat, in Anspruch nehmen, um möglichst bald den Widerstand der französischen Regierung zu beseitigen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung bemüht sich, in allen Fragen der europäischen Zusammenarbeit eine allseitige Bereitschaft herbeizuführen, die weitere Entwicklung, den Ausbau und die Erweiterung der Gemeinschaft zu ermöglichen. Das gilt selbstverständlich auch für Frankreich.
Eine Zusatzfrage, Kollege Moersch.
Herr Staatssekretär, welches Ressort ist nach Ihrer Meinung tatsächlich zuständig für diese Fragen, die Sie eben beantwortet haben, das Wissenschaftsressort, das Wirtschaftsressort oder das Auswärtige Amt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die praktische Behandlung dieser Fragen ist in erster Linie das Wissenschaftsministerium zuständig. Aber die Verhandlungsführung in allen diesen Dingen liegt beim Auswärtigen Amt.
Gibt es in der Bundesregierung eine klare Abgrenzung für die Zuständigkeit zwischen diesen drei Ressorts, vor allem zwischen Wissenschafts- und Wirtaschaftsressort, und ist das nicht eine besondere Schwierigkeit bei internationalen Verhandlungen, daß es diese klare Abgrenzung, wie ich meine, nicht gibt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt keine Schwierigkeiten, die auf Abgrenzungs- und Kompetenzfragen beruhen.
Könnte es sein — —
Einen Augenblick! Es tut mir besonders leid, daß Ihr Kontingent erschöpft ist, Kollege Moersch.
Wir kommen damit zur Beantwortung der Frage 55 des Abgeordneten Kahn-Ackermann:
Sieht die Bundesregierung angesichts des im vergangenen Jahr von der französischen Regierung gemachten Vorbehalts über das eigene Definitionsrecht eines Angriffs und der inzwischen verfügten Änderung der französischen Verteidigungskonzeption eine Beeinträchtigung der im Brüsseler Vertrag enthaltenen automatischen Beistandsverpflichtungen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Beistandsverpflichtung aus Art. 5 des revidierten Brüsseler Vertrages wird durch das im vergangenen Jahr vollzogene Ausscheiden Frankreichs aus der militärischen Organisation des Nordatlantikpaktes nicht berührt.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8291
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kahn-Ackermann.
Herr Staatssekretär, was halten Sie angesichts der Tatsache, daß es sich hier um eine automatische Beistandsverpflichtung handelt, von der Einschränkung, die man in Paris macht, daß man unter allen Umständen die Angriffshandlung selber definieren müsse, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um eine Angriffshandlung handelt? Ist das nicht eine Entwertung, eine Aufweichung einer automatischen Beistandsverpflichtung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde das als eine eigene Interpretation, aber nicht unbedingt als eine Aufweichung ansehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Moersch.
Herr Staatssekretär, wenn ein Vertragspartner, von dem wir Beistand erwarten, sich auf die eigene Interpretation beruft, ist dann nicht der ganze Beistand in Frage gestellt, wenn er wirklich notwendig wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dies wäre eine besonders pessimistische Interpretation, Herr Kollege Moersch. Die Bundesregierung hat bisher keinen Anlaß, diesen Pessimismus zu teilen.
Kommt das vielleicht daher, daß sie noch nicht scharf genug über diese französische Interpretation nachgedacht hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bestätige Ihnen gern, daß viele hervorragende Fachleute lange, eingehend und intensiv darüber nachgedacht haben, so daß diese Frage sicherlich der Begründung entbehrt.
Wir kommen dann zur Beantwortung der Frage 56 des Herrn Abgeordneten Strohmayr:
Treffen Pressemeldungen zu, nach denen die jüngste Asienreise des bayerischen Ministerpräsidenten und zweier bayerischer Staatsminister im Auftrag und auf Kosten der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wurde?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Die Reise des bayerischen Ministerpräsidenten nach Pakistan mit Zwischenstationen in Istanbul, Teheran und Kabul sowie einem kurzen Besuch in Nepal wurde weder im Auftrag noch auf Kosten der Bundesregierung durchgeführt.
Herr Ministerpräsident Goppel hat jedoch den Herrn Bundesaußenminister frühzeitig durch persönliches Schreiben über seine Reisepläne unterrichtet. Auf Bitte des bayerischen Ministerpräsidenten war das Auswärtige Amt mit den zuständigen Auslandsvertretungen bei der Vorbereitung der Reise behilflich.
Nach Mitteilung der Bayerischen Staatskanzlei waren der bayerische Ministerpräsident und seine Begleitung offizielle Gäste der besuchten Länder. Im übrigen ist über die Kosten dem Auswärtigen Amt nichts bekannt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Strohmayr.
Herr Staatssekretär, wie vereinbaren sich diese Reisen mit der Zuständigkeit der Vertretung der Bundesrepublik nach außen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Zuständigkeit der Bundesregierung für die Vertretung des Bundes nach außen wird durch solche Reisen nicht beeinträchtigt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nach
:
Pressemitteilungen, die heute früh in der „Augsburger Allgemeinen" erschienen sind, scheinen doch irgendwelche finanziellen Beteiligungen — es wird von 35 000 DM Kosten für die Reise gesprochen — der Bundesregierung vorhanden zu sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Strohmayr, falls Sie damit zum Ausdruck bringen sollten, daß das Bundesland Bayern nicht in der Lage wäre, Beträge an Reisekosten in dieser Höhe aus eigenen Mitteln zu bestreiten, könnte ich für die Bundesregierung Ihrer Auffassung nicht beipflichten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatsskretär, darf ich fragen, ob ähnliche Fragen von seiten der sozialdemokratischen Kollegen gestellt worden sind, als der Ministerpräsident des Landes Hessen, Zinn, Auslandsreisen unternommen hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin dessen nicht ganz sicher, Herr Kollege Dr. Marx, aber ich könnte mir vorstellen, daß ähnliche Fragen aus den Reihen der CDU/CSU- oder FDP-Fraktion damals gestellt worden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx.
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8292 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht allgemein für wünschenswert, daß auch Politiker der deutschen Bundesländer durch Auslandsreisen ihren allgemeinen Horizont erweitern und damit dazu beitragen, die Kenntnisse von den Zuständen in anderen Ländern in unserem Lande zu vertiefen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Reisen bildet, heißt es allgemein. Ich würde die Landesregierungen davon nicht ausnehmen.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des .Auswärtigen Amtes erledigt.
Wir kommen zur Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern.
Ich rufe die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Gerlach auf:
Welche Entscheidung hat die Bundesregierung auf den Brief des DGB-Vorsitzenden Ludwig Rosenberg betr. die Rechte des Personals der Europäischen Gemeinschaften getroffen?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung seiner Frage einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Auch der Herr Abgeordnete Prinz von Bayern hat sich mit schriftlicher Beantwortung seiner Frage 58
Ich frage die Bundesregierung, ob sie bereit ist, statt der in Aussicht gestellten Umwandlung des 17. Juni von einem Feiertag in einen nationalen Gedenktag den 17. Juni als einen jährlichen Wahlfeiertag festzulegen, an dem sämtliche in Bund, Land und Kommunen fälligen Wahlen einheitlich abzuhalten wären?
einverstanden erklärt. Auch hier liegt die Antwort noch nicht vor. Sie wird ebenfalls nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Nun die Frage 59 des Abgeordneten Dorn:
Gilt die von der Bundesregierung für erforderlich gehaltene Lohn- und Gehaltserhöhung um 4 bis 5% auch für den öffentlichen Dienst?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär des Bundesministers des Innern.
Die Antwort wird im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft gegeben, und zwar wie folgt:
Ihre Frage, Herr Kollege Dorn, knüpft offensichtlich an den Jahreswirtschaftsbericht 1968 der Bundesregierung an. Dort ist dargelegt, daß die angestrebte Ausweitung des privaten Verbrauchs im Jahre 1968 eine um 4 v. H. höhere Bruttolohn- und Gehaltssumme gegenüber 1967 erfordere. Dieses Ziel werde erreicht; wenn die effektiven Brutto-Stundenverdienste im Jahre 1968 um 3,8 % über dem Niveau des Jahres 1967 liegen.
Die Bundesregierung hat diese Orientierungsdaten ausdrücklich als gesamtwirtschaftliche Durchschnittszahlen bezeichnet, die selbstverständlich regionale und sektorale Differenzierungen einbeziehen. Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge wird die Einkommensentwicklung im öffentlichen Dienst den Ansätzen der Jahresprojektion gerecht werden.
Für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes haben die Tarifverträge vom 3. Dezember 1967 mit Wirkung vom 1. Januar 1968 eine Anhebung der Löhne und Vergütungen um etwa 3 v. H. zur Folge gehabt. Dieser Vomhundertsatz wird sich im Laufe des Jahres 1968 erhöhen, wenn auf Grund bereits begonnener bzw. zugesagter Verhandlungen strukturelle Verbesserungen in Kraft treten.
Als Beispiel nenne ich für Arbeiter den Sozialzuschlag, der mit Wirkung vom 1. Juli 1968 erhöht werden soll, und für Angestellte Verbesserungen der Eingruppierung zahlenmäßig großer Angestelltengruppen.
Für die Beamten sieht der dem Hohen Hause inzwischen zugestellte Entwurf eines Zweiten Besoldungsneuregelungsgesetzes neben strukturellen Verbesserungen für bestimmte Beamtengruppen eine allgemeine Erhöhung der Grundgehälter im Bundesbereich um mindestens 3 v. H. ab 1. Juli 1968 vor.
Es sind ferner die Auswirkungen des erst am 1. Juli 1967 in Kraft getretenen Ersten Besoldungsneuregelungsgesetzes, insbesondere die noch im Gange befindliche Anpassung der Länder an dieses Gesetz zu berücksichtigen.
Weitere Verbesserungen bringen ferner sonstige Strukturmaßnahmen, wie z. B. die Einführung von Zulagen für den Dienst zu ungünstigen Zeiten.
Im übrigen darf ich ganz allgemein noch darauf hinweisen, daß die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst im Jahre 1967, das ein Rezessionsjahr war, kräftiger gestiegen sind als im Durchschnitt der Privatwirtschaft.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dorn.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, nachdem der Bundeswirtschaftsminister in zwei mir vorliegenden Erklärungen gefordert hat, daß zur Belebung der Konsumwirtschaft im Jahre 1968 die Löhne und Gehälter um 4 bis 5 °/o steigen müßten, um diesen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen, daß die Beamten, Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes dann, wenn diese Argumentation zugrunde liegt, in gleichem Umfang an diesen Steigerungen teilnehmen müßten?
Ich hatte bereits Gelegenheit gehabt auszuführen, Herr Kollege Dorn, daß es sich nach Auffassung der Bundesregierung um Durchschnittszahlen handelt, die regionale oder sektorale Differenzierungen einbeziehen. Mit dieser Einschränkung würde ich dem Grundgedanken,
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8293
Parlamentarischer Staatssekretär Bendader Ihrer Frage offenbar zugrunde liegt, durchaus zustimmen. Im übrigen wird das Hohe Haus ja bei der Beratung des ihm vorliegenden Zweiten Besoldungsneuregelungsgesetzes Gelegenheit haben, sich mit der Frage im einzelnen zu beschäftigen und entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dorn.
Herr Staatssekretär, darf ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung auf jeden Fall beabsichtigt, keine Zurückstellung in diesem wirtschaftlichen Bereich für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegenüber der allgemeinen Wirtschaft im laufenden Kalenderjahr eintreten zu lassen?
Die Vorstellungen der Bundesregierung sind konkret in dem von mir bereits erwähnten Gesetzentwurf, soweit es die Maßnahmen in diesem Jahre im wesentlichen anlangt, vorgesehen. Nach Auffassung der Bundesregierung, die ich bereits dargelegt habe, trägt diese Zielsetzung auch den Zielsetzungen des Jahreswirtschaftsberichts Rechnung.
Wir kommen damit zur Beantwortung der Frage Nr. 60 des Abgeordneten Freiherr von Gemmingen:
Treffen Gerüchte zu, daß ein Teil der im Rahmen der humanitären Hilfe für Vietnam zur Verfügung gestellten Medikamentenspende, vor allem Blutplasma, unbrauchbar geworden ist?
.Der Fragesteller ist nicht im Saal. Wird die Frage übernommen? — Von Herrn Genscher.
Bitte, Herr Staatssekretär!
Im Rahmen der deutschen Medikamentenspende in Höhe von 17,5 Millionen DM wurden 65 verschiedene Arznei- und Verbandmittel in drei Teillieferungen nach Südvietnam geliefert und dort verschiedenen Hilfsorganisationen sowie dem vietnamesischen Gesundheitsministerium übergeben.
Zweifel an der Verwendbarkeit sind bei vier Mitteln aufgekommen, und zwar bei Trockenplasma, Macrodex, Periston und Mycipen. Daraufhin ist das Deutsche Arzneiprüfungs-Institut zur Feststellung der Brauchbarkeit eingeschaltet und der vietnamesische Gesundheitsminister vorsorglich gebeten worden, die weitere Verteilung dieser Medikamente zunächst einzustellen. Bei den erwähnten Mitteln Macrodex, Periston und Mycipen ergab sich kurzfristig, daß die Medikamente einwandfrei waren. Die Zweifel an der Verwendbarkeit des Trockenplasmas waren von den deutschen Ärzten in Huë geäußert worden, die nach der Infusion von Trockenplasma bei etwa 10 °/o der Patienten Schüttelfrost und Fieber bis 39 Grad registrierten; diese Reaktionen konnten aber immer gut beherrscht werden.
Die Ausgabe und Verteilung des Trockenplasmas wurde entgegen der deutschen Bitte vom vietnamesischen Gesundheitsminister jedoch nicht gestoppt, da von vietnamesischen Ärzten keine nachteiligen Folgen gemeldet wurden und auch Beobachtungen amerikanischer Ärzte keine negativen Anhaltspunkte ergaben. Dennoch hat die Bundesregierung, nachdem die Bedenken geäußert worden waren, der zweiten Arzneimittellieferung kein Trockenplasma mehr mitgegeben. Inzwischen ist die Haltbarkeitsdauer der gelieferten Trockenplasmabestände abgelaufen. Der vietnamesische Gesundheitsminister hat aus diesem Grunde die Hospitäler angewiesen, etwa noch vorhandene Restbestände zu vernichten.
Meine Damen und Herren, damit ist die Fragestunde beendet. Die Frage 123 der Abgeordneten Frau Freyh ist zurückgezogen. Die nicht erledigten Fragen werden schriftlich beantwortet, soweit sie nicht zurückgezogen sind.
Wir kommen zu Punkt 5 der Tagesordnung:
Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland
Das Wort in der Aussprache hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Der Bericht über die Lage der Nation im geteilten Deutschland, den der Bundeskanzler erstattet hat, war zutreffend. Wir begrüßen die Sicht der Probleme und stimmen den Aussagen zu. Zugleich begreifen wir es als. unsere parlamentarische Pflicht, auch Sorgen aufzunehmen, die im Volk draußen wirksam sind.Die Lage der Nation ist, so meinen wir, durch drei Dinge gekennzeichnet, einmal durch das andere Lebensgefühl einer neuen Generation und durch Zukunftssorgen mancher Gruppen, die sich bei einigen zur Existenzangst steigern; zum zweiten durch die Fortdauer der erzwungenen Spaltung Deutschlands und zum dritten durch ungenügende Fortschritte in der Gestaltung Europas.Die Lage ist gekennzeichnet durch Schwierigkeiten und durch Probleme, nicht aber durch eine Krise. Sie ist auch nicht gekennzeichnet durch generell ungelöste soziale Fragen. Der Bundeskanzler hat mit Recht auf eine gute Bilanz verwiesen, und wir könnten statt der Zahlen auch einen ganz unverdächtigen Zeugen, nämlich den Neomarxisten Professor Marcuse heranziehen, der in Berlin erklärt hat — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —: „Die Arbeiterklasse stellt nicht mehr die Klasse mit der Negation der bestehenden Bedürfnisse dar." Sie sei „in das System integriert". Das macht er nun dem System zum Vorwurf.Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat die erfreulichen Hinweise auf die soziale und die wirtschaftliche Lage nicht benutzt zum Lob für eine erfolgreiche Politik der Regierung oder für eine erfolgreiche Politik in der Vergangenheit. Er
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8294 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Barzelließ nämlich keinen Zweifel daran — und wir fanden das gut und redlich —, daß wir in einigen Bereichen ernste Probleme haben. Wir betrachten das Erreichte vor allem als eine Basis für weitere dringende Fortschritte, Fortschritte in der Richtung erstens verstärkter Bemühungen auf das Ziel hin, das wir früher einmal als „Aufstieg durch Bildung" formuliert haben; zweitens auf das Ziel einer besseren Wirtschaftsstruktur hin, die unsere Wirtschaftskraft und damit auch unsere sozialen und politischen Möglichkeiten verbessert; drittens auf das Ziel einer sachgerechten föderativen Ordnung und einer modernen Staatsverwaltung hin und viertens auf eine festgefügte Sozialordnung hin. — Zu diesen Problemen werden im einzelnen andere meiner Kollegen sprechen. Wir wollen nur sagen, daß wir diese Erklärung des Herrn Bundeskanzlers — so verstehen wir sie — als eine Erweiterung des Aufgabenkreises dieser Koalition betrachten. Wir begrüßen dies, und wir stimmen dem gern zu, wenn dies erweitert wird, denn wir haben uns vor großen Ansprüchen zu bewähren.Meine Damen und Herren, wir hören — ,gestern haben wir im einzelnen davon gesprochen, aber es gehört auch in diese Debatte — besorgte Fragen vieler Bauern über ihre Zukunft. Bergleute wollen Gewißheit. Altere Angestellte, Mittelständler und Sozialeinrichtungen wollen wissen, wie es weitergeht. Junge Menschen stellen kritische Fragen; spie bewirken Unruhe gegen Erstarrtes und gelegentlich auch Besorgnisse, von denen Wir neulich hier gesprochen haben. Der Krieg in Vietnam, das entstehende Antiraketensystem für die beiden Weltmächte, nicht aber für Europa, unid ,ein Horizont ohne echte Abrüstungschancen: alles dies wirft weitere Probleme auf und Fragen, die im Volk wirksam sind.Wir müssen eine Frage von besonderem Rang hinzufügen, denn viele Heimatvertriebene linden nur schwer Antwort auf die ihnen zugleich ,gestellten Fragen nach Wahrung ides Rechtes und nach Aussöhnung für eine bessere Zukunft.
Meine Damen und Herren, vor unserem Volk und vor seinem Parlament stehen also schwierige Fragen. Sie werden nur durch harte Alltagsarbeit und durch viel Mühe am Detail beantwortet werden können; nur dann werden sie sachgerecht zu lösen sein. Das gilt auch, wenn Herr Dutschke das als „Fachidiotismus" abwertet oder wenn Herr von Thadden meint, mit dem Gefühl eines mystischen Nationalismus ,auskommen zu können.
In diese Debatte gehört, daß wir Ja sagen zu dieser ganzen Nation, die — nach einem Wort einer evangelischen Denkschrift dieser Tage — „politische Wirklichkeit 'ist" ; und — ich zitiere welter — „es . werden bis auf weiteres auch keine Friedensordnungen und Gemeinschaftswerke gelingen, die sich nicht auf die Nationen als lebendige Gemeinwesen stützen können".Wenn wir nun über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland berichten, gehört hinzu, daßi wir hierbei weder übersehen, daß die Verantwortlichen 'im unfreien und unfreiwillig abgespaltenen Teil Deutschlands nun doch wieder von der einen Nation reden müssen, noch übersehen, daß die Menschen drüben nicht nur das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit uns haben, sondern daß sie auch das vom Herrn Bundeskanzler mit Recht bezeichnete Gefühl leitet, ein besonders schweres Schicksal gemeinsam durchgestanden zu haben. Wir stimmen also zu, wenn unsere Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur als die Voraussetzung der Lösung der deutschen Frage gesehen, sondern wenn sie als deren erste Bedingung begriffen wird; denn von dem, was wir hier tun, muß eine werbende Kraft für das ganze Deutschland ausgehen.
Dies ist die erste Bedingung der Lösung der Frage, um ,die es hier heute geht, und darum gehören alle diese inneren Dinge hier zunächst herein.Meine Damen und Herren! Zu unserer Wirklichkeit, die nun, wie wir alle soeben einmütig festgestellt haben, die erste Bedingung ist, gehört bei uns wie in den USA, wie in der Sowjetunion, wie in Polen, in der Tschechoslowakei und in vielen Ländern das Lebensgefühl einer anderen Generation. Wir werden das in späteren Debatten und auch in dieser Aussprache . hier noch im einzelnen behandeln müssen. Ich möchte für uns nur weniges vorweg dazu sagen: Dieses andere Lebensgefühl, oder, wenn man so will, dieses neue Bewußtsein, sollte ebenso wie das wachsende Engagement junger Menschen keinen von uns stören, sondern uns alle freuen. Oder war es denn nicht unser Wille, meine Damen und Herren, daß die nach uns Heranwachsenden andere Bedingungen haben sollten? Nämlich: keinen Krieg, keinen Hunger, keine Unfreiheit; ein breiteres Bildungsangebot, eine bessere soziale Sicherheit und auch Weltoffenheit? Wir haben dies gewollt, und wir haben dies erreicht. Deshalb ist kein Raum für den Vorwurf an Jüngere, es fehle ihnen die böse Erfahrung, die wir hinteruns haben und die wir den Künftigen ersparen wollten und wollen.
Ich gehe einen Schritt weiter: Für junge Menschen — der Herr Bundeskanzler hat das betont — ist eben Geschichte, was Alteren entscheidend für ihr politisches Bewußtsein ist. Und wenn ich so sagen darf, meine Damen und Herren: Manchem ist sein Bart heute, was anderen früher der Schillerkragen war.
Man muß hier die Kirche im Dorf lassen.So wollen wir hinhören, was diese unter anderen Bedingungen heranwachsenden jungen Menschen uns zu sagen haben. Denn natürlich bedarf hier vieles der Kritik; aber auch wir haben den jungen Menschen vieles zu sagen. .Zunächst aber noch dieses: Der Herr Bundeskanzler hat ja Anspruch darauf, daß wir auf die wichtigsten Fragen antworten, die er in die Debatte eingeführt hat. Er hat von der Notwendigkeit der
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8295
Dr. BarzelReform der Universität gesprochen. Wir unterstützen das, und wir wollen doch alle nicht vergessen, daß zum Intelektuellen gehört, auch manches in Frage zu stellen. Der Fortschritt der Wissenschaft gedeiht nicht, in dem man das Bestehende kopiert, sondern indem man es in Frage stellt, um so zu einer neuen Erkenntnis zu kommen. Daß das nun nicht halt macht vor uns hier, die wir doch auch der Kritik bedürfen; und auch nicht halt macht vor der Politik, — das ist doch nur zu natürlich.Wir haben für alles dies unlängst in der Aktuellen Stunde nur eine Grenze gesetzt. Wir haben die Grenze der Toleranz und des Verzichts auf Gewalt gesetzt. Und ich glaube — bei aller Kritik, die diese kurze Stunde finden mußte, weil kein Raum für Analysen war —, wir können doch feststellen, daß seither nennenswerte Ausschreitungen nicht passiert sind. So, meine Damen und Herren, ist nun wirklich eine Landschaft da, in der man entscheiden kann, was an Reformen nötig ist, in der man nun sprechen und nicht mehr notwendig nur mit Lautstärke versuchen muß, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.Meine Damen und Herren, ich möchte noch einen Schritt weitergehen, bevor ich mich an die andere Seite wende. Ich meine, mancher Verantwortliche in unserem Lande — und davon kann man keine Partei, auch uns nicht, ausnehmen — muß sich den Schuh anziehen, nicht ausreichend beachtet zu haben, was ihm rechtzeitig in anderer Form vorgetragen worden ist.Andererseits glaube ich: Auch wir haben den jüngeren Menschen etwas zu sagen. Für diese Debatte genügt — wir müssen auch noch zu den anderen Fragen kommen —: Viele der Nun-nicht-mehr-Zwanzigjährigen — und das ist hier wohl die ganz überwältigende Mehrheit — haben erfahren, Herr Genscher — und da werden wir übereinstimmen, unsere Generation ganz sicher —, haben erfahren müssen — und das ist etwas anderes als in Büchern nachlesen müssen —, wie gefährlich Utopien sein können und was alles gefordert und zerstört wird im Namen einer künftigen besseren, vollkommeneren Welt. Was hat nicht Stalin den Russen im Namen einer besseren Zukunft abverlangt? Was haben wir für das Ziel eines „Tausendjährigen Reiches" als Deutsche opfern müssen? Dies alles gehört zu unserer Erfahrung. Da muß man verstehen, daß wir den Jüngeren sagen: Bitte, das nun auf gar keinen Fall! Den Heranwachsenden ist dies natürlich Geschichte. Weil sie diese Erfahrung nicht haben, sind sie offener für neue Utopien und schenken Idealmodellen leichter Aufmerksamkeit.Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, dann müssen wir, glaube ich, einräumen, daß der politische Alltag der parlamentarischen Demokratie manchmal nicht nur Jüngere verstört; manchmal gefällt er uns selbst ja auch nicht, meine Damen und Herren.
Deshalb muß man doch einfach uns alle daran er-innern, daß niemals die Formel stimmt: heute eingroßer Entwurf plus morgen guter Wille aller gleichübermorgen eine neue Wirklichkeit. Die Formel stimmt nie,
sondern es stimmt immer, daß hier harte Werktags-arbeit mit dem Detail in mühsamen, langen grauen Tagen notwendig ist. Aber vielleicht machen wir nicht immer deutlich, wenn wir in diesen grauen Tagen sind, daß wir hier dabei sind, große Reformen zu verwirklichen. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist mit einer der. Gründe für manches Mißverständnis.Nun, die Demagogen der Revolution — wenige sind davon in unserem Lande tätig — wissen natürlich auch, daß nicht die Sonntagsrede, sondern die Werktagsarbeit die politischen Gehalte verändert. Aber sie tun so und sagen gerade jungen Menschen, man müsse nur einreißen und nur ihren Denkmodellen folgen, und schon würde alles anders werden. Meine Damen und Herren, natürlich würde alles anders werden, wenn einmal dem Festtagsrausch der Alltagsopfergang der Verführten folgt. Weil wir dies erlebt haben, sprechen wir so leidenschaftlich zu diesem Thema.Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Reden wir also miteinander, werfen wir keine Steine, argumentieren wir nicht von oben herab, und reden wir nicht von Reformen, sondern realisieren wir sie! Herr Bundeskanzler, wir unterstützen Ihr Vorhaben, diese Fragen auch unabhängig von Kompetenzen in das politische Gespräch einzufügen. Die Geschichte wird uns nicht nach Kompetenzen und Autonomien fragen, sondern danach, ob für unser Land geschehen ist, was jetzt notwendig ist.
Wir unterstützen Ihr Bemühen, Herr Bundeskanzler, und erklären nochmals, daß dies nunmehr aufgenommen ist in den erweiterten Pflichtenkreis der Reformen, die diese Koalition zu lösen sich vorgenommen hat.Meine Damen und Herren, viele Menschen in unserem Volk, unter ihnen viele junge Menschen, stellen die Frage nach dem Krieg in Vietnam. Krieg und Not greifen nicht nur ans Herz, sie bewirken auch, daß mancher besorgt ist um den Frieden der Welt. Im Atomzeitalter ist eben kein Krieg irgendwo in der Welt mehr eine Sache, die den entfernter wohnenden Mitbürger auf diesem Planeten nichts angeht. Der Krieg in Vietnam erfüllt unser Volk mit Sorge. Wir Deutschen wissen, was Krieg im eigenen Lande und was politische Spaltung wider den Willen der Nation bedeuten. Wir empfinden mit dem Volk von Vietnam und hoffen auf ein Ende des Krieges dort.
Die USA gaben den Südvietnamesen ihr Wort. Sie stehen dazu, in Südostasien wie in Europa.
Dieses Engagement lastet schwer auf der Regierung und dem Volk der Vereinigten Staaten, unseren Freunden. Wir wünschen überall in der Welt Frieden durch politische Lösungen. Frieden setzt guten
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8296 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. BarzelWillen aller Beteiligten voraus. Wir haben nicht vergessen, wer der Aggressor war und ist.
Kommunisten waren und sind es. Die USA sind friedens- und verhandlungsbereit. Die Verantwortlichen in Nordvietnam sind nicht bereit, durch Mitwirkung an der Einstellung der Kampfhandlungen die Voraussetzungen für Verhandlungen zu schaffen. Es ist eine schlechte Sache, Verteidiger und Angreifer nicht mehr zu unterscheiden oder gar allein den Verteidiger zu schelten.
Unsere Sache ist es nicht, in diesem Konflikt eine Position zu beziehen, welche unsere moralische oder politische Potenz übersteigt. Wir wünschen Frieden in Vietnam, und wir leisten humanitäre Hilfe, — dies und sonst nichts. Aber wir haben zu überlegen, ob wir vor uns selbst und vor den Ansprüchen, die wir an die Welt haben, eigentlich bestehen können, wenn wir das Ausmaß der täglichen menschlichen Not auf beiden Seiten sehen und damit unseren bescheidenen Beitrag zur humanitären Hilfe vergleichen. Der Bundeskanzler hat das ähnlich gesehen, und wir unterstützen diese Sicht, meine Damen und Herren.Ich komme damit zu einem zweiten Kapitel. Wir haben hier als Union so oft begründet, warum wir die Politik der europäischen Einigung für dringend halten und daß wir das ganze Europa meinen. So können wir uns gleich den konkreten Punkten zuwenden. Bevor ich es aber tue, möchte ich die Wünsche unserer Fraktion für die baldige Genesung des Herrn Bundesaußenministers in aller Herzlichkeit übermitteln.
Zu den konkreten Punkten! Erstens. Wir sind — und es ist wichtig, das in dieser Stunde zu sagen; wir haben es oft genug hier debattiert — nach wie vor für den Beitritt Großbritanniens, Irlands, Norwegens und Dänemarks zu den Europäischen Gemeinschaften und wir stehen den Wünschen Schwedens und Osterreichs wie denen der Neutralen positiv gegenüber. Frankreich ist in einigen dieser Punkte anderer Meinung. Da sich hier nichts erzwingen läßt, halten wir die Politik der Bundesregierung für richtig, durch Schritte auf dieses Ziel hin das jetzt Mögliche an europäischem Fortschritt zu erreichen. Wenn die Bundesregierung sich nach Gesprächen in Rom und in Paris entschlossen hat, einen eigenen Beitrag zur Lösung dieser europäischen Fragen zu leisten, so sehen wir darin nicht — wie manche Zeitungen im In- und Ausland —, daß damit die Bundesregierung den Schwarzen Peter übernommen hätte, sondern wir sehen darin ein erfreuliches Zeichen einer selbständigen und selbstbewußten deutschen Politik im Interesse Europas und ermuntern die Bundesregierung, das fortzusetzen
— das ist selbstbewußt, Herr Mommer —, abernicht zu zerstören. — Herr Mommer, Sie wollen andieser Stelle eine Zwischenfrage stellen: vielleichtist es wichtig, das noch anzufügen: Nicht zu zerstören, was europäisch wirksam ist, das Vorhandene auszubauen und möglichst durch handelspolitische Arrangements und durch andere Arrangements, durch praktische Schritte auf das Ziel hin und durch vermehrte technologische Zusammenarbeit die europäischen Bindungen zu verstärken, — das ist sinnvoller, als etwa im Schmollwinkel abzuwarten.Und nun will Herr Dr. Mommer eine Frage — ich vermute: aus dem Trotzwinkel — stellen:
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Mommer?
Herr Kollege Barzel, kennen Sie jemand — könnten Sie ihn nennen —, der das Bestehende zerstören wollte, der nicht vielmehr das Bestehende ausbauen wollte und die EWG nach Inhalt und nach den Institutionen verbessern möchte?
Dr. Barzel: Verehrter Herr Kollege Mommer, ich hatte befürchtet, daß jetzt eine Frage aus dem Trotzwinkel kommt. — Ich weiß, wie schwer es war, diesen europäischen Zustand zu erreichen, wie er jetzt erreicht ist. Wir wünschen ihn eben nicht zu stören, auch nicht durch verbale Erklärungen, die niemandem helfen.
Denn wir wollen — — Bitte!
Ich glaube, Sie haben meine Frage mißverstanden. Ich habe gefragt, ob Sie jemand von denen, die die gegenwärtige Haltung der Bundesregierung nicht für ganz glücklich halten — hier in unserem Lände insbesondere —, kennen, der das Bestehende zerstören möchte.
Meine Damen und Herren, in diesem Lande gibt es einige, welche die Bundesregierung bedrängen, mehr zu tun. Wir geben deshalb die Antwort, daß das jetzt Mögliche geschehen sollte. Es gibt natürlich auch manche, die nicht interessiert sind, dem europäischen Fortschritt zu dienen. Ich denke z. B. — da werden wir uns gleich wieder finden, Herr Mommer — an manchen rechtsradikalen Ton in diesem Lande. Das kann zerstören, meine Damen und Herren. Ich meine, Nationalismus, wo immer er auftritt, ist keine förderliche Haltung für die Europäer. Ich glaube, Herr Mommer, diesem letzten Satz werden Sie mit großem Vergnügen zustimmen.
Nun ein zweiter Punkt. Viele Europäer haben noch offene Fragen zum Vertrag über die Nichtverbreitung atomarer Waffen. Da Großbritannien eine militärische Atommacht ist, das Zustandekommen dieses Vertrages wesentlich fördert und Mitglied in der von diesem Vertrag berührten europäischen Gemeinschaft zu werden wünscht, würden wir es begrüßen, wenn sich Großbritannien zum sichtbaren
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Dr. BarzelAnwalt der europäischen Interessen in dieser Frage machen könnte.
Meine Damen und Herren, noch steht keine europäische Regierung und erst recht kein Parlament vor der Frage, ja oder nein zu dem jetzt in Genf erarbeiteten Text zu sagen. Es handelt sich um einen Entwurf, um eine Diskussionsgrundlage. So sehen wir das.Unsere prinzipiellen Erklärungen, solche Waffen weder erzeugen noch erwerben noch national über sie verfügen zu wollen, gehören zum fortgeltenden wesentlichen Bestand der außenpolitischen und völkerrechtlichen Positionen unseres Landes. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, die vitalen deutschen und europäischen Interessen, welche dieser Vertrag berührt, zäh zu verfolgen.Wir wünschen auch hier volle Gewißheit über die konkreten Pflichten, die ein solcher Vertrag allen Unterzeichnern auferlegt. Es wäre unredlich, zu verschweigen, daß wir ausreichende Gewißheit noch nicht in allen Fragen haben.Am 27. April 1967 haben wir hier diese Probleme sorgfältig diskutiert. Damals hat die Bundesregierung, wenn ich mich recht erinnere, mit Zustimmung des ganzen Hauses durch den Herrn Bundesaußenminister ihre Einstellung zum Vertragsvorhaben festgelegt. Es wurde damals von allen Seiten die Forderung erhoben, daß ein solcher Vertrag lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen dürfe. Die Bundesregierung erklärte, „nach Inhalt und Form ein Höchstmaß an Gewißheit" über die Vertragspflichten zu benötigen. Bei dieser Debatte hat der Herr Bundesaußenminister — wie er sich ausdrückte — „Maßstäbe" zur Beurteilung des Vertragsentwurfs aufgestellt. Er tat dies für die Bundesregierung und hat diese „Maßstäbe" in vier Punkten konkretisiert, die ich hier zitieren möchte:erstens die ungehinderte Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken,zweitens eine deutliche Verbindung zu allgemeiner Abrüstung,drittens Gewährleistung der Sicherheit undviertens keine Beeinträchtigung regionalerin unserem Fall: europäischer — Einigungsbestrebungen.Der Herr Bundesaußenminister hat damals mit unserer Zustimmung nachhaltig betont, daß die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland als moderner Industriestaat von der zivilen Nutzung der Kernenergie abhängt. Das heißt volkstümlicher: Unsere Arbeitsplätze morgen hängen davon ab, daß wir hier keinerlei Beeinträchtigung für die moderne Technik und Wissenschaft erfahren.
Der Herr Bundesaußenminister hat damals auch mitgeteilt — und dies ist wichtig —, daß künftig die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit atomaren Brennstoffen für solche wirtschaftlichen und friedlichen Zwecke ausschließlich über Euratom vorgesehen sei. Nun wirft aber schon der Vertragstext Fragen für die Zukunft des europäischen Kernenergiemarktes auf. Nach der Presse — offenbar ist im Auswärtigen Amt, wo der Minister nicht da ist, ein Teil von Journalisten früher und umfassender informiert worden als die Verantwortlichen dieses Hauses —
gibt es zu manchen unserer Fragen gewisse zusätzliche Interpretationen.
Uns. sind sie noch nicht bekannt. Gewißheit gibt nur — dies wollen wir hier gleich sagen: —, was öffentlich und verbindlich von den Zuständigen erklärt wird.
Denn hier geht .es nicht um eine Eintagsfliege, sondern um einen Vertrag für 25 Jahre, mit praktischunbeschränkter Laufzeit, meine Damen und Herren.Wir werden also zum rechten Zeitpunkt — das isst sehr wichtig — und miteinander — das ist ebenso wichtig — konkret zu prüfen haben, ob und wie die einvernehmlich bezeichneten deutschen Lebensinteressen durch .den Vertrag und durch eventuell erforderliche verbindliche Interpretationen berücksichtigt worden sind.Meine Damen und Herren, wir sagen lin dieser Frage ganz ruhig, was wir auch 'in anderen Zusammenhängen früher gesagt haben: Wir wünschen durch nichts und auch nicht durch diesen Vertrag in unserer Sicherheit beeinträchtigt, in der friedlichen Nutzung der Kernenergie behindert oder in der europäischen Entwicklung gestört zu werden. Damit uns keiner mißversteht: Wir meinen nicht nur den 'europäischen Besitzstand, sondern auch die Freiheit für weitere Schritte auf das politische Europa hin.Ein dritter Punkt. Der Bundeskanzler hat nicht ohne Sorge von dier einseitigen Verminderung der Zahl befreundeter Streitkräfte auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Wir wünschen auch weiterhin die militärische Anwesenheit befreundeter Truppen hier. Wir sind nüchtern genug, zu sagen, daß eben dies auch Währungsfragen aufwirft, — Währungsfragen freilich, die nicht allein die Deutschen, sondern alle Europäer betreffen; denn das, was wir hier haben, ist für Europa ein Stück wirksamer Anstrengung für die Sicherheit. Wir kennen diese Probleme und haben bisher immer Lösungen gefunden, und auch für die Zukunft wird unser guter Wille vorhanden sein.In diesen Zusammenhang gehören, wie wir meinen, zwei Bemerkungen. Einmal: Wir erstreben weiter das, was der Herr Bundesaußenminister hier einmal mit dem guten Wort „ebenbürtiges" Gespräch Europas mit den USA in Partnerschaft genannt hat. Wir sind an wachsender Zusammenarbeit interessiert.Zum anderen: Zur Aktivierung der Handelsbilanz der USA wäre unseres Erachtens eine Beschleunigung des in der Kennedy-Runde vereinbarten Zollabbaus ein guter Weg. Wir meinen, daß alle Maß-
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8298 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Barzelnahmen hinüber und herüber im Geiste der Freiheit und im Geiste des ungehinderten Welthandels und stabiler Währungen — hier wie dort — getroffen werden sollten und auch könnten.Ein vierter Punkt: Der Herr Bundeskanzler hat sich in seiner Erklärung ausdrücklich an die Tschechoslowakei gewandt. Man soll in Prag wissen, daß auch wir das unterstützen. Meine Damen und Herren, was sich dort und in Polen in diesen Tagen ereignet und uns erregt, sollte gleichwohl, wie ich meine, nicht Anlaß dieser Debatte werden, damit wir niemandem, der danach sucht, einen Vorwand für Einmischung liefern.
Zum fünften Punkt. An die Polen gerichtet, haben wir und andere immer wieder Zeichen unseres guten Willens gegeben. Für unsere Fraktion habe ich vor kurzer Zeit von dieser Stelle die Worte Konrad Adenauers an die Polen in die Erinnerung gerufen, mit denen er damals gute Nachbarschaft vorschlug. Leider ist immer noch, bis in die jüngsten Tage, das Echo aus Warschau sowohl auf die Erklärungen der amtlichen Politik wie auf andere Stimmen aus unserem Volk unversöhnlich. Oft erscheint dieses Echo— und das ist mir nicht ganz verständlich — mit Ulbrichts Forderungen belastet. Wir weigern uns— als Deutsche und Europäer — im Interesse beider Länder wie in dem Europas, diese abwertende Position als endgültige polnische Einlassung zu akzeptieren.Sollte es so sein, daß man in Warschau statt von Aussöhnung, die wir meinen, lieber von Interessenausgleich oder Begründung guter Nachbarschaft reden möchte, — nun gut, wir sind dazu bereit. Aber guter Wille muß auf beiden Seiten vorhanden sein. Wir kennen das Schicksal der Polen, wir verstehen die Lage dieses Nachbarlandes. In Warschau sollte man unsere ernsthaften Absichten nicht verkennen und sollte neu und selbständig über eine Verbesserung der Beziehungen nachdenken. Zum Verstehen hinüber und herüber gehört auch das polnische Verständnis für das Schicksal der vertriebenen Deutschen. Es ist bitter, die Heimat zu verlieren. Keiner ist berechtigt, ohne Zustimmung der Betroffenen den Weg in eine neue Zukunft zu gehen.
Wir haben eine klare Position im internationalen Recht, aber wir haben auch Verständnis für Polen, und nur wer den anderen versteht, wird einen Ausgleich herbeiführen können.Zum Sechsten: Der Herr Bundeskanzler hat mitgeteilt, daß die Bundesregierung an ihren Bemühungen festhält, Gewaltverzichtserklärungen auszutauschen. Wir unterstützen das und erinnern daran, daß ein solches Angebot schon in der Friedensnote vom März 1966 enthalten war. Es ist ganz selbstverständlich, daß der Verzicht auf Gewalt — das ist unsere Politik seither — auch gegenüber dem anderen Teil Deutschlands gelten muß und gilt. Gewaltverzicht — das muß man aber sagen, weil hier Mißverständnisse im eigenen Land und auch bei anderen aufkommen —, Gewaltverzicht heißt nicht Verzicht aufunsere Politik. Gewaltverzicht heißt, diese politischen Ziele ohne Gewalt zu erstreben. Nur bei voller Gegenseitigkeit erhält auch dieses Bemühen seinen möglichen Rang als Element für eine europäische Friedensordnung.Zum Siebten: Der Herr Bundeskanzler hat die Bereitschaft der Bundesregierung, die wir unterstützen, betont, auch gegenseitige Abrüstungsmaßnahmen und Fragen der Truppenverminderung in das internationale Gespräch einzuführen. Es ist seit langem die Politik der Union, die Lösung der deutschen Frage unter europäischen Aspekten und zusammen mit Abmachungen über die europäische Sicherheit zu suchen. Wir halten daran fest. Solche Abmachungen müßten sich auf das ganze Europa erstrecken. Sie müssen das Kräfteverhältnis insgesamt wahren, eine wirksame Kontrolle vorsehen, und sie sollten mit entscheidenden Fortschritten bei der Lösung der politischen Probleme in Mitteleuropa verbunden werden.Die Studie des Centre d'Etudes aus Paris zu diesen Fragen ist für uns von unseren Vorstellungen nicht nur weit entfernt, sondern steht in vielem geradezu diametral dazu. Sie ist für uns, weil zu eng und ohne die wirkliche Einheit am Schluß, nicht akzeptabel.Zum Achten: Es hat auch hier keinen Zweck, sich über die Lage zu täuschen: Wir leisten einen Beitrag zur Abschreckung im Bündnis, weil es eine kommunistische Bedrohung gibt. Dies muß man einmal wieder sagen, meine Damen und Herren, weil mancher das zu vergessen scheint. Unsere militärischen Anstrengungen sind nicht Ursache, sondern Antwort. Wir teilen die Meinung unserer Bündnispartner, daß die Bedrohung anhält, und wir wünschen über 1969 hinaus im Bündnis zu bleiben. Wir sagen dies auch, weil der Nichtverbreitungsvertrag, von dem wir vorher gesprochen haben, für mindestens 25 Jahre gelten soll. Wir stellen deshalb die Frage nach der künftigen Gestaltung unserer Sicherheit für eben diesen Zeitraum. Dabei wünschen wir völlig klarzumachen, daß uns die Absicht der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens — was immer da sonst eine Rolle spielen mag — für uns wegen unserer realen Lage zur Sicherung unserer Freiheit hier nicht ausreicht. Denn niemand kann übersehen, daß im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen eben diese Großmächte mit einem 'Veto gegeneinander sitzen und daß sie — aufs höchste gerüstet und gegeneinander abschreckend — in Europa, in unserem Lande, in der deutschen Hauptstadt einander gegenüberstehen.Meine Damen und Herren, wir sind bereit — der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen —, diese Lage der so harten Konfrontation überwinden zu helfen. Wir weisen aber noch einmal darauf hin, daß nicht wir in Deutschland an der Mauer in Berlin und entlang dem Todesstreifen auf Deutsche schießen lassen, sondern die drüben, die verantwortlich sind in Ostberlin.Ich komme damit zum dritten Abschnitt dieser ersten Einlassung meiner Fraktion zum Bericht des Herrn Bundeskanzlers über die Lage der Nation.
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Dr. BarzelWir meinen, daß dieses Problem nur mit dem Blick auf die weltpolitischen und die europäischen Bedingungen zur Lösung der deutschen Frage betrachtet werden darf. Alles andere ist, Herr von Weizsäcker weist mit Recht darauf hin, provinziell. Aber manchem ist offenbar der Blick auf die politische Lage der Nation, von der nun geredet werden soll, durch Wunschdenken verstellt.Meine Damen und Herren! Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung findet unsere Unterstützung. Wir halten sie für konsequent, wir halten sie für realistisch, und ,es gelang ihr, die Initiative in der deutschen Frage zu gewinnen und zu behalten. Und es gelang auch, manchem in der Welt und in Europa, der sich schon zu sehr mit der deutschen Spaltung abgefunden hatte, neue Lichter aufzusetzen. Aber auch diese Politik der Bundesregierung erfordert Beharrlichkeit, Geduld und ungeschminkte Einsicht in die Schwierigkeiten, welche der Lösung dieses Problems entgegenstehen, und deshalb halten wir es für nützlich, in dieser Debatte einige Akzente der realen Lage zu betonen.Der Herr Bundeskanzler hat zweimal an die Verantwortlichen in Ost-Berlin geschrieben. Er hat konkrete Vorschläge zur Erleichterung des Lebens im ganzen Deutschland gemacht. Die Bundesregierung hat ihre Bereitschaft erklärt, auch über andere Fragen mit den Verantwortlichen drüben zu sprechen, und sie hat den Staatssekretär im Bundeskanzleramt für Verhandlungen zur Verfügung gestellt.Die Antwort aus Ost-Berlin auf den ersten Brief war, so hat ,es der Herr Bundeskanzler mit Recht bezeichnet: „Alles oder nichts!" Die Antwort auf den zweiten Brief steht seit vielen Monaten aus. Der Brief des Kanzlers wurde drüben nicht veröffentlicht. Trotzdem bemühen wir uns, nicht maximale Fragen zu stellen, sondern praktische Schritte zu tun.Statt einer Antwort hierauf sind wir Zeugen einer ungewöhnlichen Anstrengung des Regimes drüben, eine neue Verfassung für den unfreien Teil Deutschlands in Kraft zu setzen. Diese Verfassung sieht in ihrem Artikel 8 Abs. 2 die Vereinigung des ganzen Deutschland „auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus" vor. Das heißt — und Ulbricht und andere erklären das noch viel unmißverständlicher als in dieser Formel der Verfassung —, daß man eben drüben die deutsche Einheit unter kommunistischem Vorzeichen wünscht. Dies ist die Antwort auf unser Bemühen um Ausgleich und Verständigung zu dieser Stunde.Ein anderer Akzent: Wir bemühen uns um Unterstützung unserer Freunde für unsere praktischen Schritte in Deutschland und zur europäischen Friedensordnung, und wir erkennen an, daß unsere Freunde diesem Wunsch entsprechen. Die europäischen Kommunisten dagegen haben in ihrer Karlsbader Erklärung vom Frühjahr 1967 — man muß sie wieder lesen, weil die ganze Politik einschließlich der Forderung der Sowjetunion, im Zusammenhang mit anderen Fragen, nur von diesem Dokument her erklärt werden kann — maximale politische Positionen gegen uns bezogen. Ich möchteaus diesem Karlsbader Dokument wenigstens einige der politischen Ziele der Kommunisten in Deutschland durch Zitat entnehmen. Da heißt es:die Anerkennung der Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen in Europa und insbesondere der Grenze an Oder und Neiße sowie der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten, die Verhinderung des Zutritts der Bundesrepublik zu Kernwaffen in jeglicher Form, darunter in der sogenannten europäischen multilateralen oder atlantischen Form,Anerkennung, daß das Münchener Diktat vom Augenblick seines Abschlusses an ungültig ist, die Normalisierung der Beziehungen zwischen allen Staaten und der DDR wie auch zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen der besonderen politischen Einheit Westberlins und der DDR,die konsequente Verteidigung und Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Dies bedingt die allseitige Unterstützung des Kampfes der fortschrittlichen Kräfte in der Bundesrepublik für das Verbot neonazistischer Organisationen und jeder revanchistischen Propaganda, für den Verzicht auf die Notstandsgesetze, für die Gewährleistung freier Betätigung für die friedliebenden Kräfte und die Legalisierung der KPD, den Abschluß eines Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen.Das, meine Damen und Herren, sind die Zielsetzungen der Kommunisten Europas gegenüber Deutschland. Das heißt, daß wir hier nicht nur alten Bekannten begegnen, sondern daß es wichtig ist, diese Liste einmal auf sich wirken zu lassen und sie nie zu vergessen, wenn wir über einzelne dieser Fragen reden.
Ich meine, es gehört dazu auch noch, festzustellen, daß dies offensive und agressive Ziele sind, daß nämlich für uns die Nichteinmischung in unsere inneren Angelegenheiten nicht gelten soll und daß wir statt dessen nicht einmal mehr die Not unserer Landsleute ins Gespräch bringen dürfen. Das steht in diesem Dokument. Meine Damen und Herren, dies alles atmet nicht den Geist der Entspannung, sondern das ist aggressive Politik.Gestern hat Walter Ulbricht das Verständigungsprogramm der Bundesregierung abgelehnt. Als Antwort auf den Bericht des Kanzlers hielt er eine Fernsehansprache. Das ging ziemlich schnell, und schon dies zeigt, Herr Bundeskanzler, wie gut Ihre Erklärung war und daß es gelang, die Bevölkerung drüben völlig richtig anzusprechen. Man wird nun drüben, aber wohl auch in Prag und in Warschau und sicher auch in Moskau, sorgfältig registrieren, daß Walter Ulbricht selbst Ihr Gesprächsangebot, Herr Bundeskanzler, über den Gewaltverzicht abgelehnt hat. Das wird man in der Welt registrieren. Wir können Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung nur ermuntern, sich durch solche Versuche, Propaganda statt Politik zu machen, nicht etwa von der ruhigen und sachlichen Linie der Initiative abbringen zu lassen; denn allein diese ruhige, sachliche Linie
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8300 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Barzelliegt im Interesse der Deutschen, aller Europäer und des Weltfriedens.
Meine Damen und Herren, wir haben diese Lage, die von Antagonismen und Kontroversen und Konfrontation gezeichnet ist, hier nicht etwa aufgeführt, um zu entmutigen — das habe ich eben dargetan —, und auch nicht, um irgend jemanden zu ermutigen, in die Startlöcher des Kalten Krieges zurückzukehren. Wir haben diese reale Lage nur dargetan, um Nüchternheit und klare Sicht auf das, was wirklich ist, hier in die Debatte einzuführen. Es ist gut, daß die Bundesregierung die Verantwortlichen in Pankow nicht zur Ruhe kommen läßt. Es ist gut, daß sie die europäischen Nachbarn in Mittel- und Osteuropa direkt anspricht. Wir begrüßen auch, daß die Bundesrepublik Gespräche mit der Sowjetunion nicht nur sucht, sondern führt. Wir lassen für heute die Frage unbeantwortet — es ist eine methodische Frage —, ob alles dies immer erfolgreich gleichzeitig oder gleichrangig betrieben werden kann. Aber das, was jetzt konkret geschieht — und damit haben wir für heute zu tun —, findet unsere Unterstützung.Meine Damen und Herren, es ist wohl jedem deutlich — dies gehört auch in die Debatte —, daß die Lösung der deutschen Frage, wenn man diese Konfrontation sieht, unsere eigenen Kräfte übersteigt und daß es sich hier um ein weltpolitisches Problem handelt, zugleich aber um die fundamentale Frage, ohne deren Lösung es eine europäische Friedensordnung nicht geben kann.Im Zusammenhang mit dieser Erörterung derDeutschlandpolitik wollen wir noch zwei Anmerkungen machen. Der Bundeskanzler hat von Berlin gesprochen. Die Bundesregierung hat die Ostberliner Reisebeschränkungen dieser Tage als rechtswidrig zurückgewiesen. Dies deckt sich mit unseren Auffassungen und ist wieder ein Zeichen, wer hier eigentlich Entspannung und wer hier Spannung sucht.Wir wollen aber noch ein anderes in dieser Debatte sagen, weil das für die Menschen in Berlin, glaube ich, wichtig ist. Wir, die Bundestagsfraktion der CDU/CSU, wollen alles tun, um Berlin politisch und wirtschaftlich zu unterstützen. Solange die bedrohte Existenz Berlins auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet anhält, solange das freie Berlin auf wirtschaftliche Hilfe aus dem übrigen Bundesgebiet angewiesen ist, ebenso lange werden wir das freie Berlin auch wirtschaftlich unterstützen.
Die materiellen Hilfen des Berlinhilfegesetzes, über das die Beratung begonnen hat, werden, soweit es an uns liegt — aber ich denke, es wird keiner im Hause scheitern lassen —, auch nach Ablauf des Jahres 1968 fortgesetzt werden. Wir werden dabei die bisher gemachten Erfahrungen auswerten und, wo notwendig, Verbesserungen anbringen oder, wo notwendig, Mißstände beseitigen. Die Gespräche hierüber zwischen dem Berliner Senat und den Verantwortlichen hier haben begonnen. Wir werden uns um rechtzeitige Vorlage eines Gesetzentwurfs und um rechtzeitige Verabschiedung hier bemühen. InBerlin jedenfalls soll man wissen: Wir bleiben fest entschlossen, den politischen und den ökonomischen Preis für die Freiheit und die wirtschaftliche Sicherheit unserer Mitbürger dort zu zahlen.
Zum anderen — als einen zweiten konkreten, aber letzten Punkt in diesem gesamtdeutschen Kapitel --: Vor einigen Tagen ist hier im gesamtdeutschen Ausschuß eine Einigung in der Frage des Zeitungsaustausches erreicht worden. Wir begrüßen die gefundene Lösung. Ich gucke jetzt Herrn Kollegen Eppler an, weil er uns neulich eine Frage hier gestellt hat, die ich im Grunde versuche, jetzt zu beantworten, weil sie prinzipiell war. Die gefundene Lösung ist eine Vorleistung auf Zeit — das muß man so bezeichnen — mit der Absicht, dadurch von drüben eine Gegenleistung zu erwirken. Wir wollen das deshalb zum Anlaß nehmen, um über diesen Punkt hinaus eine generelle Aussage zu machen. Für uns ist es eine prinzipielle Überlegung, die nicht nur für diese Fragen gilt, immer von West nach Ost auf .Gegenleistung zu sehen. Es wird nicht immer möglich sein, die Gegenleistung gleichzeitig oder gleichrangig zu erhalten. Es wird auch Situationen geben, in denen man getrost einmal einen Schritt vorangehen kann. Aber prinzipiell und methodisch bleibt die Frage nach der Gegenleistung zu stellen, und das Ziel, sie zu erreichen, bleibt eine Aufgabe für die deutsche Politik.
Ich hoffe, wir sind da einig; denn wenn wir das nicht wären, wäre es schrecklich. Dann kommen wir am Schluß z. B. zu Gewaltverzichterklärungen, — und an der Mauer in Berlin wird weiter geschossen. Das wäre natürlich der Widersinn einer vernünftigen Politik.Ich möchte zum Schluß kommen. Ich weiß, Herr Kollege Mommer, daß ich heute zum erstenmal in dieser Periode meinen Vorsatz, nicht länger als 30 Minuten zu sprechen, unterbrochen habe. Aber es war der Wunsch meiner Fraktion, daß ich zu allen diesen Fragen Stellung nehme. Ich wollte es nur selber sagen, weil möglicherweise einer das nachher kritisiert. Es ist die Ausnahme.
— Sie haben mir damals den Zuruf gemacht, Sie würden darauf achten. Es ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.Meine Damen und Herren, unter unseren Augen verändert sich die Welt. Neue Bedingungen stellen uns vor neue Notwendigkeiten, und wir haben zu sehen, ob alles dies technisch, militärisch, politisch, strategisch, ob alles dies, was wir mit wachem Blick sehen und mit Aufgeschlossenheit beantworten, neue Möglichkeiten für die Lösung auch der deutschen Frage beinhaltet. Denn was immer sich ändern mag: Es bleibt unser Wille — und ich hoffe, der dieses ganzen Hauses — nach der Einheit, so wie einmal Abraham Lincoln es formuliert hat, als er sagte: „Daß die Nation durch Gottes Hilfe eine Wiedergeburt ihrer Freiheit erlebt und die Regie-
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Dr. Barzelrung des Volkes durch das Volk und für das Volk nicht aus der Welt verschwindet."Wir begrüßen die schöpferische Unruhe in unserem Volk. Wir danken all denen, die sich mit uns sorgen und Vorschläge an uns machen. Wir sind als Nation gefordert und herausgefordert, dieses Europa mit zu gestalten, damit es seinen Beitrag leistet für eine Friedensordnung in der Welt. Das wird nur gehen durch harte und nüchterne Arbeit, damit eines Tages alle Menschen wegen ihrer Wirklichkeit in der Welt den Satz sagen können, den der Arbeiter Engelhard kurz vor dem 17. Juni 1953 als Forderung erheben mußte. Er hat damals gesagt — und wir machen uns dies zu eigen —: „Wir wollen leben wie die Menschen — weiter wollen wir nichts!"
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt.
Meine Damen und Herren und, Herr Präsident, vielleicht darf man heute ausnahmsweise bei dieser Gelegenheit auch hinzufügen: Liebe Landsleute in der DDR und in der Bundesrepublik! Die Sozialdemokraten begrüßen, daß die Bundesregierung unsere schon 1965 erhobene Forderung nach einem jährlichen Bericht über die „Lage der Nation im geteilten Deutschland" in dieser Woche zum erstenmal erfüllt hat. Nach unserer Vorstellung, der sich dann im vergangenen Jahr auch die anderen beiden Fraktionen angeschlossen haben, soll das Ziel dieses Berichtes sein — ich zitiere —:die Kenntnis nüchterner Tatsachen über das Leben in beiden Teilen Deutschlands zu vermitteln und uns in den Stand zu setzen, alle Möglichkeiten mit Geduld und Sachkunde auszuschöpfen, den Menschen im anderen Teil Deutschlands wirtschaftlich, politisch und kulturell zu helfen und nach neuen Verbindungen oder Gemeinsamkeiten zu suchen, um auch dadurch die Wirkungen der Maßnamen des Systems dort drüben auf das unvermeidliche Maß zu reduzieren, um auch dadurch die Notder Spaltung zu mildern, um auch dadurch die weitere Teilung des Landes zu bremsen und die Lebensfähigkeit als Nation zu erhalten.Natürlich werden wir alle bei diesem ersten Versuch diesen Zielen noch nicht ganz gerecht werden, die heute vor einem Jahr mein Freund Franz Seume formuliert ,hat. Aber wir wünschen, die Erklärung der Bundesregierung ausdrücklich zu begrüßen und unsere grundsätzliche Übereinstimmung hier zu bekunden.Wir Deutschen stehen in der geschichtlichen Kontinuität unserer Nation. Man kann das in einem Bild sagen. Als 1945 unsere Städte zerstört waren, da wäre es möglicherweise leichter gewesen, die Ruinen verfallen zu lassen und die neuen Städte nebenan auf der grünen Wiese aufzubauen. Aber niemand hat das getan, sondern wir haben die Trümmer weggeräumt, und wir haben die Städte genau dort wieder errichtet, wo sie schon seit Jahrhunderten gestanden hatten. Sie haben dieselben Namen behalten, die schon in den alten Urkunden erwähnt sind. Auch die deutsche Geschichte kann für uns nicht mit dem Jahr 1945 beginnen. Sie beginnt auch nicht mit 1933 oder mit 1918 oder mit 1871. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hat schon Jahr- hunderte vorher bestanden, und keiner von uns kann sich aus dieser deutschen Geschichte fortstehlen.
Das gibt auch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zu, wenn sie z. B. im Text ihres neuen Verfassungsentwurfes für die DDR von einer deutschen Nation spricht. Die SED muß das 'ja auch zugeben; denn die Landsleute in der DDR empfinden sich als der einen deutschen Nation zugehörig. Wie sonst hätte es wohl geschehen können, daß Walter Ulbricht kürzlich im Berliner Friedrichstadt-Palast auf eine Frage antworten mußte, die man sich bestellen mußte, um zu versuchen, auf eine Frage, die im Volk verbreitet ist, eine Antwort zu geben. Die Frage lautet: „Wird nicht doch durch die sozialistischen Gesetze der DDR die Spaltung Deutschlands vielleicht vertieft werden?" Walter Ulbricht wird nicht nur diesem einen Frager, sondern er wird uns allen, allen Deutschen diese Frage beantworten müssen. Die neue Verfassung der DDR ist in zwei Punkten einzigartig gegenüber den Verfassungen der ganzen Welt, auch gegenüber den Verfassungen anderer kommunistischer Staaten. Die neue DDR-Verfassung polemisiert in ihrer Präambel gegen einen ausländischen Staat, gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, und sie spricht in zwei Artikeln, in Art. 6 und und in Art. 7, eine verfassungsrechtliche Bindung der DDR an die Sowjetunion aus. Das gibt es nicht einmal sonstwo im kommunistischen Bereich. Es bedeutet, daß die SED den Ost-West-Gegensatz ausdrücklich zur festen Grundlage und zum Bestandteil ihrer Verfassung machen will.
Man sagt drüben, der neue Verfassungstext solle der politischen Wirklichkeit in der DDR besser entsprechen als der alte. Damit macht man zugleich deutlich, wie meilenweit sich die politische Wirklichkeit drüben heute von der theoretisch noch geltenden 1949er Verfassung schon entfernt hat.Im neuen Text fehlen die Bestimmungen zum Schutz des Bürgers vor der Staatsgewalt, und es fehlen die Bestimmungen über das parlamentarische System. Das Verbot einer Pressezensur wird beseitigt. Die Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt werden nur vorgetäuscht. In der Bundesrepublik schützt den Bürger ein Katalog von persönlichen Grundrechten, dessen eventuelle Verletzung von unseren Gerichten überprüft wird, jedes Jahr, jeden Monat, in vielen Fällen. In der DDR dagegen legt der Staatsrat, d. h. die oberste politische Gewalt, die Verfassung selber und endgültig aus. So steht es in dem neuen Verfassungstext.In der Bundesrepublik besteht ein Demonstrationsrecht, das ein Recht zur Demonstration auch für
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Schmidt
solche Ziele gibt, die weder der Regierung noch der Mehrheit, noch der Mehrheit des Volkes gefallen wollen. Dies Demonstrationsrecht wird bei uns im Augenblick zum Teil etwas exzessiv benutzt
— strapaziert —; dessenungeachtet aber wird dieses Recht von unseren Gerichten durchgesetzt, siehe das Verwaltungsgericht in Berlin.
In der DDR gibt es kein Demonstrationsrecht. Dort werden Demonstrationen nicht erlaubt, sondern sie werden je nach den politischen Zielen befohlen.Während nach der alten Verfassung der DDR Freizügigkeit „an einen beliebigen Ort" gewährt war, heiß„innerhalb des Staatsgebietes der DDR". Freizügigkeit gelteBundesrepublik gibt es solche Beschränkungen natürlich nicht.In der neuen Verfassung wird das Recht auf die freie Wahl des Berufs gestrichen. Bei uns hat jedermann das Recht auf freie Berufswahl, und die Gerichte wachen darüber. In der neuen DDR-Verfassung ist das Streikrecht beseitigt, das früher ausdrücklich gegeben war, wenngleich es in der politischen Wirklichkeit drüben Streiks natürlich nicht geben darf. Wir hingegen bemühen uns, das für die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik bestehende Streikrecht auch für die Fälle der Notstandsverfassung grundgesetzlich zu verankern.Die neue Verfassung der DDR hat auch die Bestimmungen über das parlamentarische System und über das Wahlsystem gestrichen, die längst von der ausschließlichen Führungsrolle der SED abgelöst worden sind. Niemand hat in der DDR die Freiheit, eine parlamentarische oder eine außerparlamentarische Opposition zu begründen oder zu organisieren. Unser Grundgesetz gewährt diese Freiheit für jedermann, und es wird ja tatsächlich bei uns sowohl die parlamentarische als auch die außerparlamentarische Opposition mannigfaltig organisiert.Walter Ulbricht hat das Prinzip der Gewaltentrennung aufgehoben. Die Staatsspitze kann auch ohne Volkskammer Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Die Staatsspitze kann ganz allein den Verteidigungszustand erklären und kann völlig unkontrollierte unumschränkte Notstandsvollmachten ausüben.
Alles, meine Damen und Herren, was ich hier soeben aufgezählt habe, sind ganz nüchterne Tatsachenfeststellungen. Ich habe auf jede Polemik und jede Wertung verzichtet, ganz im Gegensatz etwa zu der Rede, die der Kollege Barzel soeben schon mit Recht zitiert hat, die gestern der Staatsratsvorsitzende drüben im Fernsehen gehalten hat. Angeblich gilt der Wille des Volkes, aber was der Wille des Volkes ist, bestimmt der Staatsrat. Wir haben uns hier in diesem Hause über die tatsächliche Machtverteilung drüben niemals getäuscht.Auf anderen Gebieten hingegen wäre es vielleicht vermessen, wenn wir hier glaubten, vollgültige Aussagen über die Lage in der DDR machen zu können. Einige falsche Auffassungen auf der einen und auf der anderen Seite sind nur durch nüchterne Statistik zu entkräften. Wir sollten jedenfalls einige Grundtatsachen kennen.Die DDR ist inzwischen an die siebente Stelle der Industriestaaten der Welt aufgerückt. Dahinter steckt eine große Leistung, an deren Anfang kein Marshall-Plan, sondern rücksichtslose Demontage, Reparationen und Entnahmen gestanden haben. Diese Leistung — auch der Bundeskanzler hat das unterstrichen — ist mit Recht eine Quelle des Stolzes und damit auch des Zusammengehörigkeitsgefühls der Menschen in der DDR.Ich denke, wir wollen uns bei Betrachtung der Lage vor Propaganda hüten und deshalb z. B. auch feststellen, daß die Versorgung etwa mit langlebigen Gütern wie Fernsehgeräten oder Kühlschränken oder Waschmaschinen oder Motorrädern und Kraftfahrzeugen in der DDR wesentlich verbessert wurde.Auf der anderen Seite werden leider die Rentner kaum irgendwie an der Steigerung des Lebensstandards beteiligt. Zwischen 1960 und 1966 hat sich in der DDR die durchschnittliche Altersrente von 146 auf 163 Mark erhöht, d. h. um etwa 12% innerhalb von sechs Jahren. In der Bundesrepublik hat sich die durchschnittliche Altersrente von 218 auf 326 DM erhöht, d. h. um rund 50%. Ähnliches gilt für die Invalidenrenten, die Witwenrenten und die Waisenrenten sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite.In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht verschweigen, daß jedenfalls die Mieten, Verkehrsleistungen und zum Teil auch Grundnahrungsmittel drüben billiger sind als in diesem Teil des Landes. Im Vergleich zu anderen kommunistischen Staaten liegt der durchschnittliche Lebensstandard in der DDR in der Spitzengruppe der kommunistischen Staaten, wie auch unser Lebensstandard in der Spitzengruppe der westeuropäischen Staaten liegt. Ich brauche dabei wohl nicht zu belegen, daß es nach wie vor ein allgemeines West-Ost-Gefälle hinsichtlich des Lebensstandards gibt.Unbestreitbar erscheint mir, daß im Vergleich zur Bundesrepublik das Bildungs- und Ausbildungswesen in der DDR auf manchen Gebieten moderner ist — auf manchen Gebieten. Allerdings ist die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems der DDR von einem ganz anderen Menschenbild aus entwickelt worden. Die ideologische Erziehung im Sinne der Stärkung „des sozialistischen Bewußtseins" führt zu einer für Diktaturen typischen Einengung der Urteilsfähigkeit jener Menschen und zu einem völlig einseitigen Weltbild, das sie zwangsläufig gewinnen müssen. Infolgedessen zeichnen sich gerade in den jüngeren Generationen wahrscheinlich die stärksten Unterschiede zwischen den beiden Teilen unseres Landes ab. Diese jüngeren Generationen haben innerhalb der DDR ausschließlich totalitäre Staatsgewalt erfahren. Ein Übermaß
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an politischer Beeinflussung durch FDJ und Schule, durch Beruf und durch ideologischen Druck aller möglicher Art hat sie allerdings sehr weitgehend und vielfältig zu einem Arrangement geführt, ohne daß sie sich engagieren, zu einem Arrangement mit den bestehenden Verhältnissen, in manchen Fällen durchaus auch zum Versuch der inneren kritischen Unabhängigkeit. Viele junge Leute in der DDR sind heute aber — auch das muß man wohl wissen — überzeugte Kommunisten.Für die ganze Jugend der DDR gilt jedoch, daß . sie der Bundesrepublik ziemlich kritisch gegenübersteht. Ihr fehlt vielfach genauso das Einfühlungsvermögen in unsere Gesellschaftsordnung, wie uns hier vielfach die Maßstäbe und die Begriffe fremd sind, fremd sein müssen, die in der DDR gelten und die dort in die Köpfe Eingang gefunden haben. In diesem Zustand liegt Gefährdung. Beide Teile müssen sich befähigen, einander zu begreifen, so denken wir. Auch dies gehört zur innerdeutschen Friedenspolitik.
Es wäre übrigens verwunderlich, wenn die Welle der Unruhe, der Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen, die gegenwärtig durch alle großen Industrienationen der Welt geht, vor der DDR haltmachen würde. Es könnte sein, daß die Jugend der DDR in sich dieselben Zweifel aufsteigen fühlt, wie das bei vielen Altersgenossen in Warschau oder Prag der Fall ist oder — unter ganz anderen Bedingungen — auch der Fall ist in Kalifornien oder lin Rom oder in Amsterdam oder in Westberlin. Dieser von mir im Augenblick nur zu vermutenden Gemeinsamkeit ,der Unruhe der jüngsten Generationen in beiden Teilen des Landes entspricht aber nun eine andere Gemeinsamkeit an a 11,e, n Generationen in beiden Teilen des Landes. Herr Kollege Barzel hat mit Recht davon gesprochen, und auch ich möchte dazu beitragen, daß uns dies als Gemeinsamkeit ins Bewußtsein gehoben wird: Unser ganzes Volk ist sich einig in der Sorge um Vietnam. Aus der schrecklichen Kriegs- und Nachkriegserfahrung empfindet: das ganze deutsche Volk eine tiefe Solidarität mit den Opfern ,des Knieges dort, mit den Zivilisten und den Soldaten im Norden wie im Süden, Solidarität auch wegen des :dreißigjährigen Ringens um Selbstbestimmung jenes Volkes. Wir Deutschen wissen, daß Kriege keine Mittel zur Lösung politischer Probleme sind. Wir alle sind für eine Politik des Friedens, des Verzichts auf Gewalt bei der Austragung politischer Gegensätze. Wir alle wissen aber auch, daß der Frieden nur gesichert werden kann, wenn man die militärische und wenn man die politische Sicherheit organisiert, international organisiert.
Deswegen unterstützen wir die Forderung der Vereinten Nationen, die Forderung der Kirchen, die Forderung vieler Regierungen in der Welt nach Einstellung der Kampfhandlungen in ganz Vietnam, im Norden wie im Süden. Wir fordern die Beteiligten auf, auf dem Verhandlungsweg zu einer politischen Lösung zu gelangen. Millionen von Deutschen meinen, daß der Weg zu Verhandlungen durch Beendigung der Bombenangriffe im Norden frei gemacht werden muß und daß dem unverzüglich die Waffenstillstandsverhandlungen für das ganze Land folgen müssen.
Millionen von Deutschen in beiden Teilen des Landes fürchten eine geographische und fürchten eine weltpolitische Ausweitung dieses Krieges. Das amerikanische Volk und seine Regierung sind sich, wie uns scheint, dieser Sorgen in der ganzen Welt wohl bewußt. Und wir müssen wohl nicht noch einmal sagen, daß auch wir gute Freunde der Amerikaner bleiben wollen. Wir wissen auch — auch das müssen wir wohl nicht noch einmal sagen —, daß wir um unserer eigenen Sicherheit willen auf sie angewiesen bleiben. Aber gerade um der Freundschaft willen darf man den eigenen Freunden gegenüber nicht feige sein damit, das zu sagen, was man wirklich denkt.
Anders kann nämlich Freundschaft nicht aufrechterhalten werden. Unsere Freunde drüben in Amerika müssen hören, was uns bewegt. Allerdings können wir ihnen ihre Entscheidungen, die schwierig und komplex genug sind, wirklich nicht abnehmen. Wer etwa im Lande draußen von einer deutschen Vermittlerrolle träumt — ich stimme dem Kollegen Barzel in diesem Punkt völlig zu —, der hat freilich euphorische Vorstellungen von unseren politischen Möglichkeiten.
Es gibt aber andere Dinge, die wir tatsächlich tun können. Ich wünschte mir, daß von dem großen Aufwand an Energie in vielen Demonstrationen und Versammlungen draußen wenigstens etwas greifbar und zählbar der karitativen Hilfe für die Menschen in beiden Teilen Vietnams zugute käme.
In beiden Teilen! Unsere Kirchen und unsere karitativen Verbände geben uns allen hierin ein Vorbild. Wir möchten das bei dieser Gelegenheit ausdrücklich einmal sagen.Auf der anderen Seite gibt es aber auch Menschen, mit denen wir Sozialdemokraten jedenfalls nichts gemein haben wollen. Wer in der Bundesrepublik auf den militärischen Sieg oder auf die militärische Kapitulation einer Seite in Vietnam setzt, der verlängert diesen Krieg.
Vielleicht ist es das erstemal — Herr Präsident, wenn Sie erlauben —, daß in diesem Saal Mao zitiert wird.
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Ich zitiere das für einige unserer jungen Studenten .draußen, die über Vietnam meinen, alles übrige außer acht und außer Blick lassen zu dürfen. Es handelt sich um die Pekinger Ausgabe in deutscher Sprache, für uns Deutsche gedruckt, im Kapitel
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„Denkweisen und Arbeitsmethoden". Da findet sich folgender Satz:Die Dinge in der Welt sind kompliziert. Sie werden von allen möglichen Faktoren bestimmt. Man muß die Probleme von allen Seiten betrachten und nicht nur von einer einzigen.
Das sei den Studenten, die sich in ihrer antiamerikanischen Kritik auf Mao berufen, in ihr Stammbuch geschrieben.
Gestatten Sie eine Frage? — Herr Abgeordneter Barzel, bitte!
Herr Kollege Schmidt, würden Sie vielleicht das Vorlesen aus diesem Buch noch etwas ergänzen, indem Sie einige Seiten vorher das Zitat von Mao verlesen: „Alle politische Macht kommt nur aus den Gewehrläufen!"
Herr Barzel, Sie werden ja sicherlich nicht geglaubt haben, daß ich im Grunde
mir das zu eigen machen wollte, was insgesamt in diesem Buch steht. Das, was ich zitiert habe, ist zweifellos ein Gemeinplatz.
Daß man die Dinge von allen Seiten sehen muß, ist ein Gemeinplatz. Aber es ist manchmal notwendig, einigen Wirrköpfen in Deutschland mit diesen Grundwahrheiten und Grunderfahrungen des Lebens entgegenzutreten.
Ich möchte mich auch noch ganz deutlich für meine Fraktion von einer anderen Gruppe von Menschen distanzieren, die in Deutschland über Vietnam reden. Wer gegen den Krieg in Vietnam protestiert aber über seiner Tribüne, von der er redet, ein Plakat, ein Transparent mit der Forderung: Schafft viele Vietnams auf der Welt! aufhängen läßt, der ruft damit mutwillig zum Kriege auf, und mit dem haben wir moralisch nichts gemein.
Vielleicht sollte übrigens meine Fraktion bei dieser Gelegenheit dem Hause mitteilen, daß wir die Absicht haben, einlge unserer Kollegen, wie das ja auch sonst schon üblich war, demnächst wieder zu bitten, in Südostasien die Tatsachen an Ort und Stelle zu prüfen, sie von allen Seiten zu sehen, sie nicht nur von der südlichen, nicht nur von der westlichen und von der östlichen, sondern auch von der nördlichen Seite zu betrachten.Nun kann man in einer solchen Debatte nicht vollständig sein wollen. Aber eine Gemeinsamkeit in beiden Teilen des Landes möchte ich hier noch hervorheben dürfen. Ich meine die Kirchen und das Kirchenvolk. Im Westen stößt die Religion vielfach auf materielle Saturiertheit, im Osten wird ihre Ausübung vielfältig durch ideologischen Anspruch und Zwang eingeengt. Gleichwohl haben beide Kirchen in beiden Teilen des Landes einen Prozeß der Besinnung und der Reform in Gang gebracht, der erst im Anfangsstadium steht. Von diesem Prozeß werden fruchtbare Impulse, so denken wir, auf das ganze gesellschaftliche Leben ausgehen. Das Toleranzgebot, das in der katholischen Kirche. am Anfang dieser Erneuerungsbewegung von Johannes XXIII. für unser ganzes Jahrhundert uns in Erinnerung gerufen wurde, sollte auch von den Deutschen im Verhältnis beider Teile zueinander ernst genommen werden. Die Christen der evangelischen Kirche in Deutschland — aus beiden Teilen —, die sich in diesen Tagen auf eine gemeinsame Schrift über die Friedensaufgaben unseres Volkes verständigt haben, setzen der Nation ein Beispiel, — um so mehr, als die Verfasser dieser Schrift sich jeweils als loyale Bürger der DDR oder der Bundesrepublik Deutschland verstehen.Wer die Lage unseres Volkes verändern will, der muß sie zunächst begreifen. Damit wir sie begreifen, ist es vielleicht nützlich, wenn wir sie von Zeit zu Zeit auch mit den Augen der anderen Völker sehen und wenn wir deren Interessen an der deutschen Lage begreifen.
In den Augen unserer Nachbarn sind wir nicht unverschuldet in die heutige Lage geraten. In den Augen unserer Nachbarn ist der von Hitler begonnene und total verlorene Krieg der Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum militärischen und wirtschaftlichen Bündnis aus Gründen der Sicherheit — und um einen Beitrag zu einer europäischen Gemeinschaft zu leisten — diente dem Interesse aller Beteiligten. Er war aber auch doch ein Zeichen des zunehmenden Vertrauens der westlichen Nachbarn in die friedliche und demokratische Entwicklung der Bundesrepublik. Ähnlich mag das für das Verhältnis der kommunistischen Staaten Osteuropas zur DDR gelten. In fast allen Staaten Europas besteht an der Wiederherstellung der deutschen Einheit primär kein nennenswertes Interesse. Man muß auch das einfach zur Kenntnis nehmen.Vielen Menschen in diesen anderen Staaten wäre durchaus wohler, wenn das deutsche Problem auf die bequemste Weise aus der Welt geschafft würde, nämlich dadurch, daß die Deutschen sich mit dem heutigen Zustand abfinden. Der Bundeskanzler hat recht, wenn er kürzlich darauf hingewiesen hat, daß für viele im Ausland der Gedanke, es im Zentrum Europas mit einem Staat von 75 Millionen Deutschen zu tun zu haben, ein Alpdruck ist.Betrachten wir ein paar Länder im einzelnen. Nehmen wir die Sowjetunion am Anfang. Für sie ist die endgültige Stabilisierung eines kommunistischen deutschen Staates keineswegs nur eine Sache ihres Prestiges. Die DDR hat, von Moskau aus gesehen, in Verbindung mit den in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräften eine fundamentale Bedeutung für die Aufrechterhaltung der sowjetischen Osteuropapolitik und der Machtklammer über Osteuropa. Daneben spielt auch in der Sowjetunion echte
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Furcht vor Deutschland immer noch eine Rolle, obgleich es den meisten Menschen schwerfallen mag, das zu glauben. Aber wenn man hinfährt und mit den Menschen in Rußland redet, wird man spüren, daß das so ist. Stalin glaubte, wer Einfluß auf Deutschland habe, der habe Einfluß auf Europa. Es könnte sein, daß Stalin am Ende seiner Regierungsperiode daran gezweifelt hat, aus den Deutschen gute Kommunisten machen zu können im sowjetischen Sinne. So kann vielleicht zu einem Teil jene Note vom Frühjahr 1952 erklärt werden. Aber das ist schon lange her. Seit Mitte der fünfziger Jahre, vor allem seit Chruschtschows Berlin-Ultimatum von 1958, hat die Sowjetunion eine Politik der Aufrechterhaltung der deutschen Spaltung betrieben. Diese Politik dauert an. Wer die Zustimmung der Sowjetunion zur Lösung der deutschen Frage will, der muß Bedingungen schaffen, auf Grund deren die Sowjetunion das Verständnis gewinnen kann, daß dies auch in ihrem eigenen Interesse läge. Das gilt übrigens nicht nur für die Sowjetunion, das gilt für alle östlichen und westlichen Nachbarn in gleicher Weise.
Nehmen wir Frankreich. Frankreich hält die Wiedervereinigung der Deutschen sicherlich nicht für das wichtigste Problem Europas. Aber man denkt in Paris, wenn Europa als Ganzes wieder zusammenwüchse, dann würde es Kraft genug gewinnen, um auch das große Gewicht eines wiedervereinigten Deutschlands in seinem Zentrum ausbalancieren zu können.Vor ein paar Wochen hat Couve de Murville vor dem französischen- Parlament das folgende gesagt:Wir wissen auch, daß unser Kontinent sein endgültiges Gewicht und sein Gleichgewicht erst wiederfinden wird, wenn Deutschland selbst darin in Frieden seinen Platz gefunden hat. In Abwartung der schwierigen Entscheidungen, die eines Tages unwiderruflich getroffen werden müssen, ist wenigstens schon ein bedeutender Schritt getan, wenn man damit einverstanden ist, daß nichts vollzogen wird ohne ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Länder, d. h. aller europäischen Länder.So der Außenminister des mit uns verbündeten und befreundeten Frankreichs vor wenigen Wochen im französischen Parlament! Es wäre nützlich, wenn wir alle in Deutschland begriffen, daß alle unsere Nachbarn davon ausgehen, daß hier nichts zustande kommen kann, was nicht auch ihre Zustimmung findet, d. h. was auch ihren Interessen entspricht.Frankreich fügt dann übrigens immer wieder sehr klar hinzu, natürlich setze das einen Verzicht auf jedwede Grenzrevision und auf jedwede nukleare militärische Qualität Deutschlands voraus. Aus den vielen Reden und Vorschlägen, die man offiziell und offiziös aus französischer Quelle lesen kann, ergibt sich erstens, die Franzosen verlangen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze. Zweitens. Sie sind für Normalisierung unserer Beziehungen zu den ost- und südosteuropäischen Staaten. Drittens, sie sind für eine Annäherung zwischen Bonn und Pankow; und viertens, sie wünschen eineUnterstützung der NATO-Politik, wie Frankreich sie treibt. Es wäre ganz gut, wenn wir uns über diesen Gehalt der französischen Deutschlandpolitik keine Täuschungen machten, meine Damen und Herren. Wir erkennen daran, welch schwierige innere und außenpolitische Probleme für uns aufgeworfen werden, wenn wir den französischen Empfehlungen folgen sollen.In England ist im Grunde die Haltung sehr ähnlich wie in Frankreich, mit der großen Ausnahme der festen Haltung Englands gegenüber der Organisation des nordatlantischen Bündnisses.Und in Amerika? Die Amerikaner treten in der Deutschlandfrage überaus klar auf. Man ist für die Wiedervereinigung unseres Landes. Man bekennt auch die Vorläufigkeit der Oder-Neiße-Linie. Aber im Grunde möchte man den Status quo Europas keiner Gefährdung aussetzen. Washington wird aus eigenem Antrieb kaum eine ernsthafte Initiative zur deutschen Frage in Gang setzen und hat dazu noch die durchaus zutreffende Entschuldigung, daß doch Bonn selbst in den letzten 15 Jahren jeden ernsthaften Versuch, Mitteleuropa in Bewegung zu bringen, mit Entschlossenheit behindert oder verhindert habe.
Die Kontroversen zwischen Johnson und Erhard sind uns noch geläufig. Vielleicht sollten wir uns aber auch eine Erklärung im Gedächtnis festhalten, die Dean Rusk vor einem Jahr abgab. Er stellte am 12. Februar 1967 die Frage, ob man nicht die innerdeutschen Beziehungen verstärken sollte, um so der Wiedervereinigung im Rahmen einer allgemeinen Verbesserung der Beziehungen zwischen Ost und West näher zu kommen.Aber lassen Sie uns auch unsere nächsten Nachbarn betrachten, die Holländer zum Beispiel. Die Holländer sagen, sie seien bereit, eine Wiedervereinigung des deutschen Volkes zu akzeptieren, aber nur unter der Bedingung, daß ganz Deutschland in ein supranationales vereinigtes Europa eingebettet wird. Dafür sind wir sehr. Nur alle, glaube ich, erkennen, wie unendlich weit weg die Verwirklichung einer solchen Bedingung heute erscheinen muß.Die Dänen! Die neue dänische Regierung sprach am 9. Februar dieses Jahres ihren Wunsch aus, daß die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze Ausgangspunkt für Verhandlungen über europäische Sicherheitsprobleme werden möge. Zugleich müsse die Frage einer Anerkennung Ostdeutschlands bei solchen Verhandlungen berücksichtigt werden.
— Haekkerup war sehr viel freundschaftlicher gegenüber der Politik der Bundesregierung, der heutigen wie der damaligen.
Er war sehr viel verständnisvoller. Aber ich nehmenicht an, Herr Rasner, daß Sie den Hinweis aufHaekkerup dazwischenrufen, um mir Gelegenheit
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zu geben, einen. dänischen Sozialdemokraten zu loben.
Ich tue das aber gern. Außerdem bin ich mit Haekkerup seit 20 Jahren persönlich befreundet. Er war der erste und einzige Jugendführer, den ich in meinem Leben getroffen habe, der schon als. junger Mann Zigarren rauchte.
Aber wichtig ist eben, zu sehen, daß die neue dänische Regierung etwas anderes sagt. Wir müssen alle diese Tatsachen in unser Bewußtsein aufnehmen.Müssen wir uns hier noch über Polen Klarheit • verschaffen? Polen wurde im Kriege zerschlagen, die Führungsschicht wurde durch die Nazis liquidiert. Polen hatte in seiner ganzen Geschichte im Osten und im Westen zwei große dynamische Völker als Nachbarn, die häufig genug seine Feinde waren. Und nun gehören die Polen seit bald 25 Jahren zum Machtbereich der Sowjetunion.In Polen wird man, wenn man dort spricht, wenig Menschen finden, die aus innerer Überzeugung für die Wiedervereinigung der Deutschen eintreten. So ist es. Die Polen haben einstweilen alle Angst vor einem großen deutschen Staat, und zwar wegen ihrer Westgrenze.Auf der anderen Seite — auch das ist typisch, und man erfährt es, wenn man in Polen mit den Menschen spricht wissen die Polen alle aus derKenntnis ihrer eigenen nationalen Geschichte, daß auf die Dauer keinem Volk sein Selbstbestimmungsrecht verwehrt und vorenthalten werden kann. Das fühlen sie ganz genau.Ähnlich, nicht ganz so akzentuiert, ist die Lage in den Völkern der Tschechoslowakei.Lassen Sie mich, da wir von den Oststaaten reden, hier eines in die Erinnerung rufen. Polen, die Sowjetunion, die DDR und andere Staaten Osteuropas haben erstens die Oder-Neiße-Linie zur endgültigen Westgrenze Polens erklärt. Zweitens haben sie sich vertraglich zu der Verteidigung dieser von ihnen so genannten Grenze verpflichtet. Die Bundesrepublik Deutschland kann und will erst in einer Friedensregelung zur Grenzfrage endgültig Stellung nehmen. Aber wir haben zweitens uns zum Gewaltverzicht bekannt, auch gegenüber den Demarkationslinien, die zur Zeit in Europa gelten.Wenn man all diese vier Rechtspositionen, von denen ich sprach — zwei drüben, zwei hüben —, auf denselben Tisch stellt und wenn man davon ausgeht, daß sie je von dem, der sie aufgestellt hat, ernsthaft aufrechterhalten werden sollen, dann ergibt sich, wie klein der denkbare Spielraum in der Grenzfrage ist. Und es wäre unwahrhaftig und opportunistisch, das unserem eigenen Volk nicht deutlich und nüchtern zu zeigen.
Wenn wir durch eine Gewaltverzichtserklärung denSicherheitsinteressen Polens entgegenkommen wol-len — und das wollen wir ja —, dann heißt das imKlartext — das sollte man eben auch nüchtern sagen und nicht darum herumreden —, daß wir die jetzigen Demarkationslinien respektieren wollen, daß die endgültige Regelung dieser Fragen nach unserer Auffassung allerdings dem Friedensvertrag vorbehalten bleiben soll.Wer alle diese Stellungnahmen, die ich hier nur andeute, der Franzosen, der Amerikaner, der Holländer, der Tschechen, der Slowaken, der Polen, der Sowjetunion vor seinem geistigen Horizont Revue passieren läßt, wer die Stellungnahmen der Regierungen dieser Völker zur deutschen Frage prüft, der kann an den Illusionen der 50er Jahre nicht länger festhalten.
— Ich weiß gar nicht, ob hier Beifall am Platze ist. So angenehm ist das alles gar nicht, das festzustellen.
Illusionen sind das Gegenteil von Politik. Schon Gustav Stresemann hat vor 40 Jahren voll Bitterkeit über unser eigenes Volk sich gegen die gewendet, wie er sagte, die da täglich beten: „Unsere tägliche Illusion gib uns heute". Es gibt auch heute noch welche in unserem Volk, die vielleicht gar nicht böswillig, sondern vielleicht ganz gutwillig, ganz gutgläubig dazu beitragen, daß täglich Illusionen noch verlängert und vertieft werden. Die Zeit ist aber gekommen, da immer mehr Menschen in unserem Volk mehr Mut verlangen zur Wahrhaftigkeit und zum Freimachen von Selbsttäuschung. Ich will hier sagen: Es ist wahr, daß keine fremde Regierung heute ernstlich deutsche Ansprüche auf Gebiete jenseits von Oder und Neiße vertreten will, auch wenn w i r die deutschen Rechtspositionen nicht aufgeben. Und es ist doch wahr, daß die DDR ein Staat ist, mit dessen ungeliebter Regierung wir gleichwohl geordnete Verbindung herstellen müssen, auch wenn wir sie völkerrechtlich nicht als einen ausländischen Staat betrachten können und wollen.
Wir sind in eine neue Phase eingetreten. Unsere neuen osteuropäischen und innerdeutschen Bemühungen haben bisher nur teilweise, nur zu einem kleinen Teil Erfolg gehabt. Es wäre eine Illusion gewesen, zu glauben, daß das Resultat von 17 Jahren Deutschlandpolitik, die eben keinen Erfolg hatte in der Deutschlandfrage, in 17 Monaten nachhaltig würde korrigiert werden können. Wir haben uns — ich stimme voll überein mit dem, was der Bundeskanzler hier gesagt hat — auf eine langfristige und zäh zu verfolgende Entspannungspolitik eingestellt, und dazu brauchen wir allerdings auch Realismus und auch Gelassenheit.Aber ich will drei Voraussetzungen auch nennen — damit niemand mich mißversteht —, die dafür notwendig sind und bleiben. Die erste Voraussetzung ist, daß unsere innere demokratische Ordnung in der Bundesrepublik festgefügt bleibt, wenn wir
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als außenpolitischer Partner überhaupt Gewicht behalten wollen.
Die zweite Voraussetzung ist, daß unsere Ostpolitik und unsere Deutschlandpolitik weiterhin mit unseren Verbündeten abgestimmt wird.
Die dritte Voraussetzung ist — ich beziehe mich wieder auf das, was mein Herr Vorredner mit Recht sagte —, daß wir die Sicherheit Westeuropas, der Bundesrepublik und Westberlins nicht gefährden. Das Kräftegleichgewicht in Europa aufrechtzuerhalten, gelingt nur, wenn das Gleichgewicht der Engagements der beiden Weltmächte in Europa bestehenbleibt.
Wenn aber diese Voraussetzungen erfüllt werden, wenn wir dazu beitragen, daß diese drei Voraussetzungen immer erfüllt bleiben, dann allerdings, so meinen die Sozialdemokraten, muß sich die Bundesrepublik Deutschland in die Spitzengruppe der Entspannungspolitik in Europa setzen.
Wir wollen, daß unsere Regierung dazu beiträgt, daß man in Europa von den hohen Ebenen der Rüstung herunterkommt, von den hohen Ebenen des Truppenaufmarsches herunterkommt, auf beiden Seiten gleichmäßig und gleichwertig auf niedrigere Ebene. Das liegt im Interesse des Friedens und übrigens auch im ökonomischen Interesse der Völker in Ost und West. Wir wollen — auch das hat der Herr Bundeskanzler am letzten Montag mit großer Klarheit ausgeführt —, daß bei alledem die DDR nicht ausgespart werde. Wir begrüßen ausdrücklich, daß der Bundeskanzler gesagt hat, er sei bereit, zum Zwecke des Austauschs von Gewaltverzichtserklärungen auch mit dem Vorsitzenden des Ministerrats in Ostberlin in Verbindung zu treten. Eigentlich wäre Ostberlin jetzt am Zuge, meine Damen und Herren. Und die Herren in Ostberlin müssen wissen, daß offene Briefe und Fernsehpolemik kein Ersatz sind für deutsche Politik.
Die deutsche Frage ist weder durch Kalten Krieg zu lösen — das an die Adresse des Herrn Ulbricht — noch durch Klassenkampf — auch das an die Adresse des Herrn Ulbricht —. Die deutsche Politik muß in beiden Teilen danach trachten, zunächst zu einem geregelten und vernünftigen Nebeneinander zu kommen; das muß dann zu Abkommen führen, in denen alles, was nicht dem Friedensvertrag vorzubehalten ist, wirklich auch zwischen beiden Teilen Deutschlands geregelt werden kann. Wir in diesem Haus und unsere Regierung, die einzig freie und demokratische Regierung in Deutschland, wir müssen uns in unserem Handeln, in unserem Tun und Lassen von dem Interesse der ganzen Nation leiten lassen.Das bedeutet nicht, daß wir unsere Landsleute im anderen Teil bevormunden wollen. Wir sind bereit, ihren frei geäußerten Willen zu respektieren.Auch hierin wünschen wir der Bundesregierung ausdrücklich zuzustimmen.Am Montag hat der Bundeskanzler davon gesprochen, in Ost-Berlin ein Büro für den Interzonenhandel errichten zu wollen. Das ist zu begrüßen. Für meine Person wäre ich bereit, noch einen Schritt weiter zu gehen. Ehe ich das sage, eine Klarstellung vorweg:Weil beide deutsche Regierungen sich zu der einen Nation bekennen, weil beide Teile ein gemeinsames Handelsgebiet bilden, weil sie sich ausdrücklich gegenseitig nicht Ausland nennen wollen, beide ausdrücklich gegenseitig nicht als Ausland ansehen wollen, deshalb kommt eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR als ein ausländischer oder fremder Staat für mich nicht in Betracht. In diesem Punkte stimme ich jedenfalls voll mit der jüngsten Denkschrift aus den Kreisen der EKiD überein. Die DDR ist kein Ausland, und Dresden und Rostock sind uns nicht fremd.
Aber jetzt der Punkt, auf den ich nur für meine Person kommen wollte. Ich denke, es sollte geprüft werden, ob in einem Abkommen zwischen den beiden Regierungen nicht die gegenseitige Ernennung von Generalbevollmächtigten vereinbart werden kann. Diese Generalbevollmächtigten können im Auftrag und in Vollmacht der jeweiligen Regierungen handeln und den Regierungschefs unmittelbar unterstehen. Natürlich werden durch solch ein Abkommen die Rechte der Alliierten in Deutschland und in Berlin nicht berührt.Ich gebe zu, es hat in der Vergangenheit immer wieder Stimmen gegeben und es gibt sie auch heute, die aus Sorge um den Bestand unserer freiheitlichen Ordnung gegenüber jeder Berührung mit der DDR außerordentlich zurückhaltend waren und sind. Die Sozialdemokraten sind dagegen immer der Auffassung gewesen, daß sich gerade hier die Stärke unserer freiheitlichen Lebensordnung zu beweisen hat. Wer selbst bestimmen will, muß Zugang zu den wesentlichen Informationen haben, er muß auf Grund der Informationen fähig und bereit sein, sich sein Urteil zu bilden und auf der Grundlage seines eigenen Urteils zu entscheiden. Das stellt Anforderungen an jedermann, und wir alle wissen, daß wir dabei bestenfalls schrittweise vorankommen.Nun ist es das Dilemma der Politik der kleinen Schritte — auch der Deutschlandpolitik, jeder Politik der kleinen Schritte —, daß sie zwar die einzig realistische und aussichtsreiche ist, daß sie aber für viele Menschen im Volk ohne erkennbare geistige Verbindung mit irgendwelchen „new frontiers" im Sinne von Kennedy zu sein scheint. Bei dem schrittweisen Vorangehen, wie es der vernünftige, realistische Politiker tun muß, ergibt sich für viele junge Gemüter zwangsläufig, daß sie den Faden nicht sehen, daß sie die innere Verbindung zu den idealen, zu den moralischen und sittlichen Grundsätzen nicht sehen, von denen dieses schrittweise Vorangehen geleitet wird.
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8308 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
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Die Passierscheintürchen in der Berliner Mauer stehen als ein Symbol für mehr denn nur für die Berlin-Politik. Die studentische Jugend engagiert sich so heftig in mehr oder weniger ziellos-unpolitischer Negation, weil sie weit und breit kein großes politisches Ziel ausmachen kann, für das sich zu engagieren ihr lohnend erschiene.Ich darf in dem Zusammenhang einen Absatz zitieren, den ich vor zwei Jahren auf dem Dortmunder Parteitag der Sozialdemokratischen Partei in einer deutschlandpolitischen Analyse ausgesprochen habe. 1966 war das. Da heißt es:Die Führungsschichten insgesamt der Bundesrepublik können in die Gefahr kommen, sich bei der jüngeren Generation insgesamt unglaubwürdig zu machen, weil die Jugend am wichtigsten Punkt, in der deutschen Frage, nicht glaubt immer glauben zu können. Man könnte in die Gefahr kommen, daß eine allgemeine Parteien- und Demokratieverdrossenheit der jungen Leute entsteht, wenn wir weiterhin ohne Unterscheidungskraft uns darauf beschränken wollten, nur einfach bei alten Formen zu bleiben.Das war lange, ehe die ersten Studentendemonstrationen ihre Schlagzeilen machten. Ich meine, gerade in der Deutschlandpolitik mit Illusionen aufzuräumen ist eine der notwendigen Voraussetzungen, wenn man die geistige Verbindung zu jenen jungen Leuten, von denen ich spreche, nicht abreißen lassen will.In unseren Schulen, wo ihnen zum erstenmal etwas über die Demokratie erzählt wird, macht man sich leider von der Demokratie eine überaus idealisierte Vorstellung, die mit Wirklichkeitsnähe nicht viel zu tun hat. Ich möchte das nicht den Lehrern vorwerfen; sie haben es vielleicht auch nicht anders gelernt. Vielleicht müssen wir uns in diesem Hause das vorwerfen. Es sind nämlich nicht die Institutionen an sich entscheidend. Entscheidend ist in der Demokratie, was die Menschen, was die Bürger, was die Politiker daraus machen. Und da nun einmal Bürger und Politiker mit Fehlern, mit Mängeln und mit Schwächen behaftet sind, so muß zwangsläufig auch die Demokratie mit Mängeln und mit Schwächen behaftet sein. Das Mißverständnis in unserem Volk, z. B. an den Schulen, Demokratie sei gut an sich, kann allerdings zu tiefer Enttäuschung führen, wenn akute schwere Mängel sichtbar werden. Die Enttäuschung kann sich dann leicht gegen die Demokratie selbst wenden. Viele geraten auf der Suche nach einer idealen Staatsform in die Gefahr, in der Utopie zu enden. Das müssen keineswegs die Schlechtesten sein. Es wäre ein Fehler, wenn wir uns auf die bloße Abwehr der Kritik jener beschränken wollten, die sich selbst als außerparlamentarische Opposition verstehen.Ich erinnere mich, wie das vor 20 oder 25 Jahren war. 1945 haben die demokratischen Parteien und ihre Führer zu meiner Generation gesagt, es genüge nicht, sein privates Leben leben zu wollen, es genüge auch nicht, auf die Wehrmacht zu schimpfen, aus derwir nun endlich entlassen waren, oder auf die Nazis zu schimpfen, sondern wir müßten aktiv an dem Neuaufbau unseres Landes arbeiten. So hat man uns gesagt, und viele von uns haben das gemacht. Heute müssen wir der neuen Generation zurufen: Es genügt nicht, das sogenannte Establishment zu kritisieren oder zu provozieren; wenigstens müßt ihr wissen und sagen, was ihr positiv wollt. Das können wir wohl verlangen.
Gespräch kann nur erwarten, wer wirklich selbst Gespräch will. Einigen muß man sagen, daß wir keine Lust haben, an Schaudiskussionen uns zu beteiligen, die nur das eigene Geltungsbedürfnis der Veranstalter befriedigen sollen.
Was aber die anderen angeht, die wollen wir ernst nehmen, denen wollen wir durchaus zuhören. Wir wollen nur nicht solchen zuhören, die das Gespräch als Gelegenheit zu unserer Beschimpfung mißbrauchen.Dieses Haus hat längst nach Universitäts- und Studienform verlangt. Der Bundeskanzler hat gesagt, leider seien wir nicht kompetent. Ich habe aufmerksam zugehört bei dem knappen Satz, den Herr Barzel zu diesem Punkt' gesprochen hat. Vielleicht zeichnet sich da etwas Neues ab. Ich spreche von dem, was Sie geantwortet haben auf den Satz von Herrn Kiesinger, wir seien leider nicht kompetent. Einige 'stoßen sich an ,dem „leider". Wir müssen vielleicht aller darüber nachdenken, ob es nicht wirklich, so wie Herr Barzel gesagt hat, notwendig wird, sich diese Kompetenz zu verschaffen.
Ich sage ganz ehrlich, mir ist nicht hundertprozentig wohl dabei.
— Sie haben angedeutet, man müsse das prüfen. So habe ich das verstanden.
— Gut! Ich hatte das Gefühl, Ihnen zuzustimmen. Aber ich will hier auch meinen eigenen Kollegen sagen: ich bin nicht hundertprozentig glücklich bei der Vorstellung, daß man die Kompetenzverteilung in diesem Punkt ändern will. Ich weiß, die FDP hat da Anträge. Wir haben ja im letzten Herbst schon einmal darüber gesprochen. — Augenblick, Herr Moersch! Eines habe ich nämlich seit 1953 hier im Bundestag und dann vier Jahre in einer Landesregierung und jetzt wieder hier im Bundestag begriffen. Ich war nie ein Föderalist, aber begriffen habe ich, wie ungeheuer wichtig für die Stabilität des demokratischen Gefüges die Verteilung der Macht auf Bund, Länder und Gemeinden ist. Das habe ich kapiert.
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Deswegen möchte ich für meine Person nicht ohne Not zusätzliche Kompetenzen auf den Bund ziehen, sondern ich möchte nach wie vor in der Universitätsfrage das Recht für mich in Anspruch nehmen —und so verstehe ich jetzt wohl den Kollegen Barzel auch richtig —, daß dies der Ort ist, an dem man auch den Ländern die Meinung über ihre ewig verschleppte Universitäts- und Studienreform sagen kann.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage? — Bitte, Herr Abgeordneter Moersch!
Herr Kollege Schmidt, teilen Sie nicht die Auffassung, daß es gerade aus demokratischen Gründen notwendig ist, die Verantwortlichkeit klarzustellen, die in diesem Zwischenbereich sehr oft nicht besteht, und daß deshalb unsere Gesetzentwürfe auch Ihnen Gelegenheit geben, demokratische Verantwortlichkeit zu unterstreichen?
Die Verantwortlichkeit für die Gesetzgebung auf dem Universitätsgebiet liegt eindeutig bei den Ländern. Da ist gar nichts klarzustellen, das ist klar, Herr Moersch. Ob wir es ändern wollen, ist eine andere Frage. Wie weit wir den Bund in die Verantwortung für die Errichtung neuen Universitäten hineinziehen wollen —wir sind dafür —, das ist eine andere Frage. Aber die Verantwortung für die versäumte Universitätsreform — machen Sie sich doch hier nicht zum Anwalt einer Sache, die eine schlechte Sache ist — trifft ausschließlich die Landesgesetzgeber, niemand sonst.
Aber wenn ich hier über die Lage der Nation rede, will ich nicht allzuviel über die Universitäten und die Studenten sprechen. Die nehmen sich sowieso ein bißchen wichtiger, noch wichtiger, als sie im Gesamtverhältnis zur Nation sind, meine Damen und Herren!
Ich will nur sagen, wir haben keine Lust, solchen Studenten zu helfen, die ausdrücklich die Negation unseres Staates zum Programm ihres Verbandes machen. Dazu haben wir keine Lust.
Wir wissen da sehr wohl zu unterscheiden zwischen studentischen Anarcho-Kommunisten, studentischen Mitläufern und vielen besorgten Demokraten auch unter den Studenten. Und die Demokraten sind ja die große Masse in der Jugend. Schließlich gibt es übrigens außer den Studenten auch noch Millionen von Lehrlingen, von jungen Angestellten und jungen Arbeitern in diesem Volk.
Den Demokraten allüberall, in allen Bezirken unserer Jugend, möchte ich zur Kenntnis bringen, waseiner der größten deutschen Sozialdemokraten nach dem Zusammenbruch des ersten deutschen Demokratie-Versuchs geschrieben hat:Demokratie verlangt Verantwortungsbewußtsein und Selbstzucht von jedem Menschen, der seinen Platz haben will im Staatsgetriebe. Hemmungslosigkeit, Verantwortungslosigkeit bei der Kritik vertragen sich nicht mit jener äußeren Ordnung, die jedem ein so großes Maß persönlicher Meinungsfreiheit gewährt. Eine starke Staatsautorität hat hier dem Volksbewußtsein Grenzen einzuprägen, allerdings in einer Form, die jedem Staatsbürger das Gefühl größter persönlicher Freiheit läßt.Und später schreibe derselbe Mann:Wer hat dies gehört? Wer hat darauf reagiert? Es gab in Deutschland für die Kritik einfach kein politisches Gewissen. Die Freunde der Demokratie lebten in gesundester Zufriedenheit in den von ihnen als unwiderruflich gerecht proklamierten Zuständen, und die Gegner lehnten in Bausch und Bogen alles ab, was sich zum neuen Staat bekannte.Der Mann, der dies schrieb, saß, als er es schrieb, in einem nationalsozialistischen Gefängnis. Es war der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Julius Leber. Später haben die Nazis ihn umgebracht. Ich bin zwar mit Julius Lebers Forderung nach starker Staatsautorität heute, 40 Jahre später, nicht ohne weiteres einverstanden. Ich denke, daß wichtiger noch als die Autorität des Staates oder die Autorität eines staatlichen Amtes die personale Autorität der von uns gewählten politischen Führer sei;
die persönliche Autorität, die auf der persönlichen Leistung beruht, auf dem persönlichen Mut, auf der Gerechtigkeit, die dieser Person innewohnt, und auf ihrer Tapferkeit. Niemand — das soll man auch wohl mal sagen —, der ein Amt bekommt, bekommt damit schon öffentliches Vertrauen. Vertrauen erwirbt man sich nur durch eigene Arbeit. Vertrauen wird einem dann auch nicht ein für allemal gegeben; man muß es bewahren. Niemand kann auf die Dauer in unserer Demokratie ohne Vertrauen regieren. Es ist ein Mißverständnis der jungen Leute, daß jemand, wenn er einmal zum Establishment gehöre, auf Dauer regieren könne. Wer Vertrauen will, der muß Autorität entwickeln. Man muß aufpassen, wenn persönliche Autorität heute in Deutschland in den Dreck getreten werden soll.
Autorität darf nicht zum Buhmann gemacht werden, genausowenig, wie wir daran denken, die Studenten zum Buhmann zu machen.Wir erwarten von allen bewußten Demokraten in Deutschland, daß sie unter den Menschen, mit denen sie Umgang haben, das Vertrauen in die Demokratie stärken und nähren. Das gilt für den Ortsvereinsvorsitzenden einer Partei auf dem Dorf genauso wie z. B. für den Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes wie für die Vorsitzenden unserer
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großen Gewerkschaften. Ohne die persönliche Autorität gewerkschaftlicher Führer kann es auch auf die Dauer nicht gehen, kann auch auf die Dauer das Vertrauen der Massen unseres Volkes der Demokratie gegenüber nicht stabil erhalten werden. Die Gewerkschaften wissen das. Sie haben in ihr Grundsatzprogramm geschrieben, daß die freien und unabhängigen Gewerkschaften nur in der Demokratie bestehen und wirken können — und ihre Geschichte bewies dies —, daß die Gewerkschaften in der Demokratie ihre eigene Lebensgrundlage verteidigen und daß sie sich deshalb gegen alle totalitären und alle reaktionären Bestrebungen mit Entschiedenheit zur Wehr setzen. So steht es im Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes.Ich glaube, daß für die Stabilität der demokratischen Gesinnung in unserer Nation die Bereitschaft der Gewerkschaften, diesen Staat mit 'zu tragen, von entscheidender Bedeutung ist. Jedermann weiß, daß die hier ,gemeinte Mitverantwortung für Staat und Gesellschaft nichts zu tun hat mit jenem Gehorsam gegenüber den Anordnungen und Wünschen der Obrigkeit, wie er in der DDR und in anderen diktatorischen Staaten von den Organisationen der Arbeitnehmer verlangt wird. Unsere Gewerkschaften müssen auch wissen, daß ihre kritische Wachsamkeit gegenüber staatlicher Machtausübung eine Grundvoraussetzung für die Bewahrung der Freiheit ist. Das bedeutet nicht, daß. es die Aufgabe ,der Gewerkschaften wäre, prinzipiell in Opposition zu jeder Regierung zu stehen. Die Gewerkschaften haben aus wohlerwogenen Gründen nach dem letzten Krieg den Schritt von der politischen Richtungsgewerkschaft hin zur Einheitsgewerkschaft vollzogen. In ihren Reihen vereinigen sich heute Menschen der verschiedensten politischen Richtungen aller drei Parteien — unserer allerdings am meisten, wie ich gern einräume; aber aller drei Parteien —, verschiedener konfessioneller, verschiedener weltanschaulicher 'Bindung. Die parteineutrale 'Haltung .der Gewerkschaften, die sich daraus ergibt, steht nicht in Widerspruch zu ihrer politischen Verantwortung; im Gegenteil, die Gewerkschaften sind ihren Mitgliedern politisch verantwortlich, und sie sind auch für das Ganze unseres Volkes politisch mitverantwortlich.Ich habe gestern gesagt, wie dies auch und genauso für den Bauernverband gilt. Beide Verbände, die Gewerkschaften in einem ungewöhnlich großen Maße, aber auch der Bauernverband, und viele andere Verbände binden Millionen von Menschen unseres Volks, genauer gesagt: sie können sie binden, oder noch genauer gesagt: sie sollen sie binden. Das erwarten wir nämlich von den Verbänden in unserem Volk, daß sie ihre Mitglieder verbinden mit der deutschen Demokratie.
Lassen Sie mich noch einmal auf Julius Leber zurückkommen. An einer Stelle jener Schrift, im Gefängnis geschrieben, sagt er:Solange die vom Volk berufenen Träger derRegierungsmacht im Amte sind, so lange habensie aber auch wirklich zu regieren und die Gewalt nach ihrem eigenen Wissen und Gewissen anzuwenden.Eigenes Wissen und Gewissen, meine Damen und Herren. Das gilt auch für uns Abgeordnete, für uns hier in diesem Saal. Wer in diesem Hause es allen recht machen wollte, der kann weder Autorität haben noch regieren. Wir können es nicht allen recht machen wollen. Wir haben nach unserem eigenen Wissen und Gewissen uns zu entscheiden. Und ich füge ein Wort hinzu, das sich an alle richtet: wir alle brauchen kritische Vernunft, wenn leichtfertig oder fahrlässig oder auch boshaft der Versuch gemacht wird, das Vertrauen in die Gewissenhaftigkeit anderer, der Partner und der Mitspieler zu zerstören.Herr Kollege Barzel hat recht gehabt, als er in seiner Rede sagte, von dem, was wir hier tun, von dem, was wir hier reden, müsse eine werbende Kraft für das ganze Deutschland ausgehen. Ich habe mich bei dem, was ich hier für meine Fraktion zu sagen hatte, bemüht — ohne dieses Wort in Herrn Barzels Rede vorher zu kennen —, den Schwerpunkt nicht auf innere Dinge der Bundesrepublik. Deutschland, sondern auf das zu legen, was das ganze Deutschland angeht. Ich habe deswegen auch nicht die Absicht, jetzt noch über den Nonproliferationsvertrag zu sprechen. Das wird sicherlich im Laufe der Deatte noch von meinen Freunden geschehen. Ich will auch nicht zu anderen einzelnen Themen sprechen, die Herr Barzel mit Recht berührt hat, nachdem auch der Herr Bundeskanzler sie schon berührt hatte.Ich muß nur zwei Bemerkungen machen als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion, weil es da vielleicht ein Mißverständnis geben könnte. Der eine Punkt betrifft das Wahlrecht. Hier hat sich an der Erklärung, die die sozialdemokratische Bundestagsfraktion am 15. Dezember 1966 abgab, nichts geändert.Der zweite Punkt betrifft die Notstandsgesetzgebung. Hier hat sich auch nichts geändert. Wir waren in der Oppositionszeit bereit, an der Notstandsgesetzgebung mitzuwirken nach Maßgabe. der Vorstellungen, die wir davon hatten. Dazu sind wir auch heute bereit. Das hat mit der Großen Koalition nichts zu tun. Sowohl unsere Erkenntnis der Notwendigkeit, die gegenwärtig geltende alliierte Notstandsregelung abzuschaffen, als auch die positiven Vorstellungen, die wir haben und die wir als Bedingung gestellt haben, um mitwirken zu können, alles das gilt unverändert, so damals in der Zeit der Opposition, so heute in der Zeit der Koalition. Die Tatsache der Großen Koalition macht hier keinen Unterschied. Es könnte sich darüber vorgestern ein Mißverständnis eingeschlichen haben; das wollte ich ausräumen.Ich komme zum Schluß. Beide Regierungen bekennen sich zur gleichen Nation. Beide drücken damit die gemeinsame Willensmeinung von 75 Millionen Deutschen in West und Ost aus, und das ist ein guter gemeinsamer Boden. Die gemeinsame Nation hat im Laufe ihrer Geschichte große kulturelle Leistungen hervorgebracht, sie hat ihre Höhepunkte erlebt, und sie hat Glanz erlebt, aber sie hat ebenso
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auch große Katastrophen erlebt, zum Teil von Deutschen verschuldet. Wir Sozialdemokraten wehren uns zu jeder Zeit gegen nationalistische Überheblichkeit in unserem eigenen Volk gegenüber anderen Völkern, aber ebenso leidenschaftlich widersprechen wir, wenn unser Volk in einer Art von permanentem Anklagezustand zum Sündenbock für jegliche Aggression auf der Welt gemacht werden soll.
Ebenso wehren wir uns gegen jeden, der die Geschichte unseres Volkes der nachwachsenden Generation „als ein einziges Verbrecheralbum darstellen" wollte, wie unser verstorbener Freund Wolfgang Döring es mir einmal sehr eindrucksvoll und eindringlich genannt hat. Wir lassen auch diesen Staat und seine Verfassung nicht in den Dreck treten.
Wir haben diesen Staat gewollt, wir haben dieses Grundgesetz gewollt; das ist unser Staat und unsere Gesellschaft. Freilich sind Staat und Gesellschaft noch keineswegs gut. Aber dies ist der beste demokratische Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat,
und dieses ist die freieste Gesellschaft, die es je in Deutschland gegeben hat.
Wir sind auch keine Schönwetterdemokraten, die bei den ersten Wolken am Himmel ihre eigene Demokratie schlechtmachen lassen. Ob es sich um den alten romantischen deutschen Irrationalismus in neuem Gewande handelt, von dem Tatkreis bis zu Carl Schmitt, oder um die Trotzkisten, die heute von der permanenten Revolution schwätzen, oder um die ernst zu nehmenden Kommunisten oder um die linken Sektierer: Die mögen sich da bitte genausowenig täuschen wie die Herren auf der Rechten, die alten Nazis, die Reaktionäre und die neuen Wirrköpfe: wir werden mit uns nicht spielen lassen!
Wir sind ganz ,sicher, daß es in der jungen Generation genug Menschen geben wird, die in diesem Punkte so denken wie wir. Und wir setzen geradezu unsere Hoffnung darauf, daß unser Volk sein Schicksal bewußt und geduldig in seine eigenen Hände nimmt und in seinen eigenen Händen behält, soweit und solange wie der Herr der Geschichte uns dies erlaubt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Schmidt hat hier eine Reihe von sehr interessanten Gegenüberstellungen neuer Entwicklungen in der DDR dargelegt. Er hat damit den Bericht zur Lage der Nation des Herrn Bundeskanzlers in wesentlichen Punkten ergänzt. Er hat sich mit Recht an alleDeutschen in beiden Teilen unseres Vaterlandes gewendet. Aus dieser Ergänzung wird deutlich — das möchte ich zunächst als eine Art formale Anregung geben —, daß dieser Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vielleicht in Zukunft etwas anders gestaltet werden sollte. Wir werden in Zukunft ja regelmäßig diese Aussprachen — so hoffen wir wenigstens — haben. Wäre es nicht besser, Herr Bundeskanzler, wenn ich Ihnen diesen Rat geben darf, daß man vielleicht in dem einen Teil schriftlich alles das, was heute in unserem Statistischen Jahrbuch bereits zahlenmäßig enthalten ist, wertungsmäßig zusammenfaßt, um damit die Unterlagen für uns alle über die unterschiedliche Entwicklung in Gesamtdeutschland noch deutlicher zu machen. In einem zweiten Teil, nämlich in Ihrer Einbringungsrede dazu, sollte dann das gewertet werden, was uns in diesem Bericht zusammengefaßt dargelegt wird, damit die Unterlagen, die wir brauchen, vollständiger sein können, als das in Ihrer Rede möglich war. Gleichzeitig sollte aber eine Wertung dieser Fakten erfolgen, und es sollten aus ihnen Schlüsse für unsere gemeinsame Politik oder für unterschiedliche Auffassungen gezogen werden.Natürlich ist es für uns wichtig, zu wissen, was drüben in dem anderen Teil Deutschlands jetzt, nach Schaffung der neuen Verfassung, wenn ich so sagen darf, vom Verfassungsrecht zur Verfassungswirklichkeit hin geändert wird. Natürlich muß das geprüft werden, damit wir wissen, wie weit wir uns auseinander entwickelt haben oder wo Ansatzpunkte sind, gemeinsam Wege zu finden. Aber dazu darf ich nachher einige weitere Bemerkungen machen.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Recht, wenn nach meiner Überzeugung auch nicht genügend, ist davon gesprochen worden, daß Unruhe unser Volk bewegt. Aber diese Unruhe bewegt nicht nur die Studenten — machen wir uns da nichts vor —, diese Unruhe geht weit über die Studenten hinaus. Hierzu einiges zu sagen, scheint mir, wenn wir die Lage unserer Nation nüchtern behandeln wollen, gerade in dieser Stunde notwendig zu sein. Jetzt kommen doch die Reaktionen darauf, daß wir jahrelang die Praxis geübt haben, Wunschbilder vorzugaukeln. Die geistige Auseinandersetzung mit den bewegenden Kräften unserer Zeit ist seit über einem Jahrzehnt bei uns auch in diesem Hause vernachlässigt worden.
Mit der Forderung nach Wohlstand glaubten viele, die entscheidenden Bedürfnisse unserer Menschen erfüllt zu haben. Natürlich war der Hunger nach materiellen Gütern nach dem Zusammenbruch nur zu verständlich, und die Verluste, die die einzelnen erlitten hatten, brachten es dazu, daß diese Dinge in den Vordergrund gestellt wurden. Und die Parole der CDU/CSU „keine Experimente" war natürlich haarscharf auf politische Abstinenz gezielt mit den Folgen, die wir heute zu beklagen haben.
Sie haben damit — das ist unbestreitbar — Stimmen in Ihre Scheuer gebracht, aber Sie haben damit
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Mischnickauch viele Chancen verspielt, rechtzeitig in unserem Volk die notwendige Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen unserer Zeit überzeugend zu führen. Das haben Sie damit verspielt. Heute müssen doch selbst Ihre Wahlkampfmanager von damals einsehen,
daß Sie 1957, als Sie allein regiert haben, mit dem Aufbau des Buhmanns Kommunismus und des Luftschlosses der konfliktlosen Gesellschaft zwar über die Abstimmungsrunden gekommen sind, daß aber die dauerhafte geistige Überwindung des Marxismus und die Lösung der gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit damit nicht gelungen sind. Das beweist die Unruhe heute.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage? — Bitte, Herr Majonica!
Herr Kollege Mischnick, sind Sie der Meinung, daß zweieinhalb Millionen Menschen vor einem Buhmann aus Mitteldeutschland geflohen sind?
Herr Kollege Majonica, ich habe nicht gesagt, daß der Kommunismus ein Buhmann sei, sondern ich habe gesagt, daß Sie einen Buhmann aufgebaut haben, ohne sich mit dem geistigen Inhalt des Kommunismus wirklich auseinanderzusetzen. Das ist doch der Vorwurf, der hier steht.
Der Herr Bundeskanzler hat erst vor wenigen Tagen den Führungsanspruch der CDU/CSU erneut proklamiert. Damit mag für manchen draußen im Lande die Hoffnung verbunden sein, daß — wie in der Vergangenheit — oberflächliche materielle Verbesserungen des eigenen Seins garantiert werden können. Die letzten 10 bis 15 Jahre beweisen uns aber, wieviel durch ein In-den-Vordergrund-Stellen des Materiellen gleichzeitig verspielt worden ist.
— Unsere freiheitliche Ordnung, Herr Kollege Martin, die wir in den Vordergrund gestellt haben, vor dem Kommunismus zu bewahren, — —
— Ihre Unruhe beweist mir, wie recht wir haben. Sonst könnten Sie ruhig zuhören.
Unsere freiheitliche Ordnung, meine sehr verehrten Damen und Herren, ausschließlich vor dem Kommunismus bewahren zu wollen, reicht heute insbesondere für die junge Generation als einziges Ziel nicht mehr aus. Das müssen wir ganz klar sehen. Aber nicht nur sie fragt doch danach, wie dieseFreiheit, die wir noch in vielen Bereichen gestalten müssen, sinnvoll genutzt werden kann. Bestimmt nicht, wie sie etwa im kommunistischen Machtbereich genutzt wird, wo die Staatsallmacht nach marxistischer Lehre die Menschen in Schablonen zwängen will. Die Demonstrationen in Warschau in den letzten Tagen, die Forderungen, die in Prag sichtbar geworden sind, unterstreichen, daß überall die Auseinandersetzung mit Bestehendem im Gange ist.Wir ,müssen uns aber, wenn wir wirklich ehrlich sind, auch fragen, ob wir uns davon freisprechen können, daß auch bei uns auf bürokratische Weise manche Teile unserer Freiheit eingeschränkt werden, Grundrechte in einem erschreckenden Maße in Frage gestellt werden, wenn wir all das betrachten, was in den letzten Jahren geschehen ist.
— Ich führe ihn nicht ein. Wenn Sie ihn einführen, ist das Ihre Sache.Nun, es ist richtig, daß wir uns gemeinsam — ich unterstreiche das, was Herr Kollege Schmidt gesagt hat —
gegen diejenigen wehren, die unsere parlamentarische Ordnung überhaupt in Frage stellen. Aber wenn wir uns gemeinsam dagegen wehren, müssen wir uns auch bewußt sein, daß unsere Ordnung einer ständigen Überprüfung und Weiterentwicklung bedarf, daß das, was gestern gut war, morgen nicht auch immer noch gut sein muß. Darüber zu diskutieren, das ist unsere Aufgabe hier.
Meine Damen und Herren, mit Recht wird über die Frage der Meinungs- und Informationsfreiheit in der Bundesrepublik ständig stärker diskutiert. Leider war hiervon in dem Bericht zur Lage der Nation nichts zu finden. Natürlich ist es unbestreitbar — ich möchte es aber wiederholen, damit hier gar kein Mißverständnis entsteht —, daß dieses Grundrecht der Meinungsfreiheit, der Informationsfreiheit im anderen Teil Deutschlands nicht verwirklicht ist, obwohl es bisher sogar auch dort in der Verfassung gestanden hat. Aber diese bittere Feststellung über die Situation im andern Teil Deutschlands darf uns doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch in der liberalen Gesetzgebung unserer Bundesrepublik manche Lücken entstanden sind, die unsere Freiheiten gefährlich beeinträchtigen können.Nun, meine Damen und Herren, wir sind immer wieder bemüht, darüber zu sprechen. Wir hören Berichte über die Gefahren der Pressekonzentration. Wir sind uns bewußt, daß es sich dabei nicht allein um den Springerkonzern handelt. Es geht auch darum, daß in manchen Städten, wo bisher drei oder zwei Tageszeitungen erschienen, nur noch eine besteht. Das ist aber eine Frage, die, wenn wir die Lage unserer Nation richtig beurteilen wollen, mit zu unserer Diskussion gehört, damit die Freiheit
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Mischnickder Information und der Meinungsbildung bei uns gewahrt bleibt. Tun wir hier doch endlich mehr, anstatt nur zu warten, bis entsprechende Berichte kommen. Hier ist es unsere Aufgabe, dieses Vorbild, von dem vorhin gesprochen worden ist, zu erhalten und da, wo es gefährdet ist, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um diese Gefahren nicht ausweiten zu lassen.Ich will es hier in aller Offenheit ansprechen: wenn wir an die politische Meinungsbildung durch das Fernsehen denken, dann müssen wir doch auch hier Gefahren sehen, die gestern z. B. in der Fragestunde deutlich geworden sind. Natürlich kann man darüber streiten, ob es richtig war, daß in einem Artikel von Herrn Nannen der Herr Bundespräsident in dieser Form angegriffen wurde. Herr Nannen hat sich selbst erfreulicherweise für manche Ausdrücke entschuldigt. Das rechtfertigt aber noch lange nicht, zu versuchen, einem solchen Mann zu verweigern, daß er in einer Diskussion in einer öffentlichen Anstalt auftritt.
Da ist Gefahr für die Presse- und Meinungsfreiheit. Dagegen müssen wir uns wehren.
Wer sich zum liberalen Grundrecht der Meinungs-und Informationsfreiheit bekennt,
wer diesen Grundgesetzartikel ernst nimmt, der müßte allerdings konsequenterweise auch bereit sein, bei der Diskussion um die Frage der Einfuhr von Zeitschriften und Zeitungen aus der DDR entsprechend diesem Artikel zu verfahren. Das Gegenargument, das immer wieder gebracht wird, wie müßten auf die Gegenseitigkeit achten, ist nicht überzeugend. Die jetzt vom zuständigen Bundestagsausschuß beschlossene Lösung, eine sechsmonatige Befristung zu setzen, ist doch wieder eine der leider so zahlreich gewordenen halben Lösungen, die uns diese schwarz-rote Koalition immer wieder anzubieten hat.
Wir brauchen uns doch wahrlich nicht davor zu fürchten, daß die Zeitungen oder Zeitschriften aus der DDR bei uns den Lesern angeboten werden.
Wir brauchen uns nicht davor zu fürchten. Wer die liest, der wird doch eher zum Gegner als zum Freund der SED. — Wenn Sie, Herr Kollege Marx, davon sprechen, wir wollen mit der gefundenen Lösung die Gegenseitigkeit erreichen, kann ich nur antworten, daß die Mehrheit derjenigen, die den Beschluß gefaßt haben, auch davon überzeugt war, daß wir in diesen sechs Monaten die Gegenseitigkeit leider nicht erreichen werden. Nach diesen sechs Monaten beginnt aber doch das Drama für uns, daß wir vor der Frage stehen: verlängern wir, verlängern wir nicht?, daß wir wieder vor der Frage stehen: wollen wir das Grundrecht der Informations-freiheit in diesem Punkt einschränken, wollen wir es nicht einschränken? Gehen Sie den ganzen Schritt und erweisen Sie damit unserer freiheitlichen Gesinnung einen guten Dienst, aber machen Sie nicht halbe Lösungen!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage? — Herr Abgeordneter Ott, bitte!
Herr Kollege Mischnick, soll ich aus diesen Ihren Ausführungen schließen, daß Sie zwar dafür sind, daß wir in der Bundesrepublik die Presseerzeugnisse der DDR erhalten, daß Sie aber dagegen sind, daß die Bewohner —
— Ich habe eine Frage gestellt. Unterbrechen Sie mich nicht! Sie können nachher fragen.
Soll ich aus Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie sich damit abfinden, daß die Bewohner der DDR nicht die Möglichkeit und Freiheit haben, unsere Presseerzeugnisse lesen zu können?
Lieber Herr Kollege Ott, aus Ihrer Fragestellung muß ich leider entnehmen, wie wenig Sie überhaupt über die tatsächlichen Verhältnisse in den beiden Teilen Deutschlands wissen. Sonst würden Sie eine solche Frage überhaupt nicht stellen.
Mir zu unterstellen, daß ich nicht die Einfuhr unserer Zeitungen nach drüben wolle, das geht haarscharf zu weit. Aber mit Ihrer Lösung gefährden Sie auch die Möglichkeit, Zeitungen aus der Bundesrepublik in anderen Teilen des Warschauer Pakts
— auch von unseren Landsleuten aus Mitteldeutschland — zu lesen. Das habe ich im Auge, — was Sie leider völlig übersehen.
Gestatten Sie eine Frage?
Herr Kollege Mischnick— zur Sauberkeit der Argumentation miteinander —, würden Sie es nicht akzeptieren, wenn ich sage, daß es uns als Beweggrund für unseren Beschluß, den Zeitungsaustausch befristet mit einseitiger Vorleistung anlaufen zu lassen, nicht darum geht, daß wir vor kommunistischen Zeitungen Furcht haben,
die aus dem anderen Teil Deutschlands in unseren Bereich kommen, sondern daß es uns ausschließlich darum geht, einen politischen und moralischen Druck auf die Machthaber im anderen Teil Deutschlands auszuüben, damit sie ihrerseits in ihrem Be-
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Dr. Gradlreich für die Menschen dort etwas mehr Informationsfreiheit geben?
Lieber Herr Kollege Gradl, daß diese Beweggründe bei Ihrer Entscheidung eine Rolle gespielt haben, streite ich nicht ab. Daß Sie aber mit der Befristung genau die moralische Wirkung, von der Sie gesprochen haben, in Frage stellen, das vergessen Sie dabei völlig. Das ist doch der entscheidende Punkt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Genscher?
Bitte!
Herr Kollege Mischnick, würden Sie mir zustimmen, daß die Befürworter der Gegenseitigkeit in der Praxis Ulbricht die Entscheidung über den Grad der Informationsfreiheit in der Bundesrepublik zuspielen?
Das kommt als weiteres Argument hinzu.Meine sehr verehrten Damen und Herren, durch die Art, wie Sie Zwischenfragen dazu gestellt haben, wird mir bestätigt, wie gewichtig diese Frage für unsere Situation ist. Ich bedauere nur, daß darauf in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers nicht eingegangen worden ist.Nun lassen Sie mich einen weiteren, mehr generellen Gesichtpunkt behandeln, der schon einmal anklang. Ist eigentlich immer und überall denen, die bestimmend mitwirken, im Bewußtsein, daß die politische Meinungsbildung bei uns in der Bundesrepublik praktisch von vier verschiedenen Generationen beeinflußt wird? Einmal von der Generation, die bewußt die Zeit des Kaiserreiches erlebt hat; zweitens von der Generation, die den Weimarer Staat getragen hat und ihre Fehler mit der nationalsozialistischen Diktatur büßen mußte; drittens von der Generation, die wir lange Zeit als die Frontgeneration bezeichnet haben, die sich unmittelbar nach Kriegsende — Herr Kollege Schmidt sprach ,davon — bemühte, mit den anderen gemeinsam diesen Staat aufzubauen; schließlich von der heutigen jungen Generation, die keines dieser persönlichen Erlebnisse mit sich herumträgt und selbstverständlich auch keine persönlichen Erfahrungen aus manchen Erlebnissen hat. Erklärt sich nicht daraus schon manches an unterschiedlicher Betrachtungsweise, das nicht einfach mit dem uralten Generationsproblem abgetan werden kann? Sind wir uns — mir selbst geht es auch so — immer bewußt, daß hieraus manche unterschiedliche Diskussion entsteht?In diesem Zusammenhang müssen wir wohl auch die Äußerungen und Demonstrationen, die sich mitdem Vietnamkrieg befassen, betrachten. Es ist eben nicht nur eine kleine, wohl organisierte, politisch zielstrebige Gruppe, die hier demonstriert, um ganz bestimmte Vorstellungen durchzusetzen. Bei vielen der mit Demonstrierenden ist nach meiner Überzeugung das berechtigte Gefühl vorhanden, ob nicht in Vietnam Ähnliches geschieht, was aus unserer jüngsten Vergangenheit für uns Deutsche als Belastung empfunden worden ist. Es drängt sich vielen einfach die Frage auf, ob hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wird, ob die Verfolgung — lassen Sie mich das hier in aller Offenheit und in allem Ernst sagen — der Kriegsverbrechen von 1945 nur ein einmaliger Bestrafungsakt war oder ob damit für die Dauer allgemein gültige moralische und rechtliche Normen gesetzt worden sind. Für viele ist das, was dort geschieht — sie mögen dabei recht oder nicht recht haben; ich will das nicht im einzelnen untersuchen —, Völkermord. Darüber müssen wir uns mit den jungen Menschen auseinandersetzen, nicht mit denen, die politische Entscheidungen erzwingen wollen, die nicht unsere sein können, sondern mit denen, die sich hiervon aus der Sorge heraus ansprechen lassen, ob man ihnen nicht auch einmal den Vorwurf macht, sie hätten nicht rechtzeitig ihre Meinung gesagt, sie hätten sich nicht rechtzeitig gegen Dinge geäußert, die unserem deutschen Volke zur Belastung geworden sind. Hierzu müssen wir Stellung nehmen. Wir haben in unserem Antrag zur Vietnam-Frage — er liegt Ihnen ja vor, er wird in Kürze hoffentlich beraten werden — nach beiden Seiten klargestellt, daß es uns darum geht, daß dieser Krieg möglichst bald zu Ende gehen möge.Wenn man fragt, ob es richtig ist, daß wir darüber diskutieren, dann ist es berechtigt, dabei die besondere deutsche Stellung zu bedenken. Aber das schließt doch nicht aus, daß wir in der gleichen Weise darüber diskutieren, wie es in Parlamenten anderer NATO-Staaten eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Nicht um zu schulmeistern, nicht um zu schelten, sondern um deutlich zu machen, daß wir eben aus unserer Geschichte gelernt haben und Entwicklungen, die in anderen Teilen der Welt ähnlich laufen, genauso skeptisch beurteilen, wie man uns in der jüngsten Vergangenheit mit Recht beurteilt hat. Wenn wir diese jüngste Vergangenheit — und das gehört zur Lage unseres Volkes, zur geistigen Auseinandersetzung, die draußen virulent ist — wirklich bewältigen wollen, dann ist es notwendig, das Rechtsbewußtsein in unserem Volk weiter zu stärken.Auch hier spreche ich in aller Offenheit ein Thema an, das vielleicht für manche zu heiß ist oder das anzusprechen manche als ungeziemend betrachten. Muß es nicht erschütternd auf unsere Menschen draußen im Lande wirken, wenn jedermann lesen und hören konnte, daß der deutsche Bundespräsident auf Anraten keine gerichtliche Klärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe anstrebt, weil, wie es hieß, sich did Verfahren zu lange hinzögern könnten? Untergräbt es nicht das Vertrauen in die Unabhängigkeit der deutschen Gerichte, wenn der staunende Staatsbürger hören muß, daß man seinem
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MischnickStaatsoberhaupt abrät, sich diesen Gerichten anzuvertrauen?
Das ist doch auch ein Punkt der Unruhe, über den wir reden müssen. Ich möchte hinzufügen: wird hier nicht unabsehbarer, wenn auch unbeabsichtigter Schaden angerichtet? Aber wird hier nicht doch deutlich, daß die Gefahr besteht, Vertrauen zu demontieren? Mit Recht hat sich der Richterbund gegen das Mißtrauen, das aus solchen Erklärungen spricht, gewandt. Wir werden in Kürze bei der Beratung der Strafrechtsreform Gelegenheit haben, zwischen den Vorschlägen der Regierung und den Alternativen des von der FDP eingebrachten Entwurfs zu entscheiden, um markante Mängel zu beseitigen. Notwendig ist aber, daß wir das Vertrauen in unser Recht, in unsere unabhängige Gerichtsbarkeit stabilisieren, statt es zu demontieren.
Meine Damen und Herren, die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers — so muß ich sie wohl bezeichnen, wenn meine Information zutrifft, daß sie nicht im Kabinett beschlossen worden ist; ich kann mich täuschen, ich wäre dankbar, wenn das richtig-gestellt würde — schweigt sich zur gesellschaftspolitischen Situation, zur gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik fast völlig aus. Gerade die umwälzenden Entwicklungen zu einer immer größer werdenden Arbeitnehmergesellschaft haben in dieser Erklärung zu geringen Niederschlag gefunden. Ist es für uns nicht wichtig, zu wissen, daß unabhängig voneinander in beiden Teilen Deutschlands — selbstverständlich aus unterschiedlichen Gründen — die Zahl der selbständigen Existenzen immer kleiner geworden ist? Will die Gesellschaftspolitik — jetzt kommt es auf die Folgerung daraus an — der Bundesregierung für die Zukunft darauf abzielen, den Kreis der in abhängiger Stellung Tätigen bewußt zu vergrößern?
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, für diejenigen, die durch die technische Entwicklung heute nicht mehr selbständig sein können — auch durch Automation usw. —, also in den Bereichen, wo wir heute keine selbständigen Existenzen mehr haben, einen Ausgleich durch Bildung neuer selbständiger Gruppierungen zu schaffen und zu helfen, daß sie entstehen können? Wir messen den Selbständigen jeglicher Form eine wichtige gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Die Sorge, die wir haben, rührt nicht zuletzt daher, daß mit der Einführung der totalen Versicherungspflicht für alle Angestellten offenbar eine bewußte Weichenstellung auf die reinrassige Managergesellschaft vorgenommen worden ist. Oder handelt es sich bei dieser Entscheidung eben doch nur um eine finanzpolitische Folge falscher Entscheidungen der CDU/CSU mit Unterstützung ihres damaligen Abstimmungspartners SPD, als die Rentenreform beschlossen wurde? Geht es wirklich um gesellschaftspolitische Veränderungen? Dagegen müßten wir Bedenken erheben, wenn es das Ziel ist, bewußt die selbständigen Existenzen einzuschränken. Wir hätten gern auch dazu ein mutigesWort des Kanzlers gehört, daß nämlich das sozialpolitische Kleid, das man sich damals geschneidert hat, einfach finanziell zu weit geworden ist. Warum ist es überhaupt dazu gekommen? Weil man doch vor zehn Jahren von der utopischen Vorstellung ausging, daß die großen Wachstumsraten unserer Wirtschaft wegen des verständlichen Nachholbedarfs eine Art Dauererscheinung sein könnten. Wir wissen heute — wir können hinzufügen, wir als Freie Demokraten wußten es damals schon —, daß es in dieser Form mit Sicherheit, trotz aller auch von uns unterstützten Bemühungen, Wachstum und Stabilität zu koppeln, nicht in gleicher Weise weitergehen kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das muß ich auch sagen: jeder weiß doch heute, daß die Kuchenausschußbeschlüsse von 1957 die wahre Ursache der heutigen finanzpolitischen Situation sind, in der wir stehen. Hier liegen doch auch Gründe, warum man in der Bevölkerung Mißtrauen gegenüber Bonn, gegenüber der Regierung hat. Man hat schon das richtige Gefühl dafür, daß einfach zu viel versprochen worden ist, als daß es tatsächlich hätte eingehalten werden können. Das klarzustellen, hier den Mut zur Wahrheit zu haben, das hätten wir auch bei diesem Bericht zur Lage der Nation erwartet. Wir setzen doch — machen wir uns das doch einmal klar — wirklich all das, was wir gemeinsam erreicht haben, aufs Spiel, wenn wir Emotionen nachgeben und hier nicht unserem Volk klipp und klar sagen, was wirklich an Entwicklungen für die nächsten Jahre möglich ist. Es darf keine Tabus mehr in der Politik in unserem Lande geben, wenn wir nicht in der Gesamtpolitik Schiffbruch erleiden wollen. Dabei geht es ja gar nicht darum, wie das manchmal dargestellt wird, Vorhandenes zu schmälern, sondern darum, begreiflich zu machen, daß der Wohlstandszuwachs der letzten Jahre eben keine automatische Dauererscheinung sein kann. Das ist um so notwendiger, als ja doch — worauf immer wieder hingewiesen worden ist — der Bewegungsspielraum, der uns zur Verfügung steht, sehr klein ist. Diesen Bewegungsspielraum sollten wir nutzen, um den Bevölkerungsgruppen, die trotz aller wirtschaftlichen Entwicklung immer noch im Schatten stehen, die Hilfestellung zu leisten, die uns möglich ist. Das sind nicht nur manche Gruppen der Arbeitnehmer, das sind vor allem auch die Opfer des Krieges, die nicht das Glück gehabt haben, über eine volle Aufwertung ihrer Pensions- und Rentenansprüche während der stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung den Anschluß zu finden. Lange genug haben wir doch den Fehler gemacht — gestehen wir uns das doch ein —, daß mit unserem Wirtschaftswunder renommiert wurde und daß damit auch Begehrlichkeit außerhalb unseres Landes geweckt worden ist, ohne daß wir in unserem Land alle Ecken und Winkel tatsächlicher Not wirklich entdeckt haben.Zu diesen Fragen, die auch noch der Lösung harren, ist in der Erklärung zur Lage der Nation leider nichts enthalten gewesen. Man kann es nicht einfach damit abtun, daß man sagt: Die Nachkriegszeit ist vorbei. Das sind .Fakten, mit denen wir uns noch auseinandersetzen müssen.
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MischnickWenn gesagt wird, der Erfolg oder die Leistung dieser Koalition in den letzten Monaten sei insbesondere durch die Finanzpolitik bestimmt, so muß man demgegenüber leider feststellen, daß das, was wir als die mittelfristige Finanzplanung kennen, praktisch heute schon nicht mehr stimmt. Vor wenigen Tagen ist die Bestätigung für das gegeben worden, was wir Freien Demokraten bei der Beratung dieser mittelfristigen Finanzplanung hier gesagt haben: daß sie eben nicht die Probleme löst. Bereits jetzt haben wir die ersten Kostproben dafür erhalten, daß die Gesamtrechnung eben ein hohes Defizit ergeben wird: 1,35 Milliarden DM für das Jahr 1967. Das beweist doch, wie angebracht unsere Skepsis war und daß die Prognosen der Bundesregierung zu optimistisch waren. Diese Haushaltslücken, die im Augenblick in der Diskussion stehen, sollten eine deutliche Warnung sein und eine Mahnung, endlich — und das vermissen wir in dieser Erklärung — an die grundlegenden Reformen heranzugehen, statt daß in dieser Koalition immer das „Ausklammern" und das „Verschieben" als Politik betrachtet wird. Jetzt muß der wortgewandt produzierten Illusion die Tat folgen,
wobei die Ankündigungen allein noch keine Taten sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gesellschaftspolitischen Probleme der Zukunft zu bewältigen, heißt natürlich, das sehr ernst zu nehmen, was nicht nur der Bundeskanzler, sondern was auch die beiden Kollegen von der CDU und der SPD, Barzel und Schmidt, gesagt haben, nämlich uns nicht darauf zu berufen, daß fehlende Kompetenz manche Dinge nicht möglich gemacht habe. Aber auch hier müssen wir doch feststellen, daß das bisher nur Deklamation geblieben ist. Als der Gesetzentwurf der Freien Demokraten, Art. 74 und 75 des Grundgesetzes zu ändern, hier im Hause anstand, wäre es ja möglich gewesen, sofort zu sagen: „Jawohl, wir stehen dahinter!", damit etwas geschehen kann, damit nicht immer nur darüber geredet wird;
wie überhaupt das „müßte" und „müssen" sehr stark in den Erklärungen enthalten war, das „wird geschehen" aber selten zu hören war.Das Mißtrauen gegenüber dem Etablishment — wie dieses „neudeutsche" Wort heißt, das immer gebraucht wird — ist natürlich auch verständlich, wenn man daran denkt, wie viel angekündigt worden ist — z. B. in der Regierungserklärung — über das, was geschehen soll, Verwaltungsneugliederung und andere Dinge, und dem dann Sichtbares kaum gefolgt ist. Ich erinnere Sie nur daran, daß es, als wir Freien Demokraten hier unseren Lösungsvorschlag für das Gebiet Saar, Rheinland-Pfalz und Hessen vorlegten, hieß, das sei nicht zeitgemäß; da kam ein Nein. Das sind eben doch Fragen, die die Menschen bewegen, an denen sie sehen, daß zwischen Ankündigung und Tat eine breite Kluft klafft. Dar-aus entsteht Mißtrauen. Beseitigen Sie es! Helfen Sie uns! Machen Sie mit uns den Versuch, diese Dinge durchzusetzen. Weichen Sie nicht aus. Denn es geht doch — um das hier ganz offen zu sagen — nicht darum, daß das alles schlecht wäre, was hier vorgeschlagen ist, 'sondern es geht ausschließlich darum, daß Sie bestehende Machtstrukturen in den Ländern zu Ihrem eigenen politischen Nutzen erhalten wollen und deshalb an diese Fragen nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit herangehen. Das ist der wahre Grund, warum Sie nichts tun wollen.
Ähnliches ist bei der Strukturpolitik zu beobachten. Ist es nicht für die richtige Beurteilung der Situation in unserem Volk notwendig, einmal z. B. über das falsch verstandene Zusammenwirken von Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Mitbestimmung — denken wir an die Strukturkrise an der Ruhr — hier zu sprechen? Wäre nicht mancher von Ihnen heute froh, wenn man rechtzeitig den Vorschlägen unseres Freundes Kienbaum in Nordrhein-Westfalen gefolgt wäre? Aber man sagte nein, weil man nicht erkannte, um was es hier ging. Ich erwarte gar nicht, daß Sie mir heute zugeben, daß das richtig war. Ich erwarte nur, daß bei der Beratung des Kohleanpassungsgesetzes endlich die Konsequenzen gezogen werden, damit wir nicht morgen und übermorgen vor den gleichen Sorgen stehen, weil man nicht bereit ist, rechtzeitig richtig zu handeln.
Es ist auch kein Wunder, wie die gestrige Debatte deutlich gemacht hat, daß unter den Bauern Unruhe herrscht. Als die Getreidepreissenkung beschlossen wurde, versicherte man ihnen, daß sie dabei keinen Schaden erleiden würden. Heute müssen sie feststellen, daß die Mittel, die aus unserem Haushalt über den Agrarfonds zur Finanzierung der französischen Landwirtschaft verwendet werden, ihnen, unseren Bauern, moralisch angelastet werden. Das ist doch der Punkt, der die Unruhe schafft.
Gestern ist ausführlich darüber gesprochen worden.Ich will es hier nicht im einzelnen weiter behandeln.Es geht nun darum, Konsequenzen daraus zu ziehen.In diesem Zusammenhang möchte ich auch ganz nüchtern feststellen: wir müssen bei aller inneren Bereitschaft, die europäische Einigung weiterzutreiben, dafür sorgen, daß nicht der deutsche Haushalt eine Art allgemeiner Zugreiftopf für die EWG-Partner ist. Das kann nicht der Sinn unserer Politik sein.Es wird immer wieder gesagt, viele dieser Fragen konnten in dieser Zeit noch nicht bewältigt werden. Natürlich braucht man Zeit dazu. Aber wenn ich daran denke, wieviel Zeit für die Wahlrechtsdiskussion verwandt worden ist, dann kann man sich natürlich fragen, ob sie nicht nützlicher hätte verwendet werden können. Für uns Freie Demokraten war es fast rührend, anzuhören, wie sich der Bundeskanzler verzweifelt bemühte, in einer Art Mundzu-Mund-Beatmung jene in der Wahlrechtsfrage
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Mischnickschon fast entschlafene Partnerschaft mit der SPD wiederzubeleben.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Problem in einem Bericht zur Lage der Nation ansprechen heißt doch, daß man ihm einen hohen Wert beimißt.
Wenn man ihm einen hohen Wert beimißt, wäre es notwendig gewesen, es etwas stärker oder überhaupt politisch zu begründen. So hat man doch den Eindruck, es war nur die Zuchtrute gegenüber dem Koalitionspartner, sonst gar nichts.
Wenn Sie diese Deutung zurückweisen, Herr Bundeskanzler — ich habe Verständnis dafür, daß Sie das tun —, dann müssen wir uns um so mehr darüber wundern, daß nichts über die Bedeutung des Wahlrechts für die gesamtdeutsche Nation gesagt worden ist.
Denn wenn man dieses Problem unter dem Gesichtspunkt der gesamtdeutschen Nation sieht, wenn man die Wahlrechtsfrage als eine Frage der Nation betrachtet, dann kommt man natürlich zu einem eindeutigen Ja zum Verhältniswahlrecht. Alles andere ist gegen die einheitliche Nation. Das ist doch jedem bekannt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht es um die Position unserer Nation in der Welt wirklich aus? Wir sind sehr froh, daß der Begriff „Nation" jetzt in unsere Diskussion mehr Eingang gefunden hat. Wir haben es seit Jahren versucht, wir haben seit Jahren davon gesprochen. Mit Recht hat Herr Kollege Barzel heute schon einmal ein Zitat aus der Denkschrift der EKD gebracht. Herr Präsident, ich bitte um die Genehmigung, ein weiteres hinzuzufügen, das vielleicht noch etwas deutlicher sagt, was die EKD meint. Es heißt da:Für die nächste Phase ist also davon auszugehen, daß die Nation noch politische Wirklichkeit ist. Sie ist keine unabänderliche Schöpfungsordnung, sondern historisch geworden. Der unabhängige Nationalstaat, der ohne Verpflichtungen für übernationale friedliche Ordnungen nur seine eigenen Ziele verfolgt, ist für uns endgültig überholt. Aber die völlige Verneinung der Nation ist historisch, politisch und gesellschaftlich ebensowenig realistisch. Die Völker in Europa wollen noch immer in eigener Verantwortung sie selbst im Sinne von Nation sein.So weit dieses Zitat. Ich glaube, hier ist in einer hervorragenden Weise die Stellung der Nation in der heutigen Zeit gekennzeichnet worden, und wir sollten es dankbar begrüßen, daß diese Äußerungen eben nicht nur Äußerungen der in der Bundesrepublik tätigen evangelischen Christen sind, sondern daß es hier zu einer gemeinsamen Erklärung vonVertretern der evangelischen Kirche aus beiden Teilen gekommen ist. Ich weiß, daß der eine oder andere an der einen oder anderen Stelle Bedenken hat. Es ist ein Diskussionsvorschlag. Aber sorgen wir doch dafür, daß die allgemeine politische Diskussion mit solchen Dokumenten, mit solchen Äußerungen, wie es hier geschehen ist — ich wiederhole es: aus beiden Teilen Deutschlands —, angereichert wird, statt daß man ständig, wenn solche und ähnliche Stellungnahmen kommen, als erstes nein sagt, weil einem das eine oder andere nicht paßt.
— Herr Kollege, da gab es eine ganze Reihe Äußerungen, die davon ausgingen. Ich habe nicht gesagt, daß es hier in diesem Hause ist. Aber wir sprechen ja nicht nur von uns. Wir sprechen ja auch von Organisationen usw., die dazu Stellung nehmen, und manche von Ihnen sind sehr schnell geneigt, Proteste von Organisationen aufzunehmen und hier zu vertreten. Davor wollte ich Sie gerade bewahren. Man soll die Dinge erst einmal gründlich zur Kenntnis nehmen.
— Wenn ich alles anführe und Ihnen erzähle, was gegen die verschiedenen Denkschriften der evangelischen Kirche, gegen den Bensberger Kreis, gegen die verschiedenen Institutionen gesagt worden ist, dauert das zu lange. Seien Sie doch froh, wenn politische Stellungnahmen kommen, wehren Sie sich doch nicht dagegen!
— Lesen Sie doch einmal die verschiedenen Informationsdienste nach. Ich denke z. B. an DOD. Da lesen Sie doch einiges dazu. Haben Sie das noch nicht getan? Ich habe es getan.
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß in der Erklärung, die gestern der Vorsitzende des Staatsrats der DDR abgegeben hat, wieder ein glattes Nein zu uns gesagt wurde.
— Wenn Sie „DDR" überlesen haben in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, dann tut es mir leid. Allerdings muß ich jetzt hier einfügen: Es war erstaunlich zu sehen, welche Varianten in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers waren: einmal „DDR", einmal „anderer Teil Deutschlands", einmal „Ostberlin". Man hat so richtig das Gefühl, es kam ganz darauf an, von welchem Ressort es kam, welche Formulierung hier gewählt worden ist.
Wir sind uns bewußt, daß das, was gestern in derErklärung Ulbrichts zum Ausdruck gebracht wordenist, natürlich die Dinge nicht erleichtert. Aber ich8318 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag; den 14. März 1968Mischnickgebe dem Kollegen Barzel recht, der sagt, wir sollten uns in unserer gemeinsamen Politik dadurch nicht beeinflussen lassen. Wir müssen sehr sorgfältig prüfen, ob nicht vielleicht an der einen oder anderen Stelle ein erwägenswerter Satz ist, — es sind immerhin 20 Seiten, und ich gestehe offen, daß ich den vollen Wortlaut aller 20 Seiten noch nicht zur Kenntnis bekommen habe. Deshalb wage ich nicht, jetzt ein abschließendes Urteil abzugeben. Man kann also vielleicht den einen oder anderen Punkt finden, wo wir aktiv ansetzen können.Eines ist klar: Seit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO drängt die Sowjetunion darauf, die deutsche Frage durch Verhandlungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu lösen. Moskau weigert sich beharrlich, die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands mit den drei Westmächten am Verhandlungstisch zu erörtern. Die UdSSR ist lediglich bereit, mit allen Staaten, die am zweiten Weltkrieg beteiligt waren, über einen Friedensvertrag zu verhandeln, der dann mit beiden deutschen Staaten abgeschlossen werden soll. So das letzte, was uns an Meinungsäußerungen vorliegt. Wobei wir nicht ganz aus unserem Gedächtnis verbannen sollten, daß es eine Zeit gab, 1958, wo das von sowjetischer Seite noch anders lautete. Damals ist nicht von einem Vertrag mit zwei Staaten gesprochen worden. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und auch Frankreich sehen ja doch nicht zuletzt aus diesem Grund im Augenblick keine Chance, sich mit der Sowjetunion über die deutsche Frage zu einigen. Aber wir müssen doch sehen, daß die Amerikaner mit der Sowjetunion über Probleme verhandeln, über die nach ihrer Meinung jetzt schon Übereinstimmung erzielt werden kann. Die Engländer teilen diese Auffassung.Die Franzosen — das ist mit Recht schon hier gesagt worden — bemühen sich, mit Ost- und Südosteuropa weiterzukommen. Aber — auch wir unterstreichen das, was Kollege Schmidt sagte — wir sollten uns keiner Täuschung über den Gehalt der französischen Politik hingeben.Wir müssen auch feststellen, daß heute bereits eine gewisse Übereinstimmung zwischen den kommunistischen Staaten und den Westmächten in der deutschen Frage besteht; nämlich die mangelnde Bereitschaft beiderseits, in naher Zukunft die deutsche Frage am Verhandlungstisch überhaupt zu erörtern. In welcher Form auch immer sich die Verhandlungen der Mächte über und mit Deutschland vollziehen mögen, eines ist notwendig: eine klare und überzeugende Konzeption des Westens über den politischen und militärischen Status von Gesamtdeutschland. Darüber, welche Lösung man hier anstrebt, war leider nichts zu hören. Es war auch nichts darüber zu hören — was als Ergänzung vom Kollegen Schmidt kam —, daß man alles, was mit Grenzfragen zusammenhängt, illusionslos betrachten muß.Es ist unbestreitbar, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich die Lage in der Welt seit der Schaffung der Bündnissysteme, NATO auf der einen Seite und Warschauer Pakt auf der anderen Seite, gewandelt hat. Früher standen die Fragen der Abwehr möglicher Angriffe im Vordergrund. Heute beherrschen Gedanken der Abrüstung und der Nichtverbreitung von Atomwaffen die Diskussion. Zwingt uns das nicht dazu, die Strukturen, die Aufgaben dieser Bündnissysteme in West und Ost zu überdenken?In diesem Zusammenhang war es mir hochinteressant, daß sich Kollege Barzel heute sehr deutlich von einer französischen Studie distanzierte. In der „Stuttgarter Zeitung" vom 12. März steht allerdings, daß genau diede Studie als Arbeitsdokument entsprechend einer deutschen Anregung verwendet werden soll. Nun frage ich mich: Ist der Fraktionsvorsitzende der stärksten Regierungspartei nicht genau orientiert, daß hier das Auswärtige Amt diese französische Studie als Grundlage nimmt, oder trifft die Meldung nicht zu, oder ist das Auswärtige Amt hier anderer Meinung als der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU? Das sind doch Probleme, die wir in aller Nüchternheit diskutieren und klarstellen müssen. Es wäre doch erstaunlich, wenn ein offizielles Arbeitspapier der deutschen Bundesregierung, das nach diesem Bericht der Herr Bundeskanzler noch nicht einmal gelesen haben soll — ob das zutrifft, weiß ich nicht —, vom Fraktionsvorsitzenden der stärksten Partei als nicht diskutabel abgelehnt wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Majonica?
Ja.
Herr Kollege Mischnick, ist Ihnen bekannt, daß das eines von vielen Arbeitspapieren ist, das dieser Arbeitsgruppe zugewiesen worden ist, und sicherlich nicht die Grundlage für die deutsch-französische Zusammenarbeit bilden wird?
Wenn Sie damit bestätigen, daß das, was in der Presse steht, zutrifft, daß der. Außenminister oder das Außenministerium hier selbtsändig gehandelt haben, dann ist das eine Frage, die Sie 'in der Koalition ausmachen müssen. Das ist nicht unsere Frage. Wir wollen nur wissen: weiß diese Koalition in dieser Frage gemeinsam, was sie will, oder gibt ,es hier zwei verschiedene Wege, die sie gehen will?
Meine Damen und Herren, sollten wir nicht jetzt, wo ,die verschiedenen Verträge ablaufen, die Zeit nutzen, um mit der Diskussion eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems gleichzeitig die deutsche Frage ins Spiel zu bringen? Das kann natürlich nur gelingen, wenn die Bundesrepublik auch in diesen Fragen aktive Politik treibt und nicht passiv bleibt. Das Angebot ,der Gewaltverzichtserklärung, die Friedensnote der vergangenen und der jetzigen Regierung sind von unis immer wieder begrüßt worden; es sind — ich wiederhole es — Schritte nach vorn. Sie sind Schritte ,der Aktivierung der deutschen Politik. Aber wir dürfen uns nichtDeutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 1.60. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8319Mischnick.scheuen, um der deutschen Frage willen die Gesamtdiskussion auszuweiten, um damit vielleicht Chancen für eine politische Lösung der deutschen Frage zu schaffen.Wir stehen doch heute — machen wir uns nichts vor — praktisch vor einem stillschweigenden Disengagement im mitteleuropäischen Raum. Je weiter dieses Disengagement aber verwirklicht wird, ohne daß damit politische Lösungen für Mitteleuropa verbunden sind, um so leichter wird ,es möglich sein, den Status quo zu unserem Nachteil .einfrieren zu lassen. Es 'isst unbestreitbar, daß die Neigung auf allen Seiten ständig wächst, die deutsche Frage auszuklammern, weil man sich keine zusätzlichen Schwierigkeiten machen will. Deshalb muß eine aktive deutsche Politik prüfen — und ich freue mich, daß in dieser Richtung schon ,einiges angeklungen ist —, ob nicht frühere Überlegungen über Rüstungsbeschränkungen im mitteleuropäischen Raum, über die Nichtverbreitung von Atomwaffen :in diesem Gebiet neue Aktualität gewinnen, neu durchdacht und möglichst bald mit eigenen Vorstellungen ergänzt werden müssen. Sehen wir doch, daß wir in der deutschen Frage nicht weiterkommen werden, solange sich ausländische Divisionen auf beiden Teilen deutschen Gebiets gegenüberstehen! Das Interesse an einer militärischen, insbesondere atomaren Verdünnung oder gar völligen Lösung ist auf beiden Seiten vorhanden. Diese 'eventuelle Möglichkeit muß doch von uns politisch genutzt werden, damit wir nicht eines Tages vor der Situation stehen, daß .die atomaren Großmächteüber den mitteleuropäischen Raum Vereinbarungen getroffen haben, ohne ,daß wir unser politisches Gewicht überhaupt zum Tragen bringen konnten. Atomwaffenfreie Zonen sind doch leichter zu erreichen, solange in ,den davon betroffenen Räumen eben noch keine nationalen Atomwaffen vorhanden sind oder durch multilaterale Vereinbarungen weitere, dann schwerer zu lösende Bindungen entstanden sind. Wesentliche Gedanken dazu sind in dem so oft geschmähten Memorandum der Bundesregierung vom 9. August 1963 enthalten. Aber wir haben leider erleben müssen, daß der Weg, den man über den Botschafterlenkungsausschuß gehen wollte, sich als ungangbar erwiesen hat. Die Bundesregierung sollte jetzt überprüfen, ob nicht die in diesem Memorandum enthaltenen Gedanken weiterentwickelt werden könnten und ob man nicht so mit einer neuen Initiative dann eben an alle vier Mächte herantreten könnte, .die ja jetzt erst wieder im Zusammenhang mit 'unserer Tagung in Berlin deutlich gemacht haben, daß sich alle vier, zumindest für diesen Bereich, verantwortlich fühlen.Es wäre an der Zeit, auch einmal darüber nachzudenken, ob nicht die Gedanken unseres Kollegen Pfleiderer von vor 15 Jahren wieder durch manche Entwicklungen in der Weltpolitik aktueller geworden sind. Ist es nicht ferner notwendig, den Mut zu haben, noch einmal über Rapackis Vorstellungen nachzudenken, sie daraufhin abzuklopfen, ob da nicht das eine oder andere Verwertbare vorhanden ist oder durch uns entsprechend zu ergänzen ist und ob wir nicht hier einen Schritt weiterkommen zu dem europäischen Sicherheitssystem, ob nicht das,was vor Jahren einmal als Gedanke eines cordon sanitaire quer durch Europa in der Diskussionstand, heute unter anderen Gesichtspunkten neu zu prüfen ist?Wir haben die Bemühungen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Paktes immer wieder begrüßt. Insbesondere freuen wir uns darüber, daß jetzt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Jugoslawien endlich erfolgt ist. Ich hoffe, sie wird vollzogen werden, wobei ich an die personellen Schwierigkeiten der Koalition in dieser Frage denke. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, müssen Sie sich nicht eingestehen, daß es besser gewesen wäre, dem Rat von Pfleiderer vor 10 Jahren gleich zu folgen und diese Beziehungen überhaupt nicht abzubrechen, nicht jahrelang einen wichtigen Posten aufzugeben?Mit Recht hat der Herr Kollege Barzel angeführt, daß der Atomsperrvertrag heute eine gewichtige Rolle spiele. Aber nach dem, was wir bisher dazu von der CDU/CSU und von der SPD hören konnten, gibt es doch nur ein „Jein" zu diesen Fragen. Eine klare Haltung in der Koalition ist bis zur Stunde noch nicht vorhanden. Wen wundert es denn dann, daß Mißtrauen in die Politik der Bundesregierung entsteht, wenn man das Gefühl hat, daß die sie tragenden Fraktionen in diesen Fragen selbst noch keine Klarheit geschaffen haben? Wir sollten das Bemühen der Großmächte, durch den Atomsperrvertrag das Risiko eines Atomkrieges zu verhindern, im Interesse unserer Nation unterstützen. Allerdings gehen wir Freien Demokraten dabei davon aus, daß die nicht atomar gerüsteten Staaten in der friedlichen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie und in der technologischen Entwicklung nicht behindert werden.Auch hier sollte sich die Bundesregierung nach unserer Auffassung darum bemühen — und es sind ja gewisse Ansätze sichtbar geworden —, daß die Staaten, die auf den Besitz von Atomwaffen verzichten, durch eine Garantie der Atommächte davor geschützt werden, daß diese ihre atomares Potential gegen die Unterzeichner des Vertrages nicht einsetzen oder als Druckmittel benutzen. Die Frage zu lösen, wird ein entscheidender Punkt sein, ob man mit diesem Vertrag in der Entspannungspolitik insgesamt tatsächlich weiter kommt.Meine Damen und Herren, mit Recht ist vorhin darauf hingewiesen worden, daß die dänische Regierung früher in der deutschen Frage etwas positiver eingestellt gewesen sei. Nun, ich habe hier ein sehr interessantes Zitat von Per Haekkerup, dem Chef der dänischen Opposition, das in der „Zeit" in einem Interview gestanden hat. Er hat dort zur Europapolitik Stellung genommen — und das sollte doch eigentlich vor allem den Kollegen von der SPD einigen Anlaß zum Nachdenken geben — und gesagt, Außenminister Brandt habe zwar den besten Willen, Großbritannien und die anderen Aspiranten bald in die EWG zu bringen. Die gegenwärtige Bundesregierung sehe sich aber veranlaßt, weitgehend Rücksicht auf Frankreich zu nehmen. Die frühere Regierung Erhard/Schröder wäre vermutlich entschiedener vorgegangen. — Ich glaube, darin ist manches Wahre
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Mischnickenthalten. ist es nicht notwendig, hier deutlicher zu sagen, nicht nur zu sagen, sondern auch unseren möglichen Einfluß geltend zu machen, damit wir weiter kommen und nicht das Gefühl entstehen lassen, als schwankten wir ständig zwischen Frankreich und England hin und her?Meine Damen und Herren, lassen Sie mich im letzten Teil noch ein paar Bemerkungen zur allgemeinen Deutschlandpolitik machen. Aus dem, was Kollege Schmidt hier gesagt hat, geht hervor, daß manches an Grundlagenforschung bei uns leider noch nicht ausreichend ist. Um in der Deutschlandpolitik auch Fortschritte erzielen zu können, brauchen wir mehr Kenntnisse über die tatsächliche Entwicklung und nicht nur Beurteilungen, vielleicht aus eigenem Erleben, aus Berichten, die nicht immer die neuesten sind. Ich bin deshalb der Meinung, daß es von Nutzen wäre, wenn neben dem, was auch aus privater Initiative, was durch Verbände und Organisationen geschieht, in der_ Bundesrepublik endlich eine systematische Erforschung der Vorgänge in Mitteldeutschland eingeleitet würde. Wir haben an unseren Universitäten die verschiedensten Institute, die sich mit den verschiedensten Fragen in der Welt befassen. Aber ein Institut, das den speziellen Auftrag hat, die Vorgänge in Mitteldeutschland auch gesellschaftspolitisch zu erforschen und die Ergebnisse uns nutzbar zu machen, haben wir bis heute nicht. Hier sollten wir Versäumtes nachholen. Man muß doch endlich einsehen, daß die Entwicklung in vielen Dingen weiter gegangen ist, daß wesentliche Voraussetzungen für künftige Überlegungen, wie ein geregeltes Nebeneinander wirklich entstehen kann, nur aus der genauen Kenntnis des heutigen Tatbestandes, der heutigen Situation geschaffen werden können.Wir wissen doch auch, daß die Meinungen in der SED unterschiedlich sind. Denken Sie bitte an den Selbstmord Apels vor einiger Zeit, als die Frage der wirtschaftlichen Beziehunngen zwischen den beiden Teilen Deutschlands in die vordergründige Diskussion kam. Heute habe ich den Eindruck, daß viele das schon wieder vergessen haben und allzuleicht geneigt sind, aus einer negativen Reaktion sofort in die Resignation zu gehen. Wir sollten auch aufhören, wenn wir über den Bericht zur Lage der Nation sprechen und Konsequenzen daraus ziehen wollen, Kollektivurteile zu fällen. Auch das ist leider bei uns noch weit verbreitet. Die gleichen, die sich 1945/46 mit Recht dagegen gewehrt haben, daß das ganze deutsche Volk kollektiv als Nazis verurteilt wird, die gleichen sind heute allzuleicht bereit, jeden der an Mauer und Stacheldraht mit einer umgehängten Maschinenpistole entlang marschiert, als einen bösartigen unverbesserlichen Kommunisten darzustellen. So ist es doch nicht. Hüten wir uns davor, Kollektivurteile zu fällen! Natürlich gibt es da manche Fanatiker, aber sorgen wir dafür, daß hier nicht durch eine falsche Pauschalierung die Teilung der Nation gefördert wird!Das geht doch so weit, daß es in unseren Landen schon manche gibt, die sich darüber freuen, wenn z. B. bei internationalen Sportereignissen ein Vertreter aus der DDR nicht gewinnt, und die es schonals eine politische Tat ansehen, wenn sie sich darüber freuen. Wir sollten diesen Fehler nicht machen, sondern hier die Gemeinsamkeit in den Vordergrund stellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gradl?
Herr Kollege Mischnick, wollen Sie es von der Tribüne dieses Hauses aus wirklich bei dem Eindruck belassen, den Sie jetzt hervorgerufen haben, es sei eine einigermaßen nennenswerte Erscheinung in unserem Lande, daß man sich freut, wenn der andere eine Niederlage erleidet?
Haben Sie nicht vielmehr mit mir den Eindruck, daß .sich die wahre Zusammengehörigkeit dieses Volkes auch darin zeigt, daß sich die Menschen hier in aller Breite und Intensität freuen, wenn einer von drüben eine Olympiamedaille gewinnt?
Ich bin sehr froh darüber, Herr Kollege Gradl, daß Sie mich in meiner Argumentation unterstützen. Leider haben wir es aber erleben müssen, daß bei mancher Zeitungsberichterstattung diese Fragen doch in einer Weise be- handelt worden sind, die dem Zusammenhalt der deutschen Nation nicht gerade dienlich ist.
Ich denke nur daran, wie bei uns teilweise über die Frage des Ausschlusses der Rodler der DDR argumentiert worden ist. Dagegen wende ich mich. Daß wir unseren eigenen Standpunkt wahrnehmen, geschieht völlig zu recht. Wir müssen aber dafür sorgen, daß die Gemeinsamkeit bleibt. Ich wehre mich dagegen — das sind Einzelerscheinungen —, wie es z. B. in der Berichterstattung über die Rodelwettbewerbe aus Grenoble zum Teil geschehen ist, daß Dinge in die Debatte gebracht werden, die damit nichts zu tun haben. Das ist leider geschehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß feststellen, daß bei diesem Bericht zur Lage der Nation nur davon gesprochen worden ist, was sein müßte. Wir haben vermißt, daß Impulse, daß langfristige Dispositionen für Lösungen der großen Aufgaben von Staat und Gesellschaft sichtbar geworden sind.Wir müssen endlich davon abgehen, daß wir von Tag zu Tag leben. Die provinziellen Maßstäbe, die bei manchen Dingen angewandt worden sind, sollten endlich über Bord geworfen werden. Eine vorausschauende Politik ist notwendig. Es ist erforderlich, daß ein solcher Bericht zur Lage der Nation die veränderten Gegebenheiten nicht nur nüchtern
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Mischnickdarstellt, sondern die Wege weist, wie wir die Probleme lösen wollen. Das ist leider nicht geschehen. Man hat darauf verzichtet, hier eine Politik des Fortschritts deutlich zu machen. Wir können die Aufgaben, die vor uns liegen, nur dann lösen, wenn mehr Beharrlichkeit, mehr Selbstvertrauen, mehr Zielstrebigkeit und mehr Mut zu Entscheidungen bestehen. Dieser Mut hat aber in dieser Regierung gefehlt.
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Sie dauert bis 15 Uhr. Um 15 Uhr wird die Debatte fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Als nächster Redner hat der Abgeordnete Dr. Zimmermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die außen- und ostpolitischen Ausführungen, die der Kollege Helmut Schmidt heute vormittag gemacht hat, wird ein anderer meiner Freunde nachher noch eingehen.Mit Recht könnte man der Bundesregierurng und diesem Parlament vorwerfen, daß sie die Augen vor den Schrecklichkeiten unserer Tage zu verschließen suchten, um sich in provinzieller Selbstbetrachtung zu verlieren, wenn wir hier nicht auch über den Krieg in Vietnam sprächen. Es gibt wohl kaum jemanden in unserem Volke — und das gilt für die Deutschen diesseits und jenseits der Elbe in gleicher Weise wie für alle Europäer —, der nicht von Grauen erfaßt ist und der nicht miterlebt und mit-erleidet, was er tagtäglich an kriegerischem Töten, an unsäglichem menschlichem Elend und an blindwütiger Zerstörung über die modernen Kommunikationsmittel frei Haus geliefert erhält. Immer stärker rückt die Menschheit zusammen, und ihr Schicksal — ihr Friede oder ihr Unglück — wird damit unteilbar. Dieser Tatbestand drückt sich, wie ich meine, bereits in unser aller Gewissen aus, das mit diesem Geschehen belastet ist, dem niemand passiv oder gar unberührt gegenüberstehen kann und will.
Was vielen von uns Deutschen und den übrigen Europäern aber noch fehlt, ist das Bewußtsein weltpolitischer Zusammenhänge, wie sie zwischen den Ereignissen, die sich heute in Südostasien abspielen, und unserem eigenen Geschick bestehen.
Wenn dieses Bewußtsein vorhanden wäre, würde für die Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika mehr Verständnis vorhanden sein, als es ist.
Wir Europäer erkennen zwar unsere Unfähigkeit, auf fatale Entwicklungen und Katastrophen mit weltpolitischen Auswirkungen Einfluß zu nehmen. Begreifen wir aber auch die Folgen unseres Zustandes der Hilflosigkeit! Wir sollten uns endlich darüber klarwerden, daß unsere Ohnmacht und Schwäche nur größer werden durch jede Auseinandersetzung, in die irgendwo auf dem Globus die Weltmächte auch nur indirekt miteinander geraten. Der Status quo der europäischen Teilung und inneren Zersplitterung, wie er sich gegenwärtig darstellt, ist alles andere als ein Element der Stabilität. Vielmehr stellt unser Kontinent, aufgeteilt in Interessensphären zweier Supermächte, ein Manövrierfeld für Druckversuche, ein mögliches Objekt für Handel und Händel dar oder könnte es wieder darstellen, auch wenn es gegenwärtig nicht so aussieht. Je schlechter es mit Europas Sicherheit im Innern und nach außen bestellt ist, desto unsicherer wird die Weltlage bleiben.
Verspräche sich Moskau durch sein Engagement in Vietnam nicht auch Möglichkeiten, die amerikanische Haltung gegenüber Europa in seinem Sinne zu beeinflussen, würde vielleicht der Friede für Vietnam schneller zu erreichen oder schon gekommen sein.Der Atomsperrvertrag, den die beiden Weltmächte ausgehandelt haben, richtet sich leider auch gegen ein eigenständiges Europa, weil die von uns gewünschte europäische Option nach dem vorliegenden Entwurf ausgeschlossen scheint. Es wird und kann kein Europa mehr geben, das für seine Sicherheit selbst zu sorgen und seine wirtschaftliche Entwicklung in eigener Regie zu gestalten imstande wäre, wenn der Vertrag in dem vorliegenden Entwurf erst einmal von den Europäern unterschrieben sein sollte.Die sogenannte Sicherheitsratsgarantie, auf die sich die USA und die Sowjetunion vor einigen Tagen im Handumdrehen geeinigt haben, deutet leider auch darauf hin. Sie ist, ob man es wahrhaben will oder nicht, auch ein Mittel zur Verhinderung einer europäischen Option.Der Entwurf der Weltmächte bietet darüber hinaus keineswegs nur theoretische Möglichkeiten, die Euratom-Gemeinschaft zur Auflösung zu bringen. Damit würde eine europäische Energiepolitik schon im Ansatz zunichte gemacht, was durch eine paraphierte Abhängigkeit von außereuropäischen nuklearen Brennstoffmonopolen noch besiegelt würde.Zum Nichtverbreitungsvertrag schreibt der Korrespondent der New York Times in Genf in diesen Tagen, die Kopräsidenten hätten die Schlacht über den endgültigen Text der UNO-Vollversammlung überlassen. Die Gemeinsamkeit der Ansichten Fosters und Roschtschins habe inzwischen einen solchen Grad erreicht, daß sie dieselbe Ausdrucksweise benutzten.Ich weiß, daß in diesem Kreise vielen bekannt ist, wie sorgfältig wir auch die Entwicklung vom 15. März an in dieser Frage beobachten müssen. Es war richtig von den Genfer Staaten, die Absichten
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8322 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Zimmermannder Sowjetunion und der Vereinigten Staaten, den Text des Sperrvertrages nicht mehr als Entwurf, sondern schon schlicht als fertigen Text zu bezeichnen, zurückzuweisen und dafür zu sorgen, daß immer noch ein Entwurf bei der UNO vorliegt, kein fertiger Text.Der Sperrvertrag ist, so wie er geplant, angelegt und schließlich formuliert wurde, durchaus geeignet, bei allen europäischen Völkern die Erkenntnis reifen zu lassen, daß sie in ein Boot gehören. Das dürfte auch den Vertretern jener osteuropäischen Staaten bewußt geworden sein, die sich vor einigen Tagen als Mitglieder des Warschauer Paktes in Sofia den Weisungen Moskaus fügten. Sie haben sich noch nicht den Grad an außenpolitischer Handlungsfreiheit erworben, der es ihnen erlaubte, im Sinne ihrer nationalen Verantwortung eine Entscheidung für die Zukunft zu fällen.Wir aber in der Bundesrepublik Deutschland werden jetzt zu beweisen haben, daß wir die Verantwortung für die Erhaltung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes — und das ist ein existentieller Vertrag — zu tragen bereit sind. Der Bundeskanzler hat mit aller Klarheit zum Ausdruck gebracht, .daß nur ein vereinigtes westliches Europa, das eine Autonomie gegenüber den befreundeten großen atlantischen Verbündeten zu gestalten gewillt ist, den Grenzwall überwinden könnte, der Deutsche von Deutschen und Europäer von Europäern trennt. Der Bundeskanzler hat in diesem Zusammenhang dankenswerterweise auch jenen eine Abfuhr erteilt, die ängstlich vor einer eigenständigeren europäischen Politik mit der Begründung warnen, Amerika würde sich angesichts solcher Entwicklungen von uns trennen. Er hat damit den Kleinmut und das Mißtrauen aufgedeckt, die gewisse Kreise unseren Freunden und Gleichgesinnten jenseits des Atlantik entgegenbringen. Wie auch immer Amerika unter dem Druck tagespolitischer Erfordernisse jetzt glaubt handeln zu müssen, wird es doch im Interesse seiner nationalen und der Sicherheit der Welt auf längere Sicht die europäischen Partner zu schätzen wissen, die ihm einen Teil seiner Verantwortung abzunehmen entschlossen sind.Mein Freund Franz Josef Strauß hat kürzlich davon gesprochen, daß für ein solches Verhalten bei den Westeuropäern zwar zum Teil die Einsicht, aber noch nicht die Entschlußkraft vorhanden ist. Um diese geschichtliche Entscheidung geht es. Wir haben die Zeit zu nutzen, die uns noch bleibt, um unter dem Schirm des militärischen Engagements Amerikas eine wirkungsvolle Verteidigungsorganisation in Westeuropa zu schaffen, die zur Grundlage für ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem werden kann. Die europäischen Völker und Staaten müssen sich voreinander sicher fühlen, aber auch als eine auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesene Gemeinschaft für ihre äußere Sicherheit sorgen können.So fern uns dieses Ziel eines autonomen „Europa der Völker" vom Atlantik bis zur Sowjetunion auch noch erscheinen mag, wir können allzuschnell schon zu diesem Zeitpunkt jede Chance verspielen, umes überhaupt zu erreichen. Entscheidend für die Zukunft des ganzen Europa ist heute, daß die Staaten im Westen dieses Kontinents ihr Potential zusammenlegen und mit ihrer wachsenden Selbständigkeit konsequent darauf hinarbeiten, das Leistungsgefälle zwischen den beiden Teilen Europas an- und auszugleichen.Was also dazu beiträgt, die osteuropäischen Staaten kooperationsfähiger und koalitionsbereiter mit Westeuropa zu machen, sollte mit allen Mitteln gefördert werden. Dabei sollten wir uns von der Maxime leiten lassen, daß die äußere Freiheit und Unabhängigkeit, die die europäischen Völker nur durch ihr Zusammenstehen erringen können, Voraussetzung auch für die Erhaltung und Durchsetzung ihrer inneren Freiheiten sowie ihres Selbstbestimmungsrechts sind.Daß solche Gedanken auch in Ländern mit sozialistischen Gesellschaftsordnungen aufkommen, beweist ein Artikel in der Prager „Svobodne Slovo", in dem es vor einigen Tagen hieß:Eine feste, langfristige Zusammenarbeit aller europäischen Staaten in Wirtschaft, Kultur und allmählich sogar auf politischer Ebene ist ohne Zweifel eine feste Grundlage für die europäische Sicherheit.Es heißt weiter:Es werden schließlich günstigere Voraussetzungen für die Lösung vieler anderer schwieriger europäischer Probleme geschaffen werden, zu denen auch die deutsche Frage gehört.Soweit eine tschechoslowakische Zeitung am 11. März 1968.Hier ist also mit großer Deutlichkeit die Rede von „allen europäischen Staaten", die schließlich auch zu einer politischen Zusammenarbeit gelangen könnten. Man darf wohl hinzufügen, daß solches auch zwischen Ländern mit verschiedenartigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen möglich sein sollte, wenn das übergeordnete Interesse an der Kooperation ein Entstehen flexibler Lenkungsorgane und Strukturen begünstigt. Einen solchen Prozeß der europäischen Gemeinschaftsbildung vorzubereiten und voranzutreiben sollten gerade wir als unsere vornehme nationale Verpflichtung empfinden. Denn schließlich ist es doch — um die Worte des Bundeskanzlers zu wiederholen — der höchste Sinn unseres Ringens um die Wiedervereinigung der deutschen Nation, daß wir Freiheit und Fülle der Existenz für alle Deutschen zu gewinnen trachten.Die Verantwortlichkeit eines handlungsfähigen Westeuropa für das Zustandekommen .einer gesamteuropäischen Friedensgemeinschaft erlaubt keine Experimente, ,die ,auf eine Trennung der Bundesrepublik von ihren westlichen Nachbarn hinauslaufen. In .die Kategorie solcher gefährlichen Gedankenspiele gehört jenes Modell von einer „mitteleuropäischen Union", .das von bestimmten Kreisen ganz zu Unrecht in die Nähe offizieller politischer Erwägungen der französischen Regierung gerückt worden ist. Mein Kollege Dr. Barzel hat
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8323
Dr. Zimmermannheute vormittag ,dazu schon gesprochen. Ich meine, jene Studie eines Pariser Instituts, des Centre d'Etudes de Politique Etrangère, das in seiner Bedeutung etwa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gleichzusetzen ist. In dieser Ausarbeitung, ,die übrigens schon älteren Datums, vom Vorjahr, ist und die durch eine deutsche Veröffentlichung unmittelbar vor den letzten Konsultationsgesprächen mit Frankreich ein wenig hochgespielt wurde, vereinigen sich Elemente des Rapacki-Plans mit Ideen von einer Konförderation zweier deutscher Staaten. Jedermann weiß, ,daß Moskau die Möglichkeit eines deutschen Staatenbundes nur als propagandistischen Köder benutzt hat, mit dem es die Bundesrepublik aus ihren Bindungen mit dem Westen herauszulocken suchte. Inzwischen haben sowohl Moskau als auch Ostberlin dieses: Phantom öffentlich sterben lassen. Warum ist es ausgerechnet jetzt auf unserer Seite zu neuem Scheinleben erweckt worden, und wie ist es vorstellbar, daß ein Konzept, ,das .die gegenseitige Isolierung der deutschen und französischen Potentiale vorsieht, offenbar auf einen deutschen Vorschlag hin .als Arbeitsdokument für ,eine Untersuchung über die Möglichkeiten eines europäischen Sicherheitssystems ausersehen wurde? Presseberichten zufolge soll man gerade am Quai d'Orsay nicht wenig erstaunt darüber gewesen sein, daß nach deutschem Wunsch gerade auf dieser Basis ein bilateraler Gedankenaustausch über die europäische ,Sicherheit in Gang gesetzt werden sollte.
Ein anderes, höchst bedenkliches Symptom für den Mangel an westeuropäischem Zusammenhalt ist_ Englands Haltung gegenüber diem akuten Problem des Sperrvertrags, das dort offenbar in seiner wahren Bedeutung nicht erkannt worden ist. Londons Verhalten in dieser Frage deutet zumindest nicht darauf hin, daß Großbritannien seine „special relationship" zu den USA zu lockern bereit wäre, um sich voll und ganz für europäische Aufgaben und Interessen einzusetzen. Der britischen Regierung hätte sich gerade .auf diesem entscheidenden Gebiet der europäischen Sicherheits- und Energiepolitik eine einmalige Gelegenheit geboten, um ihre Solidarität mit den Völkern des Kontinents unter Beweis zu stellen. Sie hätte damit jene ins Unrecht setzen können, die heute noch Zweifel an einer ernst gemeinten britischen „Entscheidung für Europa" äußern.
Englische Staatsmänner haben sich leider weder in Genf noch bei ihren 'Gesprächen in Moskau dementsprechend verhalten, ebenso Wie sich London bisher immer noch nicht entschließen konnte, an der Erstellung einer Isotopen-Trennanlage mitzuwirken, die Europa vom amerikanischen Brennstoffmonopol unabhängiger machen könnte.
Natürlich brauchen wir Großbritannien, wenn wir ein eigenständiges Europa aufbauen wollen. Aber dieses England sollte dann neben seinen menschlichen und technologischen Kapazitäten auch denWillen zur europäischen Selbstbehauptung mit in die Gemeinschaft' einbringen, deren Sinn sich nicht in ,der Schaffung eines Supermarktes erschöpfen kann und darf.
Ich bin ein wenig skeptisch, was ich gerade an diesem attraktiven Beispiel, Herr Kollege Matthöfer, klarzumachen versuchte.Wir brauchen eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik der westeuropäischen Staaten, ohne die es keine wirksame technologische Gemeinschaft und erst recht keine Aussicht auf ein Zusammenwirken und Zusammenwachsen der ganzen europäischen Völkerfamilie geben kann. Wir brauchen eine erst einmal mit unseren westlichen Nachbarn gemeinsam definierte Politik für ein „europäisches Europa", das weder an der Elbe noch an den Pyrenäen enden soll und das seine inneren Staatsgrenzen einmal soweit abzubauen imstande ist, daß unser Volk wieder einmal unter einem Dach zu leben vermag.
Im Kreise meiner politischen Freunde und meiner Partei sind vier deutsche essentials für eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik formuliert worden, die wir jenen westeuropäischen Partnern vorzulegen hätten, die zusammen mit uns das nicht zu umgehende Wagnis einer auf Gesamteuropa orientierten Politik eingehen wollen. Es sind folgende Punkte:Erstens. Erhaltung der westlichen Allianz mit einem eigenständigen europäischen Verteidigungssystem, dem amerikanische Einheiten zugeordnet sind.Zweitens. Verstärkte Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten östlich der Jalta-Linie mit der Zielsetzung, die Teilung des Kontinents und die Trennung des deutschen Volkes zu beenden.Drittens. Gemeinsame Vertretung der Interessen West-Berlins und dessen funktionale Einbeziehung in den Prozeß einer europäischen Verflechtung.Viertens. Geeignete Maßnahmen zur Sicherung der europäischen Selbständigkeit und Wettbewerbsfähigkeit vor allem auf den Gebieten von Luft- und Raumfahrt, Energiepolitik und Rüstung.Wenn ich die Erklärung des Bundeskanzlers recht verstanden habe, dann decken sich diese Vorstellungen ziemlich nahtlos mit denen der Bundesregierung. Aber sprechen wir hier nicht länger mehr von Zielprojektionen und verschieben wir nicht unsere Entscheidungen in eine Zukunft, die in Wirklichkeit für uns auch politisch schon begonnen hat. Die zukünftige Welt könnte sonst leicht eine Welt ohne Europa werden, das man heute schon für unmündig erklären möchte, bevor es überhaupt Gestalt angenommen hat.Glauben Sie meinen politischen Freunden und mir bitte, daß wir diese Gedanken äußern und formulieren aus tiefem Ernst und Sorge, daß wir hinter der
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8324 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. ZimmermannEntwicklung in dieser Welt zurückbleiben würden, wenn wir sie nicht äußerten. Nehmen Sie auch bitte ernst, daß wir bedingungslos wünschen, daß unsere nationalen Interessen durch unsere demokratischen Parteien vertreten werden. Das darf kein Monopol für eine neonazistische Rechte werden; der Schaden wäre unübersehbar.
Sollten Sie meinen, daß diese Gedanken zu leidenschaftlich geäußert würden, so nehmen Sie sie cum grano salis. Aber nehmen Sie ihren Kern ernst. Sie waren und sollen nur sein ein Ausdruck unserer Verpflichtung und der Sorge für dieses Land.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich an dieser Stelle in die Debatte des Hohen Hauses eingreifen, nicht um mich zu wiederholen, sondern um zu einigen Bemerkungen Stellung zu nehmen, die sich im Laufe dieser Debatte hier im Hohen Hause ergeben haben, aber auch zu einigen Äußerungen von jenseits unserer Grenzen.Darf ich zunächst einmal etwas Grundsätzliches zu der Frage sagen: Wie soll eigentlich so ein Bericht über die Lage der Nation in Zukunft weiter ausgestaltet werden, was soll er enthalten? Es war der erste Bericht dieser Art, und ich habe es mir dabei sauer werden lassen. Ein Gedanke, den Herr Kollege Mischnick heute früh geäußert hat, ist auch von mir überlegt worden: ob man nicht angesichts der außerordentlichen Fülle des Stoffes, der bei einer solchen Gelegenheit eigentlich vorgetragen werden müßte, einen schriftlichen Bericht und dazu eine mündliche Stellungnahme oder Einleitung des Bundeskanzlers geben soll. Ich habe dann doch diesen Gedanken wieder verworfen, weil es mir schien, als ob wir dadurch eine Art von Statistischem Jahrbuch zur Deutschlandfrage, zur Lage der Nation, anfertigen würden und dann der eigentliche Bericht, den man von der Bundesregierung erwartet, dabei zu kurz kommen könnte.Aber ich schlage vor, daß wir es anders machen, daß wir einer Anregung folgen, die auch in einem Beitrag von Herrn Kollegen Mischnick enthalten war. Man könnte die Arbeit, die von zahlreichen Instituten zu dieser Frage jahraus, jahrein geleistet wird — Herr Kollege Mischnick hat gesagt, da gebe es nichts; er hätte sich vorher bei seinem Kollegen Mende erkundigen sollen, der ja als früherer Minister für gesamtdeutsche Fragen darüber sehr gut Bescheid weiß; es gibt weit über ein halbes Dutzend von Institutionen und Organisationen in der Bundesrepublik, die sich mit der Wirklichkeit im anderen Teil Deutschlands sehr intensiv beschäftigen —, Jahr für Jahr zu einem Gesamtbericht über die Lage im anderen Teil Deutschlands zusammenfassen. Das würde uns, glaube ich, weiterhelfen.
Im- übrigen bin ich für jede Anregung, diesen Bericht zur Lage der Nation noch umfassender, noch eindringlicher, noch zutreffender zu gestalten, natürlich dankbar.Ich sprach von einigen Äußerungen von jenseits unserer Grenzen und muß da natürlich zunächst Herrn Ulbricht erwähnen, der sehr prompt reagiert hat. Ich fasse diese prompte Reaktion von Herrn Ulbricht als ein Kompliment für diesen Bericht zur Lage der Nation auf; denn er hat sich offenbar genötigt gesehen, sofort zu reagieren. Ich nehme an, daß ein großer Teil der Bevölkerung drüben im anderen Teil Deutschlands im Fernsehen und im Rundfunk Gelegenheit hatte und hat, das, was hier vorgetragen wurde und wird, zu hören. Ich will auf seine Äußerungen nicht ausführlich eingehen. Aber ich kann es mir nicht versagen, doch noch einmal darzutun, wie er mit der Wahrheit umgeht, wie er verschweigt, verfälscht, verwehrt, verschließt.Er hat verschwiegen, daß nach einem halben Jahr immer noch keine Antwort auf meine Vorschläge vorliegt, auf jene Vorschläge, die der Bevölkerung im anderen Teil Deutschlands vorenthalten worden sind. Er wirft uns vor, daß wir atomwaffenlüstern seien, und verschweigt, daß wir ja längst auf den Besitz von Atomwaffen und nicht nur auf diese, sondern auch auf die anderen, vielleicht in einigen Jahren ebenso schrecklichen Vernichtungsmittel, nämlich die biologischen und chemischen Kampfstoffe, verzichtet haben. Er erweckt also den Anschein, als ob wir unseren Beitrag zu dieser großen Sache nicht leisten wollten. Er verfälscht. Und auf welch skurrile Weise tut er das! Er sagt, ich hätte den neonazistischen Kräften versichert, sie brauchten keine staatliche Maßnahme zu befürchten. Dieses Haus und alle Welt, die zuhörte, konnte hören, daß ich sagte:Die Bundesregierung wird gegenüber solchen Parteien, die die freiheitliche Ordnung in der Bundesrepublik bedrohen, alle verfassungsrechtlichen Maßnahmen ergreifen.Also glatte. Unwahrheit!Er behauptet, wir wollten die Finanzkraft und das Selbstverwaltungsrecht unserer Gemeinden bei der von uns betriebenen Neuordnung der Gemeindefinanzen beschneiden. Genau das Umgekehrte ist wahr. Die Frage der Notwendigkeit der Modernisierung unserer Verwaltung: Er behauptet, ich hätte gesagt, unsere Verwaltung und unsere Regierung müssen nach den Prinzipien der Bundeswehrführung umgestaltet werden!
Er verfälscht auf ganz bösartige Weise das, wais ich zu Vietnam gesagt habe. Er sagt den Menschen drüben im anderen Teil Deutschlands, ich hätte das Verständnis unserer Bevölkerung für die unvermeidliche Härte des Krieges in Vietnam gefordert. Ich habe im Gegenteil gesagt: Für unsere Bevölkerung ist der Gedanke an den Krieg überhaupt, aber vor allem- an ein Blutvergießen, das unvermeidlich auch
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Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerdie Zivilbevölkerung, Frauen und Kinder, mit einbeziehe, ein unerträglicher Gedanke.
Lassen wir es damit genug sein. Er verwehrt den Menschen drüben nach wie vor die Freiheit, zu sagen, was sie wollen und wohin sie wollen, und er verschließt sie gegenüber allen von uns angebotenen Kontakten.Ich habe mich nebenbei gewundert, daß in der Diskussion nur der Gewaltverzicht als eine Ergänzung unserer Themenliste verstanden worden ist. Ich habe deutlich gesagt, es gebe noch weitere Möglichkeiten, z. B. die Abstimmung von Maßnahmen auf gesetzgeberischem und administrativem Gebiet, bei denen kein Gegensatz der gesellschaftlichen und politischen Systeme eine solche Abstimmung verhindern würde. Ich glaube, das ist eine sehr wichtige Sache. Aber, meine Damen und Herren, Herr Ulbricht verschließt nicht nur die Türen dieses anderen Teiles Deutschlands gegenüber der freien Welt, er verschließt auch sich und sein System gegenüber der Bevölkerung drüben, und das wird eines Tages sein Schicksal sein: daß er sich völlig getrennt haben wird von der Bevölkerung. In einem Augenblick, in dem die Entwicklung auch im Osten schon andere Wege geht, pfropft er seinem System drüben eine sogenannte Verfassung auf, die ältestes Kaliber marxistisch-leninistischer Gesellschafts- und Staatsauffassung ist. Wir werden nicht aufhören, uns auf diesem Weg zu bewegen, den wir betreten haben, und ich bin sicher, daß die Zeit nicht für Herrn Ulbricht, sondern für uns und das heißt für die ganze deutsche Nation arbeiten wird.
Lassen Sie mich auch ein paar Gedanken zu dem sagen, was Herr Kollege Schmidt heute ausführte. Herr Kollege Schmidt hat vor allem sehr ernst gemahnt, wir sollten unserer Bevölkerung die Dinge darstellen, wie sie sind. Ich stimme ihm da durchaus zu. Aber vielleicht haben einige seiner Äußerungen Anlaß geben können, falsch interpretiert zu werden oder Unruhe hervorzurufen. Deswegen erlauben Sie mir, ein paar der Gedanken noch einmal aufzugreifen.Ja, es ist wahr: hinsichtlich der Gebiete jenseits der Oder und Neiße denken die Völker der Welt recht einhellig. Wir müssen das immer wieder erfahren. Es gibt natürlich auch viele Auffassungen in der Welt zur Frage der Anerkennung des Regimes im anderen Teil Deutschlands. Ich bin für Wahrhaftigkeit. Ich denke z. B. durchaus daran, daß in den Gebieten jenseits der Oder und Neiße, den alten deutschen Gebieten, heute etwa 8 Millionen Menschen leben, von denen rund 900 000 noch Deutsche sind. Ich weiß aber auch, daß heute schon 40 % der dort Lebenden dort geboren sind. Das sind Tatsachen, denen sich auch unsere Heimatvertriebenen nie verschlossen haben. Ich habe noch nie aus dem Munde eines Heimatvertriebenen die Äußerung gehört, es müsse eine Lösung gefunden werden, bei der noch einmal, wie es geschehen ist, die Men-schen wie das liebe Vieh aus ihrer Heimat in Massen verjagt werden würden.
Alles das müssen wir so sehen, wie es ist. Bloß, meine ich, sollten wir uns doch auf die Formel einigen können, die ich im Bericht zur Lage der Nation gebraucht habe. Es ist und bleibt meine feste Überzeugung, daß die Streitfragen zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn — also vor allem mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der Tschechoslowakei — nicht isoliert gelöst werden können, sondern daß sie alle nur im Rahmen eines Entwurfs einer europäischen Friedensordnung gelöst werden können. Das heißt nicht, daß wir die Entscheidung ad calendas graecas vertagen wollen.Was Polen anlangt, so erinnern Sie sich, habe ich in meiner Regierungserklärung — in der Regierungserklärung, die ja für alle stand — gesagt, daß wir eine Lösung anstreben wollen, die von beiden Völkern akzeptiert werden könne. Das ist nicht nur eine schöne Redensart gewesen — ich wiederhole es —, sondern das war ein politisches Angebot von ganz erheblichem Gewicht. Aber ich habe, obwohl ich darauf hinwies, daß Rechtens diese Frage erst in einem Friedensvertrag entschieden werden kann, später hinzugefügt, wenn dies auch so sei, so brauche uns doch nichts zu hindern, schon vorher miteinander über mögliche Lösungen zu sprechen. Dieses Angebot steht heute noch und — ich wiederhole es — in aller Form. Dasselbe gilt anderen östlichen Nachbarn gegenüber.Mir geht es um eine wirklich dauerhafte Friedensordnung. Deswegen habe ich gesagt, wir müßten eine Lösung finden, die nicht nur von der gegenwärtigen Generation unter dem Zwang der Situation zugestanden würde, sondern wir müßten eine Lösung finden, die auch von kommenden Generationen als richtig und recht angenommen werden würde.
Aber ich glaube, daß wir uns in dieser Frage einig sind.Zur Frage Frankreich möchte ich einiges im Zusammenhang mit einigen Pressestimmen des Auslands sagen, die ich inzwischen gelesen habe. Es ist natürlich für uns nicht ganz einfach in dieser außerordentlich schwierigen Situation, unsere Politik völlig klarzumachen. Aber wenn da und dort in der ausländischen Presse schon wieder zu lesen war — nicht allzu viel, aber es klang gelegentlich auf —, meine Erklärungen trügen gaullistische Züge, dann frage ich: Wann wird man denn endlich damit aufhören, Politik so einfach — also gaullistisch-antigaullistisch, amerikanisch-antiamerikanisch — abstempeln zu wollen? Ich erkläre hiermit: Diese Regierung macht, wie jede andere Regierung auf der Welt, eine eigene Politik, die Politik ihres Landes. Allerdings in der Hoffnung und mit dem Ziel, daß ihre nationalstaatliche Politik eines Tages durch die Politik eines vereinigten Europa abgelöst werden kann.
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8326 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Bundeskanzler Dr. h. c. KiesingerMan hat vielleicht meine Erklärung, daß wir die Zukunft Europas nicht im festen Gefüge eines atlantischen Imperiums suchen dürften, „gaullistisch" empfunden. Meine Damen und Herren, ich habe diese Formulierung sehr bewußt gewählt. Ich habe nicht von einer atlantischen Gemeinschaft, die sein dürfe oder nicht sein dürfe, gesprochen, sondern ich habe diesen Ausdruck gewählt, um klarzumachen, daß nach unserer Meinung dieses' Europa, so befreundet es mit den Vereinigten Staaten nach meiner Meinung sein wird und bleiben muß, so viel eigenständige Kraft haben muß, daß es wirklich einen großen Teil der Last von den amerikanischen Schultern nehmen kann, daß es dazu beitragen kann, das große europäische Haus in Ordnung zu bringen, und daß es sich als eine friedensstiftende Kraft in unserer Welt für die Bewahrung des Weltfriedens einsetzen kann.
Daß das ein weiter Weg sein wird, wissen wir sehr wohl. Aber ich glaube, es ist der richtige Weg, und ich bin nur glücklich, wenn ich mich in dieser Frage in Übereinstimmung mit der französischen Politik befinde.Eine kleine Korrektur erlauben Sie mir, Herr Kollege Schmidt, in der Frage der Haltung, die Frankreich uns gegenüber zum nordatlantischen Bündnis einnimmt. Ich habe natürlich in meinen Gesprächen mit Präsident de Gaulle diese Frage immer wieder berührt. Sie wissen, daß der Präsident bei unseren jüngsten Gesprächen in Paris hier sehr klar gesprochen hat. Was er dort bei der Schlußkonferenz ausdrücklich formuliert hat, war etwa dies: Frankreich ist hier seinen eigenen Weg gegangen. Euer Verhalten zum nordatlantischen Bündnis hat unser volles Verständnis; das heißt, daß ihr am integrierten System dieses Bündnisses festhalten wollt und daß ihr die Anwesenheit verbündeter, insbesondere amerikanischer Truppen in euerem Lande wünscht. — Das waren sehr klare Äußerungen. Er hat dann zum ersten Male, wie Sie wissen, ebenso klar hinzugefügt, im übrigen werde auch Frankreich, wenn nicht ganz unvorhergesehene Dinge passierten, nicht aus dem Bündnis, so wie es sich jetzt für Frankreich darstelle, ausscheiden. — Es ist also ein wenig differenzierter.Frankreichs Auffassungen zur Oder-Neiße-Grenze und zu den Atomwaffen sind bekannt. Frankreich hat dies auch nie verheimlicht. Aber auch da muß ich hinzufügen: Frankreich hat in all diesen Gesprächen Verständnis dafür gezeigt, daß wir sagten: Diese Fragen, die du da ansprichst, können wir — ich wiederhole es — nicht isoliert betrachten und nicht isoliert lösen, sondern nur einbezogen in das, war wir ja gemeinsam wollen: Frankreich und Deutschland — einbezogen in die europäische Friedensordnung. Ich denke, das ist eine gute Formel, auf die man sich sehr wohl würde einigen können.Nun darf ich auch ein wenig die dänische Regierung — ich darf nicht sagen: in Schutz nehmen, aber ich möchte hier eine kleine Richtigstellung anbringen. Herr Haekkerup hat ja in der Debatte — nachdem erst ein wenig Hin und Her in den Äußerungen der neuen dänischen Regierung zu erkennen war, sie aber dann sich wieder auf einen recht klaren Standpunkt zurückgezogen hat — gesagt, er freue sich, feststellen zu können, daß die neue dänische Regierung in diesen Fragen mit der Auffassung seiner Regierung übereinstimme.
Das ist immerhin für unser Verhältnis zu Dänemark— und wir wünschen ja eine gute und freundschaftliche Beziehung mit diesem Lande — recht wichtig.Meine Damen und Herren, es war von den Illusionen der 50er Jahre die Rede. Ich würde so sagen: Keiner von uns, ,der sich in den 50er Jahren leidenschaftlich — ich gebe das auch meinen damaligen Opponenten gerne zu — um ,die Frage der deutschen Einigung bemüht hat, wird sagen können, wer Illusionen hatte: diejenigen, die meinten, man müsse den Weg mit ,dem Westen gehen, um zu einer Wiedervereinigung zu kommen, oder diejenigen, die glaubten, eine Politik der Bündnislosigkeit führe dazu.
Zugeben will :ich allerdings, daß sich 'die Zeiten ändern und geändert haben und vieles, was damals eine realistische politische Schau gewesen war, Illusion sein könnte, wenn man sie unverändert in die 60er und 70er Jahre mit hinübertragen würde, eben weil .sich die Welt gewandelt hat. Darum würde ich meinen, wir sollten auch heute keinen Anlaß zu neuen Illusionen geben, und diese Illusionen sind ja leider in unserem Lande weit verbreitet. Es gibt viele Gruppen und Grüppchen, die uns beinahe jede Woche einmal mit einem Patentrezept für die deutsche Wiedervereinigung 'beglücken. Sie haben fast alle gemeinsam, daß sie von der Illusion ,ausgehen, als gebe ,es drüben jetzt ,die Bereitschaft, sich zu einer Wiedervereinigung in Frieden und in Freiheit bereit zu finden, und das ist 'doch wohl immer noch unser gemeinsamer Wille hier in diesem Lande.
Ich möchte auch noch einmal ein Wort zu Großbritannien sagen, weil ich auch die englische Presse gelesen habe. Ich kann nur noch einmal sagen: Mein Außenminister und ich haben uns in dieser Frage im vergangenen Jahre das Leben wirklich sauer gemacht. Wir waren uns auf dieser Wegstrecke keinen Augenblick uneinig darüber, daß die Methode, die wir anwandten, die einzig erfolgversprechende sein könnte. Wir machten uns nicht viel Illusionen darüber, daß wir den Gegensatz der politischen Konzeptionen beseitigen könnten, der nun einmal in der Auffassung Frankreichs und der der übrigen Partnerländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft besteht. Aber wir hofften doch, daß es durch unsere Methode gelingen könnte, die große Krise in .der EWG zu vermeiden und vielleicht mühsam, aber Schritt für Schritt vorwärts zu kommen. Ich frage unsere anderen Partner in der EWG, wer denn bisher einen Schritt weiter gekommen ist. Ich glaube, sogar sagen zu können: wenn die Vereinbarungen, die wir in Paris getroffen haben, nun in die Wirklichkeit
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Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerumgesetzt werden, ist das der bisher einzige Schritt nach vorn.
Zu einigen innenpolitischen Bemerkungen, meine Damen und Herren. Sicher hätte man in einem Bericht zur Lage der Nation noch sehr viel mehr sagen können. Der Bericht mußte sich auf das Wesentliche beschränken. Er läßt für ,die Diskussion in diesem Hohen Hause natürlich vieles offen; und so soll es ja wohl auch sein. Der Bericht wird ja nicht nur erstattet, damit das Hohe Haus dazu ja oder nein sagt, sondern er soll in den Diskussionen angereichert werden durch Zustimmung, durch Kritik, durch Ergänzung usw.Herr Mischnick hat als Vertreter der Opposition Kritik geübt und gemeint, ,es sei vor allen Dingen nicht genügend über die gesellschaftliche Entwicklung gesagt worden. Ich kann Idas nicht finden, Herr Kollege Mischnick. Natürlich könnte man, wenn man viele Stunden reden wollte, auch ,dazu vieles sagen. Ich habe dargestellt, daß wir uns in einer sich rasch entwickelnden industriellen Gesellschaft befinden, hier wie drüben, und daß hinter dieser Entwicklung die eigentlich treibende Kraft der wissenschaftlichen Entwicklung steht, und habe daraus die notwendigen Folgerungen für die Reform unseres Bildungswesens und für ,die Weiterentwicklung des föderativen Systems in der Bundesrepublik gezogen.Wenn Sie mich aber fragen — wie Sie es getan haben —: wie hältst du es mit den Selbständigen?, dann kann ich Ihnen klipp und klar eine Antwort geben. Leider ist es der Trend unserer Zeit, daß er immer mehr Selbständige abhängig macht, daß er auch Menschen in leitender Position zu Angestellten macht, bisher selbständige Unternehmer, einfach deshalb, weil der Zwang zur Vergrößerung besteht, daß er bisher selbständige Unternehmer zu — ich will das Wort nicht abschätzig brauchen — Funktionären umwandelt. Das erkennen wir. Wir haben aber ebenso, wie Sie es offenbar wollen, den Wunsch und den Willen, so viele selbständige Existenzen wie möglich in dieser industriellen Gesellschaft zu erhalten.
So habe ich z. B. den Bauern gesagt, wie sie es beanspruchen dürfen, daß die Entwicklung, die in den letzten hundert Jahren die bäuerliche Bevölkerung von 50% auf etwa 10% in unserem Lande gesenkt hat, weitergehen wird, so wie es auch in den vergangenen Jahren gewesen ist. Ich habe aber auch klipp und klar gesagt, daß wir in diesem Prozeß versuchen wollen, zu halten, was irgend gehalten werden kann, und es zu stärken. Das heißt, wir wollen die bäuerlichen Vollerwerbsbetriebe in die Lage versetzen, wirklich angemessen zu wirtschaften und zu leben. Das heißt, wir wollen die anderen Betriebe durch Zu- und Nebenerwerbsmöglichkeiten, die wir ihnen durch eine angemessene Strukturpolitik verschaffen müssen, in die Lage versetzen, so wie sie es wünschen und wollen, weiter zu wirtschaften, und die anderen, bei denen dies nicht möglich ist, in andere Lebensverhältnisse überführen und ihnendiesen Übergang so erträglich wie möglich und für uns alle so produktiv wie möglich gestalten.
Meine Damen und Herren! Das sind vielleicht nüchtern klingende Sätze. Man hat mir ja vorgeworfen, ich hätte etwas sentimental den Dank an die Bäuerin ausgesprochen. Ich wiederhole diesen Dank an die Bäuerin ausdrücklich;
denn ich weiß nur zu gut, wie hart sie arbeiten muß. Aber daß dieser Dank kein Ersatz für Agrarpolitik ist, darüber sind wir uns ja wohl alle einig.
— Warum haben Sie nicht geklatscht bei meinem Dank an die Bäuerin? Ich wäre froh gewesen, wenn Sie mitgedankt hätten.Ich sagte, diese Sätze klingen vielleicht ein wenig nüchtern, und ich weiß, daß damit auch nicht alles gesagt ist, was zur Agrarpolitik gesagt werden muß, insbesondere nicht alles über die Schwierigkeiten, die sich aus der Entwicklung des europäischen Agrarmarktes ergeben. Das gehört eben mit dazu. Ich habe aber deutlich genug gesagt, daß unsere Bauern die Unterstützung des Staates weiterhin brauchen werden, um sich sowohl in unserem nationalen Wirtschaftsgefüge als auch im Gemeinsamen Markt behaupten zu können. Ich sage das nicht diesem Hohen Hause allein, sondern ich sage es weiten Schichten unserer Bevölkerung, die immer noch nicht begriffen haben, daß das keine Geschenke an die Bauern sind, sondern daß wir einfach ein Gebot der Gerechtigkeit in unserer Politik gegenüber allen Ständen erfüllen.
Ich will eine andere Frage aufgreifen. Herr Kollege Mischnick, Sie haben gesagt, daß unser sozialpolitisches Kleid wohl etwas zu weit zugeschnitten worden sei. Ich gebe Ihnen offen zu, diese Frage —sie ist ja in der Regierungserklärung klar angesprochen worden — bleibt weiter auf der Tagesordnung. Niemand von uns kann wünschen, daß wir ein soziales System hätten, das wirtschaftlich nicht stimmt. Aber ich weigere mich einfach, jetzt eine These gegen die andere zu stellen, ich sage vielmehr, das ist eine Frage, um die wir gemeinsam zu ringen haben, und es ist eine Frage, für die wir eine gemeinsame Lösung zu finden haben werden.Nun noch zur Frage des Wahlrechts im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Herr Kollege Mischnick, das ist eine interessante These. Aber Sie sind für diese These durchaus den Beweis schuldig geblieben.
Ich habe in meinem Bericht zur Lage der Nation gesagt: Solange wir die Wiedervereinigung nicht haben, werden wir hier unser Haus bestellen und dabei keinen Augenblick lang den Blick auf die Zukunft, die gemeinsame Zukunft unserer Nation verlieren. Dazu gehört — das gebe ich Ihnen zu — auch dieses Problem. Aber ich warte mit Spannung darauf, wie Sie den Beweis für Ihre These, daß nur
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8328 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerdas Proporzsystem der Sache der Wiedervereinigung entspreche, führen werden.Der Bericht zur Lage der Nation hatte nicht den Zweck, einen Rechenschaftsbericht über das zu geben, was die Große Koalition im vergangenen Jahr, in den 15 Monaten, die sie besteht, erbracht hat. Aber er kann nicht daran vorbeigehen; denn auch das gehört ja zur Lage der Nation. Da kann ich nur sagen, verehrter Herr Kollege Mischnick, es wird immer wieder von der FDP behauptet, wir schöben auf, wir sagten, das müsse geschehen, statt, das ist geschehen, und, das wird geschehen, wir klammerten aus. Ich frage Sie ernsthaft: wieviel Jahre hat es seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland gegeben, in denen auf außenpolitischem und innenpolitischem Gebiet so viele Entscheidungen getroffen worden sind wie gerade im vergangenen Jahr?
Die Opposition kann das natürlich nie als wahr gelten lassen, sonst könnte sie ja nicht mehr politisch leben.
— Ist es nichts, daß wir, sofort nachdem diese Regierung gegründet worden ist, die Beziehungen mit Frankreich wieder intensiviert und ausgeweitet haben? Ist es nichts, daß wir diplomatische Beziehungen zu Rumänien aufgenommen haben? Ist es nichts, daß wir diplomatische Beziehungen zu Jugoslawien aufgenommen haben? Ist es nichts, daß wir unsere Beziehungen zur Tschechoslowakei verbessert haben? Ist es nichts, daß wir dem Osten in all diesen Monaten ein konstruktives Angebot nach dem anderen gemacht haben? Ist es nichts, daß wir uns für die Stärkung und Festigung des nordatlantischen Bündnisses eingesetzt haben? Ist es nichts, daß wir mit aller Kraft verhindert haben, daß angesichts der Beitrittsgesuche Englands und anderer eine europäische Krise entstand? Ist es nichts, daß wir in aller Welt unsere Politik überzeugend dargestellt und damit das Vertrauen dieser Welt vermehrt haben?
Ist es nichts, daß wir dem Regime im anderen Teil Deutschlands gegenüber Angebote von einer fast revolutionären Kühnheit gemacht haben, daß wir Angebote gemacht haben, auf die dieses Regime bis zu dieser Stunde nicht wagte einzugehen, weil es Offenbar nicht darauf eingehen kann, ohne selbst — —
Ist es nichts, daß wir in diesem Jahre sofort den Haushalt in Ordnung gebracht haben, so gut er eben unter diesen Umständen in Ordnung zu bringen war? Ist es nichts, daß wir wirklich getan haben, was ich im Bericht über die Lage der Nation gesagt habe, daß wir eine neue moderne Wirtschafts- und Haushaltspolitik entwickelt haben, wobei zum erstenmal diese Politik mit dem Wirtschaftsprozeß in Wechselwirkung gebracht worden ist?
Ist es nichts, daß wir in diesem Jahr an die großen Reformwerke herangegangen sind? Ist es etwa so, daß die Finanzverfassungsreform noch im Embryonalstadium steckt?
Wir haben uns mit den Ländern über ganz wichtige Dinge geeinigt, und ich darf hinzufügen, Herr Kollege Schmidt, jetzt auch so, daß der Bund in Zukunft berechtigt ist, im Hochschulwesen mitzuwirken. Der Ausbau und Neubau der Hochschulen soll ja in Zukunft eine Gemeinschaftsaufgabe sein. Die Gemeindefinanzreform ist in dieser Woche vom Kabinett verabschiedet worden. Dabei sind eine große Anzahl von Änderungen des Grundgesetzes notwendig gewesen. Sie wissen, wie schwer das in der Vergangenheit immer gewesen ist. Wir haben .uns auf diese Grundgesetzänderungen geeinigt oder haben sie im Zusammenhang mit dein Stabilitätsgesetz schon vollzogen.Ist es nichts, daß wir das große Problem an der Ruhr und an der Saar angepackt haben? Das Kohleanpassungsgesetz liegt doch diesem Hause vor.
Unsere Bemühungen um die Einheitsgesellschaft gehen weiter. Ist es nichts, daß wir die gesellschaftlichen Kräfte in diesem Jahre zusammengefaßt haben zu einer Kooperation, wie es sie bisher in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gab?
Das sind doch alles wahrhaftig Entscheidungen, die sich sehen lassen können. Wir haben keineswegs Entscheidungen hinausgeschoben.
Noch eine kleine philologische Bemerkung! Es ist gesagt worden, ich hätte in meinem Bericht über den anderen Teil Deutschlands eine sehr differenzierte Nomenklatur verwendet. Bald hätte ich „Ostberlin" gesagt, bald „die Machthaber drüben", bald „der andere Teil Deutschlands", und — man höre und staune — ich hätte sogar „DDR" gesagt.
Nun, meine Damen und Herren, ich zitiere die beiden Stellen, damit ja nichts ungeklärt bleibt. Ich bin auch für Ordnung in der Nomenklatur, denn wir sollten da keinen Schlendrian einreißen lassen. Die eine Stelle heißt: Es gibt kein „Staatsvolk der DDR". Ich glaube, es war ganz klar — ich kann ja nicht gut „Anführungsstriche" sagen —, daß hier der drüben verwendete Begriff „Staatsvolk der DDR" polemisch apostrophiert worden ist.Die zweite Bemerkung war die: „Die Sowjetunion bemüht sich, die Wirtschaft der DDR möglichst fest in das östliche Wirtschaftssystem einzugliedern. Wir aber" — so fuhr ich fort — „müssen versuchen, die wirtschaftlichen Verbindungen zum anderen Teil Deutschlands zu erweitern." — Das war kein Zufall und kein Ressortbeitrag. Damit auch da Ihre Neugierde, Herr Kollege Mischnick, befriedigt wird: dieser Bericht ist natürlich so zustande gekommen, daß ich die Ressorts zunächst um ihren Rat gefragt habe, daß 'ich dann .den Bericht verfaßte und ihn den
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8329
Bundeskanzler Dr. h. c. KiesingerRessorts übersandte, mit der Bitte, wenn sie etwas zu beanstanden oder vorzuschlagen hätten, dies zu tun. Es ist also, wenn er auch meine Handschrift trägt, dennoch, ein Bericht der Bundesregierung.
Das wollte ich zu den hier gefallenen Bemerkungen und auch zu einigen, Presseäußerungen von draußen sagen. Es gab da und dort Stimmen, .die meinten, ein solcher Bericht zur Lage dier Nation müsse mit einem großen Aufschwung unserer Jugend Zukunftsziele zeigen. Jawohl, das soll er. Und hat er das denn nicht getan? Habe ich nicht die europäische Einigung als die große Aufgabe unseres Jahrhunderts bezeichnet?
Sie ist und bleibt es auch nach unserer festen Überzeugung. Natürlich ist es schwer, der Jugend eine Entwicklung, die mit so schrecklich vielen Fach- und Sachfragen belastet ist — 'denken wir bloß an den Agrarsektor, der uns oft genug in diesem Hause beschäftigt hat —, darzustellen. Sie hat einmal —ich habe es miterlebt — vor den Toren Straßburgs die Grenzbäume verbrannt. Das war eine 'großartige, hochgemute Geiste.
Aber leider baut man Europa damit nicht, sondern nur durch eine schwere und mühselige Arbeit.Habe ich nicht auch für unsere Jugend gezeichnet, was diese Regierung und diese Koalition — ich hoffe, ida ist auch die Opposition mit mir einig —I will, um die Grundlagen für 'die Zukunft dieses Volkes, also für die Zukunft dieser Jugend zu legen, indem wir einer berechtigten Forderung dieser jungen Generation Rechnung tragen, unseren Staat und unsere Gesellschaft unter das Gesetz der Modernität stellen, d. h. unter das Gesetz .der Zukunft?Ich habe gern gehört, was Sie sagten, man habe vielleicht die Entwicklung dier Bundesrepublik zu viel unter materiellen Gesichtspunkten gesehen. Wenn wir uns alle +in diesem Hause — alle! — darüber einig sind und wenn wir uns alle — alle!—an die Brust schlagen und sagen „Pater peccavi", dann wäre das eine großartige Sache. Ich habe in meinem Bericht gesagt, es mehren sich die Zeichen und die Stimmen, daß dier Mensch nicht vom 'Brot allein liebt. Lassen wir es uns alle gesagt sein! Ich habe gesagt, unser ganzes Bemühen gilt der Freiheit und der Fülle der Existenz der ganzen Nation, und das heißt jenem Stand der Entwicklung, den ein Volk erreichen muß, damit .es in der Rangwertung der Geschichte einen guten ehrenvollen Platz bekommt. Das ist die gemeinsame Aufgabe, der wir alle dienen sollen.
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Franke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Be-richt über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland sehen wir uns mit der Aufgabe konfrontiert, ungeschminkt für die ganz Öffentlichkeit festzustellen, was und wie es ist. Herr Bundeskanzler, warum sollte dabei nicht ein schriftlicher Bericht sehr hilfreich sein können, zumal es dabei darum gehen könnte und gehen sollte, in Fortschreibung die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland auch dokumentarisch festzuhalten. Es bedürfte dabei gar keiner großen Anstrengung, etwas Neues zu entwickeln. Seit Jahren gibt es wirtschaftswissenschaftliche Institutionen, Osteuropainstitute an den Hochschulen, gibt es den Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, die mit sehr sachkundigem und exaktem Material dienen können, um daraus das zu machen, was letztlich ja doch dem Begehren des Bundestages entspricht, jährlich zu Beginn eines Jahres einen Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zu geben. Das klang seinerzeit aus den Ausführungen meines Freundes Franz Seume durch, als er im Auftrage aller Fraktionen den Antrag zu begründen hatte, der dazu führte, daß wir in diesen Tagen erstmals über diesen Bericht hier sprechen können.Ich meine, in einem Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland kann gar nicht deutlich genug hervorgehoben werden, daß die Demarkationslinie zwischen Ost und West unser Land teilt. Dennoch bestehen zahlreiche Bindungen und Kontakte zwischen beiden Teilen 'Deutschlands, die nicht nur erhalten und gepflegt werden sollten, sondern die ausgebaut werden müssen. Der Bundeskanzler hat in seiner Erklärung über solche Kontakte gesprochen und dabei sehr beachtenswerte Zahlen genannt, Zahlen, welche die Beteiligung der Bevölkerung am Reiseverkehr von hüben nach drüben und umgekehrt widerspiegeln. Der Herr Bundeskanzler sagte, daß im Jahre 1967 1,3 Millionen Frauen und Männer ihre Familienangehörigen im anderen Teil Deutschlands besucht haben. In die Bundesrepublik kamen in der gleichen Zeit 1 Million Mitbürger. In diesen nüchternen Zahlen, die ich eben nannte, drückt sich aber mehr aus als nur diese abstrakte Feststellung. Denn sowohl drüben wie hier waren diese Begegnungen Anlaß zu intensiven Gesprächen. Die Begegnungen ergaben ein Vielfaches dieser nüchternen Zahlen. •Nun sei aber ausdrücklich vermerkt, daß diese Besucher aus der DDR fast nur Mitbürger im rentenfähigen Alter waren. Von einer Freizügigkeit im Reiseverkehr, wie wir sie kennen, kann keine Rede sein.Das konnte ruhig noch einmal unterstrichen werden, um darzutun, daß Kontakte und Verbindungen bestehen, aber nicht nur dieser Art, sondern neben den Verwandtenbesuchen sprechen auch viele Begegnungen von Jugendgruppen für sich. Es bestehen zahlreiche Kontakte über kirchliche Einrichtungen, aber auch in Kultur, Wissenschaft und Sport. Ich möchte an die Vielzahl von Gastspielen im Bühnen-und Konzertwesen in beiden Richtungen erinnern.Im Sport waren 1967 insgesamt 47 Begegnungen im anderen Teil und 35 in unserem Teil Deutsch-
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lands. Das sind keine großen Zahlen. Aber sie stehen als Hinweis darauf, daß der gegenseitige Kontakt in starkem Maße gewollt und durchgeführt wird. Allerdings bedarf es noch einer Intensivierung dieser Möglichkeiten, und auch diese Debatte ist wohl eine Gelegenheit, dazu aufzurufen, das Mögliche zu tun.Die Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland ist Zeichen und Beweis dafür, daß von Mitbürgern aus beiden Teilen Deutschlands das Zusammenleben gewollt ist. Diese Studie wurde von Leuten gemacht, die sich als loyale Bürger der Bundesrepublik Deutschland und jene anderen als loyale Bürger der DDR fühlen. Das wurde an dieser Stelle heute schon einmal zum Ausdruck gebracht. Die Studie ist kennzeichnend für den Geist, aus dem heraus die Beteiligten handelten. Da heißt es:Gerade in ihren Gegensätzen kommen die beiden Teile nicht voneinander los. Das Bewußtsein von der Ferne des anderen Teils ist Ausdruck einer inneren Nähe, die es den Menschen in beiden Teilen unerträglich macht, den anderen irgendeinem Nachbarn oder einem beliebigen Ausland gleichzusetzen.Was hieraus spricht, ist das, was unser Volk in beiden Teilen Deutschlands bewegt, und das ist es, was lebt. Das steht gegen das Bemühen, Deutschland endgültig zu zerreißen, wie es in dein Entwurf einer neuen Verfassung der DDR zum Ausdruck kommt.Zu den Kontakten und den Verbindungen, die es in vielschichtiger und vielfältiger Art gibt, gehören auch Hinweise auf jene Begegnungen, die nicht so sehr offiziellen Charakter tragen, aber dennoch bemerkenswert sind. Ich glaube sagen zu sollen, daß es nicht verkehrt ist, daran zu 'erinnern, daß z. B. der stellvertretende Außenhandelsminister der Regierung der DDR der Deutschen Industriemesse in Hannover einen Besuch abstattete und daß umgekehrt nicht nur Repräsentanten der Wirtschaft, sondern auch der Politik der Leipziger Messe einen Besuch abstatteten. Bei dieser Gelegenheit darf ich wohl auch darauf hinweisen, daß unser Bundeswirtschaftsminister, mein Freund Karl Schiller, bei der Eröffnung der Frankfurter Messe aus gesamtdeutscher Sicht ausrief: Leipzig ist eine Messe wert. Damit wollte er zeigen, daß uns das Ganze bewegt, und darum sollte das hier nicht vergessen sein.Unbestritten ist doch wohl, daß der innerdeutsche Handel eine starke Klammer ist, unbestritten ist, daß er das Versorgungsgefälle weiter verringern soll. Unbestritten ist ebenso, daß der innerdeutsche Handel nach Qualität und Quantität für die DDR eine größere Bedeutung hat als für die Bundesrepublik. Um so höher ist zu bewerten, was die heutige Bundesregierung getan hat, um diesen Handel zu erleichtern und zu 'erweitern.
Um nur einige wichtige Positionen zu nennen, weise ich darauf hin, daß dazu gehörte: die Liberalisierung zahlreicher Ausschreibungen, die Vereinfachung des Verfahrens, die Zusammenlegung von Verrechnungskonten und Swings, die Streichung der Widerrufsklausel, die erneute Verschiebung des Saldierungstermins, die Bundesgarantie, die Kreditfinanzierung zur Förderung langfristiger Geschäfte und schließlich erhebliche Begünstigungen des innerdeutschen Handels durch Ausnahmeregelungen bei der Mehrwertsteuer, die für die Bundesrepublik immerhin einen Steuerausfall von über 120 Millionen DM bedeuten. Das verdient, wenn wir konkret sprechen wollen, Erwähnung. Ich meine, daß durch solche Darstellungen in einem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland nicht nur nüchterne Zahlen dargeboten würden, sondern daß sie substantiiert die Unterschiedlichkeit der Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands zum Ausdruck bringen könnten. Von daher würde sich die Aufgabenstellung für das 'eigene Wirken ergeben.
In Verbindung damit möchte ich an die Bundesregierung appellieren, bemüht' zu bleiben, die Mineralölfrage zu bereinigen, um die Lieferungsmöglichkeiten aus der DDR wieder zu erhöhen und die hohe Verschuldung der anderen Seite abzubauen. Auch das sind Probleme, die wir in Verbindung mit diesem Thema hier behandeln sollten. Die andere Seite sollte sich wirklich ernsthaft bemühen, nicht nur diese Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch den hohen Schuldsaldo durch marktgerechte Lieferungen zu begleichen.Hier wurde von dem Herrn Bundeskanzler darauf hingewiesen, daß an der Erarbeitung eines Gesamtkonzepts für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands gearbeitet wird. Dazu müssen wir — ohne Kenntnis der beabsichtigten Einzelheiten — allerdings zurückhaltend darauf hinweisen, daß die Erfahrungen mit der anderen Seite, wenn über Verhandlungspakete geredet wurde, nicht nur immer günstig waren. Vielfach ist nicht nur das Gesamtpaket, sondern sind auch die Einzelteile, die in diesem Paket enthalten waren, völlig untergegangen.
Die DDR könnte zum Abbau ihrer Schulden durch eine vernünftige Regelung des Reiseverkehrs, wie sie gegenüber anderen Ländern üblich ist, sehr beitragen. In Ostberlin ein Büro für den innerdeutschen Handel errichten zu wollen, ist in diesem Zusammenhang zur Förderung des Absatzes mitteldeuscher Waren in der Bundesrepublik besonders zu begrüßen, um so mehr, als das Ost-Berliner Ministerium für Außenwirtschaft bereits in Düsseldorf und auch in Frankfurt am Main Büros unterhält, so daß wir gar nichts Neues — wohl für uns Neues, aber in den Möglichkeiten nichts Neues — entwickeln würden. Es wäre nur zu begrüßen, wenn ein solches Büro recht bald eingerichtet würde, um den guten Willen zu zeigen.
Die wirtschaftliche Entwicklung Mitteldeutschlands ist auch im Jahre 1967 recht günstig gewesen. Unter Berücksichtigung des vergleichsweise hohen Nachholbedarfs der mitteldeutschen Wirtschaft an Technik und Automation ist auch dies ein erneuter
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Beweis für die außergewöhnlich hohe Arbeitsleistung, die die Bevölkerung der DDR unter so erschwerten Bedingungen erbringt.Aber neben dem, was ist, sollten wir bei einem Bericht über die Lage der Nation auch über das reden, was uns plagt und bedrückt. Dabei verdient wohl an erster Stelle erwähnt zu werden, daß es seit nunmehr über zwei Jahren den Bewohnern der Stadt Berlin versagt ist, sich gegenseitig zu besuchen, und daß es ebenfalls seit über zwei Jahren keine allgemeine Passierscheinregelung mehr gibt. Wir fragen: Warum ist das so? Kann man nicht versuchen, muß man nicht versuchen, diese Probleme immer wieder ins Vordertreffen zu führen? Denn es geht um die Menschen in beiden Teilen Deutschlands, denen wir uns verbunden fühlen. Es sollte alles getan werden, um zu Ergebnissen zu kommen. Bürgern aus der Bundesrepublik werden keine größeren Schwierigkeiten bereitet, wenn sie nach Ost-Berlin reisen wollen; aber den Berlinern ist es überhaupt versagt, sich frei in Berlin zu bewegen.An dieser Stelle müssen wir gegen eine der neuesten Maßnahmen der Machthaber im anderen Teil Deutschlands sehr entschieden protestieren, geigen jene Verordnung, die die Einschränkung der freien Zufahrtsmöglichkeiten nach Berlin vollzogen hat. Diese Beschränkung läuft darauf hinaus, daß jeder, der nach Berlin reisen möchte, nachweisen muß. oder eine Bescheinigung beibringen muß, aus der erkennbar ist, daß er nicht zu jener politischen Gruppierung gehört, ,die angeblich mit dieser Maßnahme getroffen werden soll. Man kann es auch anders sagen: das, was da jetzt geschehen ist, versetzt kurioserweise plötzlich Herrn von Thadden, den Führer ohne Führerschein,
in die Position, daß er bestimmt, wer in Zukunft noch nach Berlin reisen darf; denn nur er kennt seine registrierten Spießgesellen, nur er wäre tatsächlich in der Lage, solche Bescheinigungen auszustellen.Aber man kann bei dieser Maßnahme noch eine andere Frage aufwerfen. Handelt es sich dabei wieder um das Zusammenspiel links- und rechtsextremer Faktoren, wie wir .es aus der Zeit der Weimarer Republik kennen?
Das erfüllt uns allerdings dann mit großer Sorge, wenn mit einem solchen Vorwand etwas versucht werden soll, das der Ordnung, wie wir sie wollen, widerspricht.
Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht über die Lage der Nation nichts über jenes Gebiet in der Bundesrepublik gesagt, das durch die Spaltung in besonderer Weise getroffen ist, über das Zonenrandgebiet. Die Menschen, die entlang dier Demarkationslinie leben, können nur in ganz seltenen Fällen ihre nächsten Verwandten jenseits des Stacheldrahts besuchen, soweit sie innerhalb ides 5-km-Sperrgürtels wohnen. Es gibt keine Nachbarschaftshilfe mehr bei Notfällen, Bränden, Hochwasser hüben und drüben. Während wir bei Naturkatastrophen in Jugoslawien, Oberitalien, Sizilien, in der Türkei oder wo immer in der Welt es sein mag, Hilfe anbieten und Hilfe leisten können, werden hier bei uns inmitten Deutschlands die primitivsten Formen menschlichen Zusammenlebens unterbunden durch die Maßnahmen, die von der anderen Seite getroffen wurden.Aber auch von unserer Seite wird den Bewohnern im Zonenrandgebiet einiges zugemutet, und das müssen wir, wenn wir über den Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland sprechen, so offen darlegen, wie es dieses Problem erfordert. Mit nur wenigen Ausnahmen haben die Menschen, .die dort leben, als letzte am wirtschaftlichen Aufschwung teilgenommen. Sie hatten auch in den Zeiten dier Hochkonjunktur niemals den Lebensstandard der Ballungsgebiete aufzuweisen. Die bereitgestellten Mitttel und die Art .des Einsatzes dieser Mittel haben für die Behebung der strukturellen Schwächen nicht ausgereicht. Die Rezessionserscheinungen der zurückliegenden Zeit führten das Zonenrandgebiet als erstes zu erhöhter Arbeitslosigkeit, zu Betriebsstillegungen, zur Unsicherheit drohender Abwanderung. Wer die Wiedervereinigung will, darf die Mitte Deutschlands nicht veröden lassen. Deshalb müssen wir mehr als bisher für die Zonenrandgebiete tun. Ich glaube, auch das muß hier gesagt werden.Noch etwas gehört in diese Betrachtungen. Millionen deutscher Mitbürger reisen Jahr für Jahr zu Urlaubszielen in Ost und West, ans Schwarze und ans Mittelmeer. Urlaubsziele in aller Welt werden angereist. Sie reisen in Länder, zu denen wir diploma- tische Beziehungen haben und pflegen, und sie reisen in Länder, zu denen noch keine diplomatischen Beziehungen bestehen. Nur die Deutschen können nicht von Deutschland nach Deutschland reisen. Das verdient immer wieder hervorgehoben zu werden, um darzutun, wie die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland sich darstellt, um auch von daher Folgerungen ziehen zu können.
Der Eintritt der Sozialdemokraten in die Bundesregierung im Dezember 1966 hat in diesem Lande den Willen zur Veränderung der deutschen Lage wesentlich verstärkt. Damit das deutsche Volk seinen Frieden finden und am Frieden in der Welt mitwirken kann, muß das Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander entkrampft werden. Das ist nicht nur eine Propagandaphrase und -floskel, sondern das ist eine ernsthafte Aufgabe, die jeden Tag neue Entscheidungen von uns fordert.In der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 wurde der Austausch von Gewaltverzichtserklärungen allen Völkern angeboten. Die Bundesregierung hat das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot mit einbezogen und dabei darauf hingewiesen: Die Bundesrepublik ist der Teil Deutschlands, der als demokratischer und sozialer Rechtsstaat allen Deutschen die Möglichkeit schaffen will, die gemeinsame deutsche Zukunft in Freiheit zu gestalten. Die DDR wird von ihren Machthabern ein sozialistischer Staat deutscher
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Nation genannt. Niemand zweifelt daran, daß die Menschen in der DDR genauso zur deutschen Nation gehören wie wir hier in der Bundesrepublik. Niemand kann auch die SED-Führung daran hindern, ihren Staat sozialistisch zu nennen. Für uns Sozialdemokraten ist Sozialismus allerdings untrennbar mit der Freiheit des einzelnen Bürgers und der Respektierung seiner Rechte und Würde verbunden.
Der andere Teil Deutschlands ist für uns kein Ausland und wird es niemals werden. Was in Deutschland geschieht, ist Sache aller Deutschen. Wir wissen uns daher verpflichtet, für die Selbstbestimmung aller Deutschen einzutreten. Wir wissen, keine Seite kann der anderen ihre Vorstellungen aufzwingen. Verständigung muß auch im geteilten und gespaltenen Deutschland erreicht werden. Die Bundesregierung der Großen Koalition bemüht sich seit der Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten um ein geregeltes Miteinander der beiden Teile Deutschlands. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen in dem anderen Teil Deutschlands notwendig ist, sollte das geschehen. Damit wollen wir zur Entspannung und zur Sicherung des Friedens beitragen.Wir dürfen uns auch nicht dadurch beirren lassen, daß die SED eine neue Verfassung verabschieden will, die die Spaltung Deutschlands vertieft. Darin dürfen wir uns auch nicht dadurch beirren lassen, daß in der DDR immer noch die Führungskräfte glauben, die in der Welt vor sich gehenden Veränderungen aufhalten und die Politik des Kalten Krieges fortsetzen zu können.Es ist immerhin beachtlich, wie der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die in diesem Hohen Hause geführte Aussprache und die vom Herrn Bundeskanzler abgegebene Erklärung zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zum Anlaß nahm, sich in diese politische Diskussion einzuschalten. Ich möchte auch meinen — wie das hier schon anklang —, daraus ist zu entnehmen, daß die hier abgegebene Erklärung auch der Bevölkerung im anderen Teil Deutschlands in vollem Umfang bekanntgeworden ist und die Mitbürger dort beschäftigt. Wie immer man die Ausführungen im einzelnen beurteilen mag, es sollte nichts geschehen, was Ansätze zu möglichen Begegnungen und Gesprächen verschütten könnte.Ich meine, man kann feststellen, daß beide Seiten davon ausgehen, daß die deutsche Nation weiterbesteht. Beide Seiten sind der Auffassung — und haben das gebührend zum Ausdruck gebracht —, daß sie die andere nicht als Ausland anerkennen. Beide Seiten haben erklärt, das Ziel ihrer Politik sei die Wiedervereinigung, wenn auch mit unterschiedlichen Bedingungen. Beide Seiten sind der Auffassung, daß es vertraglicher Regelungen bedarf.Der Bundeskanzler hat sich bereit erklärt, über Fragen des Gewaltverzichts mit der Regierung in Ostberlin zu reden und sogar den Vorsitzenden des Ministerrats selbst zu treffen. Der Bundespostminister hat angeboten, über die strittige Frage der Postgebühren zu reden. Der ParlamentarischeStaatssekretär des Bundesverkehrsministeriums hat angeboten, Gespräche über Verkehrsfragen zu führen.Aber all das, was an Angeboten bisher von uns offeriert wurde, fand in Ostberlin zu unserem großen Bedauern fast immer nur ein negatives Echo. Auch auf den letzten Brief des Bundeskanzlers an den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR ist eine Antwort bisher ausgeblieben. Wir hoffen, daß nun nach dieser Rede, die gestern abend gehalten wurde, konkrete Antworten zu den einzelnen Sachbereichen folgen werden. Sie könnten z. B. in dem noch ausstehenden Antwortbrief des Ministerratsvorsitzenden Stoph an den Bundeskanzler enthalten sein.Wir warten darauf, denn die Bundesregierung hat eine Vielzahl praktischer Möglichkeiten zur Erleichterung des täglichen Lebens, Maßnahmen zur verstärkten wirtschaftlichen, kulturellen und verkehrspolitischen Zusammenarbeit angeboten.Ein weiteres Zeichen dafür, alles zu tun, unserem Volk die Möglichkeit der Information über die Lage der Nation zu geben, geht letztlich auch noch daraus hervor, daß gesetzliche Bestimmungen aufgehoben werden, die z. B. dem Zeitungsbezug aus dem anderen Teil Deutschlands entgegenstehen. Das sind Beispiele für unsere Bereitschaft, um eine Atmosphäre schaffen zu helfen, die es ermöglicht, Rechtsformen für die inneren Beziehungen unseres Volkes zu finden. Ich meine, wenn wir in diesem Sinne weiter wirken, dann können wir mit gutem Recht sagen, daß nach den zahlreichen und großzügigen Angeboten und Bemühungen unsererseits nunmehr die andere Seite in vielfacher Weise am Zuge ist. Wir sollten von uns aus das Bemühen nicht einstellen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat der Opposition Fragen gestellt. Ich hätte gern geantwortet, aber das geht jetzt nicht, da der Herr Bundeskanzler im Augenblick nicht anwesend ist.Die Freie Demokratische Partei hat, als sie noch der Regierungskoalition angehörte, sofort und uneingeschränkt dem Vorschlag der Sozialdemokraten zugestimmt, die Bundesregierung aufzufordern, zu Beginn jedes Jahres einen Bericht über die Lage der Nation vorzulegen. Wir haben damals die Vorstellung gehabt, daß dieser Bericht über die Lage der Nation Auskunft über die innere und äußere Verfassung des ganzen Volkes geben möge, daß er Auskunft geben möge über die Einbettung dieses geteilten Landes in die Grundströmungen der Welt und daß er Auskunft geben möge über die Konsequenzen, die wir aus der Mittellage Deutschlands in Europa zu ziehen haben. Wir wollten schließlich mit diesem Bericht ein Fundament für unsere künftige Politik gewinnen.Die Bundesregierung hat mit dem ersten Bericht einen solchen Versuch unternommen. Aber sie hat
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Genscherweder diese Fundamente geschaffen, noch hat sie die vom Bundeskanzler behaupteten Zielvorstellungen für die künftige Politik der Bundesregierung konkretisiert. Meine Damen und Herren, wer sich heute darauf beschränkt zu sagen: „Wir müssen die großen Bildungsaufgaben lösen; wir wollen die Fragen prüfen", der kommt damit zu spät. Der Bundeskanzler hat gesagt: „Ist es nichts, daß wir überprüfen, wo wir beim Bund Zuständigkeiten schaffen müssen, die der Bund heute noch nicht hat?" Diese Prüfung hat die parlamentarische Opposition längst abgeschlossen, und es ist an Ihnen, meine Damen und Herren, unseren Vorstellungen zuzustimmen. Der Bundeskanzler hat hier gefragt: „Ist es nichts, daß diese Koalition in den ersten 15 Monaten ihres Bestehens diplomatische Beziehungen zu Rumänien, zu Jugoslawien aufgenommen hat?" Wir sagen: Doch, das ist eine Menge von den Vorstellungen, die wir seit Jahren in diesem Hause vertreten und die Sie endlich — hoffentlich nicht zu spät — übernommen haben.
Herr Kollege Eppler, diese Bemerkung mußte kommen. Wir waren früher in der Regierung, und wir haben uns für diese Politik eingesetzt. In einem Punkte allerdings waren wir als Regierungspartei in einer wesentlich schlechteren Lage gewesen, als Sie jetzt sind. Sie können heute in allen diesen Fragen für Ihre Politik in der Koalition mit der Unterstützung der parlamentarischen Opposition rechnen. Als wir in der Regierung waren, war für Sie die Frage vorrangig, wie Sie nur recht schnell in diese Koalition hineinkommen, Herr Kollege Eppler.
Ich könnte Ihnen ja etwas über die Aufgabe der parlamentarischen Opposition und über die Frage sagen, ob man sich in der Opposition als Regierungspartei im Wartestand betätigt, oder ob man zu der Erklärung steht, man wolle eine Bundesregierung führen, und wenn man dazu die Wählerstimmen nicht bekomme, werde man sich bei der nächsten Wahl bemühen.Sehen Sie, Herr Kollege Eppler, die Frage, ob diese Politik verwirklicht werden konnte, hing von den Sachmehrheiten in diesem Hause ab. Daß es diese Sachmehrheiten für eine neue Politik nach Osten gibt, das hängt wesentlich mit von der Fraktion der Freien Demokratischen Partei ab, und wir begreifen uns in dieser Frage als konstruktive Opposition; in diesen Fragen mit Ihnen, aber es gibt, wie Sie wissen, auch eine Reihe von Fragen, bei denen wir Vorstellungen unterstützen, die Ihr Koalitionspartner hier vertritt.Der Bundeskanzler hat sich auch gerühmt und gesagt: „Ist es nichts, daß das Verhältnis der Bundesrepublik zu Frankreich verbessert werden konnte?" Meine Damen und Herren, wer hier über die Lage der Nation spricht, der soll sich doch nicht im Formalen ergehen und sagen: Nun haben wir das Verhältnis zu Frankreich verbessert. — Ist esnicht wahr, daß diese Bundesregierung unverändert in drei Grundfragen eine andere Politik vertritt als die französische: erstens in der Frage der atomaren Komponente der Bundeswehr, zweitens in der Frage der europäischen Politik und drittens in der Grenzfrage, so, wie der Herr Bundeskanzler sie eben noch vorgetragen hat?
Aber wenn wir schon über das Verhältnis zu Frankreich reden, lassen Sie mich ein anderes Wort sagen: Der Kollege Schmidt hat heute über das Problem der Vertriebenen gesprochen. Ich gebe zu, wir haben es als Mangel empfunden, daß der Bericht über die Lage der Nation in diesem geteilten Land das Problem der Vertreibung, das Problem der Grenzen nicht erwähnt hat. Dabei gehört das zu den Grundfragen unserer künftigen Politik.Ist es nicht so, daß dieses vielfach geschmähte Volk es vermocht hat, Einheimische und Vertriebene — Millionen von Vertriebenen — zusammen in unseren Wirtschaftskörper, aber auch in die Demokratie nach diesem Kriege zu integrieren, ohne daß es zu radikalen Strömungen in diesem Lande gekommen ist?
Wir hätten erwartet, daß diese Frage hier auch gewürdigt wird, denn es gibt auf der Regierungsbank mindestens einen Minister, der das Wort „Schönwetter-Demokratie" gebraucht, der sogar mit der Gefahr radikaler Strömungen operiert und sich dann darüber beschwert, wenn eine ausländische Macht seine eigenen Worte aufnimmt, um damit gegen die Bundesrepublik und ihre demokratische Zuverlässigkeit Propaganda zu betreiben.Meine Damen und Herren, ist es nicht so, daß in der gleichen Zeit, in der Millionen von Vertriebenen zusammen mit den Einheimischen aus den Trümmern dieses Landes ein neues Land aufbauten, die Radikalen der ersten Stunde, die Herren von Thadden, nach vierjähriger Tätigkeit von den Wählern aus dem Bundestag hinausgeschickt wurden? Das muß man als Zeichen der demokratischen Reife dieses Volkes und in diesem Zusammenhang der Vertriebenen anerkennen.
Wenn schon die Vertriebenen diese Einsicht zeigen, wenn die Vertriebenen die Forderung nach einer Rückvertreibung — wie der Bundeskanzler mit Recht festgestellt hat — nicht erheben, wenn diese Vertriebenen in ihrer ganz erdrückenden Mehrheit auch wissen, daß sie in der Frage ihrer früheren Heimat Opfer bringen müssen — und es ist ein Opfer, nicht in die Heimat zurückkehren zu können —, wenn sie bereit sind, für die Zukunft der Nation und für den Frieden in Mitteleuropa diese Opfer zu bringen, dann sollte man ihnen wenigstens nicht die Vergangenheit nehmen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, hätten wir erwartet — und jetzt spreche ich zu Ihrem Verhältnis zur französischen Regierung —, daß, als jenes böse Wort von der
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Genscher„polnischsten aller Städte" fiel, Sie und Ihre Regierung ein klares Wort gesprochen hätten.
Denn dieses neue Europa kann werden auf der politischen Einsicht und Vernunft unserer Vertriebenen, auch ihrer Opferbereitschaft, und die Vertriebenen bekennen sich dazu, sehr im Gegensatz zu manchen, die sich als Berufsvertriebene betätigen; aber es wird niemals werden auf der Grundlage von Geschichtsklitterungen. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn wir über eine freie, von allen Völkern und von der Jugend getragene Zukunft sprechen.
Deshalb sollte man es sich nicht so leicht machen und so tun, als hätten frühere Regierungen, die ja wohl auch von derselben Partei geführt worden sind,
es nicht verstanden, das Verhältnis zu Frankreich zu gestalten.
— Ja, die Frage „Wirklich?" ist berechtigt. Uns ist sogar mitgeteilt worden, daß eine neue Finanz- und Wirtschaftspolitik betrieben werde. Ich dachte, hier würden immer noch marktwirtschaftliche Grundsätze praktiziert. Wenn das nicht so ist, meine Damen und Herren, frage ich mich, welche Politik früher vertreten worden ist.Der Bundeskanzler hat meinen Kollegen Mischnick gefragt, wo er den Widerspruch sehe zwischen den hier von dem Bundeskanzler noch einmal vertretenen Wahlrechtsplänen und dem Ziel einer Zusammenführung aller Deutschen. Ich kann jetzt darauf antworten, denn der Herr Bundeskanzler ist wieder hier. Herr Bundeskanzler, dieses Hohe Haus hat im Jahre 1952 aus wohlerwogenen Gründen fast einstimmig den Beschluß gefaßt, daß für eine gesamtdeutsche Wahl das Verhältniswahlrecht gelten solle. Zur gleichen Zeit hat die Volkskammer einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet. Ich will jetzt nicht darüber streiten, welchen materiellen Wert dieser zweite Beschluß hat. Aber eines steht fest: wer gesamtdeutsche Wahlen — und sei es nicht am Anfang, so am Ende eines Prozesses der Zusammenführung der Deutschen — sehen will, der muß, wenn er heute über das Mehrheitswahlrecht redet und es fordert, fairerweise der Nation sagen, daß es diese gesamtdeutschen Wahlen mit dem Mehrheitswahlrecht nicht geben wird.
Da gibt es natürlich ganz bedeutende Interpreten der Regierungspolitik, meine Damen und Herren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte!
Herr Kollege Genscher, würden Sie nur so freundlich sein, an dieser Stelle auch zu erwähnen, wie es dann mit den Wahlvorschlägen hüben und drüben weiterging, als eine UNO-Kommission hier die Einreise bekam und drüben nicht hereingelassen wurde. Vielleicht ist das für die geschichtliche Betrachtung doch ganz wichtig.
Herr Kollege Dr. Barzel, wenn die andere Seite in der Vergangenheit — wie wir hoffen: nicht für alle Zukunft — diese gesamtdeutschen Wahlen verhindert hat, so ist das für uns noch keine Veranlassung, von einem als richtig erkannten Grundsatz für ein gesamtdeutsches Wahlrecht abzugehen.
— Also ich sage nur: da gibt es prominente Interpreten der Regierungspolitik, und schon ist die Reihe der Fragesteller kaum zu bremsen. Herr Kollege von Wrangel, bitte schön!
Herr Kollege Genscher, sind Sie denn der Meinung, daß wir hier einer Anschlußtheorie folgen sollten? Seit wann soll das Wahlrecht in der Bundesrepublik ein gesamtdeutsches Wahlrecht präjudizieren? Das ist nie gesagt worden.
Herr Kollege von Wrangel, die Anschlußtheorie ist woanders zu Hause, ganz in Ihrer Nähe. Nein, hier geht es darum, daß diese prominenten Interpreten der Politik der Bundesregierung — ich meine jetzt ihre Wahlrechtspolitik — sagen: Nun ja, wir wissen schon, daß gesamtdeutschen Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführt werden müssen, daß sie nicht nach dem Mehrheitswahlrecht durchgeführt werden können; wir wollen dann bis zu den gesamtdeutschen Wahlen einmal das Mehrheitswahlrecht einführen und dann schalten wir wieder auf das Verhältniswahlrecht um. Meine Damen und Herren, in welchen Zeitkategorien wollen Sie denken? Ist eine solche Erklärung nicht in Wahrheit die steingewordene gesamtdeutsche Resignation?
Ich glaube, wenn die Frage schon hier erwähnt wird,muß man sie auch unter diesem Gesichtspunkt sehen.Der Bundeskanzler hat den Kollegen Mischnick gefragt — sinngemäß —, ob er denn erwarte, daß er zu allen sozialpolitischen Fragen hier etwas sage. Nein, darum ging es nicht, Herr Bundeskanzler. Der Kollege Mischnick meinte, wenn er von dem zu weit gewordenen sozialpolitischen Kleid sprach, daß die Nation, und zwar in diesem Falle in diesem Teil Deutschlands, einen Anspruch darauf habe, zu erfahren, wie es auch in der Sozialpolitik weitergeht.Als wir hier vor wenigen Monaten jene Gesetze verabschiedet haben, die im Gegensatz zu Ihrer Theorie von der möglichst starken Förderung der selbständigen Schichten zu einer besonderen Form der Zwangsversicherung in vielen Bereichen führten,
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Genscherda haben wir davon gesprochen, daß auch irr der gesetzlichen Rentenversicherung der Tag der Wahrheit kommen werde. Wir konnten nicht ahnen, daß er so schnell kommt; nun, nicht hier im Parlament, wohl aber in einem Interview, das der Bundesarbeitsminister gegeben hat. Der Bundesarbeitsminister ist gefragt worden und mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitiere ich —: „Reichen die bisherigen Maßnahmen aus, um die Rentenansprüche auch in den nächsten Jahren in voller Höhe erfüllen zu können, oder wird man eines Tages doch die Renten für ein Jahr etwa einfrieren müssen oder aber nicht in voller Höhe den gestiegenen Löhnen und Gehältern anpassen?" Darauf hat der Arbeitsminister geantwortet: „Wir haben die Beiträge erhöhen müssen und hoffen", — und hoffen! — „bis 1972 klarzukommen." Ich würde sagen, „hoffen" ist schon eine relativ unsichere Basis für eine Einrichtung, an der das Schicksal ganzer Generationen hängt. Dann geht es weiter; dort heißt es: „Was danach kommt, ist im wesentlichen eine Generationsfrage. Es kommt immer darauf an, wieviel die Jungen bereit sind, für die Alten zu zahlen, und darauf, wieviel sie selbst im Alter von den Jungen erwarten." Meine Damen und Herren, da hätte man auch sagen können: Nach uns die Sintflut!Wer heute über die Lage der Nation spricht, der hätte auch in dieser Frage, die nun einmal sowohl die arbeitende Generation wie diejenigen interessiert, die ihr Arbeitsleben hinter sich haben, offen sagen sollen, daß in der gesetzlichen Rentenversicherung Eingriffe notwendig sein werden, wie es der Herr Arbeitsminister in diesem Interview bestätigt hat. Oder wollen Sie, wie im Bereich der Landwirtschaft, wie in anderen Bereichen Hoffnungen erwecken, die Sie nicht halten können, so daß Sie eines Tages nicht nur demonstrierende Bauern, sondern vielleicht auch demonstrierende Arbeitnehmer, das heißt Beitragszahler und Rentner haben?Auch das gehört zur Glaubwürdigkeit, zu jener Glaubwürdigkeit, meine Damen und Herren lassen Sie mich auch das sagen —, zu der Herr Kollege Schmidt hier einige Ausführungen gemacht hat, die wir unterstreichen können, nämlich zu der Glaubwürdigkeit der Persönlichkeiten, die in der Politik handeln, der Repräsentanten in der parlamentarischen Demokratie, die in der Tat das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat bestimmen und auch die Position des Staates zum Bürger. Ich erkenne dankbar an, daß er hier ein Wort unseres verstorbenen Freundes Wolfgang Döring zitiert hat. Wolfgang Döring war in der Tat ein Mann, der sich zu diesem Staat bekannte. Aber was ihn für junge Menschen so anziehen machte — und darüber sprechen wir —, war, daß er sich auch zu jeder Phase des Schicksals seines Volkes und zu jeder Phase seiner eigenen persönlichen Vergangenheit bekannte. Das brauchen wir, wenn der Staat glaubwürdig sein soll.
Ich habe den Namen unseres toten Freundes noch aus einem anderen Grunde hier erwähnt. Eine parlamentarische Demokratie braucht Persönlichkeiten, und auch in einer parlamentarischen Demokratie sind Leitbilder, vor allem für die jungen Menschen, wichtig. Das, was aus diesem Hause hervorgegangen ist,' was die politischen Kräfte, die demokratischen Kräfte in diesem Lande nach dem Kriege getan haben, sind Leistungen, deren sich niemand zu schämen braucht. Deshalb brauchen wir auch nicht jene nationalen Spätentwickler, die uns heute etwas einreden wollen und die heute darangehen mit vordergründigen Parolen den Versuch zu unternehmen, im parlamentarischen Bereich auch auf Bundesebene mitwirken zu können. Wenn wir aber das, was in der Vergangenheit war, auch für die kommenden Generationen, für die jungen Menschen heute sichtbar machen wollen, dann sollten wir etwas öfter und vielleicht auch bei einem Bericht des Bundeskanzlers über die Lage der Nation jene Menschen mit nennen, die das Bild unseres Staates, die die demokratische Struktur in unserem Lande geprägt haben. Es gibt sie in allen Bereichen dieses Hohen Hauses, in allen Parteien. Gerade die jungen Menschen brauchen die persönlichen Vorbilder, weil sie, wie Sie sagen, nur noch eine blasse Kindheitserinnerung haben an das, was war. Persönliche Vorbilder werden da am stärksten und anziehendsten sein.Meine Damen und Herren! Der Staat lebt aber nicht nur von den Persönlichkeiten, die ihn gestalten. Er lebt auch von dem Respekt vor seinen Institutionen.
Wenn ich davon spreche, so will ich nicht jene kritisieren, die sich das Recht herausnehmen, Kritik an denen zu üben, die die Positionen des Staates innehaben. Aber ich möchte ein Wort an jene sagen, die doch nicht vergessen sollten, daß jene Krise um das Amt des Bundespräsidenten, die wir heute erleben, nicht nur das Ergebnis der Ereignisse der letzten Wochen ist. Am Ende ist sie auch das Ergebnis des Verfahrens, wie man mit diesem Amt in den Jahren 1959 und 1964 umgegangen ist.
Deshalb haben wir in dieser ganzen Frage nur ein einziges Ziel. Wir möchten, daß dieses Amt sehr bald jenen Rang und jene Bedeutung zurückgewinnt, mit denen es Theodor Heuss hinterlassen hat.In diesem Zusammenhang ist in unserem Lande etwas geschehen, was jeden, der darauf bedacht ist, die Werte, denen wir uns verbunden fühlen, zu wahren, mit Sorge erfüllen muß. Die Bundesregierung hat unter Hinweis auf Ereignisse in unserer Geschichte in den zwanziger Jahren dem Bundespräsidenten abgeraten, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Das heißt doch nicht mehr und nicht weniger, als daß der Bundespräsident in derselben schwierigen Lage wäre wie das Staatsoberhaupt in jener Zeit. Wer das sagt, der unterstellt etwas in bezug auf die innere und äußere Unabhängigkeit unserer Richter, unserer Rechtsprechung, das wir in aller Form und mit aller Härte zurückweisen müssen.
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8336 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
GenscherNicht der Wohlstand ist es, der für viele Menschen diesen Teil unsere Vaterlandes anziehender macht als die DDR, sondern es ist in erster Linie eine gesicherte freiheitliche Rechtsordnung. Eine der Säulen dieser gesicherten freiheitlichen Rechtsordnung ist eine intakte, auf dem Boden der Demokratie stehende dritte Gewalt. Das sollte niemand direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt in Zweifel ziehen.
Wenn sich die Richtervereine auch nur gegen die Möglichkeit einer solchen Unterstellung wehren, dann sollte man sie dabei als Menschen betrachten, die ein wichtiges staatsbürgerliches Recht für das Ganze wahrnehmen. Man sollte sie nicht abwerten — wie in der „Politisch-Sozialen Korrespondenz" der CDU geschehen — als politisierende Richtervereine. Ich hätte mir gewünscht, daß Richter vergangener Zeiten sich ebenso uneingeschränkt zur Demokratie bekannt hätten wie die, die heute als politisierende Richter abgetan werden.
— Bitte schön.
Herr Kollege, ich sehe, daß Sie die Frage des Herrn Abgeordneten von Merkatz beantworten wollen.
Herr Kollege Genscher, sind Sie sich nicht auch bewußt, daß der Rat, der dem Herrn Bundespräsidenten erteilt worden ist, nicht einen Mangel an Vertrauen in die Unabhängigkeit der Richter impliziert, sondern daß im gegenwärtigen Stand der Ehren- und Rechtsschutz in unserer Rechtsordnung nicht genügend ausgebaut ist, daß hier Prozesse von jahrelanger Dauer zu erwarten sind?
Herr Kollege von Merkatz, ich muß Ihnen dazu zweierlei sagen. Erstens ist durch den Hinweis auf das Beispiel Friedrich Eberts die Parallele zur Vergangenheit gezogen worden. Zweitens finde ich es erschütternd, wenn Sie nicht schon früher im Interesse aller der Bürger, die diesen Weg gehen müssen, um ihre Ehre zu schützen, sondern erst jetzt, da es um das Staatsoberhaupt geht, diesen Mangel entdecken.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Friderichs?
Bei ihm mit besonderem Vergnügen.
Herr Rechtsanwalt Genscher, ist Ihnen das Institut der einstweiligen Verfügung bekannt, und wissen Sie, daß eine eidesstattliche Versicherung genügt, um eine einstweilige Verfügung zu beantragen und binnen kürzester Frist zu erlangen?
Ohne in den Verdacht kommen zu wollen, hier Rechtsberatung zu erteilen, kann ich diese Frage uneingeschränkt bejahen, Herr Kollege.
Eine weitere Frage möchte Herr Kollege Rasner stellen.
Herr Kollege Genscher- erinnern Sie sich, daß der frühere Bundesjustizminister Schäffer einmal den Versuch unternommen hat, den Ehrenschutz für jeden einzelnen unserer Bevölkerung zu verstärken, und können Sie sich noch erinnern, welche Einlassungen Sie und Ihre Fraktion zu diesen Absichten Fritz Schäffers damals von sich gaben?
Herr Kollege Rasner, wenn ich mich recht erinnere, geht es hier um Tatsachenbehauptungen. Das hat mit den Ehrenschutzvorstellungen der damaligen Zeit überhaupt nichts zu tun. Tatsachenbehauptungen — das sage ich für die Nichtjuristen — können auch falsche Tatsachenbehauptungen sein.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bericht über die Lage der Nation hätte, so finden wir, deutlicher das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum anderen Teil Deutschlands, zur DDR, definieren müssen. Wir haben es begrüßt, daß der Bundeskanzler heute hier noch einmal ausdrücklich eine Erweiterung des Verhandlungskatalogs bestätigt hat. Wir haben es von Anfang an als eine Einschränkung unserer eigenen Möglichkeiten angesehen, daß eine Beschränkung des Verhandlungskatalogs vorgesehen wurde. Wir haben damals prophezeit, die Bundesregierung werde über kurz oder lang von dieser von ihr eingenommenen Haltung abweichen müssen.Das ist nämlich auch eine Form der Salamitaktik, der man sich selbst unterwerfen kann. Man sollte gerade in der gesamtdeutschen Politik sehr genau prüfen, welche Positionen richtig sind und ob man sie halten kann oder ob man etwa Positionen bezieht, die man dann sehr bald — und dann den Eindruck erweckend, daß die früheren Positionen falsch waren — aufgeben muß.Wir haben heute eine Denkschrift der „Kammer für öffentliche Verantwortung" vorliegen. Es wäre gut gewesen, die Bundesregierung hätte auch zu dieser. Denkschrift Stellung genommen. Denn sie ist schon ein politisches Faktum. Ich unterstreiche alles, was Vorredner hier dazu gesagt haben. Wenn Christen aus beiden Teilen unseres Vaterlandes, die sich hier und dort als loyal gegenüber ihrer Obrigkeit empfinden, in einer ganzen aktuellen politischen Frage sich zu einer konkreten Vorstellung zusammenfinden können, dann sollte niemand daran vorbeigehen. Wir hoffen, die Bundesregierung wird in Zukunft diese Denkschrift in ihre Politik einbeziehen.Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8337GenscherDer Gewaltverzicht ist erwähnt worden, das Angebot der Bundesregierung, auch darüber mit der Regierung drüben zu sprechen. Wir können hier nur raten, die Verhandlung darüber nicht mit der Frage zu belasten, in welcher Form der Gewaltverzicht vorgesehen und ausgesprochen werden soll. Da wird darüber geredet, ob man einen völkerrechtlichen Vertrag schließt, ob man einen einfachen Vertrag schließt, eine Vereinbarung, wo man die Urkunden hinterlegt. Erinnern Sie sich nicht daran, daß die Bundesrepublik Deutschland schon ' einmal einen völkerrechtlichen Vertrag abgeschlossen hat, zu dessen gleichberechtigten Teilnehmern auch die DDR gehörte, ohne das irgend jemand auf dieser Welt auf die Idee gekommen wäre, wir wollten deshalb die DDR im Verhältnis zu uns als Ausland anerkennen? Es handelt sich um das Atomteststoppabkommen.Worum es jetzt geht — gerade nach der Rede Ulbrichts von gestern —, ist, zum Kern vorzustoßen. Diese Kernfrage lautet — die Frage an die Regierung der DDR —: Seid ihr wie wir bereit, bei der Lösung der deutschen Frage auf Gewalt zu verzichten? Seid ihr wie wir bereit, das auch in Form eines Vertrages vor der gesamten Weltöffentlichkeit zu erklären? — Dann soll das Neinsagen auf der anderen Seite sein. Lassen Sie sich aber nicht mit Formfragen vom Kern dieser politischen Unterhaltung abdrängen!
Ich glaube, wir sollten bei dieser Gelegenheit auch noch ein Wort zur europäischen Sicherheitspolitik sagen, und zwar unmittelbar im Zusammenhang mit diesem Vorschlag für einen Vertrag über Gewaltverzicht. Denn natürlich geht es darum, wenn wir nicht ein atlantisches Imperium wollen — der Bundeskanzler hat das ja nicht als Endziel unserer Politik bezeichnet —, hier ,in Europa ein System der Sicherheit zu finden, das es den Deutschen ermöglicht, frei von Sorge vor Gewalt zu leben, und das es auch ermöglicht, die militärischen Hindernisse für eine Zusammenführung der Deutschen abzubauen. Aber wenn eine Bundesregierung das hier sagt, dann sollte sie endlich auch ein Modell, ein deutsches Modell, für ein solches gesamteuropäisches Sicherheitssystem vorlegen. Denn uns nützt es doch in erster Linie. Warten wir doch nicht auf die Vorschläge der anderen.
Gerade die Konfrontation der Blöcke auf deutschem Boden hat ja für uns Deutsche noch eine sehr schmerzliche nationale Komponente. Was ich als besonders schmerzlich empfinde, ist die Tatsache, daß uns auf der anderen Seite nicht nur sowjetische Truppen gegenüberstehen, sondern daß es in der DDR eine Volksarmee gibt, die in den Warschauer Pakt integriert ist, in der zwangsweise deutsche Menschen dienen. Das ist doch eine brennende Wunde, die unser Volk fühlt.
Dieses psychologische Problem ist in seiner ganzenHärte noch nicht aufgebrochen, weil wir uns inEuropa in einem Zustand relativer Ruhe und Sicher-heit befinden. Wäre es anders, Sie würden spüren, welche Belastung auf einer Nation liegt, in der es zwei Armeen gibt, die in gegensätzliche Verteidigungssysteme integriert sind. Ich meine also, wenn ein Volk Interesse daran hat, die militärischen Gegensätze zu überwinden, dann dieses deutsche Volk!Deshalb sollten wir, wenn es darum geht, eine künftige • europäische Sicherheitspolitik auf einer Konferenz aller beteiligten Staaten Europas zu erörtern, für eine solche gesamteuropäische Sicherheitskonferenz kein Hemmschuh sein. Wir sollten sie durch eine zielbewußte deutsche Politik auch gegenüber den Ländern Osteuropas vorbereiten, damit endlich jenes Gremium geschaffen wird, von dem allein wir Entscheidungen für den künftigen Weg in der europäischen Sicherheitspolitik erwarten können.Herr Kollege Zimmermann hat heute für eine der drei Koalitionsparteien, muß ich in diesem Falle sagen, etwas zum Atomsperrvertrag gesagt. Er hat dabei auch die Interessen einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung mit erwähnt. Finden Sie nicht, meine Damen und Herren von der CSU: Hätten wir schon Vorstellungen, wie dieses künftige Europa aussieht, wäre die Position bei der Wahrnehmung dieser gesamteuropäischen Interessen viel stärker, ais sie in einem Zeitpunkt ist, zu dem eine besondere Enthaltsamkeit auf unserer Seite gegenüber Modellen für ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem festzustellen ist?
Ich bin nicht so sicher, für wen die Zeit in allen diesen Fragen arbeitet. Ich bin da gar nicht so sicher. Sie hat in der deutschen Frage bisher wahrlich nicht für uns gearbeitet, sondern für die andere Seite. Wir sollten uns nicht mit der Hoffnung auf bessere Gelegenheiten von den entscheidenden Belangen, von den Anliegen unserer Politik abdrängen lassen.Wenn die Bundesregierung zum Atomsperrvertrag Stellung nimmt, reicht es nicht aus zu sagen, daß auch wir gegen die Weiterverbreitung sind. Nein, die Bundesregierung hätte der Nation in ihrem Bericht sagen sollen, welche Konsequenzen sich aus dem Vertragsentwurf in der vorliegenden Form ergeben, welche Änderungswünsche sie hat, aber auch welche Konsequenzen sich dann für unsere politischen Möglichkeiten ergeben, wenn wir den Vertrag ablehnen.
Aus diesen Alternativen heraus könnte dann das Parlament, könnte aber auch das Volk seine Entscheidungen treffen. Aber das ist es ja gerade, was uns bedrückt, daß sich bei allen diesen in unserem Volk diskutierten Fragen — auch der Sperrvertrag bewegt unser Volk — die Bundesregierung in allgemeinen Formulierungen ergeht.Dasselbe gilt auch in den Grenzfragen. Ich komme noch einmal auf das Problem der Vertriebenen zurück. Die Bundesregierung sollte sagen, welche konkrete Politik sie in bezug auf die Grenzfragen
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8338 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Genschervertritt, wessen Unterstützung sie sich dabei sicher ist. Sie hat das deutsche Schicksal in ihrem Lagebericht so sichtbar unter den Ost-West-Gegensatz — was doch heißen soll: unter den Gegensatz Kommunismus und Nichtkommunismus, freiheitliche Welt auf unserer Seite — gestellt. Sie sollte fairerweise auch sagen, daß die Grenzfragen davon unabhängig sind, daß die Haltung einer tschechischen und polnischen Regierung, auch wenn sie über Nacht nicht kommunistisch wäre, in dieser Frage nicht anders wäre. Ich meine, auch das gehört zur Ehrlichkeit und Offenheit gegenüber den Vertriebenen, die es gerade wegen ihrer Haltung in der Vergangenheit verdient haben, hier offen das zu hören, was die Bundesregierung denkt, was sie für möglich hält und was sie nicht für möglich hält.Zu den unpräzisen Punkten in der Darstellung unserer Position gehört auch die Stellungnahme der Regierung zu dem Krieg in Vietnam oder, wie die Bundesregierung es formuliert, zu der amerikanischen Intervention in Vietnam. Wir kennen nur eine konkrete Stellungnahme der Bundesregierung in dieser Frage. Das ist der Antrag, eine Ausgabe einer bestimmten Zeitschrift zu indizieren, in der gezeigt wird — alle kennen dieses Bild —, wie ein südvietnamesischer General einen Gefangenen höchsteigenhändig erschießt. Ich will einmal unterstellen, daß dieser Antrag auf Indizierung nicht deshalb gestellt wurde, weil sich diese Zeitschrift in anderer Beziehung mißliebig gemacht hat, sondern aus sachlichen Gründen.Aber ich möchte dreierlei feststellen: Erstens. Die Grauen des Krieges und die Grausamkeiten, zu denen Menschen im Krieg fähig sind, sollten niemandem und schon gar nicht unserer Jugend vorenthalten werden.
Zweitens. Eine Ordnung, in der das möglich ist, was auf diesem Bild gezeigt wird, entspricht nicht unserem Freiheitsbegriff.
Drittens. Ich wiederhole hier, was ich sinngemäß zum Teil schon in der Debatte über die entführten Koreaner gesagt habe: Korea und Vietnam sind geteilte Länder wie unser Land. Es gibt in Korea und in Vietnam einen kommunistischen Teil wie bei uns in Deutschland. Aber was wir auf keinen Fall wollen, meine Damen und Herren, ist, daß die nichtkommunistischen Teile Vietnams und Koreas mit diesem freien Teil Deutschlands in irgendeiner Weise identifiziert oder gar verwechselt werden.
Gerade in der freiheitlichen Ordnung, zu der wir uns hier bekennen, liegt die moralische Position für unsere Politik in Richtung auf ein ganzes Deutschland, auf die Zusammenführung der deutschen Menschen. Hier müssen wir als Deutsche — das hat mit Schulmeisterei überhaupt nichts zu tun — in besonderem Maße eine klare Position einnehmen. Gerade wir wollen das tun.Wir wollen es auch noch aus einem dritten Grunde tun. Wir wollen es tun, weil wir in schmerzlicher Erfahrung erleben mußten, wohin es führt, wenn das Recht nicht so geachtet wird, wie es sein sollte.Wir hätten deshalb erwartet, daß die Bundesregierung an Stelle eines Antrags auf Indizierung jener Zeitschrift wegen der Veröffentlichung dieses Bildes angefragt hätte, wann unsere amerikanischen Verbündeten — hier gilt Offenheit mehr als Verbergen — in Vietnam in der Kriegführung bei ihren dortigen Verbündeten jene Grundsätze verwirklichen wollen, deren Verletzung nach dem letzten Krieg auf deutschem Boden gegenüber deutschen Soldaten auch durch amerikanische Gerichte geahndet worden ist.
Wenn wir in dieser schlimmen Lage eine starke Position haben, dann durch unser leidenschaftliches Bekenntnis, daß für uns Recht und Freiheit unteilbar sind.Der Innenminister dieses Landes wäre besser beraten gewesen, wenn er, anstatt es einer seiner zahllosen Schriften voranzustellen, ein Wort in bezug auf unser Verhältnis zu Vietnam gebraucht hätte, nämlich das Wort des Psalmisten: Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will keine weitere Rede halten. Nur weil ich nachher vielleicht nicht mehr Gelegenheit habe, Herrn Genscher in einer wichtigen Frage zu antworten, will ich es jetzt tun; denn das darf natürlich nicht so stehenbleiben.Sie haben, Herr Kollege Genscher, vermißt, daß die Bundesregierung etwas zu den Äußerungen des Präsidenten de Gaulle zu Schlesien und — —
— Dieses Wort ist sofort gesprochen worden, am selben Tage noch, auf meine Weisung, durch den Sprecher der Bundesregierung, und ich habe nachher mehrere Male noch bei großen politischen Reden und im Fernsehen folgendes gesagt. — In diesem Falle konnte ich im Augenblick, in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand, nur zurückgreifen auf eine Rede, die ich vor dem Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger, also vor einem dafür durchaus geeigneten Gremium, gehalten habe. Ich habe dort ausgeführt, nachdem ich dasselbe erklärt hatte wie hier, ich hätte in der Regierungserklärung an Polen .ein Angebot gemacht und nicht nur eine schöne Floskel gebraucht; darüber seien die Leute verschiedener Meinung. Und dann sagte ich:Über diese Frage mag man verschieden denken, und es wird über sie, wie jeder Tag und jeder Blick in die Presse zeigt, auch tatsächlich verschieden gedacht. Nur eines können wir nicht
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8339
Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesingerzugestehen, nämlich, daß jene Gebiete östlich der Oder und Neiße jemals polnisches Land gewesen seien. Diese Gebiete, so hat es die Bundesregierung, so habe ich es selbst .formuliert, weist die Geschichte seit Jahrhunderten als deutsches Land aus, aus dem seine Bewohner zu Unrecht vertrieben worden sind. Dieses muß bestehen bleiben, was immer die kommende politische Lösung dieses schweren Problems sein mag.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Gradl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gang einer solchen Erörterung bringt es mit sich, daß man manches von dem, was man sich zunächst vorgenommen hat, nachher nicht sagen kann, und dafür muß man dann anderes sagen, was eben erst in der Debatte aufgekommen ist. So geht es mir im Augenblick. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf bestimmte Äußerungen, die unser Kollege Schmidt heute vormittag gemacht hat. Ich glaube, daß sie einiger kritischer Anmerkungen bedürfen.Er hat in seinem deutschlandpolitischen Teil mehrfach von Illusionen gesprochen. Er hat von Illusionen gesprochen in der Vergangenheit, und er hat von Illusionen gesprochen, die wir uns in bezug auf die Gegenwart und die Zukunft machen. Er sprach von den „Illusionen der fünfziger Jahre" und fügte gleich das Wort von der erfolglosen Deutschlandpolitik hinzu. Meine Damen und Herren, ich glaube, niemanden ist geholfen mit einer so — entschuldigen Sie — simplen Einschätzung der damaligen politischen Situation und der aus ihr resultierenden damaligen deutschen Politik.
Wir nützen — und nur deshalb gehe ich darauf ein —, wir nützen, wenn wir die damalige Situation so simpel einschätzen und daraus Folgerungen ableiten, weder der Aufgabe, die uns gestellt ist und die wir gemeinsam bewältigen müssen — oder sie wird nicht bewältigt — und die eine saubere Atmosphäre, eine nicht vergiftete Atmosphäre unter uns braucht, noch nützen wir den Menschen im Lande, die uns hören, die lesen, was wir sagen, die sich ein Urteil bilden sollen. Bei diesen Menschen wird der völlig falsche Eindruck erweckt, als ob es damals im Grunde nur an der Unzulänglichkeit derer gelegen habe, die gerade die Regierung gebildet und getragen haben, daß wir in der deutschen Frage nicht weitergekommen sind.
Herr Kollege Schmidt hat selber in seiner Rede sehr eindrucksvoll die Hindernisse, die Hemmnisse, die Schwierigkeiten aufgezählt, die sich von dem Standpunkt der einzelnen Länder her, mit denen wir es zu tun haben, für eine Lösung der deutschen Frage stellen. Aber diese Hemmnisse und Schwierigkeiten, die wir heute vor uns finden, waren damals zumindest nicht geringer, als sie heute sind.Ich denke an das Mißtrauen, das damals gegen uns bestanden hat und das abgetragen werden mußte, ich denke .an die Zweifel, die man in bezug auf die künftige Haltung der Deutschen gehabt hat, ich denke an die Sorge vor der deutschen Dynamik, die damals genauso wie heute lebendig war. Dies alles waren die wahren Schwierigkeiten, mit denen wir es damals zu tun hatten.Deshalb paßt es auch nicht, wenn dann im Zusammenhang mit „Illusionen" von einer „erfolglosen Deutschlandpolitik" gesprochen wird. Die das tun, machen es sich wirklich zu leicht. Draußen im Volk, in den Diskussionen der akademischen und der anderen Jugend wird dieses Wort von der „erfolglosen Deutschlandpolitik" aufgegriffen, und es wird in dem Sinne gebraucht, als ob es einfach am Versagen derer, die man neuerdings das Establishment nennt, läge, daß wir nicht weitergekommen sind. Die Wirklichkeit ist doch ganz anders. Woher kommen wir denn? Natürlich, es ist so: wir haben die Wiedervereinigung nicht erreicht. Aber wird denn völlig vergessen, wo wir angefangen haben? Da wird geredet von der „Stunde Null". Wir hatten gar keine Stunde Null. Die Stunde Null beginnt man ohne Gepäck. Wir aber hatten und haben seit dieser angeblichen Stunde Null 1945 das ganze Gepäck mitzuschleppen, das uns das Hitlerische Reich hinterlassen hat, mit der Teilung, mit der Anwesenheit der Sowjetunion in einem wesentlichen Teil unseres Landes. Dies ist die Situation. Diese Machtposition der Sowjets und die Politik, die sie betrieben haben, ist doch der eigentliche Grund — oder sollen wir dies nun allmählich vergessen? —, daß wir in der Deutschlandpolitik nicht weitergekommen sind.
Ein anderes Wort des Kollegen Schmidt, dem man auch widersprechen muß. Er hat gesagt: Washington werde kaum eine ernsthafte Initiative zur deutschen Frage in Gang setzen; und dann fährt er fort: „... und es hat dazu die durchaus zutreffende Entschuldigung, Bonn selbst habe in den letzten 15 Jahren jeden ernsthaften Versuch ... verhindert." Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob das ein Amerikaner gewesen ist, der Gewicht hat, der dies gesagt hat. Das ist mir aber auch völlig gleich. Und wenn er noch so viel Gewicht hat — dies ist ein falsches Alibi, wenn drüben jemand glaubt, eins zu benötigen für die amerikanische Deutschlandpolitik.
Es ging uns in den vergangenen Jahren nicht darum, Bewegung zu verhindern. Aber wir haben auch in der Auseinandersetzung mit Washington darauf geachtet, wohin diese Bewegung führen soll, was das für eine Bewegung sein sollte. Ich erinnere mich sehr genau an einige Situationen z. B. während der Genfer Konferenz oder im Herbst des Jahres 1961, wo wir in der Tat den Amerikanern in der gehörigen diplomatischen Form sehr deutlich entgegentreten mußten, weil wir nicht der Meinung waren, daß für die Erhaltung des Status' Berlins sogenannte gesamtdeutsche Preise gezahlt werden sollten. Um solche Dinge ging das. Wenn das ge-
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8340 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Gradlmeint ist, dann, muß ich sagen, stehe ich dazu, und ich bin der Ansicht: auch in Zukunft werden wir uns gegen eine solche Art Bewegung wenden müssen.Dann hat der Kollege Schmidt uns davor gewarnt, uns heute Illusionen zu machen. Er hat darauf hingewiesen, wie klein der Spielraum in der Grenzfrage ist. Hier ist schon einiges dazu gesagt worden. Ich bin der Meinung: die Vertriebenen und die, die für sie sprechen, die brauchen jedenfalls keine Warnung vor Illusionen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand, der wie ,sie dies alles durchgemacht hat und der die Situation, wie sie sich in den 20, 23 Jahren ergeben hat, mit offenen Augen sieht, sich Illusionen macht. Ich kenne keinen ernsthaften Vertriebenenpolitiker, der der Meinung ist, es könnte einfach alles wieder so werden, wie es einmal gewesen ist. In dem Sinne ist eine Warnung vor Illusionen ganz sicher nicht notwendig, es sei denn, man verwechselt Illusionen mit Standpunkt. Standpunkte haben die Vertriebenen, und Standpunkte haben wir, z. B. den Standpunkt, daß es dem Verhältnis der beiden Völker, der Deutschen und der Polen, das wir. ebenso gut geordnet sehen möchten wie das Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen, nicht dienlich ist, wenn eine so schwerwiegende Sache wie die des Schicksals der ehemaligen deutschen Ostgebiete einfach nur durch ein nach Kriegsende vollzogenes faktisches Diktat erledigt sein soll.
Darüber wird man sprechen müssen, darüber muß man versuchen sich zu verständigen. Die Unterwerfung unter jenes faktische Diktat von 1945 wäre jedenfalls auf die Dauer keine gute Basis für das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen.Noch ein anderes Wort zu dem Thema „Illusionen". Ich will das ganz unpathetisch sagen. Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, als ob unser Volk heute im Grunde weniger die Warnung vor Illusionen als eine Ermutigung brauchte. Wir Politiker, die wir dem Volk die Situation, die Wege, auch die Schwierigkeiten darzustellen haben, sollten daran denken, daß gerade das deutsche Volk, zu dessen politischen Tugenden die Geduld und die Zähigkeit am wenigsten gehören, Ermutigung, Bestätigung, Stärkung seines Willens durch Zuversicht braucht. Nur mit dem warnenden Finger „Illusionen" bringen wir dieses Volk nicht über jene Strecke, die man Durststrecke genannt hat und von der niemand weiß, wie lang sie ist. Ich bin gegen falsches Pathos. Ich bin dagegen, daß man den Menschen etwas vormacht. Aber ich bin dafür, daß man ihnen nicht nur die negativen Perspektiven zeigt, sondern daß man ihnen immer auch sagt: Es hat einen Sinn, noch an Deutschland, an das ganze Deutschland, zu glauben und dafür politisch zu wirken.
Nun will ich eine der Bemerkungen machen, die ich mir zu dem Bericht vorgenommen hatte. In dem Bericht ist die Rede — heute vormittag sind Diskussionsredner darauf eingegangen — von den Aufbauerfolgen, die im anderen Teil Deutschlands erzielt worden sind. Dagegen ist nichts zu sagen. Ichbestreite das gar nicht. Aber da wir von der Lage der Nation sprechen, also auch von ihren Denkweisen sprechen müssen, müssen wir in unsere Überlegungen einbeziehen, daß es draußen nicht wenige gibt, die aus dieser Feststellung, daß drüben beachtliche wirtschaftliche Erfolge, beachtliche Aufbauerfolge erzielt worden sind, den Schluß ziehen, dann sei ja alles gar nicht mehr so schlimm im anderen Teil Deutschlands.Nur weil so nicht selten gedacht wird, mache ich diese Bemerkung und stelle die Frage: Ist es also tatsächlich nicht mehr so schlimm in Ulbrichts Machtbereich? Daß die Menschen drüben noch immer in ihrem Lebensstandard erheblich hinter unserem zurück sind, das hat Herr Kollege Schmidt heute vormittag schon gesagt. Er hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das Leben der alten Menschen drüben erheblich anders ist als das derer, die arbeiten und durch ihre Arbeit verdienen können, insbesondere dann, wenn mehrere in der Familie zu arbeiten vermögen. Aber Sie müssen auch die Qualität dessen sehen, was angeboten wird, die Auswahl, die Fülle des Angebots. Das ist in keiner Weise mit unserer Seite vergleichbar und vor allen Dingen in keiner Weise befriedigend.Aber, meine Damen und Herren, dies ist ja gar nicht das Entscheidende, um zu beurteilen, ob es drüben nach den wirtschaftlichen Erfolgen nicht mehr so schlimm ist, wie es einmal gewesen ist. Es wäre ja doch wohl ein merkwürdiger Materialismus, wenn man so urteilen wollte. Das Entscheidende ist doch die eigentliche Not drüben: das ist die geistige Not, das ist die Not geistiger Vereinsamung, geistiger Isolierung, die Not seelischer Bedrückung. Das ist der Mangel an persönlichen und bürgerlichen Freiheiten. Und daran hat sich gar nichts geändert. Ich denke, dies ist der entscheidende Maßstab dafür, wie man das Leben, die Lage im anderen Teil unseres Landes zu beurteilen hat. Ich empfehle, sich einen Augenblick hineinzudenken, wie jedem von uns zumute wäre, wenn er jeden Morgen zum Frühstück als Informationsmittel das „Neue Deutschland" und sonst nichts auf den Tisch gelegt bekäme. Sie können ja in Kürze — nach der Zulassung der Ulbricht-Zeitungen — das Experiment machen. Wie wäre Ihnen wohl zumute, wenn Sie in einem solchen Bereich leben müßten? Oder wenn Sie Kinder haben und zusehen müßten, wie diese Kinder in einer Weise fanatisiert werden, daß sie es am Ende für Rechtens halten, auf die eigenen Landsleute zu schießen. Das ist die Not, die wirkliche Situation drüben im anderen Teil.Ich glaube, Herr Kollege Schmidt war es, der auch darauf hingewiesen hat, daß dieses System nun noch in der Verfassung verankert wird, daß diese Parteidiktatur zum Verfassungsprinzip erhoben wird. Nebenbei bemerkt, in Ihrer sehr eindrucksvollen Gegenüberstellung der Verfassungsordnungen drüben und derjenigen, die wir hier haben, Herr Kollege Schmidt, habe ich eines vermißt, was ich in diesem Zusammenhang ganz gern auch noch gehört hätte, nämlich den Hinweis auf Art. 52 des Verfassungsentwurfs. Da beschäftigt man sich drüben mit dem Notstand. Wir geben uns sehr viel Mühe,
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8341
Dr. Gradlhier das Thema Notstand zu bewältigen; ich will es gar nicht etwa verkleinern. Aber es ist doch ganz interessant, zu sehen, wie man es auf der anderen Seite macht. In Art. 52 heißt es schlicht über den Notstand: Im Dringlichkeitsfall — das ist der Notstand — ist der Staatsrat berechtigt, den Verteidigungszustand zu bestimmen, der von seinem Vorsitzenden verkündet wird.
— Dann tut es mir leid, daß es mir entgangen ist. Aber es schadet vielleicht -gar nichts, Herr Kollege Schmidt, daß es noch einmal in das allgemeine Bewußtsein gerufen worden ist.Aber nun muß ich leider zu Ihnen wieder ein bißchen unfreundlicher sein; denn in Ihrem Text haben Sie ein Wort gesagt, das ich mir nicht zu eigen machen kann. Sie haben gesagt, dies drüben sei ein Staat. Ich weiß, Sie haben Staat im völkerrechtlichen Sinne ausgeschlossen. Sie haben offenbar gemeint, Staat in dem Sinne, wie das heute oft gesagt wird, im innerdeutschen Sinne, ein Gliedstaat oder so etwas. Da muß ich also sagen, dies vermag ich mir nicht zu eigen zu machen, und ich glaube, meine Freunde auch nicht.
Damit wir uns richtig verstehen: wir wissen natürlich, daß das Regime drüben ein Territorium hat, den sowjetischen Besatzungsbereich. Wir wissen, daß 17 Millionen Menschen in seiner Gewalt sind. Wir wissen, daß es dort ein Machtsystem, ein Herrschaftssystem gibt, dem sie ausgeliefert sind. Aber wir meinen nicht, daß diese Fakten, die prinzipiell als klassische Merkmale eines Staates in der Staatslehre aufgeführt werden, rechtfertigen, dieses Gebilde in unserer politischen Aussage als einen deutschen Staat zu werten. Wir sind hier nicht in einem staatsrechtlichen Seminar. Die Aussagen, die wir zu machen haben, sind politische Aussagen, Aussagen, die den Menschen draußen Meinung und Wertung erleichtern sollen. Und da ist der Ausdruck „Staat" ganz sicher zur Charakterisierung dieses Herrschaftssystems nicht angebracht, am wenigsten angebracht, finde ich, für uns Deutsche; denn es handelt sich um ein unverändert totalitäres System. Wir Deutsche, die auf unserem Boden erlebt und mitgewirkt haben, daß unter deutschem Totalitarismus so schreckliche Dinge geschehen sind, an uns und an den Völkern und Ländern ringsum, wir haben alle Veranlassung, da sehr sorgsam zu überlegen, und wir haben nach meiner Meinung abzulehnen, daß ein totalitäres Regime auf deutschem Boden von uns aus als deutscher Staat gewertet wird.
Das Wort zu einer Zwischenfrage hat der Herr Abgeordnete Friderichs.
Herr Abgeordneter Dr. Gradl, welche Tatsachen oder Tatbestände müssen nach Ihrer Meinung hinzukommen, um den von Herrn Schmidt gebrauchten — wenn ich ihn richtig
verstanden habe — staatsrechtlichen Begriff zu rechtfertigen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das will ich Ihnen sagen, Herr Kollege, das ist eine ganz einfache Antwort. Dies liegt in der Hand der SED. In dem Augenblick, in dem sie sich ein Mindestmaß an demokratischer Legitimation bei den Menschen ihres Machtbereichs verschafft, ist die Sache sehr einfach für uns.
Herr Dr. Gradl, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß es leider in dieser Welt Staaten gibt, die nicht demokratisch organisiert sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin durchaus bereit, Ihnen -zuzustimmen, daß es leider in dieser Welt Staaten gibt, die totalitäre Regime haben. Für uns gilt in bezug auf andere Staaten der Grundsatz der Nichteinmischung, genauso, wie wir ihn für uns selber geltend machen.
Was für Regime in fremden Ländern sind, hat uns nichts anzugehen. Darüber mögen wir unser privates Urteil haben. Als Staat, für unsere Politik, können wir da nicht differenzieren. Aber hier geht es darum, was auf unserem eigenen Boden ist, und darüber haben wir in der Tat zu befinden.
Meine Damen und Herren, ein Wort zum Gewaltverzicht. Im Grunde ist es von dem, was ich mir vorgenommen habe, nur ein halbes Wort. Ich möchte es hier sagen, gerade auch wegen einer Bemerkung des Kollegen Genscher.Herr Kollege Genscher, meine Freunde und ich sind nicht in der Lage, die Frage, ob bei der Herbeiführung eines Gewaltverzichts zwischen den beiden Teilen Deutschlands diese oder jene Form gewählt wird, achtlos beiseite zu schieben. Wir sind und bleiben der Ansicht, daß im Gewaltverzicht weder in der Form noch in der Aussage etwas geschehen darf., was zur Sanktionierung der Teilung Deutschlands beiträgt.Das Zweite. Es sieht so aus — und das sage ich mit aller Behutsamkeit —, als ob die Sowjetregierung geneigt ist, in Verbindung mit der Erörterung des Themas Gewaltverzicht auch andere Fragen zu besprechen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ich finde, das ist schon ein gewisser Fortschritt, wenn sich im Verhältnis zu Moskau die Möglichkeit bietet, Argumente gegen Argumente zu stellen und sich im Gespräch vielleicht näherzukommen. Jede deutsche Regierung muß ja versuchen, in einen echten Meinungsaustausch auch mit der sowjetischen Regierung zu kommen. Aber eins muß klar sein und bleiben: wenn in Verbindung mit dem Gewaltverzicht Fragen gestellt werden, dann haben auch wir Fragen zu stellen. Und wenn die
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8342 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Gradlandere Seite Wert darauf legt, daß in den Gewaltverzicht auch der andere Teil Deutschlands einbezogen wird — an sich ist nichts dagegen zu sagen; wir haben immer erklärt: Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit —, dann gibt es auch für uns Fragen. Nämlich: wenn schon Gewaltausschluß in einer förmlichen Weise zwischen den beiden Teilen Deutschlands herbeigeführt werden soll — das ist ja etwas anderes als Gewaltverzicht im völkerrechtlichen Sinne —, dann haben wir z. B. die Frage: Wie ist es dann in Zukunft mit den Drohungen und Behinderungen der Berliner Zufahrtswege? So etwas erleben wir doch gegenwärtig.
Oder: wie ist es mit der Gewaltanwendung gegen Deutsche? Ich weiß: dies ist nicht Gewalt im völkerrechtlichen Sinne des Gewaltverzichts der UNO. Aber für uns Deutsche ist das Gewalt, und wenn man Gewaltverzicht transformiert auf das Verhältnis der beiden Teile Deutschlands, dann kann man diesen Fragen, den Fragen der Mauer, der Menschenfallengrenze, der innerdeutschen Freizügigkeit, der innerdeutschen Erleichterungen nicht entgehen, dann haben wir auch diese Fragen zu stellen.
Eine letzte Bemerkung. Sie bezieht sich auf Berlin. Wir haben in letzter Zeit, vornehmlich aus Ost-Berlin, gelegentlich auch aus Moskau, Äußerungen gehört, die auf West-Berlin und seinen heutigen Status zielen. Am deutlichsten hat das Ulbricht vor der Volkskammer ausgesprochen: „West-Berlin liegt auf dem Territorium der DDR und gehört rechtlich zu ihr." Es ist hier nicht der Augenblick, diese Problematik im einzelnen zu erörtern; aber einige kurze Feststellungen möchte ich treffen.Die erste ist diese: Es ist, glaube ich, nicht anzunehmen, daß die Sowjetunion eine neue Berlin-Krise herbeiführen will. Das läge wohl nicht in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse, und das ist tröstlich. Aber wenn es gegen alle Erwartung zu einer Zuspitzung kommen sollte, dann muß man wissen, daß der Widerstand und die Abwehr der Berliner nicht schwächer sein werden als vor zehn Jahren beim Chruschtschow-Ultimatum und vor 20 Jahren bei der Blockade. Die Berliner Bevölkerung ist in ihrer politischen Haltung die alte geblieben, und nirgendwo, auch nicht jenseits der Mauer, auch nicht in Moskau, möge man sich durch gewisse Demonstrationen und extremistische Auftritte in West-Berlin über die wirkliche Haltung der Berliner täuschen lassen.
Die zweite Bemerkung: Moskau und Ost-Berlin sprechen von einem besonderen Status nur noch bezüglich West-Berlins. Meine Damen und Herren, wir haben in der Schule gelernt, wenn wir einen deutschen Aufsatz schreiben, müssen wir uns sehr davor hüten, die Ausdrücke zu wiederholen. In meiner Zeit galt das jedenfalls als ausgesprochen schlechter Stil. In der Politik ist das anders. Ich habe manchmal das Gefühl, daß wir uns in der Politik, insbesondere im politischen Umgang mit östlichen Gegenspielern, zu sehr an diese alte Regelaus dem Deutschunterricht erinnern. Die machen das ganz anders, die hämmern ungeniert und unentwegt immer wieder ihre rhetorischen Positionen und festigen sie damit faktisch. Daran sollten wir uns in bezug auf Berlin ein Beispiel nehmen. Wir sollten nicht zu vornehm sein, dies nicht immer wiederholen zu wollen, daß es einen Vier-MächteStatus nicht nur für West-Berlin gibt, sondern für ganz Berlin, und daß, wenn schon Herr Ulbricht in Ost-Berlin anwesend sein will, wir als demokratisch Legitimierte zumindest nicht weniger Rechte haben, in Berlin anwesend zu sein.
Die dritte Bemerkung. Wir wissen, daß für Berlin der Schutz durch die drei Mächte lebenswichtig ist. Wir wissen aber auch, daß für Berlin die politische, die wirtschaftliche, die finanzielle, die rechtliche, die währungsmäßige Verbundenheit mit der Bundesrepublik lebenswichtig ist, diese Verbundenheit, wie sie in zwei Jahrzehnten mit dem Willen der Berliner entstanden ist. An diesem realen Status West-Berlins, ein Status, der sowohl auf der Präsenz und Garantie der Schutzmächte als auch auf der Zuordnung und Leistung der Bundesrepublik beruht, darf nichts abgebaut werden. Da darf es weder große noch kleine Scheiben geben, die abgeschnitten werden. So ist es, meine ich, selbstverständlich, daß die nächste Wahl des Bundespräsidenten, genauso wie die Wahl von 1964, die Wahl von 1959 und die Wahl von 1954, wieder in Berlin sein muß.
Ich hoffe nur, daß dann auch der Reichstag endlich soweit hergestellt ist.Die letzte Bemerkung zu Berlin. Meine Damen und Herren, wir Berliner Abgeordnete — hier darf ich, glaube ich, quer durch die Fraktionen reden — sind in diesem Hause immer in einer prekären Situation. Wir haben allzuoft Wünsche. Glauben Sie mir, es macht weder uns als Abgeordneten noch den Berlinern insgesamt eine Freude, immer wieder auf die wirtschaftliche und finanzielle Hilfe Westdeutschlands angewiesen zu sein. Aber unsere Schuld ist es nicht. West-Berlin in seiner Insellage braucht Ihre Hilfe. Zweimal haben wir mit Ihrer Hilfe Angriffe auf Berlin abgewehrt. Auch die Hoffnung, daß man nunmehr Berlin wirtschaftlich austrocknen könnte, muß zuschanden gemacht werden. Hier werden immer wieder Proben unserer gesamtdeutschen Solidarität von uns allen verlangt werden.Ich möchte diese Gelegenheit nicht vergehen lassen, ohne für meine Freunde einen besonderen Dank auch an die westdeutsche Wirtschaft zu sagen für alles, was sie in der Vergangenheit disponiert hat. Und ich sage einen besonderen Dank an den Bundesverband der Deutschen Industrie, der doch sehr wertvolle neue Initiativen entwickelt.
Meine Damen und Herren, in dem Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation heißt es: „In Berlin wird die Lage der Nation besonders deutlich."
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8343
Dr. GradlDas ist wahr, und es wird für unbestimmte Zeit so bleiben. Immer müssen wir wissen: Berlin, so wie es ist, oder, genauer gesagt: gerade so, wie es ist, ist die lebendige Mahnung an uns und an die Welt, daß die deutsche Frage ungelöst ist. Berlin ist nach wie vor für die Menschen jenseits der Mauer der Inbegriff der Hoffnung, daß es einmal für alle Deutschen, auch für sie, Freiheit und Einheit gibt.Und schließlich — das sage 'ich nun, um ja nicht pathetisch zu werden, mit einem sehr nüchternen Wort von George Kennan —, vergessen wir nicht: Die Zukunft Berlins ist eine Grundlage für die Zukunft Deutschlands.
Das Wort hat der Abgeordnete Raffert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es liegt mir gewiß nicht, Zensuren zu erteilen. Aber ich denke es muß hier doch darauf hingewiesen werden, daß Sie, Herr Kollege Gradl, auch an anderen Stellen anscheinend nicht genau zugehört haben, wie Sie es soeben bereits zugeben mußten. Daß Helmut Schmidt Illusionen mit Standpunkten verwechselt, kann doch wirklich nur sagen, wer nicht genau zugehört hat. Helmut Schmidt hat nämlich die deutschen Rechtsstandpunkte und die Rechtsstandpunkte der anderen Seite einander gegenübergestellt und daraus den Schluß auf den kleinen Spielraum gezogen, den wir haben. So muß man es doch sehen.
— Doch, so hat er es gesagt. Lesen Sie es nach, Herr Dr. Marx.
Wenn man mit einer Politik gescheitert ist, muß man das doch auch zugeben. Daß viele Faktoren dabei mitspielen und daß im politischen Bereich niemals nur einer schuld ist, wenn etwas schiefgeht, das ist doch ganz selbstverständlich; das weiß jeder, das muß man nicht bei jeder Gelegenheit wieder sagen. Und daß die früheren Bundesregierungen, auch die, Herr Dr. Gradl, in der Sie noch Minister' waren, sich noch in 'dem Bereich 'des kalten Krieges bewegt haben, als andere ihn schon verlassen hatten, das Gefühl haben viele von uns gehabt, und 'das ist schwer bestreitbar. Aber ich will wirklich nicht nach hinten kämpfen. Es schien mir nur, daß diese Anmerkung nötig war. Mit dem Staatsbegriff, den Sie hier entwickelt und vertreten haben, möchte ich mich lieber gar nicht auseinandersetzen.
Nun ist uns während Ihrer Rede ein Papier auf den Tisch gekommen, der Entschließungsantrag der FDP. Ich denke, er wird sich auch beim zweiten Hinsehen — bisher hatten wir nur Gelegenheit zu einem ersten Hinsehen — als das .agitatorische Papier erweisen, als das er gleich erscheint; und es ist nicht anzunehmen, daß Sie erwarten, daß die Mehrheit dieses Hauses dieses Papier ernster nimmt, als Sie
es selbst nehmen können, wenn Sie selbst auch weiterhin ernst genommen werden wollen.
— Ach ja, wo so etwas herkommt, wissen wir schon. Da gibt es schon Zusammenhänge. — Bitte schön, Herr Genscher!
Könnten Sie sich etwas deutlicher ausdrücken, Herr Kollege, was Sie mit Zusammenhängen meinen?
Herr Genscher, Sie werden von mir, nachdem ich nur kurz auf das Papier schauen konnte, nicht verlangen, daß ich die Zusammenhänge im einzelnen schildere, die mich dazu bewegen, diese Stellungnahme abzugeben; nicht zu diesem Zeitpunkt. Wir werden uns darüber vielleicht noch — Sie werden uns dazu weiterhin provozieren, das merke ich schon an Ihrer Bereitschaft, Zwischenfragen zu stellen — im einzelnen zu unterhalten haben, aber nicht hier, wo wir über den ersten Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland sprechen. Dies ist das Thema unserer Diskussion, nicht etwa irgendeine allgemeine Regierungserklärung, zu der vielleicht solche Anträge passen könnten. Ich will mich jedenfalls bei dem, was ich sage, ganz streng an diesen gesetzten Rahmen, in dem wir uns heute zu bewegen haben, halten.Wenn man — wie ich — zunächst über die Lage der jungen Generation im geteilten Deutschland sprechen will, besteht eine Gefahr. Dieser Gefahr muß ausgewichen werden. Es ist die Gefahr, daß man nur über die Studenten spricht und nicht über die ganze Jugend. In der breiten Öffentlichkeit hat sich gerade in der letzten Zeit diese Auseinandersetzung mit der jungen Generation, die wir führen müssen und die wir auch nicht ungern führen, auf die Studenten verkürzt. Das führt oft und leicht zu Mißverständnissen. Wer die Jugend in beiden Teilen Deutschlands richtig sehen, wer von ihr sprechen will, der darf sich nicht nur auf die Studenten beschränken. Er muß z. B. den jungen Soldaten der Bundeswehr ebenso sehen wie den in der Nationalen Volksarmee.
Sie stehen sich an der Nahtstelle der beiden Militärblöcke gegenüber, die wir in Europa haben. Dastun sie nicht freiwillig — auf beiden Seiten nicht.Wir müssen auch — ein anderes Beispiel — die jungen Sportler sehen, die jetzt in getrennten Mannschaften nebeneinander bei den Olympischen Spielen in Grenoble im friedlichen Wettstreit gestanden haben. Wenn ein Verein aus der Bundesrepublik Deutschland mit Freunden in der DDR einen solchen sportlichen Wettstreit austragen will, werden ihm dort immer noch eine Menge scheinbar unüberwindlicher Hindernisse entgegengesetzt.
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8344 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
RaffertWir können aber auch an die jungen Arbeiter denken, die sich vielleicht im Urlaub am Strand des Schwarzen Meeres begegnen, miteinander reden und dabei feststellen, daß es immer schwerer geworden ist, vielleicht in manchen Bereichen schon unmöglich, miteinander zu reden, auch wenn man jung ist, weil hüben und drüben für die gleichen Vokabeln und Begriffe vielfach schon ganz andere Inhalte stehen.Wir können aber auch und das ist etwas, wassich jeden Tag abspielt — an die jungen Eltern in der Bundesrepublik denken, die abends kurz vor 19 Uhr auf den Kanal des Deutschen Fernsehfunks schalten, damit ihre Kinder das „Sandmännchen" der DDR sehen — zu derselben Zeit, wo viele junge Menschen drüben, in Ostberlin, in Magdeburg oder anderswo jenseits der Elbe, auf die „Mainzelmännchen", auf das „Sehpferdchen" umschalten, um die westdeutschen Werbesendungen zu sehen. Hier gibt es täglich auf den verschiedenen Kanälen eine deutsche Gemeinsamkeit, soweit die Sender reichen. Der Blick in das Werbefernsehen ersetzt heute für viele junge Menschen drüben den Blick in die gefüllten Schaufenster des Westens, den sie unmittelbar nicht mehr tun können, seit die Mauer steht.Wir dürfen uns aber auch hier keine Illusionen machen. Sowenig wie bei uns die Kinder mit der Ideologie der Jugenderziehung der SED geimpft werden, nur weil sie das „Sandmännchen" der anderen Seite sehen, werden die jungen Menschen in der DDR davon überzeugt, daß das freiheitlichparlamentarische System bei uns besser sei als ihr System, nur weil die Markenartikelwerbung des Westens in ihre Wohnstuben, auf ihre Mattscheiben vorgedrungen ist. Wenn man das will, wenn man sie davon überzeugen will, gehört mehr dazu.Es ist so, daß in den letzten Jahren gerade viele Jugendliche in dem Herrschaftsbereich der SED die skeptische Distanz dem Regime gegenüber verringert haben. Es gibt vieles, was sie, und mit ihnen oft auch ihre Eltern, mehr und mehr einem System verbindet, von dem sie glauben dürfen, daß es ihnen zwar weniger Bewegungsfreiheit läßt, aber dafür größere, selbstverständlicher zu nutzende Chancen der Bildung, der Ausbildung, der beruflichen Sicherheit, des Aufstiegs gibt. Es muß und soll hier nachdrücklich — ich sage noch einmal: nachdrücklich — bezweifelt werden, ob es sich bei diesen Jugendlichen und ihren Familien wirklich nur um eine Minderheit handelt, umgekehrt muß und soll hier genauso bezweifelt werden, daß Unbehagen und Unruhe in der Bundesrepublik bis jetzt nur eine Minderheit erfaßt hätte. Beides, glaube ich, stimmt nicht. Wie es auf unserer Seite des geteilten deutschen Hauses aussieht, das wird genauer beschrieben werden müssen. Über die tatsächliche Lage auf der anderen Seite ist bei uns zu wenig bekannt. Das meine ich trotz der Bemerkungen, die der Kanzler zu diesem Punkt gemacht hat, und trotz der Bemerkungen, die Egon Franke hier vorgetragen hat. Eine unvoreingenommene, an den Maßstäben der Objektivität orientierte DDR-Forschung hat sich zwar endlich an verschiedenen Zentren, mit verschiedenen Methoden, Inhalten, Zielen und auf verschiedenen Feldern, gerade in derletzten Zeit entwickelt. Aber ihre Ergebnisse werden — das hat man leider auch noch diesem Bericht der Bundesregierung angemerkt — bei uns noch nicht in der rechten Weise zusammengefaßt, miteinander verglichen und ausgewertet, so daß sie wirklich genützt werden könnten.Eine kritische Randbemerkung noch: das ist allerdings typisch für die Art, in der regiert zu werden wir gewohnt sind, — gewohnt gewesen sind, wie ich hoffe. Die Möglichkeiten der Wissenschaft, die vom Bundeskanzler als „der große Motor unserer Zeit" bezeichnet werden, wurden und werden auch sonst bei uns zur Entscheidungsvorbereitung in der Politik oder als Beitrag zur Meinungs- und Urteilsbildung zu wenig genützt.Aber eine positive Bemerkung im Anschluß daran! Positiv muß vermerkt werden, daß sich ein deutlicher Wandel in der Berichterstattung der Bundesregierung über die Verhältnisse in der DDR vollzogen hat. Noch der Jugendbericht der ersten Regierung Erhard, den wir vor nicht allzu langer Zeit hier diskutiert haben — aus dem Jahre 1965 stammte er und hat in unserer Prozedur so lange gebraucht, bis er hier auf den Tisch kam —, bot zur Lage der DDR wenig mehr als unbelegte Folgerungen aus unvollständigen Daten, vorgetragen im Jargon des auslaufenden kalten Krieges. Im Jugendbericht dieses Jahres sind Ton und Substanz schon wesentlich anders.Aber am bemerkenswertesten ist der Abschnitt über das Bildungswesen im anderen Teil Deutschlands, den der Bildungsplanbericht des Bundes und der Länder enthält. Er umfaßt zwar kaum 20 Seiten gegenüber den etwa 500, die der ganze Bericht umfaßt — das ist zu kurz —, aber er beschreibt doch einigermaßen präzise, vor allem aber sachlich und nüchtern, wie das Bildungssystem in der DDR organisiert ist und — wie in diesem Bericht zugegeben wird — welchen hohen Status es erreicht hat. Mit zehn Pflichtschuljahren steht die DDR an der Spitze in Osteuropa. Die Zwergschule hat man dort längst vergessen. Die. in sich differenzierte Einheitsschule erreicht Qualitäten, die wir von einer Gesamtschule bisher nur erwarten und erhoffen können. Denn in dieser Richtung sind bei uns kaum Schritte unternommen worden. Die berufsbegleitende Bildung, die Form der Berufsausbildung, Studiengänge sind gut ausgebaut, klar gegliedert, und so eingerichtet, daß wir verstehen müssen, wenn auf Schüler und Eltern, auf Studenten, auf Lehrer davon eine starke Attraktionskraft ausgeht.Ich gebe zu, diese Darstellung bleibt im Formalen. Sie läßt unberücksichtigt, was an ideologischem Zwang ausgeübt wird und sich auch ja gerade in das Bildungswesen hinein auswirkt. Aber es kommt eines Tages der Zeitpunkt, an dem das Formale nicht ausreicht. Es läßt sich fast voraussagen — dazu braucht man kein Prophet zu sein —, daß auch ideologischer Zwang und der Druck einer omnipotenten Partei nicht verhindern werden, daß auch die DDR einmal den Stand der geistigen, der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht haben wird; wie er heute in Polen und in der CSSR besteht. Was sich in Warschau und in Prag unter der Jugend vollzieht,
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Raffertkann dann auch in Ostberlin oder in Dresden geschehen. Das perfekteste System — vom Formalen her — kann den Ruf nach Freiheit nicht unterdrücken. Zwang und Druck halten solche Entwicklungen nicht auf, vielleicht fördern sie sie sogar.Es gibt Länder, in denen man demonstrieren darf. Unseres gehört dazu. Wenn man über die Grenzen sprechen will, die Demonstrationen und Gegendemonstrationen gezogen sind, kann man vielleicht am Berliner Beispiel sagen: Es darf dabei weder einem Springer ein Bein gestellt noch dem Teufel das Barthaar gekrümmt werden. Das zum Berliner Beispiel! Es gibt aber auch Länder, in denen nicht demonstriert werden darf, und der andere Teil Deutschlands gehört leider dazu. Aber in Ländern, wo das nicht geschehen darf, wie in denen, wo es erlaubt ist, gibt es Zeitpunkte, wo demonstriert werden muß. Das ist kein Ratschlag, kein Aufruf, das ist eine schlichte Feststellung.Wir in der Bundesrepublik sind ja selbst von der formalen Perfektion im Bildungswesen noch sehr weit entfernt. Wir wissen das alle. Wir haben es in diesem Hause gerade im letzten Jahr immer wieder gesagt und deutlich zu spüren bekommen, daß „unser Erziehungs- und Bildungswesen dringend einer durchgreifenden Reform bedarf". Das hat jetzt auch der Kanzler aufgenommen. Es ist gut so, daß er das endlich getan hat. Er hat an anderer Stelle hinzugefügt, daß „die Diskussion über die Unzulänglichkeiten unseres Schul- und Hochschulwesens immer heftiger geworden ist". Damit übertreibt er nicht.Hat eigentlich unser System versagt? Wenn das so ist, darf es nicht so bleiben. Neben vielem anderen steht hier unsere bundesstaatliche Ordnung im Mittelpunkt einer oft gerechtfertigten Kritik. Am schwerwiegendsten sind dabei die Auswirkungen dieser Lage auf das Verständnis der jungen Generation von unserem Staat, von unserem parlamentarisch-demokratischen. System. Der Status nämlich, die Leistungsfähigkeit und die Ordnung unserer Schulen und Hochschulen erscheinen unseren jungen Menschen symptomatisch für das, was sie von unserer gesellschaftlichen Ordnung im gesamten halten.Dazu müssen ein paar analytische Bemerkungen erlaubt sein. Wir wissen, daß in unserer Zeit — das ist in der ganzen Welt so — ein junger Mensch seine Entwicklung nicht mehr selbst steuern kann. Während früher der Jugendliche in den kritischen Entwicklungsphasen nach seiner seelischen und charakterlichen Belastbarkeit aus dem Unbewußten selbst die Erlebnisse steuern konnte, kann er sich heute den vielfältigen Umwelteinflüssen auch dann nicht entziehen, wenn er nach seiner Entwicklung noch nicht in der Lage ist, sie zu verarbeiten. Was wir ihm als Lebenshilfe bieten, ist dazu kaum brauchbar, jedenfalls ist es nicht ausreichend. Das führt bei der Anwendung der Maßstäbe, die ihm da angeboten werden, oft zu harter, ja härtester Kritik am Staat, an der Kirche, am Elternhaus, an der Schule, an der Politik. Was dem jungen Menschen heute vom öffentlichen Leben berichtet wird, ist für ihn in den Sachzusammenhängen kaum überschaubar, deshalb auch nicht begreifbar und mit Sicherheit nicht kontrollierbar.Selbst unsere Massenmedien — ich bin Journalist und nehme ihren Einfluß keinesfalls aus — verzichten oft auf eine konstruktive Gesellschaftskritik. Sie stellen an persönlichen Einzelbeispielen das Versagen von Systemen dar, und das bestätigt den jungen Menschen in seiner Kritik gegenüber einer ihn nicht nur scheinbar manipulierenden Gesellschaft. Die Unmöglichkeit, durch einen angemessenen Protest daran etwas zu ändern, treibt dann viele zu scharfen Aktionen und macht sie oft genug für anarchistische Vorstellungen empfänglich.Die vielfach heute bei unserer jungen Generation zu beobachtende Abwendung von der Generation der Väter, die Protesthaltung gegenüber deren Denkgewohnheiten und -werten hat zahlreiche Ursachen. Auch diese müssen hier einmal genannt werden. Viele Jungen meinen, die ältere Generation habe versagt und nach ihrem Versagen ihre Interessen allzu schnell auf den materiellen Wiederaufbau, auf materielles Wohlergehen gerichtet. Die bei uns auch heute noch praktizierte Form der Erziehung erfolgt — so empfinden es viele Jungen — entweder wie bisher sehr autoritär, oder aber die Kinder werden sich selbst überlassen. Da darf man sich nicht wundern, wenn sich viele Jungen von der Generation, die wir darstellen, abwenden und zu dem werden, was Mitscherlich als „vaterlose Generation" bezeichnet hat.
— „Vaterlose Generation" dürfen wir es in unserem Zusammenhang wohl nennen.Der Protesthaltung_ in dieser Generation — diese Haltung ist durchaus nicht auf Studenten beschränkt, und nicht nur Studenten sind für sie disponiert — entspricht allerdings auf der anderen Seite, wie hier schon in der Aktuellen Stunde gesagt worden ist, in der wir Studentenprobleme behandelt haben, eine besondere Aufrichtigkeit und Bereitschaft zum moralischen Engagement.
Herr Abgeordneter Raffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Merkatz?
Herr Kollege, ich muß eine etwas merkwürdige Frage stellen. Können Sie sich 'erinnern, daß es in der Zeit etwa seit dem Sturm und Drang jemals eine junge Generation gegeben hat, die sich nicht in einer gewissen und zum Teil noch viel heftigeren Protesthaltung befunden hat, daß man also seitdem überhaupt nicht mehr mit dem zufrieden war, was um einen herum in der Gesellschaft war?
Herr Dr. von Merkatz, diese Frage ist gar nicht so merkwürdig. Sie zeigt doch, daß die Alteren von uns offensichtlich noch nicht genau gesehen haben, daß es sich bei der Auseinandersetzung jetzt nicht um die normalen Probleme der Auseinandersetzung der nachwachsenden Generation mit der Generation vor ihr handelt. Wir sind
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8346 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Raffertin einer ganz anderen Situation. Bei der sich so schnell wandelnden Gesellschaft, bei den sich so sehr häufenden Umwelteinflüssen auf die einzelnen, bei der so viel größeren Unsicherheit über das, was morgen und übermorgen aus ihnen wird und mit ihnen geschieht, ist die Lage der jungen Generation uns gegenüber anders. Die Form der Auseinandersetzung hat sich auch gegenüber dem, was wir im letzten Jahrhundert hatten, doch wohl zu Recht geändert. Das ist übrigens keineswegs nur in der Bundesrepublik so, sondern das ist weltweit so. Helmut Schmidt hat das hier schon gesagt.Wenn wir hier und heute darüber sprechen, müssen wir uns an die Hauptpunkte der Kritik der jungen Generation halten, die sie an den gesellschaftlichen Zuständen in der Bundesrepublik übt. Da wird gesagt, die westdeutsche Gesellschaft habe den Wandel von einer autoritären Staatsordnung zu einer freiheitlichen und rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung nicht mitvollzogen. Man bekenne sich zwar öffentlich zur Demokratie, aber der Staatsbürger nutze nicht die ihm gebotenen Mitwirkungschancen. Er mache von seinen demokratischen Rechten nicht ausreichend Gebrauch. Der geistige Wandel von der Subordination zur Selbstbestimmung habe nicht stattgefunden. Der Formaldemokratisierung sei die Entwicklung zur Fundamentaldemokratie nicht gefolgt.Ich gebe zu, das hört sich, wenn man es abstrakt nebeneinanderstellt, vielleicht auch sehr abstrakt an. Aber wenn man die einzelnen dieser Kritikpunkte jeweils mit Substanz füllen würde und Zeit hätte, das vorzutragen, würde man sehen, daß hier von einer ganz aktuellen, drängenden Forderung gesprochen wird, die die junge Generation an uns mit Recht zu stellen hat.Viele junge Leute meinen, den Parteien fehle es heute einfach an Mut, dem Volk die Wahrheit über die politische Lage zu sagen. Deshalb sind Diskussionen, wie wir sie heute hier in diesem Hause führen, wo wir uns bemühen, der Wahrheit so weit wie möglich nahezukommen, so wichtig. Junge Leute nennen als Beispiele dafür, wo die Wahrheit nicht gesagt wird, Themen wie „Oder-Neiße-Linie", „Wiedervereinigung", „Vietnam". Das ist es, worüber wir hier auch sprechen. Aber, meine Damen und Herren, die jungen Leute sprechen untereinander auch ganz offen über die Art und Weise, in der nach ihrer Meinung das höchste Amt in unserem Staate ausgeübt wird. Für sehr viele von ihnen ist es sehr schwer, zu verstehen, wie sich hier Politiker so ganz anders verhalten, als junge Leute meinen, es erwarten zu dürfen.Nun sind natürlich Person und Amt des Präsidenten dieser Bundesrepublik das denkbar ungeeignetste Objekt für diese Art der Kritik. Die Verantwortung dafür, die Schuld daran liegt auch gar nicht bei den jungen Menschen, die diese Kritik üben. Sie liegt auch nur zu einem Teil an denen, die sie über das erträgliche Maß hinaus forttreiben. Die Verantwortung liegt, so glaube ich und so glauben viele jungen Leute, vielmehr bei denen, die durch falschen Rat verhindert haben, daß zu einem früheren Zeitpunkt, zu einem richtigen Zeitpunkt offen gesprochen worden ist. Gerade an so etwas entzündet sich die Kritik der Jugend, und dann muß man sich über sie nicht wundern.Junge Menschen sind ja besonders auf die Wahrheit aus. Das liegt in der Jugend begründet. So, Herr Dr. von Merkatz, ist die Jugend sicher durch die Jahrhunderte hindurch gewesen; sie ist in besonders absoluter Weise auf die Wahrheit aus. Eine Kritik, die von da her kommt, müssen wir hinnehmen. Der demokratische Staat muß es sich gefallen lassen, daß er an den Idealen gemessen wird, die er selbst gesetzt hat oder die sich seine Staatsbürger, insbesondere die jungen, von ihm machen.Hier gibt es nur eine Aufgabe, aber die ist sehr schwer: Ideal und Wirklichkeit einander anzunähern; man kann sie nicht deckungsgleich machen. Das ist eine Aufgabe, vor der die Politiker stehen, vor der aber auch die Kritiker unseres Systems stehen, die sich darüber klarwerden müssen, daß Ideale eben nur Ideale sind, und daß die Realität nur Annäherungswerte erzielen kann. Das haben wir bisher nicht klarmachen können. Das ist für viele junge Menschen sehr schwer zu verstehen.Und weil das so ist, ist es auch dazu gekommen, daß sich viele von ihnen, mehr jedenfalls, glaube ich, als die meisten hier in diesem Hause zunächst zugeben mögen, denen angeschlossen haben, ihnen mindestens zuneigen, auf deren Parolen hören, die behaupten, daß eine objektive Wahrheit hier und in dieser Welt zu erreichen sei, jenen also, die sich an die Theorien von Marcuse halten, Marcuse, der ja behauptet, es gebe eine objektive Wahrheit hier in dieser Welt; man müsse sie nur „enthüllen", und wenn es nicht anders gehe, zur Not mit Gewalt. Wenn man das getan habe, finde das seine Rechtfertigung darin, daß im Besitz dieser Wahrheit tatsächlich für jedermann leicht erkennbar Gut und Böse, richtig und falsch, Recht und Unrecht voneinander unterschieden werden könnten.Junge Menschen möchten gern, daß die Welt so sei; das möchten sie gern, aber die Welt ist nicht so, sie ist wirklich nicht so. Die Wahrheit in dieser Welt — in dieser Welt! — hat viele, viele Facetten, viele Perspektiven. Derjenige — das meine ich ganz ernst —, der eine dieser Perspektiven der Wahrheit absolut setzt, der alle anderen ausscheidet, der handelt — ich weiß wie schwerwiegend das Wort ist, daß ich jetzt gebrauchen muß —, der handelt inhuman. Es handelt unmenschlich, wider die Natur des Menschen und das, was ihm möglich sein kann.Das wissen natürlich auch diejenigen, die der Jugend diese Dinge vorsetzen. Deswegen sagen sie — und das sagt Marcuse ja wörtlich —, „das wahrhaft Positive" sei „die Gesellschaft der Zukunft". Das sagen die radikalen Sprecher dieser Generation auch. Darin folgen sie Marcuse. Und weil sie keinen pragmatischen Weg, keinen Weg Schritt für Schritt dahin beschreiten können, sagen sie, der Weg zu dieser idealen Gesellschaft sei der Weg der „permanenten Revolution". Und wenn sie es auch nicht expressis verbis ausdrücken, so folgen sie da den Gedanken Trotzkis.
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RaffertEs kann nicht überraschen, daß solche Gedanken sich heute ganz besonders bei Studenten niederschlagen, daß sie von ihnen aufgenommen werden, und insofern kann man die Studenten in dieser Diskussion ruhig als exemplarisch ansehen. Die Studenten befinden sich doch trotz ihres verhältnismäßig hohen Ausbildungsstandes in einem Zustand relativ großer Verantwortungsfreiheit. Oft kennen sie noch gar nicht ihre künftige Position, ihre künftige Stellung, ihre künftige Verantwortung in der Gesellschaft. Sie befinden sich in einer Übergangszeit zwischen der Emanzipation vom Elternhaus, sowie von der Schule und der späteren Einordnung in Beruf und Gesellschaft. Das ist die Lage, aus der heraus sie diskutieren und aus der heraus viele von ihnen Stellung beziehen.In einem solchen Stadium ist natürlich der Druck, unter dem wir alle — geben wir's ruhig zu — ganz besonders stehen, nämlich der Druck zur Anpassung — ich sage das Wort ganz wertfrei — an Verhaltensnormen, Denkgewohnheiten, Sachzwänge, noch relativ gering. Und weil Studenten — jetzt sage ich etwas, was vielleicht übelgenommen werden kann, was aber nichtsdestoweniger stimmt — noch keine gesicherte berufliche und gesellschaftliche Position zu verlieren haben, auch deswegen gelingt es planmäßig organisierten radikalen Minoritäten — hier sind es nun Minoritäten — oft recht leicht, doch Solidarisierungseffekte in großem Maße auszulösen.Daß natürlich auch der unzureichende Zustand unseres Bildungs- und Hochschulwesens ein auslösendes Moment gewesen ist, darf nicht verschwiegen werden; denn von dem schließen, das habe ich schon eingangs gesagt, viele auf den Gesamtzustand unserer Gesellschaft.Helmut Schmidt hat heute morgen hier Mao zitiert. Das ist ein Einfall, der hoffentlich plagiiert werden darf. Gute Einfälle pflegen oft plagiiert zu werden. Was sagt Mao an einer Stelle? Mao sagt: „Kein Mensch kann ein Ding erkennen, wenn er nicht mit ihm in Berührung kommt, das heißt, wenn sein eigenes Leben, seine Praxis nicht in dem Milieu dieses Dinges verläuft." Und das Rezept, wie man ein solches Ding erkennen kann, liefert Mao gleich mit. Er sagt: „Willst du den Geschmack einer Birne erkennen, dann mußt du sie verändern. Und wie veränderst du sie? Indem du sie in deinem Munde zerkaust." So sind die Zitate.Bitte schön, Herr Moersch!
Herr Abgeordneter Moersch zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Raffert, könnten Sie die Meinung teilen, daß z. B. das Mao-Zitat, das Ihr Fraktionsvorsitzender heute morgen vorgetragen hat, so allgemein ist, daß es auch von dem ersten Redner dieses Tages hätte stammen können?
Herr Moersch, Sie werden nicht annehmen, daß ich mich zu einer in diesem Momentunangebrachten und vom Grunde her auch unqualifizierten Kritik positiv äußere. Das haben Sie von mir auch gar nicht erwartet. Sie wollten nur diese Zwischenfrage loswerden und suchten eine Gelegenheit. Das Geschick haben Sie, Herr Moersch, das will ich Ihnen gern zugestehen.Bei vielem, meine Damen und Herren, was heute unter den Studenten geschieht, und bei manchem sogar — im Augenblick muß man fast befürchten, bei allem —, was die gewählten, was die herausgestellten Vertreter des Verbandes Deutscher Studentenschaften sagen — und der Verband Deutscher Studentenschaften ist ja eine Organisation, der alle Studenten angehören müssen, das ist eine Zwangsorganisation —, bei vielem also was dort getan und was dort gesagt wird, muß man den Eindruck haben, als wollten diese Leute nach dem zweiten Teil des Zitats handeln, nämlich „die Birne zerkauen", um den Geschmack zu erkennen, den sie hat. Aber mit dem ersten Teil des Zitats — daß man sich nämlich nur dort wirklich ein Urteil erlauben kann, wo man sich in der Praxis, „in dem Milieu des Dinges", bewegt — kann man diese Art von Tätigkeit, diese Art von Deklamation wohl am besten widerlegen.Meine Damen und Herren, eine Studentendebatte steht uns ja noch bevor; die Große Anfrage dazu. liegt uns auf dem Tisch. Ich will deshalb diesen — ich glaube, nichtsdestoweniger notwendigen — Exkurs über Theorie und Praxis bestimmter Verhaltensweisen und Denkweisen in der Studentenschaft unserer Zeit abbrechen, aber doch ganz real ein Angebot machen. Ich hoffe, daß es trotz dem, was in letzter Zeit gesagt worden ist, aufgenommen wird, nämlich ein Angebot, daß wir uns der geistigen Auseinandersetzung in diesem Felde nicht entziehen wollen. Das ist ein ganz klares reales Angebot von dieser Stelle aus für meine Freunde und, wie ich hoffe, für viele aus diesem Haus. Wir müssen natürlich auch wissen, daß wir dabei nicht einfach nur Reformwillen vortragen dürfen; denn der wird an uns bezweifelt. Wir haben vielmehr zu bekunden, daß wir den Willen umsetzen können; wir haben unsere Reformfähigkeit zu bekunden. — Frau Kollegin Geisendörfer, Sie meinen doch auch, daß wir Reformfähigkeit beweisen müssen. — Das ist eben das Problem.Ich muß leider noch eine Einschränkung machen. Dieses Gesprächsangebot darf natürlich nicht so empfunden werden, als liefen wir hinter denjenigen her, die uns jetzt „einen heißen Sommer" prophezeien oder die sagen, sie seien „gegen diesen Staat", und das einfach so stehenlassen. Diese haben sich zunächst, ehe sie nicht etwas anderes sagen, selbst aus der Diskussion ausgeschaltet, mit der effektiv etwas zu verändern ist. Aber im übrigen sind ja viele von uns seit langem im Gespräch. Wir haben jede mögliche Konfrontation angenommen.Nun zu den Beweisen des Reformwillens und der Reformfähigkeit. In der Erklärung des Bundeskanzlers ist das Drängen nach einer raschen Reform im Bildungs- und Hochschulwesen endlich als das bezeichnet worden, was es ist, nämlich „als durchaus verständlich und berechtigt". Der Burideskanzler hat
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8348 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Raffertwörtlich erklärt, er werde — nicht etwa nur, er wolle — „mit den berufenen Vertretern der deutschen Hochschulen, der Wissenschaft, der Studenten, der Länder und des Bundes Verhandlungen mit dem Ziel einer Beschleunigung der Reform unserer Hochschulen einleiten". Diese Erklärung kommt spät. Deshalb ist sie nicht weniger notwendig. Wir Sozialdemokraten werden darauf drängen, daß es zu diesen Verhandlungen bald kommt, daß sie zügig geführt werden, daß sie zu einem Ergebnis gelangen und — das ist das Wichtigste — das dieses Ergebnis — —
— Wenn der Bundeskanzler sagt, er werde sich mit aller Autorität hinter diese Dinge stellen, und wenn er und die verantwortlichen Vertreter anderer Parteien diesen Führungsanspruch, den die großen Parteien erheben, in die Praxis umsetzen wollen, wenn sie ihn rechtfertigen wollen, dann muß es zu dieser Entwicklung kommen, Frau Kollegin.
— Sie haben die Gemeinsamkeit in diesem Wollen betont. Ich höre es gern. Das wird es hoffentlich leichter machen, zum Ziel zu kommen. Hier kann nämlich ein gutes und hoffentlich überzeugendes Beispiel dafür geliefert werden, daß die demokratischen Parteien — ich habe das schon auf Ihren Zwischenruf geantwortet — ihren Führungsanspruch nicht zu Unrecht erheben, sondern daß sie in der Lage sind, zu handeln, wo das erforderlich ist. Das gilt nicht nur für die Hochschulen, das gilt für das gesamte Bildungswesen. Mit dieser Bemerkung möchte ich den ersten Teil meines Themas, die Behandlung der Lage der jungen Generation, abschließen.Ich möchte noch zu zwei anderen Punkten kurze Bemerkungen machen dürfen, weil es da einer Klarstellung bedarf, die hier in der Debatte noch nicht erfolgt ist.In jüngster Zeit ist die Frage der Wiederzulassung der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Bundesrepublik erneut aufgegriffen worden. Diese Frage kann und soll eine klare und einfache Antwort finden. Das ist nötig. Wir Sozialdemokraten sind bereit, eine Neugründung — Neugründung! — einer kommunistischen Partei zu akzeptieren.
— Das ist nicht Sophistik. Ich werde gleich sagen, unter welchen Voraussetzungen, Herr Genscher: Unter der Voraussetzung nämlich, daß diese Partei bereit ist, sich auf den Boden des Grundgesetzes zu stellen. Dazu genügt es nicht ganz, daß das in einer Formulierung in der Präambel eines Programmentwurfs der KPD, der offensichtlich nicht in der Bundesrepublik, sondern anderswo geschrieben ist, steht. Wenn man diese Neugründung erreichen will und wenn sie anerkannt werden soll, gehört dazu, daß erklärt wird, eine neue kommunistische Parteiwolle nicht darauf ausgehen, „die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden". Das nämlich steht genau in Art. 21 des Grundgesetzes, dem wir hier strikt zu folgen gezwungen sind und den wir auch strikt befolgen wollen.Wenn es einer neuen kommunistischen Partei in diesem Lande darüber hinaus gelingt, eine politische Eigenständigkeit zu entwickeln, sich also von der Bevormundung durch das Zentralkomitee der SED sichtbar zu lösen, dann könnte sie ja vielleicht einen Anreiz bieten für eine stärkere geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auch in unserem Lande. Dies ist auch in der Bundesrepublik notwendig. Wer dieser geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ausweicht, auch im eigenen Lande, der verliert die Orientierung. Denn der Kommunismus ist aus der Welt von heute nicht wegzudenken und auch nicht wegzudiskutieren. Man muß sich mit ihm auseinandersetzen. Wir können uns nicht nur auf Auseinandersetzungen mit der Theorie des Marxismus in einer so oder so fortentwickelten Form einlassen. Wir müssen vielmehr auch in unserem Lande die Augen für die immer vielfältiger werdenden Wandlungen und Differenzierungen des Kommunismus in Ost und West aufhalten.Wir sehen mit großem Interesse, daß die kommunistischen Parteien nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Skandinavien, in Italien, in Frankreich und anderswo darangehen, eigene Wege zu suchen und auch zu gehen. Darin liegt — das mag überraschend sein, wenn man das zum erstenmal in sich aufnimmt, aber viele wissen das seit langem — eine Chance für die friedliche Entwicklung in Europa, die genutzt werden muß.Es gibt natürlich auch neue Gefahren für den Frieden in Europa und in unserem Land, Gefahren durch rechtsradikale Tendenzen, z. B. durch die, die jetzt ein parteipolitisches Sammelbecken gefunden haben; denn es gibt ja auch noch andere rechtsradikale Tendenzen, nicht nur diese. Davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Allerdings, das Programm, das diese Partei bis jetzt hat, wird uns kaum geistige Auseinandersetzungen abverlangen. Wenn man es liest, dann findet man darin nicht viel mehr als das uns altbekannte Gebräu aus einem antiquierten ideologischen Bodensatz und aus einer Menge Ressentiments. Aber das darf uns nicht abhalten, diese Dinge nicht nur genauer zu beobachten, sondern aus unseren Beobachtungen auch Schlüsse zu ziehen. Wir müssen Klarheit über die Ursachen und Motive haben, die dieser Partei bei uns im Lande eine Chance geben, Anhänger zu finden. Es gilt, wenn wir das wissen, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um diejenigen, die sich ihr bereits angeschlossen haben oder ihr zuneigen, zurückzugewinnen, noch mehr aber, um andere, die das vielleicht noch tun könnten, von diesem Irrweg abzulenken.Ein Verbot der NPD wäre natürlich auf den ersten Blick wirkungsvoll. Ich möchte aber keine solche
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Raffert) Ankündigung aus dem herauslesen, was der Bundeskanzler in seinem Bericht gesagt hat. Denn die eigentlichen Ursachen des Erfolges dieser Partei heute hier bei uns würden ein solches Verbot nicht beseitigen. Es würde höchstens dazu dienen, uns mehr in falscher Sicherheit zu wiegen.Die Aussicht, daß wir vielleicht in den 70er Jahren es mit einer rechts- und einer linksradikalen Partei zu tun haben könnten, braucht uns nicht in panische Angst zu versetzen. Mit solchen Erscheinungen müssen die Demokratien in allen Ländern des Westens umgehen, und sie haben damit zu tun. Ich habe das Wort „fertig werden" nur mit Mühe unterdrückt, aber immerhin nicht gebraucht. Es kommt eben entscheidend darauf an, daß man diese Parteien in ihren Schranken halten kann.Damit komme ich zu meiner abschließenden Bemerkung: Das ist nur möglich, wenn unsere parlamentarische Demokratie sich auch künftig ihre Funktionsfähigkeit bewahrt. Mangelnde Funktionsfähigkeit der Demokratie ist der beste Nährboden für radikale Kräfte. Was heute in diesem Hause gesagt wird, das sollte dem Ziel dienen, unsere Demokratie, unsere freiheitlich organisierte Gesellschaft zu festigen. Das wäre der beste Beitrag zur Verbesserung auch der Lage der Nation im geteilten Deutschland, und es wäre ein Beitrag, den wir Politiker .einbringen könnten in die Diskussion, in die Auseinandersetzung mit der jungen Generation. Der Teil der Jungen, der bereit ist, zuzuhören — und das scheint mir immer noch der weitaus größte Teil zu sein —, der hört kritisch zu. Er wird darauf achten — und wir Sozialdemokraten werden das auch tun, nicht nur, weil die junge Generation darauf achten wird, aber auch, weil sie es tun wird —, daß aus den Reden, die wir heute hier zu diesem Thema und in diesem Hause halten, nicht die Ausreden von morgen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lage der Nation ist nicht nur durch Unruhe auf den Universitäten gekennzeichnet; auch andere Schichten unserer Bevölkerung stehen unter dem Druck einer Unruhe. Wir haben von den Bauern gesprochen, und wir haben heute so oft das Schicksal einer großen Gruppe unserer Bevölkerung angesprochen, die auch unter der Unruhe steht, jener Deutschen nämlich, auf deren Kosten so manche Vorschläge durchgeführt werden sollten, die wir da und dort vernehmen und vernommen haben.Der Herr Bundeskanzler hatte es bestimmt nicht leicht, als er am vergangenen Montag dem großen Vorbild des amerikanischen Präsidenten folgte. Sein Bericht über die Lage der Nation hatte sich zunächst mit der paradoxen Situation zu beschäftigen, daß hierzulande die Nation als solche in Frage gestellt, daß sie geteilt ist, daß sie in einem geteilten Landwirken und leben muß. Das, glaube ich, hat recht eigentlich die Herausforderung an uns in den letzten zwanzig Jahren gestellt. Wenn das Wort des Engländers Toynbee richtig ist, daß eine Kultur sich nur so behauptet oder lebt oder stirbt, inwiefern und inwieweit sie auf Herausforderungen die richtige Antwort zu geben vermag, so möchte ich glauben, daß diese Demokratie, die nach 1945 gebaut wurde, eine klare und eindeutige Antwort in der Präambel des Grundgesetzes gegeben hat.Ich meine aber, wir sind unehrlich, wenn wir bei einer Diskussion über die Lage der Nation nicht einen der wesentlichsten Gründe • der Unruhe ansprechen, den ich darin sehe, daß viele Schichten in der Bundesrepublik, viele Lehrmeinungen, viele Persönlichkeiten — sie klingen da und dort auch in diesem Hause an — drauf und dran sind, die Präambel des Grundgesetzes, ich möchte sagen, ein wenig zu negieren, hinwegzuwischen und dann in der Jugend den Zweifel daran zu wecken, ob wir' auf die Herausforderung der Teilung noch eine klare, eindeutige Antwort finden.Die sich so verhalten, die mit der Präambel spielen, haben mannigfache Gründe; sie sind mittlerweile auch schon altersgrau geworden. Sie sprechen von den „Tabus der Zeit", die wir immer wieder vor uns herumtragen; sie wollen die „heiligen Kühe" von Rechtspositionen beseitigen oder hinwegjagen; sie haben allerlei Gründe. Aber sie halfen, wie ich glaube, damit den klaren Verfassungsauftrag, der in der Präambel ausgesprochen ist, in Zweifel zu setzen, und das, will ich meinen, ist jene Malaise, die sich unter anderem auch' in der Jugend bemerkbar macht. Wenn eine große Wochenzeitschrift uns heute den Schulaufsatz eines Siebzehnjährigen vermittelt, der da schreibt, „die Einheit Deutschlands gehöre der Geschichte an wie der Staat der Inkas und das Reich der Kalifen", dann sollten wir nicht diesen jungen Menschen anklagen. Dann sollten wir uns fragen, ob all die Denkschriften, die heute so oft zitiert werden und die ganz offen von einer Erosion unserer Ansprüche sprechen, nicht die Voraussetzung dafür geschaffen haben, daß das Bewußtsein unserer Nation ins Wanken kommt. Dank derer auch, die da immer wieder behaupten, daß das Abgehen von Rechtspositionen eine Voraussetzung des Friedens darstelle.Ich weiß, es ist unpopulär, und man wird auch verschrien, wenn man es da und dort wagt, die Diskussion um die Illusionen ein wenig von der anderen Seite aufzugreifen. Auch ich muß mich mit dem Kollegen Schmidt auseinandersetzen. Ich bin dem Herrn Bundeskanzler dankbar, daß er das Problem der Illusion in der Deutschlandpolitik zur Diskussion gestellt hat. Wir sollten uns zunächst einmal davor hüten, von einer gewissen Position intellektueller Überheblichkeit aus jedwede andere Denkschule als illusorisch, als falsch, als reaktionär zu bezeichnen.Wir sind in der Tat in der Gefahr, eine Deutschlandpolitik des Als-ob zu betreiben. In vielen Denkschriften, in vielen Darstellungen und in vielen Rezepten wird so getan, als ob es jenseits der Demarkationslinie ein System gebe, mit dem wir heute
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8350 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Becher
kooperieren könnten, als ob es dort eine Bereitschaft gebe, unseren echten und guten Willen zur Entspannung aufzunehmen.Es ist billig, vom Buhmann-Kommunismus zu sprechen. Es ist auch ganz gewiß schlecht, die ganze Politik der freien Welt oder die Deutschlandpolitik auf einem Anti-Kommunismus aufzubauen. Ebenso schlecht ist es aber, den Anti-Anti-Kommunismus .zu predigen und zu glauben, daß es eben die Herausforderung für uns nicht mehr gebe, die heute noch weitgehend vom Kommunismus bestimmt wird. Ich wehre mich gegen jede Art von Gehirnwäsche, die es uns heutzutage schon fast verbietet, das Wort „Kommunismus" nur in den Mund zu nehmen; denn das erlauben uns eben nicht die Realitäten, die so oft von allen Seiten zitiert werden.Dazu gehört, daß der Ruf nach Anerkennung der sogenannten DDR das Zentralprodukt einer politischen Strategie ist, die unter dem Deckmantel der Koexistenz das freiheitlich-demokratische System der Bundesrepublik beseitigen will, wie heute vormittag Kollege Barzel schon sagte. Diese harte Wirklichkeit muß man doch unseren jungen Leuten auch ein wenig zu erläutern versuchen, wenn sie so gemeinhin die gleiche Forderung ihrerseits, etwa von einem Studentenparlament aus, aufstellen. Man muß ihnen klarmachen, daß hinter dieser Forderung nach Anerkennung der DDR eben der ganze Katalog eines Deutschland- und Europa-Konzepts steckt, das offensiv angelegt und offensiv gedacht ist und nach der Konferenz von Budapest drauf und dran ist, virulenter zu werden als bisher.Mit Recht versucht die Bundesregierung, dem Angriff der Herren Weltrevolutionäre auf Grund dieses reichlich monolithischen Konzepts durch eine bewußte Friedenspolitik entgegenzutreten. Ich möchte von mir aus ein 'eindeutiges Ja zu dieser Friedenspolitik sagen, zu jener Politik der Präsenz der Bundesrepublik mit all ihren Äußerungsmöglichkeiten jenseits der Demarkationslinie und jenseits des Eisernen Vorhanges. Ich glaube, daß die Kontakte, die wir auf dem Wege der Reisen, auf dem Wege des Wirtschafts- und Kulturverkehrs aufgenommen haben und aufnehmen wollen, jene Brücke des guten Willens bauen, die gewiß auch dort zu einer inneren Liberalisierung Mitteleuropas mithilft, wo die Zeichen heute noch nicht so auf liberal stehen, wie wir uns das wünschen. Gefährlich ist diese Friedenspolitik oder dieser Brückenbau ganz gewiß nicht. Gefährlich ist nur seine Mißinterpretation, ist eine Fehlinterpretation dieser Politik, eine Ausdeutung im Sinne der Kapitulation, der Selbstaufgabe, der Aufgabe von Rechtspositionen.Die Deutschen des Ostens, die ja hier zuvörderst gemeint sind, bejahen und wünschen — da unterstreiche ich das, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat — die Wiederbegegnung mit den östlichen Nachbarn. Sie haben das schon seit Jahrzehnten getan. Früher noch, als andere Schichten darüber sprachen, haben sie in ihrer Charta der Vertriebenen diesen Gedanken herausgestellt. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Formel der Neuordnung in Mitteleuropa auf der Basis einer Regelung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk und zwischen dem deutschen und dem tschechischen Volk, die jeweils dem Selbstbestimmungsrecht beider Völker entspricht, möglich ist, ja daß ihr die Zukunft gehört. Die Deutschen aus dem Osten begrüßen diese Politik und diese Möglichkeit. Sie halten es jedoch für unmöglich, daß sie auf der Basis einer Zementierung des Unrechts geschehen kann.Herr Kollege Genscher, hier möchte ich Sie ein wenig ansprechen. Sie hatten die Debatte auf die Behandlung der Geschichte des 'deutschen Volkes konzentriert und haben dann der Bundesregierung vorgeworfen, sie solle in der Frage der Grenzen und in der Frage der Vertriebenen offen sprechen. Nun haben Sie Ihrerseits, wenn ich Sie recht verstanden habe, sozusagen vorweggenommen, daß Sie das Opfer der Vertriebenen in der Heimataufgabe Sehen. Ich meine, Sie sind da aufgerufen, ein wenig deutlicher zu sprechen. Wenn ich das, was Sie hier gesagt haben, klar und deutlich formuliere, muß ich sagen: Sie sind für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Hier müßten Sie klar und deutlich sprechen, damit jene, die betroffen sind, wissen, woran sie sind.Und ich möchte sagen: bei allem Ja zu einer positiven Regelung, zu einer Partnerschaft der Völker sind die Deutschen aus ,dem Osten nicht gewillt, in eine Legalisierung der Vertreibung einzuwilligen. Die Diffamierung dieses Teiles unseres Volkes, das Ausklammern der Deutschen aus dem Osten aus dem Kalkül der Innenpolitik, sie bilden Ansatzpunkte einer Zange, die sowohl von innen gegen sie angesetzt wird wie von außen. Es herrscht die falsche Voraussetzung, man könne sich diesen Zangengriff gegen ihre Rechtspositionen erlauben, weil gewisse Statistiken ja darauf hinweisen, daß dieses Problem von selbst dahinschmilzt. Ich halte das für sehr bedenklich.Ein Volk schmilzt nicht in 20 Jahren dahin, Stämme und Volksgruppen, die jahrhundertelang zentrale Kulturlandschaften Europas kultivieren halfen, sterben nicht in 20 Jahren. Sie sind einfach da, sie sind mit ihren Ansprüchen hier. Ich glaube, hier anmelden zu müssen: diese Deutschen sind auch hier in der Bundesrepublik. Schließen wir nicht von ihrer disziplinierten Haltung darauf, daß sie es vergessen haben, den Mund aufzumachen, wenn sie schlecht behandelt werden.Ich meine, man sollte sich in der Tat daran erinnern, daß man hier auf Deutsche trifft, die sich seit 1945 im Wiederaufbau unserer Demokratie bewährt haben. Damals sind Hunderttausende, Millionen von Menschen mit nichts nach Deutschland gekommen als mit dem berühmten Brotsack und mit der berühmten Zahnbürste. Sie waren vom Osten aus zumindest als ein Vortrupp der Anarchie gedacht. Die soziale Atombombe, die sie darstellen sollten, haben sie aber nicht nur nicht gezündet, sondern sie haben sie entschärft, und sie haben mit dazu beigetragen, daß unsere Wirtschaft, daß unsere kommunale Verwaltung, daß unser Staat in freier Demokratie aufgebaut wurde.Sie sind heute diejenige Gruppe unserer Bevölkerung, die sich aus dieser Erfahrung heraus zu der
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Dr. Becher
Meine Damen und Herren, der Herr Abgeordnete Horten hat eine schriftliche Rede übergeben *), die ich mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll nehme.
Das Wort hat der Abgeordnete Rehs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der ersten Diskussionsrunde heute*) Siehe Anlage 3
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Rehshatte ich den Eindruck, auch meinerseits vor der Notwendigkeit zu stehen, zu dem Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation aus der Sicht der deutschen Heimatvertriebenen längere Ausführungen zu machen. Die Darlegungen des Bundeskanzlers heute nachmittag über die Auffassungen der Bundesregierung in den Fragen der Ostpolitik, die Ausführungen, die Kollege Gradl zu diesem Fragenkomplex gemacht hat, und die Ausführungen, die Kollege Dr. Becher eben von dieser Stelle aus gemacht hat, erlauben es mir, auf wesentliche Teile meiner Darlegungen zu verzichten, weil ich es nicht für nötig halte, jene Ausführungen zu wiederholen.Die Kollegen, die Heimatvertriebene sind, haben das Hohe Haus mit ihren Reden über ihre Probleme, ihre Vorstellungen und die sie bedrängenden Fragen wahrlich nicht strapaziert. Sie haben vielmehr wiederholt Anlaß gehabt, sich durch die tagesordnungsmäßige Behandlung ihrer Wortmeldungen beschwert zu fühlen. Das ist eine Frage der Arrangements der Fraktionen. Das gehört aber zu jenem Gesamtsachverhalt, über den Kollege Dr. Becher in einigen Perspektiven gesprochen hat und den auch ich als einen der wesentlichen Tatbestände für die Beurteilung der Lage der Nation ansehe.Einer dieser wesentlichen Tatbestände ist ohne Zweifel das, was sich die Staatsbürger selber unter ihrer Nation vorstellen, das, was man als das Selbstverständnis eines Volkes bezeichnet, seine Auffassungen von der Aufgabe und den Zielen seiner Politik, das, was seinen Willen bestimmt und seine politischen Energien entfaltet. Das ist also die geistige und seelische Verfassung der Menschen, nicht nur ihre Einstellung zum Staat, zu den nationalen Problemen des Volkes, zu den Forderungen der Zeit, sondern das ist auch das Verhältnis der einzelnen Bevölkerungsschichten zueinander und der Grad der inneren Solidarität.Dazu gehören die Spannungen, die sich aus dem Mangel an dieser Solidarität ergeben, die Bedrohungen, die entstehen können, wenn diese Spannungen nicht gesehen werden, wenn ihnen nicht mit Einsicht, Verständnis und weitsichtiger Führung begegnet wird.Es geht hier um das, was der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen einmal den Zusammenhalt der Nation genannt hat und was im inneren Bereich der Bundesrepublik die elementare Voraussetzung für die Bildung der Willenskräfte ist, die erforderlich sind, um den Zustand der Teilung zu überstehen und zu überwinden.Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht über die Not der Teilung Ausführungen zur Lage unserer Landsleute in Mitteldeutschland, über die Lebensinteressen Berlins gemacht, denen ich hier nichts hinzuzusetzen habe. Aber es fehlte dort jedes unmittelbare Wort über das tragische Kapitel, das mit dem Schicksal und der Existenz der 101/2 Millionen deutscher Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik und weiteren 31/2 Millionen Landsleuten, die aus der Zone zu uns in die Freiheit gekommen sind, als Teil dieser Not der deutschen Nation verkörpert wird.Meine Damen und Herren, ich kritisiere nicht, daß die Bundesregierung zu den immer neuen Denkschriften verschiedener Art und von verschiedenen Gruppen nicht Stellung nimmt. Ich halte das vielmehr für richtig. Auch ich will mich hier nicht mit den einzelnen Schriften auseinandersetzen, obwohl ich ihre Psychologie für falsch und jedenfalls nicht für heilsam halte, weil sie nämlich, so wie sie angelegt und herausgebracht sind, nicht zur Diskussion, zu einem sachlichen, fairen und allseits um Verständigung bemühten Gespräch, das allein weiterführen kann, sondern nur zu einem die Fronten versteifenden Gruppenmonolog führen.Aber auch in den Denkschriften gibt es Feststellungen, die einen Wert hätten, wenn man die richtigen Folgerungen daraus zöge. So standen z. B. in Kapitel 2 der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche, die seinerzeit viel Wirbel und Widerstand nicht nur bei den Heimatvertriebenen hervorgerufen hat, unter der Überschrift „Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche" folgende Sätze, die ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren darf:Nach all dem ist es nicht so sehr der Staat mit seinen Maßnahmen der Daseinsvorsorge als vielmehr die westdeutsche Gesellschaft, die den Vertriebenen offenbar vieles und Wesentliches schuldig geblieben ist.Vor dem deutschen Volk stand und steht noch immer die Aufgabe, zu einer neuen Gemeinschaft aus Einheimischen und Vertriebenen zusammenzuwachsen.Weiter:Der Weg zu einer solchen Gemeinschaft ist bis heute bestenfalls begonnen, und das Ziel ist oft nicht erkannt oder unter gegenseitigen Vorwürfen verdunkelt.Jene Schrift erschien im Jahre 1965. Ich kann nicht feststellen, daß sich seitdem in dieser Hinsicht Wesentliches geändert hat.Hier wird eine Erscheinung sichtbar, die jeden Nachdenklichen mit Sorge erfüllen muß, nämlich die Tatsache, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland trotz der Erschütterungen, die unser Volk in den letzten Jahrzehnten erlebt hat, trotz der Spaltung unseres Vaterlandes, trotz des unsagbar schweren Ringens um ihre Überwindung in erschreckendem Maße aneinander vorbeileben und keine wirkliche Kenntnis voneinander haben.Gewiß, die Menschen leben ohnehin in ihren vielfältigen ökonomischen, sozialen und religiösen Schichten; das liegt wohl in ihrer Natur. Wenn sich aber daraus so große Bewußtseinsunterschiede ergeben, daß das Schicksal eines Bevölkerungsteils, der - ein Viertel des deutschen Staatsgebiets bewohnt hat, daß das Schicksal unserer Landsleute hinter Mauer und Stacheldraht nicht mehr als eigenes Volksschicksal lebendig ist und zu aktivem Mittun drängt, wenn große Teile der einheimischen Mitbürger auf der einen und die Heimatvertriebenen und die Sowjetzonenflüchtlinge auf der anderen Seite in ein Verhältnis zueinander geraten wie — ich scheue mich fast, das zu sagen — Menschen aus
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Rehsfremden Sprachbereichen, dann können hieraus nicht nur Mißverständnisse und Reibungen, sondern auch Spannungen entstehen, die den Zusammenhalt der Nation gefährden. Hier ist also eine andere Einstellung der Bevölkerungsteile zueinander erforderlich. Das ist nicht mit gequälter Freundlichkeit wie armen Verwandten gegenüber zu erreichen. Es muß zu spüren sein, daß es aus der Tiefe der Gesinnungen, aus dem Herzen kommt.Man kann doch die Heimatvertriebenen, die das Schicksal der Vertreibung hinter sich haben, nicht noch unbewußt für die gesamten Probleme verantwortlich machen, die sie, die Vertreibung und die deutsche Ostfrage für unsere Politik bedeuten. Hier handelt es sich. um eine Hypothek aus der gemeinsam zu verantwortenden Vergangenheit. Diejenigen, die von der äußeren Haftung unseres Volkes sprechen, sollten nicht die innere Haftung vergessen, unter der sie ihren eigenen besonders betroffenen Landsleuten gegenüberstehen.
Ich will hier nicht näher auf die sozialen Fragen eingehen. Wir haben immer dankbar anerkannt, was hier auf vielen Ebenen geleistet worden ist. Wir wissen dabei, was wir selber zum allgemeinen Aufbau der Bundesrepublik beigetragen haben. Aber wir wissen auch, daß die Vorstellungen der Öffentlichkeit nicht ohne Schuld früherer Bundesregierungen weit über die tatsächliche Situation hinausgehen, in der sich große Teile unserer Landsleute noch heute befinden.Das wirkliche Maß der Eingliederung, der große soziale Abstieg ganzer Berufsgruppen, zum Beispiel des heimatvertriebenen Landvolkes, das effektive Ergebnis des Lastenausgleichs für den einzelnen usw. — trotz dieses bedrückenden Sachverhaltes haben die Vertriebenen mit Rücksicht auf die hinter uns liegenden Haushalts- und Finanzkrisen eine Disziplin und Zurückhaltung in ihren Ansprüchen gezeigt wie keine andere Bevölkerungsgruppe. Sie haben — bis auf unsere vertriebenen Bauern in Nordrhein-Westfalen — noch keine Demonstrationen angekündigt, aber sie möchten für diese Haltung nicht dadurch bestraft werden, daß das, was für sie noch erforderlich ist, weiter Stück für Stück abgebaut wird, weil andere lauter schreien.Meine Damen und Herren! Wenn die Lage der Nation also zufriedenstellend gemeistert, wenn das Zusammengehörigkeitsgefühl gefestigt werden soll, dann müssen hier andere Maßstäbe gesetzt werden, als sie in letzter Zeit an manchen Stellen in Regierungen und Parlamenten sichtbar geworden sind. Ich greife ferner das auf, was Kollege Dr. Becher für den Bereich der öffentlichen Auseinandersetzung über die deutschen Ostfragen, über die Vertriebenen, ihre Organisationen, ihre außen- und ostpolitischen Vorstellungen angeführt hat. Die Heimatvertriebenen haben am härtesten erfahren, was der Verlust der Geborgenheit in einem gesicherten Staat bedeutet. Sie haben nichts vergessen, weder die Selbstzerfleischung unter Weimar, noch die Hybris des Nationalsozialismus, noch die brutale Gewalt des östlichen Siegers. Sie bejahen deshalb den demokratischen Staat in dem uns verbleibenden freien Teil Deutschlands rückhaltslos und wollen nicht, daß er durch ständige Diffamierungen, die vor nichts mehr haltmachen, aufs Spiel gesetzt wird. Denn hier geht es entscheidend um die Frage der inneren Existenzsicherung der Nation.Hier ist aber seit Jahren an der Autorität und Glaubwürdigkeit unserer jungen Demokratie, die ja durch ihre Institutionen — Parlamente, Regierungen und Parteien — repräsentiert wird, genagt worden. Die ganze bundesrepublikanische Politik, ihre führenden Persönlichkeiten sind so lange kollektiv der Unaufrichtigkeit, der Doppelzüngigkeit usw. bezichtigt worden, bis bei vielen jungen Leuten die Vorstellung von Autorität überhaupt zerstört worden ist.Ich teile in diesem Punkte die Auffassung des Kollegen Helmut Schmidt über den personalen Bezug der Autorität zu den führenden Persönlichkeiten, daß dazu auch die außerparlamentarischen Institutionen und Korporationen wie Gewerkschaften und ihre Persönlichkeiten gehören und daß diese nicht in den Dreck getreten werden dürfen. Wir rechnen uns und die führenden Gremien des Bundes der Vertriebenen, der stärksten Mitgliederorganisation nach den Gewerkschaften, auch zu diesen Institutionen. Ich bin daher sehr betroffen, Herr Kollege Genscher, daß Sie in diesem Hause die Vokabel von den Berufsvertriebenen verwendet haben, ob wohl Sie doch wissen, mit welcher Absicht sie sonst gebraucht wird.
Die Heimatvertriebenen sind seit vielen Jahren eine besondere Zielscheibe dieser Agitation gewesen. In Funk und Fernsehen, das hat der Kollege Becher ganz richtig ausgeführt, ist seitens bestimmter Personen und Gruppen eine systematisch einseitige und verzerrte Darstellung ihrer Probleme, ihrer Haltung und ihrer politischen Vorstellungen im Gange, die besonders deshalb Erbitterung hervorrufen muß, weil die Vertriebenen gegen diese Polemik wehrlos sind,
weil Ihnen bis auf wenige Ausnahmen auch nur annähernd adäquate Gegendarstellungen verweigert werden. Hier wird gegen die Grundsätze, die in den Richtlinien für die Sender aufgestellt worden sind, permanent in flagranter Weise verstoßen, ohne daß sich eine starke Hand in politischen Stellen und Verantwortlichkeiten in der Bundesrepublik rührt, um dagegen einzuschreiten.Ich wende mich nicht gegen Kritik, aber gegen die Art und die Form der Kritik, gegen die Behandlung dieses Teiles der Bevölkerung, der Männer und Frauen, die das Vertrauen der Heimatvertriebenen besitzen, gegen die Art, diese entweder zu diffamieren oder so zu tun, als ob sie überhaupt nicht existierten. Ich kann nur sehr eindringlich warnen vor der Fortsetzung der kaltschnäuzigen und arroganten Tonart in der Behandlung durch bestimmte Gruppen in den Massenmedien, eine Behandlung, die nicht dazu beiträgt, innere Spannun-
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Rehsgen abzubauen, sondern dazu führen muß, daß neue Gräben aufgerissen werden.Es ist möglich, meine Damen und Herren, daß viele von Ihnen über diese Feststellungen überrascht sind, weil ein großer Teil von Ihnen wahrscheinlich diese Sendungen überhaupt nicht sieht. Aber Sie können mir abnehmen — und wir werden den Nachweis in entsprechenden Zusammenstellungen bringen —, daß hier nicht ein Wort zuviel gesagt worden ist.Ich stimme der Feststellung des Bundeskanzlers zu, daß der neue Extremismus durch politische Auseinandersetzungen zurückgedrängt werden muß. Aber ich meine, hier muß man mehr bei den Ursachen als bei den Wirkungen anfangen. Soweit es sich um die Heimatvertriebenen handelt, ist es doch angesichts dieser Situation eine von großen Teilen der Öffentlichkeit offensichtlich überhaupt nicht gesehene oder mindestens nicht gewertete Leistung, daß sie sich bisher in diesem Ausmaß vor Radikalität bewahrt haben. Mit mir haben alle verantwortlichen Landsleute an der Spitze unserer Organisation ernste Befürchtungen, wenn jenem Treiben nicht endlich Einhalt geboten wird.Ich bitte daher die Bundesregierung, ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, ich bitte das Hohe Haus dringlich, die Vertriebenen in der Abwehr gegen ihre Schmäher nicht länger allein zu lassen.Ich will hier zu den Problemen der Grenzen, der Oder-Neiße, zu den Problemen, die überhaupt mit der neuen Ostpolitik, Entspannung und Gewaltverzicht zusammenhängen, nicht im einzelnen mehr Stellung nehmen. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß, wenn wir von der Nation sprechen, von der Nation im geteilten Deutschland, sich unabwendbar die Frage stellt, wie weit das Selbstbestimmungsrecht, der Begriff der Wiedervereinigung geht. Ist Deutschland, das Deutschland in den de iure immer noch gültigen Grenzen von 1937, nicht mehrfach geteilt? Gibt es nicht deutsche Gebiete, die zur Zeit „unter fremder Verwaltung" stehen, aus denen, wie die Aussiedlungsanträge und Aussiedlertransporte zeigen, Hunderttausende zur deutschen Volksgemeinschaft, zum freien Teil Deutschlands drängen? Diese Menschen wollen wissen, daß sie von ihrem Volk nicht vergessen sind. Auch die 3 Millionen ostdeutscher Landsleute, die nach Kriegsende in Mitteldeutschland Zuflucht gesucht haben und die sich nicht zu ihrer angestammten Heimat bekennen dürfen, möchten zumindest über Rundfunk und Fernsehen erfahren, ob die Bundesrepublik die Interessen, die auch sie im Gedenken an ihre angestammte Heimat bewegen, freimütig und vor aller Welt vertritt.Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht registriert, daß noch 1 Million Deutsche in den Ostgebieten leben. Das ist dankenswert, zumal diese Tatsache sonst bei gegebenen offiziellen Anlässen in der Regel unerwähnt bleibt. Aber dürfen wir uns damit begnügen, diesen tragischen Sachverhalt einfach trocken zu registrieren? Die deutschen Menschen dort sind Gefangene eines fremden Staates, der ihren Boden besetzt und ihnen Jahre hindurchsogar verboten hat, ihre Sprache, das einzige, was ihnen vom deutschen Volk dort geblieben ist, zu sprechen. Jeder, der einmal in Friedland erlebt hat, mit welcher unbeschreiblichen Ergriffenheit deutsche Aussiedler den Willkommensgruß in deutscher Sprache vernehmen, kann sich vorstellen, was es für die Menschen, die noch dort leben, bedeutet, wenn sie Zuspruch vom eigenen Volk erfahren.Ich bin kein Beckmesser. Aber wenn von dem Teil Deutschlands die Rede ist, wo diese Menschen heute noch wohnen, dann ist es doch nicht irgendein Land jenseits von Oder und Neiße, sondern dann ist es rechtlich nach wie vor der ostdeutsche Teil Deutschlands. Dieser Feststellung vor uns selber und in den Auseinandersetzungen nicht auszuweichen, das gehört meines Erachtens auch zu dem Mut zur Wahrheit, von dem der Kollege Helmut Schmidt heute erneut gesprochen hat.Meine Damen und Herren, wer über das Problem der Teilung und der Abtrennung deutschen Landes spricht, der kann, der darf doch wohl, wenn die Lage der deutschen Nation aufgezeichnet wird, nicht unerwähnt lassen, das es sich bei der Vertreibung der Deutschen, wie es in den kürzlich vom amerikanischen Außenamt veröffentlichten Dokumenten heißt, um eine in der Geschichte unerhörte „Vergeltung in großem Maßstab" handelt, um einen Unrechtstatbestand, der nicht einfach sanktioniert werden darf, wenn die Politik der Gewalt nicht an allen Orten und Enden der Welt ermutigt werden soll, neues ähnliches Unrecht zu begehen.Vor einem Jahr haben Sie, Herr Bundeskanzler, vor dem Kongreß der ostdeutschen Landesvertretungen in Bonn erklärt, Ihre Regierung sei „keine Regierung des illusionären Verzichts". Ihr „Ziel sei, soviel wie möglich für Deutschland zu retten." Der Bundesaußenminister hat auf demselben Kongreß erklärt:Es geht ja nicht nur um die Grenzen im Zusammenhang mit einer europäischen Friedensordnung, es geht auf breiter Front darum, daß Recht und Gerechtigkeit nicht mit Füßen getreten, sondern als Grundlage des friedlichen Ausgleichs zwischen den Staaten anerkannt werden.Ich bin Ihnen dankbar, Herr Bundeskanzler, daß Sie in Ihren zusätzlichen Ausführungen heute nachmittag den Standpunkt der Bundesregierung und Ihren eigenen Standpunkt zur Frage des Ostens und zur ostdeutschen Grenzfrage klargestellt und noch einmal deutlich gemacht haben, daß jene Erklärung in der Beethoven-Halle und die vielen Erklärungen gleicher Art, die Sie in dem vergangenen Jahr zur Interpretation der Regierungserklärung in diesen Punkten abgegeben haben, auch heute noch Geltung haben.Ich will mit Rücksicht auf die Feststellungen hier davon Abstand nehmen, zu der politischen Problematik in dieser Hinsicht noch weitere Ausführungen zu machen. Ich möchte dem Kollegen Gradl danken für die Erklärung, die er vorhin im Hinblick auf den Begriff der Illusionen, soweit es sich um die Heimatvertriebenen handelt, gemacht hat. Sie haben sich in der Tat alle, soweit sie Veranwtortung tragen, nie-
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Rehsmals Illusionen über die Schwierigkeit der Lage gemacht. Sie haben Erklärungen über ihre Bereitschaft zur Verständigung mit den Nachbarn im Osten zu einem Zeitpunkt abgegeben, als diese Fragen in Auseinandersetzungen der deutschen Politik noch keine entscheidende Rolle spielten. Aber wir sind andererseits der Auffassung, wie sie einer der ehemaligen Mitarbeiter an dem Bensberger Memorandum, Professor Smolka, unlängst im Rundfunk geäußert hat, nämlich:Wir Deutsche sollten eigentlich aus unserer Erfahrung ein für allemal gelernt haben, daß bloße Rechtspositionen immer noch realer sind als alle scheinbar noch so fest durch Gewalt abgesicherten bloßen Machtpositionen. Es gibt in der Geschichte nichts, was veränderlicher wäre als Machtkonstellationen. Schon deshalb darf man die Rechtsordnung nicht an ihnen ausrichten.Kollege Helmut Schmidt hat heute dankenswerterweise von sich aus und in diesem Zusammenhang auf die Verantwortung jedes Abgeordneten hingewiesen, nach Wissen und Gewissen zu entscheiden. Und er hat ein eindringliches Wort von Julius Leber zitiert. Erlauben Sie mir, auch meinerseits zwei Sätze eines Mannes anzuführen, Sätze, die am Anfang meines politischen Weges in der Bundesrepublik hier im Westen Deutschlands standen und die ich unbeschadet aller seither eingetretenen politischen Veränderungen auch heute noch für richtig halte.Diese Sätze stammen aus der Rede Dr. Kurt Schumachers auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD am 9. Mai 1946 in Hannover.
Sie lauten: „Man kann das Unrecht von heute niemals mit dem Unrecht von gestern begründen." Und weiter: „Es ist nicht wahr, daß jeder, der gegen den Strom schwimmt, sein Ziel nicht erreicht; wahr ist nur, daß nur die zugrunde gehen, die vorzeitig kapitulieren."Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friderichs.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Der Herr Bundeskanzler hat auf Seite 20 des verteilten Manuskripts seiner Rede zu jener Hälfte der heute lebenden Deutschen gesprochen, ,die an die Zeit von 1933 bis 1945 entweder gar keine oder nur noch eine blasse Kindheitserinnerung hat. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Bundeskanzler, daß Sie diese Gruppe angesprochen haben, zu der ich mich bekenne. Ich möchte für diese Gruppe hier einiges weniges sagen. Es sind zwar 50% der in unserem Volk lebenden Deutschen, aber in diesem Hause sind es ja erheblich weniger. Insofern darf 'ich vielleicht als Jüngster meiner Fraktion für diese Gruppe einiges auch zu Ihrem Bericht zur Lage der Nation sagen.Sie haben festgestellt, daß diese Gruppe unsere gesellschaftliche und staatliche Wirklichkeit nichtam Vergangenen, sondern mit den Maßstäben idealer Vorstellung mißt, und — das sei der Korrektheit halber hinzugefügt — Sie haben gesagt, wir brauchten uns darüber nicht zu wundern und auch nichts anderes zu wünschen. In der Tat wäre esschlecht um eine Generation bestellt, — zu der ich mich zähle —, die nicht an den Idealen messen würde, sondern relative Bezüge zu anderen Abschnitten herzustellen versuchte.Lassen Sie mich jetzt gleich auf Ihre Replik auf meinen Kollegen Genscher 'eingehen, der jenes böse Wort von de Gaulle zu einer deutschen Stadt zitiert hat. Herr Bundeskanzler, die Antwort, die Sie gegeben haben, verfängt bei dieser meiner Generation eben nicht mehr. Sie haben gesagt: Selbstverständlich habe ich reagiert; vor den Zeitungsverlegern habe ich dazu die Meinung dargelegt. Diese Generation denkt sehr rational, und sie verlangt, daß nicht ausgeklammert, sondern angepackt wird. Sie hat erwartet, daß der Protest nicht vor deutschen Zeitungsverlegern, sondern im Rahmen des Freundschaftsvertrages in Paris abgegeben worden wäre.
— Bei 'der üblichen Publizitätsfreudigkeit der Bundesregierung hätte ich unterstellt, daß davon in der deutschen Presse etwas zu lesen gewesen wäre.
— In der Tat, Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, auch wir stellen fest, daß insbesondere aus Ihrem innenpolitischen Bereich vieles gar nicht an die Glocke gehängt wird, sondern ganz im Inneren bleibt.
Lassen Sie mich ,ein zweites Beispiel bringen, was für diese Generation problematisch ist. Als Herr Kollege Gradl heute mittag auf die Ausführungen des Fraktionsvorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion einging, der gesagt hat, die DDR sei ein Staat und Herr Gradl andere Merkmale aufführte, habe ich ihn gefragt, welche Tatbestände und Merkmale sonst noch hinzukommen müßten, damit diese staatsrechtliche Meinung von Herrn Schmidt, wie ich annehme, zutreffe. Herr Gradl, Sie haben so reagiert, wie es diese Generation nicht mehr wünscht. Sie haben nicht gesagt: Ist Staat oder ist kein Staat, sondern Sie haben gleich wieder mit der „Demokratisierung" den Versuch unternommen, diejenigen, die ganz nüchtern und rational an die Dinge herangehen, abzuwerten. Diese Generation will eine klare und harte Antwort haben, ob, wenn bestimmte Merkmale vorliegen ,staatsrechtlich der Tatbestand erfüllt ist oder nicht, und diese Antwort hätten Sie geben sollen.
Dabei gestehe ich Ihnen zu, daß Sie staatsrechtlich völlig anderer Meinung sein können als Herr Schmidt, aber Sie müssen es sagen.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8357
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gradl?
Bitte, gern.
Haben Sie nicht gemerkt, daß meine ganzen Ausführungen nur den Sinn hatten — ich glaube, ich habe es klar genug gesagt —, deutlich zu machen, daß es in deutscher politischer Wertung eben kein Staat ist? Sonst hätte ich gar nicht darüber gesprochen.
Daß Sie den Versuch unternommen haben, möchte ich nicht bestreiten. Aber ich weiß nicht, warum Sie dann nicht klassische Merkmale aufgeführt haben.Lassen Sie mich aber noch etwas anderes, Herr Bundeskanzler, sagen, was diese Generation im Bericht zur Lage der Nation vermißt hat. Bitte, man kann darüber streiten, ob nicht überhaupt schon ein so anspruchsvoller Titel an sich Probleme aufwirft, ob man ihm gerecht werden kann, ob man ihm gerecht geworden ist. Aber in einer Situation, in der der höchste Repräsentant dieses Staates, der Bundespräsident — ich wage das als Angehöriger dieser Generation hier im Augenblick auszusprechen
— ja, offensichtlich wagen das die meisten anderen nicht; jedenfalls steht es in dem Bericht der Bundesregierung nicht drin —, also in dem Augenblick, in dem der höchste Repräsentant nach innen und nach außen, der Bundespräsident, in einer gewissen Verstrickung ist, hätte ich erwartet, daß Sie dazu in dem Bericht zur Lage der Nation etwas gesagt hätten. Mir scheint die Form der Behandlung des Themas— nicht die Vorwürfe, sondern die Form der Behandlung dieser Frage — zu zeigen, daß auch die von Ihnen geführte Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, eine Bewältigung der Vergangenheit noch nicht vorgenommen hat. Ich möchte das in allem Ernst sagen. Ich glaube, es besteht auch kein Anlaß, darüber zu polemisieren.
— Ich will gleich versuchen, Ihnen das zu sagen, Herr Kollege.Diese Generation hat in der Tat die Verhältnisse bis 1945 nicht mehr erlebt. Die Erinnerungen beziehen sich nicht auf das System, sondern wenn überhaupt, dann auf Kriegsereignisse. Dieser Generation ist aber
— lassen Sie mich doch sagen, wie ich es selbst erlebt habe — nie gesagt worden, weder von den Lehrern, häufig auch nicht von den Vätern, weil auch sie ein gebrochenes Verhältnis zu dieser Zeit hatten — —
— Herr Matthöfer, ich habe gesagt: häufig. Ich bin nun einmal damals aufgewachsen. Ich habe das doch bei meinen Studienfreunden erlebt. Dieser Generation ist nicht deutlich gemacht worden, daß man in dieser Zeit nur leben konnte, wenn man sich entweder in das Bezugssystem in irgendeiner Form einordnete oder das Land verließ. Das ist uns nie offen und deutlich gesagt worden. Warum nicht? — Weil jene, die sich in das Bezugssystem eingeordnet hatten — auch mein Vater —, offensichtlich nicht die Kraft hatten, zu sagen, daß es so sein mußte, um sich zu ihrem eigenen Verhalten zu bekennen. Insofern bin ich sehr dankbar, daß der Kollege Genscher heute den Fall Döring als den Symbolfall gebracht hat. Ihm ist es offensichtlich gelungen.Wir müssen, wenn wir_ demnächst über die Studenten sprechen werden und darüber, was Sie, Herr Kollege Rehs, vorhin mit „Autorität" bezeichnet haben — staatliche Autorität, die Autorität der Institutionen —, uns natürlich auch die Frage stellen, welche Autorität wir meinen, wenn wir an jene Generation appellieren, die Sie in dieser Passage angesprochen haben. Ich glaube Ihnen sagen zu können, Sie können von dieser Generation nicht mehr verlangen — jedenfalls nicht mehr mit Erfolg —, daß sie Autorität von Institutionen und Ämtern anerkennt. Das ist eine Generation, die bereit ist, die Persönlichkeit als Autorität anzuerkennen.
— Herr Matthöfer, ich weiß wirklich nicht, ob der Zwischenruf an dieser Stelle und bei dem, was ich jetzt sagen möchte, so sinnvoll war.Lassen Sie mich ganz klar und deutlich aussprechen: der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, hat letztlich durch dieSouveränität seiner Persönlichkeit dem Amt und damit dem Staat nach innen und außen eine große Autorität wiedergegeben. Ja, ich gehe so weit, zu sagen, daß er durch die Souveränität seiner Persönlichkeit eine Souveränität dieser Bundesrepublik nach außen wiederhergestellt hat, die formal und rechtlich noch nicht gegeben war. Hier denke ich insbesondere an sein erstes Auftreten in Großbritannien, eine der schwierigsten Aufgaben, die er zu bewältigen hatte.Gerade weil das alles so ist, weil eben alle diejenigen, die in dieser Zeit in Deutschland lebten, in das Bezugssystem eingespannt waren, gerade deswegen ist der Fall unseres jetzigen Präsidenten in der Form der Behandlung nicht glücklich gewesen. Man hätte sagen sollen: Auch ich bin eingespannt gewesen in das Bezugssystem, auch ich habe mich so verhalten wie fast alle in diesem Lande; aber ich stehe dazu, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht bekennen soll, was ich getan habe. — Auch wenn man später unter Umständen eingestehen muß, daß es ein Fehler war.Lassen Sie mich ein Weiteres sagen. Diese Generation, Herr Bundeskanzler — und das stört sie auch an dieser Regierung —, erwartet, daß die Politiker,
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8358 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Friderichs wir hier, Sie im Kabinett, wieder mehr gestalten als verwalten. Sie will eine auf die Zukunft bezogene. Politik haben, die sich nicht darin erschöpft, verwaltungstechnische Korrekturen anzubringen, sondern die ein klares politisches Leitbild gibt, ein Leitbild, das Sie nicht schaffen können durch Kompromiß im Grundsatz, sondern mit der Mehrheitsentscheidung, dem Mut zur Entscheidung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn von Merkatz?
Herr Kollege, gestatten Sie mir eine Frage, die wirklich nicht polemisch sein soll: Was verstehen Sie eigentlich unter dem heute so Mode werdenden Allgemeinbegriff „in das. Bezugssystem eingespannt"? Jetzt möchte ich mal so fragen, wie unsere junge Generation fragt: Was heißt das eigentlich?
Ich habe in diesem konkreten Falle darunter verstanden, daß jeder, der in dieser Zeit in der Bundesrepublik gelebt hat und geblieben ist, gezwungen war, sich mit System und Institutionen des Systems zu arrangieren. Er saß in dem Bezugssystem mit drin.
— Entschuldigung!
— Auch da, natürlich, auch in der Bundesrepublik sind wir alle im Bezugssystem mit drin. Aber so war es eben auch früher, bloß man bekennt sich nicht dazu.
— Oder das, Sie haben recht; Emigration oder die von Ihnen genannte Konsequenz.
Lassen Sie mich noch ein Weiteres sagen. Diese Generation bemängelt das Demokratieverständnis, sie bemängelt es deswegen, weil zu lange vorgegaukelt worden ist, daß wir in einer konfliktlosen Gesellschaft leben, formiert genannt oder wie auch immer, einer Gesellschaft, die einfach nicht wahr war und die sie auch nicht als wahr angenommen hat, weil sie wußte, daß sie selbst täglich vor Konflikten stand, die man eben nicht mit Kompromissen lösen kann, sondern vor Konflikten, die man durch Entscheidungen lösen kann.
Ja, ich glaube, dieser Generation ist viel zugemutet worden; denn als sie begann, politisches Bewußtsein zu haben, wurde ein Wahlkampf geführt, auch um die Stimmen der jungen Generation, mit dem Slogan „Keine Experimente!" Meine Damen und Herren, ein Slogan „Keine Experimente!" ist das Unpolitischste, was sich eine politische Partei in einer Demokratie leisten kann; deswegen verliert
sie einen Anspruch, dazu beizutragen, diese Generation zum Demokratieverständnis zu bringen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Martin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es scheint mir gar nicht so sicher zu sein, daß derjenige, der zu einer Generation gehört, auch über sie Bescheid weiß.
Ich fand die Ausführungen von Herrn Raffert zu diesem Thema, der sich übrigens als Redner nicht dadurch zu legitimieren brauchte, daß er den Geburtsschein vorzeigte, sehr viel einsichtsvoller, differenzierter, subtiler und auch brillanter. Herr Raffert, ich darf Ihnen hier meinen Glückwunsch aussprechen.
Herr Friderichs, Sie haben den Fehler gemacht, den Sie nicht hätten machen sollen, daß Sie sich aus Ihrer Jugendlichkeit, die ja nun auch allmählich dem Zahn der Zeit verfällt,
eine Legitimation für eine Polemik hergeleitet haben. Sie haben eine Kritik, die Sie auch so hätten vortragen können, damit begründet, daß die junge Generation das nicht wolle. Wir haben dann noch eine Zeitlang gehört, was die junge Generation alles nicht wolle.
— Moment, ich bringe meinen Satz zu Ende. Ich bin jetzt gerade so schön dran, Herr Moersch, „ist nicht".An Ihrer Stelle hätte ich das einfach schlicht als politische Kritik gesagt. Dazu brauchen Sie doch nicht zu sagen, daß Sie zu dieser Generation gehören. Denn dadurch wird die Diagnose ganz unsicher, weil Sie ständig auch später sagen, diese Generation will das und das, und das dann gleichzeitig für sich als Abschußrampe in einer Polemik nehmen.
Im übrigen, Herr Friderichs, hätten Sie als aufmerksamer Zeitungsleser — Zeitungen sind ja Pflichtlektüre für uns —
aus dem Ablauf der Dinge sehen müssen, daß der Herr Bundeskanzler mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diesen Tatbestand in Paris vorgetragen hat. Ich nehme das mit Sicherheit an, ohne ihn im einzelnen befragt zu haben. Ich nehme das deshalb an, weil der General de Gaulle sich in dieser Sache in der richtigen Form korrigiert hat, indem er gesagt hat, er gebe kein geschichtliches Urteil ab. Ich glaube, damit ist die ganze Sache aus
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8359
Dr. Martinder Welt, und wir brauchen nicht mehr darüber zu diskutieren. — Bitte Herr Moersch!
Herr Kollege Martin, sind Sie nicht soeben einer Verwechslung von Ursache und Wirkung unterlegen? Herr Dr. Friderichs hat ausdrücklich auf den Satz in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers von der Generation nach 1933 Bezug genommen, und wir haben uns bemüht, in unserer Fraktion einen Mann zu finden, der in diesem Falle diesen Ansprüchen des Herrn Bundeskanzlers entspricht.
Herr Moersch, was Sie da machen, ist doch eine echte Finte. Mein Argument ist doch mit Ihrer Bemerkung nicht außer Kraft gesetzt. Wir brauchen gar nicht darüber zu reden.
Meine Damen und Herren! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, einiges zu den studentischen Fragen zu sagen. Herr Raffert, ich bin in der Nuance etwas anderer Meinung als Sie; ich halte die Frage für sehr dringlich. Wir können da nicht zuwarten. Es trifft zu, daß wir rechtzeitig eine Große Anfrage eingebracht haben. Aber inzwischen hat der VDS getagt, ¡es gibt Unruhen in Prag und in Warschau, und ich glaube, daß wir heute einiges hier dazu sagen müssen, weil die richtige Behandlung dieser Frage, die richtige politische Behandlung, für die Zukunft nicht nur der Universität, sondern, wie ich glaube, auch unseres Landes und für das Klima in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung ist.Wir haben heute an diesem Abend Anlaß, daran zu denken, daß es Studentenunruhen nicht nur bei uns gibt, sondern eben auch in Warschau. Ich sage das aus einem bestimmten Grunde. Herr Raffert, Sie haben recht: die studentische Unruhe, sofern sie einen exzessiven, extremen, antiparlamentarischen Charakter annimmt, wird kristallisiert durch das Denken von Marcuse. Es kann aber sein, daß wir dort eine Hilfe bekamen; denn diejenigen, die sich mit totalitären Ideen abplagen, die mit ihnen spielen, die mit Marcuse der Meinung sind oder sie wenigstens ins Auge fassen, daß diejenigen, die das richtige Bewußtsein von der Realität haben, zumindest zeitweilig eine Diktatur errichten dürfen, werden vielleicht eines Besseren belehrt werden oder merken, wovon sie eigentlich reden, wenn sie hören, daß in Warschau die Studenten brutal unterdrückt werden. Hier ist eben die Möglichkeit zur Kritikdemonstration gegeben. Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt, den wir festhalten sollten.Wenn das stimmt, Herr Raffert, dann möchte ich zweitens sagen: wir gehen in ,der CDU davon aus, daß wir es in der Tat mit einer neuen Art von Generation zu tun haben, und wir beklagen gegenwärtig, daß das Gespräch mit den Politikern — und das ist das Schwierige an der Situation — praktisch abgebrochen worden ist — nicht von uns! Es bleibt aber festzuhalten, daß es gegenwärtig keine Diskussion gibt, eigentlich mit keiner Partei. Es gibt auch von den Studenten her keine Diskussion etwamit denen, die früher hier die Gesellschaftskritik getragen haben. Beispielsweise hört man nichts mehr von Hans Werner Richter, nichts mehr von der Gruppe 47, von den Leuten, die sich gern die „Liberalen" nannten und die mit den Studenten gingen und mit einer forcierten Gesellschaftskritik in der Öffentlichkeit waren. So sind etwa „Die Zeit" und „Der Spiegel" von den Studenten außer Gefecht und außer Kurs gesetzt worden. Ich sage das nicht hämisch, sondern ich bedaure das, weil der Zustand, daß die Studentenschaft im Augenblick nach allen Seiten gesprächslos ist, für meine Begriffe bedenklich ist. Mein wesentliches Anliegen, unser gemeinsames Anliegen mit Herrn Raffert ist, daß wir alles daransetzen sollten, wieder in dieses Gespräch zu kommen.Wenn wir das so sagen, dürfen wir nicht davor zurückschrecken, daß die Kritik der Studenten unter Umständen rüde ist, unhöflich, aggressiv, respektlos gegenübendem Establishment. Man braucht sich nur einmal klarzumachen, was mit diesem Begriff eigentlich gemeint ist. Sie wissen ja, daß „Establishment" ursprünglich ein harmloser soziologischer, wertfreier Begriff gewesen ist, daß er aber von den Studenten polemisch aufgeladen, mit Emotionen versehen wurde und sozusagen die Schlagwaffe im gegenwärtigen Augenblick ist. Ich bin dafür, daß wir uns dieser Kritik stellen. Ich glaube, obwohl das nicht angenehm ist, sollten wir uns vergegenwärtigen, was die Studenten mit diesem Begriff eigentlich meinen, was sie uns damit sagen, wenn sie uns „das Establishment" nennen. Ich glaube, es ist so, daß sie sagen: Zum Establishment gehört jeder, der sich in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung arrangiert hat, wobei „arrangiert" bereits wieder etwas Kritisches ist. Sie sagen: Diejenigen, die dazu gehören, sind zugleich diejenigen, die sich nicht mehr selbst ausweisen. Man mutmaßt, daß die Absprachen hinter den Kulissen stattfinden. Man fürchtet, daß die geistige Auseinandersetzung dadurch getötet wird, daß die Konflikte nicht ausgetragen werden. Man sagt: Die Strukturen von Staat und Gesellschaft sind undurchsichtig; die Entscheidungsabläufe hier in diesem Hause und in der ganzen Gesellschaft werden nicht mit ausreichenden Gründen versehen; sie sind jedenfalls in der Begründung nicht erkennbar.Meine Damen und Herren, wenn man sich das einmal vergegenwärtigt, kommt man auf einen ganz bestimmten Punkt, den ich für meine spätere Argumentation brauche. Hinter dieser Kritik steckt ja etwas, was wir schon lange vor der Studentenrevolte gekannt haben. Es ist das Gefühl der Ohnmacht und der Entfremdung vor den großen Apparaturen, die nun einmal eine moderne Gesellschaft darstellen. Der Staat erscheint wie das Schloß von Kafka. Die psychologischen Korrelate dazu sind Angst, Unsicherheit, Entfremdung.Wenn man das weiß, sieht man die große Gefahr — zusätzlich zu den Argumenten, die Raffert gebracht hat, in bezug auf die soziale Situation der Studentenschaft —, in der diese Studentenschaft steht. Sie kann von Leuten wie Marcuse jederzeit ihrerseits manipuliert werden. Weil das so ist, müs-
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8360 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Dr. Martinsen wir uns mit Entschiedenheit analytisch, aber auch tätig mit dieser Sache auseinandersetzen.Wir müssen uns die Frage stellen: Was müssen wir tun? Was haben wir über die Analyse hinaus zu tun? Ich glaube, dabei ist es interessant, daß bei den Studenten folgendes zu beobachten ist. Es gibt da nicht nur eine Theorie, die Theorie ist vielmehr so mit der Praxis verbunden, daß sie einen geschlossenen Handlungsentwurf darstellt. Daraus ist für uns — denken Sie an das vergangene Jahr — die Schwierigkeit erwachsen, daß die Diskussion, wie wir sie gewohnt waren, nicht eigentlich verfängt. Es ist so: Handlungen kann man nur mit Handlungen beantworten. Einem Handlungsentwurf kann man nur einen Handlungsentwurf gegenüberstellen. Weil das so ist, müssen wir zu ganz bestimmten Handlungen kommen. Wir müssen uns fragen: Was ist politisch richtig? Wenn es stimmt, daß die große Masse der Studenten evolutionär denkt und reformwillig ist, ist das Mittel, sie an sich zu binden oder sie vor der Solidarisierung mit der extremistischen Gruppe zu bewahren, die Entschiedenheit des Reformwillens. Je entschiedener der Wille zur Reform ist, desto größer ist die Chance, die Studentenschaft wieder an sich heranzubringen.Ich möchte nun der Kürze der Zeit halber nur einige wichtige Gesichtspunkte nennen, die wir brauchen. Wir von der CDU bejahen mit Entschiedenheit die Meinung, die von dem Herrn Bundeskanzler und von den Fraktionsvorsitzenden vorgetragen worden ist, daß die mangelnde Zuständigkeit des Bundes für Fragen von Wissenschaft und Kulturpolitik uns nicht von der Verantwortung für das Bildungswesen und für die Reform des Hochschulwesens in Deutschland entbindet. Wir sind der Meinung, daß das zum Pflichtenkreis der Bundesregierung ab heute gehören muß.
Wir können uns vorstellen, daß genauso wie beim Stabilitätsgesetz, wo über den Konjunkturrat eine Verständigung der Zeichnungsberechtigten herbeigeführt worden ist, jetzt auch in der Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland etwas Gleiches erfolgt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Hat es eine tiefere Bedeutung, daß Sie eben gesagt haben „wir von der CDU" und nicht „wir von der CDU/CSU-Fraktion"?
Das hat gar keine Bedeutung. Es ist ein Lapsus linguae. Weiter gar nichts.
— Herr Moersch neigt zum Tiefsinn.
Wir begrüßen gleichzeitig, daß der Herr Bundeskanzler die Fragen von Wissenschaft und Bildung zu den vorrangigen Aufgaben der deutschen Innenpolitik rechnet und uns angekündigt hat, daß daraus Konsequenzen gezogen werden.
Drittens. Wir appellieren an den Wissenschaftsrat und an den Bildungsrat, der vor dem Wissenschaftsausschuß zugesagt hat, im Verlauf von zwei Jahren einen Gesamtplan für dieses Gebiet zu erstellen, das auch wirklich zu tun. Was er zugesagt hat, ist das, was in dem Bericht zur Lage der Nation angeklungen ist, nämlich ein nationaler Bildungsplan. Wir werden darauf bestehen, daß uns der Zusammenhang von Wissenschaftspolitik und Bildungspolitik in einem Gesamtplan vor Augen gebracht wird.
Ich möchte in meiner Rede stichwortartig fortfahren. Bezüglich des Vorantreibens der Hochschulreform möchte ich für meine Freunde sagen: Es wäre verhängnisvoll, wenn die Reform der Universität bloß als Rationalisierungsprozeß verstanden würde. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß die übertriebene Tendenz zur Verschulung die Unruhe verschärft, weil sie über die Examensangst sehr oft in die Existenzangst hineintreibt. Das ist ein geläufiges Motiv der Unruhe. Man muß darauf achten. Ich glaube, daß es in der heutigen Lage wichtig ist, dafür zu sorgen, daß die Verwaltung der Universitäten durchsichtig gemacht wird. Es ist ein weit verbreitetes Gefühl bei den Studenten, daß Entscheidungen über ihren Kopf hinweg gefällt werden und daß sie in der Gefahr der Manipulation stehen.
Es darf überhaupt nicht das Gefühl aufkommen, daß der Druck, der heute in dieser Sache auf uns lastet, auf die Studenten abgewälzt wird.
Weiter: die Organisationsform der Universität muß ihren gesellschaftlichen Funktionen entsprechen. Die Universität hat ihre Hörer auch politisch zu bilden und sie zur Mitwirkung am aktiven politischen Leben anzuregen.
Nun möchte ich etwas sagen, was sehr aktuell ist. Es ist ein Mißverständnis, wenn auf Grund dieser Tatsache, die ich soeben erwähnt habe und bejahe, von einigen Studentenverbänden die Idee einer politischen Universität propagiert wird. Die Universität ist nicht politisch in dem Sinne, daß sie als Ganzes oder etwa nur in einem Glied eine Einrichtung der politischen Willensbildung zu sein hat. Das würde die Universität in eine Sonderstellung drängen und damit gerade nicht der Integration in unserer Gesellschaft dienen.
Die Verfügbarkeit wissenschaftlicher Informationen und die Beherrschung wissenschaftlicher Hilfsmittel gibt auch nicht der Selbstverwaltungskörper-
Deutschei Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8361
Dr. Martin
schaft der Wissenschaftler, sondern nur dem einzelnen Wissenschaftler ein besonderes politisches Gewicht, der in dem jeweils angesprochenen Fragenkomplex wissenschaftlich arbeitet.
Die wichtigste Frage, die gegenwärtig vor uns steht, ist die Beteiligung der Studenten an der Selbstverwaltung der Universität. Keine Partei kann hier die Universität im Stich lassen; jede Partei muß — etwa zu der Frage der Drittelparität — klar Stellung nehmen. Dazu folgendes! Die Universität nimmt ihre Aufgaben als Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden wahr. Alle Mitglieder sind daher an der Selbstverwaltung zu beteiligen. Aber die Mitglieder der Universität sind qualitativ und quantitativ verschieden an der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben beteiligt.
Das verbietet die uneingeschränkte Übertragung der Forderung nach einer Demokratisierung aller Bereiche unserer Gesellschaft auf die Universität. Unsere Universitäten dürfen sicherlich nicht Staat im Staate sein. Die demokratische Gesellschaft verlangt mit Recht, daß auch innerhalb der Universität jenes mitmenschliche Verhältnis besteht, das der Demokratie angemessen ist. Die verschiedene Verantwortung aber verlangt eine differenzierte Mitwirkung in den Organen der Selbstverwaltung. Schematische Lösungen führen zu Unzulänglichkeiten. Es gibt Bereiche, in denen den Studenten ein erheblicher Einfluß eingeräumt werden muß. In anderen würden sie auf Grund fehlender Kenntnises kaum verantwortlich mitwirken können. Diese Unterscheidung wird man insbesondere zwischen den Mitwirkungsmöglichkeiten in den Organisationsformen der Lehre und der Forschung machen müssen. Auf Grund der Stellung der Universität als einer Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden muß eine Organisation der Selbstverwaltung auf der Basis von Interessengruppen vermieden werden. Die gemeinsame Aufgabe der Universitätsmitglieder macht eine Bildung von Teilkörperschaften mit eigenen Aufgaben auf der Grundlage einer Gruppenzugehörigkeit sinnwidrig.
Meine Damen und Herren, es gibt heute eine große Gefahr, nämlich die, daß die Reform der Universitäten — lassen Sie es mich grob sagen — unter dem Druck von draußen in eine falsche Richtung gerät.
Bei aller Anerkennung, bei aller Bereitwilligkeit zum Gespräch darf die Reform der Universitäten nicht unter Druck verlaufen. Ich möchte das mit aller Deutlichkeit sagen.
Ich mache noch zwei Bemerkungen zu dem, was wir selber vom Bund her tun können, ehe die große Tafelrunde der Wissenschaft und der Bildungspolitik in Aktion tritt. Es gibt schon heute die Möglichkeit, daß der Bund seine Laufbahnrichtlinien für den höheren Dienst ändert und damit ein Beispiel setzt. Das kann so aussehen, daß bei Bundespost, Bundesbahn, Bundeswehr — und bei der Bundesverwaltung überhaupt — nicht ausschließlich die Ausbildung an Universitäten für den Eintritt in den höheren Dienst
Voraussetzung bleibt, sondern auch eine qualifizierte Ausbildung an anderen Einrichtungen zu dem gleichen Ziel führen kann. Wir stellen damit den Zusammenhang zwischen der Hochschulreform und der Schulreform insofern wieder her, als wir meinen, daß mit diesen Maßnahmen die ständig steigenden Abiturientenzahlen durch eine Fächerung aufgefangen werden können. Eine Akademiereife, die wir hier schon einmal diskutiert haben, die die Studienberechtigung für Akademien böte, Akademien, die ihrerseits zu einem jetzt nur mit dem Abitur zu erreichenden Berufsziel führen, hätte den Vorteil, daß die Oberstufe des Gymnasiums wieder funktionsfähig würde im Hinblick auf die Vorbereitung auf die Universität: Sie würde manchen Menschen in diesem Lande eher und besser zu seinem Lebensglück führen als heute, wo 25% der Studenten auf den Universitäten scheitern.
Es ist auch an der Zeit, bundeseinheitliche Grundsätze für die Prüfungs- und Studienordnung für alle Examina einzuführen, die zu einer Berufsausübung berechtigen. Dabei muß das Prinzip gelten, daß das, was geprüft wird, auch wirklich gelehrt worden ist.
Meine Damen und Herren, ich habe mich bei meinen Auslassungen nur zu dem geäußert, was gegenwärtig aktuell ist. Wenn es keine Phrase ist, daß wir die Studienreform vorantreiben wollen, müssen wir auch zu jeder Stunde bereit sein, politisch verantwortlich dazu Stellung zu nehmen, und dürfen uns etwa in der gegenwärtigen schwierigen Situation, wo die Universitäten in schwerer Bedrängnis sind, nicht davor drücken, die sachlichen Voraussetzungen zu diskutieren, die notwendig sind. Es gibt zwei Dinge: das sachliche Gespräch mit den Studenten mit allen Mitteln zu suchen und in dieser Diskussion die Sachlichkeit nicht zu verlieren. Die deutsche Universität ist etwas, was in Gehalt und Wirksamkeit für die Zukunft unseres Landes entscheidend ist. Deshalb sind die Diskussionen, die darüber zu führen sind, mit der höchsten Verantwortung zu führen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gscheidle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen der beiden letzten Redner haben mich veranlaßt, hier ganz außerplanmäßig um das Wort zu bitten. Im Verlaufe dieser Debatte wurde schon einige Male versucht, ein paar der hier verwandten Begriffe zu relativieren, um zu zeigen, welche Bedeutung die Jugend in der gesamten Unruhe eigentlich hat, die ja nicht nur eine Unruhe der Jugend ist, und wieweit die studentische Jugend innerhalb der gesamten Jugend politisch relevant ist.Es ist eigentlich immer gut, wenn ein Redner am Beginn sagen kann, für wen er hier spricht. Wenn er für eine ganze Generation spricht, dann macht sich das schon gut. Es stellt sich für den Zuhörer aber immer .die Frage: Wo ist eigentlich die Legitimation
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8362 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Gscheidleeines Redners, der sagt, er spreche für die Kriegsbeschädigten oder für eine Generation? Ich würde es ganz gern tun, aber bei der Vorsicht, 'die man nach einigen Jahren politischer Tätigkeit zwangsläufig gewinnt, ist man natürlich zurückhaltend geworden. Ich spreche hier also zunächst einmal nur meine Gedanken aus.
Zum Begriff der studentischen Jugend und .der Auseinandersetzung an den Hochschulen um die Hochschulreform bitte ich hier anmerken zu dürfen, daß die Hochschulreform, 'soweit ich das begreife, für die studentische Jugend nur ein Teil ides von ihr gewünschten Demokratisierungsprozesses ist. Ich wäre natürlich froh, wenn jedermann, der sich an diesem Thema versucht— dazu wurden ja bislang ganz dankbare Ergebnisse aus einer Analyse vorgetragen —, sich auch an der Aufgabe versuchte: Was kann man denn aus dem, was man analysiert hat, als Empfehlung mitgeben?Ausgehend von ,diesem Demokratisierungsprozeß ist doch wichtig, daß die Politiker insgesamt den Versuch unternehmen, alles zu 'unterstützen, was eine integrierende Funktion in der Gesellschaft hat. Ich bezweifele sehr, daß das Hauptproblem, wie hier vorgetragen, ein Problem zwischen den Generationen und ein ganz großer Denkunterschied ist. Ein Teilproblem liegt natürlich darin; jeder unterschiedliche Erfahrungshintergrund bedingt im politischen Bereich eine ganz unterschiedliche Reaktion. Aberwenn Herr Dr. Friderichs einmal mit der Jugend diskutiert — das tut er ganz sicherlich —, dann wird er merken, daß es da auch einen anderen Bezugspunkt gibt, nämlich zwischen dem, der etabliert ist, und dem, der nicht etabliert ist. Da nützt einem überraschenderweise gar 'nichts mehr der Bezugspunkt durch seinen Geburtsjahrgang. In dem Augenblick, wo man mit den jungen Leuten diskutiert und auf „Establishment" zu sprechen kommt, wie hier laufend gesagt wird, zeigt sich auch eine vorhandene Spannung. Dann geht es eben 'um Autorität, um Begreifen und viele Dinge, die Herr Dr. Friderichs richtig dargestellt hat.
— Richtig, richtig! Aber ich würde sagen: Darauf müßte eine Antwort gegeben werden, und man müßte nachdenken, .was eine solche integrierende Funktion bedeutet.Einleitend habe ich den Gedanken klarzumachen versucht, welchen Anteil die Jugend an den Gesamtunruhen und welchen Anteil die studentische Jugend daran hat. Man muß doch sehen, daß bei diesem Demokratisierungsprozeß beispielsweise für den enormen Bereich des Arbeitslebens die Frage besteht: Wie gestalten wir die Betriebsverfassung? Dazu gibt es Vorschläge. Ich will nicht sagen, daß die Vorschläge, die dazu bislang die Gewerkschaften gemacht haben, von den Politikern ohne weiteres zu übernehmen und zu beschließen sind. Aber es ist, wenn man das politisch .sieht, eine gewaltige Sache, daß die organisierte Arbeiternehmerschaft über ihreVertretungen anbietet, in diese integrierende Funktion zu treten.Ich staune an und für sich über den Mut, wenn hier ausgerechnet jemand von der FDP eine solche Rede hält wie Herr Dr. Friderichs, ohne dabei wenigstens zu spüren, daß bei diesem notwendigen Demokratisierungsprozeß hier ein Angebot vorliegt, das von der einen Seite des Hauses sehr ablehnend und von anderen Teilen des Hauses doch mit einer sehr verzögernden Art behandelt wird.Was diese Art der Verzögerung von Gesetzgebungsvorhaben angeht, hat mir das sehr gefallen, was Herr Barzel gesagt hat. Er hat gesagt: Das ist ja nicht so, gestern ist eine Idee, heute sind Mehrheiten, und morgen ist das Gesetz hier fertig — dazwischen liegt der graue Alltag! Das muß man natürlich klarmachen, warum dieser graue Alltag sein muß, und das muß man versuchen, nachprüfbar zu machen, kontrollierbar zu machen. Aber sehen Sie, da kann man nicht mehr verlangen an Geduld als das, was man durch überzeugende Aussage über die Schwierigkeit begründen kann.
Wir haben eine ganze Reihe von Dingen, wo Ideen da sind. Ich will sie jetzt gar nicht aufzählen, sie sind hier bekannt. Etwa die Idee von der Volksgesundheit: jedermann ist klar, daß Luft und Wasser verschmutzt und daß Konservierungen gefährlich sind und daß wir da etwas tun müssen. Darüber reden wir nun schon sechs Jahre. Jemandem klarzumachen, warum da sechs Jahre nichts geschehen ist — das ist gar kein Vorwurf gegen die Große Koalition, ich nehme so ganz alte Restbestände, die da vorhanden sind —, ist schwer.Da gibt es Herrn Luban, der uns allen schreibt. Der Mann tut mir leid. Ich verstehe von der Sache wahrscheinlich nicht so viel wie der Herr Luban. Aber wenn ich hier im ganzen Haus Fachleute frage, ob denn nun der Mann recht hat oder nicht — es ist ja immerhin eine Leistung, daß eine Privatperson soviel an Initiative entwickelt —, so sagen mir die Fachleute: Im Grunde genommen hat er recht. Dann ist die Frage: Warum tun wir denn da nichts? Da kommen Erklärungen, die selbst ich als Politiker nicht begreife.Ich will es bei den Beispielen bewenden lassen. Zur Großen Koalition hingewandt, darf ich sagen: Die Große Koalition hat in sich einige Gefahren. Aber der Gefahr ist sie doch bislang begegnet, daß sie den Dingen, um derentwillen sie sich gebildet hat, ausgewichen wäre. Und wo in diesem Land hatte nach 1945 eine Große Koalition solche Schuldenberge abzutragen, Umschichtungen und einschneidende Maßnahmen — —
— Das glaube ich aber doch nicht, daß das nachweisbar ist. Sie wollen also sagen, Sie sind ausgestiegen, bevor die Schulden da waren, und wir haben
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8363
Gscheidledann die Schulden gemacht? Oder wie soll ich das verstehen?
Es war doch so, daß Sie ausgestiegen sind, als dievon Ihnen mitzuverantwortenden Schulden sozusagen mit Ihrer Kraft nicht mehr abtragbar waren.
— Das wäre aber interessant, wenn Sie einmal näher erläuterten, was Sie mit diesem Zwischenruf gemeint haben.
Eine letzte Bemerkung, weil ich mich verpflichtet hatte, sehr kurz zu sprechen: Ich halte es für ganz legitim, daß die Studenten mit der Forderung auftreten, daß der Wissenschaftler eine Verantwortung für die Verwendung der Ergebnisse seiner Forschung hat, daß er also tagsüber nicht Napalm entwickeln kann und sich abends der erlernten Humanität hingibt. Das halte ich für eine ganz gute Sache. Daraus ergibt sich aber für den akademisch Vorgebildeten, nämlich auch für den, der noch im Studium steht, ein Anlaß, sich einmal zu überlegen, was sich denn aus der praktizierten Nutzanwendung seiner soziologischen Kenntnisse, Unruhe zu stiften, eventuell auch ergeben könnte. Dies ist an und für sich der Rückschluß aus der Forderung, die er an seine Lehrer stellt.
Ich würde gern noch einige Gedanken anfügen. Mir ging es darum, insbesondere nach dieser Seite des Hauses zu sagen: Es gibt da schon Lösungsmöglichkeiten für den beklagten Zustand und für den notwendigen Demokratisierungsprozeß — für einen sehr viel größeren Bereich als den der studentischen Jugend—, und wenn Sie da mithelfen wollten, wäre das eine feine Nutzanwendung Ihrer an und für sich richtigen Erkenntnisse.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mit den Schlußbemerkungen des Herrn Gscheidle beginnen. Ich freue mich, daß er unsere richtige Analyse der demokratischen Probleme bestätigt hat. Auch ich spreche hier nur für mich, aber ich spreche aus einer Erfahrung als Arbeitnehmer und in Unternehmerfunktion, und zwar in allen Stufen, die es gibt, vom Lehrling angefangen, in den letzten 20 Jahren. Ich möchte Ihnen antworten, Herr Gscheidle: Weil wir wissen, welche Unterschiede etwa zwischen den Problemen der Universität und denen des Arbeitslebens bestehen, machen wir es uns damit nicht ganz leicht. Deswegen kommen wir z. B bei richtiger Erkenntnis des Problems zu anderen Schlüssen, als Sie — als Organisation DGB — beispielsweise jetzt gekommen sind; was nicht ausschließt, daß beide am Ende Unrecht haben könnten. Aber ich will nur betonen, daß für uns die Frage der Öffentlichkeit, des Vertrauens in die Unternehmensführung eine Frage der Information ist und daß die Frage der Kontrolle in der Tat für mich die vorrangige Frage ist in einem Demokratieverständnis, das unter Umständen anders aussieht als Ihr praktiziertes Demokratieverständnis auf diesem Gebiet, weil Sie nämlich unter Umständen, wenn Sie sich zum Establishment — um Ihr Wort aufzugreifen — bekennen, sich praktisch gleichzeitig jener Kontrollfunktion begeben, die Sie eigentlich zum Nutzen der Abhängigen haben müßten.
Das ist auch das Problem an der Universität, ich will es nicht bestreiten. Herr Dr. Martin hat die Drittelparität in der allgemeinen Form abgelehnt. Ich bekenne mich zu dieser Drittelparität; ich halte sie unter allen Vorschlägen im Augenblick für den besten. Aber noch lieber wäre mir, Herr Raffert, wenn ich die studentische Jugend davon überzeugen könnte, daß sie vielleicht mehr für ihre Sache gewinnt, wenn sie sich als Opposition zum Senat bekennt und nicht hineingeht, um dort Verantwortung mit zu übernehmen, wo sie dann von ihren eigenen Freunden verdächtigt wird, sie beteilige sich am Prozeß der Machtausübung, was z. B. in Konstanz ja bereits geschieht. Dort besteht jetzt, wie mir gesagt wurde, die Gefahr, daß Studentenvertreter bei Berufungsverfahren noch größere Taktiker seien als die eingesessenen Professoren. So ändern sich dann die Verhältnisse und das Bewußtsein, wenn man die Lage des einzelnen verändert hat.
Das muß man also offen diskutieren. Nur der Vorwand, zu sagen: „Wir wollen diese Drittelparität nicht, wir müssen irgend etwas anderes finden", das allein reicht nicht. Dann muß man eben zu überzeugen versuchen, daß klare Kontrolle in diesem Falle das bessere ist. Ganz bestimmt auch ein Problem der Betriebsverfassung.
Ich hatte nicht ums Wort gebeten, um dieses Thema hier auszuspinnen, wenngleich es sich in diesem Zusammenhang sicherlich anbietet. Ich will nur sagen, daß man aus der richtigen Erkenntnis, daß Demokratie praktiziert werden müsse, an der Hochschule, im Arbeitsleben, überall, in der Schule beispielsweise — davon ist noch gar nicht gesprochen worden —, unter Umständen ganz andere Schlüsse und differenzierte Schlüsse ziehen kann und muß und daß man vor allem bereit sein muß, Herr Gscheidle, nicht das, was einmal bei uns Gesetz geworden ist, für sakrosankt zu halten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Ich gehe zunächst einmal von Ihrer Argumentation aus, Herr Moersch, und stelle Ihnen die Frage, ob Sie dann nicht dennoch die Schwierigkeit haben, zu erläutern, warum Sie von der Erkenntnis der Notwendigkeit bis zur Vorlage einer Lösung so lange brauchen.
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8364 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Herr Gscheidle, zugegeben: weil wir uns in der Vergangenheit vielleicht nicht intensiv genug mit diesen Fragen beschäftigt haben. Das ist sicherlich ein Vorwurf, den auch wir Freien Demokraten uns zu machen haben. Aber die Frage ist doch, ob man die Unabhängigkeit der Abhängigen besser erreicht, wenn man Ihren Vorschlägen folgt, ober aber dann, wenn wir uns gründlich umsehen, ob es nicht auf bessere Weise ginge, ob wir nicht durch eine Verwischung der Verantwortlichkeit im Grunde am Ende unverantwortlich handeln. Ich glaube, auch dafür gibt es Beispiele; ich brauche sie Ihnen nicht im einzelnen zu nennen.
Aber ich möchte auch auf die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers ein paar Worte verwenden und auf das, was Dr. Martin gesagt hat, dem ich heute in vielem zustimme; nicht in den Sachpunkten, die er genannt hat, aber in der Analyse durchaus.
Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung kündigt an, daß Verhandlungen mit dem Ziel einer Beschleunigung der Reform unserer Hochschulen aufgenommen werden. Da hätte ich gern einmal das Reformziel selber klarer definiert gesehen, z. B. die Frage: „Demokratie der Hochschule und an der Hochschule". Das hätte die Bundesregierung sehr wohl sagen können; sie hätte keine Kompetenzen verletzt, wenn sie das hier gesagt hätte.
Das zweite aber, was mich so außerordentlich wundert, ist, daß Sie es als einen Erfolg auslegen, daß jetzt ein neues Abkommen über Hochschulneubauten und ähnliches beschlossen wurde, wo doch in diesem Hause wiederholt dargelegt wurde — und ich glaube nicht, daß eine Mehrheit anderer Meinung gewesen ist —, daß es ein äußerst problematischer Weg weg von der demokratischen Verantwortung ist, wenn wir auf dem Weg der Abkommen und der Verwaltungsvereinbarungen die parlamentarische Kontrolle über entscheidende hochschulpolitische Fragen künftig weder beim Land noch beim Bund haben, wenn wir hier eine neue Zone der Bürokratie schaffen, weil wir in verfassungspolitischer Verlegenheit sind. Diesen Weg wollen wir Freien Demokraten jedenfalls nicht gehen. Deswegen unsere Anträge, die klare parlamentarische Verantwortlichkeit schaffen sollen.
— Nein, darum handelt ,es sich nicht, Herr Matthöfier. Da haben Sie nicht richtig zugehört. Der Herr Bundeskanzler hat — und auch andere Herren haben es getan, z. B. Ihr Fraktionsvorsitzender —, soweit ich mich entsinne, es als einen Erfolg dargestellt, daß man jetzt wenigstens auf dieser BundLänder-Ebene weitergekommen ist, daß man den Bund an den Hochschulneugründungen beteiligt. Aber das ist doch ein Abkommen, das von allen elf Ländern gebilligt werden muß, von den Regierungen, nebenbei bemerkt, nicht unbedingt von den Parlamenten, das also nicht etwa der Kritik des Bundestages unterliegt, das keine parlamentarische Funktion haben kann, mit dem Sie eigentlich die
parlamentarische Verantwortung ausschalten. Hier beginnt das Problem.
— Durch die Finanzreform wird es noch schlimmer, Herr Schmitt-Vockenhausen. Wenn man nämlich den bisherigen Vorschlägen folgt, dann ist die Verantwortung bei dem Begriff „Gemeinschaftsaufgabe" noch unklarer. Nein, wir wollen, daß die Parlamente Verantwortung haben, 'und zwar klar abgegrenzte Verantwortung, damit der Wähler weiß, an wen er sich zu halten hat, wenn etwas beispielsweise nicht geschieht. Das ist unsere Vorstellung dazu.
Eine Zwischenfrage von Herrn Schmidt.
Herr Kollege Moersch, glauben Sie wirklich, die Entwürfe zur Finanzreform so verstehen zu sollen, daß die Gemeinschaftsaufgabe „Schaffung neuer Hochschulen" im Grundgesetz in Zukunft der parlamentarischen Beschlußfassung entzogen werden soll?
Teilweise ja. Das wird die Folge sein.
— Herr Schmidt, es ist doch gar nicht zu bestreiten: Wenn Sie nicht eine klare Bundeskompetenz schaffen oder eine Länderkompetenz, wie sie jetzt ist, lassen, wenn Sie also beide Kompetenzen .schaffen und etwa den Wissenschaftsrat in seiner Funktion noch ausbauen, dann haben Sie den gleichen Zustand wie vorher, daß am Ende niemand klar allein verantwortlich gemacht werden kann. Was wir mit unserer Verfassungsänderung wollen, ist, daß der Bund die konkurrierende Gesetzgebung bekommt, so daß, wenn etwa die Länder oder einzelne Länder der Meinung sind, sie müßten eine Bundesrahmenregelung haben, sie über den Bundesrat initiativ werden können oder, wenn nichts geschieht, daß der Bund — der Bundestag oder die Bundesregierung — initiativ werden kann, und zwar ohne daß dann die einzelnen Länder zustimmen müssen, sondern so, daß der Bundesrat mit Mehrheit zustimmen muß, daß also Mehrheitsentscheidungen möglich sind. Das ist dabei wichtig.
Noch eine Frage, Herr Schmidt, bitte!
Herr Kollege Moersch, sind Sie sich darüber klar, daß bei Ihrem durchaus plausiblen Plänkeln gegen Mischverwaltung oder Mischkompetenz oder Doppelkompetenz Sie im übrigen jetzt einen Ausweg gesucht haben gegenüber meinem Vorwurf, zu Unrecht behauptet zu haben, daß in der Finanzreform eine Ausschaltung der Parlamente beabsichtigt sei?
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8365
Wir haben von zwei verschiedenen Dingen gesprochen, Herr Schmidt. Ich bitte um Entschuldigung. Da mag das Mißverständnis herkommen. Ich habe von dem Lob gesprochen, das heute hier den Verwaltungsabkommen gesungen worden ist. Das halte ich für eine schlechte Hilfskonstruktion.
— Ich habe den Herr Bundeskanzler genannt.
— Dann ist das irrtümlich geschehen. Ich bitte um Entschuldigung.
Ich habe den Herrn Bundeskanzler genannt, der in seiner Replik heute nachmittag das ausdrücklich als eine besondere positive Leistung gewürdigt hat, was lediglich die Wiederaufnahme einer einmal getroffenen Vereinbarung war, die schon Jahre zurückliegt und die damals von Herrn Lenz noch in Gang gesetzt wurde, weil es nicht anders ging. Ich sehe darin keinen besonderen Erfolg, sondern einen gefährlichen Weg zur Ausschaltung von parlamentarischer Verantwortlichkeit, also das Gegenteil von demokratischer Verantwortung, die wir doch alle wollen.
Herr Schmidt, ich werde das im Protokoll nachlesen. Ich bitte um Entschuldigung. Das kann bei einer so langen Debatte schon einmal geschehen. Wenn Sie aber im Prinzip mit uns einig sind, freut es mich. Dann wird es vielleicht leichter werden, auch unsere Verfassungsvorstellungen durchzusetzen, die ja kein Muß, sondern ein Kann für den Bund sind. Das ist im Augenblick für uns das Wichtige.
Herr Bundeskanzler, mich wundert, daß Sie in der Erklärung diese Ankündigung der gegenseitigen Gutwilligkeit von sich geben, und zwar wenige Tage, nachdem in Stuttgart ein Landesgesetz verabschiedet, worden ist, von dem berechtigterweise befürchtet werden kann, daß es eine sinnvolle Reform des Hochschulwesens verhindert, sie jedenfalls nicht fördert. Wieso ist es Ihnen — ich frage Sie jetzt als Vorsitzenden der CDU — eigentlich nicht möglich gewesen — auch die SPD frage ich —, Ihre Parteifreunde in Stuttgart von diesem Vorhaben abzuhalten, bis eine gemeinschaftliche Vorstellung etwa der großen Parteien hier vorhanden gewesen wäre? Warum eigentlich ist die Bundesregierung hier nicht initiativ geworden, nicht auf dem Wege über die Verfassungsorgane, sondern beispielsweise, indem sie ihre guten Dienste allen Landesregierungen angeboten hätte, indem sie einen Grundentwurf für dieses Hochschulgesetz für alle Länder vorgelegt hätte, etwa auch für Berlin, wobei es dann immer noch in der Entscheidung der Landtage und der Landesregierungen gelegen hätte, ob sie so etwas annehmen wollen oder nicht. Aber wenn die Mitwirkung der Parteien unserer Demokratie, die im Grundgesetz ja mit geschrieben ist, einen Sinn haben soll, dann kann es doch nur der Sinn sein, daß in solchen Fragen von nationaler Bedeutung — und
die Hochschulreform ist eine Frage von nationaler
Bedeutung — die gesamtstaatliche Verantwortung
der Parteien auch auf diese Weise wirksam wird,
daß man sich um solche Lösungen bemüht.
Das vermisse ich. Die Erkenntnis, daß man miteinander reden muß, kommt eben nach dem Stuttgarter Gesetz und nachdem die Studenten in Stuttgart — mit vollem Recht — gegen die Methode, dieses Gesetz so zu verabschieden, wie es verabschiedet worden ist, protestiert haben, nämlich gegen maßgebliche Einwendungen, gegen Vorschläge zu einer Reform, die auch wir in diesem Hause hier zur Zeit in der Beratung haben, die etwa das Beamtenrecht betreffen. Das halte ich einfach für unmöglich. Das ist das Gegenteil von kooperativem Föderalismus, und es ist auch das Gegenteil von Führung in einer politischen Partei, wenn ich dais einmal in dieser Debatte sagen darf. Das trifft nicht nur den Bundeskanzler, das trifft auch den CDU-Vorsitzenden, und es stünde der SPD gut an, wenn sie auf ihrem Parteitag in Nürnberg sich dazu vielleicht einmal klar in Form einer Entscheidung äußern wollte, damit ihre Freunde in Stuttgart künftig nicht wieder in der Verlegenheit sind, verschiedenartig abstimmen zu müssen, wie es hier geschehen ist, weil einige ja doch Bedenken hatten, ob der Weg der Obrigkeit immer der gute und richtige Weg ist. Das ehrt die Leute, die sich hier der Stimme enthalten haben oder mit uns als Opposition gestimmt haben.
Das ist doch, was die 'Politik — und damit komme ich auf .das Thema, das eben von Herrn Gscheidle angeschnitten worden ist —, was unsere Politik so schwer verständlich .macht für Leute, die keinen hohen Grad politischer Bildung erreicht haben. Daß so etwas in einem Bundesstaat möglich ist, daß der Bundeskanzler zehn Tage nach der Verabschiedung eines stärkstens kritisierten Landesgesetzes der Öffentlichkeit verkündet, daß man jetzt über diese Gesetzgebung miteinander verhandeln und reden wolle, das wird Ihnen kein Jüngerer, der wirklich in ,die Taktiken der Parteipolitik in Deutschland uneingeweiht ist, jemals abnehmen können. Er wird es kaum verstehen können, und Sie werden es ihm sinnvoll auch kaum begreiflich machen können. Das sollten Sie künftig bei solchen Berichten einmal überlegen und vorher handeln, nicht erst dann, wenn die Zeitungen Sie alarmiert haben über die Unruhe, die an ,den Universitäten in Baden-Württemberg herrscht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich freue mich, daß Sie in der Zeit, in der Sie hier Bundeskanzler sind, auf dem Gebiete des Schulwesens offensichtlich erheblich an Erkenntnis dazugewonnen haben, denn Sie sagen uns hier in dem Bericht, daß Sie für ein modernes Bildungswesen eintreten. Wenn mich meine Erinnerung nicht ganz trügt, dann war es vor anderthalb Jahren oder vor eindreiviertel Jahren in Baden-Württemberg so, daß Sie als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg erklärt haben: Wenn dieser Landtag eine verfassungsändernde Mehrheit zustande bringt und die staatliche Konfessionsschule aus der Verfassung streicht, dann trete ich als Ministerpräsident dieses Landes
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8366 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Moerschzurück. Von dieser Ihrer Erklärung in Baden-Württemberg, deren Vollzug ja nicht mehr notwendig wurde, weil' Sie inzwischen Bundeskanzler in Bonn geworden sind, bis zu Ihrer Erklärung zur Lage der Nation ist ein ungeheuer weiter Weg. Ich hätte nur gerne gewußt, wie Sie es eigentlich hier dem deutschen Volk klarmachen wollen, daß Sie Ihre Auffassung auf diesem Gebiet so schnell haben wandeln können.
— Das freut mich, Her Geiger, daß Sie auf die Idee gekommen sind, daß Ihre leicht rosarote — oder ist es eine schockfarbene? — Darstellung, die Sie uns heute hier geben, immerhin offensichtlich so inspirierend auf den Bundeskanzler Ihrer Großen Koalition eingewirkt haben mag.Herr Bundeskanzler, Sie hätten einen aktuellen Anlaß gehabt, Ihrer Sorge für .ein modernes Hochschulwesen etwas mehr Nachdruck zu verleihen. Sie wissen, daß an ,dem Problem der Hochschule für Gestaltung! in Ulm mehr dran ist als die paar hunderttausend Mark, um ,die es hier geht. Hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es, was viele nicht wissen, um den Kampf verspießter Kleinbürger gegen eine Institution, die ihnen politisch suspekt ist, um es einmal ganz deutlich zu sagen. Und es geht darum, was auch in ,der Regierung zu wenige wissen, daß diese Institution der deutschen Industrie gerade im Export ungeheure Dienste geleistet hat. Ihre Regierung weist darauf hin, in Antworten auf KleineAnfragen, daß sie für 'diesen Fall gewissermaßen nicht zuständig und nicht berufen sei. In Wahrheit ist es so, daß es sich hier um eine Einrichtung handelt, die in der Welt allerdings besser bekannt ist als in manchen Bonner Amtsstuben und die in der Welt z. B. mehr geschätzt wird und uns auf gewissen Gebieten mehr Ansehen verschafft hat, als es hier offensichtlich bekannt ist. Wenn man schon vom modernen Bildungswesen spricht und wenn man schon die Modernität in dieser Erklärung beschwört, dann wäre es doch wohl nicht schwer gewesen zusagen: Wir halten das auch für eine Aufgabe von gesamtstaatlicher Verantwortung, uns energisch um diese Frage zu kümmern und nicht zusehen zu wollen, daß eine solche Einrichtung, über deren Werdegang man sicherlich verschiedener Meinung sein kann, nun kleinlichen Interessengegensätzen vielleicht zum Opfer fällt und uns damit eine Blamage von weltweiter Bedeutung einbringen wird; denn ich bin sicher, 'daß die dort Tätigen .im Ausland sehr schnell Stifter finden werden, die ihnen ,die eine oder anderthalb Millionen geben werden, die sie im Jahr zu ihrem Unterhalt brauchen.Das sind nur einige praktische Beispiele für den Anspruch, den Sie hier in der Erklärung erhoben haben, und die Praxis, die sich uns täglich etwa in den Meldungen der Zeitungen darbietet.Nun ein Weiteres, was uns in Ihrer Erklärung und in der Praxis dieser Politik aufgefallen ist. Wir hatten gestern in der Fragestunde Gelegenheit, einen Anschauungsunterricht über Demokratieverständnis dieser Bundesregierung zu bekommen, nämlich in der Frage nach der Intervention beim Frühschoppen des Herrn Höfer durch den Sprecher oder durch die Sprecher der Bundesregierung.
— Herr Raffert, entschuldigen Sie, vielleicht darf ich das nochmals sagen; es gibt Dinge, die man manchen Leuten zweimal sagen muß.
— Herr Schmitt-Vockenhausen, Sie werden mir erlauben, das nochmals deswegen deutlich zu machen, weil ich den Eindruck hatte, daß Sie allein — aus Ihren Zwischenrufen ist das erkenntlich — offensichtlich die Sache noch nicht ganz verstanden hatten. Es herrscht nämlich hier bei der Regierung eine andere Vorstellung von Gesellschaft und Staat, als in unserem liberalen Verständnis von Demokratie herrschen sollte. Für uns ist der Staat die Organisationsform der Gesellschaft. Für den Sprecher der Bundesregierung, wenn ich seine Antworten gestern recht nachgelesen habe, ist der Staat eine Sache an sich, gewissermaßen ein höheres Wesen. Deswegen leitet er ab, daß der Sprecher des Bundespresse- und Informationsamtes als Staatssekretär auch das Recht haben könne, gegen die Beschäftigung eines Journalisten in einer Fernsehsendung zu intervenieren, während wir Liberalen meinen, daß es dieses Recht überhaupt nicht gibt, weder für die Regierung noch für den Staat, sondern daß es nur das Recht gibt, Äußerungen zu kritisieren, die dort gemacht werden, und das, wenn es sein muß, in aller Schärfe.Ich glaube, an diesem anderen Verständnis von Demokratie — und unser Verständnis ist durch das Grundgesetz gedeckt, wenn ich das hier mal sagen darf —, an diesem anderen Verständnis vom Wesen des Staates scheitert mancher Dialog zwischen den Vertretern der Bundesregierung sowie vor allem der CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause und etwa der Studenten, die nicht Anhänger der parlamentarischen Gruppen, sondern durchaus demokratische Reformer sind. Sie finden eben nicht die gleiche Sprache,- die diese Studenten sprechen, die demokratiewillig sind und die Demokratie reformieren möchten, wenn sie eine andere Vorstellung vom Staat vertreten, als sie den Grundrechten und der Stellung der Grundrechte in unserem Grundgesetz entspricht.Deswegen, glaube ich, sind Sie in einer so großen Verlegenheit, meine Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie jetzt zu der Frage der Studentenunruhen in Deutschland Stellung nehmen müssen, nachdem in Prag und in Warschau solche Studentenunruhen stattfinden.
— Und in Madrid! Was gar nichts unterscheidet, Herr Matthöfer, ich gebe Ihnen gern recht. Ich gebe Ihnen das gern zu, wenn Sie das zur Erinnerung an die CDU sagen möchten; einverstanden.Das ist es doch, was das Gemeinsame hier ausmacht, daß wir dann in den Zeitungen lesen — das
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8367
Moerschist das Kuriosum daran —, in Warschau habe die Regierung die Arbeiter aufgerufen, und sie habe ihnen freigegeben, gegen die Studenten zu demonstrieren. Das wird allgemein als demokratische Ungeheuerlichkeit empfunden; ich hoffe wenigstens, daß es so ist. Ich habe mir leider sagen lassen, daß das kürzlich auch in Deutschland seitens einer Regierung passiert ist, daß auch sie sozusagen zur Demonstration veranlaßt hat und daß nicht die gesellschaftlich wirksamen Kräfte von sich aus das getan haben.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Moersch! Auf der Tribüne wurden Zeichen des Beifalls oder des Unmuts geäußert. Ich mache darauf aufmerksam, daß das nicht gestattet ist; keine Beifälls- und keine Mißfallenskundgebungen auf der Tribüne, sonst muß ich die Tribüne räumen lassen. — Bitte fahren Sie fort, Herr Moersch!
Ich will damit nur sagen, daß die sehr oberflächliche Art der Betrachtungsweise, die .etwa unseren unruhigen Studenten gegenüber angewandt wird, ihre ganz großen Gefahren hat, wenn sie mit dem Klischee nicht übereinstimmt, das auch in Zwischenrufen wiederholt aus Ihren Reihen hier in den letzten Wochen vorgetragen worden ist, z. B. bei der Jugenddebatte. Wenn hier der „harte Landgraf" beschworen worden ist, wenn nach der Staatsautorität, nach der Ordnungsmacht und anderem mehr gerufen wird und wenn darauf von Kollegen dazwischengefunkt worden ist mit der Behauptung, das seien ja alles kommunistisch gelenkte Intrigen, die diese Studentenunruhen hervorgerufen hätten, dann müssen sich die Kollegen doch heute an die Brust schlagen und fragen, wo eigentlich die kommunistische Lenkung in Prag und in Warschau geblieben ist. Dort ist es nämlich die Gegenlenkung, die Lenkung der Art, die uns Herr Dr. Jaeger hier im Grunde empfohlen hat. Über diese Gemeinsamkeit, meine Damen und Herren von der CDU, bitte ich Sie noch einmal ernsthaft nachzudenken, damit wir uns künftig etwas sachlicher über die Frage der unruhigen Jugend unterhalten können, als es kürzlich in der aktuellen Stunde von Ihrer Seite durch einige Sprecher — das möchte ich ausdrücklich sagen — geschehen ist. Sie blamieren sich leider und Sie werden sich blamieren durch das, was außerhalb unserer Grenzen geschieht. Wir haben Anlaß darüber nachzudenken, ob es nicht daher kommt, daß Ihre Vorstellung von Staat und Demokratie leider eine andere ist als die, die die Liberalen davon haben müssen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es tut mir herzlich leid, daß ich meinem HerrnVorredner eine Enttäuschung bereiten muß; denn mit mir geht ja auch kein Dialog.
— Sie waren — Herr Genscher — noch nicht wieder drin — womit ich nicht sagen will, daß Sie nicht da waren —, als mein Herr Vorredner, Ihr Fraktionskollege, in württembergischen Dingenschwelgte, die ein anderer, der nicht zu dieser Elite der deutschen Stämme gehört, nur mit Schmunzeln mitanhören kann.
Insofern muß ich ihm und eben auch Ihnen eine Enttäuschung bereiten. Ich habe mich nicht gemeldet, um der Diskussion irgendeine Wendung zu geben. Aber ich war nicht so sicher, ob sie sich nicht schon in Sphären erheben wird, in die ich nicht zu folgen vermag.Ich habe jedenfalls noch ,einiges nachzuholen 'und muß auf ein paar Punkte — es sind nicht gerade Sommerprossen — zurückkommen, die in der Debatte besprochen worden sind, und da ich kein freier Mann hin —
— Nein, werden Sie erst einmal Minister, dann werden Sie genau wissen, daß das eine sachliche Feststellung ist, weder übertrieben noch untertrieben.
— Er muß es doch nicht hier werden; er kann es doch in ,einem Lande werden. Da gibt es doch viele Möglichkeiten, in Baden-Württemberg oder wo immer noch.
— Da müssen Sie sich mit ihm streiten, ich nicht; wir sind da großzügig.Ich meine nur, hier sollten vielleicht noch ein paar Sachen hochgezogen werden, womit ich nicht in dieser .angeregten Diskussion, .die soeben über Hochschulfragen — und was dazu gehört — begonnen hat, sprechen will. Ich verspreche auch, ihr weiter zu folgen, wie lange sie auch noch dauern wird. Nein, mir geht es um eine andere Sache, und in diesem Punkt möchte ich doch mit einer Bemerkung an das anschließen, was :mein Herr Vorredner gesagt hat: unruhige Demonstrationen hier und dort. Ich glaube, wenn wir einige Jahre mehr Erfahrung mit diesen Sachen haben werden
— ich meine Sie dennoch —, dann werden wir wahrscheinlich in der Beurteilung irgendwelcher Generalnenner — Demonstration hier und dort -und in der Umkehrung von Generalnennern sehr zurückhaltend sein. In Wirklichkeit ist es so: die Menschen, gleichgültig ob sie nun den bevorzugten Generationen, den Generationen, die en vogue sind, angehören — ich gehöre nicht mehr dazu — oder ob sie zu den absteigenden Generationen gehören, müssen ,sich alle in ihren gesellschaftlichen Ord-
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8368 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Bundesminister Wehnernungen und ihren staatlichen Verfassungen um etwas mehr Bewegungsmöglichkeiten bemühen.Wir können von hier aus leider — und da komme ich zu dem, was ich sagen wollte — denen drüben im anderen Teil Deutschlands nicht unmittelbar helfen. Wir können ihnen ein wenig durch unsere Anteilnahme — ich meine, durch unser Interesse, nicht Anteilnahme in einem quasi moralischen Sinne --, durch unser Interesse an den Entwicklungen helfen. Aber ich finde, es wird auch drüben gut verstanden werden, daß wir bei unserer ersten Debatte über die Lage der Nation das Glück hatten, .daß sich Herr Ulbricht zu Wort gemeldet hat. Das wird vielen drüben manches an Versöhnendem gegenüber manchem, was .sie sonst Schlechtes über uns denken, einflößen, weil sie sagen: wenigstens das haben sie ihm entlockt.In dem Zusammenhang wollte ich gerne dem Herrn Kollegen Dr. Becher etwas sagen, der in einer Auseinandersetzung, die ich wohl verstehe, sagte, manche verhielten sich hier so, als ob es drüben eine Bereitschaft gäbe oder ein System, mit dem wir kooperieren könnten. Ich wollte nur sagen: nicht das ist das Kriterium. Ebensowenig wie es das Kriterium ist, daß sie dort aggressiv sind, wie die Karlsbader Beschlüsse. — Herr Dr. Barzel hat heute früh ganz richtig auf sie hingewiesen. Und dann die rasche Art, in der sie dort glaubten, alles vom Tisch, an den Ulbricht gar nicht gehen will, pusten zu können. Keine Angst, auch das ist nicht das Kriterium, daß sie aggressiv sind. Ich willda gar keine Analyse betreiben. Das wirkliche Kriterium für unser innerdeutsches Verhältnis — im Verhältnis zu anderen etwas weiter weg muß ich noch einiges hinzusetzen, das ist jetzt nicht meine Sache, dazu bin ich nicht frei genug, das jetzt zu sagen — ist: die drüben für die Politik Verantwortlichen können der Nation, der sie selbst angehören und die sie nicht leugnen können und auch oft nicht leugnen wollen, nicht geben, was die Nation braucht und was die Nation ist. Das ist ihre besondere Lage. Und nun vertrösten sie die, die ihrer politischen Gewalt ausgesetzt sind, sie würden das nachholen, sie, die die Verantwortung haben. Wann nachholen, der Nation zu geben, was der Nation gehört und ihr gebührt? Wenn sie diese Nation mit ihrer eigenen politischen Ideologie durchtränkt oder von ihr Besitz ergriffen haben, dann käme die Nation zu ihrem Recht. Das ist ein hochinteressanter Vorgang, denn da gibt es also etwas, mit dem auch dort zu rechnen ist, und da rate ich allen zu einer gewissen Bescheidenheit gegenüber manchen früher gefällten Urteilen und auch gegenüber manchen Vorurteilen. Nicht, indem ich sage: Warten wir mal alles ab! Nein! Das Kriterium ist, daß wir und erst recht die, die drüben leben müssen, es dort mit für die Politik Verantwortlichen zu tun haben, die, weil sie bestimmte Sachen nicht können, in anderen so tun, als könnten sie viel mehr als alle anderen zusammen. Und das ist noch nicht das Schlechteste, was man im Laufe der nächsten und der übernächsten Zeit noch wird feststellen können.Das zweite, was ich gerne zu dieser unserer ersten Diskussion sagen wollte: Wir hatten auch insofernGlück, als wir eine Diskussion erleben, die, gleichgültig von welchem Punkt aus der einzelne in sie eingreift, die ganze Nation zu fassen sucht und nicht den einen oder anderen Sektor. Das haben wir selten. Ich bitte um Entschuldigung, ich bin kein Zensor: aber das ist eigentlich für den Anfang nicht schlecht — für den Anfang. Wir haben ja auch noch Zeit, uns weiter und intensiver mit diesen Sachen zu befassen.Erlauben Sie mir zu sagen, was unser Problem ist. Nicht als ob ich den Generalnenner wüßte, aber in meiner Art, mich auszudrücken, ist das Problem unserer Politik — und das ist auch das Problem dieses Berichtes über die Lage der Nation und alles dessen, was wir in diesem Zusammenhang und unter diesem Dach zu besprechen haben —, die demokratische Lösung der nationalen Frage des deutschen Volkes möglich zu machen, soweit unser Beitrag das möglich machen kann.Herr Barzel hat heute morgen in einem anderen Zusammenhang gesagt, daß wir eben auch deutlich sehen — und jeder würde es deutlich sehen —, daß die Lösung der deutschen Frage unsere eigenen Kräfte übersteigt. So ungefähr habe ich Sie wohl richtig verstanden. Und er hat gesagt, daß es sich um ein weltpolitisches Problem handelt. Sicher, aber ohne uns — darin sind wir uns wahrscheinlich einig, aber auch sonst müßte ich es sagen — würde sich überhaupt nichts bewegen, vielleicht sogar gerade deshalb, weil es ein weltpolitisches Problem ist. Manche werden sagen: es ist eins, und deswegen können manche anderen Probleme, wenn dieses Problem nicht endlich gelöst wird, auch nicht gelöst werden. Andere werden sagen: benützen wir das als Alibi dafür, daß wir in anderen Fragen machen, was uns leichter fällt oder was wir besser können. Das hat auch hier zwei Seiten.Ich darf auf das Problem zurückkommen. Das Problem unserer Politik ist — ich halte dafür, so zu sagen —, die demokratische Lösung der nationalen Frage unseres deutschen Volkes möglich zu machen. Und wenn gefragt worden ist, ja, wenn gesagt worden ist — sowohl gefragt als auch gesagt —, wir müßten doch unserem Volk etwas Ermutigendes sagen: Im Grunde wäre es etwas Ermutigendes, wenn unser Volk Leute am Werke sähe, die diesem Problem von allen Seiten immer wieder und unverdrossen beizukommen versuchen. Denn da kriegen wir ja auch das, was so oft von manchen — ich verstehe nicht, wieso — vermißt wird, etwas, was zu unserem Nationenbegriff auch noch den Staatsbegriff hinzufügt: die Bundesrepublik als ein Gemeinschaftswerk der Deutschen aus ganz verschiedenen Landschaften unseres gespaltenen und geteilten Deutschland, ein Gemeinschaftswerk, an dem Nord-und Süddeutsche, West-, Mittel-, Ostdeutsche, Deutsche aus Siedlungsgebieten, die außerhalb der alten Reichsgrenzen lagen, mitgewirkt haben. Die haben das zusammen gemacht, aus Trümmern und Dreck eine Stätte gemacht, in der man leben kann, in der man bauen kann, von der aus man ringen kann um die demokratische Lösung der nationalen Frage des deutschen Volkes,
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8369
Bundesminister Wehnervon der man durch die Erfahrung weiß, daß sie lösbar ist. Natürlich nicht im Alleingang; das gehört, zu den Erfahrungen, die jeder auf seine Weise und mit seinen eigenen Kosten in diesen Jahrzehnten hat lernen müssen.Möglich ist für die deutsche Einheit so viel, als — und auch da haben wir eine Beitragschance — erreichbar ist in Europa. Da knüpfe ich an einige skeptische Bemerkungen von Herrn Schmidt von heute morgen an; die habe ich schon ein paarmal gehört und habe sie heute in einer sehr ernsten Form gehört. Möglich ist nur das, was in Europa dank der Kräfteverhältnisse und — hier ist unsere schmale Chance — der Sympathie, die wir uns für unsere Frage im Laufe einer langen Zeit erworben haben werden, gegeben wird. Anders gibt es da nichts. Das bedeutet nicht Verzicht auf Rechtsstandpunkte und auf Rechtsansprüche. Keineswegs! Nur, man muß wissen, daß es Zeiten gibt, in denen man auch für noch so wertvolle Dinge nichts bekommt. Man kann sie nur aufheben für die Zeit, in der sie einmal genau richtig zu verwenden sein werden.
— Ich gebe überhaupt nichts weg. Haben Sie doch keine Angst! Ich verpfände sie auch nicht. Ich gehe auch nicht aufs Leihhaus. Ich sage Ihnen nur: Kaufen kann man sich und auch unserem Volk dafür nichts. Das ist das, was wahr ist, Herr Stingl, und deswegen ziehe ich es vor, das ganz nüchtern zu sagen.
— Wunderbar! Den Verdacht habe ich auch gehabt. Ich habe nur gedacht: ich will vorher noch einmal darauf drücken.
Man hat das ja so ungefähr im Gespür.Wir haben auch noch die Gunst, daß uns das nicht in den Schoß fällt, daß wir ringen dürfen um etwas. Für bestimmte Generationen soll das doch sehr attraktiv sein. Ich halte eis auch noch für ganz attraktiv.Heute morgen sind wir auf Karlsbad und auf dieses andere Konzept hingewiesen worden. Das ist ein hartes Konzept, eines, mit dem man sich befassen muß, aber nicht so, daß man ein Plakat gegen ein anderes setzt, wie es ja so oft gemacht wird — nein, indem man so lange immer wieder ansetzt, immer wieder bohrt, immer wieder antritt, bis deutlich wird: Auf anderen Seiten und vielleicht rings um uns herum wird schließlich die Frage nicht mehr zu übertönen sein, daß es gewisse Interessen geben kann und daß dann vielleicht Interessen auch dort manchmal stärker sein können als Doktrinen. In mancher Hinsicht trifft das vielleicht sogar zu — und wird zutreffen — auf innerdeutschem Bereich.Ich darf hier noch einmal auf eine Bemerkung hopsen, die Herr Kollege Barzel heute morgen sehr ernst und bestimmt gemacht hat. Das bezog sich aufdas Problem der Gegenseitigkeit bei inneren Leistungen.
— Na gut, aber für andere bin ich nicht zuständig. Da werden Sie mir also erlauben, daß ich das dann anderen, die zuständig sind, überlasse. Aber wenn ich frei sprechen darf, sage ich Ihnen privat auch darüber meine Meinung.Ich bin also dafür, daß Gegenseitigkeit und Verständigung in einem Atemzug genannt und zur Wirkung gebracht werden. Das heißt, daß man dadurch politische Bedingungen zu schaffen suchen muß, die es der Gegenseite schwermachen — ja, Steigerungsmöglichkeit bis zu: unmöglich machen —, Verständigung zu verhindern, mindestens aber jedenfalls unmöglich oder schwermachen, zu behaupten, wir seien diejenigen, die die Verständigung störten. Das ist doch ein langer politischer Prozeß, bei dem Sie nicht hingehen und sagen können: Jetzt gebe ich das, und in einer bestimmten Zeit rufe ich das zurück, wenn sie. nicht das leisten.Das werden wir alle noch lernen. Das versucht man einmal, das versucht man zweimal, das versucht man dreimal. Die Jahre gehen darüber hinweg. Wir werden sehen, man braucht mehr Raum, mehr Zeit. Man muß sich hier nicht selber unter ein kurzatmiges Gesetz stellen, das ist unvermeidlich.
Aber da habe ich gar keine Angst, daß wir ein Risiko eingehen.Müssen wir eigentlich Sorgen haben hinsichtlich der Täuschungsmöglichkeiten über das, womit wir es auf der anderen Seite zu tun haben? Herr Dr. Gradl sagte, Sie würden sich das nie zu eigen machen, das mal als Staat zu bezeichnen. Das ist kein Grund zum Streit. Aber nichts ändert etwas an der Tatsache, daß dort Staatsgewalt ausgeübt wird. Das ist sicher nicht zu bestreiten. Wie wir es ausdrücken werden, in einem Punkt werden wir uns nicht auseinandermanövrieren lassen dürfen, nämlich in dem Punkt nicht, daß man nicht etwas anerkennt, das jene anerkannt haben wollen, ehe es überhaupt irgendwelche Verhandlungen gibt, weil es dann nämlich nichts mehr zu verhandeln gäbe.
Das ist das, in dem man keine Manövriermöglichkeit hat. Da glaube ich nicht, daß es einen Streit unter Demokraten geben kann — geben kann, doch, natürlich, warum kann es das nicht? —, im Ernste geben wird und geben muß. Wir werden uns alle noch intensiv damit beschäftigen müssen, meine Damen und Herren.Ich dachte auch heute daran, als Herr Mischnick eine ganze Reihe lieber Erinnerungen aufblätterte. Sie waren rührend; aber sie waren alle ein wenig vergilbt. Die jüngsten waren von 1963. Also da habe ich direkt Herrn Barzel erlebt, der froh war, daß das in Erinnerung gebracht wurde.
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8370 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Bundesminister WehnerSie wissen aber, Herr Mischnick, zwischen 1963 und jetzt liegt 1964. Am 12. Juni des Jahres 1964 gab es einen Vertrag, der in Moskau unterzeichnet wurde. Ich habe den Text da. Ich pflege ihn in der Tasche zu haben.
— Na ja, gut. Eis ist immer gut, wenn man etwas entwickeln kann.
Nur wollte ich sagen, seither haben wir es mit einer ganz harten Tatsache zu tun, die uns in unserer Rechtsverfassung nicht erschüttern wird, die unsere moralische Verfassung nicht erschüttern wird, aber eine Tatsache, die uns zwingt, alle Kunst anzuwenden, um einen Modus vivendi zustande zu bringen. Daß das vorher nicht geschehen ist, ist ein schweres Versäumnis.Ich will noch ein paar Bemerkungen zu der Auseinandersetzung über die fünfziger Jahre und die sechziger Jahre machen. Das versteht man ja, daß man da leicht aneinander gerät. Aber in den fünfziger Jahren sind wichtige Entscheidungen getroffen worden, damals sehr hart umstritten. Ich werde dem Herrn Bundeskanzler bei einer passenden Gelegenheit — wenn ich aus einem Parteitag zurückgekehrt sein werde — mal ganz privat sagen, in welchem Punkte er sich heute morgen geirrt hat, als er in der Diskussion geredet und unserer Meinung und unsere damalige Position definiert hat. Das war nicht eine neutralistische, Herr Bundeskanzler. Aber darüber reden wir noch einmal. Ich will diese Mode nicht mitmachen, retrospektiv Sachen sozusagen etwas zu verrücken. — Wir sind sowieso alle ein wenig verrückt.
Wenn man das so macht, dann wird es ganz kompliziert.In diesen Jahren sind schwierige Entscheidungen getroffen worden. So, wie sie waren, sind sie eben getroffen worden. Die Verträge und das, was dazu gehört, haben Sicherheit -- man kann als gelernter Skeptiker oder als gebläuter Skeptiker sagen: zeitweilige Sicherheit; das ist natürlich auch schon etwas wert — und wirtschaftliche Erholung nach wirtschaftlichem Kahlschlag gewährleistet. Das, war darüber hinaus als darinsteckend angenommen worden ist — und ich bin überzeugt: nach bestem Wissen von denen angenommen worden ist, die das so dargeboten haben —, ist nicht eingetroffen: die weitertragende Bedeutung, nämlich die Überwindung der Spaltung unseres Volkes, Einigung Europas, noch nicht einmal die Einigung Westeuropas, und damit das, was zur Überwindung dies Ost-West-Konfliktes in Europa notwendig wäre. Kein Vorwurf! Das ist so.Die sechziger Jahre, in denen wir nun alle hier noch am Werke sind, haben nur wenig genutzt werden können oder sind jedenfalls nur wenig genutzt worden zur Rektifikation oder zur Anpassung. Wir werden aufpassen müssen, daß in den siebziger Jahren, in die wir vielleicht noch hineinkommen — jedenfalls ein Teil derer, die hier sospät abends noch sitzen —, nicht Möglichkeiten, ich sage nicht gern: endgültig, aber Möglichkeiten so weit kaputtgemacht werden, daß es dann schwierig wird.Durch die Verträge, die in den fünfziger Jahren abgeschlossen worden sind, und die Entscheidungen, die damals getroffen worden sind, denen unter Umständen auch noch manche später einmal unter veränderten Verhältnissen nutzbar zu machende Elemente innewohnen, ist jedenfalls keine Einbahnstraße zur Lösung der deutschen Frage eröffnet worden.
Ich nehme an, es gibt solche gar nicht. Das merkt man erst nach einer Weile als Verkehrsteilnehmer; es gibt keine solchen Einbahnstraßen. Wer es angenommen hat, ist eben aufgesessen gewesen. Kehren wir um, und sehen wir zu, wie wir uns weiter zurechtfinden. Da müssen wir aber dann etwas mehr tun für den Übergang zu den siebziger Jahren, damit das nicht vertieft wird, was jetzt an Disproportionen, an Erstarrung der Verhältnisse sich ausgebreitet hat. Wir hier in der Bundesrepublik, die wir die Aufgabe haben, die demokratische Komponente in der deutschen Politik, deren Sinn die demokratische Lösung der nationalen Frage unseres Volkes ist, darzustellen und als solche handlungsfähig zu- sein, werden gemessen werden an der Intensität, mit der wir, die wir an irgendeiner Stelle verantwortlich sind und Verantwortung auch bekennen — das ist das einzige, was ich, abgesehen von etwas anderem, bekennen möchte: daß man sich verantwortlich fühlt und auch so tätig ist — das unsere tun, um, soweit das möglich ist, das, was der Bundeskanzler einmal den Interessenausgleich zwischen den Bündnissen in West und Ost genannt hat, zustande zu bringen. Ohne diesen gibt es keinerlei Lösung der deutschen Frage. Je mehr die demokratische Komponente dazu beigetragen haben wird, um so größer ist die Hoffnung unter den an sich nicht sehr freigebigen Hoffnungen.
Das ist, worauf man hinaus muß. Das soll man, ohne sich selbst zu täuschen und ohne anderen, die dabei sein müssen, weh zu tun, klarmachen.Hier ist heute verschiedentlich von einer Studie des Centre d'Études die Rede gewesen. Ich habe sie mir auch schon einmal angeguckt. Ich möchte nicht, daß ungeklärt aus dieser Debatte hervorgeht, als werde da nicht richtig gespielt. Herr Barzel hat seine Meinung über diese Studie gesagt. Ich glaube, das ist eine Meinung, die im wesentlichen richtig ist.Die Studie ist ein interessanter Luftballon. Ich frage mich noch immer, wieviel er wohl tragen wird. Andererseits gehört es zu den Aufgaben einer Regierung, solche Dinge ganz präzise auch nach ihren Ursprüngen, nach den Motiven, nach den einzelnen Bestandteilen, die da in diesen Eierkuchen hineingebracht worden sind, zu prüfen. Das darf man doch der Regierung nicht verwehren. Wenn die Opposition sagt, was ist da richtig: eine Partei erklärt, sie halte nichts von der Sache, aber hier gibt es irgendeine Arbeitsgruppe? Nur keine Angst! Man wird sich dort nicht für dumm verkaufen lassen.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8371
Bundesminister WehnerIch habe selber einige Erfahrungen noch aus dem Ende der fünfziger Jahre. Manche argwöhnen. Ich habe es in den letzten Wochen gemerkt, wie einige Briefe kamen, rote Briefe, schwarze Briefe. Sie sind aber alle von derselben politischen Couleur, haben aber verschiedene Farben. Dann die „Bildpost"! Die alle sagen, der hat mal wieder einen Deutschlandplan herausgegraben. Keine Angst, meine Damen und Herren! Man lernt! Man lernt! Das ist gar nicht das Problem!Heute ist hier die Konferenz von 1959 aufgebracht worden. Es war die Selbstverteidigung eines Kollegen von der CDU; das war, glaube ich, Herr Dr. Gradl. Das verstand ich recht gut, daß man damals nicht gesamtdeutsche Konzessionen machen wollte wegen des Berlin-Status. Ich will nicht irgendeinen Rabatt haben. Das, was wir damals 1959 verhüten wollten, war, daß eine ganze Viermächtekonferenz jenes alten Stils schließlich zusammenrutscht und auf diese Nadelspitze mit der ganzen Wucht drückt und nur noch über den Status West-Berlins verhandelt wird. Da war man damals doch schon.Nun gut, aber kein Bedarf an Plänen. Auch kein Bedarf an Studien! Was wir tun müssen, das ist, in der Diskussion zu bleiben mit so wenig wie möglich perfekt aussehen wollenden Gesamtkonzeptionen, wie man sich zu sagen angewöhnt hat, aber mit Instrumentarien, die genau passen, wenn die Stunde für das und für jenes da ist. Das heißt, man muß Bescheid wissen, welches die Interessen anderer sind. Man muß Bescheid wissen, wie wir uns in dem Hin und Her selber mit unserem Interesse anbringen und durchsetzen können.Ich will noch einmal so sagen: Die kommunistische Seite verlangt, jedenfalls bisher, von uns, daß wir anerkennen, was sie anerkannt haben will, ehe überhaupt in Verhandlungen eingetreten wird. Sie hat eine Art verlötetes Paket von Forderungen, das sowohl von der Regierung der DDR als auch von jeder dortigen Behörde als auch von der Sowjetregierung und den Regierungen der osteuropäischen Staaten — mit gewissen. Unterschieden, Nuancen, möchte ich einmal sagen — ziemlich hart vertreten wird.Ich halte es für denkbar, daß ungeachtet der bestehenden Gegensätze in der Auffassung unser Angebot, über die Lösung von Nachkriegsproblemen verbindliche Gewaltverzichtserklärungen oder Abkommen auszutauschen und zu schließen, zu einigen Ergebnissen führt. Zur Zeit versucht aber die andere Seite noch, besonders die innerdeutsche kommunistische Seite, solche Erklärungen oder Abkommen an unsere vorbehaltlose Anerkennung ihrer politischen Forderungen zu binden.Nun, das ist ein Kampf, das ist ein Prozeß. Unsere Hypothese für das Ganze sollte sein: durch Verständigung über Fragen, die nicht strittig sein müssen, ein Klima für die Verständigung auch über strittige Fragen zu schaffen. Die Hypothese der Gegenseite ist: ohne Besiegelung der Endgültigkeit der Teilung Deutschlands — durch unsere Unterschrift nämlich — keine Verständigung über Fra-gen, die sich aus der Teilung ergeben und die in beiderseitigem Interesse geregelt werden könnten. Vielerorts wird sogar jede Teilfrage — ob das eine Post- oder Verkehrs- oder Kulturfrage ist — zur Austragung der Streitigkeiten über die Endgültigkeit der Teilung benutzt und immer wieder entzündet.
— Na sicher, man muß doch von dem ausgehen, was ist, und muß sagen, was ist. Ich bin dafür, daß wir niemandem einen Türken bauen. In einem der hier heute genannten Blätter wurde geschrieben: Der gesamtdeutsche Frühling ist nicht gekommen. Ich habe die ganzen Jahre nie erklärt, daß es irgend etwas zu schenken oder abzuholen gibt. Mein Streit— auch aus der Opposition heraus — war immer ein Streit gegen falsche Vorstellungen, falsche Beteuerungen und dagegen, daß man irgend etwas billig haben würde. Denn wir haben es doch mit einem Naturereignis zu tun, das noch zusätzlich kompliziert und erschwert wird. Damit haben wir alle noch lange zu tun und einige auch noch länger, als wir es können.Unsere Erwartung ist, daß die Kontinuität unserer Entspannungsbemühungen schließlich mehr und mehr dazu führt, Interessen stärker werden zu lassen als Doktrinen und so auch zu Verständigungen zu gelangen. Die Erwartung der Gegenseite — man muß sie ehrlicherweise auch nennen — ist, daß die Hartnäckigkeit der Ablehnung unserer Bemühungen und die Wirkung der Verleumdung und Verdächtigung unserer Absichten hier zum Zerwürfnis und zum Nachlassen der Verständigungsbemühungen führen wird und im Ausland zur Gleichgültigkeit bis zur Abneigung gegenüber den deutschen Streitereien, was wir ja an manchen Stellen schon haben und womit man sich immer wieder befassen muß.Aber keine Angst! Wenn man sieht, wie groß, wie schwer und wie, sagen wir einmal, hoffnungslos — aber nicht verzweifelt — die Aussichten sind, wenn man das versucht ins Auge zu fassen, was menschenmöglich ist, dann hat man Chancen. Das ist die Ermutigung, Herr Dr. Gradl, die man geben kann, daß nämlich Leute am Werk sind, die weder mogeln noch modeln, noch sich selber oder anderen gar etwas vormachen. Das ist zwar nicht alles, aber das ist viel. Und dazu müssen die Leute allerdings ihr Handwerk verstehen.Ich bin für folgendes dankbar — das wollte ich hier am Schluß sagen Der Bundeskanzler hat zwei Sätze gesagt, und er hat sich gegen die Unterstellung gewehrt, sie seien „gaullistisch". Ich meine jene Sätze:So stark unsere Bindungen im atlantischen Bündnis, so freundschaftlich unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind, so dürfen wir doch unsere eigene Zukunft und, wie wir meinen, auch die Zukunft eines vereinigten westlichen Europas nicht im festen Gefüge eines nordantlantischen Imperiums suchen. Eine solche Lösung würde die Demarkationslinie, die Deutschland und Europa teilt, in einen dauern-
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8372 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Bundesminister Wehner den' Grenzwall verwandeln. Eine solche Lösung könnte auch die Gefahr eines großen Weltkonflikts in dramatischer Weise steigern.Das ist wahr. Ich fand, das war ein Perlchen, das man an die Kette anreihen kann, wo schon jenes andere aus der Rede vom 17. Juni steht, nämlich, daß es darauf ankommt, den Interessenausgleich zustande zu bringen, denn sonst würden wir in eine Situation kommen, in der wir unsere eigentliche Pflicht nicht erfüllen können.So rundet sich das, und ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zu so später Stunde.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies war eine überraschende und sicher eine bedeutende Rede am Abend. Und da ich nicht ganz sicher bin, Herr Kollege Wehner, ob es mir in allen Punkten gelungen ist, voll die Bedeutung — — Und ich weiß, wenn Sie sich hier zu einer Stunde vor Ihrem Parteitag, wie das auch ein anderer Ihrer führenden Kollegen gemacht hat, hier hinstellen und so eine methodisch-prinzipielle Rede halten, dann ist das von hohem Rang. Ich möchte mich deshalb zunächst bei dem Herrn Präsidenten bedanken, daß ich gleich das Wort bekommen habe; denn ich bin nicht ganz sicher, ob ich bei allen Denkübungen an diesem Abend voll habe folgen können. Das liegt sicherlich an mir. Aber vielleicht wird es besser, wenn wir die eine oder andere Frage stellen, und da der Herr Kollege Wehner so freundlich war, mich verschiedentlich zu zitieren, wird er mir erlauben, die Fragen sofort zu stellen.Das Erste: Herr Kollege Wehner, der sein Wort wägt, hat zweimal, wenn ich richtig mitgeschrieben habe, zum Kriterium — und das ist ein wichtiges Wort — der innerdeutsche Dinge folgendes erklärt: Die drüben Verantwortlichen können der Nation nicht geben, was der Nation gebührt und was ihr gehört. Das ist ein interessantes Kriterium. Ich frage mich nur, ob die nicht können — oder ob sie nicht wollen. Und das ist ein großer Unterschied. Vielleicht gibt es ein paar, die nicht können, obwohl sie wollen. Wenn Sie die haben ansprechen wollen, dann, finde ich, sind wir auf einer guter Bahn der gesamtdeutschen Dialoge. Aber wenn wir für alle drüben Verantwortlichen erklären sollten, die können der Nation nicht geben, was der Nation gebührt und ihr gehört, dann möchte ich gerne darüber diskutieren. Es ist nämlich ein wichtiger Punkt.Ich habe heute morgen vorgetragen, was die wollen, nämlich den Art. 8 Abs. 2 der neuen Verfassung. Ich glaube nicht, daß das Verbalismus ist, denn wenn hier ein Kriterium aufgestellt wird, dann ist das ein wichtiger Punkt, und wir müssen darüber diskutieren. Und dafür bin ich dankbar, Herr Wehner, daß in dieser Debatte über die Lage der Nation deutlich wird, daß vielleicht auch für die drüben — denken Sie: auch für die drüben — ein Unterschied zwischen Können und Wollen, mindestens bei einigen, bestehen könnte. Und das wäre dann allerdings nicht mehr ein Kriterium, sondern ein interessanter Tatbestand, an den man gesamtdeutsche Politik anknüpfen könnte.Das Zweite, Herr Kollege Wehner, war überflüssig. Sie haben hier, an einige meiner Kollegen gewandt, laut gesprochen. Ich spreche heute abend leise, aber ich meine es genauso energisch. Wenn Sie mir sagten, ich hätte als Summe gezogen, die Lösung der deutschen Frage sei ein weltpolitisches Problem, dann, glaube ich, ist das richtig. Dann brauchen Sie aber mir dazu nicht zu sagen und dieser Fraktion auch nicht, daß nämlich ohne uns sich nichts bewegen würde. Das braucht uns keiner ins Stammbuch zu schreiben, denn das wissen wir, und das machen wir, meine Damen und Herren.Und das Dritte: Die Bundesrepublik sei ein Gemeinschaftswerk. Das war eine gute Passage. Aber Herr Kollege Wehner, erlauben Sie mir nun, nachdem Sie hier meinem Kollegen Stingl gegenüber in einer bedeutenden Explosion gesagt haben, da seien Rechtspositionen, und es müsse deutlich sein, für die könne man sich vielleicht nichts kaufen — —
— Das war doch gesagt. Ich will darüber hier jetzt nicht streiten.
— Nein. Eine Sekunde, Herr Gscheidle! Sie werden gleich sehen, worauf ich hinaus will. Ich versuche, Mißdeutungen auszuräumen, sonst würde ich ganz anders sprechen hier. Ich möchte nämlich gern, Herr Kollege Wehner, daß wir uns in folgendem Kriterium zu diesen Rechtsfragen verständigen, nämlich daß einmal das Recht — und das ist mein Kriterium, ich hoffe, auch das Ihre, ich gehe davon. aus — nur zur Disposition aller Beteiligten steht, weil es ein Stück Selbstbestimmungsrecht ist; und daß zum anderen das Kriterium des Rechts nicht sein Verkaufswert ist.Das Vierte, was ich sagen wollte, betrifft das Problem von Gegenleistung und Gegenseitigkeit. Ich habe hier — und das kann doch gar nicht mißverstanden werden, Herr Kollege Wehner, wenn ich auch es sehr raffen mußte; Sie wissen ja selber aus früherer Erfahrung, wieviel Zeit man hat — auf einen Zuruf aus der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands deutlich gemacht, daß wir nicht am Schluß etwa dazustehen wünschen mit einem Austausch von Gewaltverzichtserklärungen bei Fortdauer des Schießen an der Mauer. Das habe ich deutlich gemacht, und ich glaube, das kann schlechterdings nicht mißverstanden werden. Und ich war der Mann, der früher gesagt hat, Herr Kollege Wehner, es gibt Situationen, wo man ruhig auch einmal ein paar Schritte vorwärtsgehen kann; aber das Ziel einer Gegenleistung dürfe man prinzipiell, und für die praktische Politik auch methodisch, nie aus den Augen verlieren. Ich glaube, daß ist auch richtig, und ich hoffe, Sie werden diesem Kriterium zustimmen.Der fünfte und vorletzte Punkt betrifft die Anerkennung. Sie haben dazu, glaube ich, so oft Gutes
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Dr. Barzelgesagt. Ich zitiere aus dem Gedächtnis etwas, was mich sehr beeindruckt hat: wenn man die Anerkennung vollziehen würde oder fordern würde — oder wie immer das war —, das wäre die Kapitulation mit dem Strick um den Hals. Das ist eine klare Formulierung, die kann ich nachvollziehen.Aber ich möchte auch hier mein Kriterium, Herr Kollege Wehner — ich hoffe, da stimmen wir wieder überein —, auf den Tisch legen. Das ist nun allerdings, meine Damen und Herren, etwas aus den wirklich essentiellen Bereich, möchte ich sagen. Wir haben in der Union viel Dispositives; aber es gibt einen essentiellen Bereich.
— Wir können gern darüber diskutieren. Sie merken, daß hier ist wirklich eine wichtige Sache — für mein Gefühl; ich weiß nicht, ob für Sie, Herr Friderichs. Ich bemühe mich, so kurz wie möglich — — Bitte!
— Sehr schön, Herr Mertes.Mein Kriterium bei der Anerkennung ist folgendes: Das Diplomatische und Rechtliche und Politische ist alles wichtig, auch das Historische und das Gefühl der Nation und die Lage Berlins ist alles wichtig. Aber es gibt noch ein Wichtigeres. Mir ist manchmal bange — das sage ich jetzt nicht an Ihre Adresse, Herr Kollege Wehner —, wenn die Ordnungen in beiden Teilen Deutschlands gleichgesetzt werden. Denn dann würde die Anerkennung bedeuten, daß die deutschen Demokraten — dies ist mein Kriterium — auch einen totalitären Weg in Deutschland für die Deutschen für möglich halten. Dies ist in der Tat ein essentielles Kriterium der Christlichen Demokraten.Meine Damen und Herren, der letzte Punkt betrifft die Erklärung, jetzt sage ich: des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen. Ich glaube, daß er da mit Recht jemand anderem beigesprungen ist. Es ging um die Studie des Centre d'Études in Paris. Herr Kollege Wehner, ich habe Ihnen schon einmal im Gespräch erklärt, daß ich persönlich bereit bin, das zu prüfen, und auch damit einverstanden bin, das zu diskutieren, natürlich auch mit den Verfassern. Mit wem soll man sonst diskutieren? Das ist doch ganz selbstverständlich. Etwas anderes ist es, daß etwa zur Diskussionsgrundlage zwischen zwei Regierungen zu machen.Nun habe ich das Papier nicht hier auf dem Tisch. Aber ich erinnere mich, daß darin drei sogenannte Modelle sind. In Wirklichkeit sind es drei Phasen, drei Stufen zu einem Ziel hin: in Mitteleuropa eine Ordnung zu schaffen ohne die Franzosen und ohne die Briten und ohne die Italiener und ohne die Neutralen, eine Ordnung nicht etwa mit der Wiedervereinigung, sondern mit einer besonderen Form von kontrollierter Konföderation. Dazu sind eingeladen die Polen, wenn es geht, auch die Tschechen und auch die Benelux-Länder.Das, meine Damen und Herren, ist mir erstens zu eng, auch als Denkmodell zu .eng. Darin ist mirnicht genug Luft für Europäer. Zweitens sprengt das die EWG und damit alle Chancen, hier ,die Wirtschaftskraft zu haben, die uns morgen überhaupt noch eine Chance gibt. Vom deutsch-französischen Vertrag ist dann sowieso nichts mehr übrig.Ich möchte an ,das erinnern, was Helmut Schmidt heute morgen über .die Lage der Holländer gesagt hat, die sich eine Lösung überhaupt nur vorstellen können, wenn dieses Deutschland in einem supranationalen Europa aufgeht. Was sollen idann unsere Nachbarn sagen, und wo sollen eigentlich die neutralen Staaten bleiben? Das ist idas, was man hier so schnell sagen kann.Das andere, Herr Kollege Wehner, ist eigentlich viel interessanter, wenn ich mich extemporierend an den Abend erinnere. In ,der zweiten Stufe des Modells stehen interessante Dinge. Die militärischen Aspekte werden da berührt. Da sind ein paar Punkte, über die man, allerdings gesondert und vielleicht nicht allzu laut, diskutieren sollte.Mir ,schien es wichtig 'genug, auf diese bedeutende Rede des Kollegen Wehner, die überraschend war, extemporiert etwas zu sagen. Wir müssen uns vorbehalten, diese wichtige Rede im einzelnen zu analysieren und später zu einem geeigneten Zeitpunkt nach sorgfältiger Prüfung auf diesen wichtigen Beitrag des gesamtdeutschen Ministers zurückzukommen.
Das Wort hat ,der Herr Abgeordnete Seidel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung, daß jetzt nach diesem Höhepunkt eines Diskussionsabschnitts ein anderes Thema behandelt wird. Im Bericht über die Lage .der Nation fehlte mir ein beachtenswerter Punkt der Verfassungswirklichkeit bei uns und im anderen Teil Deutschlands. Es handelt sich um die organisierten gesellschaftlichen Kräfte, die in der verschiedensten Art auf ,das politische Leben einwirken. Nach unserem Grundgesetz wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Jedermann weiß, daß ,sich unsere Verfassungswirklichkeit anders darbietet. Neben den Parteien wirken auch die außerparlamentarischen Kräfte in unserer Gesellschaft an der politischen Willensbildung mit, vielleicht nicht so umfassend, wie es den Parteien entspricht, mehr im Detail, aber doch weite Gebiete unserer Staats- und Gesellschaftspolitik erfassend.Diese unsere Verfassungswirklichkeit ist begrüßenswert. Es wäre um die Lebendigkeit der Demokratie schlecht bestellt, gäbe es ein Monopol der Parteien in der politisichen Willensbildung. Manchen Bürgern mag die Vielfalt und .die bunte Fülle der Verbände wenig gefallen. Ich sehe darin keinen Nachteil. Wenngleich in unserer technischen Gesellschaft jeder Mensch vom anderen abhängig ist, erleben wir vielfach eine Vereinsamung. Über eine aktive Organisation, über Verbands- und
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8374 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
SeidelVereinsleben wird dieser Vereinsamung entgegengewirkt.Im Zusammenhang mit dem Bericht über .die Lage der Nation interessieren uns die großen Organisationen, denen Hunderttausende von Staatsbürgern angehören. Was da an Einfluß und an Macht ausgeht, brauche ich hier nicht zu ,erläutern. Wichtig ist, daß es sich um freiwillige Zusammenschlüsse handelt. Niemand bei uns ist einem Zwang, einem Muß unterworfen. Es gilt als legitim, wenn der einzelne Bürger aus persönlicher Interessenwahrung die Organisation in Anspruch nimmt. Die großen Organisationen haben Millionen Menschen dazu gebracht, sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Mitmenschen zu engagieren. Dieses Zeichen von Solidarität in unserer so materialistisch betonten Zeit darf man als elementares sittliches Gebot hervorheben und begrüßen. Daher die Anerkennung all denen, die Solidarität pflegen und praktizieren.Ich sprach von den Hunderttausenden Menschen, die in den verschiedenen Organisationen stehen. In unserem demokratischen Staatswesen kommt es darauf an, wie die Organisationen geführt werden. Die demokratischen Spielregeln gelten wohl überall. Ich gehe gewiß nicht an der Wirklichkeit vorbei, wenn ich sage: Die großen, einflußreichen Organisationen und Verbände stehen positiv zu unserem demokratischen System, stehen auf dem Boden des Grundgesetzes. Die Negation liegt ihnen völlig fern. Damit möchte ich auf die besondere politische Wirksamkeit und Bedeutung dieser organisierten gesellschaftlichen Kräfte aufmerksam gemacht haben. Wenn Millionen Staatsbürger zu bewußten mitverantwortlichen Gestaltern unseres Staates werden, haben die großen Organisationen ihren Anteil daran. Was ich für manche Organisationen wünschen würde, wäre mehr Durchsicht des Verbands- und Gruppengeschehens für die Öffentlichkeit. Ich denke dabei an mehr Publizität, mehr öffentliche Diskussion und ein Mehr an offener Rechenschaftslegung. Die freie Diskussion in den Verbänden und das Verhalten der Verbände zueinander kann dem Staatsbürger nur von Nutzen sein, wenn die Toleranz mehr als eine Spielregel, als ein Gebot, das der Achtung vor der Würde des Menschen entspricht, Geltung hat.Gemeinsam müssen wir noch viel lernen im Umgang mit Außenseitern und Minderheiten. Für alle aber zusammen gilt es: Niemand darf dem andern seine Meinung mit Gewalt aufzwingen wollen, niemand darf dem andern das Recht zur freien Meinungsäußerung bestreiten, auch wenn dessen Meinung noch so falsch ist. In dieser unserer Verfassungswirklichkeit der Parteien und der Verbände wird die Glaubwürdigkeit der Demokratie daran gemessen, wie der Staat und die Parteien mit den organisierten gesellschaftlichen Kräften umgehen. Die Sachkunde und die Meinung von außen sollte weder verschmäht noch ungeprüft bleiben. Aber einer Gefahr ist dabei zu begegnen: das ist das Angebot oder der Verkauf von Illusionen aller Art an die Organisationen und Verbände vom Staat oder von den Parteien. Die auf Illusionen ausgegebenen politischen Wechsel platzen rasch. Die Staatsverdrossenheit als Folge ist unausweichlich und kaum noch reparabel. Daher die Grundregel im Umgang mit den Organisationen und Verbänden: in der Form verbindlich, aber hart in der Sache, sagen, was geht und was nicht geht. In der Demokratie muß Ehrlichkeit und Freimut begrüßt und toleriert, nicht aber gescholten werden. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wieviel Menschen von den Organisationen beeinflußt werden und wie sie auch mitwirken und mitbestimmen können, so ist wohl jedermann sich im klaren, daß es in unserem Staat auf Dauer keine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Oasen mehr "geben darf, wo die Staatsbürger von der Mitwirkung und der Mitbestimmung ausgeschlossen sind.Im anderen Teil Deutschlands gibt es neben der Staatspartei SED eine Vielfalt von Organisationen. Ihre Wirksamkeiten stehen gewiß im Sinne einer Gemeinsamkeit, doch im Gegensatz zur Situation in der Bundesrepublik ist statt der Freiwilligkeit mehr das „Du mußt dabei sein" der Anlaß seiner Zugehörigkeit. Die freie Meinungsbildung bleibt begrenzt, und mit eigener Interessenwahrung hat das Verbands- und Organisationsleben wenig zu tun. Alle Organisationen und Verbände müssen der politischen Einbahnstraße der SED folgen, wo Befehle von oben nach unten durchlaufen und das Echo „Jawohl" und die Meldung der Soll-Erfüllung von unten nach oben erwartet wird.An diesem Gegensatz der Wirkungsmöglichkeiten und der Wirksamkeiten organisierter gesellschaftlicher Kräfte hier und drüben kann der Wert von erlebter Freiheit und Demokratie gemessen werden. Der Bericht über die Lage der Nation erschiene mir unvollständig, wenn nicht einiges über die Rolle der Organisationen und Verbände unserer Verfassungswirklichkeit gesagt würde. Die führenden Kräfte und Vertrauensleute der Organisationen verdienen unsere Anerkennung, stete Beachtung und Anhörung. Sie selber aber tragen große Verantwortung für die Erhaltung und Festigung unserer demokratischen Prinzipien.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mertes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat heute nachmittag von einer vollkommen neuen Wirtschaftspolitik gesprochen, die auch ein Erfolg dieser Koalition sei. Ich bin dem Herrn Bundeskanzler dafür dankbar; denn er hat mich mit dieser Passage an seine erste Regierungserklärung erinnert, in der er davon gesprochen hat, daß er als Bundeskanzler auch in wirtschaftlicher Beziehung ein schweres Erbe habe übernehmen müssen. Ich glaube, Herr Bundeskanzler, daß Sie mit mir einig sind, wenn ich feststelle, daß dieses schwere Erbe, das Sie übernommen zu haben glauben, in keine Beziehung zu setzen ist zu den Zuständen, die die . erste Bundesregierung im Jahre 1949 angetroffen
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968 8375
Merteshat. Aber immerhin scheint die SPD von ihren Formulierungen inspiriert worden zu sein; denn sonst hätte ich nicht am 30. Mai des vergangenen Jahres in einer Zeitungsanzeige lesen können: ,,Arbeitslosigkeit -- Kurzarbeit — Weniger Lohn. Wir alle leiden an den Folgen jener Wirtschaftspolitik Bonns, die keine war."Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, jene Wirtschaftspolitik, die nach Meinung der SPD keine gewesen sein soll, hat immerhin das gebracht, was oberflächliche Denker als das Wirtschaftswunder bezeichnen. Wir alle wissen, daß es sich dabei um kein Wunder handelt, sondern um eine beispiellose Gemeinschaftsleistung des ganzen deutschen Volkes. Wir wissen aber auch, daß die Wiedereinführung der Marktwirtschaft die Initialzündung dazu gegeben hat. Wir haben auch nicht vergessen, wie viele Gegner der Marktwirtschaft es zu Beginn der 50er Jahre gab, und zwar nicht nur bei Ihnen in der SPD, sondern auch bei dem Teil der CDU, der damals noch auf das Ahlener Programm eingeschworen war.Wenn heute, nach 23 Jahren, die erste Debatte über den Bericht zur Lage der Nation stattfindet, dann ist wohl die Frage gestattet, ob es dieses sogenannte deutsche Wirtschaftswunder auch gegeben hätte, wenn sich damals nicht die liberalen Kräfte, an ihrer Spitze die Freie Demokratische Partei, durchgesetzt hätten.
Die liberalen Kräfte waren es übrigens auch, die immer wieder vor den Überhitzungserscheinungen mit ihren negativen Konsequenzen gewarnt haben, und sie wurden damals von ,einer bestimmten Seite dieses Hauses als .die Maßhalteapostel abgestempelt. Es war ja auch so einfach, auf den Wirtschaftswunderwogen schwimmend, vor allem in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, als Sie in diesem Hause die absolute Mehrheit hatten, mit Wahlgeschenken Parteipolitik zu machen;
eine Politik, die nicht unschuldig ist an der Haushaltsmisere, die sich später einstellte. Das muß einmal in die Erinnerung zurückgerufen werden.
— Ich sprach von der zweiten Hälfte der 50er Jahre und ging davon aus, daß Sie nicht vergessen haben,. daß Sie in dieser Zeit, nämlich von 1956 bis 1961, hier die absolute Mehrheit gestellt haben.
Die Diskrepanz zwischen diesem wirtschaftlichen Aufstieg und der geistigen und ethischen Entwicklung in unserem Volke wurde dabei geflissentlich übersehen.Hier, meine Damen und Herren; liegen die Wurzeln des Unbehagens, das sich heute in einer außerparlamentarischen Opposition so lautstark artikuliert; denn eine Politik des Materialismus schafft allein noch kein Bürgerbewußtsein. Damals glaubten aber ,die Unbelehrbaren an den Mythos eines ewig dauernden Wirtschaftswunders, und in diesem Glauben wurde ,die Wirtschaft von Jahr zu Jahr stärker belastet. Die Kosten stiegen vielfach schneller als die Produktivität und als das Sozialprodukt. Entsprechende Wirkungen auf die Wettbewerbssituation blieben nicht aus. Hinzu kamen die Belastungen der öffentlichen Haushalte, die nur tragbar waren bei Wachstumsquoten von 8, 9, 10 und mehr Prozent; denn die Steuereinnahmen 'stiegen ja infolge der Progression noch schneller an. Man nannte das die heimlichen Steuererhöhungen. Die bedauerlichste Begleiterscheinung dieser überschäumenden Konjunktur war der Geldwertschwund. Die Notenbank mußte zu ihrer Restriktionspolitik greifen, die ihrer Natur nach wieder als einseitige Bremse primär die private Wirtschaft traf. Auf der Ausgabenseite des Haushalts war die Mehrheit dieses Hauses nicht bereit, die Einsparungen durchzusetzen, welche die Bundesbank forderte, um ihre Restriktionspolitik lockern zu können. Das Stabilitätsgesetz, das von der früheren Bundesregierung noch eingebracht wurde und das in erster Linie diesem Ziele dienen 'sollte, schmorte fast ein Jahr in den Ausschüssen, weil es den ideologischen Vorstellungen des neuen Koalitionspartners nicht mehr entsprach. Dabei ist eis eine blanke Illusion, anzunehmen, man könnte durch künstliche Konjunkturbelebungen die Steuereingänge 'so steigern, daß man sich auch weiterhin so manchen Luxus auf der Ausgabenseite gestatten könnte.Unser Finanzminister Rolf Dahlgrün — das wollte ich dem Herrn Kollegen Gscheidle sagen, der leider nicht mehr da ist — hatte in seiner mittelfristigen Finanzvorschau klar dargelegt, daß in den kommenden Jahren mit ständig steigenden Defiziten zu rechnen sein werde, wenn nicht mit neuen politischen Konzeptionen die überproportionalen Staatsausgaben auf ein gesundes Maß zurückgeschraubt würden. Dabei sollte es nach unserer Meinung kein Tabu geben. Die Mehrheit dieses Hauses fand jedoch nicht den Mut zu einer solchen Politik. Man suchte, wie allgemein bekannt ist, den Ausweg in Steuererhöhungen und anderen neuen Belastungen sowohl der Wirtschaft wie der Arbeitnehmerschaft. Gleichzeitig wurde auf 'der anderen Seite Gas gegeben mit dem Mittel einer schnell wachsenden öffentlichen Verschuldung. In die Wirtschaft wurde auf diesem Wege durch eine sich widersprechende Politik Unsicherheit auf Unsicherheit hineingetragen. Deshalb schwand die Investitionsbereitschaft, die .das tragende Element jedes gesunden Wirtschaftswachstums ist. Investitionsentscheidungen richten sich nun • einmal nach dem Absatz und den Gewinnchancen, die auf einer soliden Kostenrechnung beruhen müssen, und daran hapert es heute; denn wer will schon mit Sicherheit voraussagen, ob nicht schließlich doch wieder die Politik überproportionaler Kostensteigerungen mit überproportionalen Preissteigerungen fortgesetzt wird, von den überproportionalen Steigerungen der Staatsausgaben ganz zu schweigen. Grundlage jeder Stabilitätspolitik ist aber nun einmal .eine solide Haushaltspolitik.
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8376 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
MertesWie es in Wirklichkeit damit aussieht, werden wir bei der zweiten und dritten Lesung des Haushalts in drei Wochen hier in diesem Hause feststellen.
— Wenn Sie das schon hundertmal gehört haben und das als Allgemeingut für Ihre Fraktion in Anspruch nehmen, kann ich mich nur wundern, warum Sie bis heute nicht die entsprechenden Konsequenzen daraus gezogen haben.
Aber was haben Sie gemacht? Sie haben, um theoretisch errechnete Erfolge vor einem schwarz in schwarz gemalten Hintergrund um so leuchtender strahlen zu lassen, die Wirtschaftssituation Ende des Jahres 1966 und zu Beginn des Jahres 1967 noch zusätzlich dramatisiert. Wen wundert es da, wenn auf Grund dieser Situation die Wirtschaftsentwicklung schließlich aus einem Normalisierungsprozeß abgeglitten ist. Dabei wäre es nach den Zeiten der Überhitzung zu begrüßen gewesen, wenn sich die Konjunktur normalisiert hätte, allerdings unter der Voraussetzung, daß sich gleichzeitig auch die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft im gleichen Ausmaß normalisiert hätten. Das aber ist eben nicht der Fall gewesen. Wir stehen deshalb heute vor dem eisernen Zwang, die Kostensituation mit den in einem verschärften Wettbewerb zu erzielenden Erlösen in Einklang zu bringen. Die Wirtschaft selbst hat erkannt, daß hier etwas notwendig ist. Sie hat Sparprogramme abgewickelt, sie hat Verlustquellen beseitigt, sie hat neue technische Entwicklungen produktionsreif gemacht; leere Lager müssen aufgefüllt werden. Es haben sich also viele Elemente einer neuen Startbereitschaft angesammelt. Trotz aller Unkenrufe war schon im Frühjahr des vergangenen Jahres deutlich zu erkennen, daß die eigene Dynamik der Wirtschaft den Abwärtstrend auffangen würde. Die staatlichen Konjunkturförderungsmaßnahmen waren daran viel weniger beteiligt, als die Regierung das heute glaubt.
Daher ist vor allem nach den neuen Steuer- und Beitragsbelastungen der Wirtschaft, die trotz gegenteiliger Beteuerungen zu Beginn dieses Jahres in Kraft getreten sind, die Frage notwendig, warum nicht mindestens zu einem Teil die Politik des Deficit spending ersetzt wurde durch die im Stabilitätsgesetz auch heute noch vorgesehene Regelung der Variierung der Steuersätze nach unten. Mußte die Regierungspolitik jene Milliarden für Konjunkturspritzen ausgeben, die in Form von Steuerersparnissen in der Wirtschaft — dabei denke ich auch an die hemmende Investitionssteuer — einen sehr viel feiner dosierten und rascher wirksamen Anreiz hätten geben können?Meine Damen und Herren, aktivistische Wachstumsplaner vertrauen aber darauf, das Wachstum nach Maß technisch steuern zu können. Gleichzeitig wollen sie, wie sie sagen, aus gesellschaftspolitischen Gründen den an früheren Wachstumsquoten orientierten Ansprüchen nicht wirksam entgegentreten. Das Verhältnis von Anspruch und Leistungsfähigkeit zu harmonisieren, ist nun aber einmal das Gebot der Stunde. Statt dessen entwickelt diese Bundesregierung eine überspitzte instrumentale Geschäftigkeit, obwohl die Zielprojektionen ständig von eindrucksvollen Fehlkalkulationen begleitet werden und niemand weiß, wie die Schulden eines guten Tages getilgt werden sollen. Das Ifo-Institut befürchtet — meines Erachtens zu Recht — die Gefahr einer neuen Konjunkturüberhitzung im Herbst dieses Jahres. Unangefochten davon erklärte der Herr Bundeswirtschaftsminister am 8. März in Oberhausen vor der Industriegewerkschaft Metall, die gegenwärtige Aufschwungphase könne nur beibehalten werden, wenn gleichzeitig die Kaufkraft der Massen in diesem Jahr durch Lohnerhöhungen um 4 bis 5% verstärkt werde. Und Herr Brenner meinte dazu, wenn diese Auffassung sich schon in früheren Bundesregierungen durchgesetzt hätte, wäre die Talfahrt unterblieben. Nun, meine Damen und Herren, meines Wissens war Herr Brenner vor dieser Talfahrt nicht so bescheiden. Mit 4 bis 5 % ist er damals erst gar nicht angefangen.Lohnerhöhungen sind berechtigt. Aber ich frage mich, ob es richtig ist, vom Staate her zu Lohnerhöhungen aufzufordern, wenn man nicht sicher ist, auf welche echte Bezugsgröße diese Lohnerhöhungen ausgerichtet sein sollen, wenn man nicht konkret, nicht mit Sicherheit sagen kann, wie sich in der gleichen Zeit die Produktivität entwickeln wird.Im Gegensatz zu dieser Politik äußerte sich am gleichen Tage in Stuttgart der Präsident der Bundesbank skeptisch gegenüber einem gesellschaftlichen Rahmenpakt. Er betonte, daß es noch keineswegs sicher sei, ob dadurch die Gesamtnachfrage so im Zaum gehalten werden könne, daß die Konjunktur nicht wieder heißlaufe. Ich glaube auch, daß Herr Blessing recht hat, wenn er vor neuen staatlichen Konjunkturprogrammen warnt, die, wie er sagt, nicht revidiert werden können. Und seine Ankündigung, die Bundesbank werde auch weiterhin ihren gesetzlichen Auftrag, die Währung zu verteidigen, erfüllen, kann im Interesse der Sparer nur begrüßt werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr, Herr Kollege!
Herr Kollege Mertes, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß der Lohn von heute die Kaufkraft von morgen bedeutet und daß, wenn Investitionsmaßnahmen durchgeführt werden sollen, auch die Kaufkraft vorhanden sein muß, damit das mehr Produzierte wieder gekauft werden kann?
Diese These, verehrter Herr Kollege, hat ein Gewerkschaftskollege, nämlich Fritz Tarnow, bereits in den zwanziger Jahren vertreten. Sie ist also nicht neu, und es geht auch gar nicht dar-
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Mertesum, daß es nicht zu entsprechenden Lohnerhöhungen kommt, sondern es geht nur darum, ob die Gewißheit geschaffen werden kann, daß diese Lohnerhöhungen in einem gesunden Verhältnis zum Wachstum unseres Sozialprodukts stehen, damit wir nicht wieder Kostensteigerungen bekommen, die die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit die Arbeitsplätze gefährden.Eine echte Stabilisierung setzt eine umfassende Neuorientierung der Finanzpolitik voraus. Dabei sind eine Einschränkung der Ausgabenflut und die Schaffung von Prioritäten nun einmal unerläßlich. Ich gebe zu, daß die mittelfristige Finanzplanung zunächst erfreuliche Ansätze für ein neues Gleichgewicht erwarten ließ, und ich glaube auch, daß es in der Bundesregierung Politiker gibt, die wirklich guten Willens sind. Die Zielsetzung dieser mittelfristigen Finanzplanung wurde jedoch zwischen Kompromissen, einmal in der Regierung und zum anderen in dieser Koalition, zerrieben. Deshalb fehlt, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, bis heute ein Rezept, das den Sozialleistungen den Charakter der Verläßlichkeit gibt. Es fehlen praktikable Konzeptionen für die Überwindung der verschiedenen Strukturprobleme, insbesondere auf dem Energiesektor sowie für die Erhaltung und Stärkung kleiner und mittlerer selbständiger Existenzen. Der Förderung mittelständischer Existenzen kommt besondere Bedeutung zu in einer Zeit, in der der Herr Bundeswirtschaftsminister ein Gesetz angekündigt hat, das die Konzentration fördern soll.Meine Damen und Herren, eine Regierung, die keine echten Konzeptionen für die Meisterung dringender Gegenwartsprobleme bietet, kann für sich nicht das Recht in Anspruch nehmen, für die Zukunft planen zu wollen. Sie läuft vielmehr Gefahr, Wechsel auf eine unsichere Zukunft zu ziehen. Unsere Arbeitswelt wird durch eine sich in rasantem Tempo entwickelnde moderne Technik umgestaltet. Das stellt hohe Anforderungen sowohl an Unternehmer als auch an Arbeitnehmer. Sie werden in einen permanenten Lernprozeß eingespannt sein. Dem hat die Wirtschaftspolitik und die Gesellschaftspolitik Rechnung zu tragen. Der im Interesse unserer Wettbewerbsfähigkeit und im Interesse der Erhaltung der Arbeitsplätze ständig fortschreitende Umstellungsprozeß verträgt keine neuen Belastungen, und er verträgt keine neuen Unsicherheitsfaktoren.Ein solcher Unsicherheitsfaktor ist unter anderem die Forderung nach einer Ausweitung der Mitbestimmung. Das Betriebsverfassungsgesetz wird von uns begrüßt. Wir bedauern, daß bisher seine Möglichkeiten nicht stärker ausgenutzt worden sind. Die paritätische Mitbestimmung wird jedoch von uns grundsätzlich abgelehnt. Sie hat sich übrigens bisher auch nicht bewährt.
Die Befürworter der Ausweitung der Mitbestimmung führen als Begründung im wesentlichen die Kontrolle der wirtschaftlichen Macht und die Forderung nach Demokratisierung der Wirtschaft an. Die wirtschaftliche Macht ist jedoch in einer Marktwirtschaft dezentralisiert und systemgebunden, also marktabhängig. Sie wird durch den Wettbewerb und durch staatliche Gesetze beschränkt. Dadurch ist ein Mißbrauch zu politischen Zwecken ausgeschlossen. Den Gewerkschaften fehlt die Legitimation zu einer Kontrolle der wirtschaftlichen Macht. Würde eine solche Kontrolle geschaffen, ergäbe sich eine Machtkonzentration eben bei diesen Gewerkschaften, und die Tarifautonomie würde zumindest ausgehöhlt, da die Unternehmerschaft den Gewerkschaften nicht mehr unabhängig und gleichberechtigt gegenüberstände. Durch die Forderung nach Demokratisierung der Wirtschaft im Sinne der Gewerkschaften wird das marktwirtschaftliche System zerstört durch eine Aushöhlung der Funktion des privaten Eigentums und durch eine Trennung von privatrechtlichem Risiko und Haftung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Haar?
Herr Kollege, Sie betonen in Ihrem Wahlkreis, soweit ich mich erinnern kann, immer wieder auch Ihre Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Wie ist Ihre jetzige Stellungnahme mit dem zu vereinbaren, was Sie in Ihrem Wahlkreis äußern?
Lieber Herr Kollege Haar, selbstverständlich betone ich in meinem. Wahlkreis, wenn ich danach gefragt werde und wenn das Thema darauf kommt, daß ich Mitglied der Gewerkschaft bin. Ich verrate ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, daß ich bereits 1946/47 als Werkstudent beim damaligen Gewerkschaftsbund Württemberg-Baden gearbeitet habe.
Ich habe aber zu keiner Zeit erlebt, jedenfalls nicht in meiner damaligen Praxis, daß der Versuch gemacht worden wäre, die Meinungsfreiheit auch von Gewerkschaftsmitgliedern einzuschränken. Deswegen erlaube ich mir eben heute abend, meine Meinung zum Thema Mitbestimmung zu sagen. Die gleiche Meinung, unabhängig davon, ob ich in der Gewerkschaft bin oder nicht, vertrete ich, wie Sie mir zugeben werden, auch in meinem Wahlkreis.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Haar?
Herr Kollege, wären Sie bereit, zuzugestehen, daß Sie bisher nirgends durch Ihre Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft behindert worden sind, Ihre Meinung frei zu sagen, und würden Sie mir bestätigen, wo Sie bisher bei Mai-Veranstaltungen eine derartige Auffassung offen geäußert haben?
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Erstens habe ich ja gerade betont, daß ich in meiner Praxis nicht erlebt habe, daß durch Gewerkschaften die Meinungsfreiheit beeinflußt worden wäre. Sie haben mich also mißverstanden.
Was die Mai-Veranstaltungen betrifft: ich bin bisher trotz einer relativ langen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, Herr Kollege Haar, nie aufgefordert worden, auf einer Mai-Kundgebung der Gewerkschaften zu sprechen.
Sie können das selbstverständlich nachholen. Ich werde auch dort diese meine Meinung vertreten und dann, da ich dort mehr Zeit habe, das noch stärker fundieren können.
Ich will zum Abschluß aber noch etwas zum Thema Mitbestimmung sagen, da Sie so großen Wert darauf legen. Ich bin der Überzeugung — und die Vorgänge an der Ruhr haben mich darin bestärkt —, daß die qualifizierte oder paritätische Mitbestimmung den Unternehmensegoismus fördert und damit die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung behindert und sich außerdem zum Nachteil der Verbraucher auswirkt. Hinzu kommt noch, Herr Kollege Haar, daß die Individualsphäre des Arbeitnehmers in seinem Betrieb durch die qualifizierte Mitbestimmung in keiner Weise verbessert wird.
Die Wirtschaft fürchtet heute durch alle diese Vorgänge und durch die Thesen, die in den Raum gestellt werden, um die Erhaltung der Marktwirtschaft. Es ist deshalb verständlich, wenn die Industrie- und Handelskammer Stuttgart in ihrem letzten Jahresbericht unter anderem feststellt:
Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft wird umgekehrt, wenn der Staat durch eine Schuldenpolitik den privaten Bereich sozusagen zum Restbereich einer für den Gesamtablauf der Wirtschaft verantwortlichen Staatslenkung degradiert. Hier werden die Grenzen zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik verwischt. Die Wirtschaft mißtraut dem Experiment einer von der Staatsverschuldung her gesteuerten Wirtschaft. Von hier aus ist nur ein einziger Schritt zu der staatlichen Anmaßung einer gesellschaftspolitisch begründeten Verteilerrolle des Staates. Die Richtung dieser Gesellschaftspolitik wird nicht mehr von dem freien Entschluß einer freien Gesellschaft bestimmt. Der Staat fühlt sich vielmehr mit dem negativen Gewicht seiner Verschuldung berufen, die Akzente dieser Gesellschaftspolitik zu setzen.
So weit das Zitat aus dem Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer Stuttgart.
Wir Freien Demokraten bekennen uns nach wie vor uneingeschränkt zur Marktwirtschaft.
Nur die Marktwirtschaft erhält und schafft die Voraussetzungen für eine gerechte und freiheitliche
Ordnung der Gesellschaft und für ein Höchstmaß
wirtschaftlichen Fortschritts. Nur die Marktwirtschaft schafft auch die Leistungen, die notwendig sind, um die schwierigen wirtschaftlichen Probleme zu lösen, die bei einer Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands zwangsläufig anfallen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller-Hermann.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Dies ist mit Sicherheit nicht mehr die Stunde für ein wirtschafts- oder gesellschaftspolitisches Kolleg oder die Sollerfüllung für Wahlkampfreden.
Mir scheint, der Wert der Debatte — der ganzen Debatte — wäre wesentlich gesteigert worden, wenn wir sie nach dem Dialog zwischen Minister Wehner und Herrn Dr. Barzel, bei dem es wirklich um die zentralen Fragen unserer Politik ging, beendet hätten.
Ich beschränke mich daher jetzt auf drei ganz knappe Bemerkungen.Erstens. Ich befinde mich als Mitglied der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, die in der Vergangenheit Regierungsverantwortung mit getragen hat und in der Gegenwart Regierungsverantwortung trägt, insofern in einer schwierigen Situation, als ich zwischen Herrn Gscheidle und Herrn Mertes nun einen Mittelweg finden muß. Herr Gscheidle meinte, die Große Koalition müsse die Schulden der Vergangenheit abtragen. Herr Kollege Mertes nahm die Aufbauleistung für die „liberalen Kräfte", die FDP, in Anspruch.
Ein großartiger wirtschaftlicher Aufbau liegt hinter uns, der natürlich wie jedes Menschenwerk auch mit Schwächen und Mängeln behaftet war. Sicherlich ist es eine sehr individuelle Betrachtungsweise, wem man das Plus oder Minus zurechnet. Ich meine, daß wir als Angehörige der CDU/CSU-Fraktion uns darauf beschränken können, das Urteil über diese Phase des Aufbaus getrost den Historikern zu überlassen.Zweitens. Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht über die Lage der Nation den Blick dieses Hohen Hauses und der deutschen Öffentlichkeit auf die Probleme der Zukunft gerichtet. Es ist sicherlich besonders bemerkenswert, daß er den Willen der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht hat, die Chancen der industriellen Revolution für die Stärkung der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik zu nutzen, damit sie auch für die Zukunft zu der führenden Gruppe der Wirtschaftsmächte gehört. Was mir am Herzen liegt, ist, zu unterstreichen, daß wir uns dieser Aufgabe nicht nur gestellt sehen zur Mehrung des Wohlstandes der Bürger in der Bundesrepublik und in West-Berlin, sondern daß wir zugleich darin auch die Aufgabe sehen, in dem Wettstreit der Gesellschaftssysteme für unser freiheit-
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Dr. Müller-Hermannliches System die Anziehungskraft zu erhalten und auszubauen, aber auch uns bereit zu machen als diejenigen, die die Gunst, ich möchte sagen, die unverdiente Gunst, gehabt haben, unter ganz anderen Voraussetzungen als unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands unseren wirtschaftlichen Aufbau zu betreiben, eines möglichen Tages bereit zu sein, auch materielle Opfer zu bringen und sie in die Waagschale zu werfen, um unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands größere Freiheiten zu verschaffen und die Wiederherstellung auch der staatlichen Einheit voranzubringen.
Drittens. Jede Zeit hat ihre eigenen Probleme und ihre ganz spezielle Situation. Die neue Phase unserer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, gesamtpolitischen Entwicklung zeichnet sich im Grunde dadurch aus, daß sie mit ganz besonders schwierigen Komplexen, in die Weltpolitik verzahnten Problemen belastet ist und daß es bequeme, einfache Lösungen nach einem Patentrezept in keinem Bereich gibt. Das war im Grunde ja auch die Voraussetzung dafür, daß wir das in einer parlamentarischen Demokratie Ungewähnliche getan haben, eine Große Koalition mit einer sehr breiten Plattform in diesem Hohen Hause einzugehen. Aber, meine Damen und Herren, auch eine solche Große Koalition kann nicht Wunder wirken. Sie kann nur das in ihren Kräften stehende Mögliche tun. Wir müssen uns aber gefallen lassen, daß an eine Große Koalition in ganz besonderer Weise hohe Maßstäbe im Hinblick auf ihr Leistungsvermögen, ihre Durchsetzungskraft und ihren Mut angelegt werden, mit dem sie die ganz konkreten Aufgaben einer Lösung zuführt, die in dem Regierungsprogramm des Herrn Bundeskanzlers bereits konzipiert und in dem Bericht über die Lage der Nation präzisiert und interpretiert wurden.Wenn ich hier als letzter Redner zu der allgemeinen Diskussion das Wort nehme
— von seiten meiner Fraktion —, so möchte ich zum Abschluß betonen, Herr Bundeskanzler, daß wir den festen Willen haben, Ihnen bei der Lösung dieser schwierigen Aufgaben mit Zähigkeit, Fleiß, Geduld und der nötigen Loyalität auch gegenüber unserem Koalitionspartner zu helfen, da wir wohl wissen, daß nur gemeinsam mit dem nötigen Mut zu Entscheidungen idas getan werden kann, was getan werden sollte und muß.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ertl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte Wort hat erfreulicherweise die Opposition.
— Verehrter Herr Barzel, wir haben auch noch einiges auf Lager, wir können mitziehen. Diese Opposition hat einen langen Atem.
und sie wird es der Regierung nie leicht machen.Herr Kollege Müller-Hermann hat gerade so sehr die Geduld strapaziert. Es tut mir leid, daß auch ich Ihre Geduld noch strapazieren muß. Aber die Große Koalition kann nur unter dem Motiv der großen Geduld beurteilt werden; dazu hat sie wirklich das Wort „groß" nötig. Ansonsten ist es auch nur in bezug auf die Form der Großen Koalition berechtigt, nicht in bezug auf die Leistung.Einige wenige Bemerkungen. Wir freuen uns und begrüßen es sehr, daß der Herr Bundeskanzler heute seinen Dank an die Bäuerinnnen verdeutlicht hat. Auch wir danken den Bäuerinnen. Wir danken allen Menschen auf dem Lande. Aber unser Dank besteht auch darin, daß wir eine Agrarpolitik wollen, die der Bäuerin und dem Bauer einen gerechten Lohn gibt. Da ist die Große Koalition nicht so tatkräftig wie die Opposition.
Gerade wenn es um die Selbständigen geht, wird diese Große Koalition noch eine große Bewährung abzulegen haben.
— Die haben wir bestanden. Herr Kollege, ich will Ihnen sagen: wenn ich heute die Verfassung der SPD nach eineinhalb Jahren Koalition sehe, muß ich sagen, daß ich mir vorkomme wie Siegfried.
Wir werden mit Freude Ihren Parteitag zur Kenntnis nehmen; darauf können Sie sich verlassen. Da werden wir seihen, wie Ihre Parteifreunde über Ihre Rolle in der Koalition denken. Darüber können wir sehr zufrieden sein.
— Herr Herold, wenn Sie geistig folgen können!
— Gerade wenn es ,darum geht — ich bin gerade bei Ihnen, Herr Herold —, die Selbständigen für die Zukunft zu sichern, wird man in der Agrarpolitik besonders vorsichtig vorgehen müssen. Denn dort beginnt ein sehr wesentlicher Prozeß' im Hinblick auf eine vielfältige Liquidierung. Hier wird wiederum die Agrarpolitik wesentliche Beweise liefern müssen. Aber ich möchte in dieser späten Stunde das Thema nicht vertiefen,
Ich möchte zur zeitlichen Richtigstellung noch etwas feststellen. In der Frage des Verhaltens der Bundesregierung zur Äußerung des französischen Staatspräsidenten über die Schlesien-Reise war es die Opposition, die durch eine Anfrage zum erstenmal eine Stellungnahme herbeigeführt hat. Ich
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8380 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Ertlglaube, das läßt 'sich an Hand der Protokolle nachlesen. Das bitte ich nur zu bedenken.Nun wurde von einem Kollegen der Koalition unserem Kollegen Genscher unterstellt, er habe in einer bestimmten Form von Berufsvertriebenen gesprochen und damit auch diese Frage aus der Welt geräumt. Jetzt zitiere ich, was er sagte:Denn dieses Europa kann werden aus der politischen Einsicht und Vernunft unserer Vertriebenen, aus ihrer Opferbereitschaft, und die Vertriebenen bekennen sich dazu, sehr im Gegensatz zu manchen, die sich als Berufsvertriebene betätigen. Aber es wird niemals werden aus Geschichtsklitterungen. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn wir über eine freie und von allen Völkern und von unserer Jugend getragene Zukunft sprechen.Ich glaube nicht, daß man daraus herauslesen kann, dem Kollegen Genscher sei es darum gegangen, den Vertriebenen zu unterstellen, sie seien Berufsvertriebene. Es ging ihm sogar darum, die große staatspolitische Gesinnung der Vertriebenen herauszuheben. Und ich glaube, das war heute auch richtig am Platz.Damit auch hier über die Haltung der Freien Demokraten keine Zweifel bestehen, möchte ich zu der Kernfrage, wie wir uns in der Deutschland- und Osteuropapolitik grundsätzlich äußern, die in einer heißen Diskussion in Hannover gefundene Formulierung zitieren. Ich wünsche den anderen Parteien, daß sie in dieser Frage ebenso leidenschaftlich und hart diskutieren, wie wir Freien Demokraten es in Hannover getan haben.
Das wünsche ich Ihnen. Dais wäre im Interesse der deutschen Sache. Unsere Formulierung lautet — und auf sie soll in aller Deutlichkeit noch einmal hingewiesen werden —:Oberstes Ziel deutscher Politik war und ist die friedliche Vereinigung der Deutschen in freiheitlicher demokratischer Ordnung. Dabei sind zu berücksichtigen die Grundsätze für nationale Selbstbestimmung, freiheitliche Menschenrechte und das Recht auf Heimat.Wir sagen weiter in Absatz 85:Wichtige Aufgabe einer Deutschland- und Außenpolitik ist die Entspannung der Verhältnisse in Europa. Deutsche Entspannungspolitik hat sich an jeden zu richten, an alle europäischen Staaten ebenso wie an den anderen Teil Deutschlands. Das Ziel der Entspannungspolitik ist die Schaffung einer europäischen Friedensordnung in einem sicherheitsmäßig kontrollierten Gleichgewicht.Bitte, Herr Kollege!
Sie haben zunächst auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen auf unserem Parteitag hingewiesen. Jetzt haben Sie auf Ihren Parteitag verwiesen. Darf ich Sie fragen, ob es angebracht und der Sache würdig ist, wenn zu erwarten ist, daß auf unserem Parteitag um Lebensfragen gerungen wird — wobei auch Ansichten auseinandergehen —, daß Sie fünf Minuten nach Ihrem ersten Hinweis auf die Art Ihrer Auseinandersetzungen positiv verweisen? Ist das sachliche Auseinandersetzung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe Ihnen nur gute Wünsche für Nürnberg mitgegeben, und die gebe ich Ihnen ganz offiziell mit im Interesse der deutschen Sache. Ich wünsche Ihnen eine sachliche und gute Auseinandersetzung.
Ich darf weiterfahren. Wir sagen unter Nummer 88:Auf deutschem Boden ist ein Regime, das nicht dem Volkswillen entspricht, nicht anerkennbar. Dieser Grundsatz hindert jedoch nicht daran, zur Kenntnis zu nehmen, daß auf deutschem Boden über deutschem Gebiet außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes Macht ausgeübt wird und die Bundesregierung wegen ihrer Fürsorgepflicht für alle Deutschen berechtigt und verpflichtet ist, mit allen Machthabern mit dem Ziel zu sprechen, eine Erleichterung der Folgen der Spaltung für die Menschen zu schaffen.Ich glaube, daß das Formulierungen und Zielsetzungen sind, die sehr wohl, wenn sie verwirklicht werden, dazu beitragen können, konstruktive Lösungen aufzuzeigen.Weil auch noch einmal die Grenzfrage angesprochen worden ist: auch hier haben wir hart um eine Formulierung gerungen. Ich möchte diese Formulierung am Schluß dieser wichtigen Debatte in aller Öffentlichkeit bekanntgeben:Der Bundesparteitag der Freien Demokratischen Partei bekennt sich zu dem vom Grundgesetz betonten Vorrang der Wiedervereinigung der Menschen in den getrennten Teilen Deutschlands. Er ist der Meinung, daß die endgültige Entscheidung über die deutschen Grenzen im Osten erst in einem Friedensvertrag erfolgen kann.Der Bundesparteitag der Freien Demokratischen Partei ist der Auffassung, daß eine mögliche Zusammenführung der getrennten Teile Deutschlands nicht an territorialen Fragen scheitern darf.Das ist ein harter Kompromiß, aber wir glauben, es ist ein Weg, der uns ein moralisches Recht gibt, nach drüben zu sagen: Nun seid ihr am Zug. Wir sind bereit, über Fragen, die lebenswichtig für diese Nation sind, zu sprechen, und wir haben uns moralisch verpflichtet, hier ein Maß an Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Nun sind die drüben dran.Ich glaube, das ist auch eine Basis für die Regierung; das gehört auch zu dem Punkt „Wahrheit gegenüber unserer Jugend". Denn das verlangt diese Jugend, daß sie in diesem Volk eine Zukunft, daß sie in diesem Volk eine Aufgabe sieht. Ich meine, daß es in unserer Jugend heute zum Teil soviel Resignation, soviel Verzweiflung und auch
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Ertlvielleicht soviel Versuche, in radikale Betätigung auszugehen, gibt, hat seinen Grund darin, daß sie zu wenig Hoffnung, zu wenig Klarheit und zu wenig Wahrheit fühlt.
Hier liegt, meine ich, eine Aufgabe dieses ganzen Hauses.Ich darf mit diesen wenigen Bemerkungen schließen. Wir Freien Demokraten haben Ihnen den Entschließungsantrag Umdruck 367 vorgelegt. Es ist sozusagen der oppositionelle Katalog der vielfältigen Fehlanzeigen bei der Berichterstattung über die Lage der Nation, und wir bitten darüber abzustimmen.
Meine Damen und Herren, keine weiteren Wortmeldungen. Die Aussprache ist geschlossen.
— Was denn?
— Zu dem Entschließungsantrag?
— Ja, ich habe Sie doch gefragt!
— Ja, aber wissen Sie, Herr Kollege von Wrangel, hier laufen so viele Herren trotz der späten Stunde noch immer herum. Wenn Sie eine Hand gehoben hätten, wäre das deutlicher gewesen. Also bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte an sich vermutet, daß Herr Kollege Ertl den Entschließungsantrag begründen würde. Das hat er nicht getan. Er hat versucht, noch einmal so etwas wie eine Zusammenfassung der Kriterien zu geben. Nur eines möchte gleich sagen: Wenn dies der Katalog der FDP als Gegenstück zum Bericht über die Lage der Nation ist,
dann ist dies ein Papier der Negation, der Widersprüche, und es ist leider stilistisch schwach und in der Aussage unpräzise.
Erstens, meine Damen und Herren: europäisches Sicherheitssystem. Ich glaube, wir müssen daran erinnern, daß es eine Fülle von Vorschlägen gegeben hat und daß man diese Dinge auf diplomatischem Wege besser betreibt als durch spektakuläre Schritte, die Sie hier erwarten. Ich kann Ihnen nur so viel sagen, meine Damen und Herren: Hören Sie doch endlich auf, auswärtige Politik mit einer innenpolitischen Effekthascherei zu machen!
Zweitens. Sie fragen nach dem Gewaltverzichtsabkommen. Hier können wir Ihnen nur sagen: Uns, der CDU/CSU, geht es hierbei ausschließlich um die Glaubwürdigkeit unserer Politik und nicht um Formalien, hier geht es um die Effektivität eines solchen Abkommens, und ich glaube, auch dies läßt sich besser auf diplomatischen Kanälen erledigen.Nun komme ich aber zu einem Punkt, den Sie hier anschneiden, der sicherlich heute eine Rolle gespielt hat und in naher Zukunft eine große Rolle spielen wird. Sie sprechen hier wieder vom „Staatsvolk der DDR". Meine Damen und Herren, ein Regime, das sein Volk einsperren muß, verleugnet dieses Volk, und insofern glauben wir, daß es kein Staatsvolk dieser sogenannten DDR gibt.
Darüber hinaus muß ich hier eines sagen, Herr Kollege Ertl. Es ist wirklich bedauerlich, daß in diesem Lande dies passiert: durch eine ständige Gleichmacherei der Ordnungen wird automatisch — automatisch! — der totalitäre Staat aufgewertet und die freiheitliche Demokratie abgewertet.
Wir von der CDU/CSU können diese Gleichmacherei nicht mitmachen.
Ich habe mich vorhin, als ich das las, gefragt, ob dies nicht auch ein Stück Abschied von Theodor Heuss ist, der sich sehr wohl in allen seinen Reden um das Staatsvolk der Bundesrepublik bemüht hat.
Ein letztes zu diesem Thema. Ich muß mich fragen, meine Damen und Herren: Wer sind denn in diesem Lande die Reaktionäre und die Bremser und die Rückschrittlichen? Wir von der CDU/CSU nicht,
aber offenbar diejenigen, die sich ständig bemühen, auf deutschem Boden wieder einen totalitären Staat anzuerkennen und demokratisch zu legitimieren.Viertens: zur Verteidigungspolitik. Sie pressen, das alles in die eine Entschließung. Wir hatten eine Verteidigungsdebatte. Sie hatten Gelegenheit, sich zu äußern. Sie werden es wieder tun können.Fünftens: Verzicht auf Trägerwaffen. Meine Damen und Herren, auch darüber ist hier gesprochen worden. Sie werden anerkennen müssen, wenn wir die Glaubwürdigkeit der Abschreckung aufrechterhalten wollen — und wir müssen sie aufrechterhalten, solange der Ostblock rüstet —, können wir auch nicht auf atomare Trägerwaffen innerhalb des westlichen Bündnisses verzichten. Das muß wohl gesagt werden.Sechstens: Notstandsgesetzgebung. Die CDU/CSU — das wissen Sie genau — wird großen Wert darauf legen, daß eine praktikable Notstandsgesetzgebung unter Dach und Fach gebracht wird. Ich glaube, auch dies ist ein Stück Landesverteidigung. Vielleicht dürfen wir das auch einmal sagen.
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8382 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. März 1968
Baron von WrangelSiebtens: Gebietsreform. Meine Damen und Herren, erwarten Sie doch nicht, daß man im Rahmen einer solchen Debatte — und Filibusterreden von Ihrer Seite haben dazu beigetragen, daß es so spät ist
über so komplizierte Fragen wie Gebietsreform ausführlich sprechen kann. Nur eines wissen Sie so gut wie wir: Ein Grund dafür, daß wir die Neugliederung nicht anpacken, ist auch, daß wir in diesem Punkt gesamtdeutsche Fragen nicht negativ präjudizieren wollen.
— Das ist keine faule Ausrede. Das wissen Sie so gut wie wir.Achtens: angeblich konjunkturhemmende Steuergesetzgebung. Meine Damen und Herren, es ist nicht zu leugnen, daß Aufwärtsentwicklungen vorhanden sind.Seltsamerweise sprechen Sie im nächsten Punkt, dem Punkt neun, von der Finanzlage und der Verschuldung. Wir werden — das wissen Sie auch — in jedem Jahr und sicherlich wiederholt über die mittelfristige Finanzplanung miteinander debattieren. Ich glaube, das sollten wir dann auch in aller Ausführlichkeit tun.Zehntes. Da allerdings habe ich mich gefragt, Herr Kollege Ertl, was das noch soll. Nach der gestrigen Debatte über den Grünen Plan verlangen Sie in diesem Punkt ein Konzept zur Behebung der Schwierigkeiten der Landwirtschaft. Ich kann nur sagen: Das ist keine Hilfe für die Bauern, sondern Bauernfängerei.
Elftens : gesellschaftspolitische Entwicklungen. Wir haben uns mit einer Fülle von Fragen beschäftigt. Die Regierung hat Vorlagen gemacht. Es hat Debatten gegeben. Aber erwarten Sie doch nicht, daß wir uns im Zusammenhang mit einem Bericht über die Lage der Nation hier noch mit Futurologie beschäftigen. Dann säßen wir morgen früh noch alle miteinander hier.
Zwölftens. Wahlrecht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärt, daß wir uns nach wie vor für ein mehrheitsbildendes Wahlrecht einsetzen werden, und zwar für 1973, so wie es in der Regierungserklärung steht, weil wir eine starke Regierung und eine starke Opposition wünschen, die wir heute leider nicht haben.
Bitte lassen Sie den Redner aussprechen!
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie versuchen durch Länge und Lautstärke das wettzumachen, was Sie hier nicht erreichen können.
Meine Damen und Herren, namens der CDU/CSU-Fraktion bitte ich den Antrag abzulehnen.
Herr Abgeordneter Mischnick, ich nehme an, daß Sie das Wort wünschen.
— Zu einer Erklärung?
Herr Abgeordneter Mischnick, ehe Sie das Wort nehmen, möchte ich in aller Objektivität sagen, daß der Präsident des Hauses nicht wünscht, die sachliche Auseinandersetzung zu entschärfen. Wohl aber ist er aufmerksam dem Redner gefolgt. Er geht davon aus, daß dem Vorredner bei der Interpretation der Ziffer 3 objektiv ein Mißverständnis unterlaufen ist. Ich finde, daß die Ziffer 3 in Übereinstimmung mit der Präambel des Grundgesetzes steht.
Bitte sehr, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Klarstellung. Aus der Tatsache, daß Herr Kollege von Wrangel alle zwölf Punkte hier so ausführlich behandelt hat, spricht die Bestätigung dafür, daß es notwendig war, diesen Katalog aufzustellen und deutlich zu machen, was eben nicht richtig entschieden ist. Deshalb spricht alles dafür, diesem Antrag zuzustimmen.
Keine weiteren Wortmeldungen. Die Aussprache ist geschlossen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag der Fraktion der FDP ist abgelehnt.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 27. März 1968, 9 Uhr vormittags.
Die Sitzung ist geschlossen.